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German Pages [304] Year 2013
Edgard Haider
W IEN 1914 ALLTAG AM RANDE DES ABGRUNDS
2013 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http : //dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung : Postkarte : Blick in die Rotenturmstraße © 2013 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H & Co. KG , Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1 , A-1010 Wien , www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat : Philipp Rissel Umschlaggestaltung : Peter Frommann Herstellung und Satz : Carolin Noack Druck und Bindung : BALTO Print Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-205-79465-3
Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffen auf bessere Zeiten: der Jahreswechsel. . . . . . . . . Im Teufelskreis des Wettrüstens: die Lage in Europa. . . . Tradition und Privilegien: die Habsburger. . . . . . . . . . Ein hartes Los: Wohnungselend und Winternot. . . . . . . Ein ungewöhnlicher Ringstraßenkorso: die Arbeitslosen. . »Die heilige Wandlung«: Parsifal. . . . . . . . . . . . . . . »Hie Walzer!« – »Hie Tango!«: der Wiener Fasching. . . . . Kampf dem Modernismus: die Kirche. . . . . . . . . . . . Durch Obstruktion entwertet: das Parlament. . . . . . . . . »Ein grenzenloses Unrecht«: die Wiener Wahlordnung. . . Erste Risse im alten Rollenbild: die Frauen. . . . . . . . . . Eine Saat des Hasses: der Antisemitismus. . . . . . . . . . . Mehr als ein Gast: Kaiser Wilhelm II.. . . . . . . . . . . . Raus aus der Stadt: Fröhliche Ostern. . . . . . . . . . . . . Alles neu und renoviert: Praterfreuden. . . . . . . . . . . . Faszination Fliegen: Flugfeld Aspern. . . . . . . . . . . . . Zwischen Bangen und Hoffen: der kranke Kaiser. . . . . . Ein verhageltes Silberjubiläum: die 1.-Mai-Feier. . . . . . . »Ureigenstes Werk des Bürgertums«: der Blumentag. . . . . Nostalgisches Gedenken: 100 Jahre Wiener Kongress. . . . Unvermindert in Gefahr: Alt-Wien. . . . . . . . . . . . . . Wandel im Stadtbild: die Neubauten. . . . . . . . . . . . . Eine wachsende Herausforderung: der »Verkehrsjammer«. Ein Privileg der Reichen: das Automobil. . . . . . . . . . . Schmutz , Staub und Rauch: die Großstadtübel. . . . . . . Festesreigen und Donnergrollen: der Frühsommer. . . . . Im Schatten des Todes: die Woche vor Sarajevo. . . . . . . Eine blutige Zäsur: das Attentat. . . . . . . . . . . . . . . . Wien trägt Schwarz: die Trauer. . . . . . . . . . . . . . . . Ein trügerisches Sommeridyll: der Juli. . . . . . . . . . . . Ein Blitz aus heiterem Himmel: das Ultimatum. . . . . . . Ein umjubelter Erlöser: der Krieg. . . . . . . . . . . . . . .
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Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Glossar. . . . . . . . Register. . . . . . . . Literaturverzeichnis. Bildnachweis. . . . . Anmerkungen. . . . Danksagung . . . . .
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Vorwort 1914 – dieses Jahr hat sich tief in das Bewusstsein der Menschheit eingeprägt. Damals brach innerhalb weniger Tage der Erste Weltkrieg aus , ausgelöst durch die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien , einen Monat nach dem Attentat auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau in Sarajevo. Wie es dazu kommen konnte , ist in unzähligen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten , Memoiren , Biografien etc. von allen Seiten beleuchtet und analysiert worden. Der damals mit unglaublicher Leichtfertigkeit entfesselte Weltkrieg gilt als »Ursünde« des 20. Jahrhunderts , der die alte Welt zertrümmerte und dessen Ausgang den Boden für einen noch verheerenderen Krieg bereitete. Im Bewusstsein geblieben ist die verblüffende Euphorie über den Ausbruch des Krieges im Sommer 1914 wie ein lang ersehnter Erlöser. Was sonst geschah in diesem Schicksalsjahr , ist weitgehend vergessen. Der Autor dieses Buches hat sich auf Spurensuche gemacht , um den Alltag in Wien – der Stadt , von der aus das Verhängnis seinen Lauf nahm – wieder lebendig zu machen. Mit welchen Erwartungen sind die Menschen hier ins Jahr 1914 gegangen , von dem niemand wissen konnte , welch tiefen Einschnitt es in das Leben jedes Einzelnen bringen würde ? Wie war das Leben am Rande des Abgrunds , wie man hinterher wusste , mit all seinem Freud und Leid in der »Märchenstadt« Wien ? Was war zu spüren von der »österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs , die die Fratze des gemütlichen Siechtums annimmt«, wie Karl Kraus es in diesem Jahr ausdrückte. Prophetisch wirkende Analysen der politischen Lage , die die Geburtswehen einer neuen Ordnung erahnen lassen , sind hier ebenso zu lesen wie Fehleinschätzungen , die mitunter schon dem Zeitgenossen klar geworden sind. Ein Blick in diese Welt vor hundert Jahren offenbart uns heute skurril anmutende Bräuche und Moden , aber auch überraschend Modernes. Mit dem Buch sollen vor allem auch Stimmungsbilder wiedergegeben werden , um das Denken und Fühlen jener danach viel geschmähten Generation der Groß- und Urgroßväter besser zu verstehen , ohne ihre Fehler zu bagatellisieren. Dr. Edgard Haider
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Hoffen auf bessere Zeiten: der Jahreswechsel
Abb. 1
Mittwoch , 31. Dezember 1913 : Arktische Kaltluft steuert von der Ostsee her über Südrussland auf Mitteleuropa zu und sorgt in der Millionenmetropole Wien für Frost und Glatteis. »Von den Schneeresten auf den Dächern riß der starke Wind Eiskristalle los , die wie Demantsplitter in der Sonne glitzerten und , wenn sie ins Gesicht getrieben wurden , wie Nadelstiche wirkten.«1 Die angesagten Schneefälle bleiben vorerst aus , sodass es eine »herrliche , klare , sanft-frostige und windstille Winternacht« wird , »die diesmal den Silvesterrummel in höherem Grad , als es seit vielen Jahren der Fall war«2 , begünstigt. Es herrschen somit ideale Bedingungen , um in der dunkelsten Jahreszeit in ausgelassener Stimmung ein neues Jahr zu begrüßen. Bevor es mit dem Feiern so richtig losgeht , besuchen die Kirchenfrommen die Jahresabschlussgottesdienste in ihren jeweiligen Gemeinden. Auch in der Hof burgkapelle 8
Hoffen auf bessere Zeiten
und in der Schönbrunner Schlosskapelle danken Mitglieder des Kaiserhauses und Hof bedienstete aller Chargen Gott für ein Jahr , für das es recht wenig zu danken gibt ; außer dem Umstand , dass die Monarchie einem großen Krieg im Gefolge der Balkankriege entgangen ist. Alle Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren richten sich somit auf 1914. Wer nicht zu Hause feiern will und das nötige Geld hat , auf den wartet ein reiches Angebot an Veranstaltungen. Schon seit Tagen werben Kaffeehäuser , Tanz- und Nachtlokale , Kabaretts , Varietés und Kinos mit vielversprechenden Programmen um Gäste. Wer nicht reserviert , hat wenige Chancen , noch Plätze zu bekommen. Schon zu den Weihnachtsfeiertagen herrschte ein enormer Trubel. Eine zum Jahresabschluss des Krisenjahres 1913 nicht erwartete Kauf- und Feierlaune sorgt für mehr Zuversicht als erwartet – vielleicht ein gutes Zeichen für 1914. Die Theater Wiens haben durchwegs Heiteres auf dem Programm : Das Deutsche Volkstheater spielt »Der reizende Adrian« ( Lustspiel in drei Akten von Hans Müller ), das Johann-Strauß-Theater »Der Nachtschnellzug« ( Operettenschwank von Victor Léon und Leo Stein , Musik von Leo Fall ), die Wiener Volksoper bringt zum ersten Mal »Orpheus in der Unterwelt« von Jacques Offenbach , das Theater in der Josefstadt »Liebling der Frauen« ( Lustspiel von Alfredo Testoni ). Im Hof burgtheater gibt man den »Verschwender« von Ferdinand Raimund , im Intimen Theater ( 2. , Praterstraße 34 ) drei Einakter der besonders leichten Art : »Eine verrückte Person«, »Bussi geben – brav sein«, »Aber – Herr Hauptmann !« Prädestiniert für Spaß zu Silvester sind naturgemäß Kabaretts wie die »Hölle« am Naschmarkt , wo Fritz Grünbaum auftritt oder der »Simplicissimus« ( Simpl ) in der Wollzeile. Wer den Jahreswechsel im Kino feiern möchte , hat auch hier reiche Auswahl : »Sensationsprogramm. Überschäumend lustige Filme« wirbt das Kärntner-Kino , Beginn ¼ 11 Uhr nachts. Im Grabenkino wird »Die blaue Maus«, ein Film-Operetten-Schwank mit Magda Lessing gespielt. »Neues lustiges Programm. Normale Preise« bietet das Burgkino , als Höhepunkt ist »Sommernachtstraum« angekündigt.
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Abb. 2
Mit einem besonderen Besucherandrang können die Tuchlauben-Licht spiele rechnen , denn sie sind Wiens erstes Kinetophon-Theater. Mit dieser Erfindung Edisons ist es seit Kurzem möglich , einen zur Handlung auf der Leinwand synchronen Ton zu reproduzieren. Der Einsatz eines Pianisten ist damit überflüssig geworden. Diese Neuerung erregt auch Interesse bei Mitgliedern des Kaiserhauses. Am Vortag von Silvester besuchen Erzherzog Leopold Salvator und seine Frau Blanka mit »höchstihren« vier Kindern das Tuchlauben-Kino. »Direktor A. Spitzer wurde die Ehre zu Teil , den Herrschaften vorgestellt zu werden. Die hohen Besucher sprachen ihre Anerkennung über das Gesehene aus und spendeten auch den mustergültigen Einrichtungen dieser Filmstätte volles Lob.«3
Abb. 3
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Hoffen auf bessere Zeiten
Wiens Kaffeehäuser warten zu Silvester mit besonderen Attraktionen auf , so etwa das Ringstraßencafé »Prückel«: »Das Ganze Parterre wurde in einen herrlichen Blumengarten prachtvollster exotischer Gewächse und lebender Blumen umgewandelt. Man wird den täuschenden Eindruck haben , in der Silvesternacht in den Süden versetzt zu sein , und es lohnt sich der Mühe , daß sich die Silvesterbummler diese entzückende Neuheit ansehen.«4 In den Sophiensälen auf der Landstraße ( 2001 abgebrannt ) ist »Große Silvesterakademie« mit Ball angesagt. Der größte Teil der nummerierten Plätze ist bereits vergriffen. »Logen für 6 Personen zu 30 Kronen , Logensitze zu 5 Kronen , 10 Heller sind noch erhältlich. Ballbeginn 1 Uhr. Entree nach Mitternacht 2 Kronen.«5 Will man dem Silvesterrummel in der Stadt entfliehen und doch nicht weit wegfahren , entscheidet man sich gerne für das Schlosshotel am Cobenzl ( 1966 abgerissen ) im Wienerwald , mit »Konzert der Kapelle Par , Neujahrsgruß lustiger Uebergang ins neue Jahr. Herrlicher Aufenthalt. Jeder Komfort. Zimmer von K.6 aufwärts , Chambres Particuliérs.« Gäste , die nicht dort übernachten wollen , können beruhigt sein : »Autobus- und Straßenbahnverkehr die ganze Nacht.«6 Die Großstadtmüden unter den Wohlbetuchten , speziell die wintersportbegeisterte Jeunesse dorée , zieht es in die dicht verschneite Bergwelt , bevorzugt auf den Semmering. Schon zu den Weihnachtsfeiertagen waren dort sämtliche Hotels und Pensionen restlos ausgebucht. Groß ist die Faszination , die der junge Skisport ausübt – auch auf Damen. Es herrscht enorme Nachfrage nach Skikursen des Österreichischen Wintersportklubs. Rennen auf der Bobeisbahn und Skispring-Wettbewerbe locken eine große Schar Neugieriger an. Bei Einbruch der Dunkelheit kehrt man in eines der eleganten Hotels wie dem »Südbahnhotel« oder »Panhans« zurück. Hier gibt es allen denkbaren Komfort und auch jede Menge Unterhaltung. Anderen beim Skifahren zuzusehen , ist nun auch im Film möglich. Im »Palace Hotel« am Semmering wird bei einem abendlichen Unterhaltungsprogramm »das prächtige Leben und Treiben der Wintersportler« gezeigt. »Man sieht da die bekanntesten Sportsmen des Österreichischen Wintersportklubs , aber auch eine äußerst gelungene Aufnahme des Weihnachtsskikurses , der wegen seiner heiteren Szenen wahre Lachstürme hervorrief.«7
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Abb. 4 : Vergnügen für die Jeunesse dorée: Wintersport am Semmering
Wer in Gesellschaft geht , muss von Kopf bis Fuß entsprechend elegant gekleidet sein. Das kommt so manchen Ehemann ziemlich teuer , denn »eine Frau der vornehmen Welt trägt bei Abendbesuchen einen Wert von mehreren tausend Kronen auf ihrem Körper. Schuhe aus Goldlack , ein Kleid aus kostbarem Gewebe , Perlenschnüre um den Hals und Diamanten im Haar.«8 Ein Gutes hat die elegante Erscheinung seiner »Teuersten« für den zahlenden Ehemann immerhin. Ihr Glanz fällt auf ihn zurück , sie repräsentiert , wie weit nach oben er es in der Gesellschaft geschafft hat. Günstiger , aber keineswegs billig kommt die Ausstattung des Herrn von Welt , angefangen vom Frack , passendem Hemd mit Perlknöpfen , goldenen Manschettenknöpfen , gefütterter Pelerine , Zylinder oder Chapeau claque und feinsten Stiefeletten. Feiern nur um des Feierns willen ? Gerade zum vergnüglich begangenen Jahreswechsel soll auf die Bedürftigen in der Gesellschaft nicht vergessen werden. Der »Wiener Jubiläumsfrauenverein zur Bekleidung und Unterstützung armer alter Frauen« veranstaltet in den Sälen des Musikvereins »eine große Silvestera kademie mit Tanz. Tanza rrangement Prof. Rudolf Heimann. Auftritte haben unter anderem die populäre Operettensoubrette Mizzi Zwerenz und der Komiker Richard Waldemar.« Eine ähnliche Veranstaltung – wir würden heute Charity sagen – findet in den Sälen des Hotels Continental ( 2. , Praterstraße ) an diesem Abend statt , organisiert vom Wohlfahrtsverein »Vereinte Kraft«. Es wirken mit das heitere Quartett des Wiener Männergesangsvereins und die Gebrüder Kleber ( »Praterspatzen« ). Die Tanzmusik liefert die Kapelle des Infanterieregiments Nr. 99. Karten ab 3 Kronen. 12
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Je später der letzte Abend des Jahres 1913 wird , umso mehr steigt die Stimmung der Feiernden. In Wiens Nachtlokalen wird »champagnisiert«.
Abb. 5
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Natürlich wacht auch heute das Auge der Polizei diskret darüber , dass das offiziell geduldete Laster die Grenze des Schicklichen nicht gänzlich missachtet. Eigentlich widersprechen diese wenigen Nachtlokale im Umfeld der Kärntner Straße dem gutbürgerlichen Grundcharakter der Wiener , aber man ist es dem Ruf als Großstadt schuldig , wenigstens ein paar Etablissements dieser Art dem Nachtschwärmer anbieten zu können. Alle haben französische Namen wie »Tabarin«, »Chapeau Rouge«, »Maxim«, »Trocadero« etc. , versuchen damit Pariser Flair auszustrahlen. Prickelnd verrucht soll es jedenfalls klingen. Hoch her geht es auch in den unzähligen Wirtshäusern der Vorstädte. In den von Zigarettenqualm und Bierdunst geschwängerten Lokalen hinter angelaufenen Fensterscheiben machen derbe Witze die Runde , dann und wann wird über Kapitalisten , Hausherren , Blutsauger , auf die schlechten Zeiten allgemein geschimpft. Ob es besser wird ? – Man kann nur hoffen ! Zu später Stunde strömen immer mehr Menschen Richtung Stephansplatz. Dort wollen sie beim zwölften Schlag der Turmuhr mit großem Hallo das neue Jahr begrüßen. ( Das Läuten der Pummerin ist nicht üblich , Anm. ) Für die Wiener Polizei bedeutet das Großeinsatz. 1400 Mann stehen bereit , um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ein heilloses Geschiebe auf den Gehsteigen soll vermieden werden. Deshalb gilt ab 22 Uhr die Order »Links gehen !«. »Die Mannschaft schloß bereits um halb 12 sämtliche zum Stephansplatz führende Verkehrsadern mit Kordons ab , um den Zugang zum Stephansplatz einigermaßen zu beschränken. Außerdem bildeten die Sicherheitswachleute Spalier vor den Trottoirs und zogen auch ambulante Ketten , um die Gehordnung aufrechtzuerhalten. Bis gegen Mitternacht bewährten sich die polizeilichen Maßnahmen vollständig. Je näher der große Zeiger der Turmuhr auf der Stephanskirche dem Zwölfer rückte , desto größer wurde der Andrang des Publikums und desto schwerer ließ es sich bewegen , die Standorte auf dem Stephansplatze zu verlassen. Kurz vor Mitternacht kam es daher auch zu den befürchteten tumultarischen Szenen. Ein Wachekordon , der den Stephansplatz gegen die Rotenturmstraße absperrte , wurde von der Menge durchbrochen , obwohl die Polizei mit größter Energie einschritt. In dem lebensgefährlichen Gedränge wurden viele Frauen gestoßen und die stürmischen Szenen erreichten ihren Höhepunkt , als die Springuhr 12 zeigte. Lauter Jubel ertönte , Taschentücher wurden geschwenkt und ›Prosit 1914 !‹ brauste über den Platz. Nachdem die Polizeikordons zurückgezogen worden waren , flutete die Menge ohne Hemmung durch die Gassen. Auch jetzt kam es wieder zu unliebsamen Szenen , Frauen wurden belästigt und halbwüchsige Burschen ergötzten sich damit , ruhige Passanten anzurempeln. Die Zahl der Verhaftungen 14
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war deshalb eine verhältnismäßig große. In den beiden Wachstuben auf dem Petersplatze und im Dorotheum wurden allein 23 Verhaftungen gezählt. Die meisten Fälle betrafen Widersetzlichkeit gegen die Wache. Auch auf dem Aspernplatze [ heute Julius-Raab-Platz ] hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt , um den Neujahrsschuß zu erwarten. Er wurde mit Hoch- und Prositrufen begrüßt. Das Gebäude der Urania blieb durch 20 Minuten erhellt.«9 Vergessen scheint , dass der Jubel nur für kurze Zeit das Elend in der Großstadt verdrängt. Auf diesen grellen Gegensatz weist die Arbeiterzeitung hin : »Die Uhren schlagen , das neue Jahr beginnt , 100. 000 Jubelschreie gellen durch die Straßen. Fesselloser Übermut packt die Beglückten , sie schütteln einander die Hände , sie küssen einander , sie lachen , singen , johlen und tanzen. Bis zu den Sternen scheint der Jubel der Feiernden zu steigen. Aber tritt abseits , nur einen Schritt weit von der Flut der Begeisterung , und jählings hat sich das Bild verändert : du siehst keine leichtlebige Fröhlichkeit mehr , kein loses Scherzen , keine Munterkeit und keinen Witz mehr. Grauenvoll , entsetzlich klingt dem Fernerhorchenden der Neujahrsschrei der Großstadt. Angst hört er auf brüllen , ein Bild wie von der Hand des Höllenbreugel sieht er voll düsterer Verzerrungen vor sich. Hilferufe , Rettungsschreie , das Vergurgeln Ertrinkender , das ziellose Flüchten Brennender , das Stöhnen der Gestürzten – all das hebt sich gräßlich aus dem nächtlichen Neujahrstaumel der großen Städte.«10 Schlag Mitternacht setzen die Beamten des Wiener Haupttelegrafenamtes ein Neujahrsglückwunschtelegramm an ihre Kollegen im Inund Ausland ab : Das alte Jahr , entschwunden endlich betrauert niemand , selbstverständlich. Wie hat es uns geplagt , gequält ! Es war dem Kriegsgott ja vermählt. Der gab der ganzen Welt zu schaffen , Besonders uns beim Telegraphen. Was rackerten wir da zusammen An Millionen Telegrammen ! Zu Haufen formten sich die Häufeln , Wohin damit ? ’s war zum Verzweifeln ! Mit Grausen denken wir der Nächte , Wenn angerückt die großen Mächte , Mit den noch größeren Chiffernoten. Das ging uns mörd’risch an die Pfoten ! 15
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Wir kamen nicht ins Kriegesfeuer , Doch spürten wir es ungeheuer. Wir mußten aller Sünden büßen , Es war schon wirklich zum Erschießen ! Nun liegt der Kriegsgott im Schlummer , Sein Weib tat auch den letzten Brummer. Ein neues Jahr , noch Rätsel heut , tritt auf den Plan , bringt’s Lust , bringt’s Leid ? Wohl bestenfalls gemischte Kost , Um uns nicht zu verwöhnen ! Prost ! 11 Die Antworten lassen nicht lange auf sich warten. Ähnlich dichterische Ergüsse langen aus Dresden , Leipzig , Frankfurt a. M. , Innsbruck etc. ein : Der Friede bleibe stets gewahrt – auf weiter Erdenrunde mit steter Einigkeit gepaart 12 wünschen die Leipziger Telegrafen-Beamten. Optimistisch gehen die Kollegen aus Eger in Böhmen das neue Jahr an : Lasset uns fröhlich weiter schaffen , endlich kommt doch wohl der Lohn , daß die 14 möchte bringen was in 13 noch nicht war. Darauf laßt die Gläser klingen. Darauf Heil ! Prosit Neujahr ! 13 Neujahrstag am Kaiserhof – das war seit jeher ein besonderer Festtag , ein Tag großen Spektakels. So ist es auch am 1. Jänner 1914 abends. Ein schier endloser Zug herrschaftlicher Karossen und Automobile bewegt sich Richtung Hof burg. Wagen um Wagen fährt in den Schweizerhof ein , die Wachen treten ins Gewehr , ein Spalier des Infanterieregiments Nr. 39 leistet die Ehrenbezeugung. Über die Botschafterstiege steigen Herren in reich bestickten Uniformen und Damen in großer Abendtoilette empor , durchschreiten eine Flucht von Gemächern , an deren Türen Mitglieder der Trabantenleibgarde und der Arcièren-Leibgarde postiert sind. Schließlich werden die Gäste in Audienz empfangen – nicht von Seiner Majestät , es ist traditionell der Erste Obersthofmeister 16
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Fürst Alfred Montenuovo , der die Glückwunschadressen für den Kaiser entgegennimmt. Alles , was Rang und Namen hat , ist in die Hofburg gekommen : die Chefs der Hofkanzleien , die Geheimen Räte und Kämmerer , die Minister , die Chefs der Verwaltungsbehörden , ausländische Botschafter und Gesandte , die hohe Geistlichkeit , die aktiven Generale der Garnison Wien etc. Die Sternkreuzordens- und Palastdamen sowie die hoffähigen Damen geben ihre Glückwunschadressen bei Obersthofmeisterin Fürstin Trauttmansdorff ab. Zu gleicher Zeit findet in der Kleinen Galerie von Schloss Schönbrunn das Familiendiner des Herrscherhauses statt. Unter dem Deckenfresko Gregorio Guglielmis , die Macht des Hauses Habsburg glorifizierend , bietet die Tafel den gewohnten prächtigen Anblick : Damast , Kristall , Silbergedecke , das Besteck nach spanischem Hofzeremoniell einseitig rechts aufgelegt , kunstvoll gebrochene Servietten , dazu zauberhafte Blumendekorationen. Die 42 Teilnehmer wissen im Vorhinein , dass es kein gemütlicher Abend wird. Kaiser Franz Joseph bleibt auch im Familienkreis Majestät , man kann ihn nicht so einfach anreden , muss vielmehr warten , bis er an einen das Wort richtet. Politik ist tabu. Selbst die variantenreiche Menüfolge , die delikaten Weine und Liköre , die von geübten , lautlos agierenden Lakaien serviert werden , können nicht so recht genossen werden. Der Kaiser , weder Gourmet und schon gar nicht Gourmand , hat die unangenehme Eigenschaft , rasch zu essen. Ist er mit einem Gang fertig , wird allen anderen Tafelnden der Teller entzogen. Es würde sich nicht schicken , länger als Seine Majestät zu speisen. Frau Anna Sacher weiß , dass sie an solchen Tagen hohen Besuch in ihrem eleganten Hotel hinter der Oper erwarten kann. Für die Sozialdemokraten ist dieser 1. Jänner 1914 ein Tag von historischer Bedeutung. Auf den Tag genau vor 25 Jahren wurde in einem Gasthaussaal in Hainfeld in Niederösterreich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. Die Arbeiterzeitung , Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratie in Österreich , wie sich das Blatt offiziell nennt , geht zuerst auf die aktuelle Lage zu Jahresbeginn 1914 ein : »Die Arbeiterklasse lebt heute nicht in Festesstimmung. Wirtschaftskrise , Massenarbeitslosigkeit , Lohnkürzung durch Feierschichten , Enttäuschung der auf das Parlament des gleichen Wahlrechtes gesetzten Hoffnungen – all das läßt keinen Festesjubel aufkommen. Und doch , gerade weil wir heute härter denn je den Druck kapitalistischer Gewalt fühlen , gerade weil die Steigerung des Massenelends Kleinmut und Verzagtheit in unsere Reihen trägt , gedenken wir heute doppelt dankbar der geschichtlichen Tat …«, und , speziell an die Jungen in der Arbeiterbewegung gewandt , wird auf die Erfolgsgeschichte der Sozialdemokratie 17
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hingewiesen : »Aus dem Häuflein verfolgter , machtloser Männer , das in Hainfeld getagt , war die größte Partei Österreichs geworden , eine Partei mit einer Million Wählern , mit Hunderttausenden organisierter Parteimitglieder , mit einer weit verbreiteten Presse , mit einer starken parlamentarischen Vertretung … Und Hand in Hand mit diesem politischen Aufstieg ging das Wachstum der Gewerkschaften. Vor Hainfeld waren die Arbeiter machtlos der Willkür des Kapitalismus preisgegeben. Der Hainfelder Tag gab auch der gewerkschaftlichen Organisation den mächtigsten Anstoß. In den fünfundzwanzig Jahren , die seither vergangen sind , wurden die Gewerkschaften zur Großmacht im Wirtschaftsleben , wurden die Löhne erhöht , die Arbeitszeit verkürzt , wurde der Despotismus des Kapitals auch in der Fabrik Schritt für Schritt eingeschränkt … Auch wenn die Ungunst des Augenblicks unseren Vormarsch hemmt , so ist es doch Tatsache , daß wir in diesen fünfundzwanzig Jahren so stark geworden sind , daß die Furcht vor uns alle besitzenden Klassen zusammenschweißt , daß unser sieghafter Vormarsch sie mit bleicher Angst erfüllt vor dem drohenden Zusammenbruch ihrer Macht !«14 Diese Bilanz ist ermutigend , doch die Bedrückung durch Teuerung und hohe Arbeitslosigkeit bestimmt den Alltag des Arbeiters. Auch das ungerechte Steuersystem macht ihm zu schaffen. Drei Viertel aller Staatseinnahmen werden durch indirekte Steuern und Abgaben erzielt. Am meisten trägt die Tabaksteuer ein , gefolgt von den Steuern auf Zucker , Bier , Wein , Branntwein , Salz , Fleisch , Petroleum und Lotto. Für seine Grundbedürfnisse muss ein Arbeiter durchschnittlich 20 Prozent seines Lohnes dem Fiskus abliefern. Millionäre zahlen hingegen kaum zehn Prozent Steuern. Die Einkommenssteuersätze betragen 1913 nur 0,5 bis 5 Prozent. Der Steuerbeitrag der »Oberen Zehntausend« macht knapp sieben Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus. Von Steuergerechtigkeit kann in Österreich somit keine Rede sein. Auf die unverhältnismäßig schwere Bürde für die arbeitende Bevölkerung weist die Arbeiterzeitung in einer Karikatur hin :
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Abb. 7 Wir wünschen , lieber Herr Proletar Ihnen a glücklich’s neues Jahr ! Bleiben S’ uns ferner recht gewogen und denken S’ an uns beim Fatierungsbogen Wenn Sie uns net täten subventionieren , Könnt’ unsereins net existieren ; Das Steuerzahlen bringt uns um Wenn nicht das Existenzminimum auf sich nehmen tät die größten Lasten Sie Liebster , Sie sind ja gewohnt zu fasten.
Aber schaun S’ doch unsereiner an Ob ihm man das Zahlen zumuten kann Wir plagen uns ohnedies ungeheuer Für’s Vaterland , wenn wir kassieren die Steuer Bei Ihnen ein. Müßten wir selber noch zahlen Wie Sie – dann müßten vom Fleisch wir fallen In ein paar Tagen wir kläglich verenden. Drum müssen Sie spenden und spenden und spenden Im neuen wie im vergangenen Jahr Sie große Wurzen, Herr Proletar.
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Im Teufelskreis des Wettrüstens: die Lage in Europa Die Feiertage sind vorüber , der Alltag bestimmt wieder den Gang der Ereignisse. Es ist Zeit , Bilanz des vergangenen Jahres zu ziehen und Prognosen für das neue Jahr zu erstellen. Am meisten bewegt den politisch Interessierten die Frage : Wird es besser oder kommt es noch schlimmer ? Die Bilanz für 1913 fällt beim besten Willen nicht positiv aus. Die Hauptgefahr für den Frieden Europas droht vom Balkan. Zwei Kriege haben dort die bisherige politische Struktur auf den Kopf gestellt. Ermutigt durch den leichten Sieg Italiens in einem fadenscheinig begründeten Krieg gegen das Osmanische Reich 1911 haben sich Serbien , Montenegro , Bulgarien und Griechenland zu einem Bund zusammengeschlossen , mit dem Ziel , die Türken endgültig aus Europa zu vertreiben. Denn trotz der Entstehung dieser unabhängigen Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts stand 1912 noch ein beachtlicher Teil des Balkans unter der Herrschaft des Sultans : Thrakien , Mazedonien , Altserbien , Albanien , der Sandschak Novipasar und die Insel Kreta. Unter der Parole »Der Balkan den Balkanvölkern !« sollen die »slawischen Brüder« vom »Türkenjoch« befreit werden. Im Oktober 1912 brach der Krieg aus. Was niemand für möglich gehalten hatte , trat ein : In wenigen Wochen brach die türkische Herrschaft am Balkan zusammen. Die Verbündeten hefteten Sieg auf Sieg an ihre Fahnen. Den Bulgaren gelang es , die Hauptmacht der Türken zu schlagen und sie Richtung Konstantinopel zu verfolgen. Beim Zustandekommen des Balkanbundes hatte Russland im Hintergrund die Fäden gezogen , der Zar ist als Schiedsrichter bei Streitigkeiten zwischen den Verbündeten ausersehen. Die Generalabrechnung der Balkanvölker für 500 Jahre Fremdherrschaft ist jedenfalls gelungen. Als es an die Aufteilung der Beute ging , gerieten sich die Verbündeten aber in die Haare. Bulgarien , das sich als Hauptsieger sah , verlangte den Löwenanteil am Gebietsgewinn. Alle Ausgleichsversuche scheiterten. Im Sommer 1913 brach der zweite Balkankrieg aus. Die Bulgaren schlugen gegen die Waffenbrüder von gestern los. Nun schaltete sich das bisher unbeteiligte Rumänien ein. Die Bulgaren waren dem Mehrfrontenkrieg nicht gewachsen und mussten kapitulieren. Der Friede von Bukarest ( 10. August 1913 ) teilte den Balkan ganz neu auf.
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Abb. 8 : Ein schwerer Schlag für die Monarchie : Die neue Grenzziehung nach dem zweiten Balkankrieg
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Für Österreich-Ungarn ist der Umsturz vor seiner Haustür im Südosten ein herber Schlag. Der Ballhausplatz ( Sitz des k. u. k. Außenministeriums ) und der Generalstab hatten fix mit der Aufrechterhaltung des Status quo gerechnet. Nun gibt es keine gemeinsame Grenze mehr mit dem Osmanischen Reich , Serbien und Montenegro haben ihr Staatsgebiet in etwa verdoppeln können und grenzen unmittelbar aneinander. Sorge bereitet in Wien vor allem der serbische Nachbar. Er verfolgt einen offenkundig pro-russischen Kurs , seit in Belgrad die Dynastie Karadjordjević auf den Thron gelangt ist. Das austrophile Haus Obrenović war 1903 in einem bestialischen Staatsstreich ausgelöscht worden. Serbien betrachtet sich als Piemont der Südslawen. Serben , Kroaten und Slowenen sollen in einem Reich zusammengefasst werden. Ein Traum , der zwangsläufig die Zerschlagung der Habsburger Monarchie voraussetzt und damit Krieg , denn auf friedlichem Weg wird sich dieses Ziel keinesfalls erreichen lassen. Gewitterschwüle im Verhältnis zwischen Wien und Belgrad herrscht , seit die Monarchie die seit 30 Jahren mit internationaler Zustimmung ( Berliner Kongress 1878 ) besetzten türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina offiziell annektiert und 1908 zu Reichslanden gemacht hat – diesmal einseitig , ohne internationalen Beschluss. Russland und Serbien fühlen sich düpiert und sinnen auf Revanche. Für die Serben war das vornehmlich von Serben bewohnte Bosnien ein Hoffnungsgebiet , um dem Ziel vom Reich der Südslawen näher zu kommen. Dem hat Wien einen Riegel vorgeschoben. Auch in St. Petersburg gibt man sich einem Traum hin , er heißt Panslawismus. Alle »slawischen Brüder« sollen zusammengehören , der Zar auch über Tschechen , Slowaken etc. , die Untertanen des Kaisers in Wien sind , herrschen. Der Geist der Heiligen Allianz von 1815 , der den unverbrüchlichen Zusammenhalt der legitimen Herrscher beschwor , ist längst tot. In Wien steht man vor einem außenpolitischen Scherbenhaufen : »Zu spät markierte Österreich-Ungarn jetzt eine Bewegung zu Gunsten Bulgariens. Sie wurde zögernd , unsicher , ohne Zielbewußtsein und Entschlossenheit ausgeführt und war von vornherein zu Erfolglosigkeit verurteilt. Wien verlangte , daß der Bukarester Frieden den Großmächten zur Prüfung vorgelegt werde. Es fand jedoch nirgendwo Unterstützung , selbst nicht in Berlin , und es gab alsbald den wenig glücklichen Gedanken auf.«15 Mit ihrem Vorstoß hat die Monarchie eine merkliche Abkühlung im Verhältnis zum befreundeten Nachbarstaat Rumänien bewirkt – sehr zur Genugtuung Russlands. Wenigstens einen Erfolg kann der Ballhausplatz für sich verbuchen : die Bildung eines unabhängigen Staates Albanien. Möglich wurde das durch das Zusammenwirken mit dem Verbündeten Italien. Beide Ad22
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ria-Mächte haben kein Interesse daran , den Serben die Küste an der Straße von Otranto , dem Eingang zur Adria , zu überlassen. Die übrigen Mächte stimmen zu. Albanien ist »nicht das Ergebnis eines natürlichen Werde- und Wachstumsdranges , sondern von fremden Händen wie aus totem Lehm geknetet worden , die ihm von außen seine Form gaben«16. Doch wo liegen die Grenzen Albaniens ? Sie zu ziehen birgt neue Gefahren in sich. Unter teils massiven militärischen Drohungen müssen die Montenegriner zur Räumung von Skutari , die Serben zur Räumung Nordalbaniens mithilfe eines Ultimatums ( 18. 10. 1913 ) gezwungen werden. In ähnlicher Weise wird Griechenland aufgefordert , seine Truppen aus dem Nordepirus abzuziehen. Der neu gegründete Staat ist eindeutig das Liebkind des Ballhausplatzes , er lässt die Fehlschläge weniger schmerzhaft spüren. Nun sucht man einen geeigneten Fürsten , der Albanien stabilisieren soll. In Prinz Wilhelm zu Wied , Neffe der rumänischen Königin Elisabeth ( bekannter unter dem Dichternamen Carmen Sylva , Anm. ), glaubt man , ihn gefunden zu haben. Der große Krieg ist zwar vermieden worden , aber es sind Schwelbrände in Südosteuropa vorhanden , die höchst gefährlich sind. »Denn das Stück lässt sich als eine Tri- oder Tetralogie an , als eine Folge von Bühnenvorgängen , die sich auseinander entwickeln und deren jeder die Begründung des nächsten in sich schließt.«17 Es wäre naiv zu glauben , die Spannungen würden mit der Zeit nachlassen , denn »die Gefahr für den Weltfrieden entsteht ausschließlich aus den außerbalkanischen Interessen , die sich auf dem Balkan zur Geltung bringen wollen«18. Auf ihre Interessen am Balkan könne die Monarchie aber keineswegs verzichten , denn sie ist »die einzige europäische Großmacht , die nicht einen Geviertmeter Kolonien besitzt … Ließe Österreich-Ungarn es zu , daß man es aus dem Balkan , dem natürlichen Betätigungsfeld seiner Volkswirtschaft ausschloß , so unterzeichnete es seine Abdankung als Großmacht.«19 Die Veränderungen auf dem Balkan haben für das Vielvölkerreich der Habsburger auch enorme Auswirkungen auf seine innere Lage. Denn auf seinem Territorium leben »viele Millionen Serbokroaten und Rumänen , deren Seele in dem gleichen Rhythmus mit der ihrer selbständigen Volksgenossen schwingt , und es kann und darf der Mo narchie nicht gleichgültig sein , ob diese Millionen loyale Bürger und staatserhaltende Kräfte sind oder ob sie , von der Stimmung ihrer auswärtigen Brüder gewonnen , sich in die Geistesverfassung von unerlösten Opfern hineindenken und hineinfühlen und Staatskatastrophen herbeiwünschen. Österreich-Ungarn hat für seine Mobilmachung eine halbe Milliarde [ K ronen ] aufgewendet und hunderttausende Re23
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servisten viele Monate ihrem Erwerb entzogen und zur Mühsal des Heeresdienstes verhalten. Es hat also Opfer gebracht , die nicht weit hinter jenen zurückbleiben , die ein Krieg erfordert hätte. Und was hat es dafür gewonnen ? Es hat sich am Balkan Widersacher großgezogen , die schwer zu versöhnen sein werden«20, konstatiert die Neue Freie Presse. Nicht berücksichtigt in dieser Analyse ist ein Ereignis , das 1913 unfreiwillig bekannt wurde , dessen Tragweite sich aber erst später erweisen wird : die Spionageaffäre Redl. Wie um das Unglück der Monarchie vollzumachen , flog inmitten der Balkanwirren im Mai 1913 dieses ungeheuerliche Verbrechen auf. Ausgerechnet der Vizechef des Evidenzbüros zur Abwehr ausländischer Spionage und Generalstabschef in Böhmen , Alfred Redl , hatte seit 1901 hochbrisantes Material verraten. Nun weiß man im k. u. k. Generalstab , dass einem bei allen Planungen Russen , aber auch Italiener und Franzosen in die Karten geblickt hatten. Über Russland wissen auch die Serben Bescheid. Redl , wegen seiner Homosexualität von den Russen erpresst , hatte alles geliefert , was die Gegenseite wünschte. Da er Zugang zu allen militärisch streng geheimen Akten hatte , blieb den Auftraggebern so gut wie nichts verborgen. Befragen konnte man den Hochverräter nicht mehr , er wurde unmittelbar nach seiner Enttarnung zum Selbstmord gezwungen. Steuert die Menschheit auf einen Abgrund zu ? Die Antwort von Max Nordau21 lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig : »Europa bietet einen halluzinatorischen Anblick. Das Land verschwindet unter Übungslagern , Kasernen , waffenstarrenden Millionen zu Fuß , zu Pferd , zu Rad , zu Auto , in den Lüften , das Meer unter Dreadnoughts und Überdreadnoughts , Tauchbooten , Wasserflugzeugen … überall verschlingen Rüstungsanleihen die Überschüsse der fruchtbaren Arbeit , überall macht die maßlose Verteuerung aller Dinge das Leben der Menge mühseliger , sorgenvoller , entbehrungsreicher. In jedem Land verkünden tobende Minderheiten , denen die eingeschüchterte Mehrheit nicht zu widersprechen wagt , mit wüstem Geschrei ein Kannibalenideal der Vorherrschaft , der Eroberung , der Aufteilung von Weltteilen und vor allem des Krieges , des fröhlichen , heiligen Krieges. In den internationalen Beziehungen hat die Moral nie eine Rolle gespielt ; jetzt ist auch die Vernunft aus ihnen verbannt. Der Einzelne , der sich den gesunden Menschenverstand bewahrt hat , starrt entsetzt in dieses Massendelirium und ist versucht , die Augen zu schließen , um nicht mitanzusehen , wie die ganze gesittete Menschheit einem Abgrund der Zerstörung zutaumelt , ohne daß die Zurufe weniger Warner sie zur Besinnung bringen können.«22 24
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Europa ist eindeutig vom Rüstungsfieber ergriffen , alle haben Angst voreinander. Die veröffentlichten Prognosen belegen die Kosten , die zu erwarten sind :
Abb. 9
Solche unerhörte Kapitalien werden der friedlichen Produktion , der Industrie und dem Handel entzogen. Vollkommen ungelöst bleibt die Frage , wie diese Riesensummen beschafft werden sollen … Gewiss sind die Ersparnisse der Völker noch weit größer als die Erfordernisse für die Massenheere ; das ist aber nur ein sehr magerer Trost , weil die Verwendung stets wachsender Teilbeträge für solche unproduktive Aufwendungen das für friedliche Anlagen , für die Fundierung der industriellen und finanziellen Betätigung zuwachsende Kapital immer mehr einengt … Hier liegt das größte Hindernis für eine ausgiebige Besserung , die der Friede sonst sicherlich schon in naher Frist gebracht hätte.23 Neben dem außenpolitischen Schaden leidet die Monarchie unter einer wirtschaftlichen Depression im Gefolge der Balkankriege. Mit der Auswanderung von 350. 000 meist jungen Menschen – ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung – hat der Exodus nach Amerika 1913 einen noch nie da gewesenen Rekord erreicht. Der Konsum ist eingebrochen. »Ein Jahr ärgster Teuerung und größten Verdienstrückganges mußte die Bevölkerung zur Einschränkung zwingen. Die Bevölkerung der Hauptstadt und der weitesten Teile des Reiches hat schlechter gelebt , schlechter gewohnt , sich schlechter gekleidet. Der Fleischkonsum ist in Österreich ohnehin auf einer im Verhältnis zu Deutschland oder gar zu England sehr niedrigen Stufe , ist neuerlich vermindert. Eine Umfrage bei den Konsumvereinen und anderen Zentralstellen des Verkaufs ergibt , daß nur der Absatz der billigsten Nahrungsmittel gestiegen ist und daß sich auch die mittleren Stände vielfach Zurückhaltung auferlegt haben.«24 1913 hat sich als »annus horribilis« erwiesen , offensichtlich doch eine Unglückszahl diese 13. Ja , das angebrochene Jahr 1914 »hat es wirklich kinderleicht , um unser Wohlwollen zu erwecken. Es braucht nur in allen und jedem beinahe das Widerspiel jenes Vorgängers zu sein.«25 25
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Gibt es gar nichts Ermutigendes , etwas , was den politischen Horizont weniger düster erscheinen lässt ? Rascher als geglaubt wird der Zeitungsleser fündig. Unter dem Titel »Das Land der eingebildeten Armut. Einige Gedanken über die Möglichkeiten des neuen Jahres« ist in der Neuen Freien Presse Erfreuliches zu lesen : »Eines der wichtigsten Ereignisse des abgelaufenen Jahres war die Erkenntnis , daß der österreichische Wohlstand aus Stößen , Erschütterungen und böswilligen Angriffen wohl mannigfach verletzt , aber mit einem großartigen Beweise der Beständigkeit hervorgegangen ist. Beim Rückblick auf das abgelaufene Jahr drängt sich zunächst das Gefühl der Bewunderung auf für den Industriellen und den Kaufmann , der , bedrängt von dreimaliger Kriegsgefahr , bedrückt von Kapitalmangel und Absatzstockung , ohne Vertrauen in die Einsicht der führenden Staatsmänner , im Funkenregen , der um unser Dach herumsprühte , sich behaupten konnte. Von den Häusern , die in Österreich zählen und gelten , ist kein einziges verschwunden … Was kann mehr kriegsgeschützt sein als die Bodenrente des Großgrundbesitzes und der Getreidepreis des Pächters in der Landwirtschaft , was mehr als der Gehalt des Beamten und jetzt auch der Ertrag von Miethäusern. Millionen sind von den Unruhen nicht einmal gestreift worden und dazu gehören die Glücklichen , die bares Geld hatten , welches durch den hohen Zinsfuß [ 4 % , Anm. ] eine so ergiebige Mine des Einkommens geworden ist … Was in den drangvollen Monaten des abgelaufenen Jahres sich erhalten konnte , ist fest im Holze und bricht nicht mehr. Die Schrecken , die wir durchgemacht haben , können wir nicht so bald wieder erleben … Wir haben die Überzeugung , daß die Menschheit einer längeren , gesegneten Friedenszeit entgegengehe. Nur unberechenbare Zufälle , die über die Völker wie Heimsuchungen kommen , können in der jetzigen Stimmung den Ausbruch eines Krieges herbeiführen !« 26 Durchaus positive Aspekte sieht die christlichsoziale Reichspost zur Jahreswende : »Mehr als einmal schienen die Balkanwirren die Monarchie in ihren Strudel zu zerren ; eine ganze Koalition von Gegnern stand bereit , den vernichtenden Schlag gegen den unliebsamen Nachbar zu tun. Aber in ernster Stunde war im Habsburgerreich jener Geist wach , der bei Aspern und Leipzig , bei Custozza , Novara und Lissa Triumphe von Vaterlandsliebe und Heldentum errungen ; und der Wille dieses Geistes , die Bereitschaft dieses Volkes , Ehre und Heimat nach Väterart zu schützen , war stark genug , alle Angriffsgelüste der Feinde niederzuhalten. Ohne daß es nötig geworden wäre , Söhne in offener Feldschlacht zu opfern , hat Oesterreich die umstürzenden Wendungen auf dem Balkan mit seinen Lebensinteressen in Einklang zu bringen 26
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gewußt … 1914 wird für Österreich ein schönes Jahr sein , wenn all jene auf bauenden , entsagend-heroischen Kräfte , welche dem Besten des abgelaufenen Jahres ihren Stempel aufgedrückt haben , gesteigert weiter wirken ; es wird ein Unglücksjahr sein , wenn die verneinenden Kräfte Boden gewinnen.«27 Gute Nachrichten kommen unverhofft aus dem Parlament ( Reichsrat ). Dort haben die Ruthenen ( U krainer ) ihre monatelange Obstruktionspolitik in der Frage einer eigenen nationalen Universität in Lemberg in Galizien und in der Frage der Wahlrechtsreform aufgegeben. Steuervorlagen und das Budgetprovisorium für 1914 können somit auf parlamentarischem Wege beschlossen werden. Damit ist die Gefahr gebannt , dass der ominöse Paragraf 14 zur Anwendung kommt ; also jener Notstandsparagraf , der Ministerpräsident Graf Stürgkh die Möglichkeit gäbe , ohne Parlament auf dem Verordnungswege zu regieren. »Mit einem zum Frohsinn stimmenden Ereignisse schließt dieses traurige Jahr. Kaum läßt sich in Worten so deutlich sagen , wie die Sorge am Herzen nagte , daß die Österreicher vor der Welt neuerdings als Böotier verhöhnt , als Menschen , die nicht einmal den Besitz schmal zugemessener verfassungsmäßiger Rechte dauernd zu erhalten vermögen , verlacht werden könnten … Es war schwer , das Parlament gegen das Parlament oder mindestens gegen einzelne Gruppen desselben zu verteidigen ; allein der Reichsrat ist eine Reichsnotwendigkeit , die für das Volk noch wichtiger ist als die Staatsnotwendigkeiten. Hand an ihn legen , ihn zum lächerlichen Anhängsel und die Abgeordneten zu nutzlosen Diätenparasiten herunterzudrücken , wäre eine Sünde an Österreich.«28 Neue Hoffnungen bestehen auch , die Dauerkrise in Böhmen zu überwinden. Alle bisherigen Versuche , einen Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen ähnlich wie in Mähren ( 1905 ) zustande zu bringen , sind an den radikalen Positionen beider Seiten gescheitert. Die Verhandlungen sollen Mitte Jänner wieder aufgenommen werden. In Böhmen gibt es seit Sommer 1913 keine Selbstverwaltung mehr , der Landtag ist aufgelöst , eine kaiserliche Verwaltungskommission führt die Geschäfte. Sogar auf dem Gebiet der europäischen Außenpolitik gibt es Erfreuliches zu vermelden. Der britische Schatzkanzler Lloyd George will , wie er gegenüber dem Daily Chronicle ankündigt , die Rüstungsausgaben überdenken. Die Beziehungen zu Deutschland seien »unendlich freundlicher als seit einer Reihe von Jahren … Die Spannung hat gänzlich nachgelassen … Daher genügt die gegenwärtige Superiorität unserer Flotte. Weitere fieberhafte Anstrengungen sind nicht nötig«, auch »weil sich die Revolte gegen die erdrückenden Rüstungen vorbe27
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reitet. Die industriellen Klassen , sowohl die Kapitalisten wie die Arbeiter , empören sich mit ihrem gesunden Menschenverstand gegen diesen organisierten Wahnsinn.«29 Das Verhältnis zwischen Briten und Deutschen ist neben der Lage am Balkan von höchster Bedeutung für den Frieden in Europa. Mit Misstrauen verfolgt man in London seit Jahren die massive Aufrüstung der deutschen Kriegsflotte , das Lieblingsprojekt Kaiser Wilhelms II. Darin sehen die Briten eine Gefahr für ihre Vorherrschaft auf den Weltmeeren. Automatisch hat das zur Annäherung der Briten an Frankreich ( Entente cordiale 1904 ) und an Russland ( 1907 ) geführt. Die Tripleentente ( in der österreichischen Presse als Dreiverband bezeichnet , Anm. ) steht dem Dreibund Deutschland , Österreich-Ungarn und Italien gegenüber. Hier sieht man sich von einer »Einkreisungspolitik« bedroht. Jedes Zeichen von Entspannung zwischen London und Berlin ist auch für das Habsburgerreich , das in »Nibelungentreue« an das wilhelminische Deutschland gebunden ist , von höchster Bedeutung. Ermutigendes gibt es in den Zeitungen nach Neujahr auch über das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Italien zu lesen. Die Italiener gelten im Dreibund als unsicherer Partner. Es lässt sich nicht leugnen , dass Italien Aspirationen auf die italienischsprachigen Gebiete der Monarchie hat , jene »terra irredenta« ( unerlöste Erde ) bei günstiger außenpolitischer Lage an sich bringen möchte. Dazu gehören Trient ( WelschTirol ), Triest , Österreichs Haupthafen , und Istrien , wenn dort auch nur die Küstenregion italienisch besiedelt ist. Unverkennbar hat sich Rom in den vergangenen Jahren Frankreich ( 1902 ) und Russland ( 1909 ) angenähert , nicht zuletzt in dem Bestreben , jeder nochmaligen Machterweiterung des Habsburgerreiches auf dem Balkan nach der Annexion Bosnien-Herzegowinas einen Riegel vorzuschieben. Freilich ist Italien auch auf wohlwollendes Verhalten des ungeliebten Verbündeten in der sogenannten Inselfrage angewiesen. Dabei geht es um den Dodekanes , jene zwölf Ägäis-Inseln vor der türkischen Küste , die die Italiener während ihres Krieges gegen das Osmanische Reich 1911 besetzt haben und auch behalten wollen. Mit Unbehagen bewerten sie den Vorschlag des britischen Außenministers Sir Edward Grey , die Inseln den Griechen zu übergeben. Die italienische Presse würdigt das »herzliche Zusammenarbeiten« von Wien und Rom : »Die in den Wiener Kreisen so sympathisch hervorgehobene Bereitwilligkeit , mit welcher Österreich-Ungarn seine Zustimmung zum italienischen Standpunkt bekanntgab , ist ein Akt der Sympathie , der nicht unbemerkt in unserem Lande bleiben kann und dessen Wert das italienische Volk in seinem feinen politischen Empfinden zu würdigen weiß«30 , heißt es in der Zeitung Tribuna. 28
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Es gibt also Grund zu Optimismus , dass »die düsteren Wolken , die noch zu Beginn des Vorjahres den Frieden des Vaterlandes bedrohten , sich , wie es scheine , verzogen haben«31 , wie der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza in seiner Neujahrsansprache feststellte. Die Wiener Börse , untrügliches Stimmungsbarometer internationaler Befindlichkeit , bestätigt den Trend zum Positiven : »Die Neujahrsbetrachtungen haben die Auffassung des Marktes lebhaft beschäftigt und insbesondere die Darlegungen , daß der österreichische Wohlstand aus den gewaltsamen Erschütterungen des letzten Jahres mit einem großartigen Beweise seiner Beständigkeit hervorgegangen ist , sowie die Ausführungen , daß sich sowohl in Oesterreich und Ungarn wie in der Weltwirtschaft wieder Ansätze für eine kommende Besserung zeigen , haben auf die Beurteilung der allgemeinen Lage einen starken Eindruck geübt. Der Verkehr der Vorbörse war daher von einer durchwegs freundlichen Stimmung beherrscht.«32
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Tradition und Privilegien: die Habsburger Freude im Hause Habsburg ! Die Dynastie ist um ein Mitglied größer , denn Erzherzogin Zita ist am 3. Jänner 1914 acht Uhr abends »eines gesunden Mädchens genesen , Mutter und Kind befinden sich wohl«. Sogleich wird der Öffentlichkeit in einem Bulletin mitgeteilt : »Das Allgemeinbefinden Ihrer kaiserlichen und königlichen Hoheit der durchlauchtigsten Frau Erzherzogin Zita ist den Umständen entsprechend. Kräftezustand ist normal. Temperatur 37,3 , Puls 84. Die neugeborene Erzherzogin ist gesund und kräftig. Professor Dr. Peham m.p.«33 Das allein kann natürlich nicht genügen , die Zeitungsleser erwarten mehr : »Erzherzogin Zita hat nun zu ihrem 13 Monate alten Söhnchen Franz Joseph Otto noch ein Mädchen erhalten und derart jenes Glück gefunden , das in allen Familien , den höchsten und niedrigsten , am heißesten ersehnt wird. Dem erstgeborenen Knaben , dessen Erscheinen die dereinstige direkte Vererbung der Krone sicherte , ist eine Prinzessin gefolgt und man weiß , daß jede junge Mutter als zweites Kind ein Mädchen ersehnt , das naturgemäß länger ihr Eigen bleibt , und noch zärtlicher und inniger mit ihr verkettet wird als ein Knabe … Wenn nun Erzherzogin Zita nach den schweren Stunden , die keiner Mutter erspart bleiben , ihres jungen Mutterglücks froh ist , so darf sie sowohl als ihr Gemahl dessen sicher sein , daß sich mit ihnen die gesamte Bevölkerung der Monarchie und besonders die Wiener freuen , die ja seit jeher an den Schicksalen des Kaiserhauses den innigsten Anteil nehmen.«34 In der Öffentlichkeit ist wenig über Erzherzog Karl Franz Joseph bekannt , obwohl er in der Thronfolge an zweiter Stelle steht – die Kinder des Thronfolgers Franz Ferdinand sind wegen zu »unedler« Abkunft davon ausgeschlossen. Karl ist nicht der Typ Mensch , der das Rampenlicht sucht. Still , bescheiden , pflichtbewusst und fromm , das sind die Haupteigenschaften des nun 26-Jährigen. Er tut , was man von ihm erwartet , speziell was der Kaiser von ihm erwartet , absolviert seinen Dienst in der k. u. k. Armee , heiratet standesgemäß und sorgt für Nachwuchs – eine der wichtigsten Anforderungen an einen Erzherzog. Seit seiner Versetzung aus Galizien zum Infanterieregiment Nr. 39 nach Wien im Range eines Majors im November 1912 bewohnt der künftige Thronerbe Schloss Hetzendorf in Meidling ( 1 2. Bezirk ). Hier verlebt er ein stilles Ehe- und Familienglück mit seiner Frau Zita , gebürtiger Prinzessin von Bourbon-Parma.
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Tradition und Privilegien
Abb. 10
Der Gedanke an seine eigene Thronbesteigung liegt dem jungen Paar im Jahr 1914 fern. Irgendwann in den 1930er- oder 1940er-Jahren wird Karl nach menschlichem Ermessen Kaiser Franz II. folgen. Sohn Otto wird voraussichtlich dann jener Kaiser sein , der die Huldigungen zur 700-Jahr-Feier der Habsburgerherrschaft in Österreich 1978 entgegennehmen wird , vorausgesetzt Tradition und Kontinuität können gewahrt werden. Am 7. Jänner 1914 findet die Taufe der jüngsten Prinzessin statt. Schloss Hetzendorf präsentiert sich in »verschwenderischer Fülle nach den Weisungen des Hofgartendirektors Umlauft mit Blumen und Blattpflanzen geschmückt. Was die Warmhäuser in Schönbrunn und in Salzburg , in Miramar sogar an frischen Blumen aufzuweisen hatten , war nach Hetzendorf gebracht worden …«35 Punkt 12 Uhr fährt der Kaiser in den Schlosshof ein. Es ist einer der wenigen Anlässe , derentwegen er Schönbrunn verlässt. Die täglichen Fahrten zwischen Hof burg und Schönbrunn hat er 1913 aufgegeben – zu anstrengend für den im 84. Lebensjahr stehenden Monarchen. Zugleich ist es eine der raren Gelegenheiten , zu denen die Wiener ihn zu Gesicht bekommen. »Der Kaiser wurde unmittelbar nach seiner Ankunft in die Kapelle ge31
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leitet , an deren Eingang Fürsterzbischof Dr. Piffl dem Kaiser das Aspergile [ Weihwasserwedel , Anm. ] reichte. Auf dem Chor präludierte Hofpfarrkapellmeister Eder auf der Orgel und die Töne wurden beim Eintritt des Monarchen lauter und schwellender. Sie gingen dann in Variationen über die Volkshymne über …«36 Assistiert von zwei Geistlichen vollzieht der Erzbischof den Taufakt mit Jordan-Wasser , Taufpaten sind Erzherzogin Maria Josefa , die Mutter des Kindesvaters , und Prinz Sixtus von Bourbon-Parma , ein ( später berühmt gewordener ) Bruder Zitas. Das Mädchen erhält in der Taufe nicht weniger als 21 Namen : Adelheid , Maria Josefa , Sixta , Antonia , Roberta , Ottona , Zita , Charlotte , Luise , Immakulata , Pia , Theresia , Beatrix , Franziska , Isabella , Henriette , Maximiliana , Genoveva , Ignatia , Markus d’Aviano.
Abb. 11 : Die Zukunft der Thronfolge scheint gesichert : Erzherzog Karl mit seiner Frau Zita und dem ältesten Sohn Otto
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Tradition und Privilegien
»Vom Chor herab erklang das Ave Maria , das Frau Eder von der Hof oper , begleitet von ihrem Gatten Hofpfarrkapellmeister Eder sang. Nach der Handlung stimmte Fürsterzbischof Dr. Piffl das Tedeum an. Danach spendete er den Pontifikalsegen.«37 Während der Täufling von Obersthofmeisterin Gräfin Thun zurück in die Kinderzimmer getragen wird , verfügen sich die Gäste in die Große Galerie zum Familiendéjeuner. Wer es wissen will , was die hohen Herrschaften genossen haben , kann das auch in der bürgerlichen Presse nachlesen : Potage r oyal , Beiguete délicieux , Cotelletes d’Agneau á la Soubise , Chaudfroid de Volaille , Asperges vertes , Petits Gateux à la Reine , Patisserie de Fromage , Glaces aux Ananas , Dessert. Dazu wird Champagner Marke Moët & Chandon gereicht. Für die musikalische Untermalung sorgt die Musikkapelle des Infanterieregiments Nr. 39 unter Kapellmeister Christ. Der schwarze Kaffee wird anschließend in der Kleinen Galerie eingenommen , wobei der Kaiser Cercle hält. Um ½ 2 Uhr tritt er die Rückfahrt nach Schönbrunn an. Auch die anderen Mitglieder der ersten Familie des Reiches kehren nach und nach in ihre städtischen Residenzen zurück. Außer der Hofburg und Schloss Schönbrunn steht ihnen eine Vielzahl repräsentativer Palais zur Verfügung : das Belvedere als Sitz des Thronfolgers Franz Ferdinand ( er war bei der Taufe in Hetzendorf nicht anwesend , Anm. ), Schloss Hetzendorf , das Augarten-Palais ( Erzherzogin Maria Josefa ), das Palais Erzherzog Karl Ludwig ( 4 . , Favoritenstraße , Sitz der Stiefmutter des Thronfolgers , Erzherzogin Maria Theresia ), das Hoch- und Deutschmeister-Palais am Kaiser-Wilhelm-Ring ( heute Parkring ) für Erzherzog Eugen , das Palais Erzherzog Rainer ( 4 . , Schönburggasse ), das Palais Modena ( 3. , Beatrixgasse ), das Palais Erzherzog Friedrich auf der Augustinerbastei ( heute Albertina ), das Palais Toskana für Erzherzog Leopold Salvator ( 4 . , Alleegasse , heute Argentinierstraße ), Schloss Wilhelminenberg in Ottakring ( ebenfalls Erzherzog Leopold Salvator ). Das Palais Erzherzog Ludwig Viktor am Schwarzenbergplatz wird wegen dauernder Abwesenheit des Hausherrn anderwärtig verwendet. Nicht zu vergessen die Schlösser in der Umgebung von Wien : Hermesvilla , Laxenburg , Eckartsau , die Weilburg bei Baden ( Erzherzog Friedrich ) und das sogenannte Kaiserhaus in Baden. Das einstige Jagdschloss Mayerling , Schauplatz der Kronprinzen-Tragödie 1889 , dient nun als Kloster , in dem streng von der Welt abgeschiedene Karmelitinnen für das Seelenheil des kaiserlichen Selbstmörders beten. Aus dynastischer Sicht versteht es sich von selbst , dass jeder dieser Einzelhaushalte über einen eigenen Hofstaat verfügt , angefangen vom Obersthofmeister , Hofdamen , Kammerherren bis zu Stubenmädchen 33
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und Stallburschen. Dazu ein eigener Wagenpark mit Karossen und fallweise schon Automobilen für verschiedene Anlässe zur standesgemäßen Lebensführung eines Erzherzogs oder einer Erzherzogin.
Abb. 12 : Ein standesgemäßer Fuhrpark :
die Wagenremise von Erzherzog Leopold Salvator
Hofwagen , seit Kaiser Franz’ Zeiten einheitlich in dunkelgrün ( »Hofgrün« ist Exklusivfarbe , niemand anderer darf sie verwenden , Anm. ) gehalten , erregen im täglichen Straßenverkehr überall Aufsehen , besonders jene mit Goldschnitt an den Radspeichen – Merkmal , dass eine k. u. k. Hoheit unterwegs ist. Hält ein solcher Wagen vor einem Geschäft , entsteht ein Auflauf von Neugierigen. Wer steigt aus und kauft in welchem Geschäft ? Sofort ist ein Wachmann zur Stelle , um die Ordnung am Gehsteig aufrechtzuerhalten. Kutscher oder Chauffeur sowie der Lakai in ihren Livreen , den Zweispitz auf dem Kopf , schenken dem Gedränge ringsumher keine Beachtung , das sind sie längst gewöhnt. Ein Geschäftsinhaber kann sich keine bessere Reklame wünschen , als eine kaiserliche Hoheit als Kundschaft zu haben. Zumindest winkt der Titel eines Kammerlieferanten , noch begehrter ist freilich »k. u. k. Hoflieferant«. Glücklich eine Firma , die mit einem erzherzoglichen Dankschreiben in der Zeitung für sich werben kann :
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Tradition und Privilegien
Abb. 13
Hauptadresse der edlen Rösser , eleganten Zwei- und Viersitzer sowie Hofautomobile ist die Hofstallstraße Nr. 1 ( später Messeplatz , heute Museumsplatz ) am Rande von Wien-Neubau ( 7. Bezirk ). Dort befindet sich der kaiserliche Marstall , den die beiden Fischer von Erlachs für Kaiser Karl VI. erbaut haben. Der weitläufige Bau bietet Platz für 600 Pferde und etwa 450 Fahrzeuge aller Art. Täglich werden hier 200 bis 250 Hofwagen fahrbereit gemacht und wieder in Empfang genommen. 400 Hof bedienstete unter dem Befehl des Oberststallmeisters sorgen für einen möglichst reibungslosen Ablauf. Der Betrieb in den Hofstallungen ist keineswegs dem öffentlichen Einblick entzogen. Einige der Stallungen und die Hofsattelkammer sind täglich von 12 bis 15 Uhr für Interessierte zugänglich. Tadellose Adjustierung der Hof bediensteten und mustergültige Ordnung im Stall sind selbstverständlich. Unvergesslich bleibt vielen Besuchern , dass die Pferde aus Marmorkrippen fressen – ein Palast für Pferde in allerhöchsten Diensten. Fährt ein Mitglied des Kaiserhauses mit einem Hofzug , dann stehen elegant eingerichtete Hofwartesalons in den Hauptbahnhöfen zur Verfügung.
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Abb. 14 : Kaiserlicher Reisekomfort : Hofwartesalon im Wiener Nordbahnhof
Tradition und Privilegien haben einige Mitglieder der Dynastie aber nicht davon abgehalten können , die »Flucht aus dem Purpur« anzutreten und ein Leben nach ihren Vorstellungen zu führen. Die Namen Johann Orth ( ehemals Erzherzog Johann Salvator ), Leopold Wölfling ( ehemals Erzherzog Leopold Ferdinand ) oder dessen Schwester Luise von Toskana , die aus ihrer Ehe mit dem sächsischen Kronprinzen ausgebrochen und mit einem Bürgerlichen durchgebrannt war , erwähnt man gegenüber dem Kaiser am besten gar nicht. Diesen Weg hat auch der jüngste Bruder des Thronfolgers Franz Ferdinand , Ferdinand Karl , beschritten und gar eine Bürgerliche geheiratet. Der Preis dafür war wie üblich der Verlust sämtlicher Privilegien und das Ausscheiden aus dem Erzhaus. Als Ferdinand Burg fristet er nun in München sein Leben. Für den Kaiser kommt solches Verhalten einer Desertion gleich , da kennt er kein Pardon. Seinen einzig noch lebenden Bruder , Erzherzog Ludwig Viktor , hat er nach einem Skandal mit offensichtlich homosexuellem Hintergrund nach Schloss Kleßheim bei Salzburg verbannt. Ein striktes Tabu ist es , gegenüber Franz Joseph den Namen von Kronprinz Rudolf zu erwähnen , dessen Selbstmord im Jagdschloss Mayerling sich 1914 zum 25. Mal jährt. 36
Tradition und Privilegien
Und dann noch die unebenbürtige Heirat des Thronfolgers Franz Ferdinand mit der Gräfin Chotek , die zwar aus böhmischem Uradel stammt , aber nicht Mitglied eines regierenden oder ehemals regierenden Hauses katholischer Religion ist , so wie es das Familiengesetz des Erzhauses vorschreibt. Mit einem Renunziationseid hat Franz Ferdinand vor seiner Hochzeit schwören müssen , dass die Kinder aus dieser Ehe keinen Anspruch auf den Thron haben. Sie tragen den Namen ihrer zur Fürstin , dann zur Herzogin von Hohenberg erhobenen Mutter. Dass Franz Ferdinand gegen das »Tu felix Austria nube« ( D u glückliches Österreich heirate ! ) verstoßen hat , ist durch die Unerbittlichkeit des Hofprotokolls ständig präsent und sorgt somit für Unbehagen. Finanziert wird der hochherrschaftliche Aufwand aus dem habsburgischen Familienversorgungsfonds 38 , dessen Kapital aus den Erträgnissen von privat erworbenem Großgrundbesitz des Erzhauses Habsburg-Lothringen in Österreichisch-Schlesien , Mähren , Niederösterreich und Ungarn stammt. Dem Kaiser als Familienoberhaupt obliegt die Aufsicht und die Verwaltung des Fonds , er hat das alleinige Recht , die den einzelnen Familienmitgliedern zustehenden Einkünfte zu bemessen. Nach dem Familienstatut von 1839 soll das Kapital des Fonds nie verringert werden. Jährlich werden die Erträge zu einem Drittel unter die Familienangehörigen verteilt , die anderen zwei Drittel sind für allfällige außerordentliche Unterstützungszahlungen oder zur Vermehrung des Stammkapitals bestimmt. In der Regel bedeutet dies den Zukauf weiterer Realitäten. Von diesen Bestimmungen sind die Privatvermögen , über die die verschiedenen Linien der Dynastie verfügen , ausgenommen. 1901 gründete der Kaiser den Familienfideikommiss. Nach der unstandesgemäßen Eheschließung durch den Thronfolger sah er sich dazu bestimmt , Vorsorge zu treffen , dass das Familienvermögen nicht »in fremde Hände« gerät : »Die unbeweglichen Güter und das Capitalvermögen werden für immerwährende Zeiten zu einem Familien-Fideicomisse des Erzhauses Habsburg-Lothringen gewidmet und bestimmt , und als ein unveräußerliches Privatgut Unserer Familie erklärt.«39 Erbberechtigt sind die ehelich geborenen Nachkommen aus der Primogenitur ( Erstgeborenen ) in der männlichen Linie. Und auch an die Unwägbarkeiten der Geschichte hat der Kaiser gedacht : »Wenn im Laufe der Begebenheiten und der geschichtlichen Entwicklung die Regierungsform der Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie eine Änderung erfahren sollte und , was Gott verhüten möge , die Krone nicht mehr bei Unserem Hause bleiben sollte , so werden für die Succession in das hier begründete Fideikommiß lediglich die Privatrechtlichen Grundsätze zur An37
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wendung kommen , so wie dieselben durch das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch vom 1. Juni 1811 derzeit in Kraft stehen.«40 Am 1. Mai 1918 wird es 700 Jahre her sein , dass Rudolf von Habsburg geboren wurde. Als deutscher König hat er die wüste Zeit des Interregnums beendet und die Herrschaft seines Geschlechts in Österreich dauerhaft begründet – »Ein Land , wohl wert , dass sich ein Fürst sein unterwinde« ( Grillparzer ). Es ist also an der Zeit , Vorbereitungen für das Jubiläum zu treffen. Etwas Bleibendes soll es sein. Und man hat 1914 schon eine Idee : Auf dem Kahlenberg soll »an einem weithin sichtbaren Punkte« eine Nachbildung der Habsburg , dem Stammsitz der Dynastie im Schweizer Kanton Aargau , errichtet werden , »damit alle Oesterreicher , welchen es nicht möglich ist , in die Schweiz zu reisen , sich ein Bild von dem Stammschlosse jenes Geschlechtes machen zu können , das nun schon so lange Jahrhunderte eng verbunden mit den Geschicken des Reiches ist , das nun so lange schon die Geschicke des Reiches lenkt. Fürwahr ein schöner Plan und ein patriotischer Plan … Wir Oesterreicher brauchen heute mehr denn je eine Stärkung unseres patriotischen Bewußtseins , weil wir unter ganz eigenartigen Verhältnissen leben. Die Habsburg in der Nähe von Wien würde uns stets daran erinnern , daß wir mehr denn andere Staaten eine glorreiche Vergangenheit hinter uns haben.«41
Abb. 15 : Das Stammschloss der Dynastie : die Habsburg im Aargau in zeichnerischer Rekonstruktion
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Tradition und Privilegien
Von der einstigen Habichtsburg auf dem Wülpersberg ist freilich wenig übrig , zumindest wenig Feudales. Das spielt bei den Planungen für den Kahlenberg aber keine Rolle. Gedacht ist an ein Museum , »enthaltend Reliquien , historische und künstlerische Objekte , die sich auf die Geschichte der Habsburger in Österreich beziehen. Der Bau soll ein künstlerisches Wahrzeichen von Wien bedeuten.«42 In einem eigenen Freilichttheater sollen jährlich Habsburg-Festspiele stattfinden »unter Heranziehung erster Darsteller , Sänger und einer großen Komparserie«9. Als Festspielleiter will man Max Reinhardt gewinnen. Und wer soll das bezahlen ? Man denkt an eine »volkstümliche Subskription von Anteilscheinen , deren Preis so niedrig gestellt ist – 10 Kronen – , daß die Erwerbung je eines Scheines auch dem kleinen Mann ermöglicht wird«43. Ein Komitee ist bereits im Entstehen. Die Habsburger und ihre treuen Wiener dürfen sich also auf das Jahr 1918 freuen.
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Ein hartes Los: Wohnungselend und Winternot In Blickweite von Schloss Schönbrunn , am Ende der Schlossallee , nördlich der Gleisanlagen der Westbahn , beginnt eine andere Welt. Wo sich vor gar nicht so langer Zeit Wiesen , Felder und Dörfer ausbreiteten , stehen nun drei- oder vierstöckige Häuser ; rasch hochgezogene Wohnbauten für die rasant wachsende Bevölkerung. Es sind die berüchtigten Mietskasernen mit den Hinterhöfen , den Gangküchen , der Bassena ( Wandbrunnen ) als einziger Wasserquelle für alle in einem Stockwerk und einem Gemeinschafts-WC. Bis hinüber nach Hernals ziehen sich die trostlosen Wohnviertel. Nicht besser sieht es in anderen Stadtteilen aus , wie in Favoriten , Simmering , Meidling , Brigittenau oder in Erdberg auf der Landstraße. Berüchtigt ist hier das Haus »Zum Bienenstock«, im Volksmund »Erbsienhaus« genannt ( 3. Bezirk , Schimmelgasse 97 ), und die »Halbritterhäuser« in Meidling ( 1 2. Bezirk , Meidlinger Hauptstraße 42–44 ).
Abb. 16 : Wo das Elend zu Hause ist : das »Erbsienhaus« in Erdberg , Hinterhof und einer der Gänge
Von außen sind die Häuser meist nicht unhübsch anzusehen , fast alle haben Fassadenstuck in schablonenhafter historistischer Manier. Ihre Gesimse , Pilaster , Löwen- und Frauenköpfe , Baluster etc. stammen nicht von Künstlerhand , sondern sind aus einem Gemisch von Kalk und Zement geformt. 40
Ein hartes Los
Abb. 17 : Vorgetäuschte Wohlhabenheit : die Häuser in der äußeren Mariahilfer Straße
Auch die Hauseingänge versuchen durch Gipsstuck Wohlhabenheit vorzutäuschen. Aber schon am Geruch in den Stiegenhäusern merkt man , dass hier die Armut zu Hause ist. Ein seltsames Gemisch von Mauerfeuchte , Koch- und Abortgerüchen hängt in der Luft. In der Sommerhitze steigt der Gestank aus den Mistkübeln im engen Lichthof zu den Fenstern herauf. Keine frische Luft , Sonne nur in den oberen Stockwerken. Auch die Kellerräume werden oft als Wohnungen genutzt. In diesen Häusern grassiert die »Wiener Krankheit« oder »Proletarierkrankheit«, wie man die Lungentuberkulose auch nennt. Abertausende verröcheln ihr kurzes , freudloses Dasein in solchen Häusern. Die Bewohner führen einen aussichtslosen Kampf gegen Ungeziefer aller Art , vor allem gegen Wanzen , aber auch gegen Ratten und Mäuse. Auf kleinstem Raum hausen sechs oder gar acht Personen zusammen , alles , was das Leben ausmacht , spielt sich hier nebeneinander ab. Um das karge Haushaltsgeld aufzubessern , werden am Tag oder in der Nacht leer stehende Betten an sogenannte Bettgeher vermietet – fremde Personen , die keine Wohnung haben. Hier blüht im Geheimen Prostitution. Die Syphilis , die zweite große Volkskrankheit , über die man nicht spricht , verschärft das Los der Elenden. In der Dämmerung tauchen da und dort »Nichtpassantinnen« ( Heimito von Doderer , Die Wasserfälle von Slunj ) vor Haustoren auf , um zahlungswilligen Männern zu Diensten zu sein. 41
Wien 1914
Geradezu privilegiert sind die Bewohner der modernen Mietskasernen gegenüber jenen , die etwa in den Häusern von Alt-Erdberg , Lichtenthal , Brigittenau etc. leben. Es sind kleine , ebenerdige , nicht unterkellerte Häuser mit »Plumpsklo« im Hof , Kanalisation ist hier nicht vorhanden. Das Wasser wird noch aus dem Brunnen im Hof geschöpft. Familien leben hier auf engstem Raum. Bettgeher schlafen auf einem Strohsack am Boden. Kindersärge werden oft hinausgetragen , denn jedes dritte der hier lebenden Kinder stirbt , bevor es 14 Jahre alt ist.
Abb. 18: Kinder ohne Zukunft : Blick in einen Haushof in Erdberg
Die Hunderttausenden Bewohner der Mietskasernen und der VororteBruchbuden kennen ein Schreckenswort , das sie lieber nur flüsternd aussprechen : Hausherr. Es ist dies der Eigentümer oder die Eigentümerin , die in den meisten Fällen gar nicht im Haus wohnen , sondern in einem der Nobelbezirke Wiens. Der Hausherr ist meist nur an der Rendite interessiert , die seine Immobilie abwirft. Wer nicht zahlen kann oder gegen die oft rigide Hausordnung verstößt – Kinder dürfen auf den Gängen nicht spielen – , sieht sich rasch delogiert. Mieterschutz 42
Ein hartes Los
existiert nicht. So sind der Willkür keine Grenzen gesetzt. Der Bau von städtischen Sozialwohnungen kommt für die in Wien herrschenden Christlichsozialen nicht infrage. Die Hausherren gehören zu ihren wichtigsten Stammwählern , sie darf man auf keinen Fall vergrämen. Die Gemeinde Wien ist zwar auch Hauseigentümerin , aber ihre Wohnungen kommen nur verdienten Parteigängern zugute. Große Hoffnungen hat man in den eigens geschaffenen Wohnungsfürsorgefonds gesetzt , doch sie wurden enttäuscht. In der Praxis hat sich herausgestellt , dass der Fonds viel zu schwach dotiert ist. Anstatt nun die Mittel aufzustocken , verfügte das Arbeitsministerium , dass nur der Vielwohnungsbau ( a lso die Mietskaserne ) förderungswürdig ist , der Kleinwohnungsbau wird nicht mehr subventioniert. Überhaupt ist es schwer , in Wien eine günstige Wohnung zu finden , denn die Mieten sind hoch. Dafür herrscht ein Überangebot an Luxuswohnungen , die jährlich etwa 15. 000 bis 25. 000 Kronen Miete kosten. ( Zum Vergleich : Das Existenzminimum beträgt 1914 1. 600 Kronen im Jahr. ) Für die meisten Stadtbewohner kommt zum Wohnungselend die Winternot hinzu. Der Jänner 1914 »gehört zu den rauhesten seit vielen Jahren«, resümiert der Wetterbericht vom 26. Jänner. »Jeden Morgen steht das Thermometer in Wien auf 11 bis 12 Grad unter Null und um Mittag gibt es noch immer 4 bis 5 Kältegrade. Nur am Abend treten jetzt die Frostnebel häufiger auf.«44 Raureif überzieht die Bäume bis zum kleinsten Ast , Alleen , Parks und der Wienerwald bieten einen romantischen Anblick. Seit drei Wochen hat strenger Frost ganz Österreich im Griff , stellenweise werden bis zu minus 20 Grad gemessen. Auf der Donau schwimmen Eisschollen , ein Eisstoß bleibt aber aus. Die Lebensmittelversorgung der Großstadt gerät ins Stocken. Die Bauern , besonders die Gemüsegärtner , die ihre Ware zu den Großmärkten bringen , unterlassen ihre Fahrten nach Wien. Gemüse wird Mangelware und damit empfindlich teurer. Wegen Frostschäden an vorhandener Ware müssen die Standler viel Gemüse wegwerfen. Auch alle Bauarbeiten müssen eingestellt werden , viele Bauarbeiter werden arbeitslos. Schneeschaufeln ist für sie daher eine willkommene Gelegenheit , ein paar Heller zu verdienen. Die Aufnahmestellen des städtischen Straßendienstes werden regelrecht gestürmt. »In manchen Bezirken wie in Hernals , Ottakring , Margareten , Floridsdorf , Brigittenau , u.s.w. , war der Andrang der Arbeitslosen mitunter lebensgefährlich und es schritten starke Aufgebote der Sicherheitswache zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein.«45 Viele Arbeitswillige müssen abgewiesen werden. Sie ziehen in die inneren Bezirke weiter , als bekannt wird , dass sich dort viel weniger Schneeschaufler bewerben. Ein Bild des Jammers , wie die 43
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Arbeiterzeitung berichtet : »Die meisten waren notdürftig mit abgetragenen Sommerkleidern und zerrissenen Schuhen bekleidet und es zeigte sich deutlich an ihnen , in welch tiefes Elend länger dauernde Arbeitslosigkeit den Proletarier hinabdrückt.«46 Der Ansturm auf die Wärmestuben in Wien ist kaum zu bewältigen. Seit 15. November 1913 geöffnet , werden in den sechs Lokalen des Wiener Wärmestuben- und Wohltätigkeitsvereins in den eineinhalb Monaten bis zur Jahreswende täglich 79. 053 Tagesbesucher und 4. 569 Nachtbesucher registriert. Um Heizkosten zu sparen , flüchten ganze Familien aus ihren eiskalten Wohnungen in die Wärmestuben , wo sie eng aneinandergepresst auf harten Holzbänken in stummer Ergebenheit in ihr Los die Stunden des Tages verrinnen lassen. Eine wässerige Einbrennsuppe und ein Stück Brot sind alles , was sie zu essen bekommen. Nachmittags werden die Warteschlangen vor den Notschlafstellen immer länger. Ein Bett in einem halbwegs beheizten Raum ist eine Kostbarkeit. Glücklich , wer eingelassen wird , ein Bett mit zwei groben Decken ( »Kotzen« ) und einem schmierigen Polster im Schlafsaal ergattert. Jeder bekommt eine Nummer , Namen interessieren nicht. Da nimmt man die ruppige Art des Hausvaters ebenso in Kauf wie die demütigende Kontrolle in der »Lauskammer«. Denn Läuse sind überall , niemand ist vor den blutsaugenden Plagegeistern gefeit. Ist die Luft in den Schlafsälen auch »zum Schneiden«, dauert das Gelächter und Gemurmel auch noch so lang , stellt sich doch irgendwann der Schlaf ein. Wenn er womöglich am besten ist , heißt es um 6 Uhr früh »Raus aus den Betten !«. Um 7 Uhr müssen alle die Schlafsäle verlassen haben.
Abb. 19 : Schutz vor dem Erfrierungstod : eine Notschlafstelle
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Die , die am Abend nicht mehr in einem solchen Asyl Platz gefunden haben , schauen sich nach einem anderen Unterschlupf um. Vielleicht ist noch etwas frei in einem der Massenquartiere , die Wirtsleute betreiben. Dort gibt es nur Strohsäcke zum Übernachten , Decken muss man selbst mitbringen. Wer keinen einzigen Heller mehr hat , um sich eine solche Herberge zu leisten , sucht nach leer stehenden Garten- und Geräteschuppen , Fischerhütten , auf Kegelbahnen oder in leer stehenden Fabrikshallen Unterschlupf. Irgendein Plätzchen , wo Wärme abstrahlt , bei Teerkesseln auf der Straße , auf Komposthaufen von Gärtnereien oder am Ringofen eines Ziegelwerks. Andere wieder flüchten vor Eis und Kälte in das unterirdische Wien. Im Dunst der Kanäle hat mancher der Elendsten seinen Stammplatz , den er gegen neue Interessenten verteidigt. Mag der Unrat dort unten noch so stinken , so findet sich vielleicht in der Brühe ein verlorener Heller oder gar ein Silberketterl. Alle , die irgendwo illegal übernachten , sind dauernd in Gefahr , von der Polizei aufgegriffen zu werden , denn Vagabondage ist straf bar. Pechvögel landen im städtischen Werkhaus , wo sie Tüten kleben oder Strohsäcke füllen müssen. »Zuagraste« werden in ihre Heimatgemeinden abgeschoben , egal ob sie dort noch einen familiären Rückhalt haben oder nicht. Andere wieder bezahlen die Lebensfeindlichkeit von Natur und Gesellschaft mit ihrem Leben. Kaum eine Woche vergeht , ohne dass in abgelegenen Gebieten ein steif gefrorener Leichnam entdeckt wird. Wo kann man hingehen , wo es warm ist und man nichts dafür zahlen muss ? Ein beliebter Ort dafür sind Gerichtssäle. Die Zuschauerbänke sind regelmäßig überfüllt mit »Kiebitzen«, meist junge Männer , die nicht selten durch Zwischenrufe und Anpöbelungen die Verhandlung stören. Die Richter schalten die Polizei ein , die zivil gekleidete Beobachter in die Gerichtssäle schickt. An einem Tag werden insgesamt 28 Störenfriede arretiert und ernstlich verwarnt. Im Wiederholungsfall drohen ihnen Strafen. Genau das ist es , was andere gleich ohne Umweg anstreben. Am besten man begeht sofort eine kleine Straftat , dann kommt man ins Gefängnis , wo es wenigstens schön warm ist. Ein Stein gegen eine Auslagenscheibe geworfen , und schon ist das Ziel erreicht. Die Täter geben in solchen Fällen meist den Zweck ihrer Straftat unumwunden zu. Viele sehen in ihrer Not keinen anderen Ausweg , als sich das Leben zu nehmen. Die Statistik für Wien verzeichnet 1. 485 Selbstmörder im Jahr 1913 : 891 Männer und 594 Frauen und Mädchen. Erschreckend ist nach Angaben der Arbeiterzeitung die große Anzahl an Kindern , die sich das Leben nehmen. Der jüngste Selbstmörder war ein siebenjähriger Bub. Über die genauen Motive liegen zumeist keine Angaben vor. 45
Ein ungewöhnlicher Ringstraßenkorso: die Arbeitslosen »Wie wär’s , wenn wir uns auf der Ringstraße zeigen , dort , wo sonst nur Glanz und Pracht zu sehen ist , auf der Straße , die als Wiens Wahrzeichen gilt , die aber die Verhältnisse der Stadt eigentlich so falsch widerspiegelt !«47 So oder ähnlich lautet ein Vorschlag , auf die Not der vielen Arbeitslosen gerade dort aufmerksam zu machen. In Versammlungen der Betroffenen wird darüber diskutiert. Werden überhaupt genug kommen , damit man von einer eindrucksvollen Demonstration wird sprechen können ? Nichts ist schwerer , als Arbeitslose an einem Ort zu versammeln. Viele schämen sich ihrer Not , meiden so gut es geht jede Öffentlichkeit. Auch fehlt ihnen oft jede Tatkraft , sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen. »Am wenigsten geeignet für eine Arbeitslosendemonstration ist aber der heurige Winter. Das Schicksal verfährt mit dem Proletariat besonders grausig , indem es den Schrecken der Wirtschaftskrise noch den Schauder beigesellt , den die Kälte für die Arbeitslosen hat. Die Menschen , die nur die paar Stunden nicht frieren , die sie in den Räumen einer Arbeitsvermittlung verbringen können , die aber fast nicht genährt und vielfach nicht das Notdürftigste von Kleidung auf dem Leib haben , sind nicht ausgerüstet , eine Demonstration im Froste mitzumachen.«48 Trotz dieser Widerwärtigkeiten lassen sich Tausende Unentwegte nicht entmutigen. »Morgen vormittag Demonstration auf der Ringstraße ! Zusammenkunft ½ 10 Uhr auf dem Schwarzenbergplatz ! Ruhe halten !«49 So lautet der Aufruf , der mündlich weitergegeben wird , kein einziger Zettel wird gedruckt. Das Vorhaben gelingt. Immer dichter wird die Menge zwischen Hotel Imperial und Hotel Bristol am 12. Februar 1914. »Die Promenade der Elendsgestalten auf dem Platze , wo sich gewöhnlich das reiche Wien ergeht , erregte begreiflicherweise großes Aufsehen … Die Hungernden und die Satten waren hier einmal zusammengekommen. Das heißt , die Satten blickten aus ihren reichen Gemächern auf die Hungernden.«50 Punkt ½ 10 Uhr beginnt der Zug über die Ringstraße , an ihm beteiligen sich mehrere sozialdemokratische Politiker , u. a. Franz Domes , Ferdinand Hanusch , Otto Glöckel und Max Winter. Die meisten Teilnehmer sind Männer jüngeren und mittleren Alters , manche nur mit Schal über dem hauchdünnen Sakko , den Kragen hochgeklappt. Stumm ziehen sie dahin , »kein Ruf , keine Forderung , kein Schrei der Empörung wird laut. Eine bewunderungswürdige Selbstbezwingung liegt über diesen Massen ; aber sie wirken gerade dadurch wahrhaft erschütternd.«51 Der Verkehr auf der Ring46
Ein ungewöhnlicher Ringstraßenkorso
straße gerät ins Stocken. »Überall erwecken sie Aufsehen und Erstaunen. Man sieht sie sich an , erst nur neugierig wie etwas Seltenes , dann aber , wenn das Spalier der müßigen Zuschauer Gesicht um Gesicht , Gestalt um Gestalt an sich vorüberziehen sieht , wenn man hineinblickt in diese Tausende Augen , in diese von der Entbehrung gezeichneten , vom Hunger und vom Weh kantigen Züge , dann ahnen auch die feinen Damen , die stehenbleiben , die Advokaten und die Aerzte , die aus den Haustoren treten , der Buchhalter vor dem Laden der Wechselstube , daß hier etwas Gewaltiges , etwas Furchtbares , etwas , was nicht sein sollte und um das man sich kümmern müßte , seinen Weg vor ihnen unheimlich und drohend nimmt.«52 Besondere Selbstbeherrschung verlangt es den Demonstranten ab , als sie zum Rathaus kommen und alle Straßenzugänge von einer Kette von Polizisten abgesperrt sehen. »Das ist die Antwort ?«, fragt einer , »Polizisten statt Fürsorge !«, ruft ein anderer aus der Reihe. »Ja , habt’s ihr denn etwas anderes von denen erwartet ?«, meint ein Dritter. Schon ist die Universität in Sichtweite. Auf der Rampe stehen Hunderte Studenten , um sich das ungewöhnliche Schauspiel nicht entgehen zu lassen. »Sie brauchen nur ihre Augen ordentlich aufzutun und können in diesem Augenblick eine Stunde nehmen , wie sie ihnen lehrhafter in den Kollegien nicht geboten werden könnte. Hier können die Juristen das Wesen des Klassenstaates und den Kampf ums Recht auf Arbeit lebendig vor sich sehen , sie können die schweren Werke über Volkswirtschaft zuschlagen und den Opfern der Arbeitslosigkeit und der Krise in die Augen schauen. Und die Herrn Mediziner können hier die Zusammenhänge zwischen Krankheit und Not , zwischen Entartung und Elend ganz leibhaftig vor sich sehen. Werden sich die jungen Studenten aber das , was sie zu sehen bekamen , auch richtig gedeutet haben ?«53 Weiter geht es zur Lastenstraße , wo an einer Baustelle ein Koksofen glüht. Zahllose wärmen sich kurz im Vorübergehen die klammen Finger an dem Feuer. Schließlich löst sich der Demonstrationszug an der Lerchenfelder Straße auf.
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Abb. 20 : Irritierend für die Reichen: Arbeitslose demonstrieren auf der Ringstraße
Mit der Ringstraßendemonstration ist ein Zeichen gesetzt , das die Saturierten zumindest zum Nachdenken bringen soll. Denn es ist »nichts empörender als die Gleichgültigkeit , mit der die bürgerliche Welt vom Elend der Arbeitslosen hört ; nichts aufreizender als die Leichtfertigkeit , mit der sie sich über jeden Vorschlag , die Not zu lindern , hinwegsetzt«, heißt es in der Arbeiterzeitung.54 Wenigstens sollte es eine staatlich obligatorische Arbeitslosenversicherung geben , wie sie ( nur ) in Großbritannien bereits besteht. Es müsste den Arbeitslosen geholfen werden , »die schlimmste Zeit zu überstehen , ohne in das Lumpenproletariat hinabzusinken und ohne zur Auswanderung gezwungen zu werden … das ist kein Interesse der Arbeitslosen allein , das ist ein Bedürfnis der ganzen Gesellschaft.«55 Alle Vorstöße der Sozialdemokraten für eine Arbeitslosenversicherung werden von den politischen Gegnern aber abgeschmettert. Man werde doch keine sozialdemokratischen Organisationen subventionieren , argumentiert etwa Wiens Bürgermeister Weiskirchner von den Christlichsozialen. Die Arbeiterzeitung kommt deshalb zum Schluss : »Hilfe ? Ach , wirklich helfen kann den Arbeitslosen niemand ! So wenig Sturm und Eis verschwinden können , so wenig kann die Arbeitslosigkeit ausgerottet werden in der kapitalistischen Welt … Die Arbeitslosigkeit wirklich auszurotten für immer , dazu bedarf es einer wirtschaftlichen Revolution , nicht minder gewaltig als jener , in der der Feudalismus gefällt ward. Dazu bedarf es der Umwälzung der kapitalistischen Welt.«56 48
Ein ungewöhnlicher Ringstraßenkorso
Kritik an der Arbeitslosenkundgebung bleibt nicht aus. So schreibt das Wiener Montags-Journal : »Es ist ein Wagnis , in der Zeit , da 17. 000 Buchdrucker streiken , einen Arbeitslosenzug zu veranstalten. Sehr imposant ist er freilich nicht ausgefallen und man ist dabei seitens der Arrangeure kaum auf die Kosten gekommen … Warum demons triert man in Wien , anstatt daß man die Arbeitslosen nach Ostrau und in die Petroleumgruben schickt ? Wenn die Straße das Hauptargument bleiben soll , dann werden die Steuerzahler , die immer wieder für diese Demonstrationskosten aufkommen sollen , endlich auch auf die Straße gehen müssen.«57 Die Organisatoren lassen sich von solchen Argumenten nicht entmutigen. Am 26. Februar wird ein neue Demonstration von Arbeitslosen veranstaltet , die wieder von der Ringstraße ihren Ausgang nimmt. Diesmal geht es über die Mariahilfer Straße zum Hotel Wimberger am Neubaugürtel , wo eine Versammlung mit Referaten sozialdemokratischer Politiker stattfindet. Mancher der Saturierten mag solche Kundgebungen auf der eleganten Ringstraße als lästig empfinden. Der »Pöbel« aus der Vorstadt lässt sich hier bereits allzu oft blicken. Das wirkt störend in einem Bereich , in dem sich die Reichen , Schönen und Berühmten einem ungeschriebenen Gesetz folgend in den Mittagsstunden ihr gewohntes Stelldichein zwischen Schwarzenbergplatz und Sirk-Ecke vor der Hofoper geben. Hier ist der Angelpunkt , an dem man sich einen Überblick über den Freiluftsalon verschaffen kann , mit Blick auf die Oper und den rötlich-golden schimmernden Heinrichhof mit den Fresken von Carl Rahl. Der Ringstraßenkorso ist längst eine fixe Institution , die der gesellschaftlich unverzichtbaren Regel des Sehens und Gesehenwerdens folgt. Je öfter eine Dame nickt , je öfter ein Herr den Hut lüftet , umso angesehener ist sie oder er. Man weiß für gewöhnlich , wer der andere ist , auch wenn man ihn nicht persönlich kennt. Aber das kann sich ja ändern , wenn man hier neue Bekanntschaften macht. Hier mischt sich die erste Gesellschaft mit der zweiten , also alter Adel mit den reich gewordenen Professionisten. Hier erproben junge Erzherzoge ihre Popularität ebenso wie Künstler und Soubretten. Dieses unvergleich liche Flair des Ringstraßenkorsos muss man erlebt haben. Offiziere in weit entlegenen Garnisonen träumen vom Ringstraßenkorso , den sie sich bei einem Aufenthalt in Wien keinesfalls entgehen lassen. Und sie nehmen Eindrücke mit , die sie ihr Lebtag lang nicht vergessen werden. Der Glanz der Märchenstadt ist hier erlebbar wie kaum sonst wo. Dass es ein Wien der Not gibt , interessiert in dieser Welt nicht.
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»Die heilige Wandlung«: Parsifal
Abb. 21 : Von links nach rechts : Erik Schmedes als Parsifal , Anna BahrMildenburg als Kundry , Richard Mayr als Gurnemanz
Bevor Wien ganz im Rausch der Bälle und Redouten der Faschingszeit versinkt , konzentriert sich die Gesellschaft auf ein kulturelles Groß ereignis. Erstmals geht »Parsifal« an der Hofoper in Szene. Richard Wagners Bühnenweihefestspiel , nunmehr tantiemenfrei , wird nun auch außerhalb Bayreuths aufgeführt. Nach Berlin und Prag ist am 14. Jänner 1914 Wien an der Reihe. Die Vorfreude der Wagnerianer ist aber erheblich getrübt , als bekannt wird , dass Hofoperndirektor Hans Gregor die Erhöhung der Kartenpreise um mehr als das Vierfache angeordnet hat. Eine Loge kostet demnach 250 Kronen , ein guter Parkettsitz 60 Kronen. Für einen Galeriesitz sind 20 Kronen , für einen Stehplatz 5 Kronen zu zahlen – ein herber Schlag für kleine Beamte , Studenten und Konservatoriumsschüler. Proteste bleiben nicht aus. Die Neue Freie Presse kritisiert die Maßnahme , »die ihrer dem Ruf und allen Traditionen dieses Hauses widersprechender Tendenz nur geeignet sein könnte , das Ansehen und die Würde der Hofoper zu schmälern«58. Der Direktor verweist auf die höheren Spielhonorare für Orchester und Chor , erhöhte Bezüge für das technische Personal und die Komparsen , auch die gesamte Ausstattung verlange höhere Mittel. Dem halten 50
»Die heilige Wandlung«
Kritiker entgegen , die Hofoper sei kein Geschäftstheater , außerdem sei »Parsifal« durch den Entfall der Tantiemen ein seltener Glücksfall für die Theaterkasse. Bei vierfach erhöhten Preisen genügten schon fünf Aufführungen , um die Kosten zu decken. Und wenn schon höhere Preise , dann hätte man Galeriesitze und Stehplätze auf jeden Fall davon ausnehmen müssen. Doch all diese Argumente nützen nichts.
Abb. 22
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Wien 1914
Was die Wohlhabenden mehr oder weniger lächelnd wegstecken , wird für glühende Anhänger des großen Meisters mit schmalem Salär zu einem echten Problem. Wenn sie »Parsifal« unbedingt sehen wollen , bleibt ihnen nichts anderes übrig , als sich im Alltag radikal einzuschränken. Alle möglichen Kleinigkeiten , auf die sie glauben verzichten zu können , werden beim Pfandleiher versetzt. Ist dann das nötige Geld zusammengekratzt , dann stehen die hartgesottenen Wagnerianer bis zu 15 Stunden vor der Opernkasse angestellt , um die heiß begehrte Eintrittskarte zu ergattern. Während drinnen die Generalprobe in Anwesenheit von Obersthofmeister Fürst Montenuovo , oberster Chef der Hof bühnen , abläuft , stellen sich die ersten Wagnerianer bereits vor 23 Uhr am 13. Jänner 1914 an der Eingangstür in der Kärntner Straße an. In grimmiger Kälte harren sie die Nacht über aus. Das Personal der Oper und der umliegenden Kaffeehäuser bringt ihnen Sessel und warme Decken. Bereits um 7 Uhr früh ist ausnahmsweise Einlass in den beheizten Kassensaal , wo unter erleichterten Bedingungen das stundenlange Warten weitergeht. »Die Anwärter gehörten nicht nur dem männlichen Geschlecht an , sondern es war die holde Weiblichkeit stark vertreten , die die lange Zeit des Wartens nicht scheute. Da selbst bei größter Kunstbegeisterung der Magen sein Recht verlangt , hatten sich die Wagnerfreunde reichlich mit Proviant versehen und ab und zu wurde ein dick belegtes Butterbrot hervorgezogen und verzehrt. Die Wasserfrau machte ein sehr gutes Geschäft. Selbstverständlich gab es auch verschiedene Reibereien , da es etliche Schlaumeier gab , die sich dadurch einen besseren Platz sichern wollten , indem sie über die Barriere sprangen , um sich weiter vorn einzudrängen , was sich natürlich die um ihre älteren Rechte Bedrohten nicht gefallen ließen. Die anwesenden Wachorgane schafften jedoch gleich wieder Ruhe.«59 Um 15.15 Uhr beginnt die Auffahrt von ca. 300 Automobilen und 150 Karossen zum Foyereingang. Ein gewaltiges Polizeiaufgebot sorgt für einen reibungslosen Ablauf. Drinnen herrscht enormes Gedränge. »Im Vestibül staut sich das Publikum , um den hereinrauschenden Glanz zu bewundern. Und es wird eine wahre Moderevue , ein Einmarsch des ganzen Geschmacks , Reichtums und Prunks , den Wien entfalten kann … Das mondaine Wien hält seinen Einzug. Seide knistert , Diamanten funkeln , Reiher nicken. Es fehlt niemand … Industriekapitäne und Bankmagnaten , Künstler deren Namen hell und laut klingen , Lebemänner , Operettenkönige und Bühnensterne ziehen die Freitreppe hinauf … Ein Brausen geht durch das Opernhaus.«60 Im Zuschauerraum sind Hunderte Operngucker auf die Hoflogen und die Stammlogen des alten Adels im Parterre gerichtet. Mehrere Erzherzoge und 52
»Die heilige Wandlung«
Erzherzoginnen , die Liechtenstein , Pallavicini , Wilczek , Hardegg , Auersperg , Herberstein , Thun , Chotek etc. sind da. Kenner wissen über »die« und »den« interessanten Tratsch zu berichten , sie wissen auch , welches der edlen Häuser mit besonders hübschem weiblichen Nachwuchs gesegnet ist. Schade nur , dass die liebreizenden Mädchen sich manchmal in den Logen versteckt halten , bis die Lichter verlöschen , um nicht zu viel angestarrt zu werden. Dann hebt endlich Franz Schalk den Taktstock. »Die Aufführung ging unter allen Zeichen eines gesellschaftlichen Ereignisses von statten. Nur eines fehlte , die weihevolle Stimmung vor der Vorstellung , wie sie als Merkmal Bayreuths bekannt ist. Der gemütlichen Unterhaltung und dem gelangweilten Sichumdrehen , machte erst der Beginn des Vorspiels ein Ende … Doch ich vergaß von der Begeisterung zu erzählen , die aus den Glücklichen der Besucher vom hohen Olymp und der Stehplatzgäste strahlte , die unter Müh und Plag sich diese so ersehnten Plätze erobern mußten. In diese Regionen flüchtete sich die Weihe vor dem Glanz der Diamanten und Perlen und der prunkvollen Toiletten. Nach dem Schlusse des ersten Aktes entfernte sich das Publikum. Viele von ihnen hatten sich aber doch der Stimmung nicht entziehen können und nur die Gesellschaftssnobs verließen das Haus unter profanen Gesprächen«61 , berichtet Max Springer für die Reichspost. Wer welcher Gesellschaftsschicht angehört , wird im Verhalten in der ersten großen Pause , die eine Stunde und zehn Minuten dauert , erkennbar. Die Besucher der Stehplätze bleiben , um ihren mühsam errungenen Platz nicht an einen anderen zu verlieren. »Eine große Zahl der Besucher strebt fast fluchtartig dem gegenüberliegenden Restaurant zu , um sich einen Platz zu sichern , der es gestattet , ungestört einen Imbiß einzunehmen. Im Nu ist das Lokal unten und oben gefüllt und angesichts der geschäftig hin- und hereilenden Bier und Essen spendenden Ganymeds glaubt man sich in den Saal eines gut frequentierten Bahnhofrestaurants versetzt , in dem die Passagiere eines soeben eingefahrenen Zuges mit einer Erfrischung bedient werden sollen. Mit nervöser Hast – ganz unbegründet – wird das Gereichte hinuntergewürgt und nun beginnt der Austausch der Ansichten über das vielgepriesene Wagnerwerk.«62
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Wien 1914
Abb. 23 – Woran erinnert Sie das Klagemotiv ? – Nu ? Daß er nix bezahlt hat.
– Ich mecht nur wissen , warum die Oper heißt Parsifal ? – Im ganzen Stück kommt nicht vor ä Luftballon.
– Nun , wie gefällt Ihnen das Werk ? – Ich bitt Sie , das erste Mal versteht man es nicht und ein zweites Mal geht man nicht hinein.
Nach der Pause staunt das Publikum , denn das Juwelengefunkel in den Logen der Prominenz ist sichtbar stärker geworden. Die Arbeiterzeitung kommt mit unverhülltem Sarkasmus unter dem Titel »Die heilige Wandlung« darauf zurück : »Alle haben sie das Wunder des Grals auf sich wirken lassen. Aber die Herrschaften waren nicht nur Zuschauer , sie haben selbst mitgespielt. Die heilige Wandlung zum Beispiel hat den Ehrgeiz der versammelten Gesellschaft geweckt. Als um 6 Uhr die große Pause begann , da fuhren die Allervornehmsten nach Hause und machten rasch ihre ›Wandlung‹ durch. Fort mit dem Jaquet und den Frack her ! Ein anständiger Mensch trägt nur nachmittags ein Jaquet , abends muß man in den Frack schlüpfen. Auch die Damen mußten nach der Pause unbedingt eine andere Robe zur Schau tragen. Nachmittags erscheint man in hochgeschlossener Toilette , abends aber ist die Soirée 54
»Die heilige Wandlung«
frisur und das tiefe Decolleté Zeichen der Kultur. Nach der Pause war alles wieder in anderen Kleidern zur Stelle – die große ›Wandlung‹war vollzogen , man konnte wieder der reinen Kunst beruhigt lauschen …«63 Erst gegen Mitternacht ist die Vorstellung zu Ende. Trotz gegenteiligen Appells der Direktion applaudiert ein Teil des Publikums so lange , bis die letzte Szene wiederholt wird. Dann fliegen die Türen zu den Korridoren auf. »Aus is !« ertönt. Wieder geht ein Brausen durch das ganze Haus. Der Strom von mehr als 2200 Opernbesuchern ergießt sich über Wandelgänge und Korridore , vermischt auf der Feststiege Menschen der verschiedenen Klassen , die ansonsten nie miteinander auf Tuchfühlung kommen. Blasse Mädchen , die sich für diesen Abend mit Rüscherln und Mascherln nach ihren Begriffen elegant gemacht haben , drängen sich schüchtern vorbei an glitzernden blaublütigen Matronen , die gravitätisch langsam Stufe für Stufe hinabschreiten , immer wieder stehen bleiben , Handküsse entgegennehmen , sich ungeniert laut unterhalten. »Wir sehen uns doch bei der Schwarz-Gelben Redoute ?« Unter der Feststiege warten schon die livrierten Diener , halten Pelze und Decken bereit. Wieder werden Equipagen und Automobile mit den wohlklingenden Namen gerufen. Wagenschläge , mit den jeweiligen Familienwappen geschmückt , werden von den Livrierten geöffnet , die hohen Herrschaften in warme Decken gehüllt. Erwärmte Ziegel , in Tuch verpackt , sorgen dafür , dass die Füße in den dünnen Atlasschuhen nicht frieren. Abermals ist eine Menge Neugieriger da , um einen Blick auf diesen tatsächlich existierenden Olymp zu werfen. Einige im Gedränge suchen auffällig oft mit ihren Augen den Boden ab. Es könnte ja sein , dass eine Brosche oder ein Bracelette verloren gegangen ist. Andere wiederum nehmen den glamourösen Rummel nur am Rande wahr. Noch ganz durchglüht vom Gehörten und Gesehenen werden sie noch länger brauchen , um sich im Alltag wieder zu finden. Schön , wenn man sich mit anderen Wagner-Schwärmern noch an Ort und Stelle unterhalten kann , wie ihm oder ihr die Klage des Amfortas , die Abendmahl-Szenen , das Heilandslied , der Trauerchor , die Blumenmädchen-Chöre oder das Karfreitagsgebet gefallen hat. Dann geht es nach Hause. Das »Sperrsechserl« an den meist grantelnden Hausmeister wird man auf jeden Fall zahlen müssen. Lange nach Mitternacht verlöschen die letzten Lichter in der Hofoper. Für die dienstbaren Geister des glanzvollen Abends ist als letztes Schluss. Die Diener in den Künstlergarderoben , die Bühnenarbeiter , Beleuchter und Garderobenfrauen etc. können endlich nach Hause gehen. Vorbei am Portier , der sie kaum eines Blickes würdigt , treten sie hinaus in die Kälte und verschwinden im Dunkel der Nacht. 55
»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«: der Wiener Fasching
Abb. 24 : Kein Mangel an Bällen und Kränzchen im Wiener Fasching
»Einige Tage noch der Ruhe und dann treten wir ein in die dem Tanz und den Vergnügungen gewidmete Zeit. Eine lange Reihe hervorragender Veranstaltungen wird auch heuer dem Fasching sein eigenartiges Gepräge geben , welches sich von Jahr zu Jahr trotz der sinkenden Geldwerte an Mannigfaltigkeit und Pracht in ganz bedeutendem Maße erhellt«64 , berichtet die Reichspost zu Silvester 1913. Für die Damen der Wiener Gesellschaft beginnt wieder die Qual der Wahl : Soll es Velours-Chiffon , seidencrêpe Brodé oder doch lieber eine Goldflitterrobe sein ? Dazu dann die Accessoires : Marabu in passendem Farbton , Rosengirlande oder Ansteckblume , seidene Ballstrümpfe und Glácehandschuhe. 56
»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Abb. 25 : Für die elegante Dame unverzichtbar : ein Ballkleid nach neuester Mode
Die großen Kaufhäuser Wiens haben sich auf die Nachfrage zu Beginn der Saison eingestellt. In den Auslagen von Herzmansky , Gerngroß oder Zwieback sind die schönsten Kreationen zu bewundern. Bevor es so richtig losgeht , dürfte mancher Ballveranstalter ein Stoßgebet zum Himmel schicken , war doch das Jahr 1913 selbst dem Fasching nicht wohlgesinnt. Damals verstarb der populäre Erzherzog Rainer , der Doyen der kaiserlichen Familie , ausgerechnet in der Faschingszeit. Die folgende Hoftrauer führte zur reihenweisen Absage von Redouten , Bällen und Kränzchen. »Aber auch jene , die stattfanden waren schwach besucht und ihr finanzielles Erträgnis blieb weit zurück hinter den Erwartungen , man kann durchaus von einem spurlosen Versickern sprechen. Der Wiener Fasching und sein Animo sind kein schlechter Gradmesser für Wiener Stimmungen überhaupt. So ist 57
Wien 1914
sicher kein Zufall , daß sich in diesen letzten Wochen des zur Neige gehenden Jahres zugleich mit der beginnenden wirtschaftlichen Besserung ein intensives Interesse für den kommenden Karneval geltend machte , daß die Feldrufe ›Hie Walzer‹ – ›Hie Tango !‹ unter der Jugend und unter denen , die noch jung sein wollen , Anhängerschaft warben und fanden. 1913 , das tanzfeindliche Jahr der Ballabsagen und Redoutennieten ist tot. Es lebe sein Nachfolger !«65
Abb. 26
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»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Auf die beiden vornehmsten Bälle muss die Wiener Gesellschaft seit 1911 verzichten : den Hofball und den Ball bei Hofe. Der greise Kaiser ist schonungsbedürftig , besonders weil er in der Winterzeit immer wieder von einem Bronchialkatarrh geplagt wird. Mit dem Ausfall dieser Bälle erlischt viel Glanz des Kaiserhofes. Vom Leutnant aufwärts war jeder Offizier berechtigt , zum Hof ball zu gehen , sich in der Hof burg der Farbenpracht der Arrangements , der Roben und Uniformen , den Walzerträumen hinzugeben und dann zu den nicht hoffähigen Mitgliedern der eigenen Familie heimzukehren , die ihn schon sehnsüchtig erwarteten. Jedes Detail musste er berichten , aber davor seine Manteltaschen leeren , die er mit den heißbegehrten Hof ballzuckerln vollgestopft hatte – originell verpackte Köstlichkeiten aus der Hofzuckerbäckerei oder von Demel. Unübertroffen exklusiv war der Ball bei Hofe. Hier blieb der alte Adel weitgehend unter sich. Ein völliges Fernbleiben des Kaisers von der Ballsaison wäre dem Ansehen des Hofes doch abträglich. So lädt Franz Joseph per Hofansage zur Soirée dansante für 16. Februar , 18 Uhr nach Schloss Schönbrunn. »Sehr lange ist es her , seit die prunkvollen Gemächer Schönbrunns sich einem Karnevalsfest öffneten. Wie aus einem Märchenschlummer , der Jahre anhielt , sind sie für den einen Abend zu frohem Leben erwacht , als Rahmen für ein Bild , wie es anmutiger nicht gedacht werden kann. Nur kurze Stunden wehrte der berückende Traum , der das Schloß wie mit einem Zauberschlag in strahlendes Licht tauchte , seine prunkvollen Säle mit der vornehmsten Gesellschaft füllte und durch die Barocksalons leise und lockend Ziehrerische Weisen ertönen ließ , nach denen die Jugend des Hofes und der Gesellschaft sich im Tanze wiegte , gedrängt kurze Stunden , die ausgenutzt werden mußten.«66 Mit gewohnter Präzision läuft die kaiserliche Soirée ab. Im Spiegelzimmer werden Franz Joseph die ihm noch nicht bekannten Gattinnen der Botschafter aus Großbritannien , Frankreich und den USA in Einzelaudienzen vorgestellt. Nicht vertreten ist Russland , sein neuer Botschafter wird erst für Ende Februar in Wien erwartet. Nach weiterem Cercle dann der Einzug des Hofes in die Große Galerie , am Arm des Kaisers die junge Erzherzogin Zita , die erstmals anstelle ihrer Schwiegermutter Maria Josefa die erste Dame des Hofes sein darf. Zita in einer rosa Liberty-Toilette , im dunklen Haar »das prachtvolle Diadem , welches die Erzherzogin von unserem Kaiser erhielt«67.
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Wien 1914
Abb. 27 : Der Kaiser bittet zum Tanz in Schloss Schönbrunn , an seinem Arm die junge Erzherzogin Zita
Hof ballmusikdirektor Carl Michael Ziehrer dirigiert zehn Hofmusikanten , alle in ihren karmesinroten Hofuniformen. Stocksteif betrachtet der Thronfolger den Tanz des Kaisers mit der jungen Erzherzogin. Wieder wird ihm schmerzlich bewusst , dass seine Sophie solcher Ehre nicht würdig ist. Aber immerhin konnte er durchsetzen , dass sie jetzt nicht mehr hinter der jüngsten Erzherzogin zurückstehen muss. Schlag 21 Uhr zieht sich der Hof zurück , Obersthofmeister Fürst Montenuovo ist da unerbittlich , der Kaiser muss zu Bett. Einige junge Herren zünden sich daraufhin ungeniert eine Zigarette an , was ihnen einen schweren Verweis einträgt. Keine Ahnung , wie man sich auf einem Fest bei Hofe zu benehmen hat ! Viel entspannter ist die Atmosphäre bei einer intimen Familiensoirée , die am Faschingsmontag im Appartement von Erzherzog Peter Ferdinand und seiner Frau Marie Christine in der Hof burg stattfindet. Hier ist die erste Familie des Reiches ganz unter sich. Um ungestört zu sein , müssen die Musiker hinter einem Paravent spielen. Für die Kinder hat man einen Zauberkünstler engagiert , einen »Prestigitateur«. Der Abend soll ungewöhnlich intim verlaufen sein. Vornehmster Ball der Saison 1914 ist der Ball der Stadt Wien im Rathaus. Hier wie bei den anderen großen Bällen schwärmen die Berichterstatter fast gleichlautend von prachtvollen Dekorationen , feenhafter Beleuchtung , üppigen Buffets , glänzender Stimmung , Tanz bis in den frühen Morgen. Gekrönt wird jedes dieser Feste durch das Erscheinen eines Erzherzogs als persönlicher Vertreter des Kaisers. Sichtlich angetan blicken kaiserliche Hoheit von einer Estrade herab auf das Wiegen der 60
»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Tanzenden und Gewoge der Prominierenden , halten Cercle unter den Patronessen , sparen nicht mit lobenden Worten für das Gesehene und Gehörte und verlassen dann unter huldvoller Entgegennahme der Honneurs die Stätten , an denen nichts an Krise , Gefahr und Elend erinnert. Nichts elektrisiert die Damenwelt mehr als das Wort Maskenball. Es hat den Duft ungehemmter Freiheit. Einmal im Schutz einer Maske den Gefühlen die Zügel schießen zu lassen , das Korsett der zahllosen Konventionen im Alltag abzuwerfen , mit einem Mann , bekannt oder nicht , kokett zu spielen , ihn aus der Reserve zu locken. Einmal das Gesetz des Handelns an sich zu reißen , auch beim Tanz , zu dem bei einer solchen Redoute nur die Damen auffordern. Der Erfolg einer schönen Maske hängt davon ab , wie sehr sie ihre Wünsche »durch die Blume«, aber doch unmissverständlich dem begehrten Mann mitzuteilen weiß. Die männlichen Ballbesucher sind bei einer Redoute klar im Nachteil , sie dürfen sich nicht verkleiden. Und sie gehen ein Risiko ein , denn es ist nicht garantiert , ob die Dame dann ohne Maske schön oder zumindest pikant ist. Die »Schwarz-Gelbe Redoute« im Konzerthaus ist die ideale Chance für die Damen , ihre Meisterschaft in der Koketterie zu beweisen. »Hübsche Masken tauchten auf in herrlichen Toiletten und kostbarem Reiherschmuck , Offiziere erschienen in den verschiedenen Uniformen der Armee , Herren in Frack und gelber Weste oder mit gelben Chrysanthemen im Knopfloch , immer mehr wurden der Gäste und um 11 Uhr herrschte bereits ein echtes , rechtes Redoutentreiben. Das altbekannte Spiel des Er- und Verkennens hub an , die köstlichsten Intrigen wurden erdacht , hin und wieder gab man sich den Walzern hin , die von den Kapellen der Deutschmeister und der 99er unaufhörlich gespielt wurden.«68 Der Erlös der Redoute dient der geplanten Errichtung eines ( n ie ausgeführten ) Denkmals für König Rudolf von Habsburg. Eine der Hauptattraktionen des Wiener Faschings ist der »Narrenabend des Wiener Männergesangsvereins«. »Wer heute Nacht ( 15. Februar ) den Sofiensaal betrat , glaubte im Wurstelprater zu sein. Die Rotunde , das Etablissement Prohaska , das Kasperltheater , die ›Hutschen‹, die Scenic Railway , das Riesenrad und das Kino , alles war zu sehen.«69 Unter großem Hallo ziehen die Vereinsleitung in rot-weißen Kasperlkostümen und die verschiedenen Gruppen in den Saal ein. »In der Parsifalgruppe lockten die Teilnehmer in Klingsors Zauberschloß , in dem eine Grottenbahn , das Original-Freudenrad aus dem Wurstelprater und andere Attraktionen von den Besuchern gestürmt wurden … In der Gruppe ›Schmierende Künstler‹ befand sich auch eine Wahrsagerin , von der die Damen sogar ihr wirkliches Alter erfahren konnten. 61
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Weiters sah man Parsifalloten , Lichthofmusikanten , Mädchen aus dem versilberten Westen , eine Gesellschaft zur Bekämpfung des Bauernschrecks , Schmierakelspiele für jedermann , Kasperls Ende. ( etc. ) … In einer anderen Gruppe tauchte ein leibhaftiger ›Tangobazillus‹, ein Bazillenträger und eine ganze Bazillenkultur auf. Die ›böhmischen Musikanten‹ erhielten durch ihre übermütige Stimmung sowie durch ihre humoristischen Vorträge allseits lebhaften Beifall. Kapellmeister Pi troff errang sich mit seiner elektrisch beleuchteten Nase , die er überall hineinsteckte , einen separaten Erfolg. Großen Beifall fand auch heuer wieder die vom Vereine ›D’Hallodri‹ arrangierte und echt wienerische Gruppe ›Uns hab’ns g’halten‹, die in einer Heurigenschenke frohe Weisen erklingen ließ.«70
Abb. 28: Oben : Vom Kasperl zum Kino : Narrenabend des Wiener Männergesangsvereins Unten : Kasperls Ende : Verbandsgruppe beim Narrenabend des Wiener Männergesangsvereins
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»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Kaum weniger pittoresk läuft das Faschingsfest des Schubertbundes in den Sofiensälen ab. Motto 1914 : »S’narrische Zeitalter.« Vor einem riesigen Käfig verzehrt als Freigelassener des Jahres Parsifal seine »Früh-Frankfurter«. »Pegoud71 durchfliegt halsbrecherisch die Luft , alles rast und fliegt dem alten Steffel zu , der es geduldig geschehen läßt , daß ihm eine Plattform durchgeschoben wurde , auf der die lärmende Gesellschaft landet. Futuristen , Kubisten tauchen auf , und ein riesiges Luftschiff setzt unzählige Freunde auf dem Wiener Boden nieder. Auch sehenswerte Gruppenplätze gab’s im Saale , so die der ›Himmelsrodler‹, der ›Stützen der Gesellschaft‹, der ›Friedensengerln‹, der ›modernen Heulgesellschaft zur Bekämpfung der Nervosität‹, die ›ungarische Parlamentswache‹ usw.«72 Alle Altwiener Typen kann man an diesem Abend sehen : Fiaker , Naschmarkt-Sopherln , Dienstmänner , Hofmusikanten , Rastelbinder , Pflasterer , Blumenmädchen , Deutschmeister etc. Eine Attraktion der besonderen Art sind Tango tanzende Küchenstellagen. Die Themen Parsifal und Tango sind brandaktuell und dürfen in keiner der Persiflagen in diesem Fasching fehlen. Beim Tango geht es um eine für manche gar nicht so lustige Grundsatzfrage : Was ist beim Tanzen erlaubt und was ist unschicklich ? Darüber gehen im Fasching 1914 nicht nur in Österreich die Wogen hoch. Stein des Anstoßes ist ein neuer Gesellschaftstanz , der Tango Argentino. Er ist besonders bei der Jugend populär , die der seit Langem dauernden Vorherrschaft des Walzers bei Bällen überdrüssig ist. Eng aneinandergeschmiegt tanzen die Paare in langsamen ²⁄₄-Takt die Folge von Slow-Quick-Quick rhythmisch in knapp abgesetzten Gehschritten , den Promenaden , und dann die »Tangowiege«. Skandal ! , wettern die Hüter christlicher Moral , speziell katholische Seelsorger , Bischöfe , ja sogar Papst Pius X. Über den Osservatore Romano lässt er den Tango als »schweren Verstoß gegen das Schamgefühl« geißeln. Seelsorger und Gläubige sind gleichermaßen aufgerufen , »sich von dem neuen heidnischen Treiben fernzuhalten«73. Mögen sittenstrenge Tanten , Großmütter noch so sehr gegen die Unschamhaftigkeiten zetern , die Jugend macht doch , wonach ihr der Sinn steht. »So was hätt’s zu meiner Zeit net geb’n !« beweinen die Moralapostel den Verfall der Sitten. Überraschend neutral geht die christlich-soziale Reichspost auf das Thema Tango ein : »Vorläufig kommt die tanzlustige Jugend am meisten zu ihren Rechten und das verdankt sie einzig und allein dem Tango. Seitdem er Trumpf geworden ist , gibt es keine Jause ohne ihn , ohne ›El Chocil‹ und ›El Irresistibile‹ und die anderen üblichen und gangbaren – diesmal wohl im vollsten Sinne des Wortes – Tangoweisen. Natürlich hat jede junge Dame , die etwas auf sich hält , ein besonderes Tango63
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kleid , das Röckchen mehr oder minder hoch geschlitzt , die Taille in Kimonoform , faltig und weit herabfallend.«74
Abb. 29
Und was meint Karl Kraus zum Thema Tango ? : »Ich habe das Tanzen immer für eine der ärgsten Schweinereien gehalten. Für die feige Erlaubnis , sich öffentlich alles zu erlauben , für das Zeremoniell der Geilheit. Für die Form , in der eine Moral , die sich vor der Liebe fürchtet , Mut bekommt und Mama das Knutschen erlaubt hat. Ja selbst noch hin und wieder darauf happig wird. Der Tango fatiert das immerhin , er ist wenigstens der Totentanz des untergehenden Geschlechtes : Mann und Weib messen einander , welcher Teil dem anderen mehr versagt , ihn mehr heruntergebracht hat. In Wien halten wir Gott sei Dank noch nicht so weit , und darum kann der Walzer über den Tango noch siegen. Muß das schön gewesen sein , wie auf dem Semmering in das Treiben auf einmal Leben kommt. Nein , der Tango konnte den Walzer nicht umbringen , so wenig wie der ›Cocktail‹ oder der ›Whisky‹ bei uns den Gumpoldskirchner verjagen können. ›Mia san mia‹ riefen die alten Kommerzialräte auf dem Semmering , als man ihnen zumutete , Tango zu tanzen.«75 Ganz ausgeblendet aus den hitzigen Debatten bleibt , dass auch der Walzer , als er vom Wiener Kongress aus seinen Siegeszug durch Europas Tanzsäle antrat , als ausgesprochen lasziv galt , am englischen Hof sogar verboten war.
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»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Abb. 30 : – Darf ich bitten , mein Fräulein ? – Ja , aber dös sag i Ihna glei : Kan Tango tanz i net !
Das Faschingsvergnügen ist kein Vorrecht der »noblen Leut’«, auch die »kleinen Leut’« lassen sich das bunte Treiben nicht entgehen. Die Bezirke veranstalten ihre eigenen Bürgerbälle ebenso wie Berufsgruppen und Vereine : die Lehrer , die Straßenbahner , die Bahnmeister , die Milchmeier , die »christlichen Kleidermachergehilfen und -gehilfinnen«, Polizei- und Feuerwehrvereine , die Schuhmachermeister oder die »christlichen Hausbesorger« etc. Auch die Wohlfahrtsorganisationen laden zu Kostümkränzchen für einen guten Zweck. Oberösterreicher , Salzburger , Tiroler oder die »Egerländer Gmoi« zeigen in Wien »Flagge« mit eigenen Bällen. Im Ballkalender 1914 sucht man aber vergeblich nach Bällen , die einst legendären Ruf hatten : Fiakerball oder 65
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Wäschermädelball. Sie verloren im Laufe der Zeit ihren Nimbus durch billige Imitationen oder regelrechte Entartung. In Gersthof ( Währing ) und in Ober St. Veit ( H ietzing ) herrscht Maskentreiben auf den Straßen. Das kostenlose Vergnügen zieht Besuchermassen an , allein in Gersthof werden sie auf bis zu 150. 000 , in Ober St. Veit auf 60. 000 geschätzt. »Der Faschingszug selbst , der von der Herbeckstraße seinen Triumphreise nahm , bot ein glänzendes Schauspiel. Bunte , lustige , farbenprächtige Gruppen wanderten durch das Menschenmeer und bald flogen treffende Bemerkungen hinüber und herüber. Aeußerst bedauerlich ist es nur , daß von Amts wegen regelmäßig einzelne Gruppen ›konfisziert‹ werden. So untersagte man auch diesmal in Gersthof die Gruppen ›Die neuen Steuern‹ und ›Veteraners Leid und Freud‹. Waere es nicht besser , wenn man den Leuten ein solch gewiß harmloses Vergnügen ungekürzt ließe ?«, fragt das Neuigkeits-Welt-Blatt.76 Ein »riesiger Erfolg« ist auch der 28. Faschingsfestzug in Ober St. Veit , bei dem sich mehr als 30 Gruppen den Schiedsrichtern stellen. Die größte »Hetz« hat das Publikum mit den Gruppen »Die Polizeihunde Lux und Leni als Verlobte«, der »Tanzsaal für Tango-Tanz« und »Der Bauernschreck von der Stulpalm«. Auch die Freie ( konfessionslose ) Schule wird aufs Korn genommen – mit Lehrlingen , die sich dem Schnapsen ergeben.
Abb. 31
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»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Es würde etwas fehlen in der Wiener Faschingstradition , gäbe es nicht auch die Hausbälle und Kränzchen , auch wenn sie viel Aufwand bedeuten. Schließlich muss man in der Wohnung für eine ausreichende Tanzfläche sorgen. So räumt man vornehmlich das Schlafzimmer aus. Tausend Einzelheiten gibt es zu bedenken , tausend Handgriffe zu tun. Vor allem gilt es zu klären , was es zu essen gibt. Am praktischsten ist ein kaltes Buffet. Man bestellt es am besten bei »Sacher«, »Sluka«, »Gerstner« oder »Heiner«, als k. u. k. Hoflieferanten sind sie Garanten für beste Qualität und heben das Renommee der Gastgeber. Sehr angenehm , dass sie auf Wunsch auch vergoldete Sessel , Lorbeerbäumchen und Palmen mitliefern. Am Tag der Einladung herrscht ein Kommen und Gehen der Lieferanten. Natürlich weiß das ganze Haus Bescheid , dass bei Medizinalrats , Kommerzialrats oder Herrn von … große Gesellschaft ist. Und selbst in der Nachbarschaft erregt das Getriebe Aufsehen. Der Friseur kommt ins Haus , um Gastgeberin und Töchtern ballgerecht das Haar aufzustecken.
Abb. 32: Ob Tango oder Walzer : die Ballfrisur muss originell sein
Ach ja , auch auf Nummerntäfelchen für die Gästegarderobe darf man nicht vergessen. Und bitte , lieber Gott , keine Absagen im letzten Augenblick , schon gar nicht von Junggesellen , die man als Tänzer unbedingt braucht ! Sind es Offiziere , so ist eine Absage kaum zu befürchten , denn sie kommen gerne in bürgerliche Häuser , wo es gut und viel zu essen gibt. Sie sorgen für den Zauber der Montur in der Welt der Zivilisten. Salonrock , Salonhose passen wie angegossen dank der Kunst der österreichischen Uniformschneider. Manchmal bringt der eingeladene Offizier Kameraden mit , die sich auch an den Fleisch67
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töpfen bürgerlicher Saturiertheit laben wollen. Sie revanchieren sich dafür mit allerlei lustigen Anekdoten , Komplimenten reihum , kurzum sie sorgen dafür , dass der Abend nicht langweilig wird. Gute Tänzer sind sie allemal. Hoffentlich verliebt sich meine Tochter nicht unsterblich in so einen Charmeur mit klingendem Namen , insistiert womöglich auf einer Heirat , bangt da zuweilen der Herr des Hauses. So ein Schwiegersohn bringt meist nichts ein , im Gegenteil , man wird ordentlich zuschießen müssen , um dem Paar ein standesgemäßes Leben zu ermöglichen. Für den Bürger , der es durch Fleiß zu etwas gebracht hat , gilt nur das kühle Abwägen von Soll und Haben. Zweifellos steht in der österreichischen Gesellschaftshierarchie der Militär über dem Zivilisten , das vermag aber den kühlen Rechner nicht zu blenden. Ist die Tochter schon gegen 30 oder gar darüber und droht »sitzen zu bleiben«, dann schwächen sich derartige Bedenken freilich ab. Besser der als gar keiner , auch wenn man womöglich seine Spielschulden vor der Heirat begleichen muss. Vielleicht kann man ja den künftigen Schwiegersohn überreden , des Kaisers Rock auszuziehen und in die Firma einzutreten , überlegt da der Geschäftsmann oder Industrielle. Freilich ist auch das ein Risiko. Hat man Pech , dann entpuppt sich der junge Mann als Typ Krischan Buddenbrook , der im Kontor das Personal mit lustigen G’schichtln aus seiner Militärzeit unterhält und die Leute vom Arbeiten ablenkt. Freilich muss es nicht die Tochter des Hauses sein , auf die der geladene Offizier sein Auge geworfen hat. Zu einem Hausball können nämlich auch junge Mädchen gehen , ohne dass die Mama mitkommt. Hier geht es gesitteter zu als bei den öffentlichen Bällen. So genießt man den intimen Charakter eines Hausballs , neckt einander bei Gesellschaftsspielen und Tanz bei Musik von Grammophonplatten – »eine Kinderjause bei Nacht mit lauter erwachsenen Genüssen« ( Otto Friedländer , Letzter Glanz der Märchenstadt ).
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»Hie Walzer!« – »Hie Tango!«
Abb. 33
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Kampf dem Modernismus: die Kirche »Die sieben fetten Wochen des Karnevals haben ihr Ende gefunden ; der graue Aschermittwoch hat offiziell dem lustigen Faschingstreiben den Kehraus aufgespielt – die sechs mageren Wochen der stillen Zeit sind gekommen … So trat denn mancher heute ( M ittwoch , 25. Februar 1914 ) in Bußstimmung ins Gotteshaus ein , wo es am Altar halblaut erscholl : ›Gedenke , o Mensch , daß du aus Staub bist und zu Staub wirst !‹ hieweil der Priester das Aschenkreuz auf die Stirn der Knieenden zeichnete.« Fürsterzbischof Dr. Piffl lässt sich im erzbischöflichen Palais von seinem Konsistorialsekretär das Aschenkreuz erteilen , »im Stephansdom vollführten die Weihbischöfe Dr. Pfluger und Dr. Zschokke gegenseitig die Zeremonie , Weihbischof Dr. Zschokke äscherte dann die Mitglieder des Domkapitels ein und auch die Kurgeistlichkeit und zahlreiche Andächtige empfingen das Zeichen des Bußgeistes. … In der Schönbrunner Schloßkapelle wohnte heute früh der Kaiser einer von Hof- und Burgpfarrer Monsignore Dr. Ernst Seydl gelesenen stillen hl. Messe bei und ließ darnach im Hoforatorium die Einäscherung an sich vornehmen : ein erhebendes Beispiel kaiserlicher Demut.«77 Von den Kirchenkanzeln herab und in Fastenhirtenbriefen mahnen Pfarrer und Bischöfe ihre »Schäfchen«, nicht auf der breiten Straße des Verderbens zu wandeln. Heutzutage ist »dieses Haschen nach Genuß , diese Unersättlichkeit und Gier im Genuß , in Putz- und Prachtliebe , eine der verheerendsten Krankheiten unserer Zeit , der nagende Wurm unseres Geschlechtes geworden«78 , werden die Soldaten von Heer und Marine vom Apostolischen Feldvikar Bischof Bjelik gewarnt. Laszive Tänze , schlüpfrige Filme , frivole Theaterstücke und Romane , Ausstellungen mit unsittlichen Bildern , all das führe zu Pflichtvergessenheit , Gewissen und Gnade würden erstickt. Wie man am Beispiel Sodoms im Alten Testament sehe , sei das alles nicht neu. Darum , besonders ihr Jugendlichen , seid »Christen im Geiste und in der Wahrheit im Herzen und im Leben !«79. Man hört und liest es , holt sich in der Kirche das Aschenkreuz , gedenkt dabei der eigenen Endlichkeit – und freut sich schon auf den üppigen Heringsschmaus , den Gasthäuser und Restaurants am Aschermittwoch anbieten. Der Reigen der Vergnügungen geht unverdrossen weiter mit Bällen und Kränzchen , wilden Tangorhythmen , Glanz und Flitter , Modeschauen und Einkaufslust. »Die unersättliche Welt dehnt die Freuden des Faschings über das kalendermäßige Ende aus und so sehr über die Schlechtigkeit der Zeiten geklagt wird , so eifrig ist man bemüht , neue Gelegenheiten zur Lustbarkeit ausfindig zu machen.«80 70
Kampf dem Modernismus
Kein Zweifel , die Säkularisierung der Gesellschaft ist in vollem Gang. Es sind schwere Zeiten für die Kirche , man merkt , dass sie in die Defensive geraten ist. Vor allem der Geist des Liberalismus macht ihr auch in Österreich zu schaffen. Immer mehr Menschen wollen sich nicht vorschreiben lassen , was sie zu denken und zu glauben haben. Dazu kommt die Faszination des technischen Fortschritts , der zusehends die Mühsale des Alltags erleichtert. Gibt es etwas , was sich technisch nicht machen lässt ? Stück für Stück entreißt die Menschheit der Schöpfung ihre Geheimnisse. Das Reich des lieben Gottes scheint von Jahr zu Jahr kleiner zu werden , denn mit ihm verbindet man zusehends das Unbekannte , das noch im mystischen Dunkel verborgen liegt. Mit tiefer Besorgnis verfolgt der Vatikan die geistige Emanzipation , die seinen Einfluss auf Denken und Folgsamkeit der Katholiken weltweit laufend schmälert. Anpassen oder nicht , Modernismus oder Antimodernismus lautet die Kernfrage. Papst Pius X. entscheidet sich gegen einen Ausgleich. Seit 1910 müssen Pfarrer vor ihrer Weihe einen eigenen Antimodernisten-Eid leisten , ebenso Professoren der Theologie und Philosophie an katholischen Fakultäten.81 Mit Missvergnügen betrachtet die Amtskirche , dass es vor allem junge Kleriker in die Politik zieht. Zu einem Verbot kann sie sich aber nicht entschließen. Immerhin besteht die Möglichkeit , so über die Politik die Interessen der Kirche zu wahren , vor allem auf der Basis der Sozialenzyklika »Rerum novarum« von Papst Leo XIII. ( 1893 ). »Gottlosen« Kräften wie den Sozialdemokraten den Wind aus den Segeln zu nehmen ist vornehmstes Ziel. Die Christlichsozialen als zweite Massenpartei sind für die Kirche der Garant dafür , dass es nicht so weit kommt wie in Frankreich , wo seit 1905 die völlige Trennung von Kirche und Staat gilt. Da sei Gott vor ! Wird da nicht dem Antichristen der Boden bereitet ? Aber wen wundert es in einer Republik , in der die antiklerikale Linke die Macht hat. Das wäre in den Tagen , als Frankreich noch einen Rex Christianissimus ( a llerchristlichster König ) hatte , undenkbar gewesen. Österreich-Ungarn , du hast es besser ! An deiner Spitze steht ein Monarch , der als »Apostolische Majestät« Garant dafür ist , dass die Rekatholisierung der habsburgischen Erblande ( Gegenreformation ) durch seine Vorfahren nicht umsonst war. Unter seinem Nachfolger Franz Ferdinand wird es nicht anders sein , denn auch er ist kirchlich streng konservativ , ein eingeschworener Feind allen Liberalismus und Freimaurertums. Thron und Altar : Dieses Bündnis scheint unerschütterlich. In Wahrheit sind auch hier schon Risse bemerkbar. Bei der Erweckung eines nationalen Selbstbewusstseins slawischer Völker wie den Slowenen haben Geist liche eine wesentliche Rolle bei der Bildung einer einheitlichen Schrift71
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sprache gespielt. Ihnen ist die angestammte Dynastie weit weniger ein Anliegen als die nationale Frage und das soziale Wohlergehen ihres Volkes. Und sie finden bei ihm Gehör. In Stadt und Land ist der Herr Pfarrer aber nach wie vor Respektsperson , dessen Wohlwollen viel gilt. Auch in Wien eilen Kinder herbei zum Handküssen , wenn sie Hochwürden auf der Straße begegnen. Sie bekommen die Wangen getätschelt , ein Heiligenbildchen in die Hand gedrückt und kehren beseligt heim mit Grüßen vom Herrn Pfarrer an die werten Eltern. Ein Leben ohne Pfarrer ist für die meisten kaum vorstellbar , auch Taufscheinkatholiken wollen ihn an den Meilensteinen ihres Lebens nicht missen. Taufe , Erstkommunion , Firmung , Hochzeit , letzte Ölung und Einsegnung am Friedhof sind fixe Bestandteile eines traditionell christlichen Lebens. Die Amtskirche weiß nur zu gut , dass ihre Zukunft von der Formung der Jugend abhängt. Die totale Unterrichtsaufsicht , die der Neoabsolutismus der katholischen Kirche einst zugestanden hatte , wurde ihr durch den siegreichen Liberalismus wieder entwunden. Über die Schulen der Stifte und Klöster im ganzen Land übt die »allein seligmachende Kirche« aber nach wie vor enormen Einfluss auf die Erziehung der Kinder von Adel , Bürgern und Bauern aus. Welchen Weg die Zöglinge auch immer in ihrem späteren Leben gehen mögen , die Grundprägung , die sie in den imposanten Palästen des Glaubens erhalten haben , werden sie nie ganz verleugnen können. Das ist besonders wichtig in einer Zeit , die trunken von Profitgier und Genusssucht den Tanz um das Goldene Kalb vollführt. »Vielleicht wurde nie mehr von Geistigkeit und Fortschritt geredet als in der Gegenwart. Aber man versteht unter Fortschritt fast nur die gesteigerten Bedürfnisse und die gesteigerten Möglichkeiten zu deren Befriedigung. Diese Zeit bemißt das Niveau der Völker fast nur mehr nach der Höhe von Einfuhr und Ausfuhr , nach der Zahl der Banken und Vergnügungsetablissements , nach der Vollendung der Warenhäuser und der Pracht der Villenviertel«, heißt es unter dem Titel »Stille Wochen. Eine Aschermittwoch-Betrachtung« in der Reichspost. »’s wär net Wien«, gäbe es kein Hintertürl , in der kirchlich verordneten Fastenzeit ein Spektakel abzuhalten , natürlich unter frommem Vorwand , genannt Fastenmarkt. Zu finden ist er am Kalvarienberg in Hernals ( 17. Bezirk ). Dort gibt es von Aschermittwoch bis Ostermontag »a Hetz«, ohne die der Wiener nur schlecht auskommt. Dass der Kalvarienberg ein Wahrzeichen der »ecclesia triumphans« aus der Zeit der Gegenreformation ist , errichtet auf den enteigneten Gütern der protestantischen Adelsfamilie der Jörger , der Weg vom Passionsaltar 72
Kampf dem Modernismus
des Stephansdomes bis nach Hernals genau der Länge des Leidensweges Christi zum Kreuz auf Golgatha in Jerusalem entspricht , interessiert , wenn überhaupt , nur beiläufig. Anziehungspunkt ist das Markttreiben rund um die Wallfahrtskirche. Zahlreich sind die Standln ( Verkaufshütten ), die die für die vorösterliche Zeit typischen Köstlichkeiten anbieten : Kalvarikipferln , Zuckerbrezeln , Lebzelten , Johannisbrot , Kokosnüsse , Gigerlfutter ( Gemisch aus getrockneten Früchten und Nüssen ) oder türkischen Honig. Kinderherzen schlagen höher beim Anblick der »Bamkraxler«, jenen bunten hölzernen Männchen , die so lustig entlang einer Stange ruckweise hinunterhüpfen. Freilich gehört es beim Besuch des Kalvarienberges dazu , neben der Kirche die vierzehn Stationen der Passion Christi abzugehen und mit leichtem Schauer den »Körberljuden« zu betrachten , jenen Mann in der Kreuzigungsgruppe , der in einem Korb die Marterwerkzeuge für den Tod des Heilands am Kreuz trägt. Ihn anzuspucken ist nicht mehr üblich , auch wenn das christlichsoziale Wien offen dem Antisemitismus huldigt.
Abb. 34: In der Fastenzeit Christenpflicht : ein Besuch am Kalvarienberg
Genug der frommen Betrachtungen ! – Es ist höchst an der Zeit für ein »gutes Tröpferl« in einem der nahe gelegenen Heurigenlokale. 73
Wien 1914
1914 ist für den Kalvarienberg ein besonderes Jahr. Mit einem feierlichen Triduum ( d reitägige liturgische Feier ) in der Woche vor Palmsonntag ( 31. März bis 3. April ) gedenkt man des 200-jährigen Jubiläums der Pilgerstätte. 1714 war der künstlich aufgeschüttete Kalvarienberg neben der Hernalser Kirche eingeweiht worden. Von ihm ist 1914 nichts mehr übrig , denn er wurde 1892 bis 1894 abgetragen , das Gelände verbaut , die 14 Stationen um die Kirche gruppiert. Der Fürst erzbischof von Wien , Dr. Friedrich Piffl , darf bei den Jubiläumsfeiern nicht fehlen. Die Häuser entlang seiner Fahrtroute nach Hernals sind beflaggt , Turm und Vorderfront der Kirche feierlich illuminiert. Vor der Kirche bilden die Freiwillige Feuerwehr Hernals , die Veteranenvereine »Schwarzenberg«, »Philippovich« und »Deutschmeister« sowie Hunderte festlich gekleidete Schulkinder Spalier. Feierliches Glockengeläut empfängt den Erzbischof bei seinem Eintreffen vor dem Kirchenportal. Unter Assistenz zweier Canonici zelebriert er das Tedeum. Beim Verlassen der Kirche erwartet ihn eine Abordnung der Kalvarienberg-Standler , die ihm ein Blumenbukett überreicht. Man ist der Kirche Dank schuldig , dass sich im Umkreis einer ihrer Pilgerstätten gute Geschäfte machen lassen. Und Gott sei Dank findet sich kein radikaler Frömmler , der das Markttreiben am Kalvarienberg als Gotteslästerung empfindet. In Jerusalem ist das vor 1. 900 Jahren vorgekommen , berichtet die Bibel. Der Heiland selbst war es , der die Händler durch seine Zerstörungswut in Angst und Schrecken versetzt und für eine schwere Geschäftsstörung gesorgt hatte. Zum Glück sind die Zeiten andere geworden – toleranter und gesitteter. Außerdem : Das waren böse jüdische Geldwechsler und nicht harmlose christliche Kipferlverkäufer wie am Kalvariberg.
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Durch Obstruktion entwertet: das Parlament An der Ringstraße tagt der Reichsrat , das Zweikammerparlament der österreichischen Reichshälfte , offiziell »die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« genannt. Der Name Österreich existiert für die Westhälfte des Habsburgerreiches offiziell gar nicht ( man wird ihn erst 1915 einführen , Anm. ). Inoffiziell spricht man von Cisleithanien , nach dem Fluss Leitha , der die Grenze zu Ungarn ( Transleithanien ) bildet. Die Ungarn haben in Budapest mit dem Reichstag ihr eigenes Parlament. Der österreichische Reichsrat besteht aus dem Abgeordnetenhaus ( Unterhaus ) und dem Herrenhaus ( Oberhaus ). Das Abgeordnetenhaus wird seit 1907 nach dem allgemeinen , gleichen und geheimen Wahlrecht , allerdings nur für Männer , gewählt. Nach den Wahlen vom Juni 1911 umfasst es 516 Abgeordnete. Sie kommen aus acht Nationen : Deutsche , Tschechen , Polen , Ruthenen ( U krainer ), Italiener , Slowenen , Kroaten und Rumänen. Sie spalten sich aber auch auf nationaler Ebene in mehrere Fraktionen auf , in Radikale , Nationalististen , Liberale und Sozialisten. Selbst die Sozialdemokraten , die sich der Internationalität proletarischer Interessen verschrieben haben , sind gespalten in deutsche , tschechische und polnische Fraktionen. Die Agrarier , die die Interessen des Großgrundbesitzes vertreten , bilden ebenfalls unterschiedliche Klubs. Keine einzige dieser Parteien hat das Ganze des Reiches zum Ziel , alle konzentrieren sich darauf , entweder erworbene Privilegien zu verteidigen oder neue zu erringen. Das Herrenhaus wird nicht gewählt , es besteht aus vom Kaiser ernannten Mitgliedern oder auf dem Erbweg vermachten Sitzen des alten Adels. Dieser Kammer gehören ( Stand 1914 ) 14 großjährige Erzherzöge , 18 Erzbischöfe und Bischöfe , denen Fürstenrang zukommt , an. Die Zahl der auf Lebenszeit ernannten Herrenhausmitglieder beträgt genau 150 , so wie es die in der Verfassung festgelegte unterste Grenze vorschreibt. Auch im Herrenhaus gibt es eigene Fraktionen : die Rechte , die Mittelpartei , die Verfassungspartei sowie Fraktionslose. Insgesamt setzt sich das Herrenhaus aus 275 Mitgliedern zusammen. Seit 1907 können Mitglieder dieser Parlamentskammer auch für das Abgeordnetenhaus kandidieren. Zwei entscheidende militärische Niederlagen waren notwendig gewesen , um den Kaiser zur Einsicht zu bringen , dass ein Regieren ohne gewählte Volksvertretung nicht länger möglich war. Er hatte also gnädigst geruht , eine »Teilnahme an seinem Recht zur Gesetzgebung und Verwaltung durch ein Parlament« zuzulassen. Die Dezember-Verfassung von 1867 liefert dafür die Grundlage. Der Reichsrat verfügt über 75
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fundamentale Rechte wie Budgetbewilligung , Rekrutenaushebung und Kontrolle der Verwaltung. Auch die Möglichkeit einer Ministeranklage besteht , wenn auch in beschränktem Maße. Stürzen können die Abgeordneten einen Minister mit Stimmenmehrheit nicht , denn der Kaiser allein ernennt und entlässt nach seinem Willen Minister und Ministerpräsidenten. Ein eklatanter Unterschied zu Großbritannien , wo der Premierminister als wahrer Inhaber der Macht sich nur so lange halten kann , wie er eine Mehrheit im Unterhaus hat. Was Franz Joseph einmal beschworen hat , daran hält er sich peinlich genau , selbst wenn es seiner Überzeugung widerspricht. Ein Autokrat in der Gesinnung und Skeptiker gegenüber parlamentarischem Wesen ist er immer geblieben. Das wird auch durch sein Verhalten deutlich. Die eigens für ihn gebaute Kaiserstiege , die zur Hofloge im Abgeordnetenhaus führt , betritt er nicht , schon gar nicht ein Parlament , in dem es oftmals zugeht wie in einem Vorstadtwirtshaus. Gehen die Querelen im Parlament zu weit , dann kommt der Paragraf 14 des Grundgesetzes zur Anwendung , um die »Staatsnotwendigkeiten« wie etwa Rek rutenkontingente oder Finanzplan ohne parlamentarische Mitwirkung sicherzustellen. Der Kaiser hat darin ausreichend Praxis. Allein nach den Krawallen um die Sprachverordnungen seines Ministerpräsidenten Graf Badeni ( 1897 ) wurden bis 1904 insgesamt 76 Verordnungen nach Paragraf 14 erlassen. Der Kaiser und seine Regierung sehen sich somit als Fels in der Brandung des aufgewühlten Zeitgeistes und Wahrer der Kontinuität. Der außenpolitische Kurs und die Entscheidung über Krieg und Frieden sind Prärogativen des Monarchen , die er sorgsam hütet. Hier hat das Parlament keinerlei Einfluss. Als Bau ist das Parlament voll von Symbolik , der vom Architekten Theophil Hansen gewählte Stil der griechischen Antike eine Huldigung an »das erste Volk , welches die Freiheit und Gesetzmäßigkeit über alles liebte«82. Die Monumentalfigur der Göttin Pallas Athene vor dem Haus mit der Statue der Siegesgöttin Nike in der rechten Hand drückt den Wunsch aus , die Weisheit möge im Interesse des Staates siegen. Nike ist auch die Lenkerin der acht am Dach thronenden Quadrigen ( v ierspännige offene Pferdewagen ), die den Sieg der parlamentarischen Tätigkeit verkörpern. Die am Fuß der Auffahrtsrampen stehenden vier bronzenen Pferdebändiger symbolisieren die Zügelung der politischen Leidenschaften als Voraussetzung für segensreiche Arbeit des Parlaments. Allerdings sind keine Zügel zu sehen , die Fäuste der Bändiger greifen ins Leere. Das ist eine allerdings ungewollte Symbolik , die aber umso schmerzlicher den wahren Zustand des Hauses verkörpert. Die Männer , die als Repräsentanten des Volkswillens zum Wohle der 76
Durch Obstruktion entwertet
Bürger wirken sollten , lassen ihren politischen Leidenschaften rücksichtslos die Zügel schießen. Ihr Zauberwort heißt Obstruktion. Die Formen , die sie annimmt , sind vielfältig : Dauerreden , Schreiduelle , Pultdeckelklappern , Lärmen mit Trompeten , Tschinellen , Trommeln , Ratschen etc. Auch Beschimpfungen und tätliche Übergriffe kommen immer wieder vor. Ansehen hat derjenige Parlamentarier , der als tüchtiger Obstruktionist gilt. War die Obstruktion der Ruthenen zum Jahreswechsel 1913 / 14 überraschend eingestellt worden , so belastet weiterhin das gespannte Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen die Parlamentsarbeit. Beide Seiten stehen einander misstrauisch gegenüber , im Ringen um einen Ausgleich wie in Mähren ( 1905 ) zeichnen sich keine Fortschritte ab. Schon Ende Jänner 1914 ist deshalb der Reichsrat vertagt worden , um den Hitzköpfen Zeit für Abkühlung zu geben.
Abb. 35: Volk , wähle mich ! Ich bin der Einzige , der Dir noch was weiß machen kann !
Es ist eine höchst unwillkommene Unterbrechung , da wichtige wirtschaftliche Maßnahmen auf dem Programm stehen. Die Erhöhung des Existenzminimums von 1. 200 auf 1. 600 Kronen ist bereits beschlossen , ebenso die Steuererhöhung für Reiche , die Unfallversicherung der Bergarbeiter und eine verbesserte Pensionsversicherung der Privatangestellten. Noch nicht erledigt sind Gesetze über die Befreiung von 77
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Häuslern und Kleinbauern von der Hausklassensteuer und die Senkung der Hauszinssteuer. Diese Vorhaben sind nun blockiert »durch die freche Obstruktion vergewaltigt … alles , was das Volk braucht , muß zurückstehen , weil sich die tschechischen und deutschen Nationalisten in Böhmen nicht vertragen können«83 , geißelt die Arbeiterzeitung die Folgen der Obstruktion und stellt konsterniert fest : »Seit dem Jahre 1898 machen die Tschechen Obstruktion. Nicht gerade ununterbrochen , aber dennoch beharrlich. Die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses ist seit jener Zeit immer nur eine Episode zwischen zwei tschechischen Obstruktionen.«84 Und nichts habe diese »vernunftlose , ziellose und sehr oft einfach kindische Politik den Tschechen gebracht«85. Auch der jetzigen Obstruktion »wird nur der Erfolg bleiben , daß der in der Funktion des Reichsrates verkörperte Konstitutionalismus zum Teufel geht«86. Die Neue Freie Presse sieht die unmittelbar bevorstehende Ausschaltung des Reichsrates voraus : »Ein Parlament , mißliebig beim Volke , ohne Ansehen bei der Krone , wurzellos in den Wählern und machtlos gegenüber dem Hofe , siecht an verlorener Lebenskraft. Der Ministerpräsident sitzt auf der Regierungsbank und trägt in der Brusttasche die Unterschriften , die ihn berechtigen , alle Türen zu sperren , die Abgeordneten wegzuschicken und für die Bedürfnisse der Armee und der Finanzen ohne die Zustimmung der beiden Häuser zu sorgen. Eine Wunde wird den Grundgesetzen des Staates geschlagen , die lange bluten und sich nie mehr ganz schließen dürfte.«87 Es sei abzusehen , »daß die Abgeordneten mit einer geringschätzigen Handbewegung aus dem Hause gewiesen werden«88. Genauso kommt es. Am Montag , dem 16. März 1914 , erscheint Ministerpräsident Graf Stürgkh im Parlament , setzt angesichts letzter Beratungen eine geheuchelt abwartende Miene auf und holt dann die längst vorbereitete kaiserliche Order über die Vertagung des Reichsrates aus seiner Aktentasche. Der Beschluss wird vom Präsidenten Dr. Sylvester ( deutschnational ) verkündet , die Abgeordneten holen sich ihre letzten Diäten an der Parlamentskasse ab , die schwarz-gelben Fahnen werden von den hohen Flaggenmasten niedergeholt. Nur der Sozialversicherungsausschuss , der als permanent erklärt wird , kann weiterarbeiten. In der Haltung der Christlichsozialen schwingt Schadenfreude mit , denn der Reichsrat in seiner jetzigen Zusammensetzung erinnert sie an ihre Wahlniederlage vom Juni 1911 , die sie vom ersten Platz auf den dritten hinter die Sozialdemokratie zurückgeworfen hat. Wenigstens sei dem Hohen Hause ein Zusammenbruch in offener Sitzung erspart geblieben , konstatiert hämisch die Christlichsoziale Arbeiterzei78
Durch Obstruktion entwertet
tung : »Wie ein elendes Wrack , das im Sturm Steuer und Schraube eingebüßt , so ist das Haus der Junisieger hilflos auf der Felsklippe der auf bübischem Uebermut und Unverstand aufgebauten Obstruktion aufgelaufen. Dort auf dem öden , todesstarren Riffe liegt nun das stolze Haus , das in seinen Jugendtagen sich geberdete , als ob es die Welt aus den Angeln heben wollte , das Haus , das alle Fragen des Staates und des Volkes zu lösen versprach , dort liegt es nun , unfähig einer Tat , umspült von den Wellen allgemeiner Verurteilung , dem Tage entgegenharrend , an dem es in das Nichts versinken wird.«89 Dieser Häme über das Scheitern des »Junisiegerparlaments« folgt auch eine ganz nüchterne , offen zugegebene Erkenntnis : »Die Vertagung des Parlaments zum Zwecke , den § 14 an seine Stelle zu setzen , ist ein schwerer Eingriff in das Verfassungsleben , sie bedeutet letzten Endes die Aufhebung der Verfassung und deren Ersetzung durch den Absolutismus , dessen völlige Nacktheit nur durch ein recht fadenscheiniges Lendentuch beeinträchtigt erscheint.«90 Die Sozialdemokraten werfen dem Ministerpräsidenten vor , die Obstruktion nur als Vorwand zu benützen , um sich des Parlaments zu entledigen. Der 16. März 1914 werde »als einer der schwärzesten Unglückstage dieses traurigen Reiches dastehen … Aber sie werden schon einmal erfahren , die Herren oben , die das Parlament verächtlich beiseite schieben , was sie da eigentlich angerichtet haben. Allzu üppig wuchert das Oesterreichertum in diesem zerklüfteten Staate wahrlich nicht , daß man so leichten Herzens auf den einigenden Gedanken der gemeinsamen Volksvertretung verzichten könnte.«91 Ähnlich sieht das die Neue Freie Presse : »In der Natur wird es täglich heller , und über das Parlament breitet sich die lange Nacht aus , und Österreich wird durch viele Monate nicht mehr zu den verfassungsmäßigen Staaten gezählt werden können. Die einzige Ausnahme in ganz Europa.«92
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Abb. 36: Wenn die Tschechen net heimg’schickt worden wärn , dann wären die alten R ömer und Griechen und die Pferdebändiger und Ross’ ausg’rissen
Kein Aufschrei der Empörung , keine Demonstration auf der Ringstraße. »Die Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegen Verfassungsfragen ist so groß geworden , das Ansehen des Parlaments so gewaltig gesunken , daß man wahrscheinlich auch dieses Ereignis mit jener österreichischen Apathie hinnehmen dürfte , die unserem politischen Leben ein so trostloses Gepräge aufdrückt … Ein so schwacher , von allen österreichischen Krankheiten verseuchter parlamentarischer Körper könnte nur dann sich erholen , und zu einiger Macht sich hinaufentwickeln , wenn ihm ein Bewußtsein wenigstens als einigendes Element innewohnen würde : die gemeinsame Überzeugung , daß unser Reich diesen einzigen politischen Boden braucht ; … die Mächte , denen von allem Anfang an jedes Stück unserer bißchen demokratischen Einrichtungen ein Greuel war , sehen , wie mürbe und morsch ihr Feind ist. Kein Wunder , wenn die Sehnsucht nach einem offenen , radikalen Absolutismus in die Höhe schießt. Das Bürgertum hat mit dem heutigen Tage wieder eine entscheidende Schlacht verloren«93 , bedauert das angesehene Prager Tagblatt. Das als politisch eher farblos geltende Neuigkeits-Welt-Blatt sieht das bevorstehende Regieren mit § 14 angesichts der heiklen außenpolitischen Lage sehr kritisch : »Rußland ist vollkommen kriegsfer80
Durch Obstruktion entwertet
tig und zum Krieg bereit ! In allen Tonarten hallt jetzt dieser Alarmruf aus dem benachbarten Riesenreiche über die mit Soldaten gespickte Grenze zu uns herüber und alle nachträglichen offiziösen Beschwichtigungen vermögen die aufwühlende Wirkung dieser unausgesetzten Alarmrufe nicht abzuschwächen. Während die österreichische Parlamentskrise trotz der letzten Rettungsversuche zu einem vollständigen inneren Debacle zu führen droht , weht zwischen Wien , Berlin und Petersburg ein höchst unfreundlicher , ja direkt feindseliger Hauch. Fast allgemein wird die angriffslustige Politik Rußlands als das bedrohlichste Zeitsymptom betrachtet , dem im Interesse der Selbsterhaltung Einhalt geboten werden müsse. Von allen Seiten flattern jetzt Warnungssignale über das konsequente Rüsten an unserer Ostgrenze auf , das in Verbindung mit den Spionage- und Hochverratsprozessen unzweideutig auf böse Absichten des russischen Nachbars hinweist.«94 Es sei klar , »daß die Angelegenheiten auf dem Balkan noch lange nicht erledigt sind … und gegenwärtig befinden wir uns in einem Zwischenakt von ganz unbestimmter Dauer. Es ist also ganz und gar nicht ausgeschlossen , daß wir einmal plötzlich und ganz unerwartet , ohne zu wollen , in kriegerische Ereignisse verwickelt werden.«95 Auch die Neue Freie Presse geht auf diesen Aspekt ein. Österreich habe zwei Kriege ( 1859 und 1866 ) geführt , »ohne daß die Armee eine Stütze an den im Parlamente veranschaulichten Volkskräften gehabt hätte. Soll es unsere Bestimmung sein , einen dritten parlamentslosen Krieg erleben zu müssen ? Der Gedanke ist unheimlich.«96
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»Ein grenzenloses Unrecht«: die Wiener Wahlordnung Während am 16. März 1914 das Parlament nach Hause geschickt wird , steht das benachbarte Rathaus ab diesem Tag im Zeichen der Gemeinderatswahlen. Anders als auf Reichsebene wird in Wien nach wie vor nach dem Klassenwahlrecht verfahren. Es gibt insgesamt vier verschiedene Wahlkörper , die sich durch die jeweilige Steuerleistung der Wahlberechtigten unterscheiden. Die mit der größten Steuerleistung wählen im 1. Wahlkörper , wie etwa die Hausbesitzer. Abgestuft folgen der 2. und der 3. Wahlkörper. Dieser 3. Wahlkörper ist für die in Wien herrschenden Christlichsozialen von besonderer Bedeutung , denn in ihm sind sowohl die Gemeindebediensteten als auch die Gewerbetreibenden vertreten. Der 4. Wahlkörper ist allgemein , in ihm wird ein Mandat pro Bezirk vergeben , also insgesamt 21 Mandate. Teilnahmeberechtigt sind alle in den anderen drei Wahlkörpern zugelassenen Bürger. Zu vergeben sind insgesamt 165 Mandate , jeweils 48 in den drei ersten Wahlkörpern und die 21 im 4. Wahlkörper. 1914 werden alle 48 Mandate im 3. Wahlkörper für die Dauer von sechs Jahren neu besetzt , im 4. Wahlkörper die erledigten Mandate in den Bezirken Landstraße , Ottakring und Floridsdorf. Ferner werden fünf Mandate im 1. Wahlkörper und ein Mandat im 2. Wahlkörper vergeben. Insgesamt geht es also um die Neubesetzung von 57 Gemeinderatsmandaten , das ist ein Drittel des Gremiums. Nur vier der vakanten Mandate gehörten bisher der Opposition. Wahlberechtigt sind alle österreichischen Staatsbürger männlichen Geschlechts , die das 24. Lebensjahr vollendet haben und im Gemeindegebiet von Wien mindestens drei Jahre ununterbrochen wohnen. Die Reichsratswahlen im Juni 1911 haben die wahre Stärke der Parteien offenbart , wenn das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Wien zur Anwendung käme. Damals entfielen auf die Sozialdemokraten nahezu 147. 000 Stimmen , auf die Christlichsozialen samt Absplitterungen etwa 135. 000. Wien hat also damals eindeutig rot gewählt , wenn auch auf parlamentarischer Ebene. Bei den allgemeinen Gemeindewahlen 1912 erhielten die Christlichsozialen fast 121. 000 , die Sozialdemokraten 118. 500 Stimmen , also ein knapper Vorsprung für die Christlichsozialen. Im Gemeinderat verfügen die Christlichsozialen aufgrund des Klassenwahlrechts über 136 , die Sozialdemokraten nur über neun Mandate. »Was für eine schuftig-erbärmliche Wahlordnung , fragen wir , muß das wohl sein , die ein so grenzenloses Unrecht erzeugt … Tatsächlich gibt es in der ganzen österreichischen Verfassung nichts so 82
»Ein grenzenloses Unrecht«
Lumpiges wie diese Wiener Wahlordnung«97 , geht die Arbeiterzeitung mit den Wiener Wahlverhältnissen hart ins Gericht und meint , hier sei »die Niedertracht Gesetz , daß in jedem der drei Wahlkörper der Besitzenden achtundvierzig Mandate verliehen sind , wogegen der allgemeine Wahlkörper mit einundzwanzig Mandaten abgespeist ist , woraus sich die ganz beispiellose Ungerechtigkeit ergibt , daß die Besitzenden aller Grade vorweg 144 Mandate besitzen und die Nichtbesitzenden , mehr als die Hälfte der Bevölkerung , die 21 Mandate nicht einmal alleine haben , die Besitzenden vielmehr an diesen 21 Mandaten noch mit dem gleichen Rechte beteiligt sind.«98 Solche Verhältnisse seien »nur der Ausdruck der zügellosen Herrschaft der Christlichsozialen , die es immer verstanden haben , die Klinke der Gesetzgebung zu ihrem eigennützigen Vorteil zu benützen ! … In ihrer aufreizenden Ungerechtigkeit steht die Wiener Gemeindeordnung ohne Beispiel in Oesterreich da.«99 Von einer fairen Wahl kann somit keine Rede sein , meint auch die bürgerliche Opposition. Es sei offenkundig , »daß die herrschende Partei ihre große Mehrheit im Rathause nur einer kunstvoll ausgeklügelten Wahlordnung verdankt , daß aber ihre Anhänger in der Wiener Bevölkerung in der Minderheit sind. Die auf solche Art zustande gekommene Mehrheit übt nun im Wiener Rathause eine verantwortungslose Alleinherrschaft aus , die sie zur Ausschließung aller unabhängigen Gemeinderäte von der ernsten Mitarbeit an der Verwaltung der Stadt mißbraucht … Die der Minorität angehörenden Gemeinderäte aber , welche gegen diesen brutalen Mißbrauch der Mehrheit protestieren , werden ausgeschlossen und an der Ausübung des Mandats behindert«100 , heißt es in einer ›Erklärung der fortschrittlichen Gemeinderäte‹. Und sie kündigen an , künftig »keine Sitzung des Gemeinderates vorübergehen zu lassen , ohne in schärfster Weise gegen die rücksichtslose und brutale Alleinherrschaft der Majorität zu protestieren«101. Kein Vertrauen haben die Sozialdemokraten auch in die Objektivität der Wahlbehörde , da »die ganze Amtstätigkeit dieser magistratischen Abteilung von dem Parteiinteresse der Christlichsozialen beherrscht ist , daß alles , was der Magistrat als Wahlbehörde zu verfügen hat , beeinflußt und bestimmt ist von dem Parteiinteresse der Christlichsozialen … Wir beschuldigen den Zentralwahlkataster , daß er die Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit der Wählerlisten mit Absicht herbeiführt. Wir beschuldigen ihn insbesondere , daß sich die Fehlerhaftigkeit der Wiener Wählerlisten mit vollem Bewußtsein gegen die den Christlichsozialen gegnerischen Parteien , namentlich gegen die sozialdemokratische Partei kehrt.«102Auch die bürgerlich-liberale Neue Freie Presse prangert an , »daß bei den Wiener Wahlen seitens der 83
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herrschenden Partei der Volkswille verfälscht wird. Bei jeder strittigen Wahl fehlt eine große Anzahl von Wahlberechtigten in der Wählerliste und eine große Anzahl von Nichtwahlberechtigten ist in den Wählerlisten enthalten. Die Richtigstellung derartiger Wählerlisten im Wege des Reklamationsverfahrens ist wegen der Kürze der Zeit und mangels der verfügbaren Behelfe insbesondere bei den auf Steuerleistung aufgebauten Wahlkörperschaften vollständig unmöglich !«103 Mit den Wiener Wahlen kommen schwere Zeiten auf die Bürger zu , denn Gemeindewahlen bedeuten »Gemeindequalen«, wie das unparteiische Wiener Montagsjournal schreibt : »Der Wahlkampf setzt ein und mit ihm all der widerwärtige Schimpf und der pöbelhafte Unrat , der in solcher Zeit kübelvoll über die Köpfe der Wähler ausgeschüttet wird. Eine Partei beschimpft die andere , obzwar ihre Qualitäten so ziemlich gleichwertig sind. Beide haben rußige Gesichter und lachen einander aus , weil sie am Andern die Schwärze sehen. Und beide sehen nicht , daß sie eigentlich den Wähler immer mißmutiger machen. Voran natürlich die Parteipresse. Gemeinheiten werden täglich zum Lesestoff serviert , die Wähler werden belogen , haranguiert und förmlich zur Urne gepeitscht , indem man die niedrigsten Leidenschaften aufstachelt. … Heute ist jede Wahl eine Qual für den nach Sauberkeit dürstenden Wähler. Er watet bis zur Wahlurne im Schmutz wie bei den letzten Wahlen …«104 »Christliche Wiener , schützet euer Rathaus ! Gemeindewähler des 3. Wahlkörpers , stimmt die Judenliberalen und ihren Anhang nieder !« Diesen Appell richtet die Reichspost am Wahltag 19. März 1914 an die mehr als 80. 000 Wahlberechtigten. Es gehe um die Frage , »ob sie einverstanden sind mit dem Geiste , in welchem seit dem Hinauswurfe der Judenliberalen aus dem Rathaus im Jahre 1895 die Reichshauptstadt verwaltet wird , oder ob sie die Wiederaufrichtung der vor 19 Jahren schmählich unter dem Zorn der Bevölkerung zusammengebrochenen liberalen Mißwirtschaft wünschen«105. »Wähler , urteilt selbst , wie sich Wien zu seinem Vorteil verändert hat !« Nur die »weitblickende Politik ermöglichte es den Christlichsozialen , mustergültige Spitäler und Versorgungshäuser zu bauen , Riesensummen für neue herrliche Gartenanlagen , für Erholungs- und Kinderspielplätze , für den Wald- und Wiesengürtel auszugeben , die früher verwahrlosten Straßen zu pflastern und die Straßenbeleuchtung zu verzehnfachen , 153 großartige Schulbauten , für das Wunderwerk der neuen Wasserleitung , … das Verkehrswesen auszugestalten und die Gleislänge der Straßenbahnen zu verdoppeln«106 , rühmt die Reichspost die Verdienste der Rathausmehrheit. Profitiert habe von all den Investitionen vor allem die mit84
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telständische Wirtschaft , denn die Aufträge der Stadt wurden »wo immer es anging , an den Mittelstand , an das Kleingewerbe , an die Genossenschaften vergeben. Millionen , die früher jüdische Großfirmen eingesteckt hatten , wurden von den Handwerkern auf diese Weise alljährlich verdient … Daher der maßlose Zorn der Hochfinanz und der Börsenpresse über die christlichsoziale Verwaltung , daher der immer wieder sich erneuernde Ansturm der Judenliberalen und Sozialdemokraten , dieser Schutztruppen der ergrimmten Hochfinanz , gegen das christliche Rathaus … Der Auswucherung der Bevölkerung durch das Kartell der Bierkönige hat die christlichsoziale Verwaltung durch die städtische Großbrauerei ein Ziel gesetzt , die der Bevölkerung alljährlich ungezählte Millionen erspart. Durch die Verstadtlichung des Leichenbestattungswesens wurde dafür gesorgt , daß das spekulative Privatkapital nicht mehr von jeder Familientrauer Wucherzinsen einheben kann … Großmütig und großzügig sorgte die christlichsoziale Verwaltung für die Arbeiterschaft , für das Proletariat , für die Armen … Der Wohnungsnot haben die Christlichsozialen durch den Bau von Wohnungen für die städtischen Bediensteten entgegengewirkt.«107 Angesichts dieser überwältigenden Erfolgsbilanz könne doch kein vernünftig denkender Mensch einen Richtungswechsel im Wiener Rathaus wünschen , lautet das Resümee in dem Wahlaufruf der herrschenden Partei. Natürlich darf das Feindbild nicht fehlen , das geschlossene Abwehr dringlich macht : »Damit die Börseaner , die das Parlament glücklich los sind , ganz ungestört seien , möchten sie auch noch das Rathaus durch ihre Vertrauensmänner , durch die judenliberalen ›Hyänen‹ lahmlegen lassen ! … Stimmt sie nieder , ihr christlichen Wiener , stimmt sie morgen nieder , diese ganze judenliberal-freisinnig-sozialdemokratische Wahlgenossenschaft der Lüge , des Schwindels , der Impotenz , des demagogischen Spektakels. Verwehrt ihr den Zutritt ins Rathaus , das euer ist und euer bleibe in Ewigkeit ! «108 So viel parteipolitisches Eigenlob fordert natürlich zu einer nüchternen Betrachtung heraus , die die unparteiische Montags-Zeitung zusammenfasst : »Man ist zur Erkenntnis gekommen , daß alle Mittel , die die Christlichsozialen zur Hebung des Kleingewerbes aufgewendet haben , nur Almosen gegenüber der Not des Gewerbes waren und daß die Schaffung von billigerem Brot und Fleisch und eine Besserung der Wohnungsverhältnisse mehr im Interesse der Bevölkerung gewesen wäre. Wir haben ja einen billigen Tramwaytarif , aber nur an Wochentagen , an Sonntagen ist der Tarif , insbesondere bei Fahrten in die Ausflugsorte etwas zu hoch und gerade in diesem Belange wäre ein billiger Tarif am Platze. Die Straßenerhaltung und Straßenpflege steht auch 85
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nicht mehr auf jener Höhe wie einst und trotz Investitionsanleihe haben wir noch eine Menge ungepflasterter Straßen. Dabei herrscht eine Arbeitslosigkeit sondergleichen in Wien und viele Tausende lassen den Ruf nach Brot erschallen. So liegt heute mehr denn je in Wien alles im Argen und dazu kommt noch der Umstand , daß die Majorität des Wiener Gemeinderates gegen die Vertreter des Freisinns in der Gemeindestube einen Terrorismus auf bringt , wie er noch nie geübt wurde.«109 Die Sozialdemokraten bestreiten entschieden , dass die Christlichsozialen ein Herz für die sozial Schwachen haben : »Wie erfüllt die Gemeinde ihre sozialen Pflichten ? Graz , Laibach , Atzgersdorf , Liesing haben die kommunale Arbeitslosenversicherung eingeführt. Salzburg und Prag bereiten sie vor. Das reiche Wien läßt die Arbeitslosen verhungern ! … Die Christlichsozialen sind der Feind ! Das ist die Partei , die im Reichsrat jedes Arbeiterschutzgesetz bekämpft ! Die Partei , die das Bäckerschutzgesetz obstruiert , die die Sonntagsruhe der Mühlenarbeiter wieder abschaffen , die von der Siebenuhrsperre [ der Geschäfte , Anm. ] nichts hören will , … die Partei , die die Erhöhung des Existenzminimums , durch die 500. 000 Menschen von drückender Steuer befreit wurden , mit allen Mitteln zu hintertreiben suchte , um sich ein paar Mandate zu retten !«110 Und die Arbeiterzeitung listet das Sündenregister der christlichsozialen Verwaltung zum Nachteil der Bürger auf : Bier- und Branntweinsteuer , Wassersteuer mit Mieterhöhungen im Gefolge , hohe Gas- und Strompreise , erhöhte Fahrpreise für Straßenbahn und Omnibusse. Das alles belaste die Wiener jährlich um 30 Millionen Kronen mehr. Dazu kämen schlechte Straßen , überfüllte Klassenzimmer und die gesundheitsgefährdende Müllabfuhr. »Auf den Straßen werden Tag für Tag Kinder gerädert , weil sie keine Spielplätze haben ; die Wohnungen werden von Jahr zu Jahr unerschwinglicher , weil die Gemeinde keine Häuser baut , um nicht den Wucherprofit der Hausherren zu gefährden.«111 Was die Christlichsozialen geschaffen hätten , sei »ein rückständiges und vernachlässigtes Wien , das seine Bewohner allzu viel des Notwendigsten entbehren läßt und sich von jeder anderen Großstadt beschämen lassen muß«112. Weiters erinnern die Sozialdemokraten daran , dass durch das Klassenwahlrecht die Stimme eines Hausherrn den Stimmen von 13 Arbeitern entspricht. »Wollt ihr , Arbeiter Wiens , solches Unrecht noch länger ertragen ? … Auf Arbeiter zum Sturm gegen die Privilegien ! Jede Stimme für die Sozialdemokratie ist eine Stimme für das allgemeine und gleiche Gemeindewahlrecht !«113 Ist Wien eine »deutsche« Stadt ? Diese Frage spielt im Wahlkampf eine bedeutende Rolle. »Wir bleiben eine gastliche Stadt , aber wir müs86
»Ein grenzenloses Unrecht«
sen trachten , daß in Wien die Einsprachigkeit aufrecht bleibt ! Das wird jeder vernünftige Tscheche einsehen ! Ist Wien einmal zweisprachig , erleben wir wirtschaftlich die selben Zustände wie in Böhmen«, meint Bürgermeister Weiskirchner , und bedauert , dass es nicht zu einer Zusammenarbeit zwischen Christlichsozialen und Deutschnationalen gekommen ist : »In dieser Zeit sollte man glauben , wäre es Pflicht aller , welche es ehrlich mit dieser Scholle Erde nehmen , mit ihrem Volke und die auch auf dem Boden des Antisemitismus zusammenstehen könnten , zusammenzugehen , um den grimmigsten Feind des deutschen Volkes und des Christentums gemeinsam abzuwehren. Es soll nicht sein ! Das macht nichts ! Wir werden allein kämpfen.«114 Es ist eine Illusion zu glauben , dass ausgerechnet der Schmelztiegel Wien als Zentrum des Vielvölker- und Vielsprachenreiches der Habsburger eine »deutsche« Stadt ist , auch wenn Deutsch die vorherrschende Umgangs- und die Amtssprache ist. Das unparteiische Wiener Montags-Journal stellt dazu nüchtern fest : »Wien ist unter dem christlichsozialen Regime zu einer gemischtsprachigen Stadt geworden , weil auch der selige Lueger , wenn er es auch nicht aussprach , der ›slawischen Linde‹ den Vorzug vor dem ›jüdischen Borkenkäfer‹ gab … Das Tschechentum ist heute in Wien eine unüberwindliche Macht geworden.«115 Genau das ist es , was die Deutschnationalen besonders schmerzt und das sie den Christlichsozialen ankreiden. Sie haben »unsere Heimat den slawischen Zuwanderern ausgeliefert. Niederösterreich [ z u dem Wien gehört , Anm.] hat aufgehört , ein rein deutsches Land zu sein. Die Christlichsozialen haben uns national preisgegeben !«116 , heißt es im Wahlaufruf in der Deutschen Zeitung , dem Organ der österreichischen Partei Deutsches Zentrum. »Gesiegt !«, »Abgerechnet !«, so titelt die christlichsoziale Presse den Ausgang der Wiener Gemeinderatswahlen , den sie als Lohn für unermüdliche Agitation ansieht. Geändert hat sich an der Zusammensetzung des Gemeinderats fast nichts. Im entscheidenden 3. Wahlkörper fallen alle 48 Mandate an die Christlichsozialen. Knapp 40. 000 Stimmen wurden für sie abgegeben. Die Sozialdemokraten mit 12. 200 Stimmen können kein einziges Mandat erringen. Sie verlieren einen 1912 errungenen Sitz im 3. Wahlkörper wieder an den Gegner. Mit zusammen bloß 4. 000 Stimmen gehen die anderen Parteien förmlich unter , vor allem die untereinander zerstrittenen Deutschnationalen. Im 4. Wahlkörper gewinnen die Christlichsozialen auf Anhieb das Mandat der Landstraße , die Sozialdemokraten die Mandate für Ottakring und Floridsdorf. In den drei Bezirken erzielen die Sozialdemokraten mit 32. 000 Stimmen einen Zuwachs von 2. 000 , aber der Verlust von fast 1. 000 Stimmen in der 87
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Landstraße schmerzt sie beträchtlich. Auch deshalb , weil die tschechischen Sozialdemokraten getrennt kandidiert haben. Zu denken gibt ihnen auch der doch beträchtliche Stimmengewinn der Christlichsozialen in Ottakring ( plus 1. 300 ) und Floridsdorf ( plus 1. 000 ). »Das ist ein Ergebnis , mit dem wir zufrieden sein dürfen«, zieht die Arbeiterzeitung etwas schönfärbend Bilanz und führt auch die Gründe an : »Wir haben bei dieser Wahl unter sehr ungünstigen Umständen gekämpft. Die Wirtschaftskrise hat uns viele Wähler entzogen. Viele Arbeiter haben das Wahlrecht verloren , weil die Not sie zwang , Armenunterstützung anzunehmen. Viele andere sind ausgewandert , weil sie in Wien keine Arbeit fanden. Auch die Wirkung der großen Einberufungen [ wegen des 2. Balkankrieges , Anm. ] im vorigen Jahre war fühlbar : nicht wenige , die monatelang unter Waffen an der Reichsgrenze standen , haben ihre Arbeitsstellen in Wien verloren , ihre Wohnungen aufgegeben. Sie konnten die dreijährige Seßhaftigkeit , an die das Wahlrecht gebunden ist , nicht nachweisen.«117 Nach der Wahl zum 3. Wahlkörper vermeint die Arbeiterzeitung , wie um sich Mut zu machen , dass es den Sozialdemokraten gelungen sei , eine »Bresche in die Privilegien« geschlagen zu haben : »Die Wiener Arbeiter haben heute die Wiener Gemeindewahlordnung zertrümmert … Wird noch einmal nach der geltenden Wahlordnung gewählt , dann wird auch der dritte Wahlkörper in allen Arbeiterbezirken der Sozialdemokratie gehören !«118 Seit 1908 habe sich die Stimmenzahl für die Partei von 6. 000 auf 12. 000 verdoppelt. Und wenn dadurch kein einziges »rotes« Mandat zu holen war , so sei die Sozialdemokratie der einzig ernsthafte Gegner , der die Stellung der Christlichsozialen »überall bedroht«. »Die Wiener Arbeiterschaft ist nicht gesonnen , sich die Schmach der Wiener Wahlordnung noch länger gefallen zu lassen. Schlechter als die Arbeiter von Herzogenburg und Pottschach lassen sich die Wiener Arbeiter nicht behandeln ! Der Ruf nach der Reform des Gemeindewahlrechtes wird nicht mehr verstummen !«119
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Erste Risse im alten Rollenbild: die Frauen Finden in Österreich Wahlen statt , so wird man ausschließlich Männer an den Wahlurnen sehen. Frauen ist dieses bürgerliche Grundrecht verwehrt , egal ob im Reichsrat , in den Landtagen oder Kommunen. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht hat für Frauen sogar einen , wenn auch nicht ins Gewicht fallenden Rückschlag gebracht. Solange das Klassenwahlrecht in Kraft war , durften auch Frauen im 1. Wahlkörper der Großgrundbesitzer ihre Stimme abgeben. Das ist seit 1907 nicht mehr möglich. Zu bedauern sei dies keinesfalls , meint die Nationalökonomin Emmy Freundlich , die sich in der Genossenschaftsbewegung engagiert : »Das beschränkte Frauenwahlrecht ist kein Recht der Frau , kein Recht ihrer persönlichen Tüchtigkeit , kein Wahlrecht , das man durch die Pflichterfüllung in der Gesellschaft erwirbt , sondern ist das Recht eines Besitzes … Der Besitz ist immer nur ein Zufall , an den kein politisches Recht geknüpft werden darf.«120 Unter diesem Aspekt sei auch das Wahlrecht zu betrachten , das die Städte Wiener Neustadt und Waidhofen an der Ybbs 1913 besitzenden Frauen eingeräumt haben : »Im Allgemeinen ist niemand so unreif für das politische Leben als die Majorität der besitzenden Frauen. Sie führen heute in ihrem Drohnendasein ein Leben der Täuschung und des Selbstbetruges , das sie an jeder klaren Erkenntnis hindert und ihnen ein viel schieferes Weltbild vermittelt , als der Mann der besitzenden Klassen haben könnte«121 , meint Freundlich. Darauf seien auch die geringen Fortschritte der bürgerlichen Frauenbewegung zurückzuführen. Es kann somit für die Frauen nur das allgemeine und gleiche Wahlrecht , in aktiver und passiver Form geben. Das ist die zentrale Forderung am 4. Internationalen Frauentag , dem 8. März 1914. In allen Wiener Bezirken , der erste ausgenommen , organisieren die Sozialdemokraten Frauenversammlungen.
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Abb. 37
Politische Gleichberechtigung der Frau sei gerade in der aktuellen Wirtschaftskrise und der enormen Arbeitslosigkeit vordringlich , denn Tausende Frauen seien zu Familienerhaltern geworden. »Die so schwer 90
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belasteten Frauen aber , die als Arbeiterinnen und Mütter schwerste Pflichten zu erfüllen haben , sind rechtlos … Mit Empörung erfüllt es die Frauen und Mädchen Oesterreichs , daß angesichts der schweren Pflichten , die den Frauen auferlegt sind , von den herrschenden Parteien in den Landtagen und Gemeinden gewagt wurde , Aenderungen der Wahlordnungen vorzunehmen , ohne auch nur den Versuch zu machen , den Frauen das gleiche Recht zu geben«122 , heißt es in der Resolution des Frauentages der Sozialdemokraten. Eine Frau , die aus eigener Erfahrung weiß , wie hart das Leben des vierten Standes ist , ist Adelheid Popp ( geb. Dworzak ). Als fünfzehntes Kind eines Webers in Inzersdorf musste sie nach dem frühen Tod des Vaters die Schule verlassen. Mit Häkelarbeiten und dann als Fabriksarbeiterin mit einem 12-Stunden-Tag trug sie zum Lebenserhalt der Familie bei , bis zur völligen Erschöpfung und Einweisung in ein Spital. Seit 1904 Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes und Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung gilt ihr ganzes Engagement der Gleichberechtigung der Frau auf allen Ebenen.
Abb. 38
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Sie ärgert »die Redensart von dem schwächeren Geschlecht und die noch heuchlerische , daß man die schwachen Schultern der Frau nicht überbürden dürfe , sie werden immer deutlicher in ihrer ganzen Hohlheit erkannt«123. Nach dem 12-Stunden-Tag in der Fabrik oder im Geschäft hat die Frau ihrer Rolle als Hausfrau , Gattin und Mutter gerecht zu werden. »Der ›natürliche Beruf‹ des ›schwächeren Geschlechts‹ ausgeübt im Nebenamt !« Von einer Minderheit der Betroffenen kann man 1914 nicht mehr sprechen , denn »gut die Hälfte des gesamten Frauengeschlechtes in Oesterreich ist in irgendeiner Weise berufstätig. Die Frauen sind Arbeiterinnen , Lehrerinnen und Beamtinnen. Sie sind Heimarbeiterinnen und Selbständige , Hilfsarbeiterinnen und gelernte Arbeitskräfte. Und in keinem anderen Lande arbeiten so viele verheiratete Frauen als in Oesterreich. Zweiundvierzig Prozent der Arbeiterinnen sind verheiratet. Sie alle sind doppelt überbürdet , doppelt beladen. Das schwächere , das als minderwertig eingeschätzte Geschlecht hat von der Gesellschaft ein vollgerüttelt Maß von Arbeit und Bürde zugewiesen bekommen. Demutsvoll und gedankenlos haben die Frauen diesen Zustand als eine unabänderliche Selbstverständlichkeit hingenommen.«124 Es ist an der Zeit , dass die arbeitenden Frauen »endlich den Ruf erheben , man möge ihnen zu den vielen Pflichten auch Rechte geben ! … Die Frauen lehnen sich auf gegen ihre Unfreiheit und Rechtlosigkeit. Sie erheben den Anspruch , in Staat , Land und Gemeinde gleichberechtigte Bürgerinnen zu werden.«125 Die Frauen mögen sich nicht irremachen lassen von Spott und Hohn der zahlreichen Philister , ermutigt Adelheid Popp die Gesinnungsgenossinnen. »Sie müssen in Oesterreich die Bahnbrecherinnen für die politische Gleichberechtigung der Frauen sein , sie müssen durch ihren Kampf um das Stimmrecht die Öffentlichkeit , die Gesetzgebung , jeden einzelnen Kandidaten und Abgeordneten zwingen , sich mit der oft menschenunwürdigen Lebenslage der Arbeiterinnen zu beschäftigen. Die Grundfesten der Familie werden durch das Frauenwahlrecht nicht erschüttert.«126 Auch zeige die Erfahrung in Staaten mit Frauenstimmrecht , dass es nirgendwo zu politischen Verwerfungen gekommen sei. Immerhin können 1914 in bereits 18 Staaten Frauen an den Parlamentswahlen teilnehmen , in 37 Staaten und Ländern dürfen sie auf Gemeindeebene wählen. Völlige Gleichberechtigung mit dem Mann im Staats- und Familienverband , gleiche Entlohnung , gleiche Bildungschancen in Beruf , Wissenschaft und Technik : das sind die Hauptforderungen aller Frauenrechtlerinnen weltweit. Die größten Erfolge haben bis 1914 die Frauen in den USA erzielt. »Sehr viele Frauen haben hier ein vollständiges Wahlrecht , 92
Erste Risse im alten Rollenbild: die Frauen
hier sind den Frauen alle Berufe zugänglich ; da gibt es Elektrikerinnen , Maschinistinnen , weibliche Maurer , es gibt weibliche Advokaten , Aerzte , ja sogar einen weiblichen Untersuchungsrichter und einen weiblichen Bürgermeister«127 , berichtet die Reichspost. Die größte Sorge bereitet dem christlichsozialen Blatt , dass dies die Institution der Ehe gefährde : »Dieses neue und vollkommen freie Geschöpf , diese neue Eva wird die Ehe nicht mehr als einen materiellen und moralischen Schutz betrachten ; sie wird es künftig sein , die den Heiratsantrag stellt und die selbstverständlich auch ihre Bedingungen diktieren wird. So wird beispielsweise ihr zukünftiger Gatte mit einem von mehreren Aerzten unterzeichneten Gesundheitszeugnis versehen sein müssen ; auch wird er sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen , daß er eines schönen Tages den häuslichen Herd verlassen muß , wenn seine Frau findet , daß die Harmonie des Ehebundes gestört ist.«128 Radikale Formen nimmt der Kampf um das Frauenwahlrecht in Großbritannien an. Unter der Parole »Votes for Women« scheuen die als Suffragetten ( abgeleitet vom lateinischen Wort suffragium = Stimmrecht , Anm. ) weltweit bekannt gewordenen Frauen um Emmeline Pankhurst und ihre Töchter vor spektakulären Gewaltaktionen nicht zurück. Dazu gehören Brandstiftungen ebenso wie das Einschlagen von Fenstern und Museumsvitrinen. Die Reaktion bleibt nicht aus. Die Frauen werden immer wieder eingesperrt. Treten sie im Gefängnis in den Hungerstreik , so werden sie auf grausame Art mit einem Schlauch durch die Nase zwangsernährt. Trotzdem bleibt der Kampfgeist der Suffragetten ungebrochen. Mit ungläubigem Staunen hört man in Wien von diesen Exzessen , die hier ganz undenkbar wären. Umso größer ist die Neugierde , als Sylvia Pankhurst , eine Tochter der Suffragetten-Anführerin , in der Woche nach Ostern auf einer Europareise in Wien Station macht. Wie kann man sich eine solche Frau vorstellen ? Groß , hager , mit fanatisch glühenden Augen und einer verbissenen Mundpartie ? Die Überraschung ist groß , als eine kleine , zarte , mädchenhaft wirkende junge Frau in den Damensalon des Hotels Astoria tritt , dunkelblond , rosiger Teint , graublaue Augen , feine s chmale Hände , »Hände , die so oft den Hammer geschwungen haben«129. Keine Rede also von einem Mannweib. »Mit temperamentvoller Überzeugung« und manchmal leichter Ironie beantwortet sie die obligaten Fragen des interessierten Publikums , vor allem die unausweichliche Frage , ob es denn moralisch zu vertreten sei , derartige Gewalt gegen fremdes Eigentum anzurichten , wie jüngst die Zerstörung von Velasquez »Venus«-Gemälde durch eine Miss Richardson. Mit Petitionen und Massenumzügen hätten die englischen Frauen nichts erreicht , antwor93
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tet Miss Pankhurst. »Brennende Häuser , zerschmetterte Fenster , Explosionen führen uns zum Ziel. In der Politik ist das gut und recht , was erfolgreich und nützlich ist … Und wir werden uns auch ohne Zustimmung der Männer erlauben , auf unblutigem Wege , mit Streichholz und Hammer , das Weib zu befreien.«130 Am nächsten Tag hält sie eine Rede im Konzerthaus. »Um acht Uhr bot der große Konzerthaussaal ein eigenartiges Bild. Die Galerie dicht gefüllt , des Gleichen das rückwärtige Parterre , während die teueren Plätze mäßig besucht waren. Gut vier Fünftel des Publikums Damen , sehr alte und sehr junge , elegante und einfache , unsere ganze studierende weibliche Jugend und hie und da eine , die durch kurzgeschnittene Haare und männlich geschnittene Bluse die Emanzipation betont. Aber diese ›Emanzipierten‹ waren nur spärlich und in älteren Jahrgängen vertreten. Kurze Haare und Männertracht haben sich bei den kämpfenden Frauen von heute überlebt.«131 Eineinhalb Stunden lang schildert die Rednerin den Werdegang der englischen Frauenbewegung , der seit 1904 die Form eines »aufregenden Guerillakrieges« angenommen habe , »nur über die Kampfmethoden sprach sie nicht. Nicht ein Wort fiel von ihren klugen Lippen über die Tausenden von Attentaten , über die Brandstiftungen , über die demolierten Orchideenhäuser und über das Bild von Velasquez. Das war sehr weise und sehr taktvoll und auch gut berechnet«, urteilt die Neue Freie Presse.132 Das österreichische Frauenstimmrechtskomitee unter dem Vorsitz von Ernestine von Fürth findet »die Opfer , die die englischen Frauen der Sache bringen , wahrlich bewundernswert und sie kämpfen mit diesem Opfermut für eine Sache , um die man sich bei uns nur im kleinen Kreise interessiert. Möge die Anwesenheit der Miß Pankhurst dazu beitragen , die große Sache auch in Wien zu verbreiten , allerdings in unserer gewohnten , ruhigen und sachlichen Weise.«133
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Abb. 39 : In Wien unvorstellbar : Nach einer Gewalttat wird in London eine Suffragette von Polizisten abgeführt Abb. 40 : Viel bestaunte Besucherin in Wien: Miss Sylvia Pankhurst.
Die Reaktion von kirchlicher Seite folgt prompt , denn just zur gleichen Zeit tagt in Wien der II. Katholische Frauentag. Im Konzerthaus ereifert sich die Festrednerin , Gräfin Lola Marschall-Aleman über den Auftritt von Sylvia Pankhurst : »Zwei Tage vor mir stand an ebendieser Stelle als Verkörperung intellektueller und emotioneller Verschrobenheit eine der Hauptvertreterinnen des militanten Frauenrechtlertums Englands. Ich will hier davon schweigen , ob es richtig war , eine Revolutionärin der Tat hier öffentlich auftreten zu lassen.«134 Im Vergleich zu einer christlichen Frau »erschien mir die Suffragette als eine tragische Gestalt – tragisch in dem Sinne , daß da so viel echt weibliche Eigenschaften von heroischer Hingabe an ein Ideal , von Aufopferungsfähigkeit und asketischer Kraft sich in blindwütigem Fanatismus und wildem Männerhasse ausgeben , wo kein Unterschied von Gut und Böse , von Recht und Unrecht mehr anerkannt wird. Aus dem Munde dieser Frau erklang der Aufschrei der Unterdrückten , der Entrechteten als ein falscher Ton , der nur Haß und Gewalt und Verbrechen auslösen konnte – keine Hoffnung auf Besserung , keine Versöhnungsmöglichkeit … Und als lebendige Illustration erschien mir diese in die Irre gegangene Frau für die Wahrheit , daß nur durch Bewahrung der Weiblichkeit , durch ernste , gewissenhafte Ausbildung weiblicher Eigenart die Frau ihre Stellung und ihren Einfluß im Menschheitsleben 95
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behaupten und vertiefen könne«135 , führt die Gräfin in ihrem Vortrag zum Thema »Die Bewahrung der Weiblichkeit als Ideal der christ lichen Frauenbewegung« aus. Hier herrscht ein anderes , konservatives Frauenverständnis , wie es der geistliche Konsulent der Tagung , Weihbischof Dr. Waitz aus Feldkirch , ausdrückt : »Die Ehe und das Familienleben ist die Welt der Frau. Diese eine Aufgabe durchführen heißt eine Welt von Glück und Freude schaffen und eine Welt beglücken … Die moderne glaubenslose Welt faßt mit rauher Hand das Heiligste an. Sie operiert und experimentiert mit den zartesten Einrichtungen.«136 Sehr schädlich aus der Sicht der katholischen Frauen ist die Anziehungskraft der Sozialdemokraten auf die arbeitenden Frauen. »Trotzdem die Frauen , dank ihrer besonderen seelischen Disposition , vornehmlich ihrer mehr religiösen Veranlagung im allgemeinen gegenüber der sozialdemokratischen Werbearbeit sehr widerstandsfähig sind , wirkt doch andererseits die gewerbliche Frauenarbeit , wie die soziale Lage der Arbeiterfamilie überhaupt , so zerstörend auf die weibliche Persönlichkeit , daß das starke Zunehmen sozialdemokratischer Gesinnung unter den Frauen sehr erklärlich ist : die daraus für die Arbeiterinnen selbst , wie für die Gesamtkultur sich ergebende Gefahr liegt vor allem in der durch den sozialistischen Geist bedingten Deformation der Frauenseele … Die Sozialdemokratie ist die Karikatur des Christentums. Wir müssen die sozialdemokratischen gesunden Ideen auf das Christentum verpflanzen.«137 Ganz im Zeichen der sozialen Tat zugunsten der Hilfsbedürftigen steht ein Empfang für die weibliche katholische Jugend in der Volkshalle des Wiener Rathauses am 17. April 1914. Ein Jesuitenpater ruft die Mädchen auf , »durch reges , zielbewußtes katholisches Vereinsleben Wandel zu schaffen … Speziell die vornehmen jungen Damen könnten die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen durch soziale Arbeit für die Bedrückten überbrücken helfen.«138 Was sie von derlei Initiativen halten , bringen die Sozialdemokraten in bissiger Weise in der Arbeiterzeitung zum Ausdruck :
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Abb. 41 Die Ihr mühselig seid und beladen Kommt , wir erweisen euch Gnaden Euch armen Weibern und Kindern , von der Arbeiterklasse , wir lindern Euch Not und Elend und Schmerzen Wir aristokratischen Frauen Erretten euch aus den Klauen
Der schlimmen K apitalisten Ob Juden sie sind oder Christen Wir geben euch Heiligenbilder Und Rosenkränze und Schilder , Mit frommen Zeichen und Sprüchen Auch an den Wohlgerüchen des Weihrauchs dürft Ihr euch laben. Sagt , sind das nicht herrliche Gaben ?
Fühlt ihr euch nun nicht gerettet Und fest an uns gekettet ? Doch zum Lohn für unser Walten Müßt ihr recht fern euch halten Von den heidnischen Sozi, den Bösen Die eure Ketten lösen, Und statt der Demutslehre Euch Waffen geben zur Wehre.
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Im Bildungsbereich gibt es zumindest Teilerfolge für die Frauen in Österreich. Seit 1896 sind Mädchen zur Maturitätsprüfung ( Matura ) zugelassen , seit 1897 steht ihnen das Studium der Philosophie an der Universität offen , seit 1900 auch das der Medizin. Der Zugang zum Juridicum bleibt Frauen aber verwehrt. Im März 1914 wird eine Abordnung des Vereins für erweiterte Frauenbildung unter Führung von Editha Mautner von Markhof bei Unterrichtsminister Freiherrn von Hussarek vorstellig. Die Damen weisen auf die Unhaltbarkeit des jetzigen Zustandes hin. Man könne Frauen umso weniger das Studium der Rechte verwehren , »als ja die volle Erschließung der Universität die unvermeidliche Konsequenz der Zulassung der Frauen zur Maturitätsprüfung sei … es wäre geradezu ein Bedürfnis gewisse Staatsämter aus sozialpolitischen Erwägungen mit rechtsgelehrten Frauen zu besetzen , da heute viele weibliche Dienst- und Arbeitskräfte im Erwerbsleben stehen , zumal man den Frauen nicht ohne weiteres die Qualifikation für den Staatsdienst im allgemeinen absprechen könne.«139 Der Minister antwortet , wie es auch noch heute üblich ist : Er werde die Wünsche »auf das Eingehendste und Wohlwollendste prüfen«140 . Bildungshungrige Frauen stoßen in der österreichischen Gesellschaft noch immer auf große Vorurteile. Begaben sich allzu kenntnisreiche Frauen in früheren Zeiten durch den Verdacht auf Hexerei in Lebensgefahr , so werden sie jetzt vielfach scheel angesehen. Was macht eine solche Frau mit dem erworbenen Wissen ? Sicher wird sie Umstände und Traditionen hinterfragen , selbst wenn sie seit biblischen Zeiten als unumstößlich gelten. Mit solchen Frauen geht ein Wind der Veränderung einher , das spürt man. Das ist unbequem für den konservativ denkenden Mann , der darauf pocht , in allem die ausschließliche Entscheidungsgewalt zu haben. Die studierte Frau bedeutet für ihn Konkurrenz. Womöglich muss er gezwungenermaßen zugeben , dass seine Ansicht , seine Lehrmeinung nicht aufrechtzuerhalten ist. Wie viel angenehmer sind da doch die »echten Frauen«, die sich mit Modejournal , der »Gartenlaube«, mit dem Austausch von Kochrezepten und dem Tratsch bei der wöchentlichen Jour begnügen( ! ). Es gehört viel Entschlossenheit und Durchhaltevermögen dazu , sich als Frau der überall einengenden Konvention zu entziehen und den für richtig erkannten Weg zu gehen. Daher ist es eine kleine Schar von Frauen , die die Vorreiterrolle auf dem Weg zur Emanzipation übernehmen. Den Sozialdemokratinnen Adelheid Popp und Emmy Freundlich liegt die Besserstellung der Arbeiterin besonders am Herzen. Emma Adler , Frau und Mitstreiterin des Parteigründers Viktor Adler , setzt sich für die Bildung der Arbeiterjugend ein , hält Vorträge und Sprach98
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kurse im »Arbeiter-Bildungsverein«. Auguste Fickert ( † 1910 ) war um die Gründung weiblicher Berufsvertretungen bemüht. Elise Richter , Österreichs erste Maturantin , gelingt es , sich 1905 an der Universität Wien zu habilitieren und ab 1907 Romanistik-Vorlesungen zu halten. Marie Lang erwirbt sich besondere Verdienste um den Mutterschutz , um die unehelichen und die Straßenkinder. Eugenie Schwarzwald wird eine namhafte Sozialpädagogin und Gründerin der auf freier Entwicklung des Kindes ausgerichteten Schwarzwald-Schulen. Rosa Mayreder gewinnt mit Werken wie »Kritik zur Weiblichkeit« und »Gesellschaft und Kultur« internationales Ansehen. Berta Zuckerkandl entwickelt sich zur engagierten Kulturkritikerin und Förderin junger »rebellischer« Künstler. Bertha von Suttner erhebt ihre Stimme international für die Friedensidee. Grete Meisel-Heß wagt sich an das heißeste Eisen heran : die sexuelle Befreiung der Frau. Zu den klassischen Frauenberufen gehört jener der Lehrerin. Wenngleich schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen , ist es für eine junge Frau erstrebenswert , im Staatsdienst unterzukommen. In Niederösterreich ist dies allerdings mit einer schwerwiegenden Einschränkung verbunden : Lehrerinnen müssen unverheiratet sein. Gehen sie dennoch eine Ehe ein , dann gilt dies als »freiwillige Dienstentsagung«. Im niederösterreichischen Landtag bringt der Sozialdemokrat Karl Renner ( der spätere Staatskanzler ) im Juni 1914 den Antrag ein , diese Bestimmung aufzuheben oder wenigstens einzuschränken – vergeblich. Alle Änderungsanträge der Opposition werden von den Christlichsozialen niedergestimmt , der Lehrerinnenzölibat bleibt somit unverändert aufrecht »mit Rücksicht auf den Schuldienst und aus allgemeinen sozialen Erwägungen«, wie es offiziell heißt. Was wäre Wien ohne Dienstmädchen ! In einer Zeit , die noch wenige technische Hilfsmittel im Haushalt kennt , sind sie einfach unentbehrlich , ob im hochherrschaftlichen Haus oder im Kleinbürgerhaushalt. Wer immer nur kann , leistet sich zumeist ein Dienstmädchen. Es sind meist »junge Dinger« vom Land , die in der Großstadt ihr kleines Lebensglück zu finden hoffen , aber auch Mädchen aus der Arbeiterklasse. Es ist ein Leben der ständigen Verfügbarkeit , das sich immer weniger junge Frauen antun wollen. Da ziehen sie es vor , in der Fabrik zu arbeiten , wo sie nach 18 Uhr frei haben. Noch attraktiver ist es , Telefonistin oder Telegrafistin , Postbeamtin oder Kontoristin ( k aufmännische Angestellte ) zu werden. Von Mädchen , die sich dazu nicht eignen , heißt es dann : »Ach , die sind zum Dienen gut genug !« »Fliegt« ein Dienstmädchen , dann ist es in seiner Existenz bedroht. Dienstvertrag gibt es keinen , es gilt lediglich die Wiener Gesindeordnung. Auch eine Kran99
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kenversicherung hat sie nicht. Diese Problematik spricht Prinzessin Klementine Metternich ( Tochter der Fürstin Pauline , Anm. ) beim Katholischen Frauentag an. Durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert habe »auch das Familienleben im altpatriachalischen Sinne gelitten , infolgedessen sitzen die Hausbediensteten zwischen zwei Sesseln am Boden : an Versorgung im modernen Stil hatte man für sie nicht gedacht , Versorgung nach alter Sitte aber ist der gänzlich veränderten Verhältnisse halber auch dem humansten Dienstgeber nicht mehr möglich und viele Hausbedienstete sehen einem traurigen Alter entgegen … bei Stellungslosigkeit , Krankheit oder Dienstunfähigkeit im Alter sind die Mädchen nur zu oft dem Elend preisgegeben.«141 Mit der Gründung des »Christlichen Verbandes der weiblichen Hausbediensteten« sei ein Anfang gemacht , der Misere Herr zu werden , meint die Prinzessin. Als nachahmenswerte Neuerung empfiehlt sie den von der Stadt München in diesem Jahr eingeführten Dienstvertrag für Hausangestellte. Er enthält Schutzbestimmungen , die in der Wiener Gesindeordnung fehlen. Aber »nicht nur für die materiellen Interessen , nein auch für das sittliche und seelische Wohl unserer Hausbediensteten zu sorgen , sind wir verpflichtet ( Beifall ). Wir sind uns oft nicht klar darüber , welchen Versuchungen die jungen , zuweilen durch Entbehrungen aller Art in ihrer Willenskraft geschwächten Geschöpfe ausgesetzt sind. Die traurigen Erfahrungen , die wir mit Hausbediensteten machen , welcher unserer Fürsorge nicht wert sind , dürfen uns nicht verleiten , die Flinte ins Korn zu werfen und von vorneherein zu erklären : Sämtliche Dienstboten sind Nixnutz und nicht wert , daß man sich ihrer annimmt ! Gott sei Dank gibt’s noch löbliche Ausnahmen ! Und wenn wir den Aerger , den wir manchmal an den Dienstmädchen erleben und gedankenlos als ›ein rechtes Kreuz‹ bezeichnen , wirklich als Kreuz betrachten wollten , das der liebe Gott uns schickt , weil diese täglichen kleinen Miseren zu unserer Laeuterung nötig sind , wenn wir’s in diesem Sinne auffassen , haben wir einen großen Schritt nach vorwärts getan.« Die Lösung der Dienstbotenfrage ist »nur auf dem Boden der christlichen Weltanschauung realisierbar«142 , betont Prinzessin Metternich am Schluss ihrer Referats. Am Sonntag , dem 22. März 1914 , widerfährt den Dienstmädchen Wiens ein schier unfassbares Glück. In der Volkshalle des Wiener Rathauses überbringt Fürsterzbischof Piffl den Segen von Papst Pius X. für die Wiener Dienstmädchen. Ja , es ist wahr , ihrer gedenkt der Heilige Vater im Besonderen , natürlich nur der braven katholischen. Schon Wochen vorher ist auf Anschlägen an den Kirchentüren , von den Kanzeln herab Agitation für diesen beispiellosen Gnadenakt gemacht worden. 100
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»Da gehst auf jeden Fall hin !«, sagt manche Dienstgeberin zu ihrem Mädchen. »Denn dort wird nicht aufgehetzt. Den Arbeiter- und Bauerntöchtern , die dort hingehen , wird nichts von ihren Rechten gesprochen , nichts von maßloser Arbeitszeit , von demütigender Behandlung , vom Elend in Erkrankungsfällen , von dem unversorgten Alter , von der Ungehörigkeit der Rechtsprechung durch die Polizeikommissäre , vom Herumschicken im Schubwagen , wenn eine noch so ungerechtfertigte Verdächtigung durch eine ›Dame‹ vorliegt. Von dem Recht auf Erholung am Abend , von einigen freien Stunden in der Woche , von dem schon jetzt gesetzlich zustehenden Recht auf einen siebenstündigen Ausgang jeden zweiten Sonntag. Von dem allen wird in der Volkshalle nicht gesprochen. Oh nein ! In den Versammlungen des Verbandes christlicher Dienstmädchen werden Demut , Gehorsam und Bescheidenheit gepredigt. Wie sagte doch kürzlich ein geistlicher Herr in der christlichen Dienstmädchenversammlung ? Die Dienstgeberinnen seien ›das Telephon des lieben Gottes auf Erden‹. Was sie sagen , sei also so , als hätte Gott selbst gesprochen. Begreift man da nicht sofort , daß unzählige Dienstgeberinnen dafür agitieren , daß ihre Mädchen diese Versammlungen besuchen ?«143 , macht die Arbeiterzeitung auf die wahren Umstände des Dienstmädchenalltags aufmerksam. Auf keinen Fall soll ein Dienstmädchen den »gottlosen Roten« in die Hände fallen. Deren Partei hat bereits eine eigene Dienstmädchenorganisation mit dem Namen »Einigkeit« gegründet , um die Mädchen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Das gilt bei ungerechtfertigten Lohnkürzungen , ungesetzlicher sofortiger Entlassung , Beschimpfungen und Misshandlungen. Schlechter als den Fabriksarbeiterinnen und Dienstmädchen ergeht es den Heimarbeiterinnen. In ganz Österreich sind es etwa 500. 000. In der tristen Beengtheit der »Zimmer-Kuchl«-Wohnungen , manchmal auch in Kellerräumen arbeiten diese Frauen Tag und Nacht , um ein Zubrot zu verdienen. Ihr Verdienst beträgt oft nur 16 Heller in der Stunde. Gefertigt werden hauptsächlich Artikel für die Modeindus trie : Madeira- und Richelieu-Stickereien , Klöppelarbeiten und Pleureusen ( Trauerbesatz für Kleidung ). Andere wiederum verdingen sich als Perlenstickerinnen , Netzerinnen ( Herstellung von Netzgewebe ), Schafwollhäklerinnen oder Seidenblumenarbeiterinnen. Neben dem Schandlohn ist für die Frauen der ständige Wechsel der Moden ein Problem. Was heute als »fashionable« gilt , ist in der nächsten Saison plötzlich nicht mehr gefragt. Tausende Heimarbeiterinnen , die eben eine Fertigkeit mühsam erlernt haben , werden mit einem Schlag brotlos. Modebewusste Frauen , die jeden Trend mitmachen , trügen unbewusst zum Elend der Heimarbeiterinnen bei , macht Dr. Hildegard 101
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Burjan ( Gründerin der Caritas socialis , 2012 selig gesprochen , Anm. ) auf die Problematik aufmerksam : »Solange die Bürgersfrau sich nicht von dem Zwange befreit , alles Extravagante und Geschmacklose , das vielleicht dem luxuriösen Abwechslungsbedürfnis eleganter Modedamen entspricht , ebenfalls zu tragen , solange sie nicht den Mut hat , ihre eigenen Modeforderungen geltend zu machen , kann den Heimarbeiterinnen in dieser Beziehung nicht geholfen werden … So wird immer mehr das Heer der ungelernten Heimarbeiterinnen verstärkt , die kurzerhand eine Arbeit wählen , die sie ohne Vorschulung jederzeit ergreifen und wechseln können , wenn die Entlohnung auch viel eher zum Verhungern als zum Leben ist … unbeschreiblich groß ist das Elend und die materielle Not der Heimarbeiterinnen in hygienischer , sittlicher und religiöser Hinsicht. Uns Frauen kann es doch unmöglich gleichgültig sein , wenn wir hören , wie in den Heimarbeiterfamilien der Vorstädte Wiens jährlich Hunderte und Hunderte an Tuberkulose zugrunde gehen , wie manche junge Heimarbeiterin , die in den Monaten der ›toten Saison‹ keine Beschäftigung findet , zum schändlichsten Gewerbe [ gemeint ist Prostitution , Anm. ] ihre Zuflucht nimmt. Und erst die armen Kinder der Heimarbeiterinnen. Unser Herz blutet , wenn wir die jungen Geschöpfe sehen , die mit vier bis fünf Jahren oft schon viele Stunden des Tages und selbst in der Nacht arbeiten müssen und deren Kräfte vielfach schon verbraucht sind , ehe sie ein Alter erreichen , bei dem naturgemäß die Erwerbsarbeit erst beginnen sollte. Als kranke , ungelernte , oft auch sittlich verkommene Menschen fallen sie dann ihr ganzes Leben dem Staat oder der privaten Wohltätigkeit zur Last.«144 Mit Ausbildungskursen , Arbeitsvermittlung , Vorträgen , Krankenunterstützung und Erholungsurlauben versucht der »Verein christlicher Heimarbeiterinnen« dem Elend der Ausgebeuteten zu begegnen und ihnen eine stabile Arbeit zu verschaffen. Arbeitsbedingungen und Bildung sind die zentralen Beratungsthemen beim dreitägigen Internationalen Frauentag , der ab 24. Mai 1914 zum ersten Mal in Wien tagt. Den Vorsitz führt Marianne Hainisch ( Mutter des späteren Bundespräsidenten Michael Hainisch , Anm. ). Ihr ist es gelungen , 1892 einen Dachverband der österreichischen Frauenvereine zu gründen und diesen in den International Council of Women ( ICW ) einzubinden. Der Staat engagiere sich deutlich weniger für Mädchen- als für Knabenbildungsanstalten , wird beklagt. Das sei aber nicht verwunderlich , denn den Mädchen fehle es oft am nötigen Ernst. Ausbildung werde als Übergang zum Ehestand betrachtet. Ob Prinzessin , Komtesse , Offiziers- oder Professorentochter , Schuster- oder Greißlertochter , sie sehen zumeist in der Rolle als Ehefrau und Mutter 102
Erste Risse im alten Rollenbild: die Frauen
die höchste Erfüllung ihres Daseins. Gelingt das nicht , so erwartet die »Versagerin« ein trauriges Dasein als alte Jungfer , gleichermaßen bemitleidet und bespöttelt. Der Erfolg am Heiratsmarkt ist seit jeher der Gradmesser der Akzeptanz einer Frau in der Gesellschaft. Ohne Mann gilt weder eine Komtesse noch eine kleine Angestellte als vollwertig. Höhere Töchter , die zu den »Übriggebliebenen« gehören , haben wenigstens die Möglichkeit , in einem adligen Damenstift unterzukommen. Aber dazu sind Geld und Beziehungen der jeweiligen Familie notwendig. Eine Stellung als Hof- oder Gesellschaftsdame sowie als Vorleserin macht das Los einer Unverheirateten dieser Kreise erträglicher. In kleinbürgerlichen Kreisen herrscht die Lebensphilosophie vor , dass ein Mädchen nur lesen , schreiben und rechnen müssen könne , alles Weitere im Leben besorge dann ohnehin der Ehemann. Zu viel Wissen schade vielmehr , vor allem der Unschuld , die das Wesen eines Mädchens ausmachen muss. »Rein« muss es in die Ehe gehen , je weniger es von der verdorbenen Welt draußen weiß , umso besser. Das behütete Töchterchen darf nie etwas eigenständig unternehmen , darf vor allem nie mit einem fremden Mann alleine in einem Zimmer verweilen. Sexuell unaufgeklärt , ahnungslos von den Wünschen eines Mannes und seiner Physis tritt so manche Tochter aus gutem Haus in den »heiligen« Stand der Ehe und erlebt ein bitteres Erwachen in der Realität. Als Ehefrau gewöhnt sie sich rasch daran , Sätze mit »Mein Mann …« anzufangen. Sie bringt damit indirekt zum Ausdruck , dass sie von dieser oder jener Sache nichts versteht , dafür ist »er« als Haupt der Familie zuständig. Das gilt vor allem für Politik und Wirtschaft. Diese Bereiche sind der erdrückenden Mehrheit der Frauen »ein Buch mit sieben Siegeln«, sie finden es auch gar nicht nötig , daran etwas zu ändern. Dazu kommen hartnäckige Vorurteile , durch die sich die Frauen eine Verbesserung ihrer Situation selbst erschweren. So wie es die Großmutter gemacht hat , so muss es richtig sein , ist der Grundsatz. Neue Erkenntnisse werden nicht selten vehement abgelehnt. Das gilt sowohl für die Bürgersfrau wie für die Arbeiterin. Besonders fatal wirkt sich das auf die Neugeborenen aus. Es fehlt an Hygiene , viel zu früh wird der Säugling mit Kuhmilch ernährt , eigenes Stillen gilt als bäuerischer Brauch. Hartnäckig wird am Steckkissen festgehalten. Dass es zu Überhitzung und Beindeformation führen kann , wollen selbst Arbeiterinnen nicht einsehen , beklagt die Arbeiterzeitung. Die hohe Säuglingssterblichkeit ist daher nicht verwunderlich. Von 100 lebend geborenen Kindern überleben 20 das erste Lebensjahr nicht. Bei ca. einer Million Neugeborenen im Jahr bedeutet das in der österreichischen Reichshälfte etwa 200. 000 tote Säuglinge. Das soll sich nun durch die 103
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Gründung einer Reichsanstalt für Kinderfürsorge in der Glanzinggasse ( 19. Bezirk ) ändern. ( Aus ihr wird nach 1918 die Kinderklinik der Stadt Wien , Anm. ) Das Anstaltsgebäude soll im September 1914 eröffnet werden. Neu ist , dass dort beamtete Kinderfürsorgerinnen tätig sein werden , auch um Mütter im Umgang mit ihren Neugeborenen zu schulen. Selbst in die Küche , den ureigensten Bereich der tüchtigen Hausfrau , dringt die moderne Wissenschaft vor. Die neue Lebensmittel- und Ernährungskunde macht darauf aufmerksam , dass viele alte Rezepte der Gesundheit schaden – zu viel Fett , zu viel Zucker. Das geht den Traditionalistinnen doch zu weit : »Die wollen mir kochen beibringen ? Das wär ja noch schöner !« Diesem erschreckenden , ja sogar entwürdigenden Bildungsmangel muss abgeholfen werden , sind sich die Teilnehmerinnen des Internationalen Frauenkongresses in Wien , der im Mai 1914 stattfindet , einig. Wichtig wären die obligate Einführung der vierten Klasse Bürgerschule ( Hauptschule ) für Mädchen , Bürgerkunde als Unterrichtsfach an den Lehrerinnenbildungsanstalten und an allen Schulen. Vordringlich wäre vor allem eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Rechte der Frau. Der Gesetzesentwurf dazu ist aber durch die Vertagung des Reichrates blockiert. Ausdrücklich würdigt Marianne Hainisch als Vorsitzende des Kongresses die Haltung der Wiener Presse zur Frauenfrage. Die Spötter sind freilich nach wie vor am Werk : »Eine Neuauflage des Turmbaus zu Babel. Eine versteht die andere nicht. Diese will das politische Wahlrecht , die andere möchte Ersparnisse von Zucker und Milch , die Dritte das Mutter- und Säugerecht , die Vierte wieder die Handschuhe im Hause putzen. So kommt es , wenn die Frauen aller Herren Länder zusammenkommen. Wie im Hause , so in der Oeffentlichkeit , – was sie wollen , das wissen gewöhnlich die eigenen Männer nicht. Aber rasch müssen sie einen Kongreß haben , damit sie ihre Präsidentin und ihre Würdenträgerinnen wählen können … Wahrscheinlich wird der Turm seinem Vorgänger folgen … lediglich die Sage wird erzählen , wie die Frauen zu diesem Turmbau zusammenkamen.«145
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Erste Risse im alten Rollenbild: die Frauen
Abb. 42: Ein Pflichttermin des Internationalen Frauentages in Wien : ein Besuch im Rathaus
Rasch noch ein Besuch bei der Malerin Tina Blau-Lang und ein Gruppenfoto vom Empfang im Rathaus zusammen mit »Frau Bürgermeisterin« Berta Weiskirchner , dann heißt es für die Damen Abschied nehmen von Wien. Aber die meisten hoffen auf ein Wiedersehen beim Weltfriedenskongress im September hier in Wien , denn jede engagierte Frauenrechtlerin sieht sich als Teil »einer Bewegung , die an die Möglichkeit einer Welt glaubt , in der das Recht und nicht das Schwert über alle internationalen Streitigkeiten entscheiden wird«146.
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Eine Saat des Hasses: der Antisemitismus »Zum Trutze des Judentums und aller , die mit ihm zum Kampfe gegen uns sich stellen , erhebe ich mein Glas auf das Leben und Blühen des Antisemitismus und der christlichsozialen Partei.«147 Diesen Trinkspruch bringt Gemeinderat Karl Angermayer bei der Silvesterfeier des »Bürgerklubs« im Wiener Rathaus aus. Alle sind gekommen , an der Spitze Bürgermeister Weiskirchner , die Gemeinderäte , die Bezirksvorsteher und die Vertreter der befreundeten Presse. Sie alle zollen Angermayer »stürmischen , langanhaltenden Beifall« für seine Rede , in der er verlangt : »Ein Fehler muß gut gemacht werden , den diese große Partei begangen hat , indem sie die antisemitischen Grundsätze allzu leicht nahm. Brausender Jubel war es , der uns entgegentönte von der Bevölkerung , als sie sah , daß wir an diesen Grundsätzen festhalten wollen. Unter dieser Devise sind wir dann auch ( 1912 ) eingezogen ins Rathaus und von diesem Punkte dürfen uns weder Schmeicheleien noch Drohungen abhalten , von diesem ehrlich empfundenen Ideal werden wir niemals locker lassen.«148 Kurs halten in Wort und Tat im Kampf gegen »Judenliberale« und »Judenpresse«, lautet die Devise der Christlichsozialen für das Jahr 1914. Die Ideale des verklärten Karl Lueger ( † 1910 ) müssen hochgehalten werden. Waren es doch ganz wesentlich seine zündenden antisemitischen Parolen gewesen , die ihm 1895 die Mehrheit im Wiener Gemeinderat beschert und ihn auf den Bürgermeistersessel gehievt hatten ; allerdings mit Aufschub , denn der Kaiser , dem jeglicher Antisemitismus verhasst war , hatte ihn erst nach der vierten Wahl zum Bürgermeister bestätigt. Lueger war es gelungen , die Vorherrschaft der Liberalen in Wien zu brechen. Dass er gegen Ende seines Lebens zu seiner früheren antisemitischen Scharfmacherei auf Distanz ging , zu seinen Beratern auch Bürger jüdischer Herkunft gehörten , wird von seinen Epigonen bewusst ausgeblendet. Es wäre sonst klar , dass der Antisemitismus für Lueger hauptsächlich Mittel zum Zweck war. Es gilt wachsam zu sein , »da Juda die öffentliche Meinung zu fünf Sechsteln beherrscht , ist es ihm leicht , seine Auffassung tausend prägsamen Hirnen einzupflanzen«149. Schon beim Parteitag der Christlichsozialen im Jänner 1914 führt Leopold Kunschak Klage darüber , »daß es durch die Schuld der Christen zu der furchtbaren und so verhängnisvoll gewordenen Übermacht des Judentums auf dem Gebiete des Preßwesens gekommen ist«150 . Es gehe darum , »die Quellen , aus denen bisher alles Unheil geflossen ist , zum Versiegen zu bringen«151. Es sei parteischädigend , wenn Christlichsoziale Erzeugnisse der »Ju106
Eine Saat des Hasses
denpresse« kaufen oder in ihnen annoncieren. Auch jegliche Information an gegnerische Blätter müsse unterbleiben. »Nach dieser Richtung muß also von unserer Seite die schärfste , rücksichtsloseste Arbeit getan werden«152 , fordert Kunschak. Die Delegierten billigen einstimmig eine Resolution , in der es als »heilige Pflicht aller Parteiangehörigen« erklärt wird , »nach besten Kräften zur Bekämpfung der Judenpresse beizutragen«153. Zugleich fordert sie die gesamte christliche Presse auf , ihren Annoncenteil »nur für völlig einwandfreie Inserate , nur für solche von soliden arischen Firmen zur Verfügung zu stellen«154 .
Abb. 43
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Was macht das Wesen einer »Judenzeitung« aus »wahrhaft christlicher Sicht« aus ? In der politischen Nachrichtenübermittlung habe »der Reporter den Denker , der geschwätzige Klatsch die kulturelle Reflexion mehr und mehr überwuchert … der ganze Nachrichtenaufputz und Nachrichtenkommentar ist doch nur verkappte Reklame für letztlich jüdische – Geldinteressen.«155 Sie »liebt alles Glamouröse , bringt spaltenlange Referate über Soiréen , Galadiners , Bälle , ergeht sich in Details über Flitter , Haarputz , Seidenroben etc. , alles ohne tiefere Sinnfragen«. Ganz im Gegensatz dazu ist »Christenart Hang zur Stille , das amare nesciri« ( L ebe im Verborgenen ! ). Dann die breitspurige Gerichtssaalberichterstattung , für viele »ein Anreiz zum Verbrechen , zum mindesten ein Wachrufen und Kitzeln böser Instinkte , sind doch die Kommentare der Judenzeitung meist moralinfrei , jenseits von Gut und Böse«156. Und erst die Feuilletons so einer »Judenzeitung« ! »Die Literatur und Kunst , die verherrlicht wird , ist meist nur die der Heine und Börne , der Blumenthal und Brandes , der Fulda und Hirschfeld , der Hofmannsthal und Nordau , der Holländer und Jakobson , der L’Arronge und Mauthner , der Schnitzler , Shaw und Trebitsch. Ist Judenliteratur , in der Materialismus und Sensualismus , in der revolutionäre Gesinnung und Religionshaß Orgien feiert. Ist Semitenliteratur , die unsere in hundert Stürmen erprobte Staats- und Kulturtraditionen verneint , unseren Glauben bewitzelt , unser Familienleben vergiftet , unsere Zukunftshoffnungen verhöhnt , unseren Idealismus verdächtigt. Gewiß liegt Formenzauber in den Gedankengängen , aber Purpurmantel und Krone können den Verbrecher nicht adeln. Gifte sind nicht weniger giftig , wenn sie in süße Bonbons gemischt , in Seidenpapier gewickelt sind … Überall drängen sich die Juden vor , entadeln ebenso überall die Identität der Kunst durch Herabziehen ihres Betriebes in die geschäftliche Sphäre des Gelderwerbs.«157 Fragwürdig aus christlichsozialer Sicht sind auch die Autoritäten der Wissenschaft : Juden wie Ludo Hartmann interpretierten katholische Moral oder päpstliche Enzykliken. Die Schrift jedes gegen Rom rebellierenden Provinzkaplans werde besprochen , verdiente Wissenschafter wie etwa Richard von Kralik ( Wortführer des Katholizismus , Gründer des Gralbundes , Anm. ) würden bekämpft oder totgeschwiegen. Volksverderbend sei auch der Inseratenteil einer »Judenzeitung«, »da er zur Kanzel der Kuppler , Quacksalber , Wahrsager , Schwindler wird«158. Viele , die Zeitungsreklamen vertrauen , erlitten schweren Schaden an der Gesundheit , »die Kuppel- und Gummiannoncen [ f ür Präservative , Anm. ] verwüsten die Volkssittlichkeit«159.
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Tatkräftig unterstützt werden die Christlichsozialen von katholischer Seite , die den klerikalen Antisemitismus für unverzichtbar hält. Bei einer Bezirkstagung des Pius-Vereins nimmt sich Diözesanreferent Hochwürden Bong kein Blatt vor dem Mund : »Sage mir , was du liest , und ich sage dir , wer du bist : liest du eine Judenzeitung , dann bist du ein Judenknecht , wenn du aber die Judenzeitung liest und dabei noch in die Kirche gehst , dann verdienst du die größte Verachtung des christlichen Volkes … Die ganze Literatur ist verjudet und versumpft , das Schlechte wird zum Guten gemacht , das Gute zum Schlechten , Lüge zur Wahrheit , Laster zur Etikette und ein Blick in die Spitäler und in die Gefängnisse lehrt uns , wie das junge blühende Geschlecht aus dem starken deutschen Volke leiden muß , vergiftet durch die jüdische Presse und Literatur , da muß man wahrhaft sagen : ›deutsches Volk , deine Eichen stehen noch , du aber bist gefallen‹ … Wir Priester gehören ins Volk , wir wollen das Volk nicht beherrschen , wir wollen mit ihm kämpfen gegen seine Blutsauger , gegen die jüdische Presse und siegen oder sterben ( stürmischer , minutenlang anhaltender Beifall ).«160 Theologisch gesehen sind die Juden für die katholische Kirche die fluchwürdigen »Gottesmörder«, diejenigen , die bei der Verurteilung Jesu zum Tode geschrien hatten : »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder !« ( Matthäus 27 / 26 ). Den Mörder Barabbas hatten sie sich zur Freilassung erbeten und dafür die »gerechte Strafe« erhalten durch Diaspora ( Z erstreuung ), Verfolgung und sich immer wiederholende Pogrome. Es fehlt freilich nicht an kritischen Stimmen : »Der Weizen der klerikalen Hetzer blüht und sie werden frech , so frech , daß sie sich an der hehren Größe des Christentums schamlos vergreifen dürfen , ohne daß der sonst in religiösen Dingen so empfindliche Staatsanwalt es merkt«, kritisiert die liberale Wiener Sonntags- und Montagszeitung insbesondere die von der Reichspost verfochtene These , »Antisemit und Christ als gleichwertige Begriffe zu behandeln … Das Christentum der Antisemiten ist ein trauriges Christentum , und es wäre um die erhabenen Lehren Jesu Christi und um seine Nachfolger schlecht bestellt , wenn es heutzutage keine anderen Christen mehr gäbe als die Radauchristen der Reichspost. Wir hegen die feste Zuversicht , daß das Christentum auch die Pestbeule des Antisemitismus überwinden werde … Nie ist eine größere Ketzerei versucht worden , als jene des Antisemitismus , die mit den Grundlehren des Christentums in Widerstreite steht und die daher die Kirche zersetzen muß , wenn sie ihrer nicht Herr wird.«161 Unzufrieden sind die Christlichsozialen mit der Universität Wien. Dort ist durch einen Erlass des akademischen Senats seit 1904 die Zahl der Studentenverbindungen begrenzt. Dieser Numerus Clausus sei eine 109
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Wiener Spezialität , denn in Innsbruck , Graz und Prag hätten ähnliche Regelungen wieder aufgehoben werden müssen , weil man sie als gesetzwidrig erkannt habe , nur Wien gehe einen eigenen Weg , kritisiert die Reichspost. Und es sei klar , wer getroffen werden solle : »Die arische und christliche Renaissance , die das politische Wien der letzten zwanzig Jahre charakterisiert , greift auch auf das geistige Wien über , dringt auch in die Hallen der Universität. Dort aber geben ungebrochen freidenkerischer Liberalismus und machtgieriges Judentum den Ton an. Die sehen sich ob der neuen Wendung der Dinge in ihrer Zukunft bedroht und so versperren sie einfach , nachdem die Entwicklungsmöglichkeiten liberaler und jüdischer Studentenschaft abgeschlossen sind , mit einem allgemeinen Numerus Clausus dem unaufhörlich wachsenden christlich-deutschen Studententum und Verbindungswesen den Weg … Die Tatsache ist ungeheuerlich. An einer Universität , die christliche Stiftung ist und von Christengeldern zumeist unterhalten wird , werden christl iche Studenten in das Dunkel gedrängt.«162 Viel Missgunst und Konkurrenzneid erregt es , dass an der Universität Wien viele junge jüdische Männer mit zumeist kleinbürgerlichem Hintergrund die Bildungsmöglichkeiten nützen , um sich danach meist als Ärzte oder Anwälte in der bürgerlichen Gesellschaft zu etablieren. Die Aufnahme in Burschenschaften ist ihnen schon längst durch »Arierparagrafen« verwehrt. Tatsächlich gab es einst jüdische Kommilitonen , zu denen u. a. Viktor Adler , der nunmehrige Parteiführer der Sozialdemokraten , oder auch Theodor Herzl , Begründer der zionistischen Bewegung , zählten. Die Antwort blieb nicht aus. 1883 wurde die jüdische Hochschülerverbindung »Kadimah« ( Vorwärts ) gegründet , die ebenfalls die schlagende Tradition pflegte. Querelen mit deutschnationalen Burschenschaftern , die streng antisemitisch waren , blieben nicht aus. Daraufhin wurden schlagende jüdische Studenten als nicht satisfaktionsfähig erklärt , »in Anbetracht der vielen Beweise , die auch der jüdische Student von seiner Ehrlosigkeit und Charakterlosigkeit gegeben , und da er der Ehre nach unseren deutschen Begriffen völlig bar ist«163 ( Waidhofener Verband ).
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Abb. 44
Im März 1914 stehen Teilwahlen zum Wiener Gemeinderat bevor , da gilt es , das Parteiprofil zu schärfen , gerade was den Antisemitismus betrifft. »Wir wollen getreu seinen Ideen alles daransetzen , um die Stadt , die Lueger befreit hat , auch künftig hin nicht dem jüdischen Geiste zu überlassen«, beschwört Leopold Kunschak den Geist des verklärten Idols der Partei. Für den Chefredakteur der Reichspost , Dr. Friedrich Funder , ist der Wahlkampf Anlass für eine tief greifende Analyse , in der er auf historische , wirtschaftliche , politische und kulturelle Aspekte des Antisemitismus eingeht : »Der Antisemitismus hat seine Gründe. Seit Golgatha – aber auch schon im alten Testament – beherrscht der Hang nach den Gütern der Welt wie ein böser Dämon die Mehrheit Israels. Die Geschichte der Juden unter den Wirtsvölkern ist die Geschichte von rastlos mühenden , auf unbegrenzten Gewinn bedachten Händlern und Wechslern , Kaufleuten und Kreditbesorgern. Bald beherrschten sie das Finanz- und Wirtschaftsleben ganzer Bevölkerungsschichten und mit der Entwicklung von Handel und Verkehr , mit der wachsenden Bedeutung des Geldwesens für die Organisation neuerer Staaten und Staatsbudgets werden sie zu den eigentlichen Herren der Welt … Die Geschichte des Aufstiegs der Juden ist zugleich die Ge111
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schichte ewiger Anklagen der Wirtsvölker gegen die Juden … Und die heutigen Juden ? Ernste Nationalökonomen heißen sie die eigentlichen Schöpfer des modernen Kapitalismus und sie bezeichnen für diesen Kapitalismus als charakteristisch : die Tendenz zum schrankenlosen Erwerb , Gewinn ist die Hauptsache , nicht Befriedigung eigenen oder fremden Bedarfs … Konkurrenzkampf bis zur Vernichtung des Gegners. In allem , was mit dem Kapitalismus zusammenhängt , im Kundenfang , in der gewaltsamen Bedürfnisschaffung unter Ausnützung schlimmster Massentriebe , in Konkursbetrug und Warenhaustricks , in Monopolisierungen und Börsencoups , in allem gelten Juden bis zur Stunde als Meister … Antisemitismus ist der Protest gegen unlegale Welteroberer. Antisemitismus ist der Protest gegen das ungehemmte Durchsetzen des Geldprinzips auf Kosten anderer höherer Prinzipien , auf Kosten der Humanität , der Sittlichkeit , der Seelenkultur.«164 Funder nimmt , und das ist neu , eine Definition vor , gegen wen speziell sich der Antisemitismus richtet und wer davon auszunehmen ist : »Es gibt Juden , denen Bibel und Dekalog in Theorie und Praxis heilig ist. Hut ab vor ihnen ! Es gibt Juden , die sich ehrlich und tüchtig das tägliche Brot gewinnen. Hut ab vor ihnen ! Es gibt Juden , die die Schwächen ihres Volkes kennen und sie in sich unterdrücken. Hut ab vor ihnen ! Sie alle trifft unser Antisemitismus nicht … Unser Antisemitismus trifft nur Schuldige ; ist als Gegnerschaft gegen Schuldige notwendig … Der Antisemitismus ist nicht eine barbarische Liebhaberei ; er ist so notwendig , als das Antichristentum des herrschenden Judentums und sein Gegensatz zum Ariertum wirklich vorhanden ist.«165 Trotz der Differenzierung steht für Funder fest , »daß es keine Wiener christlichsoziale Partei ohne den Antisemitismus gäbe. Der Antisemitismus wird Parole bleiben solange es einen Kampf um Wien gibt«, auch wenn »die Weniger- wie die Mehrwissenden unter den Juden darüber einig sind , daß der Antisemitismus etwas Unvornehmes und daß er mit der Aufgeklärtheit und Fortgeschrittenheit unserer Tage nicht mehr verträglich sei«166. Und Funder kommt zu dem Schluss : »Die wahre Parole in diesem Fall ist nicht schweigen , sondern der Ruf : Wir sind Christen. Wir treten die Welt nicht den Juden ab !«167 Im Gegenteil , wie es Stadtrat Fraß bei einer Siegesfeier seiner Partei nach der Gemeinderatswahl in Neubau ( 7. Bezirk ) fordert : »Von Wien aus muß das gesamte Judentum zu Boden geworfen werden.«168 Die Reaktion der Sozialdemokraten , die für die Christlichsozialen nichts anderes als ein Spross des »Judenliberalismus« sind , erfolgt prompt am nächsten Tag in der Arbeiterzeitung : »Man wird zugeben : der christlichsoziale Antisemitismus hat sich seit Luegers Zeiten 112
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einigermaßen verändert … Die ersten Christlichsozialen betrachteten den Antisemitismus als den angenehmsten Zeitvertreib , der Reichspost ist er eine unangenehme Pflicht … Der antisemitische Schlachtruf lautete ehemals ›Du Saujud !‹, jetzt soll die Parole heißen : ›Ich Christ !‹ … Man sieht , die Menschheit schreitet auf allen Gebieten unaufhaltsam vorwärts. Auch der Antisemitismus ist der Veredelung und Vergeistigung fähig. Freilich , man kann die Sache auch anders betrachten. Man kann zum Beispiel sagen : Die Fundersche Sublimierung des Antisemitismus ist nur ein neuer Beweis von der Allmacht des jüdischen Geldes , denn was ist die Vermenschlichung des Antisemitismus durch Dr. Funder anderes als ein Ausdruck der Sympathie für jüdische Inserate. Hut ab vor den Juden , die da inserieren ! Also so mächtig sind die Juden schon , daß sie auch den Antisemitismus demoralisiert haben.«169 Es kann nicht ausbleiben , dass ein Artikel der Reichspost über »Die Judenherrschaft in der Sozialdemokratie. Eine Erwägung vor den Wiener Gemeinderatswahlen« am 3. März folgt : »Die Gründer der Sozialdemokratie sind Juden – Marx und Lasalle. Ihre heutigen Führer in Parlament und Presse sind Juden … In Österreich heißen ihre Führer Adler , Karpeles , Ellenbogen , Bauer , Deutsch , Verkauf , Ingwer , Oren stein , Austerlitz , Berstl , Braun , Pick , Freund , Schacherl , Schlesinger , Diamand , usw. – lauter Juden !«170 Judengeist in der Sozialdemokratie erkläre »das phantastisch-utopische in ihren Hauptdogmen wie die Vergesellschaftung der Produktionsmittel – eine Unmöglichkeit im Widerspruch mit aller Psychologie und Kulturerfahrung … die ewige Hochspannung der Verneinung , ewiges Hassen und Unzufriedensein , ewiges Fluchen über alle Autoritäten«. »Darum ihr Wähler , lasst euch nicht täuschen« , denn , »die jüdischen Führer machen die Sozialdemokratie in Wirklichkeit zur Schutztruppe des Kapitalismus. Die Solidarität der semitischen Rasse ist stärker als alle Gegensätze semitischen Denkens … Wir werfen keine Steine auf die sozialdemokratischen Massen. Sie fehlen nicht als Wissende , sondern als Getäuschte. Und sicher schlummern auf dem Grunde ihrer Seele Werte , die auch raffiniertester Talmudismus nicht völlig zu verschütten vermag. Gäbe es wirklich österreichische Arbeiter , in deren Herz Worte wie Kaiser und Heimat keinen Widerhall finden ? Wäre es denkbar , daß in jenen , die durch die Not des Lebens schreiten , der Gedanke an einen Höheren über den Sternen , der richtet und Ausgleich schafft , ganz zerstört werden könnte ? Die Arbeiter haben Recht , für Besserstellung ihrer Lage zu kämpfen. Die Arbeiter haben Recht , gegen veraltete Privilegien glücklicher Erben und die Wirtschaftsweise egoistischer Großunternehmer zu Felde zu ziehen. Aber daß eine große Zahl diesen Kampf 113
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nicht führt im Zeichen der Kulturweisheit von Jahrtausenden , sondern unter der Philosophie Ahasvers171 ; daß sie diesen Kampf nicht führt geleitet von Christen , die in ihrer Religion die Charta Magna für alle wahre Menschenfreiheit haben , sondern gegängelt von Söldlingen der Rothschilds – das ist eine Tragödie , zu beweinen unaufhörlich.«172 Was ein rechter Antisemit ist , kommt an dem Namen Rothschild nicht vorbei. Über diese »heimlichen Könige« hört man recht wenig , denn »die herrschende Presse , doch nur Sklavin des Großkapitals denkt nicht daran , diese Stille zu stören«173. Die Reichspost findet das umso mehr einen Grund , sich mit dem Werdegang der Rothschilds , »die Völkerschicksale bestimmten und teilweise noch bestimmen«, ausführlich auseinanderzusetzen. Mit jener Familie aus dem Frankfurter Judenghetto , der es gelang , ungeheures Vermögen anzuhäufen und außer in Frankfurt Bankhäuser in Paris , London , Wien und Neapel zu gründen. Sie haben manche bedrohten Staaten mit ihrem Geld vor dem Ruin bewahrt , sie waren dabei »zugleich die skrupellosesten Profitjäger , ohne moralische Hemmung im Gebrauch ihrer Mittel und sie haben ihre Macht in verhängnisvollster , unsozialster Weise ausgenützt«174. Der nunmehrige Chef des Wiener Bankhauses , Baron Louis Rothschild , gilt hier als »erster Rat der Krone , der Wien mit seinen Trabanten beherrscht. Seine Interessen sind maßgebend wie die Interessen des Staates , sein Gold so sicher wie das Gold des Staatssäckels.«175 Künftige Geschichtsschreiber würden nicht nur die Macht der Rothschilds feststellen , »aber man wird bei ihnen gewiß auch den Ausdruck des Staunens , der Verblüffung darüber finden , daß Völker sich solche ›Regenten‹ gefallen ließen«176. Es ist 1914 wahrlich schlimm bestellt um die Welt , denn wie eine Riesenkrake hält aus Sicht der Antisemiten das Judentum alle relevanten Bereiche in seinen Fängen : »Dreihundert Männer , die alle einander kennen , leiten heute die wirtschaftlichen Geschicke Europas. Sie alle sind Juden. Sie sind die Beherrscher der ganzen Volkswirtschaft. Judaismus und Kapitalismus sind gleichbedeutend. Eine finanzielle Ausbeutung des Volkes und des Staates , wie es die Welt noch nie gesehen , wird im großen betrieben. Wien ist heute schon ganz verjudet. Hochschule , Theater und Literatur , Handel und Gewerbe , Wirtschaft , Presse und Finanz , alles steht unter jüdischem Oberbefehl und der Sozialismus macht als Helfer und Hüter des Judentums die schützende Mauer. So ist , wie die Verhältnisse liegen , der Jude , ohne den es auch keine rote Internationale gäbe , heute der oberste Schädling des christlichen Volkes … Was wir heute rings um uns erblicken , ist der wirtschaftliche Totschlag. Der moderne Großspekulant , der seine Millionen zur wirtschaftlichen Ver114
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nichtung anderer Existenzen benützt , übt ein heimtückisches und feiges Totschlag-Gewerbe aus. Er bedarf nicht des persönlichen Mutes und der eigenen Tüchtigkeit , er hockt verborgen hinter seinen Geldsäcken und läßt nur die alles bändigende Macht des Geldes für sich streiten.«177 »Was der Jude glaubt , ist einerlei , in der Rasse liegt die Schweinerei !« Diese Parole kam schon in den 1880er-Jahren in Wien in Umlauf. Sie markiert eine neue Form : den Rassenantisemitismus. Die Juden werden nun als eigene Rasse , eigene Nation angesehen. Sogar ein Wissenschafter von Weltruf , der Mediziner Theodor Billroth , bekannte : »Man vergißt oft ganz , daß die Juden eine scharf ausgeprägte Nation sind , daß der Jude ebensowenig wie ein Perser oder Franzose … je ein Deutscher werden kann.«178 Die Juden seien hier nur zufällig aufgewachsen , zufällig Deutsch sprechend. Und selbst »wenn sie schöner und besser in deutscher Sprache dichten und denken als manche Germanen von reinstem Wasser«, sie blieben , was sie sind : Juden. Hauptvertreter des Rassenantisemitismus ist Georg Ritter von Schönerer , der Führer der alldeutschen Bewegung. Er träumt von einem großdeutschen Reich unter Einschluss der deutschsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie unter den Hohenzollern. Die Habsburger hätten sich als slawenfreundlich erwiesen , ihre Herrschaft richte sich gegen die Interessen der Deutschen. »Durch Reinheit zur Einheit !« heißt die Parole , und zu dieser Reinheit gehört aus Schönerers Sicht die Ausgrenzung der Juden aus allen öffentlichen Belangen. Man müsse sie unter eine Sondergesetzgebung stellen , auch wenn sie getauft seien. Der Antisemitismus ist für Schönerer »ein Grundpfeiler des nationalen Gedankens«. Schönerer hat sich zwar durch seine intransigente Radikalität im Laufe seiner politischen Karriere zunehmend isoliert , 1911 auch den Wiedereinzug in den Reichsrat nicht geschafft , aber seine Botschaft fällt auf fruchtbaren Boden , vor allem in der mittelständischen Intelligenz. Der Alpenverein , Sportklubs , Sprach- und Lesevereine , Chöre etc. legen Wert darauf , sich »judenfrei« zu halten. Neben Schönerer predigen auch andere das Prinzip der strengen Rassentrennung : Guido von List oder Franz Stein , der für die alldeutsche Idee und damit auch für den Rassenantisemitismus in der Arbeiterschaft wirbt , um sie der »verjudeten« Sozialdemokratie abspenstig zu machen. Sind Juden nicht auch Menschen , denen Mitgefühl , Verständnis und vor allem Wahrung der Würde zusteht ? Muss man angesichts der dauernden Anfeindungen nicht davon sprechen , dass die Juden in Wien »erdrückt und verfolgt« werden ? Eine eindeutige Antwort ist beim Frühlingsfest des Wahlkomitees der Vereinigten Christen der Leopoldstadt ( 2. Bezirk ) im März 1914 zu hören , also ausgerechnet auf der »Maz115
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zes-Insel«179 , aus dem Mund des Reichsratsabgeordneten Mataja : »Ist der kleine Geschäftsmann , der kleine Schuster bedrückt und verfolgt oder die vielen jüdischen Firmen , die unter der Gunst dieser jüdischen Bezirksvertretung ein großes Lokal nach dem anderen einrichten und christliche Geschäftsleute ausweisen ? Kennt Herr Blasel ( Bezirksvorsteher ) die Verhältnisse dieses Bezirkes nicht , daß er sich unterstehen darf , von bedrückten und verfolgten Juden zu reden ? … Wir verzichten auf den ›Gewinn‹, den die christliche Bevölkerung aus der Unterdrückung der Juden hier zieht ! ( Rufe : sehr gut ! )«180 Und Mataja kommt zu dem Schluss : »Das Beispiel , das uns vor 2000 Jahren die alten Ägypter gegeben haben , von denen nicht feststeht , dass sie eingefleischte Christlichsoziale gewesen sind ( Heiterkeit ), wäre gar nicht ohne.«181
Abb. 45
Das wäre sogar ganz wunderbar , denkt da der eingefleischte Antisemit. Lieber heute als morgen würde er die Juden mit Sack und Pack aus Wien wegziehen sehen. 116
Eine Saat des Hasses
Wenn sich nur ein moderner Moses fände , der sie hinausführen würde ins gelobte Land ! Genau diese Idee hatte ein Mann namens Theodor Herzl. Er weist den Juden hier und weltweit einen neuen Weg. Zurück ins Land der Väter , in das von Gott Mose verheißene Land , zurück aus der seit 2. 000 Jahren währenden Diaspora. Als Student hatte Herzl als Bundesbruder in der »Albia« erfahren , was Antisemitismus bedeutet und erst recht als Journalist bei der Beobachtung des Dreyfus-Prozesses in Frankreich. Immer stärker war ihm bewusst geworden , dass das Habsburgerreich nicht das »gelobte Land«, Wien nicht das erträumte »Jerusalem« sein konnte , wie es viele Juden in der Euphorie der liberalen Ära nach 1867 erhofft hatten. Schon vor 1900 konnte niemandem entgehen , welches Bild von Juden gezeichnet wird , egal ob er Bankier oder Straßenhändler , Mäzen oder Künstler , Wohltäter oder Altwarenhändler war. Der Jude ist als Blutsauger , Ausbeuter , Verführer , Sittenverderber , Eindringling und Gottesmörder verfemt. Mit diesem Zerrbild , das bereits diabolische Züge angenommen hat , wachsen junge Menschen auf , es geht vielfach ungefiltert in ihr Denken und Fühlen über. Und keine moralische Instanz , keine geistige Größe wie ein Émile Zola in Frankreich in der Dreyfus-Affäre steht auf und erhebt ein donnerndes »J’accuse !« ( Ich klage an ! ), um den Hasspredigern wirksam entgegenzutreten. Es nützt gar nichts , sich noch mehr zu integrieren , seine jüdischen Wurzeln zu verleugnen , der Zeitgeist bleibt unerschütterlich bei seinem »Jud’ bleibt Jud !«. Es gibt keine Garantie , dass dem Wort der Gewalt nicht eines Tages auch die Gewalttat folgen wird. Und wer vermag dann noch der Macht der Straße Einhalt zu gebieten ? Darum ist es aus der Sicht Herzls besser , den Juden einen eigenen Staat zu schaffen , und zwar im Land ihrer Väter. Doch dieses Land steht seit Jahrhunderten unter der Herrschaft des Sultans. Politische Kontakte hat Herzl unmittelbar nach Erscheinen seines Buches »Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage« ( 1896 ) unternommen , freilich ohne Ergebnisse. Entmutigen ließ er sich dennoch nicht. In seinem Roman »Altneuland« ( 1902 ) entwirft er schon die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des erträumten Judenstaates in Palästina. Ein eigens geschaffener jüdischer Nationalfonds hat dort bereits mit dem Ankauf von Grundstücken als Naturalbesitz des jüdischen Volkes begonnen. 1914 ist es nun zehn Jahre her , dass Herzl frühzeitig starb. Das Wiener Montags-Journal würdigt ihn aus diesem Anlass : »Als Geisteskind war er kein Kleiner , als Verfechter der Idee ein Großer , Starker , als Mensch und Freund das Beste und Erhabendste , was auf diesem irdischen Jammertal zu finden ist. Solche Menschen steinigt und kreuzigt man heute wie vor zweitausend Jahren , nur geschieht es heute im modernen Stil.«182 117
Mehr als ein Gast: Kaiser Wilhelm II. Zu Frühlingsbeginn erwartet Wien einen hohen Gast : Wilhelm II. , Deutscher Kaiser und König von Preußen , macht hier Zwischenstation auf seiner Reise nach Korfu. Die Reiseroute nützt Wilhelm für politische Gespräche in Wien , in Venedig mit Italiens König Viktor Emanuel III. , auf Schloss Miramare bei Triest mit Thronfolger Franz Ferdinand. Obwohl der deutsche Kaiser nur einen Tag in Wien Aufenthalt nimmt , wird »großer Bahnhof« auf dem kleinen Bahnhof Penzing gemacht. Fahnen in den deutschen Farben Schwarz-Weiß-Rot und den habsburgischen Farben Schwarz-Gelb sowie Girlanden und Tannenreisig sorgen für ein buntes Bild an diesem Montag , dem 23. März 1914 , an dem Nieselregen und nebelige Luft keine Frühlingsgefühle aufkommen lassen. Wie das Protokoll es vorschreibt , hat Kaiser Franz Joseph die Uniform eines preußischen Generalfeldmarschalls samt Helm mit weißem Federbusch und dem orange-gelben Band des preußischen SchwarzenAdler-Ordens angelegt. Seltsam verkleidet wirkt er , Inkarnation österreichischer Wesensart , in der fremden Gewandung. Dass ihn gemischte Gefühle erfüllen , lässt sich erahnen. Erinnerungen an 1866 lassen sich schlecht ausblenden , als die Schlacht von Königgrätz in Böhmen die Habsburgermonarchie endgültig aus allen deutschen Belangen drängte. Von da an ließ sich die staatliche Einigung Deutschlands im preußischen Sinn nicht mehr verhindern. Sie wurde nach dem Sieg über Frankreich mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 Wirklichkeit. Bankrotterklärung einer Politik , die 20 Jahre vorher Preußen vertraglich gezwungen hatte , auf seine kleindeutschen Ambitionen zu verzichten und in den 1815 gegründeten Deutschen Bund zurückzukehren. Als »Schmach von Olmütz« ist das in Berlin unvergessen geblieben. Waren das noch Zeiten , als Österreich im Vollgefühl seines Sieges über die Revolution von 1848 / 49 den Preußen diktieren konnte. Unfassbar , dass Franz Joseph damals schon Kaiser war. 64 Jahre ist das her , die wenigsten können sich an diese Zeit bewusst erinnern. Exakt um 11.00 Uhr rollt der Hofzug des deutschen Kaisers in den Bahnhof ein. »Heil Dir im Siegerkranz !« braust auf , herzliche Begrüßung mit Bruderkuss auf die Wange , dann schreiten die beiden Mo narchen die Ehrenkompanie ab. Wilhelm in österreichischer Marschalluniform , den Helm mit leuchtend grünen Federn geschmückt.
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Mehr als ein Gast
Abb. 46 : Auf Kurzbesuch beim wichtigsten Verbündeten : Kaiser W ilhelm II. wird von Kaiser Franz Joseph am Bahnhof Penzing empfangen
Ist für Franz Joseph das Anlegen der »gegnerischen« Uniform eine pflichtschuldige Höflichkeit , so ist das für Wilhelm echte Freude. Die Lust an immer neuer Kostümierung gehört zu seinen hervorstechenden Eigenschaften. Die ganze Welt ist Bühne , bereit für seine glänzenden Auftritte. Den seit Geburt verkrüppelten Arm weiß er geschickt zu verdecken oder so zu platzieren , dass er nicht ins Auge des Betrachters springt. Mit betont männlich-forschem Auftreten , vor allem mit der Eloquenz seiner Sprache versucht er jeden Gedanken , er sei schwach , gar nicht erst aufkommen zu lassen. Jeder Zoll ein Soldatenkönig nach preußischer Tradition. Eine Kavalkade von Hofwagen setzt sich schließlich Richtung Schönbrunn in Bewegung , an der Spitze die beiden Kaiser in einer offenen Karosse. Es regnet mittlerweile in Strömen. Trotzdem ist ein kurzer Halt notwendig. Ein Männerchor aus Leipzig hat auf der Schlossbrücke Aufstellung genommen , um ein Ständchen zu Ehren der Monarchen darzubringen. Dann ist man endlich im Schloss. Vor dem Déjeuner dinatoire haben Franz Joseph und Wilhelm Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen. Vom Typus Mensch lässt sich ein größerer Unterschied der beiden kaum denken. Franz Joseph ist 29 Jahre älter , gehört somit einer anderen Generation an , ist introvertiert , pflichtbewusst bis an die Grenzen seiner Kraft , ein pünktlicher »Akten-Erlediger«, für den Regieren vor119
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nehmlich Schreibtischarbeit bedeutet , wenig reiselustig , skeptisch technischen Neuerungen gegenüber , sparsam mit Lob , rührend bescheiden in seinen persönlichen Ansprüchen , rücksichtsvoll gegenüber Untergebenen. Ein Mann der leisen Töne , alles Laute , Impulsive ist ihm verhasst. Die Form wahren , die Würde nie verletzen sind Franz Josephs eiserne Prinzipien. Eine unnachahmliche Noblesse , geadelt durch hohes Alter , ist er wahrhaft der »letzte europäische Monarch alter Schule«, wie er selbst von sich sagt. Wilhelm hingegen ist ein unruhiger Geist , ext rovertiert , regelmäßige Aktenarbeit ist ihm ein Greuel , drei Viertel des Jahres befindet er sich auf Reisen. Höchst interessiert am technischen Fortschritt , jovial mit manchmal peinlichen »Ausrutschern«, launenhaft gegenüber Untergebenen , Vielredner und überzeugt , auf allen Gebieten ein fundiertes Urteil abgeben zu können , ein Mann des 20. Jahrhunderts. Nichts an Wilhelm erinnert an die legendäre preußische Sparsamkeit , im Gegenteil : nichts kann ihm glänzend genug sein. Ihm haftet das Parvenühafte von Neureichen an , was für das neue Deutsche Reich gar nicht unpassend wirkt. Und großsprecherisch hat er den Deutschen versprochen : »Glänzenden Zeiten führe ich Euch entgegen !« Mit Optimismus in die Zukunft blicken kann Kaiser Franz Joseph nicht. Im Gegenteil , er weiß nur zu gut , dass sein Vielvölkerreich im Zeitalter von Nationalismus und Panslawismus anachronistisch geworden ist. Der morsche Zustand der Monarchie ist allerorten spürbar. Immer unverschämter rüttelt der Zeitgeist am Bestehenden. Eine Stimmung »Solange er lebt , …« hat sich über die Monarchie gelegt , eine Stimmung , die Angst vor der Zukunft ausdrückt. Ein »Besser wird’s nicht«, es kann nur schlimmer kommen , wenn der alte Kaiser stirbt. Franz Josephs Autorität scheint die letzte Garantie , dass alles halbwegs im Gleichgewicht bleibt. Nach ihm könnten die Dämme brechen. Wilhelm ist in Wien ein hochwillkommener Gast. Das kann der politisch Interessierte auch in den regierungsfreundlichen Zeitungen jener Märztage 1914 nachlesen. Er ist »wie ein alter Freund , den man kaum mehr als Gast betrachtet , sondern wie einer , der zum Hause gehört und den wir in gewissem Sinne als unser Eigentum betrachten«, heißt es in der Neuen Freien Presse , die dann das enge Bündnis zwischen den beiden Staaten hervorhebt : » … ein unverwüstlicher Energiebehälter in der Politik , und alle Stürme , die über die Welt hin brausen , waren nicht imstande , die Eintracht der beiden Staaten zu erschüttern … , die vielleicht noch niemals so sehr aufeinander angewiesen waren wie im jetzigen Augenblick.«183 Gemeint ist damit die spürbare Verschlechterung der Beziehungen beider Bündnispartner zu Russland. Die Lage sei derart gespannt , »daß die Vermutungen über den Krieg förmlich 120
Mehr als ein Gast
geistige Alltagsspeise geworden sind , daß von dem Entsetzlichsten , von dem wahren Weltuntergange der Kultur immerfort wie von etwas gesprochen werden kann , was nicht im Augenblicke droht , aber doch Schritt für Schritt näher zu kommen und sich bis zur Greif barkeit zu verdichten scheint … Da müssen die Freunde näher zusammenrücken , da muß jeder kleinste Sprung in der Rüstung sofort genietet werden.«184 Das Bündnis Deutschland – Österreich-Ungarn , es besteht seit nunmehr 35 Jahren ( 1881 um Italien erweitert ), »hat den Frieden gerettet. Denn mächtig , furchtbar und unüberwindlich ist die Kriegswaffe der Bundesgenossen«185 , heißt es in der Reichspost. Kein Wunder , dass die Gegner zum Mittel der Tücke greifen , um Misstrauen zwischen Wien und Berlin zu säen. Wilhelm II. soll über ein Bündnis Frankreich-Deutschland-Russland verhandelt haben , ein Anerbieten , »das in seiner Verwirklichung die Karte Europas auf Kosten der Habsburger geändert haben würde. Erinnern diese Versuche politischer Brunnenvergiftung nicht an die Tage , da man in London , Paris und Petersburg bemüht war , Österreich-Ungarn vom deutschen Bundesbruder abzuziehen , an jene Tage , da König Eduard ( V II. ) unermüdlich sich auf Reisen befand , um eine Isolierung Deutschlands zu konstruieren ? Wenn man nun in Petersburg tatsächlich den Gedanken einer Isolierung Österreich-Ungarns erwecken und nähren wollte , so dürfte die den Versuchen erteilte Antwort wohl kaum anders gelautet haben , als damals da König Eduard in Ischl seine großartigen Pläne an der Bundestreue Kaiser Franz Josephs scheitern sah.«186 Ist die vielbeschworene »Nibelungentreue« wirklich so frei von allen Friktionen ? Tatsächlich hat Wilhelm II. 1905 versucht , ein Bündnis Deutschland-Russland-Frankreich zustande zu bringen ; damals , als der Zar nach einer Revolution und der Niederlage im Krieg gegen Japan mit dem Rücken zur Wand stand. Der Vertrag von Björkö mit der Unterschrift beider Monarchen blieb Papier , gescheitert am Widerstand von Politikern und Militärs , da wie dort. Wo war damals die Rücksichtnahme auf den Verbündeten Österreich-Ungarn und dessen Interessen geblieben ? Umgekehrt hatte die Monarchie 1908 die Annexion von Bosnien-Herzegowina dem deutschen Verbündeten erst am selben Tag mitgeteilt , an dem die einseitige Maßnahme in Kraft trat. Völlig außer Acht bleibt in den Kommentaren , dass Deutschland in der Welt als Bedrohung des Friedens wahrgenommen wird. Die deutsche Aufrüstung , begleitet vom verbalen Säbelrasseln Wilhelms II. , macht Angst. Immer wieder lässt er sich in freier Rede zu Formulierungen hinreißen , die vielleicht nicht so aggressiv gemeint sind , im Ausland aber wörtlich genommen werden. Auch beim Besuch des Wiener Rat121
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hauses im September 1910 hatte der deutsche Kaiser eine solche Rede gehalten , von der »schimmernden Wehr« gesprochen. An diese denkwürdige Rede soll eine große Metallplakette erinnern , die Wilhelm jetzt mitgebracht hat , ein Geschenk an die Stadt Wien. Franz Joseph ist sich der Gefahr bewusst , die Wilhelm damit herauf beschwört. Er weiß zugleich aber , dass Wilhelm in Wahrheit den Krieg fürchtet. Und er schätzt den deutschen Rückhalt für sein fragiles Imperium. Freilich wird die Monarchie damit in die »Einkreisungspolitik« der Tripelentente mit einbezogen. Deutschland wiederum wird zwangsläufig in die Balkaninteressen des Habsburgerreiches verstrickt. Jeder von beiden droht in das Kielwasser der Politik des anderen gerissen und in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen verwickelt zu werden. Am 24. März 1914 verlässt Wilhelm Wien. Franz Joseph lässt es sich nicht nehmen , seinen Gast zum Bahnhof Hetzendorf zu begleiten. Er hat diesmal die Uniform seines preußischen Kaiser-Franz-Garderegiments angelegt , Kaiser Wilhelm trägt die Uniform des Inhabers des k. u. k. Husarenregiments Nr. 7. Es ist Tradition , dass Monarchen einander ehrenhalber zu Inhabern eines ihrer Regimenter machen. ( So ist Franz Joseph in Russland Inhaber des Kexholmschen Leibgarderegiments , in Großbritannien der Queen’s Dragoon Guards , das heute noch den habsburgischen Doppeladler als Regimentsabzeichen führt , Anm. ) Brüderlicher Abschiedskuss auf dem Bahnhof , ein paar aufmunternde Worte aus dem Waggonfenster , dann rollt Wilhelms Hofzug davon. Auf Wiedersehen ! Beide können nicht ahnen, dass es ihr letztes Zusammentreffen in Friedenszeiten war.
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Raus aus der Stadt: Fröhliche Ostern Nach einem harten Winter gibt im April der Frühling ein kräftiges Lebenszeichen von sich , mit fast sommerlichen Temperaturen , stellenweise werden bis zu 24,5 Grad Celsius gemessen , zwischendurch milder Regen und hohe Luftfeuchtigkeit. »In den Gartenanlagen Wiens beginnt es überall zu grünen , die warmen Sonnenstrahlen locken Blüten und Blätter emsig hervor. Sogar die Linden auf der Ringstraße beginnen bereits ihre Knospen zu öffnen und wenn die warme Temperatur anhält , so haben wir in kurzer Zeit unsere Bäume und Sträucher in vollem Laubschmuck vor uns.«187 Die Sonnenstrahlen offenbaren , wie schmutzig die Fensterscheiben nach dem Winter sind. Frühjahrsputz ist in allen Haushalten angesagt , die für sich die Wertung »ordentlich« beanspruchen. Allerorts wird gebürstet , ausgerieben , gewischt , gewaschen und eingelassen. Tausende Hinterhöfe widerhallen von den dumpfen Schlägen mit dem Pracker ( Teppichklopfer ) auf Teppiche , die über die obligaten Klopfstangen gehängt wurden. Beneidenswert sind jene Haushalte , in denen der technische Fortschritt diese Schwerarbeit überflüssig macht , durch ein »Wundergerät« namens Vacuum oder Staubsauger.
Abb. 47
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Nun gilt es auch , sich selbst in Form zu bringen und auf die Gesundheit zu schauen :
Abb. 48
Abb. 49 : »Wunderhübsches Reich der Frau«: ein exklusiver Modesalon in Wien
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Raus aus der Stadt
Die feinen Damen indes eilen zu ihren Stammcouturiers : »Das große Frühjahrsrüsten der Modedamen hat begonnen. Wie in einem Bienenhaus geht es in den führenden Ateliers unserer Stadt zu. ›Nicht wahr , ich bekomme mein Kostüm noch diese Woche ? !‹, ›Sie dürfen mich ja nicht im Stich lassen , ich muß meine Toilett haben‹, ›Also fürs Rennen den marineblauen Taffet und für Sorrent bleiben wir bei dem Crepeleinen in ocker und dem weißen Paniermodell !‹, ›Kann ich morgen zur Probe kommen ?‹, ›Der Capemantel ist herrlich !‹ So schwirrt und wirbelt es in den Verkaufssalons am Kohlmarkt durcheinander. Weitläufig und hell sind die Räume , von Sonne , Frühlingsstimmung und diskreten Parfums durchflutet , ein wunderhübsches Reich der Frau , das in koketten Louis-Seize-Stil mit seinen echten Aubussons ungemein reizvolle Stücke handgestickten Gobelinmobiliars von der unaufdringlich vornehmen Kultur jener Orte ist , denen illustres internationales Getriebe ihre Note verleiht. Erwiesenermaßen herrscht im April immer die größte Bestellungsfreudigkeit , denn es winken die Freiluftfeste : Gartenparties , Rennen , Corsofahrten , daneben Brunnenkuren , eine Lenzesreise nach dem Süden – da heißt es parat sein und auch sein Aeußeres durch neue Garderobe verjüngen.«188
Abb. 50 : Wer von der Stange kauft , ist auch gut bedient.
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Was kommt zu Ostern auf den Tisch ? »Alles grünt und da will die sorgsame Hausfrau den Ostertisch mit all den Erstlingen der Natur besetzt sehen. Da bieten unsere gut beschickten Märkte reiche Auswahl. Wir finden bei unseren Fleischern so hübsch geputzte Osterlämmer ; wem das Lamm zu teuer ist , findet auch das ›Häschen‹, welches nun doch auch bei uns in Oesterreich anfängt , gewürdigt zu werden , auch die so fein und gut aussehenden Hühner nicht zu vergessen , die mit dem feinen Gurken- oder Häuptelsalat gewiß einen deliziösen Schmaus geben … Schinken finden wir den feinsten Prager und Yorkshireschinken in allen Preislagen.«
Abb. 51
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Raus aus der Stadt
»Eier sind verhältnismäßig billig , und wer sich die Mühe des Färbens ersparen will , findet gekochte gefärbte Eier in prachtvollen Schattierungen … Auch die so beliebten Görzer Pinze gibt’s von 80 Heller aufwärts bis zu sechs Kronen.«189 Billig zu haben sind Karfiol , Radieschen , Artischocken und Bohnen. Reiche Auswahl an Karpfen , Lachsen , Seefischen , Scampi und Krebsen bieten die Fischmärkte. »Der Gourmand sowie die schlichte Hausfrau findet auf unseren Märkten alles , was Herz und Gaumen erfrischt … Auch Primeln , Veilchen und viele Wiesenblumen sind für einige Heller erhältlich und geben uns Gelegenheit , den Ostertisch recht festlich zu schmücken.«190 Vor dem Fest ist es üblich , eine Postkarte mit Ostergrüßen an Verwandte und Freunde zu schicken. Persönlicher ist es , am Ostermorgen zum Telefon zu greifen , so der andere auch ein solches Fernsprechgehäuse bei sich zu Hause an der Wand hängen hat – in Schrank- oder Pultform , mit Kurbel an der rechten und Aufhängevorrichtung für den Hörer an der linken Seite. Auch Tischapparate mit Gabel zum Aufhängen des Hörers sind gebräuchlich. Zum Telefonieren benötigt man eine dritte Person : »das Fräulein vom Amt«, das mit Stöpseln die gewünschte Verbindung über den Klappenschrank herstellt. Telefoniert wird in Wien ausgiebig , das belegt die Statistik. Bei der Häufigkeit der Anrufe liegt Wien 1914 an der Spitze im Vergleich zu anderen Großstädten : 16 Ferngespräche pro Teilnehmer und pro Tag. In Paris sind es 13 , in Berlin 12. In der Dichte des Telefonnetzes nimmt Wien mit 52. 800 Anschlüssen allerdings nur Platz zehn unter den Weltstädten ein. Kein Vergleich zu New York mit 441. 000. Bei 2,2 Millionen Einwohnern kommt in Wien ein Telefonanschluss auf 38 Einwohner. Das bedeutet Rang acht im internationalen Vergleich.
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Abb. 52
Endlich ist er da , der Ostermorgen ! »Schon lange haben die Wiener nicht so herrliche Ostertage erlebt wie im heurigen Jahre. Schon am Karfreitag setzte das schöne warme Wetter ein und mit Vergnügen beobachteten die Laubfroschbesitzer , wie ihr grüner Liebling seinen Sitz oben auf dem Leiterl gar nicht verlassen wollte. Damit war die Gewähr für ein schönes Osterwetter gegeben , man packte zusammen , studierte den Fahrplan und verließ die Stadt. Selten noch hat auch die Residenz ein so ödes Bild geboten wie am Ostersonntag und Ostermontag. Straßen und Gassen waren wie ausgestorben , die Gast- und Kaffeehäuser zählten die Häupter ihrer Lieben und sahen , daß ihnen so manch teures Haupt fehlte. Was nicht aufs Flugfeld oder in die Freudenau strömte , das überflutete die Ausflugsorte im Wienerwald. Am Anninger , Eisernen Tor und 128
Raus aus der Stadt
Schöpfl wimmelte es von Touristen , Rax , Schneeberg und Semmering schauten ganz verwundert auf die Unzahl von Menschlein , die in ihren Wänden und Abstürzen herumkrochen. Einen wahren Massenbesuch wies die Wachau auf. Schon am Karsamstag strömten die Ausflügler in Scharen nach Dürnstein , Spitz und wie alle die entzückenden Örter an der Donau heißen und wer sich für die Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag ein Quartier suchen mußte , der konnte froh sein , wenn er in einer Bodenkammer eines Privathauses noch ein Gestell fand , das nur aus Größenwahn sich Bett betitelte. Vielfach erwiesen sich die Vorbereitungen der Wirte dem Massenandrang nicht gewachsen und so konnte es beispielsweise vorkommen , daß so manche Gesellschaft , die von der vormittägigen Tour müde und hungrig in ein Wirtshaus hinter den Bergen der Wachau landete , dort auf der Mittagskarte nichts mehr Undurchstrichenes fand als Preiselbeer und Emmentaler. Schiffe und Züge waren überfüllt … Einen schweren Tag hatten die Bahnen. Auf der Südbahnstrecke mußte man die Lokalstrecke , wie an solchen Tagen immer durchstehen und von Melk , resp. von Krems jagt Zug auf Zug nach Wien. Selbst die Aspangbahn sah einen Verkehr , den man bei dieser Bahn sonst nur zu Allerheiligen und Allerseelen kennt.«191 Das prachtvolle Osterwetter ist die beste Gelegenheit für eine Spritz tour mit dem Auto – 1914 ein Privileg der oberen Zehntausend. Denn : Wer Auto hat , hat auch Chauffeur.
Abb. 53
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Die meisten Autofahrer fahren Richtung Süden , beliebteste Ziele sind Baden , Vöslau , das Triesting- und Gutensteiner Tal , Puchberg am Schneeberg , Payerbach-Reichenau und vor allem der Semmering , ebenso die Pferderennbahnen von Baden und Kottingbrunn. Doch was nützt das schönste Automobil , wenn die Straßen in miserablem Zustand sind. »Die Triester Reichsstraße über die Spinnerin am Kreuz wird bis Wiener-Neudorf von den Automobilisten gern und mit Recht gemieden , sie ist schlecht gepflastert , stets von Schwerfuhrwerk übersät , liegt landschaftlich in einer trostlosen Oede und die Luft ist meistens von üblen Gerüchen aus den benachbarten Fabriken geschwängert. Die weitaus überwiegende Mehrheit der Automobilisten zieht den Weg über die Laxenburger Straße , Hennersdorf , Biedermannsdorf , Wiener-Neudorf ( oder Laxenburg ) und Guntramsdorf vor. Diese Straße ist bis Biedermannsdorf ganz gut , aber dann hebt der Jammer an. Die Durchfahrt durch das lange Biedermannsdorf ist eine Plage für Fahrer und Insassen des Automobils , die Straße ist von dem vielen Aufspritzen – das übrigens den Leuten nicht zu verdenken ist , denn sie wollen nicht im Staub ersticken – geradezu in Querfurchen geteilt , über die das Auto holpern muß. Außerhalb des Ortes wird die Chaussee auch nicht besser , sie bleibt miserabel bis Wiener-Neudorf … Fährt man aber über Laxenburg , so kommt man vom Regen in die Traufe , denn das Stück LaxenburgGuntramsdorf spottet jeder Beschreibung.«192 Bei der Wiener Straßenbahn hat man für den Massenansturm vorgesorgt. Es werden Sonderlinien zum Prater , nach Mauer , Hietzing , Neuwaldegg und Grinzing geführt ( B2 , U8 , W4 , M , P , S8 ). Für einigen Ärger sorgt , dass es heuer keine Direktverbindung von Favoriten in den Wienerwald gibt. »Favoriten hat zwar 150. 000 Einwohner , aber die Straßenbahndirektion denkt offenbar , die Favoritner brauchen an Sonntagen keine direkten Fahrten in den Prater oder in den Wienerwald , für die sei zu Sonntagsausflügen der Laaerberg auch gut genug«193 , kritisiert die Arbeiterzeitung. Fromme und Schaulustige unter den Daheimgebliebenen nehmen an den Auferstehungsfeierlichkeiten in den einzelnen Wiener Bezirken teil. »Allenthalben sah man die Prozessionen durch ein andächtiges Spalier in den Straßen ziehen. Glockengeläute und Gesänge kündeten die frohe Botschaft : Der Heiland ist erstanden ! Weiß gekleidete Mädchen und schärpengeschmückte Knaben trugen Blumen und Statuen des Erlösers. Hinter dem Allerheiligsten schritten die christlichen Mandatare der Bezirke , die Behörden , Bürger- , Krieger- , und Feuerwehrvereine sowie die christlichen Frauenorganisationen. In manchen Bezirken war auch Militär ausgerückt. Stiller wurde diesmal die Feier 130
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in der Hof- und Burgpfarrkirche begangen. Da der Hof heuer nicht teilnahm , ging hier die Auferstehungszeremonie als kirchliches Fest vor sich … Der Tag verlief festlich und in würdevoller Feierlichkeit , die Hauptstadt mit dem mächtigen , weithin sichtbaren Beweise erfühlbar , daß sie eine christliche Stadt ist.«194
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Alles neu und renoviert: Praterfreuden Zu Ostern beginnt im Wurstelprater die Saison 1914. Das Riesenrad dreht sich wieder mit seinen 30 ( heute nur noch 15 ) Waggons , grün für die 2. Klasse , rot für die 1. Klasse. Mit dem Calafati muss man einfach fahren. Mag der riesige Chinese mit dem überlangen Zopf , dem immens langen Hängeschnauzbart im gelben Gesicht noch so mürrisch dreinblicken , es ist lustig , dass er sich mit den Waggons der Karusselleisenbahn mitdreht und mit dem linken Zeigefinger nach unten auf die Mimi , den Rudi , den Fritz oder die Gretl zeigt. Rasch hinüber zum Kasperltheater ! Die Glocke bimmelt schon , die Vorstellung beginnt. Mit atemloser Spannung verfolgen die Kleinen Kasperls Abenteuer im Kampf gegen Hexe oder Krokodil. Zum Glück geht immer alles gut aus , selbst dann , wenn das Krokodil den Kasperl verschluckt hat. Der Kasperl lässt sich niemals unterkriegen , schon gar nicht , wenn er ein Wiener ist. Milde , manchmal auch etwas verlegen lächelnd stehen Papa , Mama , Tante oder Großpapa am Zaun und beobachten die Begeisterungsfähigkeit der Kinder. Unwillkürlich steigen eigene Kindheitserinnerungen hoch. Ja , damals , als vieles noch anders , vor allem primitiver war. Rasch , allzu rasch ist die Vorstellung zu Ende. An einem Schnürl lässt der Kasperl ein Häferl herab. Bitte um eine kleine Spende ! Gerne legen die Kinder ein paar Heller ins Häferl. Ja , auch der Kasperl muss von was leben.
Abb. 54 : Dem geliebten Kasperl ganz nah : Kinder geben ihrem Idol ein paar Heller
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Alles neu und renoviert: Praterfreuden
Es gibt noch so viel zu sehen. Ganz neu im Frühling 1914 ist der Liliputzirkus mit kleinwüchsigen Artisten und Ponys , »gewiß das Entzücken der Kinder und des feinen Familienpublikums«195. Und an der Stelle des bisherigen Zaubertheaters Kratky-Baschik befindet sich ein Hindernisreiten und Wettrennkarussell. Überall können die Besucher sehen , was mancher von ihnen schon in der Zeitung gelesen hat. »Der größte Vergnügungspark der Welt , in unserem herrlichen Prater , ist für die Saison 1914 mit vielen Neuheiten und Sehenswürdigkeiten ausgestattet worden. Die stammsässigen Besitzer der Etablissements im Prater haben trotz der vorjährigen äußerst schlechten Saison weder Geld noch Mühe gescheut und wird sich der Prater zu Ostern den Tausenden Wienern und Fremden äußerst schmuck repräsentieren ; sämtliche Etablissements sind neu hergerichtet und teilweise mit geradezu luxuriöser Beleuchtung versehen. Die Kommune Wien hat außerdem den Volksprater mit 38 neuen Laternen bereichert , und so wird täglich bis 1 Uhr nachts ein Meer von Licht erstrahlen. Im Zirkus Busch wird ein Varieté in vornehmem Stil eröffnet. Ludwig und Karl Pretscher haben ihre Grottenbahn mit neuen Gruppen bereichert , ebenso die Rutschbahn und Photographie glänzend beleuchtet. Karaseks Berg- und Talbahn wird mit Hunderten färbigen Glühlichtern illuminiert und bietet bei dem billigen Fahrpreis von 10 Hellern eine angenehme Zerstreuung. Das allbekannte Museum und Panoptikum von Präuschers Erben ist um viele neue Gruppen bereichert worden und aus dem Hippodrom ist ein Rollschuhpalast entstanden. Nebenan ist Münstedts Kinopalast , der heuer mit einem großen Kostenaufwand renoviert und mit Balkonlogen versehen wurde. … Alexander Bart hat sein Etablissements vollständig umgebaut und eine japanische Vergnügungsstätte mit 35 verschiedenen Unterhaltungen geschaffen. Labantz hat eine Neuheit ›im Luxuszuge durch das Märchenland‹, Hart den verhexten Kamin , eine vollständig neue Illusion , und Eibensteiner ›Die Kunst im Bilde‹ gebracht. – An Abnormitäten sind neu in Feigls Schaustellung Tom Bebe und Riffle Bill , die Original-Antillenneger , in ihren staunenswerten Leistungen als Feuer- und Schwertschlucker und Fakire , sowie Herma Stuart , die beste Gedankenleserin der Welt. – Es gibt nichts , was die Dame nicht errät. – Marie Kneifel hat zu dem Tanzrad ein neues Prachtmusikwerk eingestellt , Frau Klein Stiller und Schaaf ihre Kinematographen neu renoviert , Kern sein Kinotheater umgebaut , sodaß das selbe nunmehr 500 Personen faßt und mit den allerneuesten Errungenschaften versehen ist. Schaafs Prachtkarussell und Aeroplan sind Zierden des Praters.« Kurzum , »alle , alle haben gerade für 1914 große Vorkehrungen getroffen«196. 133
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Was wäre der Prater ohne seine Kaffeehäuser und Gastwirtschaften , deren Tradition manchmal bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht ? Besonderer Beliebtheit erfreuen sich Erstes , Zweites und Drittes Kaffeehaus an der Praterhauptallee ( Nr. 14 , 18 , 20 , 21 , neu 4 , 9 , 12 ), wobei das Dritte Kaffeehaus als das vornehmste gilt. Die »feinen Leut’« sind vorzugsweise im Sachergarten und im Restaurant am Konstantinhügel anzutreffen.
Abb. 55 : Abseits von vulgärem Praterlärm : der Sachergarten
Es steht auf dem durch Erdaushub beim Bau der Rotunde für die Weltausstellung 1873 künstlich geschaffenen Hügel. Ein Wasserfall speist einen kleinen Teich , auf dem man auch Boot fahren kann. »Die berühmten Restaurationen Eisvogel und Prochazka haben Damenkapellen engagiert , in Kadermanns Restauration wird täglich Militärkonzert veranstaltet. Das 3. Café in der Hauptallee wird auch heuer von Herrn Pertl in allbekannter , vorzüglicher Weise fortgeführt und sind diesem Etablissement die besten Militär- und Zivilkapellen verpflichtet. Im 1. und 2. Café werden ebenfalls Konzerte abgehalten , ebenso im ältesten Praterwirtshaus ›Zum Ochsen‹, beim ›Fidelen , schönen Karl‹, wo es täglich bei Musik und Gesang hoch hergeht. Fünf Tanzsalons sorgen für tanzlustige Besucher und 54 Restaurationen und Cafés für das leibliche Bedürfnis der Besucher.«197 Will man möglichst viele Gäste anziehen , dann sind Damenkapellen längst unverzichtbar. Junge Mädchen in weißen Kleidern und bunten Schärpen ( beim »Eisvogel« sind sie grün , beim Prochazka rot ), die ih134
Alles neu und renoviert: Praterfreuden
ren Instrumenten die schönsten Melodien entlocken. Wer kann da widerstehen ? Im Gasthaus zum »Braunen Hirschen« neben dem Schweizerhaus tritt heuer erstmals sogar eine Damentrompeterkapelle auf. In eine andere Welt der Vergnügungen taucht der Beobachter ein , wenn er sich in die Freudenau begibt , den Treffpunkt der Liebhaber des Pferderennsports im Prater. Ostersonntag ist Saisoneröffnung 1914. Fernab von Geschrei und unangenehmen Ausdünstungen gibt sich hier die feine Welt ein Stelldichein. Der Andrang ist enorm , wahrscheinlich wird man heuer den Zuschauerrekord von 40. 000 im Jahr 1913 übertreffen können. Der erste Auftritt gehört aber nicht den edlen Pferden. »Es gab da eine Toilettenschau im ganz Großen , die helle warme Sonne lockte die allermondainsten Frühjahrsschöpfungen aus schier allen Wiener Ateliers und Maisons in die Freudenau , und dort kam sie denn auch zur vollsten Geltung. Man kam aus dem Staunen nicht heraus , beinahe hätte man über dem Schauen und Kritisieren das Rennen vergessen«, berichtet der Beobachter der Neuen Freien Presse.198 Endlich richtet der Anschlag der Glocke dann doch die Blicke auf die losstürmenden Pferde. Mit Ferngläsern beobachten Damen und Herren von ihren Logen aus den Rennverlauf. Das erste Rennen der Saison gewinnt Irving aus dem Stall des Herrn von Mautner , Platz zwei erlangt Waterloo , dessen Besitzer Baron Rothschild ist. Poker aus dem Stall des Bierbrauers Anton Dreher setzt »die Serie der Enttäuschungen , die er voriges Jahr begann , wieder erfolgreich fort«199. In den Pausen dominiert wieder die Damenwelt mit dem , was sie trägt. Dunkelblau , Capri-Blau genannt , ist Modefarbe der Saison. Auch mehrere Nuancen von Grün sind zu sehen , »fast ausnahmslos ein weißer Lingeriekragen oder ein Jabot beim Halse , oft plissierte Röcke und immer kurze Jacken. Fast alle Kostüme schmücken Vorsteckbukette aus bunten Blüten , die mit dem Aufputz des meist sehr kleidsamen Hutes übereinstimmen , dazu diskrete Schirme mit hohem Stocke.«200 Insgesamt fällt das Urteil aber negativ aus , denn »die Pariser werfen Modelle auf den Markt , die ganz einfach inakzeptabel sind … Die Wiener Schneider aber versäumen leider die günstige Gelegenheit , Wiener Modelle einzuführen.«201 Bekannt schöne , elegante Frauen trügen »so entstellende Toiletten , daß man sie erst drei- oder viermal an sich vorbeipassieren lassen mußte , ehe man sie erkannte. Die Mode , die aus Paris gebracht wurde , paßt einzig und allein für sehr schlanke Gestalten von achtzehn bis zwanzig Jahren , während für stärkere und insbesondere ältere Damen überhaupt nicht vorgesorgt wurde.«202 Nun ja , sicher ist es ein Krampf mit dem Jugendkult.
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Wien 1914
Abb. 56
Die Fußball-Begeisterten wollen das Osterturnier 1914 keinesfalls versäumen. Am Ostersonntag findet auf dem Rapid-Platz in Hütteldorf die Vorrunde statt. Die Anhänger der Grün-Weißen werden bitter enttäuscht , denn ihr Verein verliert gegen den Wiener AC ( Wiener Athletik Sportklub ) in den rot-schwarzen Leiberln ( Trikots ) 3 :5. Im 136
Alles neu und renoviert: Praterfreuden
zweiten Spiel der Vorrunde kann sich der Wiener Association FC mit 3 :1 gegen den Wiener Sportclub durchsetzen. Am Ostermontag wird auf dem WAC-Platz im Prater vorerst um den 3. Platz , also den Trostpreis , gespielt. Das Ergebnis lautet 3 :1 für den Wiener Sportclub gegen Rapid Wien. Im Finale stehen der Wiener AC und der Wiener Association FC ( WAF ). Mit einem 2 :0 geht der WAF als Sieger hervor. Der Turniersieg wird vorerst nicht anerkannt , da sich herausstellte , dass ein Spieler für den WAF noch nicht spielberechtigt war. Erst im Juli wird dem WAF der Osterpokal zuerkannt , nach Zahlung einer Ordnungsstrafe von 80 Kronen. Fußball spielt im österreichischen Sportleben schon länger eine wichtige Rolle. Seit 1904 gibt es den Österreichischen Fußballverband ( m it Amateurstatus ), seit 1911 einen Meisterschafts-Pflichtwettbewerb. 1912 beteiligte sich erstmals eine österreichische Fußballmannschaft an Olympischen Spielen.
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Faszination Fliegen: Flugfeld Aspern Zehntausende Menschen pilgern am Ostersonntag 1914 ins weit entlegene Aspern jenseits der Donau. Dort ist vor zwei Jahren ein Flugfeld eröffnet worden , über dem spannende Bewerbe mit Flugapparaten zu sehen sind. Das nahezu windstille Wetter an diesem Sonnentag ist ideal. Vor allem der angekündigte Versuch mit einem Fallschirm verspricht höchsten Nervenkitzel. Zahlende Besucher drängen sich am sogenannten Einkronenplatz. Diejenigen , die nichts ausgeben wollen oder vielmehr nicht können , schätzungsweise 30. 000 , stehen auf den Napoleonschanzen außerhalb des Flugfeldes. Irgendetwas von den Flugvorführungen muss man doch auch so sehen können ! Bald schon zeigt der Franzose Baron Pasquier seine Künste mit einem Blériot-Eindecker. In 200 Metern Höhe zieht er seine erste Schleife , rasch folgen die zweite und dritte. »Jedes Mal macht die Flugmaschine vorher einen Sprung in die Höhe , um sich nach hinten zu überschlagen … Man ist auch jetzt nicht erschrocken , wenn Pasquier seine Luftpurzelbäume ausführt , die er ebenso geschickt und abgerundet vollbringt wie sein Lehrer Pégoud es tat. Seit Pégoud fehlt das Grauen , das noch Chevillard den Zusehern abgewann , wenn er sich in jähen Wendungen mit dem Flugapparat auf die Seite legte , wenn er diesen auf einen Flügel abstürzen ließ , um ihn dann elegant in die normale Lage zu bringen. Auch Pasquier führte Staunenswertes aus , aber er regt nicht auf. Man findet es heute selbstverständlich , daß ein Flieger auch Purzelbäume schlagen kann , man erschrak Sonntag nicht mehr.«203 Der Schreck lässt allerdings nicht lange auf sich warten. Um 16.39 Uhr hat die Maschine , die von dem Franzosen Lemoine gesteuert wird , die Höhe von etwa 400 Metern erreicht , da setzt der Fallschirmspringer Bourhis zum Sprung an. Zehntausenden Zusehern stockt der Atem , Entsetzensschreie erfüllen das Flugfeld , als klar zu sehen ist , dass sich der Fallschirm nur halb geöffnet hat. Die Schnüre haben sich um die Hülle verwickelt.
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Faszination Fliegen: Flugfeld Aspern
Abb. 57
Viel zu rasch fällt Bourhis spiralförmig vom Himmel und schlägt hart auf dem Boden auf. Lemoine verliert durch die Verwicklung der Schnüre in der Steuerung die Herrschaft über den Eindecker und stürzt im 45-Grad-Winkel zur Erde. Der Versuch , die Maschine noch vor dem Boden abzufangen , misslingt. Das Flugzeug zerschellt , Lemoine wird in weitem Bogen herausgeschleudert und bleibt schwer verletzt liegen. Bourhis kommt glimpflicher davon.
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Wien 1914
Abb. 58
Abb. 59 : Das schlimme Ende einer Flugvorführung : die zertrümmerte Maschine auf dem Flug feld Aspern
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Faszination Fliegen: Flugfeld Aspern
Mehrere Augenzeugen des doppelten Absturzes werden ohnmächtig , darunter ein Hauptmann und ein Einjährig-Freiwilliger. Nach einer Erstversorgung durch Sanitäter können sie heimgehen. Am Ostermontag kommen deutlich weniger Zuschauer nach Aspern. Der Tag verläuft diesmal unfallfrei. Zu sehen sind unter anderem Korkzieherspiralen und Wellenlinien , »Akrobatenstücke , die auf die Dauer ihre Anziehungskraft verlieren werden«,204 so das Resümee der Arbeiterzeitung. Mit der Publikumsgunst ist es eine eigene Sache , sie ist oft schwer errungen , aber umso rascher verspielt. Ersehnter Nervenkitzel verlangt nach immer neuen Szenerien , Wiederholungen stumpfen ab. Ob in den Darbietungen die Arbeit eines ganzen Menschenlebens steckt , ist vielen keined Gedanken wert. Welch gehässige Kommentare musste Wilhelm Kreß über sich ergehen lassen , als sein Drachenflieger 1901 wegen eines zu schweren Motors im Wienerwald-Stausee versunken war. 1909 wäre der Franzose Eugen Legagneux in Wien von einer aufgebrachten Menge fast verprügelt worden , als seine Flugversuche im Inundationsgebiet der Donau kläglich scheiterten. Dazu kommt , dass in Österreich mangelnder Weitblick und technische Verständnislosigkeit geradezu Nationaleigenschaften zu sein scheinen , von chronisch leeren Kassen abgesehen. Borniertheit kann hingegen den Fortschritt nicht aufhalten und er ist im Flugwesen atemberaubend. Gerade einmal zehn Jahre ist es her , dass es den Brüdern Wright in den USA gelungen war , eine von ihnen konstruierte Flugmaschine zwölf Sekunden in der Luft zu halten. Blitzschnell haben die Franzosen erkannt , welche Chancen die Aviatik bietet , sie sind bald führend im Flugzeugbau. Dann 1909 die Sensation : Louis Blériot überfliegt den Ärmelkanal und landet nach nur 37 Minuten in England. Da kann auch Österreich nicht länger zurückstehen. Ausländische Stars sind in Wien immer gern gesehen. Und als Blériot im Oktober 1909 auf der Simmeringer Haide im Beisein des Kaisers seine Flugkünste vorführt , bedeutet dies in Österreich den Durchbruch. Luftfahrzeuge sind für eine moderne Armee unverzichtbar , das erkennt auch der alte Kaiser. Zivil- und Militärflugwesen beginnen getrennte Wege zu gehen. Neben der Flotte gilt es auch , das Anliegen einer militärischen Luftflotte populär zu machen. Der Reichsverband der Kinobesitzer stellt sich in den Dienst der »guten Sache«. Im Jänner 1914 finden in allen Kinos Österreichs Filmvorführungen statt , deren Reinerlös dem Zentralkomitee zur Schaffung der österreichischen Luftflotte zugutekommt.
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Zwischen Bangen und Hoffen: der kranke Kaiser Mitten in die Frühlingsseligkeit der Wiener platzt eine Nachricht , die niemanden unberührt lässt : Kaiser Franz Joseph ist schwer erkrankt. Eine Erkältung , die er sich beim Abholen Wilhelms II. im März zugezogen hat , ist zu einer Lungenentzündung ausgeartet. Der 83-Jährige fiebert. Am 20. April wird bekannt , dass die Ärzte »einen beschränkten Herd von dichtem Katarrh in den kleinsten Luftröhrenästen des rechten Lungenoberlappens«205 konstatiert haben. Von nun an erscheinen täglich ärztliche Bulletins , die »in gewissenhafter Weise über das Befinden des Patienten Auskunft geben. Es sei nachdrücklich versichert , daß diese Bulletins in ungeschminkter Weise den genauen Befund der den Kaiser behandelnden Ärzte registrieren werden.«206 Die teilweise gewundenen Formulierungen in der Berichterstattung lassen für den hellhörigen Zeitgenossen unschwer erkennen , dass es vor allem darum geht , die Öffentlichkeit zu beruhigen und eine Talfahrt der Börsenkurse in Grenzen zu halten. So etwa wird mitgeteilt , dass »das subjektive Empfinden des Monarchen nicht unbefriedigend genannt werden könne«207. Der Kaiser arbeite wie gewohnt. Schon am 21. April wird vermeldet , dass das Fieber gesunken sei , »der Puls wenig gesteigert wäre und daß die Herztätigkeit vortrefflich genannt werden dürfe , Appetit und Kräftezustand eine wesentliche Hebung erfahren haben , insgesamt ein großer Fortschritt und ein wesentliches Hinausrücken der Gefahr«208. Solche Berichte sind Anlass , in der kaisertreuen Presse das Hohelied von der Zähigkeit und dem Pflichtbewusstsein des greisen Monarchen anzustimmen : »Der Kaiser ist strenger gegen sich selbst als jeder Durchschnittsmensch aus dem Volke , der seine Gesundheit angegriffen fühlt. Er ist auch mit 83 Jahren der Soldat , der er mit 18 Jahren bei Santa Lucia war. Ob es der Kugelregen ist oder die Krankheit , er weicht von seinem Posten nicht zurück und steht in der ersten Reihe.«209
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Zwischen Bangen und Hoffen
Abb. 60: Hohe Verantwortung für den allerhöchsten Patienten: Leibarzt Dr. Kerzl und der Lungenfacharzt Dr.Ortner beim Kaiser.
Etwas weniger heroisch klingt die Mitteilung , Leibarzt Dr. Kerzl bleibe auch in der Nacht in der Nähe des Kaisers – eine »Vorsichtsmaßregel , da sich seine Wohnung etwa 500 Schritte von den kaiserlichen Appartements befindet«210. In den folgenden Tagen erfährt die Öffentlichkeit , dass es sich bei der Erkrankung »um keine Influenzabazillen , sondern um eine Diplokokken-Bronchitis mit einem Verdichtungsherd in der Lunge«211 handelt. Tochter Marie Valerie und auch der Thronfolger kommen nach Wien. Ein Luftkurort täte dem Kranken zweifellos gut , das würde den Spekulationen über sein baldiges Ende aber Auftrieb geben. So bleibt Franz Joseph in Schönbrunn , nicht einmal eine Übersiedlung in die nahe gelegene Hermesvilla kommt infrage. Gerüchte machen ohnehin die Runde , die Hofkamarilla halte aus Eigennutz den Kaiser wie einen Gefangenen. Manche halten es für durchaus möglich , dass der Kaiser gar nicht mehr lebt , sein Tod der Öffentlichkeit vorerst verschwiegen werde.
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Wien 1914
Abb. 61 : 52 Millionen Untertanen wohlvertraut : das Bildnis des Kaisers
Öfters als sonst richtet sich der Blick der Untertanen in diesen Tagen auf das Bildnis des Kaisers , das zu Abertausenden in Amtsstuben , Büros , Militärkanzleien und -kasinos , in Schulen , Hotels und weniger noblen Gaststuben hängt. Nicht unfreundlich , aber seltsam unbeteiligt wirkt der Gesichtsausdruck mit den Augen wie »aus einem harten , blauen Porzellan« ( Joseph Roth , Radetzkymarsch ). Steht sein Ende und damit das Ende seiner mehr als 65 Jahre dauernden Herrschaft unmittelbar bevor ? Wird das Jahr 1914 als Jahr der Zeitenwende in die Geschichte eingehen , in der die Herrschaft an Kaiser Franz II. übergeht ? Über Generationen hinweg haben die Untertanen nur Franz Joseph als Kaiser gekannt. Nur ganz wenige können sich bewusst an den Anfang seiner Herrschaft erinnern , wie etwa die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach oder der Komponist Karl Goldmark – beide so 144
Zwischen Bangen und Hoffen
wie Franz Joseph im Jahr 1830 geboren. Als »rothosiger Leutnant« war der blutjunge Herrscher verspottet worden , er , der nach Niederschlagung der Revolution nur in Uniform ging , hörig den Militärs und der energischen Mutter. Gefühlsmäßig unfassbar fern liegt seine Hochzeit mit der bayerischen Prinzessin Elisabeth. Am 24. April 1914 hätten sie die Diamantene Hochzeit feiern können , wäre Elisabeths Leben nicht durch Mörderhand beendet worden und hätte ihr Körper die Strapazen der Hungerkuren überstanden. Die meisten seiner Untertanen kennen den Kaiser nur als uralten Mann , bestimmt , »in seiner eisigen und ewigen , silbernen und schrecklichen Greisenhaftigkeit eingeschlossen zu bleiben , wie in einem Panzer aus ehrfurchtgebietendem Kristall« ( Joseph Roth , Radetzkymarsch ). Das Ende der Ära Franz Josephs , das 1914 zwangsläufig in absehbarer Zeit kommen muss , wird vielfach verdrängt , aus Angst vor der Ungewissheit , was danach kommen wird. Es wird auf jeden Fall eine nachhaltige Veränderung sein. Wie sie unter einem Kaiser Franz II. aussehen wird , vermag niemand zu sagen. Bricht das nur noch mühsam zusammengehaltene Reich auseinander oder vermag der neue Kaiser das Ruder unter Anspannung aller Kräfte noch einmal herumzureißen ? Das birgt aber große Gefahren in sich , denn ein Umbau der Monarchie mit Beseitigung des dualistischen Systems wird sich wahrscheinlich nicht friedlich durchsetzen lassen. Die bewahrenden Kräfte setzen deshalb alle ihre Hoffnungen darauf , dass der Greis auf dem Thron wieder gesunden möge. »Kaiser Franz Joseph , das bedeutet eine gewaltige Summe an politischer Erfahrung und Kenntnis , das ist im gegenwärtigen Augenblick , wo die Spannungen der auswärtigen Politik und die Krise der inneren noch lange nicht vorüber sind , ein Leben von unschätzbarer Bedeutung … Aufhorchend erwartet die Monarchie die Botschaften aus dem Krankenzimmer«,212 schreibt die Neue Freie Presse. In diesen Wochen rückt das Untere Belvedere , wo der Thronfolger seine Militärkanzlei eingerichtet hat , mehr denn je in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Hier amtieren Franz Ferdinands Vertraute , alles dient dem Ziel , auf den Tag X vorbereitet zu sein. Als »Generalinspekteur der gesamten bewaffneten Macht«, der er seit August 1913 offiziell ist , hat Franz Ferdinand bereits wichtige Agenden an sich gezogen. In der Innen- und Außenpolitik ist die »Belvedere-Partei« allerdings zum Zuschauen und Abwarten verdammt. Beides fällt dem Thronfolger schwerer denn je. Er ist jetzt bereits 50 Jahre alt. Ständig von der Furcht geplagt , das sichtlich fragil gewordene Reich vor seinen Augen zerfallen zu sehen , ohne wirksam eingreifen zu können. Gut möglich , dass 145
Wien 1914
der kaiserliche Onkel 90 Jahre wird wie der deutsche Kaiser Wilhelm I. Das wäre 1920 ( ! ) Die Ungeduld über die endlos scheinende Warteposition lässt er deutlich merken. Mag die Anspannung in der »Belvedere-Partei« noch so groß sein , nach außen gibt man sich gelassen : »Auf eine Anfrage erklärte das erzherzogliche Sekretariat , daß die aus Wien telephonisch hierher [ nach Schloss Konopischt, Anm. ] übermittelten Berichte über den Gesundheitszustand des Monarchen zu keinen Besorgnissen Anlaß geben und günstig lauten«213 , melden die Zeitungen unmittelbar nach Bekanntwerden der schweren Erkrankung des Kaisers. Vorerst wird Franz Ferdinand damit beauftragt , den Kaiser bei der Eröffnung der Delegationen der beiden Parlamente in Budapest zu vertreten. Für ihn geht es um die entscheidende Frage , wann es so weit ist , dass »es dem Allerhöchsten gefallen hat , den erhabenen Oheim aus diesem Leben abzuberufen«. So lautet die Einleitung des Manifestes an die Völker Österreich-Ungarns , das Franz Ferdinand für den Tag seiner Thronbesteigung fix und fertig in seiner Schreibtischlade liegen hat. Nur der engste Zirkel um den Thronfolger weiß um die Proklamationen an Völker und Armee , die mit Franz II. gezeichnet sind. Nach wochenlangem Bangen wird am 23. Mai offiziell die Genesung des Kaisers bekannt gegeben. Die Herausgabe der ärztlichen Bulletins wird eingestellt. Erstmals in diesem Frühling darf Franz Joseph im Kammergarten von Schönbrunn einen Spaziergang machen , uneinsehbar für das Publikum , keineswegs aber gänzlich unbeobachtet kommt der Genesene mit der voll erblühten Natur in Berührung. Nach 40 Minuten kehrt Franz Joseph ins Schloss zurück , um auszuruhen. Wieder hat der Greis auf dem Thron eine Krisis überstanden. »Es ist , als hätte ein freundliches Schicksal den alten Monarchen … zum Wohle des Reiches erhalten , damit sein Ansehen und seine Erfahrung uns aus der inneren und aus der äußeren Krise , unter der wir leiden , hinausführen.«214 Kann er das , dient seine Zähigkeit wirklich dem Wohl des Staates , fragen sich da manche. Er ist ein alter Mann , dessen wichtigste Regierungsgrundlagen der Heeres- und der Amtsschematismus und der Gotha’sche Adelskalender sind. Böse Zungen sprechen von »senilem Kretinismus«, der der Monarchie schweren Schaden zufüge. Wie lange noch ? Sicher ist , dass Franz Joseph keineswegs weltfremd ist. Er ist sich bewusst , dass sich die Monarchie in einem »Zustand latenter Revolution« befindet , »in der heutigen Welt eine Anomalie« ist , wie er selbst sagt. Nur zu gut weiß er auch , dass die Ungarn ihre ohnehin durch die dualistische Lösung privilegierte Stellung bei jeder sich bietenden Gelegenheit auszuweiten versuchen , deren letztes Ziel es ist , die Realunion der beiden Reichshälften auf eine bloße Personal146
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union zu reduzieren. Reformvorschläge sind zuhauf gemacht worden , aber keiner ist darunter , der nicht die Gefahr in sich birgt , dass das Habsburgerreich daran zerbrechen könnte. Darum lässt der alte , müde gewordene Mann auf dem Thron lieber alles beim Alten , versucht durch unermüdliche Schreibtischarbeit von früh bis spät den Staatsapparat in Gang zu halten und die Armee als einigendes Element des Vielvölkerreiches zu sichern. Erleichterung über die Genesung des Kaisers herrscht deshalb bei der »Schönbrunn-Partei«: Es geht wie gewohnt weiter. Selbst bei den täglichen Gewohnheiten des Kaisers : Er darf sich wieder eine Zigarre anzünden , die behandelnden Ärzte , Dr. Kerzl und Dr. Ortner , beide mit Orden ausgezeichnet , haben es ihm erlaubt. Enttäuschung hingegen bei der »Belvedere-Partei«: das Schattenkabinett des Thronfolgers kann noch nicht an das Licht einer neuen Zeit treten , es heißt : Weiter warten !
Abb. 62
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Ein verhageltes Silberjubiläum: die 1.-Mai-Feier Der 1. Mai hat seit Jahrhunderten einen besonderen Stellenwert. Dieser Tag bedeutet Zäsur , Übergang in die warme Jahreszeit , in der alles grünt und sprießt , Lebensfreude alle Kreatur erfasst. Traditionell war der 1. Mai der Tag des Hofes , des Adels und des Großbürgertums. Seit 1890 ist das anders. Die Arbeiterschaft hat ihn zu ihrem Tag gemacht , an dem sie ihre Forderungen durch Massenaufmärsche unterstreicht. Wien hat sich daran gewöhnt , dass der 1. Mai den Arbeitern gehört. Verflogen sind die Ängste von 1890 , als man allen Ernstes einen Bürgerkrieg befürchtete , die Geschäftsleute die Rollbalken herunterließen und Proviant eingelagert wurde. 1914 begeht man das silberne Jubiläum der Arbeiter-Maifeiern. Die Arbeiterzeitung stimmt die Genossen am 19. April auf den denkwürdigen Tag ein. Der Aufruf ist die beste Gelegenheit , mit den politischen Verhältnissen in scharfer Form abzurechnen. Die Parolen lauten »Gegen Kriegsrüstung und Kriegshetze ! Für den Frieden der Völker ! Für die Verbrüderung der Proletarier aller Länder !« Auf die innere Lage eingehend heißt es : »Die Verfassung ist vernichtet ! Das Parlament ist zur Seite gestoßen ! Der Absolutismus ist wiederhergestellt ! Für die Demokratie ! Für die Selbstregierung der Völker !« Dieser kämpferische Appell schlägt sich in einer Resolution nieder , die am Vormittag des 1. Mai in 49 deutschen ( ! ) Versammlungen der Sozialdemokraten im ganzen Stadtgebiet einstimmig beschlossen wird. Der autoritären Regierung des Ministerpräsidenten Graf Stürgkh wird der Kampf angesagt : »Mit Bestürzung haben wir erfahren , daß eine volksfremde Regierung es gewagt hat , die Volksvertretung hochmütig zur Seite zu stoßen , ohne ihre Zustimmung Steuern und Rekruten einzuheben und dem Volkswohl schädliche Gesetze zu erlassen. Wir wollen uns die Rechte , die das Volk sich in zahllosen opfervollen Kämpfen von 1848 bis 1906 errungen hat , nicht rauben lassen. Wir protestieren gegen die Wiederherstellung des Absolutismus. Wir verlangen , daß die Regierung , die die Reichsverfassung verletzt hat , vor den Staatsgerichtshof gestellt , daß der § 14 , der zum Hebel des Verfassungsbruchs geworden ist , beseitigt werde. Wir sind jederzeit bereit zum Kampfe gegen den Absolutismus , für die Demokratie ! … In enger Gemeinschaft mit den Proletariern aller Länder wollen wir weiterkämpfen , bis im letzten Entscheidungskampf Kapitalismus und Militarismus den machtvollen Schlägen der Arbeiterklasse erliegen.«215 »Volksfremde Regierung«, »Schädliche Gesetze« ? Gegen solche Formulierungen protestieren Vertrauensleute der Regierung , die sich in al148
Ein verhageltes Silberjubiläum
le Versammlungen der Sozialdemokraten eingeschlichen haben. Die Unterbrechungen sorgen keineswegs für Irritation , eher für Heiterkeit. Dann geht es hinaus auf die Straßen : »in voller Herrlichkeit entfaltete sich alles das , was der Feier ihr eigentliches Gepräge und ihre imponierende Größe als Kundgebung und Heerschau des Wiener Proletariats gibt. Wieder wogte ein ungeheurer Menschenstrom dem Prater zu , noch verstärkt durch Zuzüge , die der schöne Tag herausgelockt hatte , und durch dichte Zuschauermengen , die sich durch die leuchtenden Maifestzeichen als Zugehörige zur Kundgebung erwiesen. Es schmetterten die Hörner der Radfahrer das Lied der Arbeit , hoch empor loderte das flammende Rot der Fahnen und Standarten , eindrucksvoll wie nur je stellten sich die einzelnen Züge den Blicken dar , kampffroh , heiter und zuversichtlich war die Stimmung. Der Himmel aber hielt schier gewaltsam an sich , obgleich das aufsteigende dichte Gewölk bald wie ein vollgesogener Schwamm aussah , und erst als der ganze Zug bis auf den letzten Mann in seinen Praterquartieren unter Dach gekommen war , brach das Unwetter los. Das konnte aber der Feier keinen Abbruch mehr tun , sondern bewirkte bloß , daß sich die Massen in den Sälen und Restaurationshallen enger zusammendrängten , sich inniger aneinanderschmiegten in fröhlicher Bekundung ihrer brüderlichen Solidarität.«216 Die Gasthäuser und Cafés im Prater gehören heute den Arbeitern. Im ›Braunen Hirschen‹ ist das Hauptquartier , wo sich sozialdemokratische Abgeordnete und Gemeinderäte einfinden. Im ›Schweizer Haus‹ versammeln sich Buchdrucker und Schriftsetzer , die Metallarbeiter sind im ›Ersten Kaffeehaus‹ etc. Man singt das Lied der Arbeit , die Marseillaise und andere Kampflieder , während sich draußen das Unwetter austobt. Die Genossen aus der Leopoldstadt inszenieren Jahr für Jahr im großen Saal des Dritten Kaffeehauses ein eigenes Künstler-Maifest. Hofkapellmeister Carl Michael Ziehrer höchstpersönlich dirigiert seine Walzerkompositionen und erntet rauschenden Beifall. Karl Hollitzer , Maler , Grafiker und Bühnenbildner , trägt »in seiner unübertrefflichen Eigenart« sozial berührende Lieder vor wie ›Der arme Konrad‹ oder ›Das Lied des Steinklopfers‹. »In Hollitzers Mund bleiben sie nicht bloß kleine Lieder , sie werden erschütternde Anklagen , weltgeschichtliche Verheißungen , aufwühlende Befreiungsschreie !«217 Dann stehen Tanzvorführungen auf dem Programm. Frau Gertrude Barrison zeigt »einige entzückende Kostümtänze. Es war mehr als dies. Es waren Tanzdichtungen. Es war eine Andacht über den ergriffenen Zuschauern. Die Schönheit der menschlichen Bewegung , der Adel des menschlichen Körpers mögen manchem in diesen 149
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Augenblicken zum erstenmal offenbar geworden sein.«218 Als Blitz und Donner nachlassen , beginnt um 17 Uhr der Abmarsch. Die Straßenbahnen am nahen Praterstern sind im Nu überfüllt. Einige Genossen eilen noch zu einem Ahornbaum in der Hauptallee , in den ein Blitz eingeschlagen hat. Sie nehmen ein Stück verkohlter Rinde mit nach Hause. Eine bleibende Erinnerung an das verhagelte Silberjubiläum der Arbeiter-Maifeiern in Wien. Beim Blick in die Parteizeitung wird manchem Genossen bewusst , dass es keine Selbstverständlichkeit war , am 1. Mai in Wien mitzumarschieren. Dieser Tag ist kein gesetzlicher Feiertag , die Arbeitgeber geben nolens volens frei. Der Druck der Masse zwingt ihnen dieses Zugeständnis ab. In Wiener Neustadt ist dies schon anders. Dort »muß alljährlich ein Kampf mit dem Neunkirchner Scharfmacherverband um den 1. Mai geführt werden. Auch heuer durften die Betriebe auf Befehl dieses Verbandes den Tag nicht frei geben , ohne die Arbeiter hierfür zu bestrafen , das heißt , sie auszusperren.«219 Schon am Vortag ließ die Firmenleitung der Wiener Neustädter Lokomotivfabrik durch Anschlag verkünden , dass jeder , der am 1. Mai dem Arbeitsplatz fern bleibt , die Konsequenzen zu tragen habe. Ansuchen werden rundweg abgeschlagen. Auch in Mödling bekommen die Arbeiter am 1. Mai nicht frei. Die Machtdemonstration der Sozialdemokratie wird von den in Wien herrschenden Christlichsozialen genau beobachtet. Die Reichspost will eine »diesmal sehr schwache« Beteiligung ausgemacht haben. Besorgt über die weitere Entwicklung ist man dennoch : »Was aber besonders die christlichsoziale Bewegung in Wien und außerhalb Wien interessieren muß , das ist die bedauerliche Tatsache , daß die Sozialdemokratie ihre besten Truppen aus den jungen Leuten zwischen dem Lehrlingsalter und der Mitte der Dreißiger bezieht. Das hat auch der diesjährige Maifestzug deutlich gezeigt : überwiegend jugendliche Gesichter , wenig alte. Freilich trugen sehr wenige der Teilnehmer das typische Aeußere des Arbeiters. Auch das ist ein Fingerzeig , daß die Sozialdemokratie immer größere Kreise , die man bisher gewohnt war , zu den sogenannten Bürgerlichen zu rechnen , in ihren Einflußkreis hereinbezieht … Mögen die berufenen Kreise aus diesen Tatsachen die selbstverständlichen Lehren ziehen und nicht untätig oder feige zusehen , bis es bei uns so weit kommt , wie in Frankreich.«220 Das Neuigkeits-Welt-Blatt , eine katholisch gefärbte Privatzeitung , kommt zu dem Schluss , die 1.-Mai-Feier sei »ihres ursprünglichen Zaubers längst entkleidet … Noch ist die Ernte fern , klagen selbst die Parteiführer und Zutreiber und die Enttäuschung in den Massen ist allgemein und groß. 150
Ein verhageltes Silberjubiläum
Noch haben die Maschinen nicht aufgehört Privateigentum zu sein , und die Glückseligkeitslehre der politischen Nutznießer der Roten vom sozialen Volksstaat , die alle in eine staatliche Zwangsjacke stecken will , hat fast völlig ihren Kurswert verloren. Der revolutionäre Sozialismus scheitert an seinem eigenen Programm.«221 Solche Bewertungen berücksichtigen allerdings nicht , dass es der Sozialdemokratie gelungen ist , ein eigenes Milieu aufzubauen , das sich als Gegenpol zur bürgerlichen Kultur und Lebensweise versteht. Eine Kultur , die dem Arbeiter Stolz und Selbstbewusstsein geben soll , mit dem Glauben an eine strahlende Zukunft , in der alle Fesseln von Bedrückung und Ausbeutung abgefallen sein werden. Geht der fromme Bürger sonntags in die Kirche , so sucht der Arbeiter sein Parteilokal oder das Arbeiterheim auf. Er ist in zahlreichen Vereinen organisiert , etwa im Radfahrer- , Fischer- oder Stenografenverein. Abgrenzung gegen die christlichen Vereine , aber auch gegen die bürgerliche Presse gehört zur Parteidisziplin , an die jeder Leser der Arbeiterzeitung täglich erinnert wird :
Abb. 63
Es ist für den überzeugten Parteigenossen auch selbstverständlich , im Konsumverein einzukaufen. Diese Organisation ist nach englischem Vorbild geschaffen worden , um den Waren verteuernden Zwischenhandel auszuschalten. 1901 als Konsumverband gegründet , ab 1905 Großeinkaufsgesellschaft Österreichischer Consumvereine , GÖC. Sein tägliches Brot stammt von den parteieigenen Hammerbrot-Werken in Schwechat , die als vorbildlich modern bei den Arbeitszeiten und in der Hygiene gelten.
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Abb. 64
Nur durch Bildung wird der Arbeiter eine Besserstellung in der Gesellschaft erreichen können. Diese Grundvoraussetzung versucht die Partei ihren Anhängern durch zahlreiche Initiativen zu vermitteln. Eigene Bildungsvereine , Kurse und eigene Arbeitervorstellungen in Theatern dienen diesem Zweck. In der Volksoper wirken die Wiener Arbeitersänger am Ostersonntag in Beethovens »Fidelio« sogar aktiv mit. Erfolg haben solche Initiativen allerdings nur , wenn man den Arbeiter vom Alkohol wegbringt , ihm klarmacht , dass Alkoholmissbrauch nur den Interessen des Kapitalismus dient. Die Abstinentenbewegung spielt in der Partei daher eine wichtige Rolle. Für Bildung und Kultur bleibt dem Arbeiter freilich wenig Zeit. In den meisten 152
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Branchen gilt der Zehnstundentag , der Samstag eingeschlossen. Zu den Hauptforderungen der Sozialdemokratie gehört deshalb an jedem 1. Mai der Achtdtundentag.
Abb. 65 : Ein Hauptanliegen der Sozialdemokraten : Befreiung durch Bildung
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»Ureigenstes Werk des Bürgertums«: der Blumentag Kaum sind die roten Fahnen , Standarten und Spruchbänder der Wiener Arbeiter eingerollt , beherrscht am nächsten Tag ein anderes Rot die Straßen Wiens : das Rot der Mohnblume. Sie ist dieses Jahr das Emblem für den Wiener Blumentag , an dem durch Verkauf von Stoffblumen Geld zur Unterstützung für Arme und Kranke gesammelt wird. Ein Appell an das »goldene Wiener Herz«, sein Scherflein zur Linderung der Not beizutragen , denn »Not und Elend sind seit dem letzten Blumentag nicht geringer geworden. Im Gegenteil , die verflossene krisenhafte Zeit hat hunderte von Menschen um Arbeit und Verdienst gebracht , hat Krankheiten und Kummer vermehrt statt vermindert«,222 gibt man in der Reichspost offen zu. Trotz des kühlen und windigen Wetters sind schon ganz früh an diesem Samstagmorgen Tausende meist junge Mädchen paarweise unterwegs , um für mindestens zehn Heller pro Stück Mohnblumen zu verkaufen. Schwer ist ihr Einsatz für eine gute Sache nicht , denn »niemand sagt nein und schon um 10 Uhr vormittags scheint es , daß kein Mensch ohne rote Mohnblume ist. Und immer wieder wirkt es rührend , wenn man kleine Leute aus dem Volke , Schwerkutscher , Mistbauern und Straßenkehrer mit einer oder gar mehreren Blumen im Knopfloch , hinter den Ohren oder im Hutband sieht. Die Wiener Geschäftsleute haben heute mehr noch als in den Vorjahren die Mohnblume für die Dekoration ihrer Schaufenster verwendet und besonders in den Stadtgeschäften sieht man sie zu geschmackvollen und lebhaften Arrangements zu tausenden als Sträuße , Ketten oder Unterlagen.«223 Die symbolisch erste Blume gebührt dem Kaiser , die von Prinzessin Rosa Croy überbracht und von Generaladjutant Graf Paar entgegengenommen wird. Der Kaiser spendet 300 Kronen. Wer von den gesellschaftlichen Größen wie viel gespendet hat , ist in der Zeitung zu erfahren. Für Aufsehen sorgt eine junge Dame , die im Stephansturm 343 Stufen hinaufklettert und oben den Türmer und den Feuerwächter um eine Spende bittet. Montag , der 4. Mai 1914 , steht dann im Zeichen der blauen Anämone. Verkauft wird sie vorwiegend im Prater und in den äußeren Bezirken. Keinen Erfolg haben Deutschnationale mit ihrem Versuch , die »Deutschen Wiens« zum Tragen von Kornblumen anstatt der Mohnblume zu bewegen.
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»Ureigenstes Werk des Bürgertums«
Abb. 66 : Sammeln für den guten Zweck: der Blumentag
Sehr kritisch bewerten die Sozialdemokraten den Blumentag , er ist für sie »das ureigendste Werk des Bürgertums«. Die Arbeiterzeitung fragt : »Was wird an diesen Tagen geleistet ? Nichts. Ein Meer will man mit ein paar Löffeln ausschöpfen. Die Blumentage zeigen , wie ratlos , wie ohnmächtig das Bürgertum dem Elend gegenübersteht , das der Kapitalismus über die Arbeiter gebracht hat. Sie zeigen noch mehr : daß die Besitzenden die Wohltätigkeit herzlich satt haben. Denn was sind die Blumentage anderes als ein Versuch , die Kosten der Wohltätigkeit auf die breite Masse abzuwälzen ? Die Aristokraten und die Geldprotzen , die sich sonst mit allen vieren gegen den Fortschritt der Demokratie wehren , betreiben nun die Demokratisierung der Wohltätigkeit : Kutscher , Dienstmänner , Amtsdiener , kleine Beamte , Arbeiter bringen einen sehr großen , wenn nicht den größten Teil der Summe auf , die an einem solchen Blumentag eingeht. Die Herren und Damen aber , von denen so mancher und so manche mehr hergeben könnten , als an einem Blumentag einkommt , begnügen sich damit , ihre Namen herzugeben : sie bilden das Comité , das den Blumentag veranstaltet. Und daneben kommen noch Hunderte , Tausende kleinere und kleinste Eitelkeiten auf ihre Rechnung. Man verschafft sich ohne größere Auslagen das Bewußtsein , eine Tat getan zu haben , und man hat den 155
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Armen gezeigt , was die christliche Nächstenliebe zu leisten vermag und wie gut es für sie ist , wenn sie sich den Besitzern dieser Tugend nur unterwürfig und demütig nahen. Und die Hauptsache ist : es bleibt alles beim alten , die ganze kapitalistische Gesellschaftsordnung mit allen ihren Herrlichkeiten bleibt unangetastet.«224 Und die Arbeiterzeitung weist darauf hin , dass die Blumenarbeiter die Stoff blumen zu einem niedrigeren Lohn als sonst anfertigen mussten. Für 1. 000 Stück werden 24 Kronen bezahlt , 1913 waren es noch 26 Kronen. Das sei Wohltätigkeit auf Kosten der Arbeiterschaft.
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Nostalgisches Gedenken: 100 Jahre Wiener Kongress Hundert Jahre sind es her , dass nach dem Sieg über Napoleon im September 1814 der Wiener Kongress zusammentrat , um das kriegserschöpfte Europa neu zu ordnen. Österreich , von Napoleon zu einer Mittelmacht degradiert , erstand damals neu , größer und geschlossener als zuvor. Ein einheitliches Kaisertum Österreich und kein zweigeteiltes Reich Österreich-Ungarn , eine Hauptstadt und nicht zwei , keine ständig auf Machtausweitung versessenen Ungarn , keine rabiaten Tschechen , keine aufsässigen »Dienstboten-Völker«. Deutschland und Italien geografische Begriffe , in denen sich Österreich die Vormachtstellung gesichert hatte. Das Gleichgewicht der fünf großen Mächte in Europa hergestellt , dank dem diplomatischen Weitblick Fürst Metternichs , dem »Kutscher« Europas , so sieht man die Welt vor hundert Jahren und denkt wehmütig an die »gute alte Zeit«. Das Hundertjahrjubiläum Wiener Kongress wird natürlich gefeiert. Wieder ist es Fürstin Pauline Metternich , die hier die Initiative ergreift und in den Blumensälen am 21. März 1914 und an den beiden folgenden Tagen eine »Alt-Wiener Walzerjause« veranstaltet. »Fürstin Metternich wollte die Alt-Wiener Walzerjause als wirkliches AltWiener Genrefest haben , und sie hat es durchgesetzt , daß man sich vom Eingang bis in den letzten Saalwinkel wirklich in dem lieben alten Wien befand … Daß die ganze weibliche Hilfsschar der Fürstin Metternich , dieses große Patronessen- und Damenkomitee im AltWiener Kostüm erschien , ist selbstverständlich. Und es wurde einem ordentlich ein wenig weh um’s Herz , wenn man sah wie lieblich diese Tracht , wie herzinnig , weiblich und doch zugleich dekorativ sie ist. Niemals gefielen einem die jungen Mädeln der Wiener Gesellschaft so gut wie heute , im Reifrock und Alt-Wiener Hut , niemals aber sehen auch alte Damen so lieb und freundlich aus wie in dieser Tracht … Der Clou war eine Szene ›Der Kaffeeklatsch‹, die Herr Edmund Skurawi auf die Anregung der Fürstin Metternich hin geschrieben hatte. Um einen echten Wiener Jausentisch sitzen vier Klatschbasen … Es entwickelt sich ein echter Kaffeeklatsch , der wie es scheint , wirklich ausgestorben ist. Denn heute klatscht man nicht mehr am Kaffeetisch , sondern sagt im Vorbeigehen beim Tee kleine Malicen. Das breite behagliche und ausführliche ›Dischkurieren‹ und ›Ausrichten‹ ist eine seßhafte Angelegenheit , zu der man sehr viel Kaffee trinken und selbstgemachten Gugelhupf essen muß. Ein entzückendes , drolliges Geschnatter entwickelt sich an dem Tisch , bei dem es an harmlos-bos157
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haften Bemerkungen gegen allerlei Damen und Herren der heutigen Gesellschaft nicht fehlt. Wenn aber eine der vier Klatschschwestern sich zu der Behauptung versteigt , daß die ›Fürschtin Paulin‹ den Tango in Wien eingeführt hat , so jubelt das Publikum vor Vergnügen.«225 Carl Michael Ziehrer hat eigens einen »Alt-Wiener Jausenwalzer« komponiert und dirigiert ihn bei diesem Fest. Tosender Applaus am Ende ist nicht zuletzt eine Huldigung an die alte , nimmermüde Fürstin , die in grau-seidenem Kostüm und einem mit Veilchen geschmückten gelben Strohhut erschienen ist.
Abb. 67 : Angeblich ihr wirklich letztes Fest : Fürstin Pauline Metternich ( Bildmitte ) bei der von ihr arrangierten »Alt-Wiener Walzerjause« im März 1914
An das Wien der Kongresszeit erinnert man im Prater zu Füßen des Riesenrades im sogenannten Kaisergarten ( z wischen Hauptallee , Praterstern und Ausstellungsstraße , heute unverbaut ). »Das ehemalige Venedig in Wien , durch die finanzielle Mißwirtschaft der letzten Jahre noch in wenig angenehmer Erinnerung , ist endgültig dem Erdboden gleich gemacht worden , und aus dem Trümmerhaufen des Zusammenbruches ist eine neue Stadt erstanden : das alte Wien der Kongreßzeit … Wenn man den Kaisergarten durch den Haupteingang betritt , passiert man eine Triumphpforte , eine getreue Nachbildung jenes Bauwerkes , durch welches Kaiser Franz I. am 16. Juni 1814 nach seiner Rückkehr aus Paris unter dem brausenden Jubel der Bevölkerung in die Stadt einzog.«226 Da sind sie plötzlich wieder , 158
Nostalgisches Gedenken
die viel geliebten Wahrzeichen , denen von roher Demoliererhand der Garaus gemacht wurde : das alte Burgtheater , das Kärntnertortheater , das Taschnerhaus am Lichtensteg , das Haus zum Küssdenpfennig , das Fasszieherhaus , der Klepperstall auf der Mölkerbastei , der Ledererhof , das Landständehaus in der Herrengasse , das Hundsturmschlösschen in Margareten etc. Im nachgebauten Apollosaal , Ort glanzvoller Feste während des Wiener Kongresses , kann getanzt werden. Im alten Burgtheater werden Kammerspiele aufgeführt.
Abb. 68 : Das alte Landständehaus in der Herrengasse
Abb. 69: Das alte Burgtheater , das 1888 / 8 9 abgebrochen wurde
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Eingebettet in die hölzernen Reminiszenzen liegt ein eigens errichtetes Theater der Moden , »in dem die Wandlungen der Mode im neunzehnten Jahrhundert durch Künstlerhand vorgeführt werden«227. Ebenso neu ist ein großes Festspieltheater mit einem Fassungsraum von 1. 500 Personen und einer in drei Etagen aufgebauten Bühne , »welche nicht nur ein Massenaufgebot von Mitwirkenden , sondern auch Wagenauffahrten und Reiteraufzüge gestattet. Hier gelangt ein großes patriotisches Festspiel zur Erstaufführung … So hat Wien für den Sommer 1914 wieder sein großes Ereignis.«228 Hundert Jahre Wiener Kongress wird mit einem eigenen Blumenkorso unter der Devise »Alt-Wiener Praterfahrt« ( ohne Kostümzwang ) gefeiert. Zu Tausenden stehen Schaulustige in der Praterhauptallee , um am Dienstag , dem 2. Juni 1914 , die rollende Farbenpracht zwischen Praterstern und Lusthaus zu bestaunen und zu applaudieren. Offene Equipagen , Benzin- und Elektrowagen sowie Gruppenwagen prangen im Dekor der verschiedensten Blumen , ob rosa oder blaue Hortensien , rote und gelbe Rosen , Maiglöckchen , Akazien- oder Kirschblüten , Goldregen etc. Es beteiligen sich 166 Wagen und 36 Automobile.
Abb. 70
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Nostalgisches Gedenken
Eine Jury bewertet die schönsten Wagen , deren Besitzer sich über wertvolle Preise freuen können , wie einen silbernen Tafelaufsatz , 150 Kronen in Gold , eine Emailarmbanduhr , silberne Blumenvasen oder Fayancejardinieren. Auch das Thronfolgerpaar ist gekommen , allerdings bloß als Zuseher und »wiederholt Gegenstand rauschender Ovationen«229 , wie die Reichspost berichtet.
Abb. 71 : Hoher Besuch bei der »Alt-Wiener Praterfahrt«: Der Präsident des Festkomitees Gemeinderat Schäfer begrüßt das Thronfolgerpaar
Abb. 72 : Der mit dem 1. Preis ausgezeichnete Gruppenwagen »Alt-Wien«
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Zu dem nostalgischen Blick zurück »muss« es auch die passende Melodie geben. Und tatsächlich kann man nirgendwo einem »Ohrwurm« entgehen , da er in keinem Repertoire einer Musikkapelle in diesem Frühjahr 1914 fehlen darf : »Wien , du Stadt meiner Träume«, dessen Refrain sich besonderer Beliebtheit erfreut : Wien , Wien , nur du allein , sollst stets die Stadt meiner Träume sein , dort wo die alten Häuserln stehen , dort wo die lieblichen Mädchen gehen. Wien , Wien , nur du allein , sollst stets die Stadt meiner Träume sein. Dort wo ich glücklich und selig bin , ist Wien , mein Wien , mein Wien. Wessen Auge wird da nicht feucht bei diesem Lied , so süß , so wehmütig , so einschmeichelnd , dass man mitsingen , zumindest aber mitsummen muss. Da stehen sie wie von Zauberhand vor dem geistigen Auge , die alten Häuserln , die alleegeschmückten Basteien. Weg , alles weg ! Da tauchen in der Fantasie auch die lieblichen Mädchen auf , mit ihren Korkzieherlocken , ihren rosenroten Wangerln , in den halblang gebauschten Röcken. Einfach zum Anbeißen ! Dass das Lied von dem Juristen Dr. Rudolf Sieczynski komponiert wurde , weiß kaum jemand. Trotz der allerorten spürbaren Modernität des zur Millionenstadt angewachsenen Wien sind im Alltagsleben noch immer Relikte aus der »Nachtwächterzeit« vorhanden , wie sie in den Stücken Nestroys vorkommen , wie etwa der Laternanzünder. Die großen Straßen werden schon längst von elektrischen Bogenleuchten erhellt , in vielen Seitengassen ist aber in der Dämmerung ein Mann in weißem Mantel und langer Stange unterwegs , der sich darum kümmert , die Laternen anzuzünden oder zu löschen. Seinem Berufsstand macht der technische Fortschritt den Garaus. »Zuerst ritten die elektrischen Bogenlampen eine Attacke auf sein Gasreich. Aber erobert haben sie es nicht. Sondern das Gasreich machte sich auf die ›Strümpfe‹, auf die glühenden [ gemeint ist das von Carl Auer von Welsbach entwickelte Gasglühlampenlicht , Glühstrumpf genannt , Anm. ]. Und dann war es ein Kleinkrieg mit wechselndem Erfolg. Und manche Stadt eroberte sich das Gas zurück. Milder blieb sein Machtbereich und traulicher als die kalte Pracht des Elektrolichtes. Schossen dessen Lichtergarben auf den großen Plätzen und in breiten Parvenüstraßen umher – so blieb der Gaslaterne ihr friedlicherer Bereich daneben. Und die alten Laternenanzünder 162
Nostalgisches Gedenken
bedienten sie nach wie vor. Jetzt ist das auch vorbei. Die Laternenanzünder sind tot. Obwohl das Gas noch brennt. Man hat die Diener tot gemacht , ehe noch das Gas gestorben war … Jetzt ist eine Minute vor sechs Uhr , und die Dämmerung wird schon dick und schwer. Da – nun schlägt es sechs , und kein Laternenanzünder tritt hallt in der stillen Straße. Plötzlich – Whhufff ! Da flammt das Licht der alten Gaslaterne. Flammt ganz von selbst. Hatte keinen Menschen nötig. Braucht keinen langen Zeigefinger mehr aus Holz , an dessen Ende sich das umgitterte Anzündeflämmchen mit Menschenwillen zu ihm neigte , damit die alte Gaslaterne brenne. Wie ist das möglich ? In der Gaslaterne brennt auch tags ein kleines Dauerflämmchen. So winzig klein , daß es keiner sieht am Tage. Und neben diesem Ewigfünkchen haben sie ein dunkles Uhrgehäuse angebracht. Da drinnen tickt es , tickt es. Und des abends , wenn es sechs Uhr ist , löst diese Uhr von selbst den Hebel aus , der die Laterne strahlen läßt. Whhuufff ! Später , gegen zwölf Uhr , wenn die braven Bürger in den Betten sind , stupft dieselbe Uhr die Gaslaterne wieder : Whhiifff ! Und jede zweite Gaslaterne löscht sich selber aus. Die anderen kriegen morgens gegen Frühlicht einen weiteren Stoß von ihren Uhren : Whhiiffff ! Brennt keine Gaslaterne mehr in der ganzen Stadt. … Ach , der Laternenmann ist tot !«230
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Abb. 73
Gar nicht romantisch ist der Brauch des »Sperrsechserls«: Wer abends ausgeht , ärgert sich immer wieder , dass er nicht im Besitz eines Haustorschlüssels ist , der es ihm ermöglicht , wann immer er will , nachts 164
Nostalgisches Gedenken
heimzukehren – unbemerkt und auch ohne Zwang , dafür ein Einlassgeld entrichten zu müssen. Ab 22 Uhr muss man den Hausmeister herausläuten und ihm für diesen Dienst zu nachtschlafener Zeit das »Sperrsechserl« zahlen. Längst sind es 20 Heller , doch im Sprachgebrauch ist es bei der altvertrauten Bezeichnung geblieben , als noch in Gulden und Kreuzern statt jetzt in Kronen und Hellern bezahlt wurde. ( Das Sechserl war der sechste Teil eines Gulden , der 60 Kreuzer ausmachte , Anm. ) Wer knapp bei Kasse ist , vermeidet es tunlichst , das Sperrsechserl zahlen zu müssen , mag es im Wirtshaus oder im Theater noch so schön sein. Theater setzen ihre Vorstellungen deswegen früher an. In manchen Fällen beginnen sich die Zuschauerräume nach 21.30 Uhr deutlich zu lichten. Mit einem modernen Großstadtleben lässt sich ein solcher Brauch nicht vereinbaren , denn es ist ein »grotesker Zwang , einem Herrn im Nachtgewand Entree zu zahlen , wenn wir nach zehn in unsere Wohnung wollen«, geißelt Felix Salten die »Hausmeisterplage«.231 »Es gibt aber keine Hoffnung , dass der Stadtrat daran etwas ändert , daß er dieses fossile Hindernis aus der Nachwächterzeit beseitigt , uns vor all den Mißhelligkeiten und Gefahren , die das Wachläuten des Hausmeisters bei Erkrankungen oder Unglücksfällen mit sich bringt , ist Anno 1914 wohl zu viel verlangt«232. Und Salten hat schon eine Erklärung bereit , warum alles beim Alten bleiben wird. Denn die herrschenden Christlichsozialen würden bei einer Abschaffung des Sperrsechserls »mit den Tausenden Wiener Hausmeistern ebenso viel tausend Wählerstimmen verlieren und das darf man einer Macht , die sich selbst so innig liebt , nicht zumuten«233.
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Unvermindert in Gefahr: Alt-Wien Was ist vom viel gerühmten , viel besungenen Wien aus der Zeit vor dem Fall der Basteien tatsächlich noch vorhanden ? Nicht nur in der Ringstraßenzone ist die Stadt ganz anders geworden , auch die Innere Stadt bietet einen völlig neuen Anblick. In der verbreiterten Kärntner Straße sind nur das einstige Palais Esterházy , die Malteserkirche und das anschließende Eckhaus zur Johannesgasse übrig geblieben. Der Stephansplatz ist ebenso erweitert worden und an seiner Westseite von doppelt so hohen Häusern wie ursprünglich gesäumt. Am Graben erinnert bloß noch die schmale Seitenfront des Palais Bartolotti-Partenfeld an frühere Zeiten. Den barocken Trattnerhof hat man 1911 demoliert und an seine Stelle einen zweiteiligen spiegelgleichen Neubau gesetzt. Nur die Mölkerbastei mit dem Dreimäderl- und dem Pasqualati-Haus sowie die Albertina-Bastei geben eine Vorstellung , wie das mauerumgürtete Wien ausgesehen hat. Auf einem Gang durch die Stadt stößt der Altstadt-Liebhaber im Jahr 1914 immer wieder auf hässliche Baulücken. Eine riesige klafft in der Herrengasse bis hinüber in die Wallnerstraße.
Abb. 74 : Nur noch Erinnerung : Die Stelle , an der bis Mai 1913 das P alais Liechtenstein mit dem berühmten Bösendorfersaal stand
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Unvermindert in Gefahr
Bis vor Kurzem stand hier ein Palais Liechtenstein mit dem in der Musikgeschichte legendär gewordenen Bösendorfersaal. Alle Proteste hatten nichts genützt , im Mai 1913 war seine musikalisch verbrämte letzte Stunde gekommen. ( Erst in den 1930er-Jahren sollte hier Wiens erstes Hochhaus gebaut werden , Anm. ) Einen traurigen Anblick bietet auch der Platz Am Hof. Das alte Kriegsministerium , einst Jesuiten-Kolleg , wurde 1912 abgebrochen , an seine historisch hoch bedeutsame Stelle ( h ier stand einst die Residenz der Babenberger , Anm.) kommt ein Neubau für die Länderbank. Auch das Palais der Nuntiatur ( päpstliche Gesandtschaft ) an der Südfront des Platzes musste 1913 weichen , um einem riesigen Bankneubau Platz zu machen.
Abb. 75 : Abbruch der alten Nuntiatur Am Hof 1913 mit Blick in die Naglergasse
Kein Zweifel : »Der unaufhaltsame Umwandlungsprozeß unserer Stadt hat im abgelaufenen Jahre große , nicht immer erfreuliche Fortschritte gemacht.«234 Der Fortschrittsgläubige mag »Genugtuung darüber empfinden , wie wir mit Siebenmeilenstiefeln auf dem Wege der Amerikanisierung , oder sagen wir es bescheidener : der Berlinisierung vorwärts schreiten … Aber vielleicht ist es Freunden der Wiener Eigenart gestattet , unserer heißgeliebten Vaterstadt als Neujahrswunsch zuzurufen , daß sie in das Jahr 1914 noch einen kleinen Rest ihrer selbst und ihrer schwindenden Schönheit hinüberretten möge.«235 Annagasse , 167
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Johannesgasse , Himmelpfortgasse , Weihburggasse und Franziskanerplatz bieten mit ihren Häusern und Palästen aus den Zeiten des Barock , Josephinismus und Biedermeier ein weitgehend intaktes Altstadtbild , ebenso Grünangergasse , Bäcker- , Sonnenfelsgasse oder Schönlaterngasse : In stiller Harmonie liegt der Heiligenkreuzerhof , Wiens ältestes Zinshaus. Aber gerade dieses Stück Alt-Wien ist in höchster Gefahr , demoliert zu werden. Eine Parallelstraße zur Kärntner Straße soll in Verlängerung der Akademiestraße quer durch die Innenstadt gelegt werden und beim Fleischmarkt in den Laurenzerberg münden.
Abb. 76 : Ein brutaler Plan : Der Straßendurchbruch parallel zur Kärntner Straße hätte den Abriss zahlreicher Alt-Wiener Häuser bedeutet
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Auch die Rotenturmstraße hätte dringend eine Entlastung nötig , finden die Verkehrsplaner. Dafür kommt nur die parallel führende Rotgasse infrage. Sie soll Richtung Donaukanal weitergeführt werden. Voraussetzung dafür wäre der Abriss der Häuser in der Seitenstettengasse , darunter Kornhäusels einzigartige Synagoge. Sie soll durch einen Neubau am Rudolfsplatz ersetzt werden. Quer dazu ist in Verlängerung des Fleischmarktes ein Straßendurchbruch bis zur Marc-Aurel-Straße geplant. Unzählige Alt-Wiener Häuser müssten also für solche Pläne geopfert werden. Denkmalfreunden graut es. Auch das Projekt der Riehlstraße , eine schnurgerade Fortführung der Praterstraße bis zum Stephansplatz , würde den Verlust einer großen Anzahl Alt-Wiener Häuser bedeuten. Doch Sentimentalität kann sich eine Großstadt wie Wien nicht leisten , sind die Verfechter des Fortschritts überzeugt. Denn es wird »für eine gedeihliche Entwicklung unserer Stadt als dringend notwendig erkannt , in der Altstadt mehrere Durchbrüche herzustellen , also jene Arbeit auszuführen , die zu den glänzenden Taten anderer Großstädte zählt«236. Bedauerlich , dass Wien kein eigenes Expropriationsgesetz ( Enteignung ) hat und sich »größtenteils nur mit Straßenverbreiterungen zufrieden gibt und somit täglich Gefahr läuft , die schlimmsten Präjudizien für die Zukunft zu schaffen«237. Nicht genug damit , droht auch dem äußeren Burgtor , jüngstes und einzig erhaltenes Stadttor , ein schmähliches Ende unter der Spitzhacke. An seiner Stelle , direkt gegenüber dem Maria-Theresien-Denkmal , ist die Aufstellung eines Reiterdenkmals für König Rudolf von Habsburg geplant. Seit 1905 sammelt ein eigenes Komitee Geld für die Verwirklichung des Projektes. Das Denkmal ist als Bindeglied zwischen der Neuen Hof burg und ebenso konkav angelegten Kolonnaden gedacht. Sie sollen dem Heldplatz seine Fassung geben. Auf den spiegelgleichen zweiten Flügel der neuen Hof burg , wie es Sempers Kaiserforum vorsah , hat man bereits verzichtet. Der erste Flügel ist 1913 endlich fertiggestellt worden. Der Ballhausplatz harrt seiner Neugestaltung , nachdem dort 1903 das alte Hofspital , das einstige Ballhaus , die längst profanierte Katharinenkapelle und der schon unter Joseph II. in ein Mietshaus umgebaute Ludwigschor der Minoritenkirche abgebrochen worden sind. Neubaupläne haben sich immer wieder zerschlagen , sodass eine dürftig mit Nadelhölzern begrünte Freifläche die klaffende Baulücke mehr schlecht als recht behübscht. ( Es sollte fast 80 Jahre dauern , bis auf diesem Grund ein modernes Ministerialgebäude errichtet wird , Anm. ) Auch die einstigen Vorstädte , nun die Bezirke 2 bis 9 , sind nach wie vor einem Wandel unterworfen. Auf der Wieden ( 4 . Bezirk ) wird zu 169
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dieser Zeit gerade das Freihaus abgebrochen. »In den letzten Jahrzehnten ist das Haus immer mehr und mehr vernachlässigt worden und die kleinen aus Zimmer und Küche bestehenden Wohnungen waren Vorbilder von Großstadtwohnungen – wie sie nicht sein sollen.«238 Niemand verschwendet einen Gedanken daran , das denkwürdige Haus , das die Stadt einst dem Verteidiger Wiens gegen die Türken , Gun dackar Graf Starhemberg und seinen Nachkommen »für ewige Zeiten« von allen Steuern befreit , geschenkt hatte , modernen Wohnbedürfnissen anzupassen. Das Freihaus mit seinen 31 Stiegen , sechs großen Höfen , Gärten , Ställen , Wagenschuppen und eigener Kapelle galt bisher als größtes Haus von Wien. Etwa 3. 000 Menschen hatten hier noch vor Kurzem gewohnt. Mozarts Gartenhäuschen , in dem er die »Zauberflöte« komponiert hatte , »ließ sich eine unverständige Gemeindeverwaltung leider nach Salzburg entführen«239 , bedauert die Arbeiterzeitung. ( A nstelle des Freihauses entstehen in den 1930er-Jahren die Wohnhäuser der verlängerten Operngasse , Anm. ) Noch schlimmer sind die Zustände im berühmt-berüchtigten Spittelbergviertel in Neubau ( 7. Bezirk ). Direkt hinter den Hofstallungen auf einer Anhöhe gelegen , drängen sich auf engstem Raum 138 niedrige Häuser. Spelunke reiht sich an Spelunke , in Extrazimmern bieten Prostituierte ihre Dienste an. Das einstige Kroatendörfl hatte schon in der Barockzeit einen »interessanten« Ruf , den auch hohe Herren in Verkleidung nachprüfen wollten. 1914 ist der Spittelberg ein heruntergekommenes Rotlicht-Viertel , ein klassischer Assanierungsfall. Eine solche Lösung plant auch die Gemeinde Wien , die seit 1795 Grundeigentümerin ist. Etwa 30 neue Häuser in zwei Blocks sollen hier errichtet werden. ( In den 1960er-Jahren zum Abriss bestimmt , wurde der Spittelberg ab 1975 vorbildlich saniert , Anm. )
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Abb. 77 Ein Stück Alt-Wien. Und fällt, wie alles fällt, Was noch verbindet mit den alten Tagen Mancher hat seine Jugend hin getragen, Und er bekam die Dirne als Entgelt.
Und mancher schauert, wenn er leise denkt: Von allen Dirnen, die er nahm zur Miete, Hat keine mit der Lüge ihn gekränkt Wie jenes Weib, vor dem er gläubig kniete.
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Für die Wiener Bilder ist der ungebremste Abbruch Alt-Wiener Häuser Anlass für eine Foto-Serie mit dem Titel »Verschwindendes Alt-Wien«
Abb. 78 : Die Spitzhacke wütet weiter : Blick über die alten Häuser der einst selbstständigen Vorstadtgemeinde Lichtental , seit 1850 Teil des 9. Bezirks , oben in der Ecke links : Die Brandgasse am Thury ; oben in der Ecke rechts : das Eckhaus in der Wiesengasse
Abschied nehmen heißt es 1914 von einem der letzten Privatparks auf adligem Grund. Betroffen ist der Modenapark auf der Landstraße ( 3. Bezirk ). Er schließt südlich an das gleichnamige Palais an , das seit dem Tod der Herzoginwitwe Adelgunde ( † 28. 1. 1914 ) Thronfolger Franz Ferdinand ganz zur Verfügung steht. Er hat aber kein Interesse an der wertvollen Immobilie. Damit steht ein Grundstück von 14. 300 Quadratmetern zwischen Beatrixgasse , Reisnerstraße , Strohgasse und Salesianergasse vor einer grundlegenden Neugestaltung. Im Mai 1914 legt der Stadtrat die Baufluchtlinien für die geplanten neuen Wohnbauten fest. Die Neulinggasse wird mitten durch dieses Gebiet zur Salesianergasse verlängert , der Rest des Gartens mit 100-jährigem Baumbestand soll als öffentlicher Park ausgestaltet werden. ( Das Palais wird 1916 abgerissen , an seiner Stelle steht heute das Gewerbehaus , Anm. ) Es ist eine Lösung , wie sie ein Jahrzehnt zuvor auch für den Arenbergpark getroffen wurde.
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Abb. 79 : Ohne Zukunft : das leer stehende Palais Modena , Zustand 1914
Und wie ist es um die gerühmten Vororte bestellt , die mit ihren Weinhauerhäusern und Heurigenlokalen der Inbegriff Wiener Eigenart sind ? Mit schonungsloser Offenheit geißelt der Schriftsteller Felix Salten die Zustände : »Mit unheimlicher Schnelligkeit vollzieht sich hier ein ungeheuerlicher Vandalismus. Gegenden wie Grinzing , Heiligenstadt , Sievering , Salmannsdorf , Neustift am Wald hätten in ihrem ausgeprägten Charakter , in ihrer wundervoll lieblichen Eigenart , in ihren durch Beethoven , Schubert , Grillparzer und Schwind geheiligten Traditionen geschont , geschützt , durch künstlerische Bauvorschriften erhalten und behutsam erneuert werden müssen. Das war die glatte Pflicht und Schuldigkeit einer hochmögenden Stadtverwaltung , die diese uralten Gemeinden übernahm. Aber niemand hat an diese Pflicht gedacht. Alle diese Orte wurden dem freien Belieben unwissender Baumeister , wurden auf Gnade und Ungnade emporgekommenen Maurerpolierern ausgeliefert und sind nun gräßlich entstellt.«240
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Wandel im Stadtbild: die Neubauten Wien wird im Jahr 1914 um einige bauliche Attraktionen reicher. Den Beginn macht das Amtshaus Hietzing ( 13. Bezirk , Hietzinger Kai 1–3 ), das im Jänner offiziell eingeweiht wird. Ein Bau von seltsam trutzigem Charakter in dem ansonsten von lieblichem Flair erfüllten Nobelbezirk westlich von Schloss Schönbrunn. Bürgermeister Weiskirchner ist von der geschmackvollen Ausstattung des Amtshauses sichtlich angetan , vom Kreuzgewölbe in der Eingangshalle und dem Stiegenaufgang zum Turm , der rot-braun-schwarzen Verfliesung in streng linearer Form im Hochparterre , der hölzernen Wandverkleidung und dem Messinggeländer im Hauptstiegenhaus , dem Festsaal in Marmorvertäfelung ( heute nicht mehr vorhanden , Anm. ). Das beflügle ihn , »mit aller Beschleunigung unser Rathaus auszuschmücken , weil sonst die Töchter die Mutter überflügeln würden … Mit der Einweihung des neuen Amtshauses ist eigentlich die Einverleibung [ H ietzing wurde 1892 Teil von Wien , Anm. ] erst perfekt geworden. Die Hietzinger haben ein Zentrum erhalten.«241 Theaterliebhaber freuen sich über eine neue Schauspielbühne : das Neue Wiener Stadttheater ( 8. Bezirk , Laudongasse 36 / Skodagasse 20 ), erbaut nach Entwürfen des renommierten Berliner Architekten Oskar Kaufmann.
Abb. 80 : Das neue Wiener Stadttheater in der Josefstadt : elegante Ecklösung nach Plänen von Oskar Kaufmann
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Wandel im Stadtbild
»Vornehme Schlichtheit , Streben nach schön wirkender Zweckmäßigkeit zeichnet den Bau aus«242 , lobt die Arbeiterzeitung. Eröffnet wird das neue Theater unter der Direktion von Josef Jarno mit Goethes »Vorspiel auf dem Theater« und Strindbergs »Wetterleuchten«. Alles , was Rang und Namen hat in der Schriftsteller- und Theaterszene Wiens , ist zur Generalprobe am 30. April 1914 geladen. Die Meinungen über die schauspielerischen Leistungen sind genauso gemischt wie über die Innenausstattung des Hauses. Durchwegs Anklang finden die bequemen in Violett gehaltenen Sitze im Parkett , das satte Gelb der Logenwände , die gute Sicht durch Schräganordnung der Sitze , die »eigenartigen« Luster. »Prachtvoll , ein Meisterwerk der Innendekoration ist der Buffetraum«243 , urteilt die Neue Freie Presse. Kein Gefallen findet ihr Berichterstatter hingegen am eisernen Vorhang , der »in fataler Weise an einen Linoleumteppich gemahnt«244. Er kommt aber dennoch zu dem Schluss , »am Heimweg trug wohl jeder im Gedanken die Überzeugung in sich , daß Wien von heute an eine neue Stätte hat , die Wert ist , daß dort wahre und echte Kunst gepflegt werde«245. ( Nach 1945 von den US-Besatzern als Rextheater geführt , danach von der RAVAG als Probebühne genutzt , wurde das Stadttheater 1961 abgerissen. An seine Stelle kam das Haus des Buches von Georg Lippert , Anm. ) Der Hohe Markt , Wiens historisch ältester Platz , bietet an seiner Nordostseite ein völlig neues Aussehen. Anstelle mehrerer Bürgerhäuser erhebt sich nun ein Büropalast der Lebens- und Rentenversicherungsgesellschaft »Der Anker«. Der Bau nach Plänen der Architekten Ernst Gotthilf und Alexander Neumann gliedert sich in zwei , im rechten Winkel zueinander stehende Teile , die durch einen Schwibbogen über den verlängerten Bauernmarkt miteinander verbunden sind. Das Besondere an diesem Schwibbogen ist eine aufwendig gestaltete Kunstuhr , die von dem Klimt-Mitschüler Franz von Matsch ausgeführt wurde. An einem aus Glas , Metall und Marmor zusammengesetzten Mosaik ziehen im Laufe von zwölf Stunden zwölf Figuren oder Figurenpaare vorbei , allesamt bedeutende Persönlichkeiten in der Geschichte Wiens , angefangen vom römischen Kaiser Marc Aurel bis zu Joseph Haydn. Zu jeder dieser Figuren , in Kupfer getrieben , vergoldet und bemalt , ertönt bei ihrem Erscheinen ein passendes Musikstück. Um 12 Uhr Mittag sind sie alle auf einmal zu sehen. Zu Hunderten strömen die Menschen täglich herbei , um sich das musikalisch untermalte Spektakel nicht entgehen zu lassen. Ab dem Sommer 1914 hat Wien damit eine neue Attraktion.
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Wien 1914
Abb. 81 : Ein neuer Publikumsmagnet : »Die Kunstuhr des Anker« am Hohen Markt
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Wandel im Stadtbild
Für Wiens Badekultur hat das Jahr 1914 einen besonderen Stellenwert , denn am 23. Mai 1914 wird das erste städtische Volks-Hallenschwimmbad in Hernals ( 17. Bezirk , Jörgerstraße 42–44 ), heute das älteste noch betriebene Hallenbad Wiens , eröffnet.
Abb. 82 : 1914 Wiens modernstes Bad : das Jörgerbad in Hernals
Im Äußeren dominiert der secessionistische Stil , dem Historismus hat Architekt Friedrich Jäckel kleine Zugeständnisse gemacht. Von den im 19. Jahrhundert angewandten Gusseisenkonstruktionen ist man bereits abgegangen , stattdessen wird korrosionsbeständiger Eisenbeton verwendet. Als technische Raffinesse kann aber das elektrisch verschiebbare Glasdach über der 25 × 12 Meter messenden Schwimmhalle gelten. Darauf setzt auch die Werbung der verantwortlichen Firma.
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Abb. 83
Noch eindrucksvoller verspricht das neue Dianabad in der Leopoldstadt ( 2. Bezirk , Obere Donaustraße 93–95 ) zu werden. Das 1810 von dem berühmten Architekten Jean Moreau errichtete »Baadhaus« hatte trotz mehrfacher Erweiterung , an der zuletzt auch Otto Wagner beteiligt war , modernen Anforderungen nicht mehr gerecht werden können. Seit 1913 wird an einem luxuriösen Neubau gearbeitet. Die Pläne stammen von Peter Paul Brang. Der Bildhauer Georg Leiseck ist beauftragt , Skulpturen zu schaffen. Obwohl sich das Bad 1914 erst im Rohbau befindet , werden schon Führungen abgehalten. Professoren der Technischen Hochschule kommen mit ihren Schülern ebenso wie Offiziere des Militärbauwesens. »Den technisch bedeutendsten Teil bilden die beiden Schwimmhallen , deren Größe alle bisherigen Anlagen dieser Art übertrifft.«246 Bemerkenswert seien »die neuen Konstruktionsprinzipien , welche in dieser Form hier zum erstenmal angewendet wurden und nicht unwesentliche Kostenersparnis , sondern auch eine mächtige Raumwirkung erzielen ließen. Die ganze Anlage gibt Zeugnis von den hohen Leistungen der österreichischen Baukunst und wird nach deren gänzlicher Fertigstellung eine architektonische und technische Sehenswürdigkeit weit über die Grenzen Wiens hinaus sein.«247 ( 1917 eröffnet , wurde das Dianabad und das vorgelagerte Hotel bei den Kämpfen im April 1945 schwer beschädigt. Der Badebetrieb wurde 1946 provisorisch wieder aufgenommen , Hotel und Bad in den 1960er-Jahren abgebrochen , Anm. ) Anstelle der früheren Alserkaserne ( 9. Bezirk ) befindet sich 1914 eine Großbaustelle , hier entsteht der Neubau der Österreichisch-Ungarischen Bank. Begonnen hat man mit dem Druckereigebäude. Der Entwurf des 178
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Otto-Wagner-Schülers Leopold Bauer ist im spätklassizistischen Stil gehalten. Wahrlich ein Kolossalbau »von antiker Größe , etwas das mitreißt. Einstmals bauten in so großem Stil Weltbeherrscher. Heute bauen so Banken , auch sie Souveräne. Dem Freund der Schönheit ist’s gleichviel ; wenn der Bau in seiner Vollendung dann nur ein edles Zierstück im Juwelenschrein von Frau Vindobona ist ! Und so wird es sein.« ( Das Druckereigebäude wurde fertiggestellt und zum Hauptgebäude der Österreichischen Nationalbank umfunktioniert. Das eigentliche Hauptgebäude kam nicht zur Ausführung , an seiner Stelle kam die Grünfläche Otto-Wagner-Platz , Anm. ) Zu den Neubauten des Jahres 1914 gehört auch die Lupusheilstätte ( 16. Bezirk , Montleartstraße 37 , heute ein Pavillon des Wilhelminenspitals ) nach Plänen Otto Wagners. Es ist ein streng funktionalistischer Bau , eingelegte schwarze Glasplatten geben der Fassade eine besondere Note. Auch eine neue Kirche prägt ab 1914 Wiens Stadtbild : die Donaufelder Pfarrkirche in Floridsdorf ( 21. Bezirk , Kinzerplatz 9 ) mit dem mächtigen 96 Meter hohen Turm. Sie wird im Juni anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des Stiftes Klosterneuburg feierlich eingeweiht. Die Pläne von Architekt Franz von Neumann führte Hof baumeister Josef Schmalzhofer aus. Die dreischiffige Hallenkirche mit Netzrippengewölbe auf Rundpfeilern ist eine Mischung aus Formen der Gotik , der Renaissance und der Moderne. Einheitlich neugotisch ist die Innenausstattung. Von der Tradition abweichende Formen und neue Konstruktionsmethoden machen aber vor dem Kirchenbau in Wien nicht halt. Die 1911 errichtete Schmelzer Pfarrkirche ( 16. Bezirk , Herbststraße 82 , ab 1930 »Zum Hl. Geist« ) ist der erste in Eisenbetonbauweise errichtete Sakralbau Mitteleuropas , betont schlicht , ohne Glockenturm , die fensterlose Fassade in Formen eines griechischen Tempels. Es konnte in Wien nicht ausbleiben , dass der verantwortliche Architekt Josef Plečnik dafür kritisiert wurde. Abgesehen von den neuen architektonischen Zierden stellt sich die Frage , wie die Stadtgestaltung Wiens insgesamt zu bewerten ist. Die Arbeiterzeitung hat viel auszusetzen : »Beim Ausbau Wiens wurden die neuen Stadtteile stadtbaulich so arg vernachlässigt , so sehr als nackte Notdurfts- und rein materiell spekulative Gebilde behandelt , daß wir uns nicht noch nachträglich auch die halbwegs von architektonischer Dispositionskraft angelegten Teile verpfuschen lassen wollen. Mehr als jede andere Großstadt ist Wien von äußerer Formlosigkeit bedroht ; es ist daher Pflicht jedes kulturbewußten Stadtbewohners , dem Weiterschreiten dieses Zersetzungs- und Auflösungsprozesses entgegenzuwirken … Der affektierte Schmuck kommt eher einer Verunzierung als einer Zierde gleich. Die schönsten Wirkungen erzielt die Stadt 179
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durch reine Architektur.«248 Julius Bittner , Komponist und Dichter , gehört zu den Kritikern des nach wie vor angewendeten Historismus : »Allerwärts verschandelt man dieses herrliche Wien. An allen Ecken bauen sie uns Ungetüme hin , an deren Fassaden Nixen und Putten ratlos herumkriechen , wo zwecklose Säulen angepickten Balustraden auf die Hühneraugen treten , wo ein längst vom Geist seiner Zeit verlassenes Barock mit einer von allen Grazien verlassenen Pseudorenaissance um den Platz an der Sonne einer beim Zuckerbäcker gekauften Gotik rauft , die mißtrauisch nach ein paar von einem Antiquitätenhändler verlorenen griechischen Ueberresten hinüberblinzelt.«249 Mehr als öffentliche Gebäude sind es die Privathäuser , die das Stadtbild prägen. Es sind die Fassaden der Neubauten , die Zeugnis von der vorherrschenden Baugesinnung ablegen. Es lässt sich 1914 nicht leugnen dass viele private Bauherren nach wie vor dem Historismus anhängen , obwohl er seit Längerem als überholt , verlogen und seelenlos bewertet wird. Im Arenberg-Viertel ( 3. Bezirk ) oder um den Alois-DraschePark ( 4. Bezirk ) sind jüngst Wohnhäuser entstanden , die ohne Weiteres in der Ringstraßen-Zone stehen könnten. Als ganz altmodisch wollen viele Bauherren doch nicht gelten , und so machen sie dem Jugendstil bei Torbögen , unter dem Dachgesims oder im Stiegenhaus Zugeständnisse. Dabei ist es sehr willkommen , dass der neue Baustil auf altbewährte Formen nicht verzichtet , sondern sie vielfach neu interpretiert , etwa mit Zopfgirlanden auf geschwungenen Giebeln oder mit den seit Barocktagen in Wien so beliebten Putti. Neu und ganz typisch für den Jugendstil , der einen starken Hang zu allem Jungen und Frühlingshaften hat , sind graziöse junge Mädchen- und Jünglingsfiguren , überdimensionale Mädchenmasken und reichlich floraler Dekor , manchmal auf Kacheln. Die Sonnenblume ist dabei eindeutig die Lieblingsblume des neuen Stils. Manchen Architekten ist das barock Gekurvte doch zu viel , sie bevorzugen flächige , streng geometrische Formen – je flächiger , desto mehr wird der Einfluss der Wiener Werkstätte ersichtlich. Größter Wert wird allgemein auf die kunsthandwerkliche Durchgestaltung der Häuser gelegt , vom Stiegen- und Balkongeländer bis zu Tür- und Torbeschlägen. Der Alltag soll von Kunst erfüllt sein – Kunst für eine betuchte Elite , nicht für den Durchschnittsbürger. Kann diesem Mischstil die Zukunft gehören oder wird man Häuser mit »nackten« Fassaden , ohne »Augenbrauen« über den Fenstern bauen ? Adolf Loos hat das mit seinem Bau am Michaelerplatz ( fertiggestellt 1912 ) vorgeführt und damit einen Sturm der Entrüstung entfacht. Für Traditionalisten stellen sich solche Fragen nicht , für sie kommt weder »hechste Secession« noch »Nudismus« infrage. 180
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Abb. 84 : Unverkennbares Merkmal des Jugendstils : Mädchenfiguren an Hausfassaden. Hier der »Rochushof« auf der Landstraße
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Eine wachsende Herausforderung: der »Verkehrsjammer« Die 2-Millionen-Metropole Wien hat ein akutes Verkehrsproblem , das gleich nach Neujahr 1914 für Zehntausende Bewohner schmerzlich fühlbar wird , als ein Schneesturm zu Verwehungen , Glatteis und Verkehrschaos führt. »Heuer ist es noch ärger als sonst , und während unsere Stadtväter in den gut geheizten und mit weichen Teppichen belegten Rathausräumen mit Emphase Wien für die bestverwaltete Stadt erklären , strauchelt draußen das Publikum auf dem eisglatten oder durch festgefrorene Schmutzklumpen hügelig gewordenen Pflaster oder friert in den Straßenbahnwagen , die in endlosen Reihen den Ring entlangstehen , ohne vorwärts zu kommen … ein kurz anhaltender Schneefall genügt , um den ganzen Verkehr einfach lahm zu legen.«250 Ist endlich der Frühling gekommen , so bleibt den Wienern Ärger mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auch nicht erspart. So macht die Arbeiterzeitung zu Pfingsten auf den »Wiener Verkehrsjammer« aufmerksam : »Schon an gewöhnlichen Sonntagen spielen sich an den Endstationen der Straßenbahn förmliche Kämpfe ab , da die städtische Straßenbahn viel zu wenig Wagen bereitstellt. Von der Endstation Nußdorf , zu der an Sonntagabenden Tausende von Ausflüglern vom Kahlenberg und von Klosterneuburg herabkommen , läßt die Straßenbahndirektion nur einzelne Wagen abfahren , sodaß man fünf , sechs Wagen vorbeifahren lassen muß , ehe man in einem heißen Kampfe einen Platz erobern kann. Auch von Grinzing und den anderen Endstationen vom Wienerwald ist der Verkehr ganz unzulänglich.«251 Keineswegs besser ist es um den Verkehr zum und vom Flugfeld Aspern bestellt. Bis zu 100. 000 Besucher strömen zu den Flugschauen dorthin. Es wurde viel versprochen , aber nichts gehalten : »Noch immer führt kein einziges billiges Verkehrsmittel bis auf das Feld , noch immer muß sich der Mann des Mittelstandes den Luxus eines Flugfeldbesuches durch einen enormen Aufwand an Zeit und Strapazen erkaufen , und die Gemeinde Wien hält es noch immer nicht für notwendig , ihren jetzt schon sehr stattlichen Park an Autobussen in den Dienst der Flugwoche zu stellen.«252 Es muss eine U-Bahn gebaut werden , darüber ist man sich im Rathaus klar. London , Paris , Berlin , selbst Budapest haben U-Bahnen , die dicht bebaute historische Zentren unterqueren. Doch welche Art von U-Bahn soll Wien bekommen ? »Es werden nicht alle Linien auf einmal gebaut werden , um die ganze Stadt zu gleicher Zeit aufzuwühlen und auch deshalb nicht , weil der Zuzug von fremder Arbeiterschaft 182
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die einheimischen Arbeiter stark beeinträchtigen würde. Mit der Untergrundbahnfrage muß auch eine großzügige Bodenpolitik betrieben werden. Diese Gründe müssen erst in den Besitz der Gemeinde kommen , und dann kann erst die Bahn gebaut werden. Wir dürfen nicht der Privatspekulation freie Hand lassen«253 , heißt es erläuternd in einer Gemeinderatssitzung. Besonders interessant aus heutiger Sicht ist ein Antrag von Stadtrat Schmid , bei der Projektierung der U-Bahn Vorsorge zu treffen für die Errichtung eines Personentunnels bei der Oper , und zwar im Zuge der Kärntner Straße – ein gedanklicher Vorgriff auf die heutige Karlsplatz-Passage. Die wichtigste Frage ist , wie sich das Projekt U-Bahn finanzieren lässt. Verhandlungen mit einem französischen Bankenkonsortium sind im Gange , ein Erfolg zeichnet sich bisher aber nicht ab. Mit ein Punkt in den Verhandlungen mit den Franzosen ist die Elektrifizierung der Wiener Stadtbahn. Auch bei diesem Projekt einer »Wiener Stadteisenbahn« waren Jahrzehnte vergangen , ehe es ab 1898 beziehungsweise 1901 der Öffentlichkeit zur Verfügung stand. Auf einer Länge von 89 Kilometern teils in Hoch- , teils in Tieflage verkehren die Züge der Stadtbahn auf der Wientallinie , der Gürtellinie , entlang des Donaukanals und auf der Vorortelinie , allerdings ausschließlich mit Dampflokomotiven.
Abb. 85 : Nur mit Dampf betrieben : die Stadtbahn , Zugsgarnitur in der Station Pilgramgasse
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Nicht wegzudenken aus dem Stadtverkehr ist der Stellwagen. Von Pferden gezogen , besorgt er linienmäßig den öffentlichen Verkehr zwischen Stadtzentrum und Vororten , zu oder zwischen den großen Bahnhöfen und auch zwischen den verschiedenen Vorstädten. Auf dieses Verkehrsmittel kann speziell eine Stadt nicht verzichten , die viele für Schienen nicht geeignete Straßen und Gassen hat. Die Standplätze des Stellwagens befinden sich meist vor großen Gasthöfen und Ausflugslokalen. Bis zur Einführung der Pferdestraßenbahn war der Stellwagen das einzige Verkehrsmittel für den »kleinen Mann«, weil es auch relativ billig war. Ein massentaugliches Verkehrsmittel kann 1914 nicht mehr mit Pferden betrieben werden. Die Umstellung auf Autobusbetrieb ist dringend notwendig. Die Voraussetzungen sind gut. 1908 hat die Gemeinde Wien das 1881 gegründete Stellwagenunternehmen »Vienna General Omnibus Corp. LTD« erworben und 1912 mit der Umstellung auf Autobusbetrieb begonnen. Seit Mai 1913 verkehren die benzinbetriebenen Autobusse vor allem in der Inneren Stadt.
Abb. 86 : Im Großstadtverkehr nicht mehr tragbar : ein Stellwagen
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Abb. 87 : Ein neues Fahrerlebnis für die Wiener : ein Autobus
»Endlich , nach verzweifelt langem Harren , als niemand mehr daran dachte , rollte der erste Autobus durch die staunenden Straßen. Die Wienschimpfer erblaßten und verstummten , als sie die stolzen Gefährte vorbeisausen sahen. Sie hatten Angst , ob das neue Verkehrsmittel sich auch behaupten werde. Der alte Stellwagen hatte so gut zu dieser Stadt gepaßt ; zum Sperrsechserl , zum Trinkgeldkreuzer , zum Fiaker ohne Tax’. Aber die Stadt Wien ist aus ewig langem Schlaf erwacht , in ihrem plötzlichen , unbegreiflichen Drang , alles Versäumte im Fluge nachzuholen , im wütenden Bestreben , um jeden Preis , endlich über Nacht Großstadt zu werden , hat abermals ein neues Vehikel in den Verkehr gestellt. In jenem gemütlichen Wiener Verkehr , der dadurch plötzlich ein ganz verändertes Aussehen bekommen hat. Zwischen den niedrig und flach überm Erdboden auf bescheidenen Rädern dahinrollenden Wagen aller Art , schieben sich farbige Kolosse , hoch aufragend , 185
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bunten Türmen gleich , von deren Gipfel eine Rauchfahne weht , auf deren Plattform eng gedrängt die Menschen sitzen und – je nach Temperament und Konstitution – überlegen lächelnd , behaglich oder ängstlich auf das Treiben tief unter sich herabschauen … Die Wiener haben zwar noch immer nicht die Untergrundbahn bekommen , dafür aber den Autobus mit der Imperiale , mit der Dachplattform.«254 Die Fahrt auf dem Oberdeck wäre ja ganz angenehm , wären da nicht die Tücken des Wiener Kopfsteinpflasters. Man wird ordentlich durchgeschüttelt , »daß man die Hölle der Seekrankheit nahen fühlt. Rauhes Rufen dringt von unten empor ; das Schrillen der Signalglocke der Trambahn , das Tuten der Automobile , Peitschengeknalle und Kutschergeschrei. Und man betet zu seinem Schutzpatron , daß er die Hand des Chauffeurs sicher sein lasse.«255 Am 1. Juli 1914 wird im Gemeinderat der Beschluss gefasst , die Linien Westbahnhof–Nordbahnhof , Ostbahnhof–Franz-Josephs-Bahnhof , Margareten–Landstraße und Hernalser Gürtel–Stephansplatz durchgängig mit Benzinautomobilen auszustatten , nur die Linie Stephansplatz–Volksoper wird vorläufig mit Elektrobussen betrieben. ( S eit 1908 verkehrt ein Bus mit elektrischer Oberleitung , O-Bus genannt , zwischen Salmannsdorf und Pötzleinsdorf , Anm. ) Der Auftrag für den Bau der neuen Autobusse geht an die vereinigten Firmen A. Fraß in Wien und die Nesselsdorfer Wagenfabriksgesellschaft. Die Kastenwagen ( Chassis ) werden größtenteils geschlossen , zum Teil mit offenem Oberdeck im Wege einer Offertverhandlung vergeben. Man hat sich also für Imperialwagen , wie sie schon seit 1865 in Betrieb stehen , nur in motorisierter Form entschieden. Die Anschaffungskosten betragen 2,8 Millionen Kronen. Die Heeresverwaltung leistet einen Beitrag von 5. 000 Kronen pro Wagen und sichert sich damit den Anspruch auf Requirierung im Kriegsfall. 1914 kann eine wichtige Verbesserung im öffentlichen Regionalverkehr gefeiert werden : die Preßburger Bahn geht in Betrieb. 15 Jahre hat es gedauert , bis die Idee des Zeichenlehrers Tauber Wirklichkeit wurde. Am Sonntag , dem 1. Februar 1914 , weiht Wiens Erzbischof Piffl in der Stationshalle Großmarkthalle ( heute Bahnhof Wien-Mitte ) die geschmückte Zugsgarnitur ein. Es ist ein Festtag für alle Kommunen entlang der Strecke : Schwechat , Maria Ellend , Regelsbrunn , Wildungsmauer , Deutsch-Altenburg , Petronell , Hainburg und Wolfsthal haben sich herausgeputzt. Ein Festessen im Carlton-Hotel in Pressburg ( damals Ungarn ) ist der feierliche Schlussakt dieses Tages. Die Pressburger Bahn ist von Anfang an ein Erfolg. Ob an Werk- oder Sonntagen , die Züge sind immer voll besetzt. Man fährt ohne Rußbelästigung , die 186
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braun-weißen Waggons sind bequem ausgestattet. Ab 1. Mai 1914 werden mehr Züge eingesetzt und die Fahrgeschwindigkeit auf 60 km / h erhöht. Etwa 2 ½ Stunden dauert die Fahrt Wien–Preßburg. Mit den zwei Schnellzugsgarnituren sind es sogar nur 2 Stunden 4 Minuten Fahrzeit. Theaterfreunde sind begeistert. Das Bürgertheater in Wien liegt unmittelbar neben der Endstelle Hauptzollamt in der Gigergasse. Wiener fahren gerne zu Theater- und Musikaufführungen nach Preßburg. Die Reichspost prophezeit : »Die Schnellbahn Wien-Preßburg geht tatsächlich einer großen Zukunft entgegen , es wird nicht lange dauern , dann werden die Donaugemeinden sowohl als Sommerfrischen als auch hinsichtlich der Approvisionierung Wiens dank des tadellosen Verkehrs auf dieser Bahn eine große Rolle spielen.«256 ( D urch den Eisernen Vorhang war die Städteverbindung nicht mehr möglich , seit 1946 fahren Züge nur noch bis Wolfsthal , Anm. )
Abb. 88 : Eine Freude für Theaterliebhaber : Pressburger Bahn in der Gigergasse
Wiens Bahnhöfe sind in die Jahre gekommen. Sieben Hauptbahnhöfe insgesamt sind Ausgangspunkt nach allen Teilen der Monarchie. Das älteste Bahnhofsgebäude hat die Kaiserin-Elisabeth-( West- )Bahn am Neubaugürtel. Es ist 1859 eröffnet worden. Neben der Südbahn gehört die Westbahn zu den am stärksten frequentierten Bahnlinien. Allerdings stehen nur vier Gleise in der Bahnhofshalle zur Verfügung. Dieser Zustand ist 1914 unhaltbar geworden. Der Umbau des Westbahn187
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hofes gehört damit zu den vordringlichsten Verkehrsprojekten. Geplant ist »ein achtgleisiger allen modernen Anforderungen entsprechender Etagenbahnhof. Die Kommissionierung des Projektes , für dessen architektonische Außengestaltung ein künstlerischer Wettbewerb ausgeschrieben wird , ist für den Frühsommer 1914 in Aussicht genommen.«257 Ein eigenes Problem ist der Verkehrslärm. Sogar »das einst so wirksame Alarmsignal der Feuerwehr geht unter dem tosenden Geräusch der zahlreichen Hupen unter , die das Publikum verwirren und durchei nanderhetzen , durch deren rücksichtslose Anwendung. Aber jeder Private glaubt , das Privilegium der Eilfahrt auf belebten Straßen zu erwerben , das früher aus gutem Grunde nur Gefährten eminent öffentlichen Interesses zustand.«258 Auch der weit gereiste Felix Salten stimmt in die Kritik am Verkehrslärm in Wien ein : »In London gibt es zwanzigmal so viel Autos wie in Wien , und es verstreichen Minuten , ehe man ein Hupensignal hört , indessen einem hier die Ohren gellen. In keiner Großstadt ist das Glockenzeichen , das Sausen , Heulen , Brummen und Stöhnen der elektrischen Straßenbahn so überlaut , so vernichtend , so mutwillig lästig wie in Wien.«259 Max Winter , der spätere Vizebürgermeister von Wien , stellt bei einem Besuch im weitaus größeren Berlin erstaunt fest : »Berlin ist eine weitaus stillere Stadt als Wien … Das ist zum guten Teil darauf zurückzuführen , daß Berlin immer mehr zum geräuschlosen Pflaster übergeht. Darin liegt aber nicht der einzige Vorteil des glatten Pflasters – glatte Flächen lassen sich besser reinigen und dieser zweite große gesundheitliche Vorteil ist noch höher zu bewerten als der andere.«260 Es ist ein rechter Jammer mit dem Zustand der Wiener Straßen , klagen vor allem erfahrene Automobilisten. Ihr Fahrzeug »ist eine scharfe , wenn auch schmerzhafte Kontrolle über den Zustand , in dem sich dieses Pflaster befindet. Die Schnelligkeit des Autos rückt gleichsam alle Gruben und Löcher näher aneinander. So erhält man nach einer kurzen Fahrt schon den interessanten Eindruck , als sei der Boden von Wien mit schadhaften Waschrumpeln ausgelegt.«261 Asphalt ist zwar schon im Gebrauch , mit dem »einige bevorzugte Straßen im CottageViertel überzogen wurden. Es wird aber schon bei zwanzig Grad Wärme so weich , daß man einsinkt.«262
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Abb. 89 : Noch immer unentbehrlich bei Transporten : Schwerfuhrwerke , hier ein Eiswagen
Bei Schwerfuhrwerken , mit denen Bier- und Milchfässer , Eisblöcke , Wasser oder Kohle transportiert werden , sind immer noch Pferde im Einsatz. Die Schwerfuhrwerke sind nur allzu oft überladen , aus Sicht von Felix Salten eine »Lastwagenschande«, die dringend abgeschafft werden müsste. In anderen Städten würden Schwerfuhrwerke »nur so viel laden , daß die Pferde noch leidig traben können … Bei uns aber , wo wir so viel steil aufsteigende Straßen haben und so viele enge Gassen , kommen die Pferde selbst auf ebener Strecke nur im langsamsten Schritt vorwärts. Wie es ihnen dann bergauf ergeht , weiß jeder Mensch in Wien , weiß jeder , der im Herbst oder Winter dazu verdammt ist , durch die Maria Theresienstraße oder durch die Hasenauerstraße zu gehen. Wer das kennt , der wird rasend , wenn die Zeit der großen Kohlen- und Eisfuhren wieder herannaht , der leidet fürchterliche Qualen , wenn das erbarmungslose Peitschenknallen wieder angeht und das ohnmächtige Aufschmettern der müden Hufe , und wenn das viehisch rohe , tief verhaßte ›Höööh !‹, ›Üöüüööh !‹ der Kutscher wieder urwüchsig durch die Straßen gröhlt. Aber das dauert weiter Jahr für Jahr.«263 Ähnlich schlecht ergeht es Hunden , die ebenfalls für Transportzwecke verwendet werden. Der Anblick der »Hundewagerln« bietet ein »erbärmliches Schauspiel , arme kleine Geschöpfe mit zitternden Flanken , heraushängender Zunge und irren Augen unter ihrer Last schier zusammenbrechen zu sehen , ohne daß sich irgend jemand darum küm189
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mert , ohne daß irgend jemand kontrolliert , was diesen unglücklichen Kreaturen , die wir ›unsere Freunde‹ nennen , aufgebürdet wird.«264 Ein amtliches Machtwort würde genügen und »die Tierschinderei in Wien , die schon ans Italienische grenzt , hätte sofort ein Ende«, beklagt Felix Salten. Seine Kritik verhallt ungehört. Ein schon gewohntes Bild im Wiener Straßenverkehr sind die Radfahrer. Seit 1897 ist das Fahrrad formalrechtlich als voll taugliches Verkehrsmittel anerkannt. Einst ein Sportgerät wohlhabender junger Herren , wird der »Drahtesel« mit Pneumatikreifen von Dunlop im Ämter- und Botenverkehr regelmäßig eingesetzt , vor allem von der Post und verschiedenen Firmen. Auch Polizisten und Ärzte benützen zur Erleichterung ihrer Aufgaben gerne ein Rad.
Abb. 90 : Aus Verkehr und Sport nicht mehr wegzudenken : das Fahrrad
Für die meisten ist die Anschaffung aber viel zu teuer. Die Sozialdemokraten haben früh den Wert dieses Fortbewegungsmittels erkannt und eine eigene Organisation , die Arbeiterradvereine ( 1893 ) gegründet ( aus ihnen geht später der ARBÖ hervor , Anm. ). Es wird bei den Genossen üblich , sonntags mit auf Raten gekauften Fahrrädern aufs Land zu fahren und das auch für politische Agitation zu nutzen. Die Christlichsozialen wollten da nicht nachstehen. Sie gründeten den »Verband Christlicher Radfahrer Österreichs«. Sehr angenehm ist Rad fahren in Wien allerdings nicht. Das berüchtigte Wiener Pflaster und die vielen Straßenbahnschienen bergen viele Tücken , besonders bei Regen. Auch der Fußgängerverkehr muss in einer Großstadt geregelt sein , speziell in den beliebten Einkaufsstraßen , die von Menschenmassen förmlich überquellen. Zu Jahresbeginn 1914 fällt aufmerksamen Fußgängern in der Stadiongasse , die als behördliche Experimentiermeile gilt , an einem Lichtbogenmast eine weiße elliptische Tafel mit der Aufschrift »Links gehen !« auf. Die Wiener sollen sich angewöhnen , 190
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auf den Gehsteigen nicht kreuz und quer , sondern geordnet links weiterzukommen. Links , so wie im gesamten Straßenverkehr üblich. ( Die Umstellung auf Rechtsverkehr kommt erst 1938 , Anm. ) Vorläufig ist es ein Versuch »an vereinzelten Punkten des stärksten Verkehres , wie in der Kärntner Straße , in der Rotenturmstraße , wo ein hynenhafter Inspektor sich bemühte der neuen Vorschrift vergeblich zum Durchbruch zu verhelfen«265. Die Wiener tun sich offensichtlich schwer , den Sinn solcher behördlicher Anordnungen einzusehen. Ist nicht alles schon überreguliert ? »An jeder Straßenecke steht ein Wachmann , der abwechselnd die Hände hebt. Oft hat er mehr Hände als Wagen da sind. Auf Fremde wirkt das direkt komisch.«266 Wozu der ganze Aufwand ? »Man gewöhne nur die Leute daran , selbst aufzupassen und es wird sehr gut gehen … Der Wiener ist gewöhnt , hübsch behütet zu werden … Man lasse ihn für sich sorgen und bald wird man die Wirkung spüren … Mehr ist nicht nötig , auch den Wiener zum Großstädter zu erziehen , der er endlich werden muß.«267
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Ein Privileg der Reichen: das Automobil Mehr als 6. 000 Automobilbesitzer verzeichnet das Büchlein »Die Wiener Auto-Nummern 1914«, herausgegeben vom »Allround-Sportsmen« Victor Silberer. Ein »unentbehrlicher Nachschlagebehelf«, der die Adressen und Telefonnummern von Firmen der Automobilbranche enthält. »Es ist sozusagen der automobilistische ›Lehmann‹ [ A llgemeines Adressenverzeichnis , Anm. ] Wiens … unentbehrlich in allen größeren Geschäften und Hotels sowie in besseren Cafés … Bisher war die Automobilbesitzerschaft in eine Art geheimnisvollen Dunkels gehüllt , jetzt ist der Schleier für alle Welt gelüftet«268 , berichtet das Wiener Montags-Journal. Bewundert und beneidet , aber auch viel kritisiert werden die Lenker der teuren Gefährte. Es ist die »erschreckende« Zahl der Verkehrsunfälle , die von Autos verursacht werden , welche Unmut erregt. Das Problem ist Gegenstand einer Anfrage im niederösterreichischen Landtag : Es sei geradezu lächerlich , wenn in Pressemeldungen immer wieder davon die Rede sei , der Verletzte sei »selbst ins Automobil gelaufen … Die meisten dieser Unfälle rühren von zu schnellem und unvorsichtigem Fahren her , das durch den tosenden Lärm des Hupens , welcher das Publikum auseinanderstieben macht , nicht entschuldigt wird.«269 Ein Automobilist der ersten Stunde , Graf Czernin-Morzin , habe in einem Zeitungsartikel selbst eingestanden , »daß in Wien mit einer Geschwindigkeit von 25–30 Kilometern gefahren werde«, und »daß man doch nicht 20. 000 Kronen für ein Automobil auslege , um mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 15 Kilometern zu fahren«270. Auch in der Umgebung Wiens werde Raserei zu einer furchtbaren Plage der arbeitenden Bevölkerung , ergänzt die Reichspost. Neuralgische Strecke sei die Triester Straße Richtung Semmering , sie müsse von Gendarmen permanent überwacht werden – zulasten der Steuerzahler und ohne wirklichen Erfolg. Auf der Neunkirchner Straße wurden »an einem einzigen Tag 483 Automobile gezählt , die mit allen möglichen Geschwindigkeiten durchfuhren , nur nicht mit solchen innerhalb der Grenzen der Regierungsverordnung … Außerdem klagen die Aufsichtsorgane über das Unkenntlichmachen der Kontrollnummern durch Beschmieren mit Oel und den darauf klebenden Staub.«271 Die neuesten Modelle werden bei der internationalen Automobilausstellung in Prag im April 1914 gezeigt. Hier sind von österreichischer Seite die Puch Werke aus Graz , die Wiener Automobilfabrik AG ( vormals Gräf & Stift ) und die Österreichische Daimler-Motoren AG Wiener Neustadt vertreten. 193
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Am meisten sind die Besucher von den Luxuslimousinen fasziniert. So glänzt Daimler mit einem Wagen »mit einer außerordentlich schneidigen Karosserie , schmal und bootartig gehalten , um möglichst wenig Luftwiderstand zu verursachen , entworfen von Prinz Elias von Parma , in lichttaubengrauer Lackierung und Clubpolsterung«272. Einen weltweit legendären Ruf als Produzent von Luxusautomobilen haben sich die englischen Rolls-Royce-Hersteller erworben.
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Luxus pur bietet ein »Double-Phaeton in schwarzer Lackierung mit handbreiter Vordereinfassung aus Naturmahagoni und feinem Goldlinienschnitt«273 , schildert der Berichterstatter der Neuen Freien Presse. Insgesamt zeigt die österreichische Automobilindustrie »in den letzten Jahren ein sehr erfreuliches Gedeihen und eine gesteigerte Tätigkeit«274. 1913 wurden 375 österreichische Personenkraftwagen im Wert von fast 5,9 Millionen Kronen exportiert. Aber was ist das alles gegen die Sensationsmeldungen , die man aus Amerika hört. Dort laufen im Ford-Werk in Detroit im Jahr 200. 000 Fahrzeuge vom Fließand , das in Europa noch nicht angewendet wird. Die Arbeiterzeitung rechnet vor , dass damit 670 Autos täglich produziert werden , also ein Auto pro Minute. »Und wer sitzt darin ? Ja so : da wehen keine grünen Damenschleier. Der in diesem Auto fährt , ist kein Vergnügungsmann. Nein , das ist ein Mann der Arbeit. Ford hat keinen Ehrgeiz im Bezug auf Luxusautos. Ford überläßt die Städte seiner Konkurrenz. Ford liefert seine zweimal hunderttausend an das platte Land der Farmer , zweitausend Mark ( oder 550 Dollar ) das Stück.«275
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Auf der seit 1910 jährlich stattfindenden Österreichischen Alpenfahrt erweist es sich , dass die neuesten Automodelle nicht nur für Ausfahrten 195
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in den Prater oder zum Semmering geeignet sind. Diese Fahrt ist nämlich ein echter Härtetest. Da geht es oft bei schlechtem Wetter über Saumpfade , entlang von Schluchten , holprigen Passstraßen , durch Dörfer , in denen eine 12-km / h-Beschränkung gilt.
Abb. 95 : »Helden der Straße«: Teilnehmer an der Alpenfahrt 1914 , rechts oben der Sieger James Radley
Nach zehn Tagen und 2. 900 Kilometern Strecke kommen die Teilnehmer am 23. Juni 1914 in Wien an. Ziel ist der Sitz des Österreichischen Automobilklubs am Kärntner Ring , vor dem sich die führenden Vertreter des automobilistischen Wien versammelt haben. Und da kommen sie , die verwegenen Bezwinger der Alpen , noch dazu viel früher als erwartet , die Wagen über und über mit Staub bedeckt , die Fahrer mit sonnengebräunten Gesichtern. Als Erster geht James Radley auf RollsRoyce durchs Ziel , gefolgt von August Rose ( Benz ), Graf Schönfeld ( F iat ) und Graf Thun-Hohenstein ( Benz ). Mit von der Partie ist August Horch mit einem Wagen der von ihm gegründeten Audi-Werke in Zwickau. Er hat 1903 den ersten deutschen Vierzylinder , 1907 den 196
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Sechszylinder gebaut. Unter den Teilnehmern ist ferner Ferdinand Porsche mit einem Austro-Daimler , den allerdings sein Fahrer Henschel steuert. Sie alle haben die Alpenfahrt ohne Strafpunkte absolviert. Auf die »Helden« geht bei ihrer Ankunft ein Blumenregen nieder. »Vielen der Angehörigen war allerdings der Spaß gründlich verdorben worden , da sie sich am Zielpunkt später eingefunden hatten , als die zu Begrüßenden , von denen die meisten inzwischen schon die Fahrt nach dem Arsenal [ wo die Wagen auf allfällige Gebrechen untersucht werden , Anm. ] angetreten hatten.«276 Letztlich tut das der Stimmung beim Abendempfang in den festlich beleuchteten Räumen des k. k. Österreichischen Automobilclubs keinen Abbruch. Man kann mit Recht stolz auf die Leistungen bei den drei großen österreichischen Alpenfahrten sein. 58 Pässe mit einer Maximalsteigung von 28 % wurden bewältigt. Von 204 gestarteten Wagen sind 166 ans Ziel gekommen. Im kaiserlichen Fuhrpark hat sich mittlerweile auch das Automobil seinen Platz erobert. Seit 1909 steht es bei Hof in Verwendung. Der Thronfolger und die jüngeren Erzherzöge verwenden fast nur noch Automobile , die dem alten Kaiser sein Lebtag lang suspekt bleiben. 1914 wird ein neues Hofautomobil in Dienst gestellt , ein Gräf & StiftBenzinwagen mit hölzerner Karosserie von der Hofwagenfabrik Armbruster , ein Vierzylinder mit 7. 400 Kubikzentimeter Hubraum , Vierganggetriebe mit Retourgang , elektrischen Scheinwerfern , 45 PS und 90 km / h Höchstgeschwindigkeit. ( Dieser sogenannte Kaiserwagen , den Kaiser Karl 1919 mit ins Schweizer Exil nimmt , ist das einzige der fast 50 Hofautomobile , das erhalten ist , Anm. )
Abb. 96: Genügt höchsten Ansprüchen : der Kaiserwagen , Baujahr 1914
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Hofautos genießen im Straßenverkehr eine Ausnahmestellung. Es besteht eine geheime Vorschrift für Wachleute , dass Lenker solcher Autos wegen Verletzung der Verkehrsvorschriften nicht angehalten und aufgeschrieben werden dürfen. Was man lange hinter vorgehaltener Hand gemunkelt hat , wird durch ein Gerichtsurteil indirekt publik. Man müsse Rettungswagen , die einen Unfall verursachen , den gleichen Ausnahmestatus wie Hofwagen einräumen , heißt es in der Urteilsbegründung. Für die k. u. k. Armee sind speziell die Autolastwagen interessant. In Wien produziert die Spezialfabrik A. Fross seit 1907 nach dem System Büssing in Lizenz solche Schwerfahrzeuge und auch Motoromnibusse. Hier werden in nach der modernen Technik eingerichteten Werkstätten Lkws von 2 ½ bis 5 Tonnen und Lastwagen von 7 bis 10 Tonnen hergestellt. Ein 10-Tonnen-Motorlastzug kann eine ganze Waggonladung auf einmal transportieren. Der Bau solcher Fahrzeuge wird von der Heeresverwaltung subventioniert. »Damit soll die Schlagfertigkeit der Armee durch einen möglichst großen Park von einheitlichen automobilen Fahrzeugen im Lande zur Verfügung haben , dessen sie sich im Bedarfsfall bedienen kann.«277 Kaufen kann einen solchen »Subventionslastzug« jedermann , er muss sich nur verpflichten , in einem Zeitraum von sechs Jahren sein Fahrzeug für Manöver zur Verfügung zu stellen. Dafür erhält er eine finanzielle Entschädigung. »Der Umstand , den Zug in Kriegszeiten abtreten zu müssen , fällt absolut nicht in die Waagschale , weil auch alle anderen nicht subventionierten Motorlastwagen aufgrund des neu in Kraft getretenen Kriegsleistungsgesetzes von der Heeresverwaltung im Ernstfall requiriert werden.«278
Abb. 97
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Schmutz , Staub und Rauch: die Großstadtübel Wien ist eine schmutzige Stadt. Davon ist freilich nichts zu bemerken , solange man sich in der Ringstraßenzone aufhält. Je weiter man aber in die Vorstädte kommt , »so verblaßt sehr rasch der gute Eindruck , den man von der guten Stube empfangen hat und man wird immer mehr gewahr , daß man in ein Haus des Schmutzes und der Lotterwirtschaft geraten ist … Die Kot- , Schnee- oder Staubplage ist uns in rührender Abwechslung fast das ganze Jahr über beschert«279 , geißelt der Journalist und erprobte Aufdecker sozialer Missstände , Max Winter , die Zustände in seiner Heimatstadt. Die Reaktion ist seiner Meinung nach typisch wienerisch : »Hunderttausend Wiener seufzen , schimpfen , raunzen – aber in das Geheimnis der Wiener Schweinerei einzudringen , vermag man nur dann , wenn man sich draußen [ gemeint ist das Ausland , Anm. ] herumtut und das Geheimnis zu ergründen sucht , warum draußen überall , nicht nur etwa in Berlin und seinen Nachbargroßstädten oder in Dresden , der reinsten Stadt der Welt , alles so sauber ist.«280 Wien hat »überall in Deutschland den Ruf einer schmutzigen , einer trotz weit günstigeren natürlichen Bedingungen ungesunden Stadt , und es werden die Wiener diese Urteile umso härter treffen , als sie richtig sind.«281 Diese unerfreulichen Zustände sind zum großen Teil auf mangelnde Organisation zurückzuführen. Die Wiener Straßenreinigung ist nicht zentral organisiert. Nur in sechs der insgesamt 21 Bezirke wird diese Aufgabe vom Magistrat wahrgenommen , in den übrigen 15 sind die gewählten Bezirksvorstehungen für die Reinigung am Tag zuständig. Nur die Säuberung bei Nacht ist seit 1911 zentralisiert. Felix Salten lässt kein gutes Haar an der städtischen Straßenpflege. Er spricht von »sanften Greisen , die wankenden Schrittes , mit kleinen Gießkannen und dünnen Beserln vergeblich den Versuch unternehmen , eine großstädtische Straße zu reinigen. Wir müssen noch froh sein , daß die gewissen drei schräg hintereinanderfahrenden Kehrmaschinen , die so fürchterlich viel Staub aufwirbeln und die offenbar nur dazu dienen , einen Wüstensturm zu imitieren , bei Tag nicht sichtbar werden , sondern die Gewohnheit der nächtlichen Raubtiere haben.«282
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Abb. 98 : Ein viel umstrittenes Gerät : die Straßenkehrmaschine
Abb. 99
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»Empörung ist hier nur der schwächste Ausdruck für die Gefühle , die man gegenüber den beispiellosen und unerhörten Verhältnissen empfindet«283 , schreibt die liberale Sonn- und Montagszeitung. Sie sieht auch eine eklatante Gefährdung der Gesundheit der Stadtbewohner : »Allenthalben wird der Kampf gegen die Tuberkulose propagiert , aber den Urgrund des Morbus viennensis – die Bezeichnung ist bezeichnend – will niemand erkennen … Wer das Unglück hat , gerade die Stelle zu passieren , ist rettungslos diesem Staubwolkenbruch preisgegeben. Er kann sich nicht flüchten , er muß diese Myriaden von Bazillen schlucken … Diese Art ›Reinigung‹ ist ebenso sinnlos wie frevelhaft. Sie ist der Urgrund des Morbus viennensis , sie züchtet ihn … Unzählige Beschwerden , von Verzweiflung diktiert , haben nichts gefruchtet … man müßte dem Bürgermeister und jenen vom Rathaus bei Tag und Nacht ohne Unterlaß , daß sie nicht zur Ruhe kommen , zurufen : ›Wie lange wollen Sie die Wiener Straßenschande noch dulden ?‹ «284 Äußerst unhygienisch ist die Praxis der Müllabfuhr. Sie besorgt der sogenannte Mistbauer , ein Privatunternehmen. An welchen Wochentagen er kommt , weiß man in jeder Straße und Gasse ganz genau. Ein Mann kündigt mit einem Glockenzeichen die baldige Ankunft des Mistwagens an. Wie auf Kommando eilen Hausfrauen und Dienstmädchen mit ihren »Misttrücherln« ( Mülleimern ) hinunter auf die Straße. Auf dem offenen Pferdewagen steht ein Mann , der den Mist auf die Wagenfläche leert. Ist der Wagen voll , dann geht es zu den Mistablagerungsstätten ( Deponien ) auf dem Laaer und dem Wiener Berg , am Bruckhaufen oder am Brettldorf. Mülltrennung gibt es in der Praxis bereits , denn Glas , Metall , Papier und Altkleiderstoffe ( Hadern ) sind zu wertvoll , um abgelagert zu werden. Sie werden aussortiert und verkauft. Diese Art des Mülltransports auf offenen Wagen sorgt durch die unvermeidlichen Staubwolken stetig für Ärger. Felix Salten fragt , wo da die Kultur einer Stadt bleibt : »Ich darf in einem öffentlichen Lokal nicht ausspucken , damit die Tuberkulose , die Morbus viennensis , wirksam bekämpft werden kann. Aber der Mistbauer darf mich , darf alle Menschen , darf spazierengehende Kinder mit ganzen Schwaden von Kehrrichtstaub überschütten , in denen , abgesehen von der sonstigen Unappetitlichkeit , die Bakterien von drei Dutzend Krankheiten herumwirbeln. Darf es in einer Stadt , in der so oft und so heftig der Wind weht , wie bei uns.«285 Seit Metternichs Zeiten hat sich also bei der Müllabfuhr nichts geändert , obwohl Wien mit seinen 2,2 Millionen Einwohnern zu den größten Städten der Welt zählt. ( Erst in den 1920er-Jahren wird das moderne Colonia-System eingeführt , Anm. ) 201
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Gar nicht zeitgemäß ist Wien auch bei der Reinhaltung der Straßen. Bislang gibt es keine öffentlichen Abfallkörbe. Häufig werden deshalb Obstabfälle , Speisereste oder Papier einfach auf der Straße weggeworfen. Das ist amtlich nicht verboten , aber längst nicht mehr tragbar. Erst im April 1914 beschließt der Stadtrat »Abfallsammler« flächendeckend einzuführen , nachdem eine Erprobung in der Mariahilfer Straße gezeigt hat , dass das Publikum sie tatsächlich stark frequentiert. Die Umsetzung des Projekts wird aber noch Jahre dauern.
Abb. 100 : Spät , aber doch : Die Aufstellung von » Abfallsammelkasten« beginnt
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Eine weitere gravierende Luftverschmutzung wird vom Kohlendioxidausstoß der Heizungen und der Dampflokomotiven von Bahn und Stadtbahn verursacht. Rauchwolken dringen in die Stadtbahnwaggons ein , »die bei der raschen Aufeinanderfolge der einander entgegenfahrenden Züge auf den Tunnelstrecken zur Zeit eines trüben und nebeligen Wetters nur sehr langsam entweichen und somit sowohl die Fahrgäste als auch das Zugsbegleitungspersonal sehr belästigen.«286 Versuche , das Übel mit Ventilatoren in den Griff zu bekommen , haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Es ist also vordringlich , die Stadtbahn auf elektrischen Betrieb umzustellen. Wer 1914 in die rot lackierten Züge der Stadtbahn einsteigt , weiß , dass die Fahrt nicht immer angenehm ist. Für vornehme Herrschaften ist sie ohnehin nichts , denn es gibt nur Waggons II. und III. Klasse. Die Züge verkehren wochentags mit sieben , an Sonn- und Feiertagen mit jeweils zehn Waggons. Sehr gepflegt sind die Züge ohnehin nicht. Man könnte in ihnen »bei einigem guten Willen im Schmutze ersticken«287 , heißt es in der Arbeiterzeitung. In der Budgetdebatte des Wiener Stadtrats im Mai 1914 wird Klage über die Verwahrlosung der Stadtbahnhöfe und über die mangelhafte Reinigung der Waggons geführt , »die einem Verkehrsmittel der Stadt Wien einfach Hohn sprechen«288. Es wird beantragt , diese Übelstände endlich zu beseitigen.
Abb. 101 : Ein Gegensatz , der auch den Karikaturisten reizt : die saubere Pressburger Bahn und die schmutzige Stadtbahn
Wer in der Nähe der Bahnhöfe und Gleisstrecken entlang der Stadtbahn in Hochlage wohnt , kann seine Fenster kaum öffnen. In den Häusern wird nicht nur geheizt , sondern auf gemauerten Küchenherden auch gekocht und Wasser heiß gemacht. Und das alles mit Kohle und Holz. »Die Rauchentwicklung der jetzigen Dampfkesselfeuerung ist besonders in den westlichen Bezirken skandalös. Dieser Rauch ist nichts anderes als unverbrauchte Kohle«289 und es sei »unbegreiflich , wie ein 203
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Industrieller zusehen kann , wie sein Geld beim Schlot hinausfliegt«290 , wird im niederösterreichischen Landtag in einem Antrag zur Bekämpfung der Rauchplage kritisiert. Dass es auch anders geht , zeigt die Heilanstalt am Steinhof und das Landeszentralkinderheim Gersthof. Deren Feuerungen sind mit modernsten Rauchverzehrungsapparaten ausgestattet. Das System funktioniert. Die Stadtbahndirektion will nun alle neuen Schnellzuglokomotiven mit solchen Rauchverzehrern ausstatten. Auch Versuche bei der DDSG sind zufriedenstellend verlaufen. Der niederösterreichische Landesausschuss wird deshalb im Mai 1914 beauftragt , ein Gesetz zur Verhütung der Rauchplage auszuarbeiten. Wie kann der kleine Mann den Übeln der Großstadt entfliehen ? Ein kleines Stückchen Grünland , auf dem man selbst Gemüse , Obst und Blumen ziehen kann , das ist sein Traum. Der Leipziger Arzt Dr. Daniel Schreber hatte Mitte des 19. Jahrhunderts die Idee , Brachland im Umkreis großer Städte in nutzbringendes Kulturland umzuwandeln. Eine große Anhängerschaft war ihm von Anfang an sicher , auch in Wien. Die größte Anlage ist im Rosental in Hütteldorf ( damals 13. , heute 14. Bezirk ) entstanden. Auch in Hirschstetten ( damals 21. Bezirk , heute 22. Bezirk ) hat der Verein »Die Gartenfreunde« auf einem Pachtgrund der Gemeinde eine Schrebergartensiedlung mit Trinkwasseranschluss und Kinderspielplatz errichtet. Hunderte Menschen verbringen hier mit ihren Familien in der schönen Jahreszeit jede freie Minute , um auf dem gepachteten kleinen Fleckchen Erde Licht , Luft und Sonne zu tanken und damit den bedrückenden Wohnverhältnissen der Mietskasernen zu entfliehen. Für viele ist der Schrebergarten auch eine echte Überlebenshilfe durch den Gemüseanbau. Verglichen mit deutschen Großstädten – dort hat sich die Bezeichnung Laubenkolonien eingebürgert – ist Wien in der Entwicklung deutlich zurückgeblieben. Vielfach scheitert die Anschaffung eines Schrebergartens auch an den schlechten Verkehrsverbindungen in die äußeren Bezirke Wiens. Zu kompliziert , zu teuer sind Hin- und Rückfahrt mit der Straßenbahn , speziell für kinderreiche Familien. »Unser Verkehrswesen bedarf also dringend der Ausgestaltung , soll die in gesundheitlicher wie auch volkswirtschaftlicher Hinsicht so hoch wichtige Idee der Schrebergärten zur vollen Entfaltung gelangen.«291
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Festesreigen und Donnergrollen: der Frühsommer In den späten Frühlingstagen zeigt sich Wien von seiner heitersten Seite. Rund um Pfingsten ( 31. Mai / 1. Juni 1914 ) ist Firmzeit , als Nobelfirmtag gilt Donnerstag , der 4. Juni. »Tausende junge Herren und junge Damen sehen mit Stolz und Freude dem feierlichen Moment entgegen , wo sie durch die Firmung geistig mündig erklärt werden und sich somit als Jünglinge und Jungfrauen fühlen können , wodurch sie auch schon halb und halb das Recht erlangen , zu den Erwachsenen zu zählen. Dazu steht die Firmung auch mit allerlei anderen sehr angenehmen Dingen in innigster Verbindung , welche die Herzen der hoffnungsvollen Firmlinge durchaus nicht gleichgiltig lassen. So ist mit der Spendung des Sakraments der Firmung immer auch ein mehr oder weniger wertvolles Geschenk , wie ein schöner Ausflug , eine solenne Jause oder eine interessante Theatervorstellung verknüpft. Für die jungen Herren der wohlhabenden Klassen gibt es die schon typisch gewordene und mit Sicherheit erwartete ›silberne oder goldene Firmungsuhr‹ und für junge Damen aus ›vermögenden Häusern‹ entweder gleichfalls eine Uhr oder doch ein Armband oder Medaillon , welche Geschenke dem Leben einen ganz neuen Reiz verleihen. Die minder bemittelten Firmlinge , welche sich nicht so nobler und splenibler Göden und Godeln ( F irmpaten ) erfreuen , müssen mit einem ›Silberguld’n‹ oder gar ein Packl Lebzelten fürlieb nehmen , wissen aber auch diesen geringeren Gaben herzliches Vergnügen abzugewinnen.«292 Überall begegnet man Mädchen in weißen Kleidern , gelockten Haaren und Buben in dunkelblauen Anzügen mit langen Hosen , Maiglöckchen oder einer weißen Rose im Knopfloch. Blumengeschmückte Fiaker und Automobile bringen sie zur Kirche und zu den Ausflugsorten , vornehmlich in den Prater oder den Tiergarten Schönbrunn mit den vielen exotischen Tieren.
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Abb. 102 : Ein aufregender Tag : Firmlinge vor dem Stephansdom
Abb. 103 : Eine Attraktion für Firmlinge : eine Fahrt mit der Zahnradbahn auf den Kahlenberg
Viel zu sehen gibt es für jene Firmlinge , die zu einer Fahrt mit der Zahnradbahn auf den Kahlenberg eingeladen werden. Da geht’s zuerst zur Talstation in Nußdorf. Auf 5,5 Kilometern Länge muss die Zahnradbahn 316 Meter Höhenunterschied überwinden , und das ohne größere Kunstbauten. Die Anpassung an das Gelände macht Kurven notwendig , die schärfste hat 180 Meter. Der gebildete Göd kann seinem 206
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Firmkind natürlich auch solche interessante Details erzählen. Oben angekommen , blickt man sodann auf das steinerne Häusermeer der 2-Millionen-Stadt , vom Silberband der Donau durchzogen. Automatisch suchen die Augen nach dem Steffel ( Stephansturm ) als Orientierung. Unglaublich , dass man dort heute Vormittag zur Firmung war ! Dann ist es höchste Zeit für die Jause. Heute darf der Firmling ordentlich zulangen , sich Himbeerkracherl , kalte Schokolade , Sachertorte oder Apfelstrudel schmecken lassen , natürlich mit viel Schlag. Langsam geht der Tag zur Neige und mancher Firmling kehrt mit einem dumpfen Gefühl im Bauch nach Hause zurück. Ein letzter Blick auf die Firmungsuhr , ein Horchen auf ihr Ticken , dann schläft das Firmkind beseligt ein. Der Schulalltag holt die Halbwüchsigen rasch ein. Bevor es in die heiß ersehnten großen Ferien geht , müssen noch schwierige Prüfungen gemeistert werden. Die letzte Phase im Schuljahr ist mit viel Prüfungsangst verbunden , »die wie eine Seuche durch die Schulen und Kinderzimmer weht , rosige Wangen blaß macht , kräftigen Flegelappetit auf ein Minimum reduziert und die jungen Nerven erschüttert. Am schlimmsten sind nicht mehr die Maturanten dran , denen man heute nicht mehr so scharf zusetzt , wie ehedem , sondern die ganz Kleinen , die Volkschüler , die sich zu Gymnasiasten und ›Realern‹ mausern wollen … Es gibt Leute genug , die auch bei dieser Gelegenheit die ganze Schuld der Schule auf bürden möchten. In Wirklichkeit sind es aber hier gewöhnlich die Eltern , die monatelang die Prüfungsangst vorbereitet und aufgepäppelt haben , bis sie sich als Alb und Drude auf die Herzen der Kinder legt. ›Paß nur auf , wie es bei der Prüfung gehen wird‹, ›Na schön durchfallen wirst du‹, ›Nun , du kannst ja Schuster werden , wenn du nicht ins Gymnasium kommst‹. … Mamas und Papas täten besser daran , wenn sie jetzt weit , weit zurückblicken , bis sie bei den eigenen Kindertagen mit allen ihren kleinen Kümmernissen und großen Schrecken angelangt sind. Nur am Elternhaus liegt es , ob der junge Zukunftsdoktor die Stufen des Gymnasiums mit fliegenden Nerven und hastendem Puls betritt oder mit dem ruhigen Bewußtsein , daß die kommenden Ferien unter allen Umständen sehr schön sein werden.«293 Für die Mitglieder der Hautevolee stehen in der ersten Juni-Woche zwei Pflichttermine in der Freudenau auf dem Programm : die Armee Steeplechase ( 4 . Juni ) und das österreichische Derby ( 7. Juni ). Bei beiden Veranstaltungen sieht man das Thronfolgerpaar in der Hofloge , der hohe Adel ist fast lückenlos vertreten.
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Abb. 104 : Mittelpunkt der feinen Gesellschaft : die Hofloge am Derbytag in der Freudenau , ganz links Herzogin Sophie von Hohenberg , in der Mitte der Thronfolger neben Erzherzog Eugen
Die Damen bevorzugen diesmal die Kombination Schwarz-Weiß bei den Hüten , Capes und Kostümen , man sieht »solche mit weißen Seidenhüten und schwarzen Paradiesfedern und solche mit schwarzen Samthüten und weißen Federn. ( Unwillkürlich muss man hier an die schwarzweißen Kostüme beim Ascot-Rennen im Musical-Klassiker »My fair Lady« denken. ) »… ein wenig monoton«, wie der Beobachter der Neuen Freien Presse kritisch anmerkt. Lob spendet er dafür aber den Herren : »Ihren guten Tag hatte die Herrenwelt. Das kalte Wetter ( am 7. Juni ) machte es zur fast selbstverständlichen Pflicht , die Derbymode einzuhalten , die bekanntlich in Cutaway und Zylinder besteht , und im Gegensatze zum Vorjahre blieben die ›Legeren‹ mit dem Sommeranzug und dem weichen Hut in der Minderheit.«294 Fast hätte das Wetter Stimmung und Toilettenglanz endgültig grau überschattet , ändert sich die Lage schlagartig zu Beginn des Derbys mit dem Probegalopp. »Während nun alles zum Totalisateur oder Buchmacher hinstürzt , um die gemachten Beobachtungen zu materialisieren , füllt sich die Hofloge , in der schon Erzherzog Franz Ferdinand erschienen ist , und die allgemeine Aufregung erreicht den sogenannten Siedegrad. Die Tribünen sind maßlos überfüllt. Und etliche zehntausend Augen und Ferngläser verfolgen die Derbypferde , die nun zum Start aufmarschieren. Es ist 4 Uhr geworden und gerade in dem Augenblick , als sich die Pferde vor dem weißen Band sammeln , ändert sich das ganze Bild. Die Sonne beginnt durchzukommen , die Wolken zerstieben und goldiger Schimmer ergießt sich über das regenfrische Gras , über die weißen Hüte und Federn , über die vielen schönen und eleganten Frauen , über die Cutaways und 208
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Zylinderhüte.«295 Nach zwei Fehlstarts ist die Spannung kaum noch auszuhalten. Endlich , nach fast einer Viertelstunde zeigt das Glockengeläut den Beginn des Rennens an. Nach atemloser Stille dann die Schreie derer , die ihrer Erregung Luft machen müssen. Wird der als Favorit gehandelte Confusionarius als Erster durchs Ziel gegen ? Tatsächlich ! »Brausender Jubel erfüllt die Luft , das schwierige Wort Confusionarius wird aus zehntausenden Kehlen herausgeschmettert , daß die Krähen vor Schrecken fast aus der Luft niederfallen , und als dem Sieger der große Lorbeerkranz in den Farben des Stalles Szemere um den Hals gelegt wird , da jauchzt es Pferd und Jockey in ungeteilter Freude entgegen. Der Favorit hat gesiegt und mit ihm die Majorität des Publikums , das sich nun beeilt , das gewettete Geld mitsamt dem Gewinn zu holen.«296
Abb. 105 : Nikolaus von Szemere führt sein siegreiches Pferd Confusionarius selbst zur Waage
Die allgemeine Stimmung ist gelöst wie selten zuvor , der Applaus für den »Nichtgrüßer« Franz Ferdinand und seine Frau spürbar wärmer als sonst. Kein Zweifel , das Thronfolgerpaar legt in der Publikumsgunst zu. Fürst Montenuovo in der Nachbarloge muss wohl oder übel in den Applaus einstimmen. Ob es der Herzogin von Hohenberg gelingt , die Schranken des Hofprotokolls Stück für Stück zu durchbrechen ? Das öffentliche Interesse richtet sich mehr und mehr auf die Frau , die dereinst nicht Kaiserin , sondern nur Kaiserin-Gemahlin wird sein können. Mit selten positiven Eindrücken von den Tagen in Wien kehrt Franz Ferdinand nach Schloss Konopischt zurück. Er ist entschlossen , die Reise nach Bosnien anzutreten , mit Sophie an seiner Seite – diesmal ohne protokollarische Einschränkungen für sie. »Mache es , wie du 209
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willst«, hatte ihm der Kaiser in der Audienz am 4. Juni gesagt , nach Auffassung Franz Ferdinands ein Freibrief , zu handeln , wie er es für richtig hält. Nichts weiß er davon , dass der serbische Gesandte Jovanovic den k. u. k. Finanzminister Leon von Bilinski , der für BosnienHerzegowina ressortmäßig zuständig ist , vor der Gefahr eines Attentats auf den Thronfolger gewarnt hat , wenn er ausgerechnet um den Vidovdantag ( 28. Juni ) Bosnien besucht. Der Tag ist den Serben heilig , an ihm gedenken sie der vernichtenden Niederlage gegen die Türken 1389 , die Serbien als Staat für etwa 500 Jahre auslöschen sollte. Bilinski behält die Warnung für sich. Niemand weiß , dass zu allem entschlossene Attentäter in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni die Grenze von Serbien nach Bosnien überschritten haben , schwer bewaffnet mit Revolvern und Bomben aus serbischen Armeebeständen in ihrem Gepäck. Ihr Ziel ist Sarajevo , das sich für einen möglichst ganzvollen Empfang des Thronfolgerpaares rüstet. Vorerst genießt Franz Ferdinand seine Rosengärten , die in voller Blütenpracht stehen. Gärtner haben mit Warmwasser und anderen Kniffen die Blüte gefördert. Der Aufwand hat einen bestimmten Grund : Kaiser Wilhelm will das Blütenwunder bei seinem Freund »Franzi« selbst in Augenschein nehmen. Wie gewohnt trifft er mit großem Gefolge in Konopischt ein. Besonders liebenswürdig ist er zu Sophie. Der deutsche Kaiser weiß , dass eine Freundschaft mit dem künftigen Kaiser von Österreich nur über die volle Anerkennung von dessen Ehefrau möglich ist. Dass Wilhelm auch den Staatssekretär für Marinewesen , Alfred von Tirpitz , mitgebracht hat , sorgt für Spekulationen. Was hat der unerbittliche Verfechter der deutschen Hochrüstung zur See hier verloren ? Wird in Konopischt etwa über Kriegsplanungen gesprochen , wie manche Kommentatoren im Ausland vermuten ? Das sind freilich irrige Annahmen , denn in Wahrheit fürchten Wilhelm und Franz Ferdinand nichts mehr als einen großen Krieg. Nach der Abreise seines hohen Gastes zeigt sich der Thronfolger unerwartet volkstümlich. Für zwei Tage öffnet er seine Gärten dem Publikum , er selbst zeigt sich aber nicht in der Menge. Wer am Pfingstwochenende einen Blick auf die jeweils erste Seite der Zeitungen wirft , dem vergeht jeder Gedanke an das sprichwört liche »liebliche« Fest. »Zeichen in unserem Süden«, titelt die christlichsoziale Reichspost einen Kommentar : »Der politische Seismograph zeigt in unserem Süden ein Beben an , das die Erde nicht in Katastrophen erschüttert , das aber doch schon ganz große unterirdische Vorgänge andeutet und ein Warnungssignal für alle Berufenen ist. In unseren südslavischen Ländern gehen Dinge von großer Tragweite vor und 210
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die häßlichen Ereignisse in dalmatinischen Städten , in Mostar und Sarajevo , die Ausschreitungen in kroatischen Gemeinwesen , in denen seit unendlichen Zeiten die Kroaten friedsam mit den Deutschen zusammenwohnten , sind nur vereinzelte Aeußerungen einer allgemeinen Bewegung , welche gewiß noch nicht die ganzen Nationen unseres Südslaventums ergriffen hat , die aber einen Teil von ihnen und namentlich die studierende Jugend auf gefährliche Abwege führt. Es ist nicht zuviel gesagt , wenn man feststellt , daß sich in unserem Südslaventum , vor allem unter den Kroaten und Serben , eine schon weitreichende geistige Separation von der Monarchie vollzieht , die im letzten Ende großen politischen Zielen bewußt dienstbar gemacht werden soll. … Durch unzählige Flugschriften , von Mund zu Mund geht das neue Evangelium : Ein großer Zusammenstoß , für den die Katastrophe der Türkei nur das Vorspiel gewesen , stehe bevor , in fünf Jahren werde man ihn erleben. Er werde für immer die Zukunft des Südslaventums entscheiden.«297 Quälende Unsicherheit über die innere Stabilität Österreich-Ungarns konstatiert die Neue Freie Presse als Grund für einen weit verbreiteten Pessimismus , wie kein anderer Staat müsse die Monarchie eine Stätte des Wohlbefindens sein , um die Zukunft nicht zu verlieren. »Ein kaum entschuldbares Versäumnis war es , daß unsere Staatsmänner nicht begriffen , welches Glück das Zeitalter , in dem die große Industrie geschaffen wurde , für die Monarchie hätte werden können … Die Zivilisation , die ringsum entstanden ist , hat uns das Garn in die Hand gegeben , die Einheit daraus zu weben und die Zufriedenheit zu verbreiten , und wir haben es nicht begriffen und den hohen Sinn dieser Gelegenheit , aus Teilen ein Ganzes werden zu lassen , nicht erfaßt.«298 Ohne alle Illusionen über die ungünstige Lage der Monarchie wird auch von deutschnationaler Seite aufmerksam gemacht : »Das Pfingstfest fällt in eine für Oesterreich trübe Zeit. Es ist , als ob sich alles gegen den alten Donaustaat verschworen hätte. Im Innern Not und Unsicherheit , außen Feinde und Mißgünstige , wohin man blickt … Das Schwergewicht der Uebel liegt in unseren inneren Verhältnissen , die so schlimm sind , daß sie uns jedes Ansehen im Auslande rauben und unsere äußere Politik machtlos machen.«299 Diese missliche Lage sei »die Folge eines jahrzehntelangen verfehlten Regierungssystems , das nie den Ehrgeiz hatte , die ganze Kraft des Staates und der staatstreuen Elemente auf die Lösung des österreichischen Grundproblems , der Nationalitätenfrage unter Sicherung der staatlichen Einheitsgrundlage gegenüber den auseinanderstrebenden und vielfach vom Ausland beeinflußten Elementen einzusetzen.«300 211
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Indes rüstet sich Wien für ein kirchliches Hochfest , das wie kein anderes die urwienerische Lust an Spektakel erfüllt : Fronleichnam. Am Donnerstag , dem 11. Juni , strömen Tausende Menschen schon ganz früh in die Innenstadt , um 6 Uhr früh wird jeglicher Wagenverkehr eingestellt. Beim Riesentor des Domes nehmen zwei Kompanien des Landwehrinfanterieregiments Nr. 1 Aufstellung. Sie bilden dann im Inneren des Domes Spalier. Weitere zwei Kompanien und ein Zug desselben Regiments rücken aus , um den Prozessionszug zu begleiten. Die Soldaten haben ihre Paradeuniform mit Feldzeichen und Eichenlaub angelegt , blitzblank die Knöpfe , das Lederzeug glänzend poliert. Festlich gekleidet scharen sich die Mitglieder der verschiedenen katholischen Vereine um ihre jeweiligen Banner. Die Studenten der katholischen Verbindungen glänzen »in voller Wichs«. Überhaupt darf an diesem hohen Feiertag keiner fehlen : die Mönche der Barmherzigen Brüder , Kapuziner , Franziskaner , Dominikaner und Redemptoristen in ihren braunen , schwarzen oder weißen Habiten ; die Ortsgruppen des katholischen Schulvereins und die christlichsozialen Gemeindeund Bezirksräte , angeführt von Bürgermeister Weiskirchner. Nach dem Pontifikalamt beginnt die Prozession , an der Spitze die Landwehrinfanterie , gefolgt von den Zöglingen der k. k. Waisenhäuser , die »Waselbuam« in ihren mausgrauen Uniformen mit gleichfarbigen Kappen. Schier endlos scheint der Zug der katholischen Vereine , der Ordensgeistlichen , der Alumnen ( g ratis verköstigte Internatsschüler ), der Domkapelle , bis endlich der Baldachin sichtbar wird , unter dem der Kardinal die Monstranz mit dem Allerheiligsten , beide Hände in weiße Seide gehüllt , vor sich hält. Ausgewählte Bürger tragen den Baldachin , die Quasten dürfen kommunale Würdenträger halten. Zu beiden Seiten des »Himmels« gehen Alumnen mit brennenden Fackeln , weiß gekleidete Mädchen und Chargierte der katholischen Verbindungen. Der goldschimmernde Brokat der hohen Geistlichkeit trifft am Graben auf die bunte Pracht der Militäruniformen. Sämtliche aktiven und pensionierten Generäle der Garnison Wien , Oberoffiziere und Militärbeamte sind hier versammelt. Weiße Militärröcke , rote Hosen mit goldenen Lampassen sind hier ebenso zu bewundern wie das Hellblau der Kavallerie , das Braun der Artillerie und das Flaschengrün der Generalstäbler. Umdröhnt vom Geschmetter der Blechbläser , umweht von Weihrauchschwaden bewegt sich die Prozession auf den blumenbestreuten Straßen weiter Richtung Kohlmarkt und Michaelerplatz. Die Hauseingänge sind mit Jungbirken geschmückt , in den Fenstern brennen Kerzen neben Heiligen- oder Kaiserbildern. An rasch zusammengezimmerten Freiluftaltären wird haltgemacht. Hell ertönt das Gebimmel der Hand212
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glöckchen , das fromme Volk stimmt in altbekannte Kirchenlieder ein : »Hier liegt vor Deiner Majestät im Staub die Christenschar … « Dicht gedrängt stehen die Gläubigen am Straßenrand. Lang genug hat man warten , zappelige Kinder ablenken müssen. Die mitgebrachten Schnitzel und die Streichwurstbrote sind längst verzehrt. Dann endlich ist der große Moment da ! Die Männer in den hellen Sommeranzügen nehmen den Strohhut beim Herannahen des Allerheiligsten ab. Den Buben dauert alles schon viel zu lang , die meisten fühlen sich unwohl in den weißen , frisch gestärkten Matrosenanzügen. Manche vergessen dann doch ihr Unbehagen , wenn sie auf väterlichen Schultern sitzend die bunt bewegten Bilder an sich vorbeiziehen sehen – »Schau , da kommt der liebe Gott !« »Schau , da kommt der Kaiser !«, kann man an diesem Fronleichnamstag 1914 nicht hören , denn der Kaiserhof nimmt an diesem schönsten Fest des Jahres nicht teil. Dem alten Kaiser sind die Strapazen der stundenlangen Prozession nicht mehr zuzumuten. Schon 1913 war er ferngeblieben , 1912 nur kurz aus der Hof burg zum Altar am Michaelerplatz gekommen. Und bleibt der Kaiser fern , dann auch der Hof. Damit ist Fronleichnam nur noch eine halbe Sache. Kein Zweifel , den »Hof ball Gottes« ( Otto Friedländer ) gibt es nicht mehr. War das noch eine Pracht vor wenigen Jahren gewesen , denkt da mancher wehmütig zurück. Allein die Auffahrt der Hofgalawagen , die Erzherzöge sechsspännig , der Kaiser in der gläsernen Karosse , von acht Schimmeln gezogen , umbrandet vom Jubel der festlich gestimmten Menge. Einmalig auch das Bild , wie der gekrönte Greis barhäuptig , in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend , umgeben von den Erzherzogen , hinter dem »Himmel« einherschritt. An keinem anderem Tag war die Apostolische Majestät fühlbarer , »geheiligt und unverletzlich«, wie in der Verfassung festgehalten. Hier kam der personifizierte Staat , umflossen von der Aura der Greisenwürde und der Altersweisheit. Das verlieh dem alten Kaiser etwas Übermenschliches , die Ewigkeit Berührendes. Nach den Strapazen der Fronleichnamsprozession ist es Zeit für eine Erfrischung. Bei Hofkonditoren wie dem Demel ist man an einem Tag wie diesem gerüstet für einen Ansturm feiner Herrschaften. Das Demel-Haus am Kohlmarkt 14 ist mit Kerzen und Blumen in den Fenstern festlich dekoriert , auch eine Kirchenfahne ist ausgesteckt. Die Prozessionsmüden müssen sich bei diesem Andrang gedulden , bis eine Serviererin kommt und ihr einzigartiges »Haben gewählt ?« fragt. Es ist ungeschriebenes Gesetz des Hauses , Kundschaft nie direkt anzusprechen , schließlich weiß man ja nicht , welchen Titel sie hat. Ein bloßes »Sie« wäre aber ungehörig. An den kleinen runden Marmor213
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tischchen nippt man an einem Gläschen Portwein , tut sich am Jourgebäck mit etwas Gansleber- oder Schinkenmousse gütlich. Appetithäppchen , nicht viel soll es sein , schließlich ist der Mittagstisch nicht mehr fern. Sehr erfrischend ist ein Sorbet , jenes Halbgefrorene aus Likör oder Champagner , gesüßtem Eischnee und Schlagobers. Besonders gefragt ist Veilchen-Sorbet , das zu Kaiserin Elisabeths Lieblingserfrischungen zählte. Gerne nimmt man etwas von den Delikatessen des traditionsreichen Hauses mit nach Hause. Neulich werden sie in schwarz-gelb gestreifte Würfelpackungen verstaut , mit dem Aufdruck »Demel-Wien« am Schachtelboden und dekoriert mit typischen Wiener Ansichten , gezeichnet von Künstlern der Wiener Werkstätte – eine Idee von Josef Hoffmann. Auf ins Gänsehäufel , heißt es für alle Badelustigen an so einem schönen Frühsommertag. Seit 24. Mai 1914 steht ihnen das öffentliche Strandbad wieder zur Verfügung. Der primitive Badebetrieb des »Naturapostels« Florian Berndl , der den Reiz der bewaldeten Sandinsel in der Alten Donau entdeckt hatte , ist Vergangenheit. 1907 hat die Gemeinde Wien ein großzügig angelegtes Strandbad mit Gastwirtschaft , elektrischer Beleuchtung und Trinkwasseranschluss angelegt. Nun geht man im Frühling 1914 in die achte Saison. Und wieder kann man mit Verbesserungen aufwarten. Der Kaffeehausplatz im Familienbad und im Herrenbad I. Klasse wurde bedeutend vergrößert. »Es ist der schönste Platz der Badeanstalt geworden , von dem der Strand in seiner ganzen Ausdehnung bequem überblickt werden kann , ein farbenfrohes Bild , umrahmt von leuchtendem Grün wird sich hier dem Beschauer bieten.«301 Die Reichspost kritisiert aber die »geradezu schildbürger lichen Vorschriften« über den Zutritt zum Familienbad. Ein Mann kann nur in Begleitung einer Frau , eine Frau nur in männlicher Begleitung hinein. Damit sei »nicht der Moral , sondern ihrem Gegenteil gedient ; sie fördert geradezu den schlimmsten Unfug. Will man für die Moral im Gänsehäufel etwas tun , so sorge man lieber dafür , daß insbesondere das Familienbad nur in anständiger Badebekleidung frequentiert werden kann. Was diesbezüglich in den verflossenen Sommern die gewisse Demimonde und ihre Nachäffer leisteten , war geeignet , anständigen Familien den Besuch des Familienbades , besonders zu gewissen Tagesstunden zu verleiden.«302
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Im Schatten des Todes: die Woche vor Sarajevo »Heute ist der erste Sommertag , nicht nur meteorologisch , sondern auch was den Wettergang betrifft. Die seit zehn Tagen anhaltende Gewitterneigung schwand gestern in Wien. Der Tag war heiß und die Nacht brachte nur geringe Abkühlung. Heute war schon der Morgen ungewöhnlich warm und dunstig und brachte für den Juni abnorm hohe Temperaturen.«303 Diese laut Wetterbericht vielversprechende Woche zu Sommerbeginn nimmt mit einer Todesnachricht ihren Auftakt : Bertha von Suttner ist am Sonntag , dem 21. Juni , in ihrer Wohnung in der Zedlitzgasse im Alter von 71 Jahren gestorben.
Abb. 107 : Ein Leben im Kampf für den Frieden : Bertha von Suttner , am Kanapee sitzend und aufgebahrt in ihrer Wiener Wohnung
»Die Waffen nieder , sagt es allen !« waren ihren letzten Worte. Sie hat zum Glück auch einen Artikel mit dem Titel »Gegen den Antimilitarismus« nicht mehr lesen können , der just an ihrem Sterbetag in der Reichspost abgedruckt ist : »Die Agitation der Militärfeinde ist in jedem Fall gefährlich , möge sie nun von sozialdemokratischer Gehäßigkeit oder der senilen Kriegsfurcht der professionsmäßigen Friedensfreunde entspringen. Die Gefahr liegt in der Untergrabung der Wehrhaftigkeit des Volkes , dessen Geist durch solche systematische Angriffe und Irrlehren immer mehr entmannt und vergiftet wird. Und es ist daher notwendig , aktiv der Verfassung und der Verbreitung verderblicher Schlagworte entgegenzutreten. In dieser Hinsicht geschieht jedoch bei uns tatsächlich sehr wenig , obwohl gerade uns , die wir allseits von Feinden umgeben sind , eine Hebung des kriegerischen Geistes und eine Stählung der Seele des Volkes bitter not täte und es ist bezeichnend , daß die einzigen Träger des Nobelpreises zwei Leuchten der internationalen Friedenspropaganda sind.«304 ( Gemeint sind Ber216
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tha von Suttner und Alfred Fried , Anm. ) Entsprechend kühl fällt der Nachruf der Reichspost für die Verstorbene aus : »In den radikalsten altliberalen Ansichten aufgewachsen , durch ihre Verbindungen mit der liberalen Presse darin noch bestärkt , war Baronin Suttner Freidenkerin und diese Verquickung hat ihrer Friedenspropaganda wohl am meisten geschadet … Es nimmt daher nicht Wunder , daß Baronin Suttner wie verlautet , testamentarisch ein Leichenbegängnis ohne Geistlichkeit angeordnet und ohne Leichenfeier nach Gotha zur Verbrennung überführt und dann dort beigesetzt zu werden sich ausbedungen haben soll.«305 Gewürdigt wird Suttner hingegen in der Neuen Freien Presse , in der 1891 jener Aufruf erschienen war , der zur Gründung der Österreichischen Friedensgesellschaft führte ; Vorbild für Gleichgesinnte , die in ihren jeweiligen Ländern dann ebenfalls Friedensvereine einrichteten. Man betrauere den Hingang »einer bedeutenden Frau , die mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit unbekümmert um banausischen Spott und gedankenlosen Gleichmut der Vielzuvielen ihre ganze Lebenskraft eines von ihr als richtig erkannten Gedanken gewidmet hat. Bertha Suttner hat das Philosophenwort , daß die Utopien von heute die Wirklichkeiten von morgen sind , zur Devise ihres Daseins werden lassen.«306 Einen Nachruf der besonderen Art liefert Danzer’s Armeezeitung : »Wir wollen uns heute jeder Verurteilung ihres Lebens enthalten. Uns trennt von ihr eine Kluft , die nicht zu überbrücken ist … Ihr Wirken entsprang einem gütigen Herzen und einem kräftigen Willen. Was an Alltäglichkeit sich alles um sie geschart und in wichtigtuender Geschwätzigkeit ihre Empfindungen ausgeschrotet hat , gehört nicht zu ihr. Sie hat es gewiß ehrlich gemeint.«307 Dass sich Suttner nie den Mund verbieten ließ , hat die Anhänger der »schimmernden Wehr« vielleicht am meisten gestört. Felix Saltens Vers sprach ihnen da wohl aus dem Herzen : »Die Waffen hoch ! Das Schwert ist Mannes eigen. Wo Männer fechten , hat das Weib zu schweigen.« War Suttners Kampf vergeblich ? Die Wiener Bilder kommen zu einem tröstlichen Schluss : »Sooft sie auch die Unverständigen die Friedens-Berta höhnten , die Baronin Suttner darf doch in dem Gedanken gestorben sein , daß sie endlich erreicht hat , was ein Kämpfer für ein Ideal gegen eine verderbliche Tradition und gegen Dummheit in einem kurzen Menschenleben erreichen kann. Der Friedensgedanke ist heute nicht mehr aus der Welt zu schaffen.«308 Weitaus mehr Aufsehen und Betroffenheit als der Tod einer Idealistin erregt am Wochenende 20. / 21. Juni 1914 der bisher schwerste Unfall der österreichischen Luftfahrt : die Ballon-Katastrophe von Fischa217
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mend. Der Militär-Lenkballon »Koerting-Wimpassing« kollidiert mit einem Forman-Doppeldecker , der dem abdriftenden Ballon zu Hilfe eilen wollte. Eine mächtige Stichflamme schießt empor , die brennende Hülle fällt auf die Gondel , die in rasender Geschwindigkeit zu Boden stürzt. Parallel dazu bohrt sich das Flugzeug senkrecht in den Erdboden. Die Mitglieder der Gondelbesatzung verbrennen hilflos , ebensowenig gibt es für die zwei Flugzeuginsassen Rettung.
Abb. 108 : Ein schwerer Schlag für Österreichs Luftfahrt : die Ballonkatastrophe von Fischamend mit neun Toten
Besonders eindrucksvoll gestaltet sich das Begräbnis der Unglücksopfer am 24. Juni 1914 am Wiener Zentralfriedhof , Tausende Menschen sind gekommen. Die neun Toten werden in einem gemeinsamen Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt , direkt gegenüber dem Ehrengrab des Flugpioniers Wilhelm Kreß. Der Kaiser hat seinen Generaladjutanten Graf Paar als persönlichen Vertreter entsandt , auch die hohe Generalität und die ausländischen Militärattachés nehmen an dem Trauerakt teil. 218
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Abb. 109 : Ein Trauertag für Österreichs Armee : die Beisetzung der O pfer der F liegerkatastrophe am Wiener Zentralfriedhof am 24. Juni 1914
Gewehrsalven donnern über das offene Grab , da erfüllt plötzlich Motorenlärm die Luft. Teilnehmer des internationalen Flugmeetings in Aspern sind zeitgerecht mit ihren Maschinen , an denen beidseitig Trauerfahnen wehen , aufgestiegen und werfen im Rundflug über dem offenen Grab Blumengewinde ab. Es sind sieben Franzosen , ein Deutscher und ein Österreicher , die sich an dem Verbandsflug beteiligen. »Die Flieger von Aspern , insbesondere die ritterlichen Franzosen , haben sich durch diesen Pietätsakt die Sympathien der Wiener im Sturm erobert«309 , würdigt die Reichspost die Piloten. Das Flugmeeting findet trotz des Unglücks statt : »Die Sonne von Aspern wird wie durch Trauerflore scheinen ; auf dem Flugfeld wird es wie der Flügelschlag von Todesengeln rauschen … Das Beispiel toter Helden lähmt nicht , sondern stärkt. Heldenblut ist wie das Blut der Märtyrer , Same neuer Helden.«310 In diesen Tagen lenken zwei Männer das öffentliche Interesse der Wiener auf sich. »Als einzige Überlebende einer Gruppe von 8 Bulgaren , die mit ihren Ersparnissen an Bord der unglückseligen ›Empress of Ireland‹ die Reise in die Heimat angetreten hatten , sind 2 gerettete Zwischendeckpassagiere des zugrundegegangenen Schiffes in Wien eingetroffen … Die Schrecknisse der Nacht , in welcher die beiden Bulgaren hunderte von Menschen nach einem wilden Kampf ums Leben hilflos versinken sahen , stören noch jetzt oft ihren Schlaf. Sie haben sich ohne Schwimmgürtel eine Stunde über Wasser gehalten , bis sie von einem Rettungsboot aufgenommen wurden«311 , berichten die Wie219
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ner Bilder. Das Passagierschiff der Canadien Pazific Railway war am 29. Mai 1914 im St.-Lorenz-Strom nach einer Kollision mit einem norwegischen Kohlefrachter gesunken. Der Untergang der ›Empress of Ireland‹ kostete 1. 012 Menschen das Leben , davon 840 Passagiere. Die Schrecknisse der Titanic-Katastrophe vom April 1912 mit 1. 500 Toten sind nunmehr wieder lebendig. ( Der baldige Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird die drittgrößte Schiffskatastrophe vor 1914 in Vergessenheit geraten lassen , Anm. ) Ein Todesfall beschäftigt Wien in der letzten Juniwoche 1914 , wenn auch der skurrilen Art. Der schwerste und dickste Wiener ist tot. Mit 240 kg war der Gastwirt Leopold Wutzel aus der Stumpergasse in Mariahilf stadtbekannt , in seinem Lokal hatte er eine »Soirée der Dicken« veranstaltet. Zusammen mit dem »kleinsten Sachsen«, der nur 24 Kilogramm wiegt und 90 cm groß ist , unternahm Wutzel eine Tournee durch Deutschland und Österreich.
Abb. 110 : Ein viel bestauntes Kuriosum auf Jahrmärkten : der schwerste und der leichteste Mann der Welt
Kurz vor seiner Heimkehr stirbt Wutzel in München im Alter von 37 Jahren. Seine Beisetzung am Wiener Zentralfriedhof lockt viele Neugierige an. Acht Sargträger sind notwendig. Das Grab musste auf eine Breite von 115 cm statt wie sonst üblich 79 cm ausgehoben werden. Der 220
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Sarg kann nur mittels Tauen in den Grabschacht hinabgelassen werden , ein gewöhnlicher Versenkungsapparat hätte die Last nicht getragen. Ja , in Wien gibt’s nicht nur eine ›schöne Leich‹, sondern manchmal auch eine ganz ungewöhnliche. Für die eigene »schöne Leich’« vorzusorgen hält der Wiener geradezu für eine moralische Pflicht. Ein möglichst prunkvolles Fest als Schlussakkord des irdischen Daseins soll es sein. Dafür wird jahrelang gespart. Sterben will der Wiener auf keinen Fall in der karbolgeschwängerten Luft eines Spitals , sondern zu Hause im Kreis der Lieben , versehen mit der Letzten Ölung ( heute Krankensalbung ) durch die Hand des Priesters. Was nach dem letzten Atemzug geschieht , ist genau geregelt. Der Salon oder die gute Stube wird für die dreitägige Auf bahrung hergerichtet. Alles ist schwarz drapiert , Fenster und Spiegel verhängt , die Bilder von der Wand entfernt. In der Mitte des Zimmers ruht der offene Sarg auf einem Katafalk , um den Kerzen auf hohen Silberleuchtern flackern. Die Türflügel stehen offen , ein schwarzer Läufer ist bis zur Wohnungstür gelegt , bei Wohlhabenden bis zum schwarz drapierten Hauseingang. Ganz vornehm ist es , wenn man sich einen eigenen Trauerportier in spanischer Gala leistet. Für die Arrangeure der Auf bahrung kann es kein schöneres Kompliment geben als ein gemurmeltes »Schön schaut er ( sie ) aus , als ob er ( sie ) schlafen tät !«. Man spritzt einige Tropfen Weihwasser auf den Katafalk und redet dann draußen über den Toten , welch gute Seele er zu Lebzeiten gewesen ist … Am Nachmittag des dritten Tages kommen dann Geistliche in schwarz-goldenem Trauerornat ins Haus und nehmen die erste Einsegnung vor. Im feierlichen Zug geht es dann zur Pfarrkirche , wo der Tote im geschlossenen Sarg nochmals mit den Segnungen des Himmels versehen wird. Dann tritt er seine letzte Fahrt zum Friedhof an , oftmals über die Simmeringer Hauptstraße , auf der sich täglich Leichenzug um Leichenzug zum Zentralfriedhof bewegt.
Abb. 111 : Für eine »schöne Leich« unverzichtbar : ein Prunkleichenwagen
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Dem reich geschnörkelten , schwarzen Prunkleichenwagen , von zwei , vier oder gar sechs Rappen gezogen , folgen die Hinterbliebenen in Kutschen und Automobilen. »Des muas an Batz’n Göld kosten !«, sagen da die Leut’ am Straßenrand. Tatsächlich kostet so ein »anständiges« Begräbnis einige Tausend Kronen. Beim Aufwand sind keine Grenzen gesetzt , die Vornehmheit lässt sich durch Leichenwagen à la Daumont ( ohne Kutscher , dafür aber Reiter , Anm. ) und Fackel tragende Vorreiter unterstreichen. Je mehr Blumen , umso besser , nicht selten sind vier bis sechs Kranzwagen nötig. Nichts geht über ein militärisches Begräbnis , da sind Kondukt , Gewehrsalven , Trommelwirbel und Trauermarsch obligat. Die Trauer um die Verblichenen wird durch schwarze Kleidung zum Ausdruck gebracht , und zwar meist lange , in Extremfällen jahrelang oder gar lebenslang. Vorerst gilt tiefschwarze Volltrauer , gefolgt von Halbtrauer , bei der schon einige Farbtupfer erlaubt sind. Viel in Trauer einherzugehen gilt als vornehm. Aristokraten kommen aus dem Schwarz oft kaum heraus , weil sie sich in Kaisertreue verpflichtet fühlen , angesagte Hoftrauer mitzutragen. Wer Geld sparen muss , der kann seine gesamte Kleidung schwarz einfärben lassen. Auch die Accessoires müssen stimmen : schwarz die Uhrkette , die Manschettenknöpfe , die Krawattennadel und der Spazierstock. Schwarz eingefasst hat das Taschentuch zu sein , und selbst der Zwicker auf der Nase wird mit einem schwarzen Moiréband versehen. Ausgehen kann man in Trauerkleidung überallhin , ins Theater und sogar ins Nachtlokal. Nur eines ist absolut verpönt : schwarze Lackschuhe.
Abb. 112 : Strengen Regeln unterworfen : die Trauerkleidung
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Eine blutige Zäsur: das Attentat Mittlerweile steht der Hochsommer bevor , längst hat man eigene Pläne , wo die Sommerfrische heuer verbracht wird. Die Kurlisten Ende Juni offenbaren , wohin es die Erholungsuchenden vornehmlich zieht. An der Spitze liegt Karlsbad in Böhmen mit fast 27. 000 Gästen , gefolgt von Abbazia in Istrien mit 24. 000 und Baden bei Wien mit 14. 300 Gästen. Bad Ischl , die Sommerresidenz des Kaisers , verzeichnet ca. 2. 700 Kurgäste. Weniger gefragt ist im Sommer die Semmering / R axRegion. Reichenau an der Rax zählt knapp 1. 700 Urlauber. Am unteren Ende der Skala rangiert Kärnten : Pörtschach 450 , Maria Wörth 84 Gäste. Da ist die Hinterbrühl bei Mödling mit nahezu 1. 200 Urlaubern deutlich beliebter. Natürlich erfährt man aus den Zeitungen , was im Kaiserhaus geplant ist. Franz Joseph wird wie jedes Jahr den Sommer in der Kaiservilla in Bad Ischl verbringen. Der Thronfolger will sich nach seiner Rückkehr von den Manövern in Bosnien mit Frau und Kindern auf Schloss Blühnbach in Salzburg erholen.
Abb. 113 : Eine glückliche Familie : das Thronfolgerpaar mit seinen drei Kindern ( letzte gemeinsame Aufnahme )
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Vorerst steht für das Thronfolgerpaar der Besuch in Bosnien auf dem Programm. Schon eine Woche vorher ist der Hofmöbelwagen in Bad Ilidze bei Sarajevo eingetroffen , wo im »Hotel Bosna« die Appartements nach den Entwürfen und unter Leitung des Architekten Kropfmacher »glänzend eingerichtet« werden. Am 25. Juni 1914 trifft Franz Ferdinand an Bord des Schlachtschiffes ›Viribus unitis‹ an der Mündung der Narenta ein , steigt auf das Schiff ›Dalmat‹ um und erreicht Metkovic. Per Bahn geht es dann nach Mostar , der Hauptstadt der Herzegowina. Die Häuser sind mit Fahnen geschmückt , Schulkinder singen die Volkshymne , Mädchen streuen Blumen. Mit tausendfachen Zivio-Rufen und Applaus wird der Thronfolger auf das Herzlichste willkommen geheißen. Der Bürgermeister bittet , der Erzherzog möge geruhen , »die Gefühle kindlicher Liebe , Ergebenheit , unerschütter licher Treue und Loyalität zur erhabenen Person des Kaisers an die Stufen des Allerhöchsten Thrones zu leiten«312. Bei so vielen Sympathieund Treuebekundungen taut sogar der Thronfolger auf. Nicht minder herzlich ist der Empfang in Bad Ilidze , wo ihn am Bahnhof seine Frau Sophie , die separat mit der Bahn gereist ist , erwartet. Die Herzogin von Hohenberg ist sehr angetan von den prachtvoll gestalteten Räumen im »Hotel Bosna« und von der ihr überall entgegengebrachten Sympathie. Gut gelaunt fährt das Thronfolgerpaar noch an diesem Abend nach Sarajevo , um im Basar der Stadt Einkäufe zu machen. Sie werden umdrängt und immer wieder akklamiert. Die Reichspost berichtet von einer »wahren Freudenfahrt … Die Presse Bosniens , der Ausfluß der Gedanken und Gefühle des Landes , hat in beredten Worten der Freude Ausdruck gegeben , die alle bewegt , der hohen Begeisterung , die alle erfaßt hat.«313 Am nächsten Tag beginnen die zweitägigen Manöver rund um die Ivanhöhe. Trotz Schlechtwetters mit Wolkenbrüchen , teils sogar Schnee und Kälte , verlaufen die Übungen plangemäß. Die Truppen sind in »vorzüglicher Verfassung«. Franz Ferdinand äußert wiederholt seine »höchste Zufriedenheit«. Es hat keinerlei Zwischenfälle oder Unfälle gegeben. In aufgeräumter Stimmung wird Hoftafel gehalten , die der Thronfolger am Abend des 27. Juni 1914 im Hotel Bosna für die höchsten Vertreter der Verwaltung , der Justiz und der Kirche in Bosnien gibt. Jetzt fehlt nur noch der krönende Abschluss der so erfolgreichen Reise mit dem morgigen Einzug des Thronfolgerpaares in Sarajevo.
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Abb. 114 : Aufbruch zur Fahrt in den Tod : Das Thronfolgerpaar verlässt am Morgen des 28. Juni 1914 das Hotel »Bosna« in Bad Ilidze R ichtung Sarajevo
»An die Bevölkerung Wiens ! Nach Wochen banger Sorge um die Gesundheit unseres Monarchen wurde uns Wienern die freudige Botschaft , daß Seine Majestät , unser heißgeliebter Kaiser genesen , das kaiserliche Lustschloß Schönbrunn verlassen wird , um in den waldumkränzten Bergen seiner Sommerresidenz in Ischl dauernde Erholung und Kräftigung zu finden. Die Wiener und mit ihnen alle Völker unseres altehrwürdigen Reiches begleiten im Geiste ihren Kaiser und Herrn mit dem heißen , aus tiefstem Herzen kommenden Wunsche , daß ihnen das kostbare Leben ihres Kaisers bis an die äußersten Grenzen , welche die Vorsehung dem Menschen bestimmt , erhalten bleiben möge , zum Wohle Oesterreichs und zum Heile der gesamten zivilisierten Welt , die in Franz Josef I. den Friedenskaiser ehrt und schätzt. Mitbürger ! Wiener ! Uns , denen die väterliche Fürsorge Seiner Majestät stets in besonderem Maße zu Teil wurde , ist es ein Herzensbedürfnis , der Freude über die Genesung unseres Kaisers Ausdruck zu verleihen. Ich lade die Wiener Bevölkerung ein , Seiner Majestät bei der Abfahrt nach Ischl , die mittels Hofsonderzuges am Samstag , den 27.d. um 8 Uhr erfolgt , ihre Huldigung darzubringen.«314 Gezeichnet Bürgermeister Dr. Weiskirchner. 225
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Tatsächlich wird die Abreise des Kaisers am Morgen des 27. Juni 1914 zu einer Triumphfahrt. Ganz früh setzt eine »förmliche Völkerwanderung aus allen Bezirken zur Stätte der Huldigung«315 ein. In der Hof allee ( Schönbrunner Allee ) haben die freiwilligen Feuerwehren , die Veteranenvereine und das Deutschmeisterschützenkorps Aufstellung genommen. Entlang der Penzinger Straße stehen die städtischen Bediensteten , in der Beckmanngasse die Vertreter der Wiener Gewerbegenossenschaften und die Kinder der städtischen Knabenhorte , in der Cumberlandstraße die verschiedenen Vereine , darunter der PestalozziVerein mit 550 Zöglingen. Bezirks- , Ortsschul- und Armenräte sind vor dem Bahnhofsgebäude versammelt. Und dann fährt der Kaiser im offenen Leibwagen durch die reich beflaggten Straßen.
Abb. 115 : Zur Feier seiner Genesung : die Wiener huldigen dem Kaiser am Weg zum Bahnhof Penzing , von wo aus er zum Sommeraufenthalt nach Bad Ischl reist
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»Eine Begeisterung , wie sie nur aufrichtig dankbaren Herzen entspringen kann , umjubelte den Kaiser , der sichtlich gerührt für die Beweise treuester Anhänglichkeit huldvollst dankte.«316 Umringt von Honoratioren wünscht der Wiener Bürgermeister dem Kaiser am Perron des Bahnhofes »viele sonnige Tage«. Dann rollt der Hofsonderzug an. »Gute Reise , Majestät , und auf ein glückliches Wiedersehen im Herbst !« … Reich beflaggt ist an diesem Samstag , dem 27. Juni 1914 , auch der Kaiser-Wilhelm-Ring ( heute Parkring ). In den Sälen der Gartenbaugesellschaft wird erstmals die Wiener Messe und zugleich der Internationale Kaufmannstag von Ministerpräsident Graf Stürgkh eröffnet. Zahlreiche Vertreter aus dem Ausland sind nach Wien gekommen , um bei der einwöchigen Warenmusterausstellung für ihre Produkte zu werben. Es geht aber auch um Erfahrungsaustausch , »denn der solide , kleine Kaufmann ist heute nicht auf Rosen gebettet … Warenhäuser auf der einen , Konsumvereine auf der anderen Seite drohen dem Kaufmann wie den Gewerbetreibenden im Kampfe ums Dasein zu vernichten , sind die beiden Mühlsteine , die den Mittelstand überhaupt zwischen dem rücksichtslosen Vordringen des Großkapitals und der organisierten Selbsthilfe der großen Masse zerreiben … Die Wiener Messe wird gewiß zu einer ständigen , segensreichen Institution werden , die wie die Leipziger Messe dem heimischen Gewerbe , Kaufmann und Handwerker den gebührenden Rang auf dem Weltmarkte miterkämpfen wird.«317 Es herrscht großes Gedränge in den lichten Räumen , die Waren sind geschmackvoll arrangiert , Blattpflanzen sorgen für eine elegante Note. Zu bestaunen , zu beriechen und zu kosten gibt es eine Menge. Vom »Camembert Sirius«, Imperial-Feigenkaffee , Koronakaffeeersatz , gefrierfertigen Gefrorenensäften über Stearin- und Paraffin-Kellerkerzen , Toiletteseifen , Parfums bis hin zu maschinell erzeugten Perserteppichen ist so ziemlich alles , was man im Alltag gebrauchen kann , vertreten. In Pöhls Konzerthausgarten wird am Abend Wiener Gastlichkeit zelebriert , die Musikkapelle der Hoch- und Deutschmeister spielt auf. »Heute war ein schöner , ja herrlicher Anfang … Mit besonderer Genugtuung erfüllt es die Kaufmannschaft , in welch glänzender Weise die erste Wiener Messe ihren Einzug gehalten hat«318 , heißt der Präsident der Reichsorganisation der Kaufleute Österreichs die zahlreich erschienenen Messegäste und ihre Damen willkommen. »Ich wünsche , daß Sie die besten und schönsten Erinnerungen an Wien behalten.«319
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Abb. 116 : Eine Initiative zur Förderung des Kleingewerbes : die erste Wiener Messe 1914
Sonntag , der 28. Juni 1914 ist ein Sommertag , wie man sich ihn schöner nicht denken kann. Von der Früh weg strahlt die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel und lockt die Menschen ins Freie. Bald schon sind Straßenbahnen und Omnibusse überfüllt mit hell und luftig bekleideten Menschen , die in den Prater , den Wienerwald oder auch ins Gänsehäufel unterwegs sind. Damen in sommerlich eleganten Ensembles lassen sich von ihren Kavalieren in noblen Automobilen oder Fiakern spazieren fahren , schlendern am Arm ihrer Begleiter die Prater Hauptallee oder Parkwegen entlang , mit einer Hand den seidenen Sonnenschirm vors Gesicht haltend. Es wäre undamenhaft , würde die starke Sonne bäurisch wirkende Bräune im fein gepuderten weißen Gesicht hinterlassen. In den Ausflugslokalen und Schanigärten ist kein Platz frei. Fast überall ertönen liebliche Walzerklänge oder schmissige Militärmusik. Die ganze Stadt pulsiert vor Lebensfreude. »Um die Mittagszeit liegt die ganze Stadt wie im Schlafe ; man sieht nur wenige Passanten auf den Schattenseiten der Straßen und die ganze Innere Stadt ist wie ausgestorben.«320 Wer einen Blick in die Sonntagszeitungen wirft , liest den Armeebefehl des Thronfolgers , in dem er sich für die hervorragenden Leistungen bei den Manövern in Bosnien bedankt. Manöver in schwierigem Terrain finden dieser Tage auch auf dem Rittnerhorn bei Bozen statt. »Ganze Artillerieparks haben auf den grünen Kämmen Aufstellung genommen.«321 In Anwesenheit des Generalinspektors der Artillerie , 228
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Erzherzog Leopold Salvators , und zahlreicher Generäle werden neue Geschütze erprobt. Man muss für alle Fälle gewappnet sein , auf das verbündete Italien scheint nicht wirklich Verlass. Zum Glück haben der Thronfolger und Generalstabschef Conrad von Hötzendorf vorgesorgt und Alpenfestungen in Folgaria-Lavarone bauen lassen. Auch in der Luft gilt es , gerüstet zu sein. An diesem 28. Juni 1914 steht das internationale Flugmeeting in Aspern im Zeichen der österreichischen Luftflotte. Sie hat speziell nach dem folgenschweren Rückschlag durch das Unglück von Fischamend jede Art von Solidarität nötig. Die Flugfeld-Gesellschaft widmet den Reinertrag des heutigen Tages dem Komitee für die Luftflotte. Nur Positives gibt es von der Helgolandreise des österreichischen Flottenvereins zu vermelden. Die Österreicher sind von den Eindrücken entzückt , speziell von Kiel , das mit seinen vielen Kriegsschiffen , Yachten und Seglern anlässlich der Kieler Woche einen überwältigenden Eindruck macht. »Es wird 2 Uhr und plötzlich entsteht hier und da vor einem öffentlichen Gebäude , vor den Ministerien , an dieser und jener Straßenecke eine gewisse Unruhe und Nervosität. Leute werfen sich in vorbeifahrende Automobile , die Telephone in den Cafés werden gestürmt , und langsam entsteht ein dumpfes , furchtbares Gerücht , das niemand glauben will , niemand zu glauben wagt.«322 In den Ausflugslokalen und Kurparks bricht am frühen Nachmittag die Konzertmusik ab , die Musiker packen ihre Instrumente ein und verlassen die Pavillons. Merkwürdig , da muss was passiert sein ! Einer fragt den anderen , ob er etwas weiß. Der Thronfolger und seine Frau sind in Sarajevo ermordet worden , wird kolportiert. Ob das wirklich stimmt ? Da erschallen schon die Rufe »Extrablatt , Extrablatt !« auf den Straßen. Die Sonderausgaben werden den Zeitungsausträgern aus der Hand gerissen. »Mit weit aufgerissenen Augen stehen die Menschen da , beugen sich zu zehn und zwanzig über die Papierblätter und murmeln dumpfe Rufe des Entsetzens.«323 Ja , es ist tatsächlich wahr !
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Die Schreckenskunde zieht wie ein ins Wasser geworfener Stein konzentrische Kreise durch das Wiener Stadtgebiet , »fliegt von Straße zu Straße , von Bezirk zu Bezirk , hinaus aus Wien nach den nahegelegenen Sommerfrischen und weiter in die Kronländer«324 . »In den Gassen und Straßen fanden förmliche Versammlungen statt , es waren spontane Trauerkundgebungen , die ein beredtes Zeugnis davon ablegten , wie tief das furchtbare Verbrechen die gesamte Bevölkerung Wiens ins Herz traf … Auch außerhalb Wiens , in den Vororten , wo zahlreiche Sommerfeste stattfanden , übte die Nachricht eine niederschmetternde Wirkung aus. Die meisten Feste wurden beim Eintreffen der Schreckenskunde abgebrochen. Trauer und Erregung hatten den Teilnehmern jegliche Festesfreude geraubt.«325 »Und bevor noch die glühend heiße Sonne als dunstiger Feuerball hinter dem Horizont verschwunden ist , weiß es ganz Wien , und ganz Wien stellt den Lärm , das sonntägliche Jauchzen , jede laute Lebensäußerung ein … Wien schweigt. Kein Theater öffnet seine Pforten , nirgends klingt die Musik aus den Sommergärten , das Leben ist erstarrt und zu dumpfer Trauer geworden.«326
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Wien trägt Schwarz: die Trauer Wien versinkt in einem Meer von Schwarz. Auf allen öffentlichen und vielen privaten Häusern wehen Trauerfahnen. Zahlreiche Geschäftsauslagen sind schwarz drapiert. »Auch der kleine Mann gibt seiner Trauer über die Katastrophe von Sarajewo vielfach Ausdruck , kleine Gemischtwarenverschleißer , Schuhmacher , Schneider haben bescheidene Trauerfähnchen ausgesteckt … Auf dem Naschmarkt und anderen öffentlichen Märkten der Residenz tragen die Verkaufsstände schwarze Fahnen oder Trauerfähnchen … Das dumpfe Schwarz der Fahnen und Balkonverkleidungen kontrastiert seltsam mit dem stahlblauen Himmel , mit dem hellen Sonnenschein , der durch die Straßen flutet.«327 In der höfischen Welt , in der Rang und Namen alles gilt , ist Wahrung der Form , speziell die Kleiderordnung für einen solch wichtigen Trauerfall wie dem eines Thronfolgers von höchster Wichtigkeit. Durch Hofansage wird auf a. h. ( a llerhöchste ) Anordnung Hoftrauer für weiland Erzherzog Franz Ferdinand verkündet , und zwar nur für ihn , nicht für die an seiner Seite ermordete Ehefrau. In Berlin gilt die Hoftrauer auf Anordnung Wilhelms II. auch für die Herzogin von Hohenberg. Hoftrauer in Wien wird vom 3. Juli an für sechs Wochen mit folgender Abwechslung getragen : »Die k. u. k. Generale , Stabs- und Oberoffiziere tragen während der ganzen Trauerzeit den Flor am unteren Arm in und außer Dienst. Die k. u. k. Geheimen Räte , Kämmerer und Truchsessen erscheinen in den ersten vier Wochen , das ist bis einschließlich 30. Juli , in der kleinen Uniform mit dem Flor am linken Arm mit angelaufenen Degen , in den letzten zwei Wochen , das ist von 31. Juli bis einschließlich 13. August , in erwähnter Kleidung mit vergoldetem Degen.«328 »Die höchsten Frauen , dann die Damen« haben in den ersten vier Wochen in schwarzer Seide mit schwarzem Schmuck , schwarzen Handschuhen und schwarzem Fächer zu erscheinen. Für die letzten beiden Wochen der Hoftrauer gilt : schwarze Seide mit Kopfputz und Garnituren von weißen Spitzen , echter Schmuck , graues oder weißes Kleid mit schwarzen Spitzen , dazu schwarzer Schmuck oder Perlen. Zahllose Gremien halten Trauersitzungen ab , angefangen vom Gemeinderat bis zu diversen Vereinen , um ihrem Schmerz in aller Form Ausdruck zu geben. »In allen Schulen hielten die Lehrer in ihren Klassen an die Kinder warme , tief zu Herzen gehende Ansprachen. Lautlos hörten die Kinder ihre Lehrer an und alle diesen Kleinen , die in ihrer kindlichen Einfalt die Tragweite der Tat wohl nicht ermessen können , die aber in dem Toten ihren zukünftigen Landesvater sahen , standen die 232
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Tränen in den Augen und manches der Kleinen schilderte seinen Kameraden , wie es die ruchlose Tat rächen würde , wenn es groß wäre.«329 Für Donnerstag , den 2. Juli , 22 Uhr ist die Ankunft der Särge der beiden Ermordeten auf dem Wiener Südbahnhof festgesetzt. »Der Sommertag verdämmert zu einem milden klaren Abend. Aber heute wird es nicht wie sonst um diese Feierabendstunde in den Gassen still. Schon um 8 Uhr setzen sich die Menschenmassen in Bewegung. Aus den Vororten eilen sie herbei und aus der Inneren Stadt , Männer , Frauen , Kinder , ganze Familien. Viele haben dunkle Kleidung angelegt … Ohne Drängen und Lärmen stellen sich die Leute an , in ruhiger , gedämpfter Stimmung , in der bangen Erwartung , dem ermordeten Thronfolger und seiner Gemahlin auf seiner letzten Fahrt durch Wien einen letzten stummen Gruß zu entbieten … Vom Giebel des Südbahngebäudes wallen mächtige schwarze Fahnen. Die große Abfahrtshalle ist in einen feierlichen Trauerraum verwandelt. Pfeiler und Stirnwände verschwinden hinter schwarzen Tüchern , von denen sich das erzherzogliche und das fürstliche Wappen abhebt … Auch die Bahnhofshalle zeigt ein anderes , düsteres Gesicht. Matt strahlt das Licht der in schwarzen Flor gehüllten Bogenlampen. Der Ankunftsperron ist mit Teppichen bedeckt. Hier rangiert sich schon um halb 10 Uhr unter der Leitung des Hofzeremonielldirektors Hofrat Nepalleck der Kondukt. Zuerst erscheint eine Ehrenkompanie des Infantrieregiments Nr. 82 mit Eichenlaub am Tschakko , die Fahne florverhüllt , die Trommeln mit schwarzem Tuch bedeckt. Dann die Arcièrenleibgarde und die Leibgarde-Reitereskadron … Die Bahngeräusche verstummen mehr und mehr , eine ungewohnte Stille erfüllt die Halle. Und mit einer Art banger Spannung sieht man , wie sich der Zeiger der großen Bahnhofsuhr der zehnten Stunde nähert. Von draußen tönt der langgezogene Pfiff der Lokomotive. In dem weiten Raum wird es jetzt ganz lautlos still. In diese Stille tönt das Kommando des Kompaniekommandanten ›Habt Acht , Kompanie rechts schaut !‹ Der Generalmarsch wird geschlagen und in die dumpfen Klänge mengt sich das breite Zischen der Lokomotive. Ganz langsam fährt der Zug in die Halle. Gleichzeitig tritt aus dem Hofwartesalon die Geistlichkeit und der schwere Duft des Weihrauchs legt sich auf die ergriffenen Gemüter … Die Unteroffiziere , Kammerdiener und Leiblakaien heben nun die Särge heraus. Sie sind schwer vergoldet und mit weißen Spitzen eingefasst. Die Geistlichkeit nimmt die erste Einsegnung vor. Alles salutiert , die Herren in Zivil entblößen das Haupt , die Frauen knien. Das währt einige stumme Minuten , die von einer ergreifenden Stimmung erfüllt sind.«330
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Abb. 118 : Die Rückkehr des ermordeten Thronfolgerpaares nach Wien : Die Särge werden über die Haupttreppe im Südbahnhof getragen
Abb. 119 : Der Trauerkondukt im Inneren Burghof
Dann setzt sich der Kondukt in Bewegung , angeführt vom neuen Thronfolger Erzherzog Karl , der Kaiser ist nicht gekommen. Vor dem Bahnhof werden die Särge auf sechsspännige schwarze Fourgons ( Transportwagen ) gestellt , dann bewegt sich der Zug über die Prinz-Eugen-Straße zum Schwarzenbergplatz über die Ringstraße zur Hof burg. Unübersehbar sind die Menschenmassen , die entlang der Route stehen. »Die funkelnden Sterne und der silberglänzende Mond leuchteten auf ein bewegtes seltsames Bild. Eine einzige endlose schwarze Menschenmauer , die offenen Fenster und Balkons der Häuser mit Menschen besetzt , und hinter dem lebenden Spalier tausende von Wagen und Automobilen , die zu Tribünen geworden und von Herren und Damen dicht besetzt waren.«331 Gespannt warten alle auf die beiden Leichenwagen , voran zwei 234
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Hofreitknechte mit Laternen. »Die sechs wundervollen schnaubenden Pferde rabenschwarz und schwarz der Wagen , der den Sarg trägt. Die bunten Uniformen der zehn Unteroffiziere links und rechts konnten die Düsterkeit des Anblicks nur heben , nicht mildern. Mit einem Ruck änderte sich das Bild , als die großen Leibgardisten mit ihren grellroten Röcken und wehenden Federbüschen dem Wagen folgten. Und wieder das fast gleiche Bild , als der Leichenwagen der Herzogin von Hohenberg , von sechs Rappen gezogen einherkam. Leibgardisten zu Fuß und zu Pferd mit Hellebarden und mit gezogenem Säbel als Nachhut , zwei Hofwagen und abermals Ulanen … Sowie aber die letzten Pferde der Ulanen verschwunden waren , brauste das Leben wieder auf. Ein unwiderstehlicher Impuls trieb die Massen vorwärts , dem Leichenzug nach und immer wieder mußten die Polizisten die ganze Energie und viel Takt entwickeln , um das Vorwärtsdrängen in die voranstehenden Menschenmassen hinein zu verhüten.«332 Am Schwarzenbergplatz dann in die Stille ein Schrei : »Nieder mit den Serben !« Das wirkt wie ein Fanal. Plötzlich drängt die Menge ungestüm vorwärts. Blitzschnell lösen Polizisten ihr Spalier links und rechts auf und bilden einen Kordon über die Ringstraße. Die Menge der Aufgebrachten kann zurückgehalten werden. Bis in die Hof burg hinein verläuft der Trauerkondukt nach Programm. Franzensplatz und Schweizerhof sind für das Publikum gesperrt. Unter einem schwarzen Baldachin werden die beiden Särge schließlich in der Hof burgkapelle aufgestellt.
Abb. 120 : Die Aufbahrung des Thronfolgerpaares in der Hofburgkapelle : Links der deutlich tiefer gestellte Sarg der Herzogin von Hohenberg mit den Insignien einer Hofdame
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Am nächsten Tag hat die Bevölkerung von 8 bis 12 Uhr Zutritt zur Burgkapelle. »In dieser Zeit wurden an allen Altären Seelenmessen gelesen und um 10 Uhr das Miserere der Hofmusikkapelle abgesungen. Um zwölf Uhr wurde der öffentliche Einlaß in die Hof burgpfarrkirche geschlossen. Der Andrang des Publikums zur Hof burg war ein überaus großer und mehrere Tausende konnten gar keinen Einlaß mehr finden. Mit dem Glockenschlage zwölf wurde die Kirche geschlossen und es klang und sang von allen Türmen eine Stunde lang , von St. Stefan , St. Augustin und St. Michael , von St. Peter und von den Schotten , und von da und dort überall Glockengeläute als Totenklage.«333 Am Nachmittag dieses 3. Juli 1914 vollzieht sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Trauerfeier des Hofes. Der Kaiser , alle Mitglieder der Dynastie und die Hofwürdenträger verfolgen von den verschiedenen Oratorien aus die Einsegnung durch Kardinal Piffl. Auch die Botschafter der auswärtigen Mächte sind gekommen , haben im Auftrag ihrer Monarchen prachtvolle Kränze niedergelegt , darunter die Kaiser von Deutschland , Russland , Japan und Persien. Keiner von ihnen ist anwesend. Man hat sie bewusst unter Hinweis auf das hohe Alter des Kaisers von Wien ferngehalten. Nach einer halben Stunde ist der höfische Trauerakt vorbei. Noch am Abend dieses Tages werden die Särge zum Westbahnhof gebracht. Der Thronfolger wünschte nicht in der Kapuzinergruft beigesetzt zu werden , in die seine Frau keinen Einlass gefunden hätte. Nun werden die beiden Toten in die Familiengruft nach Schloss Artstetten in Niederösterreich gebracht. »Wieder hat der Zug durch die Straßen die Teilnahme der ganzen Wiener Bevölkerung gefunden. Hunderttausende bildeten ein Spalier längs des Weges vom Burgtor durch die Mariahilfer Straße nach dem Westbahnhof. Wenn auch die zeremonielle Anordnung des Leichenzuges genau die selbe war wie die gestrige , so gestaltete sich der Zug doch heute durch die Teilnahme der gesamten Wiener Garnison pompöser und mächtiger in seiner äußeren Wirkung. Heute brannten auch längs des Weges die Gaslaternen aus offenen Flammen und diese Fackelbeleuchtung erhöhte den Eindruck düsterer Trauer.«334 Am Westbahnhof steht der Hoftrauerzug schon unter Dampf. »Um 10 Uhr hatte die Landwehr in Paradeuniform schon Spalier gebildet und der Perron leuchtete und glitzerte von bunten Uniformen , scharlachroten Waffenröcken , Ordenssternen und Federbüschen. Die wenigen Herren , die im Zivil gekommen waren , verschwanden in diesem Chaos von Farben.«335 Dann eine letzte Einsegnung , diesmal durch die Mariahilfer Geistlichkeit im schwarz ausgeschlagenen Hofwartesalon. Schwerer Weihrauchduft erfüllt die Luft. Auch diesmal 236
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ist Thronfolger Karl der ranghöchste der Trauergäste , »vor Erregung blaß , um die festgeschlossenen Lippen ein Zug von Ergriffenheit und Schmerz«336. Dann werden die beiden Särge im dritten Waggon nebeneinandergestellt. »Noch ein Gebet der Geistlichkeit , Unteroffiziere steigen in den Waggon mit den Särgen , die Würdenträger , die die Fahrt nach Artstetten mitmachen , nehmen ihre Plätze ein , und langsam , ohne Signal und Pfiff , setzt sich der Zug in Bewegung. Das Ergreifende dieses Momentes läßt sich kaum schildern und wird nie aus den Gedanken derer schwinden , die ihn miterlebt haben. Kein Mensch dachte daran , jetzt wegzugehen. Hunderte von Augen sahen starr dem entschwindenden Zug nach , und die Hände , die zum Gruß sich an die Helme legten , zitterten. Kleiner und kleiner wurden die roten Lichter des letzten Wagens , jetzt sah man sie nur noch in weiter Ferne glimmen , bis sie von Nacht und Finsternis verschlungen waren. Erzherzog Franz Ferdinand hatte die letzte Fahrt angetreten. Und zögernd , lautlos , feierlich löste sich die Versammlung auf dem Perron auf.«337 In den Tagen der Trauer rücken die Kinder des Thronfolgerpaares , die plötzlich zu Vollwaisen geworden sind , in den Mittelpunkt der Anteilnahme : Prinzessin Sophie ( *1901 ), Fürst Maximilian ( *1902 ) und Prinz Ernst ( *1904 ) von Hohenberg. Man hat die Kinder aus Schloss Chlumetz in Böhmen nach Wien gebracht , wo sie am Abend des 3. Juli 1914 zu den Särgen der Eltern in die Burgkapelle geführt werden. »Die wenigen Zeugen des erschütternden Wiedersehens konnten ihre Rührung nicht bekämpfen , als sie die drei Kinder an den Sarkophagen weinen und schluchzen sahen und als alle Trostworte an dem rückhaltlosen Schmerz abprallte.«338 Im Belvedere werden die Kinder vom Thronfolgerpaar Karl und Zita , Verwandten und Freunden der Familie begrüßt. »Es spielten sich abermals erschütternde Szenen des traurigen Wiedersehens ab. Die Prinzessin und die Prinzen sind sehr blaß , die Augen vom Weinen gerötet. Prinzessin Sophie und Prinz Ernst blieben den Abend über fast stumm und dankten mit Verbeugungen für jedes freundliche Wort … Der Erste , der ein Wort sprechen konnte , war Prinz Max. Er sagte : ›Ich bin noch glücklich , daß mein Vater die Freude erlebt hat , mein gutes Zeugnis zu sehen.‹339 Und etwas später : ›Die Mama wäre wohl verrückt geworden , wenn sie am Leben geblieben wäre.‹ «340 Nach der Beisetzung der Eltern in Artstetten kommen die Kinder noch einmal nach Wien. Der Kaiser empfängt sie in Audienz. »Wiener , grüßen wir die Kinder ! Samstag , den 4.d. kehren die drei Kinder des ermordeten Thronfolgerpaares , die armen , von ganz Wien geliebten und bemitleideten Waisen , von dem Grabe ihrer Eltern in Artstetten zurück , steigen um ¾ 3 Uhr nachmittags in der Station Penzing der 237
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Westbahnstrecke aus und fahren von dort nach Schönbrunn zum Kaiser. Auf diesem Wege wollen wir Wiener den verwaisten Kindern einen stummen Gruß bieten und ihnen zeigen , wie Wien sie liebt !«341
Abb. 121 : Huldigung im Zeichen der Trauer : Die Kinder des ermordeten Th ronfolgerpaares besteigen vor dem Bahnhof Penzing ein Hofautomobil , das sie zum Kaiser bringt
Tausende Menschen folgen dem Aufruf der Reichspost. Das Arrangement der Huldigung folgt einem Gedanken : Wo Kinder trauern , sollen Kinder ihnen auch Mitleid bezeigen. Vor dem Penzinger Bahnhof haben der städtische Knabenchor Hernals und die Zöglinge des Kalasantinischen Knabenoratoriums Penzing Aufstellung genommen. »In Habtachtstellung entboten diese Knaben bei gesenkter Fahne ihren warmanteilnehmenden ergebenen Gruß … Die Fahrt der Kinder in das kaiserliche Schloß gestaltete sich zu einer ergreifenden Huldigung. Nicht brausende Hochrufe begrüßten die Verwaisten. Im stummen Schmerze stand in den nach Schönbrunn führenden Straßen eine vieltausendköpfige Menge. Die Männer entblößten das Haupt in tiefer Ergriffenheit , aus den Reihen der Frauen ertönte Schluchzen und die allenthalben angesammelte Kinderschar wurde nicht müde , mit ihren Taschentüchern ihren aus fürstlichem Geblüte entstammenden , durch ruchlose Verbrecherhand ihrer fürsorglichen Eltern beraubten Altersund Geschlechtsgenossen in rührender Weise zuzuwinken … Herzbewegend war der Anblick , wie Männer und Frauen , selbst tief ergrif238
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fen , ihre Kinder auf die Arme hoben , um ihnen Gelegenheit zu geben , über die Köpfe der Menge hinweg ihrem Gruße in wahrhaft kindlicher Weise Ausdruck zu geben. Prinzessin Sophie stand im Wagen auf und rief der Menge zu : ›Danke , danke !‹, während die Prinzen Max und Ernst , die entblößten Hauptes im Automobil saßen , still nach allen Seiten grüßen. Viele innige Wünsche zogen mit ihnen.«342 Von einem Fenster aus beobachtet der Kaiser die Ankunft der Kinder in Schönbrunn , die Buben in englischen Anzügen mit schwarzen Strohhüten , Sophie in einem einfachen schwarzen Kleid mit schwarzem Crêpehütchen. Zwanzig Minuten sind im Protokoll für die Tröstung der Waisen durch den kaiserlichen Großonkel vorgesehen. Es wird vermerkt , dass die Audienz fast eine halbe Stunde dauerte.
Abb. 122 : Das Beileid des Kaisers : Franz Joseph empfängt die drei Waisen in Audienz
Der Pflicht ist damit Genüge getan , das Kapitel Hohenberg für Franz Joseph ad acta gelegt. Er wird die Waisen nie wieder zu sich holen. In Wahrheit ist der Kaiser erleichtert über den Tod des ungeliebten Thronerben. Alle Unwägbarkeiten , auch verfassungsmäßiger Natur , die sich durch die unstandesgemäße Heirat womöglich ergeben hätten , sind plötzlich beseitigt. Jeglicher Kritik an der eher dürftigen Gestaltung der Trauerfeiern , vor allem die demonstrative Hervorhebung der Unebenbürtigkeit der Gemahlin des Thronfolgers , die Vertreter des hohen Adels bewogen hatte , geschlossen den Leichenwagen am Weg zum 239
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Westbahnhof zu folgen , wird vom Kaiser der Wind aus den Segeln genommen. In einem Handschreiben drückt er dem verantwortlichen Obersthofmeister Fürst Montenuovo die volle Anerkennung für das Geleistete aus und bestätigt ihm , dass er stets in voller Übereinstimmung mit dem Willen seines allerhöchsten Herrn gehandelt habe ; veröffentlicht in der Wiener Zeitung und damit mit quasi amtlichem Charakter versehen. Außer Trauer und Mitleid mit den Waisen macht sich auf Wiens Straßen auch Wut auf alles Serbische bemerkbar. Jeden Tag versuchen Hunderte Demonstranten zur serbischen Gesandtschaft in der Paulanergasse ( 4 . Bezirk ) und zur nahe gelegenen Wohnung des Gesandten Jovanovic im Eckhaus Favoritenstraße / Taubstummengasse vorzudringen. Beide Objekte sich exterritorial , ihre Erstürmung muss verhindert werden. Die Paulanergasse wird deshalb sowohl zur Favoritenstraße als auch zur Wiedner Hauptstraße jeweils durch einen doppelten Polizeikordon abgeriegelt. Eine Wachabteilung bezieht ein Parterrelokal direkt gegenüber der Gesandtschaft. Polizisten fahren auf den Trittbrettern von Straßenbahnen der Linie 68 mit , um ein Abspringen von Fahrgästen in der Paulanergasse zu verhindern. Doch das allein reicht nicht aus. Demonstranten versuchen immer wieder , die Polizei zu verwirren , etwa durch plötzliches Stehenbleiben oder abrupten Richtungswechsel. Hingeworfene Bretter und Steine sollen die Pferde der berittenen Polizei zu Fall bringen. Die Tumulte erreichen am Abend des 2. Juli , an dem die Särge des Thronfolgerpaares in Wien eintreffen , ihren Höhepunkt. Ohrenbetäubender Lärm erfüllt das Viertel um die Paulanerkirche. »Nieder mit Serbien !«, »Hoch der Kaiser !«, »Hoch Österreich !« erschallt es aus Hunderten Kehlen. Es sind hauptsächlich Studenten katholischer Verbindungen , die ihrer Wut auf Serbien und ihrer Anhänglichkeit an Kaiser und Reich Ausdruck geben. Aber auch Deutschnationale sind reichlich vertreten , die immer wieder die »Wacht am Rhein« anstimmen. Trillerpfeifen verstärken den Lärm , der oft bis Mitternacht dauert. In der Wiedner Hauptstraße kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Das Gedränge ist derart groß , dass einige Passanten in Panik auf die Laternen klettern. Ein weiteres Ärgernis ist die im Wind flatternde rot-blau-weiße serbische Fahne mit dünnem Trauerflor am Balkon der Gesandtenwohnung. Eine Provokation , finden Demonstranten und Anrainer. Die Bezirksbehörden werden beim Gesandten vorstellig. Die Fahne wird daraufhin festgebunden und mit einem breiteren Trauerflor versehen. Bald verschwindet sie ganz. Erst nach einer Woche legen sich die Tumulte. Insgesamt ist es der Polizei gelungen , trotz Verletzten in den eigenen Reihen , das Schlimmste zu verhindern. 240
Ein trügerisches Sommeridyll: der Juli Verhältnismäßig rasch kehrt Wien zum gewohnten Alltag zurück , »und doch hat wohl jeder den Eindruck , als wären Erlebnisse von Jahren auf ihn eingestürmt und als hätten sich Ereignisse von tiefgreifender Wirkung zugetragen und als würde das vergossene Blut in der Politik fortgären. Das Herunterschrauben auf den Alltag will nicht recht gelingen , die Nerven gehorchen nicht und die Gedanken kehren immer wieder zu den Morden zurück und zu allem , was darüber bekannt wurde , und zu den sich unwillkürlich aufdrängenden Fragen über die Zukunft«343 ,beschreibt die Neue Freie Presse die Stimmungslage zu Juli-Beginn. Dass der durch Mörderhand beseitigte Thronfolger nach Pöchlarn , das in der Nibelungensage eine wichtige Rolle spielt , überführt wurde , sieht der Kommentator als geradezu schicksalshaft an : »Wer denkt nicht an den erschlagenen Siegfried , an das Blut , das nach diesem Morde geflossen ist , und an den Jammer , der dieser Schreckenstat folgte , und die Frage kommt unwillkürlich auf die Lippen , ob die Geschichte sich wiederholen und ob in dem Grauen über die meuchlerischen Bomben von Sarajevo nicht auch die Ahnung sei , daß den Völkern dereinst zur Heimsuchung werden könne , was an dem Erzherzog und seiner Gemahlin verübt wurde.«344 Die Sozialdemokraten verurteilen den Mord »aus prinzipiellen und menschlichen Gründen … Angesichts dieses schauerlichen Todes tritt alles zurück , was von der politischen Betrachtung sein Maß nimmt , und nur das Gefühl bleibt lebendig , das unschuldig vergossene Blut all immer erweckt.« 345 Und die Arbeiterzeitung geht auch auf die Persönlichkeit des Thronfolgers ein : »Ein ungemein starker Wille hat hier zur Erfüllung gedrängt , ein ausgeprägtes und weithin schweifendes Selbstbewußtsein danach gestrebt , der Welt als Gesetz sich zu setzen , ihr Richtschnur und Autorität zu werden … Immer deutlicher wurde es , daß es seine Absicht war , mit starker Hand in das Rad der Entwicklung zu greifen … Und nun wird dieses nach Macht und Tat lechzende Herz von der Kugel eines Gymnasiasten zerfleischt … Ohne Erfüllung gefunden zu haben , ist Franz Ferdinands Epoche zu Ende …«346
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Abb. 123 : Ein nicht erreichtes Ziel : Franz Ferdinand als Kaiser Franz II. , mit den nur dem Kaiser zustehenden Großsternen der vier wichtigsten Orden und der Feldmarschalldistinktion am Uniformkragen
Hat die Staatsform der Monarchie vor diesem Hintergrund eine Zukunft ? : »Und man denke auch daran , daß jetzt zwischen dem greisen Kaiser und dem jungen Thronfolger [ Erzherzog Karl , Anm. ] niemand steht , daß an die aus Irrungen und Wirrungen abgeleitete Erfahrung des Alters nun die Unerprobtheit der Jugend grenzt , daß die Lücke des Verschwindens einer ganzen Regentengeneration entstanden ist , und prüfe danach die Frage , ob in dieser hochernsten Zeit der Monarch allein der Stützpunkt dieser Staatlichkeit zu sein vermag. Wird dieser einen Institution nicht zu viel zugemutet , ihre Tragfähigkeit nicht sehr überschätzt , wenn das ganz Staatsgefüge auf das aufgebaut wird , was die Nachrufe und Gedenkreden als die Liebe und Treue zum Kaiserhause preisen ! Wohl könnte die Katastrophe von Sarajevo die Ge242
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legenheit zur Selbstprüfung in Österreich werden und der Anlaß zur Einkehr und Umkehr. Aber sie werden es sich an Zeremonien genügen lassen und vergessen , daß die Tage kommen könnten , wo die Geschichte ihr donnernd ›Zu spät !‹ spricht.«347 Auch Karl Kraus stellt in seiner »Fackel« tiefsinnige Betrachtungen an : »Franz Ferdinand scheint in der Epoche des allgemeinen Menschenjammers , der in der österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs die Fratze des gemütlichen Siechtums annimmt , das Maß eines Mannes besessen zu haben. Was sein Leben verschwieg , davon spricht sein Tod und die Halbtrauer der Schwäche ruft es durch alle Gassen … Keine kleineren Mächte als Fortschritt und Bildung stehen hinter dieser Tat , losgebunden von Gott und sprungbereit gegen die Persönlichkeit , die mit ihrer Fülle den Irrweg der Entwicklung sperrt. Der Todessturz eines Thronfolgers an der Ecke der Franz-Josefs- und der Rudolfsgasse ist nur ein österreichisches Symbol , aber sie war der Hinterhalt intellektueller Gewalten , und was Druckerschwärze und Talent gegen die Welt vermögen , erfahren die Machthaber erst mit der Schallentwicklung … Zu den Erkenntnissen , welche die Ereignisse vergebens dem Gebrauch empfehlen , gehört die vom Unwert der politischen Werte , da doch ein ungewaschener Intelligenzbub [ gemeint ist der Attentäter Princip , Anm. ] um 8 Uhr früh schon wissen kann , daß er mittags einen Staat auf den Kopf stellen wird , und daß es ihm mit geringeren Umständen als einem Napoleon gelingen könnte , die Landkarte Europas zu verändern.«348 Solch hochgestochene Analysen sind freilich nur etwas für die kleine Schicht der österreichischen Intelligenzija , die »breite Masse« bleibt davon unberührt , erst recht bei Hochsommerhitze. Das Lebenstempo ist spürbar verlangsamt , die Nachbeben des Attentats von Sarajevo im allgemeinen Empfinden deutlich verebbt , auch deshalb , weil der Charakter des Thronfolgers es nicht zuließ , dass die Bevölkerung länger um ihn trauerte , denn »Franz Ferdinands Wesen war , alles in allem , den Triebkräften österreichischer Verwesung , dem Gemütlichen und dem Jüdischen , unfaßbar und unbequem … Auf jene unerforschte Gegend , die der Wiener sein Herz nennt , hatte er es nicht abgesehen«349, wie Karl Kraus ihn charakterisiert. Die Betroffenheit über den schweren Schlag , den die Monarchie durch seine Ermordung erlitten hat , ist weit größer als die Trauer um seine Person und sein grausames Ende. Irgendeine Satisfaktionsforderung der Monarchie an Serbien wird zwangsläufig noch kommen , aber sie dürfte schon , so nimmt man an , nicht so arg ausfallen , denn Monarchen , Politiker und Militärs machen Urlaub. In Bad Ischl , wohin der Kaiser am 7. Juli zurückgekehrt 243
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ist , nimmt der Tagesablauf seinen gewohnten Gang mit Akten erledigen , Audienzen , Familiendiners , Spaziergängen mit der »gnädigen Frau« ( K atharina Schratt , die Freundin Franz Josephs , Anm. ) und Jagdausflug. Kaiser Wilhelm kreuzt mit seiner Jacht »Hohenzollern« in nordischen Gewässern. In offizieller Mission ist nur der französische Staatspräsident Poincaré unterwegs. An Bord der Staatsjacht »France« fährt er nach St. Petersburg , um mit Zar Nikolaus II. die aktuelle Lage zu erörtern. In Österreich herrscht auf den Landschlössern der Aristokratie die gewohnt lockere Atmosphäre der Sommerséjour. Da und dort werden Verlobungen und Hochzeiten gefeiert. Im Salon berät man , wer für die kommende Herbstséjour mit ihren Jagden noch einzuladen ist. Wer keinen eigenen Landsitz hat , nimmt mit einem der beliebten Kurorte vorlieb und sagt sich : »Endlich bin ich draußen aus dem Häusermeere von Wien , fern von der staubgeschwängerten Luft. Das paradiesisch schöne Marienbad soll mich gesunden , hier im ›Eldorado der Dicken‹, wo selbst ein Cesar – der ja bekanntlich nur wohlbeleibte Männer um sich sehen wollte – vollauf befriedigt gewesen wäre , hier will ich in der reinen Luft schwelgen , vergessen die Alltagssorgen und Gott , seine Allmacht und die herrliche Natur bewundern. Hier suche ich , nach der entsetzlichen Katastrophe , von der die ganze österreichisch-ungarische Monarchie betroffen wurde , und welche alle Bewohner der alle Zeit kaisertreuen Wienerstadt in tiefste Trauer versetzte , Erholung … «
Abb. 124 : Links : Das Eldorado der Dicken : Marienbad , im Bild Achmed el Gamal aus Ägypten , der 240 Kilogramm wiegt; rechts : Prominente Kurgäste in Marienbad : der Bruder des bulgarischen Königs , Prinz Philipp von SachsenCoburg , mit seinem Sohn Prinz Leopold und Baron Königswarter
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»Karlsbad steht im Zeichen der Hochsaison ! Die Mienen der Einheimischen hellen sich auf : die Kurliste zeigt ein Plus von einigen hundert Menschen gegen das Vorjahr … Das Mehr im Fremdenzuflusse zeigt sich natürlich auch sofort in dem berühmten Karlsbader Gänsemarsche. Gänsemarsch ? Jawohl ! Früh morgens , wenn man sich in anderen Orten noch einmal im Bette umdreht , stellen sich die ›Uniformierten‹ – das sind die mit Riehmenzeug und Trinkbechern Fason Karlsbad ausgerüsteten Kurgäste – in langen Reihen an , um Schritt für Schritt bis zur Heilquelle zu gelangen , wo dann freundlich lächelnde Brunnennixchen – zumeist 14- bis 16-jährige Mädchen , welche aber das Kokettieren wie ausgewachsene Nymphen verstehen – eifrig die Becher füllen und kredenzen.«350
Abb. 125 : Was wäre eine Urlaubsreise ohne f otografische Erinnerungen !
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»Baden steht vollständig im Zeichen des Pferdes. Der Beginn der Kottingbrunner Rennen hat eine Masseninvasion von Sportsmen gebracht und der diese Woche zur Entscheidung gelangende Preis der Normandie auf der Pfaffstättener Bahn eine kleine , aber auserlesene Schar von Traberzüchtern aus aller Herren Ländern. Franzosen , Belgier und Holländer sind gekommen , um ihre heimischen Herren auf dieser Bahn kämpfen zu sehen , Deutsche , Italiener und Russen , um Traben unter dem Sattel zu studieren. Und alle sind entzückt von der Schönheit des Kurortes und seiner Umgebung , vom Charme der Frauen , die man täglich sieht und von der Gemütlichkeit und Liebenswürdigkeit aller Kreise , und der Badener Trabrennverein hat so viel Verkünder des Ruhms der Kurstadt hergelockt , als fremde Gäste erschienen sind.«351 In Wien drängt es die Daheimgebliebenen massenweise ins kühle Nass , ob im Gänsehäufel oder in anderen Bädern. Diejenigen , die Badespaß gratis haben wollen , nehmen mit dem Donaukanal vorlieb und lassen sich auf der »schräg’n Wies’n« in der Sonne trocknen. Der Donaukanal ist am Sonntag , dem 12. Juli , Austragungsort des Schwimmwettbewerbs »Quer durch Wien«. Bereits zum dritten Mal geht es darum , wer die 7,5 Kilometer lange Strecke von der Nußdorfer Schleuse bis zur Sophienbrücke ( heute Rotundenbrücke ) am schnellsten zurückzulegen vermag. An den Start gehen 47 Herren und 21 Damen. »40 Herren und 20 Damen kamen in bester Kondition ans Ziel , wo sich die Landung vollständig einwandfrei vollzog. Sowohl beim Start wie auch entlang den Ufern , insbesondere aber am Ziel , waren viele Tausende von Zuschauern versammelt , die die Konkurrenten durch lebhafte Zurufe aneiferten. Als Favoritin um die Damenpreise startete Fräulein Christa von Szabo , die Siegerin des vorjährigen Wettschwimmens. Die junge Dame mußte gleich zu Beginn die Führung an ihre glücklichere Rivalin Fräulein Berta Zahourek ( Danubia ) abgeben , lag jedoch bis zur Stephaniebrücke ( heute Salztorbrücke ) im Vordertreffen , als sie plötzlich von einem heftig schmerzenden Unterschenkelkrampf erfaßt wurde. Sie sah sich bei der Ferdinandsbrücke ( heute Schwedenbrücke ) gezwungen , eine Zille zu besteigen und aus der Konkurrenz auszuscheiden … Sieger im Herrenschwimmen war heuer wieder Herr Orlik , der schon im vergangenen Jahre die beste Zeit erreicht hatte.«352
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Abb. 126 : Schwimmwettbewerb »Quer durch Wien«: Der Sieger im Herrenbewerb , Herr Orlik ( links ), Ankunft der Schwimmerinnen bei der Sofienbrücke ( Mitte ), die Siegerin im Damenbewerb , Berta Zahourek ( rechts )
Beim Internationalen Athletischen Meeting , das der WAF ( Wiener Association Football Club ) auf dem Sportplatz in Hütteldorf am Sonntag , dem 19. Juli , veranstaltet , schneiden die österreichischen Athleten hervorragend ab. Vier Rekorde werden aufgestellt : beim 100-Meter-Lauf , beim Hochsprung , Hammerwerfen und beim 400-Meter-Lauf.
Abb. 127 : Internationales Athletisches Meeting des WAF am Hütteldorfer Sportplatz : der Sieger im Diskuswerfen , Herr Ambrosz , und der Sieger im 100-Meter-Lauf , Herr Fleischer
Mittlerweile bereitet sich Wien auf den Weltfriedenskongress vor , der von 15. bis 19. September hier tagen soll. Gäste aus allen fünf Erdteilen werden erwartet , sie müssen gut untergebracht werden. Mit dem 247
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Verband der Wiener Hoteliers ist dazu bereits eine Übereinkunft ausgehandelt worden. Wien will seinen Ruf als beliebte Kongressstadt festigen. Auch das Programm der Tagung steht in allen Details schon fest. Im ungenützten Abgeordnetenhaus soll die Eröffnung stattfinden , für die Plenarsitzungen steht das Herrenhaus zur Verfügung. Höhepunkte werden ein Empfang beim Kaiser , ein Rout im Außenministerium , eine Galavorstellung in der Hofoper und ein Festbankett der Stadt Wien im Rathaus sein. Es ist geplant , zum ersten Mal den Film »Die Waffen nieder !« nach dem Roman Bertha von Suttners vorzuführen. Der kürzlich verstorbenen Vorkämpferin der Friedensidee soll bei einer Festversammlung im großen Musikvereinssaal gedacht werden. 1915 wird in San Francisco eine Weltausstellung stattfinden – zur Feier des soeben eröffneten Panamakanals und als kräftiges Lebenszeichen der 1906 durch ein Erdbeben schwer zerstörten , nun aber wieder aufgebauten Stadt an der Westküste der USA. Für Österreich-Ungarn bietet eine Teilnahme in mehrerer Hinsicht Vorteile , »zumal wir auf dem Balkan seit den letzten Umwälzungen politisch und gesellschaftlich mit einer Unterbilanz abgeschnitten haben. Es liegt das Bestreben nahe , gerade zu solchen schlechten Zeiten Ersatz zu suchen , … Es zeigt sich bei dieser Gelegenheit überhaupt , daß unser Export nach den Vereinigten Staaten weit über 100 Millionen Kronen beträgt … handelt es sich doch bei den Vereinigten Staaten allein um eine Bevölkerung von 102 Millionen und noch dazu um eine solche von guten und mittleren Lebensständen , deshalb haben auch die österreichischen Waren in ihrer anerkannt guten Qualität mehr Aussicht auf Absatz als irgendwo anders«353 , fasst die österreichische Ausstellungskommission ihre Argumente für die Beteiligung der Monarchie an der Expo in San Francisco zusammen. Ehrgeiz entwickelt das Habsburgerreich auch auf wissenschaftlichem Gebiet. Am 1. August 1914 soll ein Expeditionsschiff mit dem Namen »Oesterreich« von Triest aus zu einer Südpolexpedition in See stechen. Die Monarchie hat 1872 / 73 mit einer wissenschaftlichen Expedition unter Leitung von Julius von Payer und Karl Weyprecht den Nordpol erforscht und dabei das Franz-Josef-Land entdeckt. Protektor des jetzigen Unternehmens ist Erzherzog Leopold Salvator. Er hat das Schiff besichtigt und sich vom Expeditionsleiter Dr. Felix König über Ausrüstung , Reiseplan und Verpflegung informieren lassen. Dem aufmerksamen Zeitgenossen kann freilich nicht entgehen , dass der Nationalitätenhass zunimmt. In Regionen , die bisher als ruhig galten , brechen plötzlich Konflikte zwischen den verschiedenen Volksgruppen auf. In der mährischen Hauptstadt Brünn ist das von Panslawisten or248
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ganisierte Sokolfest der Auslöser. Auch Troppau , Hauptstadt von Österreichisch-Schlesien , bleiben Zusammenstöße zwischen der Mehrheit der Deutschen und den Tschechen nicht erspart. Die polnische Minderheit in diesem Kronland und auch in Ostrau ( Mähren ) fühlt sich von Tschechen und Deutschen benachteiligt und organisiert ihren Widerstand. Überall kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In Kroatien zeigt die großserbische Propaganda unter der dort lebenden serbischen Minderheit eine derartige Wirkung , dass man laut der Reichspost »für den Fall ernstlicher Verwicklungen ernstlich darauf gefaßt sein muß , daß Kroatien der Schauplatz feindseliger Machenschaften gegen unsere Armee sein wird«354. Schärfer denn je beobachtet die Polizei Jugendliche aus den südslawischen Gebieten der Monarchie. In Agram ( Zagreb ) steht ein 18-Jähriger vor Gericht , der sich wegen konspirativer Tätigkeit verantworten muss. Nur ein Beispiel für »Kinderfang in den Mittelschulen«, erfolgreich durch »giftige Romantik in einem Lebensabschnitt , da sonst die Herzen noch allem Guten und Edlen in Geschichte und Dichtung zugänglich sind«355, kommentiert die Neue Freie Presse. In Laibach , Hauptstadt des Herzogtums Krain , werden mehrere Mittelschüler unter dem Verdacht verhaftet , einer nationalistischen Untergrundorganisation anzugehören. Ein Zusammenhang mit dem Attentat von Sarajevo bestehe nicht , versichert die Polizei. Aber »wir können nicht wissen , wie viele Mörder bei der Geistesverfassung , welche durch das Großserbentum hervorgerufen wurde und bei dem Fanatismus , zu dem es besonders unreife Mittelschüler anstachelt , noch bereitstehen … Der Sumpf muss ausgetrocknet werden , damit dieses bösartige Fieber verschwinde … Der Mord muß aus der Politik ausgeschaltet werden.«356 Hinter den Kulissen werden in diesem Juli die Weichen Richtung Krieg gestellt. Die »Falken«, die dem »Jetzt oder nie !« das Wort reden , gewinnen immer mehr an Boden , speziell im Außenministerium und in der Armee. Nachdem man sich des Rückhalts in Berlin versichert hat , wird am Ballhausplatz fieberhaft an einer diplomatischen Note gearbeitet , die die Welt überrumpeln und der Monarchie damit eine starke Ausgangsposition verschaffen soll : ein Ultimatum an Serbien von beispielloser Schärfe.
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Ein Blitz aus heiterem Himmel: das Ultimatum Krieg oder Frieden , das ist die entscheidende Frage : »Fünfzig Jahre des Friedens haben uns den Krieg fremd gemacht. Seit einem halben Jahrhundert sind die gesegneten Fluren dieses Reiches nie von den Hufen der Rosse des Feindes zertreten worden ; seit einem halben Jahrhundert hat die Monarchie ihre Kräfte nie an der Macht des Gegners gemessen und nie zum entscheidenden Stoße ausgeholt. Vielleicht wird es wieder gelingen , Ueberlieferungen dieses langen Zeitraums fortzusetzen … damit das Schwert in der Scheide bleiben könne.«357 Was aber würde ein Krieg für Auswirkungen haben ? »Bei der Antwort ist weniger die Gefahr zu fürchten , daß die Wirkungen unterschätzt , als daß sie überschätzt werden. Die Vorstellung , die wir von etwas haben , was in solchem Maße nie erlebt wurde , mag unsicher herumflimmern , führt jedoch stets zu förmlichen Staatsromanen , welche die Einbildungskraft schreibt und die verschüchterte und zaghafte Vernunft sich nicht zu widerlegen traut. 15 Millionen junger Menschen aus dem Berufe herausgerissen , 20 Milliarden vernichtet , Stocken des Umlaufs und Erschütterungen der Grundlagen , worauf der Volksreichtum sich auf baut , das sind beiläufig die Bilder , die gewöhnlich vom Kriege entworfen werden.«358 Vom aktuellen Besuch des französischen Präsidenten bei Zar Nikolaus sei keine Weichenstellung Richtung Krieg zu erwarten , heißt es in der Analyse der Neuen Freien Presse , denn »so gewaltig ist die Verantwortung , daß schwerlich ein Mensch , der sie zu tragen hat , seine eigene Krone in den Schmelztiegel der Geschichte werfen und das Schicksal entfesseln wird … Wie soll der Präsident der französischen Republik den Gedanken haben können , für das Großserbentum einen Krieg anzufangen , den das Volk gar nicht begreifen würde und der nie und nimmer zu rechtfertigen wäre … Die Ordnung des Verhältnisses zu Serbien dürfte von Europa als das behandelt werden , was sie ist , eine örtliche Streitigkeit , eine polizeiliche Vorkehrung zum Schutze des Völkerrechtes und ohne jeden Zusammenhang mit den allgemeinen Machtfragen.«359 Ist es wirklich so wahrscheinlich ? In der russischen Presse liest man es anders. Besonders das Ansinnen an Serbien , österreichische Fahnder auf dessen Territorium ermitteln zu lassen , stößt in St. Petersburg auf entschiedenen Widerstand : »Serbien kann nicht auf Befehl des Grafen Berchtold auf sein selbständiges politisches Dasein verzichten. Wenn das Wiener Kabinett auf seiner Forderung beharren sollte , so sind schwere Verwicklungen , ein Krieg nicht ausgeschlossen , unvermeidlich. Im Kampf um seine Freiheit wird Serbien nicht allein da stehen«360 , heißt es in der Zeitung Ruskoje Slowo. 250
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Die Stunde der Entscheidung naht. Graf Berchtold legt dem Kaiser in Bad Ischl am 21. Juli den Entwurf für die Note an Belgrad vor , »erbittet wichtige Vollmachten , zu denen nicht der eigene Wille , sondern fremde Bosheit drängt … noch steht die Wahl zwischen Krieg und Frieden und nichts ist bisher verfügt worden , der Entscheidung vorzugreifen oder sie durch das Schwergewicht militärischer Tatsachen überstürzen zu lassen. Aber der Kaiser will nicht zusehen , wie der Süden des Reiches von Termiten durchlöchert , wie die Jugend von serbischen Verführern ins Verbrechen gelockt , die Gesinnung für die Monarchie unterhöhlt , die Geringschätzung gegen sie von Belgrad aus verbreitet und die Grenze fortwährend beunruhigt wird … Schon jetzt ist deutlich zu sehen , daß in der Stunde , in der auch nur eine einzige Macht versuchen sollte , die Monarchie an der Wahrung ihres Lebensinteresses zu hindern , der allgemeine Krieg unvermeidlich wäre. Deutschland steht zu uns mit allen seinen Kräften ; nicht weil es den Krieg , sondern gerade weil es den Frieden will. Serbien muß begreifen , daß nur zwei Möglichkeiten gegeben sind : die Lokalisierung des Krieges oder das Heranrücken des großen Weltkrieges … Der große Weltkrieg wäre eine solche Übertreibung und ein solches Auf bauschen von verhältnismäßig kleinen Ursachen und eine so grauenhafte Zumutung an Völker , die von Serbien überhaupt nichts wissen und für dieses unbekannte Land ihr Blut vergießen sollen , daß die nüchterne Rechnung mit Wahrscheinlichkeiten nur einen geringen Prozentsatz für dieses Ereignis veranschlagen kann«361 , meint die Neue Freie Presse. Die Zeichen stehen auf Sturm , das ist auch in Belgrad spürbar. Das Organ des serbischen Offizierskorps Piemont wertet die Friedensliebe Österreich-Ungarns als eine »unverschämte Heuchelei. Aber der Tag der Abrechnung wird bald kommen. Der Krieg wird zu einer erhabenen und kulturellen Tat , wenn er zum Zwecke der Erlösung geführt wird.«362 Aus Wien kämen nichts als leere Drohungen , hinter ihnen stecke »in Wirklichkeit nur die Angst vor dem Krieg … Österreich macht sich auf diese Weise nur lächerlich«, schreibt die Zeitung Politika. Die Reichspost zieht daraus den Schluss : »Es kann nicht mehr gezögert werden , denn in Belgrad schlagen die Exzesse haßerfüllter Feindseligkeit bereits in giftigen Hohn um , der die so oftmals geübte Langmut der Monarchie als Feigheit verspottet. Diese Auslegung der größten Friedensliebe läßt erkennen , was die Monarchie von Serbien zu erwarten hätte , wenn sie diesmal wieder Milde für angebrachter halten würde , als strenge Gerechtigkeit und sichere Ordnung.«363 Am 23. Juli überreicht der k. u. k. Gesandte in Belgrad , Wladimir Freiherr Giesl von Gieslingen , der serbischen Regierung das Ultima251
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tum , in der Diplomatensprache »befristete Demarche« genannt. Es ist auf 48 Stunden limitiert , läuft somit am 25. Juli , 18 Uhr ab. Die Monarchie verlangt die Säuberung der serbischen Staatsverwaltung , des Militärs , des Schulwesens und der Presse von allen nationalistischen , Österreich-Ungarn feindlich gesinnten Elementen , die Auflösung aller Geheimbünde und – das ist die heikelste Forderung – die Mitwirkung österreichischer Beamter an den Untersuchungen zur Aufklärung der Hintergründe des Attentats von Sarajevo auf serbischem Boden. Über den Inhalt kann nicht verhandelt werden , entweder fügt sich Belgrad allem oder das Ultimatum gilt als gänzlich abgelehnt. Wie wird Serbien sich entscheiden ? Am Abend des 25. Juli wird man Klarheit haben. Entsprechend spannungsgeladen bricht dieser Samstag an : »Ein von Gewittern umlauerter Tag. Von allen Seiten drängen sie schwarz und schwer gegen die Stadt heran. Kein Windstoß zerteilt , vertreibt sie. Fahl und fahler säumen sie den Horizont. Dies ist die , wie von der Regie Natur mit Vorbedacht gestellte Szenerie zu den gewichtigen Ereignissen , die sich an diesem schwülen Tage vorbereiten … Das Antlitz der Stadt scheint dem Fremden alltäglich. Er sieht Handel und Wandel sich in normalen Bahnen und Formen abspielen , er sieht Leute an ihre alltägliche Arbeit gehen , ihre üblichen Geschäfte verrichten , er spürt eine Großstadt fluten und ebben und meint , dies alles sei ebenso wie gestern und vorgestern und alle Tage. Nur der heimische , nur er , dem das Antlitz der Stadt vertraut ist bis in seine leisesten Fältchen , nur er merkt also gleich , daß dies nicht die Alltagsmine dieser Stadt ist , daß hier ein Besonderes , Ernstes waltet , alle beherrscht und bedrückt. Vom frühen Morgen an ist dies fühlbar. Und es steigert sich mit der steigenden Sonne. Gegen Mittag hin ist diese Stadt , in der trotz aller regsamen Tätigkeit gewöhnlich doch immer eine gewisse bedächtige Gemächlichkeit schwingt , heute fieberhaft erregt. Jedem Zeitungs leser blicken zehn andere über die Schultern. Um jeden , der in dem Rufe steht , etwas zu wissen , … scharen sich atemlose Wißbegierige , um seine Meinung einzuholen. Da strömen sie um die Mittagsstunde aus dem Stadtzentrum hinaus , alle die vieltausend Beamten und Arbeiter , alle die Handlungsangestellten und Geschäftsleute , heimzu , um rasch ihr Mittagsbrot einzunehmen und sich eine kurze Stunde der Rast zu gönnen , ehe die Nachmittagsarbeit aufgenommen werden muß. Will man den Stimmen des Volkes lauschen , will man sie ursprünglich , sozusagen an der Quelle vernehmen : nirgends ist bessere Gelegenheit , als auf den zu dieser Stunde überfüllten Tramwaywagen , auf den Omnibussen , in den Stadtbahnwagons. Hier werden alle Tagesereignisse besprochen , mehr oder minder erregt , je nach ihrer Fähigkeit , die Gemüter zu erre252
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gen. Welch eine Stimmung herrscht hier heute ! Mit welcher Spannung lauscht da jeder , was denn der Nachbar meine , wie er sich denn die Entwicklung der Dinge denke. Jählings außer Kurs gesetzt ist da plötzlich das beliebteste Gesprächsthema der letzten Tage : Urlaub und Wetter. Wer dächte heute daran ? Das eine Große , Quälende , immer nur dieses Eine – und träge schleicht der Nachmittag dahin. Jede Stunde fühlt man einzeln und unbeeilt durch die Sanduhr rinnen. Noch fünf , noch vier , jetzt noch drei Stunden , dann hat es sich entschieden , dann wissen wir es vielleicht schon , dann löst sich uns vielleicht schon diese schwüle Spannung. Aufgewühlt und wachgerüttelt ist in diesen schleichenden Nachmittagsstunden auch der verträumteste Winkel der Stadt. Selbst draußen , in den stillen , grünen Vororten , selbst dort , wohin sonst nichts von dem lauten Schwalle städtischer Geschehnisse hinausebbt , selbst dort herrscht jetzt fiebernde Erregtheit , und die ein wenig weltabgeschiedenen Weinhauersleute und Gärtner da draußen lüften vor jedem , der von den Endstationen der Tramwaylinien herüberkommt den Hut und fragen ( der Herr wird schon verzeihen ! ), was man in der Stadt drinnen spreche , ob sich schon etwas Neues ereignet habe , wann man denn die Entscheidung erfahren werde. Dann schreiten sie wieder an ihre Arbeit , die ihnen heute so gar nicht vonstatten gehen will. Heute ist kein Tag der ruhigen , unbekümmerten Arbeit. Heute ist ein Tag der ruhelosen Erwartung … in der sechsten Nachmittagsstunde setzt ein leichter Regen ein und näßt eine Viertelstunde lang das heiße Straßenpflaster. Dann teilt sich das Gewölk. Flaumige Wolken , abendrotbeschienen ziehen über den Himmel hin. Erquicklich und kühl ist die Luft geworden nach der Schwüle des Tages. Der fahle Horizont klärt sich. Noch eine Stunde. Die letzte , die Schicksalsstunde. Wartende Menschen überall. Angestaut auf den Straßen zu brausendem Schwalle. Bis zum Aeußersten erregt und gespannt. Dann , eine Viertelstunde nach dem siebenten Glockenschlag , fällt das Wort unter sie , das schwere aber klärende Wort : ›Abgelehnt !‹ Zeitungsblätter fliegen , wie vom Winde beflügelt , in alle Straßen. Von Mund zu Munde eilt das Wort. Ungeheuerlicher Sturm des Blutes braust auf. Und in den nächsten Minuten schon , entblößten Hauptes , singt die Menge das ehrwürdigste aller Lieder : ›Gott erhalte‹ … Überall das selbe Bild , dieses Herz erhebende , ewig unvergeßliche Bild , wuchtig und herrlich von keinem geschickten Regisseur gestellt , mitreißend und gewaltig , wie alle ursprünglichen Aeußerungen der Volksseele. Tränenfeuchten Auges fällt hier ein ergriffener Oes terreicher seinem Nachbarn in die Arme , ohne vorher zu sehen , wer denn dieser Nachbar sei , was für ein Kleid er trage , ob einen Arbeiterkittel oder einen ordengeschmückten Rock. Einerlei. Er sang es mit.«364 253
Abb. 128
Ein umjubelter Erlöser: der Krieg Nach einer bacchantisch durchtosten Nacht mit endlosen Freudenkundgebungen über den eingeschlagenen Weg der Gewalt holt Wien kurz Atem , begünstigt durch den Regen , den der Sonntagmorgen bringt. Viele verzichten auf den gewohnten Ausflug ins Grüne. Dann aber geht es am Nachmittag dieses 26. Juli , als die Wolken aufreißen , von Neuem los mit den Huldigungen an den Kriegsgott , der sein wahres Gesicht gut hinter einer Maske neu gewonnener Lebensfreude zu tarnen weiß. Wieder ziehen Menschenmassen in die Innere Stadt , »und von 2 Uhr angefangen wogte auf der Ringstraße vom Rathause bis zur Aspernbrücke ein Corso , wie man ihn in Wien schon lange nicht gesehen hatte. Nicht nur die beiden Trottoirs , sondern auch die Alleen und Fahrwege waren dicht besetzt und zeitweilig kamen solche Stauungen vor , daß der Verkehr minutenlang vollständig unterbrochen war. Am dichtesten massierte sich das Publikum vor dem Kriegsministerium …
Abb. 129 : Im Rausch der Kriegsbegeisterung : Massenkundgebung vor dem Kriegsministerium am Stubenring
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Wien 1914
Aber auch vor dem Ministerium des Aeußeren auf dem Ballhausplatze , vor dem Rathause , auf dem Heldenplatze der Hof burg , gab es Ansammlungen , die bis auf mehrere Tausend stiegen. Dabei durchzogen Gruppen von zwei- bis achthundert Personen die Stadt , veranstalteten Kundgebungen für den Dreibund und die Herrscher der Dreibundstaaten , für die Monarchie und gegen Serbien , sangen patriotische Lieder , sammelten sich um die Denkmäler der großen Heerführer Oesterreichs , hörten mit immer wachsender Begeisterung die improvisierten Reden jugendlicher Anführer. Fast jede Gruppe hatte sich heute eine Fahne gesichert , zumeist schwarz-gelb , aber auch rot-weiß.« 365 Wo könnte man besser die Stimmung der Stadt erfühlen als auf der Ringstraße : »Es ist wieder eine Lust zu leben. Die alten Ringstraßenbäume haben frisch ausgeschlagen , wahrscheinlich von dem frischen Geist befruchtet , der durch Österreich weht … Die Offiziere haben sich sichtlich vermehrt … es leuchtet etwas wie freudige Erwartung aus ihren Zügen , etwas wie ›hoffentlich wird’s nun endlich losgehen !‹ … Sie schreiten alle so sicher und selbstbewußt einher , als brächte ein Krieg nur Freuden , keinerlei Sorgen oder Schrecken … Und in diesen Tagen ist die österreichische Nation wieder erstanden. Man fühlt es förmlich , wenn man die Ringstraße entlanggeht. Sie wird stürmische Zeiten durchleben , die schöne Straße , der Mittelpunkt der Kaiserstadt. Aber gewiß auch eine stolze , eine erhebende , wie sie schwere Sorgen schaffen und harte Kämpfe gebären. Lachend liegt sie im Sonnenschein und reckt sich sichtlich zur spannenden Erwartung. Was die nächste Zukunft bringen wird , die Ringstraße wird zuerst davon teilhaben.«366 Am Dienstag , dem 28. Juli 1914 , ist es offiziell : Krieg gegen Serbien. Um 16 Uhr wird die Kriegserklärung publik gemacht , wieder erscheinen Extraausgaben der Zeitungen. Tags darauf wendet sich der Kaiser in einem Manifest »An meine Völker !« an seine 52 Millionen Untertanen. Ein haßerfüllter Gegner habe immer unverhüllter danach gestrebt , »untrennbare Gebiete Österreich-Ungarns gewaltsam loszureißen«. Aller Langmut habe nichts genützt , Serbien zur Umkehr zu bewegen. »So muß ich denn daran schreiten , mit Waffengewalt die unerläßlichen Bürgschaften zu schaffen , die Meinen Staaten die Ruhe im Inneren und den dauernden Frieden nach außen sichern sollen. In dieser ernsten Stunde bin ich mir der ganzen Tragweite Meines Entschlusses und Meiner Verantwortung vor dem Allmächtigen voll bewußt. Ich habe alles geprüft und erwogen. Mit ruhigem Gewissen betrete ich den Weg , den die Pflicht mir weist.«367 Am 31. Juli 1914 kehrt Franz Joseph von Bad Ischl nach Wien zurück. Umtost von einem Jubel sondergleichen fährt er , den jungen Thronfol256
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ger Karl an seiner Seite im Leibwagen sitzend , vom Bahnhof Penzing zum Schloss Schönbrunn.
Abb. 130 : Enthusiastisch begrüßt : Kaiser Franz Joseph kehrt am 31. Juli 1914 endgültig nach Wien zurück
Man kann wieder stolz sein auf das Vaterland , denn »Österreich-Ungarns Doppeladler hat seine Schwingen entfaltet und staunend blickt die Welt auf sein schimmerndes Gefieder , seinen scharfen Schnabel und die furchtbaren Fänger. Das kleine Raubzeug am Balkan verkriecht sich schnell in seine Höhlen und Klüfte und in stummer Wut glotzen die größeren Gegner in die Höhle hinauf. Wer hätte das geahnt vom sanften , kultivierten , gemütlichen Österreich !«368 Für die Sozialdemokraten ist es schwer , sich der Welle des Patriotismus zu verschließen. Sie lehnen jede Verantwortung für den Krieg ab und verweisen darauf , dass am Ende des Krieges auf jeden Fall ein neues Österreich entstehen wird. Nun aber Genossen »zeigt , daß es auch in unseren Reihen keine Fahnenflucht gibt ! Daß auch die Männer des Klassenkampfes bis zum letzten Atemzug zu ihren Fahnen stehen !«369 Rasch wird klar , dass sich der Krieg gegen Serbien nicht lokalisieren lässt. Russland als Schutzmacht der Serben tritt auf den Plan , Deutschland wiederum steht voll zum verbündeten Habsburgerreich. Ein Zusammenprall zwischen Russen und Deutschen ist die logische Konsequenz. Frankreich als Verbündeter Russlands denkt nicht daran , neutral zu bleiben. Deutschland sieht sich herausgefordert und erklärt beiden Nachbarn den Krieg ( 1. 8. und 3. 8. 1914 ). Großbritannien nimmt den Einmarsch der Deutschen ins neutrale Belgien zum Anlass für den 257
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Kriegseintritt gegen Deutschland ( 4 . 8. 1914 ). Zwangsläufig gerät Österreich-Ungarn als Verbündeter der Deutschen in den Sog der Kriegserklärungen. Auf die Kriegserklärung an Russland ( 06. 8. 1914 ) folgen die Kriegserklärungen Frankreichs und Großbritanniens an die Monarchie ( 1 2. 8. 1914 ). Italien erklärt sich ( vorderhand ) für neutral. Die Automatik der Bündnissysteme hat dazu geführt , dass der oft vorhergesagte Weltenbrand im Hochsommer 1914 binnen weniger Tage entfacht ist. Die Botschafter der plötzlich zu Feinden gewordenen Staaten verlassen Wien. Auf den serbischen Gesandten Jovanovic folgt der russische Botschafter Nikolaus von Schebeko. Begleitet von Pfui-Rufen einer aufgebrachten Volksmenge bricht er zusammen mit seiner Frau und den Mitarbeitern der Botschaft von der Reisnerstraße ( 3. Bezirk ) zum Westbahnhof auf , wo ein aus Salonwagen bestehender Extrazug bereitsteht , um die Russen in die neutrale Schweiz zu bringen. Solche Umstände möchte sich der französische Botschafter Dumaine , der Schebeko einen Abschiedsbesuch abgestattet hatte , ersparen. Unauffällig reist er ab , die Kriegserklärung Frankreichs übergibt er dem britischen Botschafter Sir Maurice de Bunsen , der sie persönlich am Ballhausplatz überreicht , dazu auch die Kriegserklärung seines Landes. Ein herber Schlag und zugleich ein Beweis für das Versagen der heimischen Diplomatie. Das Naheverhältnis der Briten zu Frankreich war unterschätzt worden. Erst im vergangenen Mai hatte ein britisches Flottengeschwader Triest , Pola und Fiume besucht , ein k. u. k. Eskader mit der »Viribus Unitis« an der Spitze den Besuch auf Malta erwidert. Beide Seiten hatten sich in Freundschaftsbezeigungen ergangen , gemeinsam Feste gefeiert und Ausflüge unternommen. Und nun Krieg ! Der erste Krieg mit Großbritannien überhaupt , wie in den österreichischen Zeitungen betont wird. ( Dass England und Österreich im Siebenjährigen Krieg gegnerischen Bündnissen angehörten , wurde hier vergessen , Anm. ) »Die Fehdehandschuhe zweier Großmächte auf einmal. Es ist viel , aber es ist zu wenig , um uns zu erschüttern , um uns in unserem Vertrauen auf unser gutes Recht und auf unsere Waffen zu schrecken. Besser die volle Klarheit , als dies falsche Spiel der Diplomaten«370 , folgert die Reichspost. »Elf Kriegserklärungen in siebzehn Tagen ! … Seit Menschengedenken hat etwas derartiges nicht stattgefunden und alles Frühere schrumpft zu zwergenhafter Nichtigkeit zusammen neben dieser kriegerischen Verwicklung , die ganz Europa in ein Flammenmeer verwandelt.«371
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Abb. 131
Abb. 132
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Abb. 133 Sofortige Abreise der Botschafter der nunmehrigen Feindmächte aus Wien : der Russe Nikolaus von Schebeko ( Abb. 131 ) , der Franzose Alfred Dumaine , hier mit Familie ( Abb. 132 ) und der Brite Maurice de Bunsen ( Abb. 133 )
»Ist das überhaupt noch ein Sommer ? Es ist glühend heiß , die Thermometersäule steigt hoch hinauf , die Schwüle wird unerträglich drückend , und dennoch hat man nicht im mindesten das Gefühl , mitten im Sommer zu sein. Hat völlig vergessen , daß jetzt Urlaubstage , Ferien sind , daß es so etwas wie Reisezeit , Badesaison und Erholung gibt. Alle vorher sorgfältig ausgerechneten Pläne und Absichten sind umgestürzt , alle privaten Wünsche , Hoffnungen und Träume des Einzelnen weggefegt wie Spreu und Staub. Es gibt überhaupt keinen Einzelnen mehr , er hat keine Existenzberechtigung , denn in solchen Zeiten denken , fühlen , sorgen und hoffen die Menschen nur in Gruppen und Massen«372 , beschreibt ein Feuilletonist die allgemeine Stimmung. Ungewöhnlich klare Worte , was ein moderner Krieg bedeutet , findet die Christlichsoziale Arbeiter-Zeitung in einem Aufruf : »Parteigenossen. Es ist Krieg ! Die atembeklemmenden Befürchtungen sind zur Wahrheit geworden , so viel ehrlicher Wille auch am Werk des Friedens tätig war. Alle Erwägungen der Vernunft und der reinen 260
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Menschlichkeit haben sich als unzulänglich erwiesen , die vielgepriesene europäische Kultur ist jämmerlich zu Schanden geworden ; die Bestie triumphiert wie in den schlechtesten Zeiten der Barbarei. Die Sprache der Staatsmänner ist verstummt , brüllend und donnernd sprechen jetzt die Geschütze , dazwischen mengt sich das Geknatter der Gewehre und das bluttriefende Schwert schreibt in das Buch der Weltgeschichte die Schande und Schmach des Jahrhunderts der Aufklärung und des Fortschrittes. Europa steht in Waffen gegeneinander , die Hölle ist los und reißt mit erbarmungsloser Hand weit auf alle Schleusen der Leidenschaften , der bittersten Not und des unsäglichsten Jammers – das stärkste Herz erbeben machend.«373 Besonders für junge Menschen ist der plötzliche Kriegsausbruch wie ein Erwachen in der Realität. Die Erzählungen der Älteren von den Kriegen 1859 und 1866 waren ihnen wie Bilder aus einem alten Geschichtenbuch vorgekommen. »Daraus werden wir jetzt rücksichtslos aufgerüttelt und wir erwachen in einer Wirklichkeit , so gewaltig als man sie sich nur denken kann. Und zu unserer eigenen Verwunderung finden wir uns sofort zurecht , wir stehen auf festen , sicheren Füßen , aus den liebenswürdigen jungen Leuten sind plötzlich ernste Männer geworden , und jeder tut seine Pflicht. Keiner denkt jetzt daran , zu träumen , zu nörgeln , zu witzeln , alle unsere berühmten , traditionellen , liebenswürdigen und munteren Eigenschaften legen wir ab und schlüpfen in neue männlichere wie in eine bereitliegende Montur. Durch alle Gemüter geht jetzt dieses unvergleichliche Gefühl : es ist wieder eine Freude , ein Oesterreicher zu sein.«374 »Jeder Tag bedeutet jetzt ein großes Abschiednehmen. Die Hunderttausende , die hinaus ziehen an die bedrohten Grenzen und die Millionen , die daheim bleiben , sagen sich Lebewohl. Das bekundet sich in unzähligen Momenten , kleinen und gewaltigen , rührend und martialischen , in großartigen militärischen Stimmungen und bescheidenen , rein menschlichen … Jetzt konzentriert sich die ganze Bewegung , das ganze Interesse auf die Bahnhöfe. Auch sie zeigen eine ungewohnte militärische Dienstmiene. Aller Reise- und Gepäcksverkehr , der sonst hier flutet und ebbt , ist völlig ausgeschaltet , der ganze Bahnhof ist zu einer Art Kaserne geworden … In der Nähe des Bahnhofes haben sich schon Gruppen angesammelt , zumeist Frauen , Mädchen , junge Leute , die das Erscheinen der Truppen abwarten … Und dann kommen sie , marschieren in geschlossenen Zügen , werden hier vom Publikum überaus enthusiastisch begrüßt mit Hoch- und Eljenrufen , danken mit gutmütigem Lachen , mit Salutieren und dem Schwenken der Mütze. Sie gehen auf und ab in Freundesgruppen , … verteilen sich 261
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dann im Restaurant , in den Wartesälen und der Gepäckshalle … Ein helles Signal ertönt : Habt Acht und Vergatterung. Es ruft die Infanteristen auf den Perron und im Laufschritt eilen alle dorthin. Der lange Zug steht schon auf dem Geleise bereit. Er besteht aus laubgeschmückten Lastwagen für die Mannschaft und einen Waggon zweiter Klasse für die Offiziere. Eine Weile wird noch auf dem Perron hin und her gebummelt … Wer von Verwandten und Freunden begrüßt worden ist , der sagt ihnen zum so und so vielten Male Adieu. Ein zweites Signal bedeutet einsteigen , und alles begibt sich in die Waggons. Die Soldaten drängen sich bei den Türen , manche sitzen mit baumelnden Füßen auf dem Boden , auf den Stiegen und , vom Zugsführer dirigiert , stimmen sie im Chor ein Lied an … Jeder Waggon singt sein eigenes Lied , und in diesem vielstimmigen Chor , der in der weiten Halle mächtig dröhnt , klingt das dritte Signal , und das bedeutet endgültigen Abschied.
Abb. 134: Volk und Militär : Ein Gastwirt in der Leopoldstadt schenkt an Reservisten Freibier aus
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Abb. 135: Der Kaiser ruft : Einberufene nehmen Abschied von ihren Angehörigen
Der Zug beginnt langsam zu rollen. Auf beiden Seiten winkt man und ruft man : Hoch ! Heil ! Eljen ! Viel Glück ! Lebe wohl ! Und jeder dieser Rufe meint das selbe : Auf Wiedersehen !«375 Sind die Daheimgebliebenen nicht direkt zu bedauern ? »Wir Untauglichen und Staatskrüppel kommen uns beschämt , ein bißchen minderwertig und unnütz vor.«376 »Oesterreicherinnen ! Damen und Mädchen ! Es ist nicht Zeit zu Neugierde , Tand und Sport ! Es ist die Zeit zu Tat und Hilfe ! Weg mit Roman und Tennis ! Hilfe und Arbeit für die Soldaten ! Sie sind für Euch , seid für sie ! Fertigt Soldatenwäsche ! Arbeitet , arbeitet irgendwie für die Kriegssache im großen , im kleinen ! In der Armenkrankenpflege , in der öffentlichen Verwaltung. Suchet selbst ein Arbeitsfeld , helft mit ! – Weg mit Tand und Spiel !«377 Dieser von der Reichspost veröffentlichte Appell richtet sich freilich an die Minderheit der wohlversorgten Frauen. Die Mehrheit ist 263
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mehr denn je von Existenzsorgen geplagt , denn »die Ernährer sind in den Krieg gezogen ! Zur Sorge um den Mann , der im Felde steht , gesellt sich bei den Zurückgebliebenen das Gespenst der Not. Mütter , Frauen , Greise und Greisinnen , sie alle bangen bei der ständigen Steigerung der Lebensmittelpreise vor der Beschaffung des Notwendigsten.«378 Unzählige Frauen sind plötzlich gezwungen , sich um bezahlte Arbeit umzusehen. Und sie werden gebraucht , denn schon in den ersten Kriegstagen wird überall der Männermangel spürbar : bei Straßenbahn und Bahn , bei den Elektrizitäts- und Gaswerken , in Ämtern und Schulen , selbst in der Kulturszene. Die Direktion der Südbahn benötigt dringend Gepäckträgerinnen an den Bahnhöfen , 50 Frauen werden ausgewählt. In erster Linie werden Frauen als Krankenpflegerinnen in den Kriegslazaretten benötigt. An der Allgemeinen Poliklinik ( 9. Bezirk ) werden Kurse für Hilfspflegerinnen abgehalten. Die Tracht der Rote-Kreuz-Krankenpflegerin ist nun ein Ehrenkleid , in dem sich auch hochadlige Damen gerne als Engel der Barmherzigkeit zeigen. Nicht jede Frau eignet sich dafür , aber nähen können die meisten. Erzherzogin Maria Josefa richtet im Augartenpalais ein »Arbeitsatelier« ein , wo Frauen und Mädchen Wäschestücke für Kriegsverwundete anfertigen. »Unserem Herzensbedürfnisse folgend , in diesen schweren Tagen helfen , wo wir können , das Unsrige tun bis an die Grenzen unserer Kraft , mitwirken zum Erfolge der heiligen Sache.«379 »Alle Schranken fallen , alles Trennende und Feindliche ist aufgehoben , auch zwischen den Geschlechtern. Die Frauen werden zu Kameraden. Ihre Neigung wie alles Denken und Fühlen dieser Tage bekommt etwas wunderbar Reines , Erhabenes. Die Frauen sind auf ihrem Posten ganz von selbst , man brauchte sie gar nicht zu rufen … Wunderbar und ergreifend wirkt es , in all diesen Tagen nun den Mut der Frauen zu sehen , die alles hergeben , was sie besitzen , alles woran ihr Herz hängt , was sie gehegt und gehütet haben , so ganz einfach , ohne Klage , beinahe lächelnd.«380 Vor allem den Ehemann , den Sohn ins Feld ziehen zu lassen , ohne Garantie ihn je wiederzusehen , gilt als größtes Opfer , das eine Ehefrau und Mutter bringen kann. »Die Frauen haben jetzt mit einem Schlage ihren Platz an der Sonne errungen , die allerdings mit blutig-rotem Scheine aufsteigen mußte , um diesen jähen Wechsel und Sieg zu bewirken.«381 Es ist eine patriotische Pflicht , auf goldene Eheringe und anderen Schmuck zu verzichten. Die k. k. Gesellschaft vom Österreichischen Silbernen Kreuz gibt jedem opferwilligen Spender einen eisernen Ring mit der eingravierten Devise »Gold gab ich für Eisen 1914« und den Initialen »OE. S. K.«. Tausende Frauen tragen in diesen ersten Kriegs264
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tagen erstmals Eheringe , denn viele Paare wollten ihre Verbindung vor Gott und der Welt legalisieren , bevor der einberufene Mann ins Feld zieht. Im Hof des Erzbischöflichen Palais wird sogar eine Massentrauung vollzogen. »Städter und Marktbewohner ! Helft den Bauern bei der Ernte ! Hundertausende von Bauern und Jünglingen sind vom Pfluge weggerufen worden gegen den Feind. In vielen Bauernhöfen sind nur Frauen , Greise und Kinder zurückgeblieben und überall fehlt es an Händen , um die landwirtschaftlichen Arbeiten zu bewältigen. Und doch ist eine glückliche Einbringung der Ernte vielleicht eine Lebensfrage unseres Vaterlands , besonders für den Fall , daß uns eine feindliche Flotte die Meere für die Einfuhr von Getreide und anderen Lebensmitteln absperrt. Du rüstige Jugend unserer Städte und Märkte ! Auf zur raschen hilfreichen Tat ! Vor allem ergeht an die Mittelschüler und Studenten , sowie an Euch , wackere Mädchen aller Stände : Vereinigt euch zu kleinen Gruppen und marschiert oder radelt in die Dörfer hinaus. Dort haltet Umfrage wo die Not an Arbeitskräften am höchsten ist und legt rüstig Hand an ! Quartiert euch wochenlang in den entfernteren Ortschaften ein ! Dies sei jetzt der edelste Sport für Euch !«382 Auch die Schuljugend ab 14 Jahren soll ihren Beitrag »zu praktischer werktätiger Heimat – und Vaterlandsliebe« leisten. In Absprache mit dem Kriegsfürsorgeamt wird in Niederösterreich ein Schülerhilfskorps gegründet. Die Zustimmung der Eltern vorausgesetzt , können Schüler zu Botendiensten und einfachen Kanzleiarbeiten eingesetzt werden , auch beim Roten Kreuz und den Bahnhofsmissionen sowie bei Feld- , Weinberg- und Gartenarbeiten. Mädchen ab 14 sind prädestiniert für karitative Zwecke in Spitalsküchen , als Haushaltshilfen bei Familien von Einberufenen und zu Näharbeiten. Der Krieg macht sich bereits am 25. Juli 1914 durch Ausnahmeverfügungen bemerkbar. Die Grundrechte werden suspendiert : Vereins- und Versammlungsfreiheit , Pressefreiheit , Briefgeheimnis und persönliche Freiheit des Hausrechtes. Das gilt auch für die Institution der Geschworenengerichte. Telegrafen- und Telefonverkehr werden eingeschränkt und überwacht. Die 21. Session des Reichsrates wird durch kaiserliche Verfügung geschlossen , dazu auch der Permanenzausschuss. Das gilt ebenso für die Landtage der Kronländer. Sämtliche Abgeordneten verlieren ihre Immunität. Die Anhänger des Parlamentarismus empfinden es besonders schmerzlich , dass selbst in diesen schicksalsschweren Tagen der Reichsrat nicht einberufen wird , »um über die diplomatischen Vorgänge Klarheit zu geben , … in Oesterreich weiß man den Wert nicht zu würdigen , der in dem Bekenntnis des Volkes zu der 265
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Politik des Staates liegt. Nach der feierlich-weihevollen Sitzung des deutschen Reichstages empfinden wir von neuem und doppelt tief die Demütigung , die darin liegt , daß den Völkern durch Monate und ohne zwingende Not das Recht des Mitsprechens und Mitentscheidens genommen ward , daß wir in einen Weltkrieg eingetreten sind , der über unsere gesamte Zukunft entscheiden kann , ohne daß man das Bedürfnis empfunden hätte , das Parlament zu versammeln«383, beklagen die Sozialdemokraten. Während noch der bacchantisch anmutende Jubel über den Kriegsausbruch die Straßen Wiens durchtost , zeigt der Krieg schon am ersten Tag durch eine drastische Verteuerung der Lebensmittel sein wahres Gesicht. Hatten 10 kg Kartoffeln noch 1,40 bis 1,80 Kronen gekostet , so werden nun plötzlich 3 , 4 oder gar 5 Kronen verlangt. Rasch geht der erste Schock der Käufer in Erbitterung über und macht sich auch in Gewalt Luft. Am Naschmarkt wird ein Standler , der 6 Kronen verlangte , von einer aufgebrachten Menge verprügelt , sein Stand demoliert. Ähnliche Szenen spielen sich auf dem Rudolfsheimer Markt ab. Hemmungslose Spekulation einerseits und Hamsterkäufe andererseits haben die Spirale der Teuerung in Bewegung gesetzt. Bürgermeister Weiskirchner erhebt seine »mahnende Stimme« und appelliert an den Gemeinsinn aller Bürger , um den »unvermeidlichen Notstand , den ohnehin jeder Krieg im Gefolge hat«, durch »eigennütziges Treiben nicht zu verschärfen«. Und er richtet an »die verehrlichen Hausfrauen die Bitte , nicht durch unnützige Vorankäufe die Marktlage zu erschweren«384. Abgesehen von Spekulation und Hamsterkäufen kommt erschwerend hinzu , dass die Lieferungen von Obst , Gemüse und Milch aus Ungarn plötzlich aufhören. Insgesamt gilt es jetzt kühlen Kopf zu bewahren und den Wienern nachdrücklich zu versichern , dass die Versorgung der Stadt gesichert ist , »auch angesichts der Beanspruchung der Hauptbahnen für Mobilisierungszwecke wie sie in der Nacht vom 5. auf den 6. August eintreten wird«385. Täglich werden zwei Züge mit »Approvisierungsartikeln« durchgelassen. »Es wird Sorge getragen werden , daß die von den Marchfeldbahnen in Stammersdorf anlangenden Lebensmittel auf die von den städtischen Straßenbahnen dort beigestellten Lastwagen überladen und nach Wien geführt werden können.«386 Die Lebensmittelmärkte werden nun schärfer auf Preistreiberei überwacht.
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Abb. 136: Kampf gegen die Preistreiberei : Glockengeläut auf Wiens Märkten
Wucherern droht schon beim erstmaligen Fall Arrest von bis zu sechs Monaten und eine Geldstrafe von bis zu 2. 000 Kronen. Mit Gelassenheit nehmen es die meisten hin , dass in den Bäckereien , Gast- und Kaffeehäusern die beliebten Kaisersemmeln und Salzstangen nicht mehr zu haben sind. Es gibt ab nun nur mehr »Kriegsbrot« und kleinere rundliche Wecken , die scherzhaft »Kriegsknödel« genannt werden. »Mitbürger ! Kein Mißtrauen in die Banknoten ! Heraus mit Kronen und Nickel ! Wer sein Hartgeld in dieser ernsten Zeit dem Verkehr entzieht , schädigt die ganze Volkswirtschaft ! Häuft keine Kronen an und gebt sie wie sonst in den Verkehr !«387 Dieser Appell von Bürgermeister Weiskirchner ist überall in der Stadt zu lesen. Der Mangel an Münzen ist zum zweiten großen Pro blem geworden. Es geht das Gerücht um , Papiergeld sei in Kriegszeiten nichts wert. Besser man hortet die aus Silber und Nickel bestehenden Kronenmünzen. Der plötzliche Mangel an Hartgeld führt zu Stockungen im Zahlungsverkehr. Die Österreichisch-Ungarische Bank gibt deshalb an Private nur mehr 50 Kronen Kleingeld ab , wenn sie einen legalen Bedarf nachweisen können. Wieder macht sich speziell der Hass auf Serbien bemerkbar. Gefährlich lebt , wer nur in den geringsten Verdacht gerät , ein Freund der Serben zu sein , oder bloß aus Spaß »Hoch Serbien !« ruft. Das erfährt 267
Wien 1914
der Friseur Marko Radojcic , der in der Habsburgergasse ein Geschäft hat. Ungarischer Staatsbürger serbischer Herkunft ist er seit Langem in Wien ansässig. Am 4. August 1914 macht in einer Menschenmenge , die vor dem deutschen Konsulat am Graben wartet , das Gerücht die Runde , Radojcic habe sich verächtlich über Österreich geäußert. »Des Publikums bemächtigte sich die allergrößte Erbitterung. Vom Konsulat weg , das nur einige Häuser von dem Friseurladen entfernt ist , eilten Hunderte in die Habsburgergasse , und in den nächsten Minuten waren von der entrüsteten Menge die Fensterladen des Friseurgeschäftes zertrümmert. Das Portal , die Firmenschilder , ja sogar die messingenen Seifenschüsseln , das Symbol des Raseurs , waren zerschlagen. Radojcic selbst , der auf der Straße stand , wurde von den Leuten angegriffen und mißhandelt. Rasch war Sicherheitswache herbeigeeilt und entriß den Friseur den Händen der aufgeregten Menge , die den Akt der Lynchjustiz fortgesetzt hätte. Radojcic wurde zum Polizeikommissariat Innere Stadt gebracht und dort protokollarisch einvernommen. Die Amtshandlung ist eingeleitet. Einige junge Leute trugen Stücke des demolierten Portals und die Metallseifenschüsseln unter Hochrufen als Trophäen über den Graben.«388
Abb. 137 : Die Volksseele kocht : Wegen angeblich proserbischer Äußerungen des Besitzers wird ein Friseursalon in der Habsburgergasse demoliert , Trümmerteile werden zugunsten des Roten Kreuzes verkauft
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Ähnliche Szenen spielen sich in der Grünangergasse ab , wo das Karikaturenblatt Kikeriki sein Verkaufslokal hat. Eine Karikatur auf Generalstabschef Conrad von Hötzendorf bringt die Volksseele zum Kochen. Unter dem Ruf »Hoch Österreich !« stürmt eine Volksmenge das Lokal , zertrümmert die gesamte Einrichtung , reißt die Luster herab und zieht mit Bruchstücken als »Trophäen« johlend durch die Gasse. Das Verkaufspersonal hat längst das Weite gesucht. Im Gegensatz zu Linz ist in Wien aber kein Todesopfer von Lynchjustiz zu beklagen. Ansonsten aber scheint gefühlsmäßig das Positive vorherrschend : »Vielleicht ist es das Merkwürdigste dieser unvergeßlichen Tage , daß ein jeder von uns es förmlich physisch fühlt , wie er ein anderer und ein besserer Mensch wird , wie die Vorurteile von ihm abfallen , die Hochmütigkeiten und die Kleinlichkeiten , wie man sich jeder Kälte und jeder egoistischen Regung schämt , wie das Wort Mitmensch aufhört , leerer Schall und Rauch zu sein und wir uns alle als Brüder fühlen. Jawohl , man darf wieder pathetisch fühlen , pathetisch denken und sogar pathetisch sprechen , und eine neue Zeit ist angebrochen , die der Blasiertheit das Grab schaufelt , der tändelnden Ironie und der frivolen Zweifelssucht … Diese ganze Menschenmasse beherrscht ein Gefühl , beseelt ein mächtiger Wille , läßt ein Streben alles Trennende vergessen.«389 Bei so viel Einheit im Fühlen und Denken hält es einen nicht in den eigenen vier Wänden : »So vergeht der Tag und der Abend , es wird Nacht , schöne klare Sommernacht. Aber das ist durchaus kein Grund nach Hause zu gehen. Man sitzt vielmehr stundenlang vor den großen Ringstraßenkaffeehäusern , die ihre Tische und Sessel fast über die ganz Trottoirbreite bis an den Straßenrand aufstellen müssen. Man hat schon sämtliche Zeitungen gelesen und ein Dutzend Zigaretten geraucht , aber man kann sich nicht entschließen , nach Hause zu gehen. Weil es einem in dieser Stimmung einfach unmöglich ist , in den stummen vier Wänden seiner Wohnung zu bleiben , weil man mit anderen Menschen beisammensein und Worte hören will , wenn man sie auch noch so oft gehört hat. Und vor allem sitzt man hier in der Erwartung , daß heute abend doch noch eine Neuigkeit kommen muß , mit einem unlöschbaren Durst nach Nachrichten und Tatsachen , und wenn sie durchaus nicht kommen wollen , so kombiniert man sie sich. Bis man schließlich ermattet und zögernd nach Hause geht , aber die wenigen Stunden unruhigen Schlafes sind nur eine kurze Unterbrechung der ungeheuren Spannung und am Morgen erwacht man mit den selben Fragen und Sorgen , mit denen man einschlief , wartet wieder bis zum Abend , einen Tag wie den anderen. Nein , das ist kein Sommer. Es sind überhitzte , erregte , grandios gepanzerte , eisern starre Tage.«390 269
Wien 1914
»Kriegszeit ist Gotteszeit«, ruft das Volksblatt für Stadt und Land seinen Lesern in Erinnerung : »Unser liebes , schönes Vaterland Oesterreich und das herrliche Deutschland hat der liebe Gott zuerst zu den Waffen gerufen. Es wird ernst , sehr ernst werden , es handelt sich um die Existenz. Namentlich Oesterreich möchte man austilgen aus der Geographie Europas. Dieser katholische Staat , der Hauptschild der katholischen Kirche hier auf Erden , er soll zerschmettert werden , er soll verschwinden. Von den Freimaurerlogen weiß man es schon lange , daß sie dies wollen. Darum das ständige Hetzen im Hintergrunde. Darum das Anstiften von Attentaten auf solche , die derlei Hetzen als starke , führende Persönlichkeiten gegenüberstehen … Mit ruhigem Blicke können wir in die Zukunft schauen ; denn die Gerechtigkeit und Notwendigkeit sind mit unseren Waffen. Nicht Leichtsinn , nicht Eroberungslust haben von unserer Seite diese Zeiten herauf beschworen. Was sein muß , muß sein. So müssen wir wissen : ›Gott will es !‹ Gottes heiligster Wille sei angebetet.«391 Für einen Gläubigen vermag die Macht des Gebetes viel , überhaupt dann , wenn man vom Bösen angegriffen wird. Darauf verweist Kardinal Piffl in einem Hirtenbrief : Dem Kaiser sei »durch maßlose Herausforderungen eines Nachbarstaates das Kriegsschwert in die Hand gedrückt worden … Mit vollem Vertrauen auf die gerechte Sache unseres Vaterlandes ziehen unsere Söhne und Brüder in den Kampf.«392 Der Kardinal verfügt , dass ab nun bei allen heiligen Messen eine Kriegskollekte eingeschaltet wird. In allen Pfarrkirchen wird zudem eine Betstunde vor dem ausgesetzten Allerheiligsten abgehalten und täglich nach der Hauptmesse und der nachmittäglichen Segensandacht extra für den Kaiser und die Soldaten im Feld gebetet , dazu drei Vaterunser und drei Ave Maria. 18. August 1914 : Kaisers 84. Geburtstag : »Ein Kaisertag in Kriegsnot und Kampfeslärm , ein Kaisertag , den ein Brand umleuchtet , wie ihn die Welt seit ihrem Bestande noch nicht gesehen. Millionenheere marschieren über den zitternden Boden und noch sind die Grenzen der Verwicklungen nicht abzusehen.«393
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Abb. 138
»Auch diesmal läuteten die Glocken den hohen Festtag ein , Orgelton und Chorgesang drangen lobpreisend zum Himmel. Aber kriegerische Klänge mischten sich in die Choräle und Gebete , die aus inbrünstigen Herzen zum Allmächtigen drangen , erflehten den Sieg unserer Waffen.«394 »Wohl kaum jemals sah Wien einen so lebhaften großstädtischen Graben und Kärntnerstraßenkorso wie er sich heute entwickelte. Unübersehbare Menschenmassen wogten durch die Straßen , um die festlich geschmückten Auslagen zu bewundern.«395 Bis auf den letzten Platz gefüllt ist der Stephansdom , Hunderte Menschen müssen draußen bleiben , als um 11 Uhr das feierliche Hochamt mit Tedeum , zelebriert von Kardinal Piffl , beginnt. Im Dom ist alles versammelt , »was Glanz und Namen hat , und nicht unter Waffen steht«.396 Der Kaiser selbst ist in Schönbrunn geblieben. 271
Wien 1914
Es ist der Tag der Festsitzungen und Trinksprüche und des »Gott erhalte …«. Feierlich ertönt die Volkshymne auch in den Synagogen Wiens. Im Leopoldstädter Tempel tritt der Kultusvorstand zu einer Festsitzung zusammen. »Für unsere 200. 000 Wiener Juden stehe und spreche ich hier«, sagt Präsident Dr. Stern. Nun , da der Kaiser gezwungen worden sei , seine Völker zu den Waffen zu rufen , vereinigen sich auch »wir österreichischen Juden , gleich ihnen allen , zu fester , enggeschlossener Phalanx der Treue … Uns ist es , als ob der gütigste Herrscher von der Vorsehung die Sendung erhalten hätte , sein segenreiches Lebenswerk damit zu krönen , daß die ältesten Ghettomauern , die bisher allen Einflüssen der Kultur Trotz boten … unter der Wucht der gerechten Waffen des edelsten Herrschers zusammenstürzen , wie auf sein Machtwort die Ghettomauern in diesem Reiche fielen. Hinter jenen Ghettomauern Rußlands , gegen welches unsere Besten jetzt todesmutig zu Felde ziehen , schmachten sechs Millionen Juden unter dem Drucke unmenschlicher Barbarei … Unserem Herzen aber entquillt in dieser Stunde der tiefinnige Wunsch , der Allmächtige … lasse ihn den Sieg seiner ruhmreichen Armee schauen , er gewähre ihm die Herzensfreude , daß er mit der Fackel der Gerechtigkeit in das Land der Finsternis hineinleuchte und dort Freiheit und Recht zu Ehren bringe.«397 »Als es dunkel geworden war , flammten hier und dort leuchtende Transparente auf , flimmernde Lampions schaukelten um Kaiserbilder und Doppeladler. Besonders stimmungsvoll und feierlich wirkten wieder die von Soldatenhänden arrangierten Dekorationen vor den Stadtbahnstationen. Hunderte von Menschen sammelten sich dort um die Krieger an , und während die transparenten Kaiserbilder und Sprüche rot aufleuchteten , erklang immer wieder der jubelnde Zuruf des Publikums an die Soldaten , und das ›Gott erhalte unsern Kaiser‹. Spät abends heiterte sich das Wetter auf , die Sterne wurden sichtbar und nun konnten sich die großen Umzüge um den Ring mit Musik , Lampions und eichenlaubgeschmückten Landstürmlern unter dem Jubel der Menge entwickeln. Inzwischen hatte sich auch der Volksprater in althergebrachter Weise mit Zehntausenden von Menschen gefüllt , und wenn man heute auch kein Feuerwerk abbrannte , überhaupt das allzu Laute und Lärmende vermied , so gestaltete sich das Kaiserfest im Prater doch wieder zu einem wahren Jubelfest.«398
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Abb. 139: Zu Kaisers Geburtstag von Landsturmmännern geschmückt : die Stadtbahnstation Schönbrunn
Abb. 140 : Kaiserfeier in der Stiftskaserne
Womit könnte man dem Kaiser zum Geburtstag die größte Freude bereiten ? Wohl am besten mit der Umsetzung seines Wahlspruches »Viribus unitis« ( m it vereinten Kräften ). »Auf den Feldern , auf denen das Blut von Deutschen , Slaven , Magyaren und Romanen zusammenfließt für das Vaterland , blüht eine weiße Wunderblume auf , herrlich wie sie nie gesehen worden : Die wahrhafte Vereinigung und Verbrüderung der 273
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Völker der Monarchie … Dieses Blut betaute Geschenk , das die Größe und Unüberwindlichkeit der Monarchie verheißt , ist die Geburtstagswidmung für unseren guten , geliebten Kaiser ! … Der historische Kaiserstaat ist wie mit einem Zauberstab wieder in das ersehnte AltGroß-Österreich umgewandelt.«399 An der Schwelle seines 85. Lebensjahres kann man dem Kaiser nur eines wünschen : »Möge bald wieder die Sonne des Friedens über einem glücklichen , mit hohen Kriegsehren ausgezeichneten Österreich strahlen , damit unser edler Kaiser solcherart auf das reichlichste entschädigt werde für die bange Sorge , die ihm in hohem Alter auferlegt wird … Das walte Gott !«400 Rasch kehrt der Kriegsalltag wieder. Alles dreht sich darum , wie es an der Front weitergeht. »Natürlich geht’s denen , die zurückbleiben mußten , viel zu langsam. Sie sind sich darüber einig , daß ›der Serb‹ schon auf Reißfleisch gehackt , ›der Ruß‹ auf Kaviar gerieben sein sollte. … In den Buchhandlungen hängen große Karten , in die man kleine schwarzgelbe und schwarzweißrote Fähnchen gesteckt hat. Die Verbündeten stehen jenseits der Grenzen und die Umstehenden hören bewundernd von einem Kundigen , daß die besetzten Ortschaften 50 , 60 , 70 Kilometer im Feindesland sind. ›Auf diese Art sind wir in vier Wochen in Warschau und die Deutschen in Paris !‹ «401 Ja , da könnten die Soldaten wirklich zu Weihnachten bereits zu Hause sein ! Wahrlich ein Grund zur Freude : »Nirgends sieht man kummervolle Mienen , überall nur siegessichere Heiterkeit. Lachend zogen unsere Tapferen ins Feld und lachend senden ihnen die Zurückgebliebenen ihre Segenswünsche nach. Die große Zeit , sie fand ein großes Geschlecht !«402
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Epilog »Und wenn wir einmal unseren Enkeln von dieser aus den Fugen geratenen Zeit berichten , dann werden sie hinter uns alten Leuten die Köpfe schütteln , weil wir so sonderbar vom Ausbruch des großen europäischen Krieges zu erzählen anfangen : Es war ein wunderschöner friedlicher Sommerabend …« Nein , so märchengleich fielen die Erzählungen der Zeitzeugen nicht aus , wie sich das der Feuilletonist des Jahres 1914 vorgestellt hat. Was sie zu berichten hatten , das war vor allem das unsägliche Leid , das der bisher schlimmste Krieg über die Menschheit gebracht hatte. Die Köpfe haben die Enkel aber sehr wohl geschüttelt über die Welle der Kriegsbegeisterung , der sich nur wenige entziehen konnten. Wie konnte man so naiv sein , war die Frage – allerdings im Wissen um den Ausgang des Krieges mit der Gesamtbilanz von acht Millionen Gefallenen , 20 Millionen Verwundeten und drei Millionen Seuchentoten. Was sich niemand in der Euphorie des Sommers 1914 – »in dieser ernsten Zeit , die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit , daß sie ernst werden könnte« ( K arl Kraus ) – hätte vorstellen können , wird Realität sein : das Habsburgerreich zertrümmert , der Doppeladler ausgeblutet , die Habsburger enteignet und des Landes verwiesen , der Adel abgeschafft ; dem klein gewordenen Österreich wie seinen ehemaligen Verbündeten die »Alleinschuld« am Ausbruch des Krieges aufgebürdet ( Friedensvertrag von St.-Germain , Artikel 177 ). »Der letzte Glanz der Märchenstadt« erloschen , Wien zum »Wasserkopf« einer Republik degradiert , die an ihre Lebensfähigkeit nicht glauben will. In schlimmster Erinnerung blieb der Erste Weltkrieg den Betroffenen die Hungerkatastrophe , die teils ekelerregenden Ersatzstoffe für Lebensmittel , die rachitischen Kinder und die rasante Geldentwertung. »In ganz Europa gehen die Lichter aus , wir werden es nicht mehr erleben , dass sie wieder angezündet werden«, hatte der britische Außenminister Sir Edward Grey zu Kriegsbeginn in der Vorahnung gesagt , dass die alte Welt dabei war , sich den Todesstoß zu versetzen und ein dunkler Weg bevorstand , von dem niemand sagen konnte , wie die Welt danach aussehen mochte. Die Büchse der Pandora war in leichtsinniger Weise geöffnet worden. »Und nun fällt eine schwarze Wolke über Europa ; und wenn sie sich wieder teilt , wird der Mensch der Neuzeit dahingegangen sein : weggeweht in die Nacht des Gewesenen , in die Tiefe der Ewigkeit ; eine dunkle Sage , ein dumpfes Gerücht , eine bleiche Erinnerung. Eine der zahllosen Spielarten des menschlichen Geschlechts hat ihr Ziel erreicht und ist unsterblich : zum Bilde geworden.« ( Egon Friedell ) 275
Glossar affektiert hier : vortäuschen , zu scheinen versuchen Animo österr. für Vorliebe , Lust , Schwung annus horribilis lat. schreckliches Jahr Approvisionierung veraltet Versorgung mit Lebensmitteln Arcièren-Leibgarde 1763 von Maria Theresia gegründete kaiserliche Leibgarde Aspergile auch Aspergill , in der katholischen Liturgie gebrauchter Weihwasserwedel Aubusson gewirkter Bildteppich , benannt nach der gleichnamigen französischen Stadt Baluster steinerne oder hölzerne Stütze mit stark profiliertem Schaft an einer Brüstung oder an einem Geländer Böotier altgriechisches Volk , das für seine Schwerfälligkeit , Derbheit , Lasterhaftigkeit und seinen Hochmut verspottet wurde Büchse der Pandora nach der griechischen Mythologie Gefäß im Besitz von Pandora , der Frau des Epimetheus. In ihm waren sämtliche Übel enthalten ; durch Öffnung der Büchse verbreiteten sie sich über die ganze Menschheit Canonicus lat. , eingedeutscht Kanoniker , Chor- , Dom- oder Stiftsherr Cercle geschlossene Gesellschaft , Cercle halten : Gäste bei einem höfischen Empfang ins Gespräch ziehen Chambre particulièrs frz. Extrazimmer Chapeau claque frz. zusammenklappbarer Zylinder chargieren in studentischer Festtracht erscheinen Charta Magna lat. Großes Staatsgrundgesetz , hier : religiöse Ausgangsbasis Chiffernote vom frz. Chiffre , Schrift , Geheimzeichen , hier : Mitteilung in geheimen Schriftzeichen Couturier frz. Modeschöpfer für exklusive Bekleidung Cutaway engl. Sakko mit abgerundeten schwalbenschwanzähnlichen Rockschößen Déjeuner dinatoire frz. , eigentlich »Mittagsfrühstück«, Bankett mit warmen Speisen Dekalog d ie Zehn Gebote 276
Glossar
Delegationen aus je 60 Mitgliedern der beiden Parlamente ( österr. Reichsrat und ung. Reichstag ) bestehende Gremien , die einmal im Jahr über die Finanzierung der gemeinsamen Angelegenheiten nach getrennten Beratungen Beschlüsse fassen , aber keine Gesetze beschließen konnten. Die drei gemeinsamen Ministerien der Doppelmonarchie ( Außenpolitik , Finanzen und Krieg ) waren den Delegationen verantwortlich Demant veralteter Begriff für Diamant Diaspora Zerstreuung religiöser Glaubensgenossen , vornehmlich der Juden Diätenparasit Abgeordneter , der nur an seinem Gehalt ( Diät ) interessiert ist Diplokokken paarweise , in Ketten vorkommende Kokkenbakterien , die etwa bei Lungenentzündung und Meningitis festgestellt werden Dreadnought engl. wörtlich Fürchtenichts , allgemeine Bezeichnung für moderne Großkampfschiffe mit mehr als 20. 000 Tonnen und einheitlicher Artillerie Dreyfus-Prozess benannt nach dem Angeklagten Alfred Dreyfus , französischer Artilleriehauptmann jüdischer Abstammung , zu Unrecht wegen Spionage zugunsten Deutschlands verurteilt , später rehabilitiert , der DreyfusProzess verursachte um 1900 eine schwere innenpolitische Krise in Frankreich und offenbarte das Ausmaß an Antisemitismus in der französischen Gesellschaft Drude altdeutsch Hexe , Zauberin düpieren betrügen , täuschen Ecclesia triumphans lat. , die triumphierende Kirche , hier speziell der Sieg der katholischen Kirche durch die Gegenreformation in den habsburgischen Erblanden Entente cordiale frz. , zu deutsch Herzliches Einverständnis , Bezeichnung für die britisch-französische Verständigung von 1904 Enzyklika Päpstliches Rundschreiben 277
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Eskader veraltet für Schiffsverband Eskadron veraltet für Schwadron , kleinste Einheit der Kavallerie fatieren österr. veraltet für eine Steuererklärung abgeben Fayencejardiniere Gefäß aus glasierter , bemalter Keramik für Blütenpflanzen Feldmarschalldistinktion die einem Feldmarschall zustehenden Rangabzeichen an der Uniform , hier am Uniformkragen , Distinktion : besondere Vornehmheit , durch die sich jemand auszeichnet Feuilleton frz. , kultureller , nichtpolitischer Teil einer Zeitung Fideikommiss u nveräußerliches Familiengut Fourgon österr. veraltet für Leichenwagen Ganymed in der griechischen Mythologie Liebling des Jupiter , hier gemeint als Mundschenk Genre frz. Gattung , Art , Wesen Geviertmeter veraltet für Quadratmeter Gourmand f rz. Vielesser Habit A mtskleidung halluzinatorisch auf Sinnestäuschungen beruhend haranguieren feierlich anreden , auch : das große Wort führen Hechste Secession Wienerisch für reinen Jugendstil Höllenbreugel Beiname des niederländischen Malers Pieter Brueghel des Jüngeren , bekannt durch seine kleinformatigen Höllenszenen Honneurs frz. Ehrenerweisung Inundationsgebiet bei der Regulierung der Donau am linken Flussufer künstlich geschaffenes Überschwemmungsgebiet zum Schutz Wiens vor Hochwasser , nach Schaffung der Donauinsel aufgelassen Jeunesse dorée frz. leichtlebige , elegante Jugend der Oberschicht Kiebitz Wienerisch Zuschauer beim Kartenspiel , aber auch bei einer Gerichtsverhandlung Lampasse breiter farbiger Streifen an den Seitennähten einer Uniform- oder Trachtenhose 278
Glossar
Malice veraltet für Bosheit Marabu Schmuckfedern vom Vogel Marabu aus Indien Massendelirium Massenwahn Miserere katholischer Kirchengesang , hergeleitet von den Einleitungsworten Miserere mei , Domine ( Herr , erbarme dich meiner ! ) Moiré frz. schillerndes Gewebe Morbus viennensis lat. , zu deutsch Wiener Krankheit , Bezeichnung für die durch Tröpfcheninfektion übertragene Tuberkulose , die in Wien so verbreitet war , dass sie im medizinischen Bereich mit dieser Stadt assoziiert wurde Nibelungentreue aus dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied herrührend , bedeutet uneingeschränktes Einstehen eines Herrn für seinen Vasallen , hier : vom deutschen Reichskanzler Bernhard von Bülow geprägter Begriff für die unverbrüchliche Bündnistreue zwischen den Dreibundmächten Patronessen hier Mitglieder eines Ballkomitees Perron frz. Bahnsteig Personalunion Zwei oder mehrere Staaten mit einem gemeinsamen Staatsoberhaupt Piemont italienischer Teilstaat , der zum Kernland der politischen Einigung Italiens wurde , Synonym für gleichartige Bestrebungen anderer Staaten Pilaster flacher Wandpfeiler Plissiert frz. , streifig , von Plissée : Kleiderstoff , der sich von selbst in Falten legt Pontifikalsegen in der katholischen Liturgie Segen eines hohen Geistlichen Prestigitateur frz. Zauberkünstler Primogenitur Th ronfolge nach dem Erstgeburtsrecht Realunion Verbindung zweier staatsrechtlich selbstständiger Staaten sowohl durch ein gemeinsames Staatsoberhaupt als auch durch verfassungsrechtlich verankerte gemeinsame staatliche Institutionen
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Renunziation vom spätlat. renuntiare : Verzicht leisten , speziell auf dynastische Herrschaftsrechte oder die Anwartschaft darauf Rout frz. großer Gesellschaftstag oder -abend , an dem die Gäste uneingeladen teilnehmen können und bei dem es nicht üblich ist , sich zu setzen , daher als Stehempfang bezeichnet Schubwagen Polizeiwagen zur Beförderung von festgenommenen Personen Sekundogenitur Thronfolge nach der der zweitgeborene Sohn den Thron erbt , beispielsweise die Herrschaft der Habsburger im Großherzogtum Toskana bis 1859 Séjour frz. Aufenthalt , Ort des Verweilens Sensualismus L ehre , wonach alle Erkenntnis auf Sinneswahrnehmung beruht Soirée dansante frz. Abendgesellschaft mit Tanz Sokolfest Fest des Turnerbundes »Sokol« ( zu deutsch der Falke ), bei dem die nationalen Interessen der Slawen in oft radikaler Manier betont wurden solenn vom lat. solemnis festlich , feierlich Steeplechase engl. , ursprünglich ein Wettlauf über Stock und Stein mit dem Kirchturm als Ziel , dann allgemein die Bezeichnung für ein Pferde-Hindernisrennen Sternkreuzorden 1668 gegründeter höchster adliger Damen orden der Monarchie , ihm konnten nur katholische Damen angehören , die jeweils acht adlige Vorfahren der väterlichen und mütterlichen Seite nachweisen konnten Sukzession Th ronfolge Taffet veraltet für Taft , leichter , beidseitig glatter Stoff aus Seide Talmudismus abgeleitet von Talmud , der nachbiblischen jüdischen Gesetzessammlung Tedeum lat. Lobgesang während der Hl. Messe der katholischen Kirche Tetralogie Folge von vier zusammengehörenden Dramen , hier von politischen Vorgängen
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Glossar
Totalisateur
s taatliche Einrichtung zum Abschluss auf Wetten für Rennpferde Trabantenleibgarde L eibgarde des Kaisers , bestehend aus verdienten Armeeangehörigen , die turnusmäßig ausgewechselt wurden , im Gegensatz zur Arcièrenleibgarde und der königlich ungarischen Leibgarde auch für Unteroffiziere zugänglich Triduum lat. dreitägiges Gebet in der katholischen Kirche Tripelentente frz. , zu deutsch Dreiverband , lose politische Verbindung zwischen Frankreich , Großbritannien und Russland , später durch militärische Vereinbarungen gefestigt als Gegengewicht zum Dreibund Deutschland , Österreich-Ungarn und Italien Truchseß ursprünglich Hof beamter , der die Aufsicht über die fürstliche Tafel innehatte , später Ehrentitel Ulanen A ngehörige der leichten Kavallerie ; in Österreich-Ungarn wurde 1867 die Bewaffnung mit Lanzen abgeschafft , durch Säbel und Mannlicher-Karabiner M 1895 ersetzt Vagabondage frz. Landstreicherei Waselbua wienerisch Waisenknabe weiland veraltet für früher , einst
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Register Adelgunde , Herzogin von Modena 172 Adelheid , Erzherzogin , Tochter des zweiten Thronfolgerpaares Karl und Zita 32 Adler , Emma , Ehefrau von Viktor Adler 98 Adler , Viktor , sozialdemokratischer Parteiführer 98 , 110 , 113 Angermayer , Karl , christlichsozialer Politiker 106 Armbruster , Anton , Hofwagen fabrikant 197 Austerlitz , Friedrich , Journalist , Chefredakteur der »Arbeiterzeitung« 113 Badeni , Kasimir Graf , österr. Ministerpräsident 76 Barrison , Gertrude , Tanzkünst lerin 149 Bauer , Leopold , Architekt 179 Berchtold , Leopold Graf , k. u. k. Außenminister 250 , 251 Berndl , Florian , Naturheilkundiger 214 Berstl , sozialdemokratischer Politiker 113 Bilinski , Leon Ritter von , k. u. k. Finanzminister 210 Billroth , Theodor Prof. , Mediziner 115 Bittner , Julius Dr. , Komponist und Dichter 180 Bjelik , Emmerich Dr. , Militär bischof und Feldvikar 70 Blanka , Erzherzogin 10 Blasel , Leopold Dr. , Bezirksvorsteher 116 Blau-Lang , Tina , Malerin 105
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Blériot , Louis , Flugzeugpilot 138 , 141 Blumenthal , Oscar , Schriftsteller und Theaterkritiker 108 Bong , Wiener Diözesanreferent 109 Börne , Ludwig , Dichter 108 Bourhis , Jean , Flugpionier 138 , 139 Brandes , Georg , Schriftsteller 108 Brang , Peter Paul , Architekt 178 Braun , Adolf , sozialdemokratischer Politiker und Publizist 113 Bunsen , Maurice de , Sir , britischer Botschafter in Wien 258 Burg , Ferdinand , vormals Erzherzog Ferdinand Karl 36 Burjan , Hildegard Dr. , Gründerin der Caritas socialis 102 Chevillard , Flugpionier 138 Christ , Militärkapellmeister 33 Conrad von Hötzendorf , Franz , k. u. k. Generalsstabschef 229 , 269 Croy , Rosa Prinzessin 154 Czernin-Morzin , Graf , Autorennfahrer 193 Diamand , sozialdemokratischer Politiker 113 Domes , Franz , sozialdemokratischer Politiker 46 Dreher , Anton , Bierbrauer 135 Dreyfus , Alfred , Angeklagter in Spionage-Affäre 117 Dumaine , Alfred , französischer Botschafter in Wien 258 Ebner-Eschenbach , Marie von , Dichterin 144 Eder , Christian , Hofpfarrkapellmeister 32 , 33 Eder , Hofopernsängerin 33
Register Edison , Thomas Alva , Erfinder 10 Eduard VII. , König von Großbritannien 121 Elias , Prinz von Bourbon-Parma 194 Elisabeth , Kaiserin von Österreich 145 , 187 , 214 Elisabeth , Königin von Rumänien ( Carmen Sylva ) 23 Ellenbogen , Wilhelm Dr. , sozialdemokratischer Politiker 113 Eugen , Erzherzog , Hochmeister des Deutschen Ritterordens 33 , 208 Fall , Leo , Komponist 9 Fickert , Auguste , Frauenrechts aktivistin 99 Fischer von Erlach , Johann Bernhard , Architekt 35 Fischer von Erlach , Joseph Emanuel , Architekt 35 Ford , Henry , Autoproduzent 195 Franz Ferdinand , Erzherzog , Thronfolger 7 , 30 , 33 , 36 , 37 , 71 , 118 , 145 , 146 , 172 , 208 , 209 , 210 , 224 , 232 , 237 , 241 , 242 , 243 Franz I. Stephan , römisch-deutscher Kaiser 158 , 295 Franz Joseph I. , Kaiser von Österreich , König von Ungarn 17 , 36 , 59 , 76 , 118 , 119 , 120 , 121 , 122 , 142 , 143 , 144 , 145 , 146 , 223 , 225 , 239 , 256 , 257 Franz Joseph Otto , Erzherzog , später Dr. Otto Habsburg 30 Fraß , christlichsozialer Stadtrat 112 Freundlich , Emmy , Nationalökonomin und Frauenrechtsaktivistin 89 , 98 Freund , sozialdemokratischer Politiker 113 Fried , Alfred , österr. Friedensnobelpreisträger 217
Friedrich , Erzherzog 33 Fulda , Ludwig , Schriftsteller 108 Funder , Friedrich Dr. , Chefredakteur der »Reichspost« 111 , 112 , 113 Fürth , Ernestine von , Frauenrechtsaktivistin 94 Giesl von Gieslingen , Wladimir , k. u. k. Gesandter in Belgrad 251 Glöckel , Otto , sozialdemokratischer Politiker und Pädagoge 46 Goethe , Johann Wolfgang , Dichter 175 Goldmark , Karl , Komponist 144 Gregor , Hans , Direktor der Wiener Hofoper 50 Grey , Edward Sir , britischer Außenminister 28 , 275 Grillparzer , Franz , Dichter 38 , 173 Grünbaum , Fritz , Kabarettist 9 Guglielmi , Gregorio , Maler 17 Hainisch , Marianne , Frauenrechtsaktivistin 102 , 104 Hansen , Theophil , Architekt 76 Hanusch , Ferdinand , sozialdemokratischer Politiker 46 Hartmann , Ludo , Erwachsenenbildner und Historiker 108 Haydn , Josef , Komponist 175 Heimann , Rudolf , Choreograf 12 Heine , Heinrich , Dichter 108 Henschel , Chauffeur von Ferdinand Porsche 197 Herzl , Theodor , Begründer der zionistischen Bewegung 110 , 117 , 295 Hirschfeld , Georg , Schriftsteller 108 Hofmannsthal , Hugo von , Dichter 108 Hohenberg , Ernst Prinz von 237 , 239 Hohenberg , Maximilian Fürst von 237 , 239
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Wien 1914 Hohenberg , Sophie , Herzogin von , geb. Gräfin Chotek , Gemahlin des Thronfolgers 37 , 53 , 60 , 208 , 209 , 210 , 224 , 232 , 235 Hohenberg , Sophie Prinzessin von , Tochter des Thronfolgerpaares 237 , 239 Hollitzer , Carl Leopold , Maler , Bühnenbildner und Karikaturist 149 Horch , August , Autokonstrukteur 196 Hussarek , Max Freiherr von , österr. Unterrichtsminister 98 Ingwer , Isidor Dr. , Rechtsanwalt und Experte für Arbeits- und Sozialrecht 113 Jäckel , Friedrich , Architekt 177 Joseph II. , römisch-deutscher Kaiser 169 , 295 Jovanovic , Jovan , serbischer Gesandter in Wien 210 , 240 , 258 Karl Franz Joseph , Erzherzog und zweiter Thronfolger , später Kaiser Karl I. von Österreich , König Karl IV. von Ungarn 30 , 31 , 197 , 234 , 237 , 242 , 257 Karl VI. , römisch-deutscher Kaiser 35 Karpeles , Benno , Konsumgenossenschafter , Gründer der Hammerbrot-Werke 113 Kaufmann , Oskar , Architekt 174 Kerzl , Josef Dr. , kaiserlicher Leibarzt 143 , 147 Kleber , Gebrüder , Volksmusiker 12 König , Felix Dr. , Forscher 248 Kralik , Richard von , Kultur- und Literaturhistoriker 108 Kraus , Karl , Schriftsteller 7 , 64 , 243 , 275
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Kreß , Wilhelm , Flugpionier 141 , 218 Kropfmacher , Innenarchitekt 224 Kunschak , Leopold , christlichsozialer Politiker 106 , 107 , 111 Lang , Marie , Frauenrechtlerin 99 L’Arronge , Adolph , Bühnenautor und Theaterkritiker 108 Lasalle , Ferdinand , Begründer der internationalen sozialdemokra tischen Bewegung 113 Legagneux , Eugen , Flugpionier 141 Leiseck , Georg , Bildhauer 178 Lemoine , Alfred , Flugpionier 138 , 139 Léon , Victor , Librettist und Autor 9 Leopold Salvator , Erzherzog 10 , 33 , 34 , 229 , 248 Leo XIII. , Papst 71 Lessing , Magda , Operettensou brette 9 Lippert , Georg , Architekt 175 List , Guido von , völkischer Schriftsteller 115 Lloyd George , David , britischer Schatzkanzler 27 Loos , Adolf , Architekt 180 Ludwig Viktor , Erzherzog 33 , 36 Lueger , Karl Dr. , Bürgermeister von Wien 87 , 106 , 111 , 112 Luise von Toskana , vormals sächsische Kronprinzessin 36 Maria Josefa , Erzherzogin 32 , 33 , 59 , 264 Maria Theresia , Erzherzogin , Stiefmutter Erzherzog Franz Ferdinands 33 Maria Theresia , Kaiserin , Gemahlin des römisch-deutschen Kaisers Franz I. Stephan 295 Marie Christine , Erzherzogin 60 Marie Valerie , Erzherzogin , jüngste Tochter Kaiser Franz Josephs 143
Register Marc Aurel , römischer Kaiser 175 Marschall-Aleman , Lola Gräfin von 95 Marx , Karl , Sozialreformer , Verfasser des Kommunistischen Manifestes 113 Mataja , Heinrich , christlichsozialer Politiker 116 Matsch , Franz von , Maler und Bildhauer 175 Mauthner , Fritz , Schriftsteller , Kritiker und Sprachphilosoph 108 Mautner von Markhof , Editha , Frauenrechtsaktivistin 98 Mayreder , Rosa , Frauenrechtsaktivistin 99 Meisel-Heß , Grete , Frauenrechtsaktivistin 99 Metternich , Klementine Prinzessin von 100 Metternich , Pauline Fürstin von 157 , 158 Montenuovo , Alfred Fürst von , Erster Obersthofmeister Kaiser Franz Josephs 17 , 52 , 60 , 209 , 240 Moreau , Jean , Architekt 178 Mozart , Wolfgang Amadeus , Komponist 170 Müller , Hans , Lustspielautor 9 Napoleon I. , Kaiser der Franzosen 157 , 243 Nepalleck , Wilhelm Friedrich von , Hofzeremonialdirektor 233 Nestroy , Johann , Dichter 162 Neumann , Franz von , Architekt 179 Nikolaus II. , Zar von Russland 250 Nordau , Max , Journalist , Arzt , Mitbegründer der zionistischen Bewegung 24 , 108 , 295 Offenbach , Jacques , Komponist 9
Orenstein , sozialdemokratischer Politiker 113 Orlik , Schwimmmeister 246 , 247 Paar , Eduard Graf von , Generaladjutant Kaiser Franz Josephs 154 , 218 Pankhurst , Emmeline , Suffragettenanführerin 93 Pankhurst , Sylvia , Suffragette , Tochter von Emmeline Pankhurst 93 , 94 , 95 Pasquier , Baron , Flugpionier 138 Payer , Julius von , Nordpolforscher 248 Pégoud , Adolphe , Flugpionier 138 Peham , Heinrich Professor Dr. , Gynäkologe 30 Peter Ferdinand , Erzherzog 60 Pfluger , Josef Dr. , Weihbischof von Wien 70 Pick , Karl , sozialdemokratischer Politiker und Gewerkschafter 113 Piffl , Friedrich Gustav , Fürsterzbischof und Kardinal von Wien 32 , 33 , 70 , 74 , 100 , 186 , 236 , 270 , 271 Pitroff , Kapellmeister 62 Pius X. , Papst 63 , 71 , 100 Plečnik Josef , Architekt 179 Popp , Adelheid , sozialdemokratische Politikerin 91 , 92 , 98 Porsche , Ferdinand , Autokonstrukteur 197 Princip , Gavrilo , Attentäter von Sarajevo 243 Radley , James , Autorennfahrer 196 Radojcic , Marko , Friseur 268 Rahl , Carl , Maler 49 Raimund , Ferdinand , Dichter 9 Rainer , Erzherzog 33 , 57 Redl , Alfred , Offizier im k. u. k. Generalstab , Spion 24
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Wien 1914 Renner , Karl , sozialdemokratischer Politiker , später Staatskanzler 99 Richardson , Suffragette 93 Richter , Elise , Frauenrechtlerin 99 Rose , August , Autorennfahrer 196 Rothschild , Louis Baron , Bankier 114 Rudolf , Erzherzog , Kronprinz von Österreich-Ungarn 36 Rudolf I. , deutscher König aus dem Hause Habsburg 38 , 61 , 169 Sacher , Anna , Hotelbesitzerin 17 , 67 Salten , Felix , Schriftsteller 165 , 173 , 188 , 189 , 190 , 199 , 201 , 217 Schacherl , Michael , sozialdemokratischer Politiker und Publizist 113 Schalk , Franz , Dirigent 53 Schebeko , Nikolaus von , russischer Botschafter in Wien 258 Schlesinger , Therese , sozialdemokratische Politikerin 113 Schmalzhofer , Josef , Architekt und Hof baumeister 179 Schmid , Heinrich , Wiener Stadtrat 183 Schnitzler , Arthur , Schriftsteller 108 Schönerer , Georg , deutschnationaler Politiker 115 Schönfeld , Graf , Autorennfahrer 196 Schreber , Daniel Dr. , Begründer der Schrebergarten-Bewegung 204 Schwarzwald , Eugenie , Frauenrechtlerin , Begründerin der Schwarzwald-Schulen 99 Seydl , Ernst Dr. , Hof burgpfarrer 70 Shaw , Bernard , Dichter 108 Sieczynski , Rudolf Dr. , Komponist 162 Silberer , Victor , Sportler und Mäzen 193
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Sixtus , Prinz von Bourbon-Parma 32 Skurawi , Edmund , Textdichter 157 Spitzer , A. , Kinobetreiber 10 Springer , Max , Journalist 53 Starhemberg , Gundackar Graf von , Verteidiger von Wien gegen die Türken 170 Stein , Franz , deutschnationaler A rbeiterführer 115 Stein , Leo , Komponist 9 Stern , Alfred Dr. , Präsident der Wiener Israelitischen Kultus gemeinde 272 Strindberg , August , Dichter 175 Stürgkh , Karl Graf von , österr. Ministerpräsident 27 , 78 , 148 , 227 Suttner , Bertha von , Friedensnobelpreisträgerin 99 , 216 , 217 , 248 Sylvester , Julius Dr. , deutschnationaler Politiker , Präsident des Abgeordnetenhauses 78 Szabo , Christa von , Sportlerin 246 Tauber , Zeichenlehrer , Initiator der Pressburger Bahn 186 Testoni , Alfredo , italienischer Dichter 9 Thun , Gabrielle Gräfin von , Obersthofmeisterin bei Erzherzogin Zita 33 , 53 Thun-Hohenstein , Graf , Autorennfahrer 196 Tirpitz , Alfred von , deutscher Marinespezialist und Staatssekretär 210 Tisza , Stephan Graf von , ung. Ministerpräsident 29 Trauttmansdorff , Josephine Fürstin von , Obersthofmeisterin am Kaiserhof 17 Trebitsch , Siegfried , Schriftsteller 108
Register Umlauft , Anton , Hofgartendirektor in Schönbrunn 31 Verkauf , sozialdemokratischer Politiker 113 Viktor Emanuel III. , König von Italien 118 Wagner , Otto , Architekt 178 , 179 Wagner , Richard , Komponist 50 , 55 Waitz , Sigismund Dr. , Weihbischof von Brixen , Generalvikar für Vorarlberg 96 Waldemar , Richard , Schauspieler 12 Weiskirchner , Berta , Bürgermeistersgattin 105 Weiskirchner , Richard , Bürgermeister von Wien 48 , 87 , 106 , 174 , 212 , 225 , 266 , 267 Weyprecht , Karl , Nordpolforscher 248 Wilhelm II. , deutscher Kaiser 28 , 118 , 119 , 120 , 121 , 122 , 142 , 210 , 232 Wilhelm , Prinz zu Wied , Fürst von Albanien 23
Winter , Max , sozialdemokratischer Politiker und Journalist 46 , 188 , 199 Wölfling , Leopold , vormals Erzherzog Leopold Ferdinand 36 Wright , Orville , Flugpionier 141 Wright , Wilbur , Flugpionier 141 Wutzel , Leopold , Gastwirt 220 Zahourek , Berta , Sportlerin 246 , 247 Ziehrer , Carl Michael , Hof ballmusikdirektor und Komponist 60 , 149 , 158 Zita , Erzherzogin , später Kaiserin von Österreich 30 , 32 , 59 , 237 Zola , Émile , französischer Dichter 117 Zschokke , Hermann Dr. , Weihbischof in Wien 70 Zuckerkandl , Berta , Frauenrechtlerin 99 Zwerenz , Mizzi , Operettensou brette 12
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Wien 1914 Abb. 39 : Das Interessante Blatt , 18. 06. 1914 , S. 5. Abb. 40 : Wikipedia Abb. 41 : AZ , 19. 04. 1914 , S. 15. Abb. 42 : Wiener Bilder , 31. 05. 1914 , S 9. Abb. 43 : Kikeriki , 18. 01. 1914 , S. 2. Abb. 44 : Kikeriki , 15. 02. 1914 , S. 3. Abb. 45 : Kikeriki , 22. 03. 1914 , S. 3. Abb. 46 : Album Verlag Abb. 47 : NFP , 01. 01. 1914 , S. 29. Abb. 48 : Wiener Bilder , 19. 07. 1914 , S. 14. Abb. 49 : Bildarchiv ÖNB Abb. 50 : AZ , 05. 04. 1914 , S. 23. Abb. 51 : NFP , 05. 04. 1914 , S. 7. Abb. 52 : Die Neue Zeitung , 12. 04. 1914 , S. 1. Abb. 53 : NFP , 12. 04. 1914 , S. 74. Abb. 54 : Inv 7654–12 , Archiv BZM Leopoldstadt um 1908 , Postkarte : Kasperltheater im Prater , um 1910 Abb. 55 : Bildarchiv ÖNB Abb. 56 : Wiener Caricaturen , 12. 04. 1914 , S. 4. Abb. 57 : Wiener Bilder , 19. 04. 1914 , S. 4. Abb. 58 : Wiener Bilder , 19. 04. 1914 , S. 1. Abb. 59 : Wiener Bilder , 19. 04. 1914 , S. 4. Abb. 60 : Das Interessante Blatt , 30. 04. 1914 , S. 1. Abb. 61 : Wiener Bilder , 12. 04. 1914 , S. 1. Abb. 62 : Wiener Bilder , 31. 05. 1914 , S. 4. Abb. 63 : AZ , 05. 03. 1914 , S. 4. Abb. 64 : AZ , 06. 01. 1914 , S. 13. Abb. 65 : AZ , 31. 05. 1914 , S. 30. Abb. 66 : Das Interessante Blatt , 07. 05. 1914 , S. 1. Abb. 67 : Wiener Bilder , 29. 03. 1914 , S. 5. Abb. 68 : Die Neue Zeitung , 12. 07. 1914 , S. 7. Abb. 69 : Neuigkeits-Welt-Blatt , 05. 05. 1914 , S. 8. Abb. 70 : Sport & Salon , 20. 06. 1914 , S. 11. Abb. 71 : Wiener Bilder , 07. 06. 1914 , S. 5. Abb. 72 : Das Interessante Blatt , 11. 06. 1914 , S. 3. Abb. 73 : Muskete , 20. 02. 1914 , S. 23 Abb. 74 : Bildarchiv ÖNB Abb. 75 : Bildarchiv ÖNB Abb. 76 : Kortz a. a. O. , Bd. 1 , Tafel VI. Abb. 77 : Die Muskete , 21. 05. 1914 , S. 8. Abb. 78 : Wiener Bilder , 22. 02. 1914 , S. 6.
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Bildnachweis Abb. 79 : Bildarchiv ÖNB Abb. 80 : Neuigkeits-Welt-Blatt , 03. 05. 1914 , S. 10. Abb. 81 : Kunstuhr Der Anker Abb. 82 : Wiener Bilder , 14. 06. 1914 , S. 26. Abb. 83 : RP , 10. 01. 1914 , S. 19. Abb. 84 : Eigenaufnahme Abb. 85 : Fotopostkarte um 1910 Abb. 86 : Bildarchiv ÖNB Abb. 87 : RP , 01. 03. 1914 , S. 32. Abb. 88 : Bezirksmuseum Landstraße Abb. 89 : Bezirksmuseum Landstraße Abb. 90 : Wiener Bilder , 10. 05. 1914 , S. 10. Abb. 91 : Muskete , 16. 04. 1914 , S. 7. Abb. 92 : NFP , 12. 04. 1914 , S. 85. Abb. 93 : NFP , 12. 04. 1914 , S. 65. Abb. 94 : NFP , 12. 04. 1914 , S. 69. Abb. 95 : Wiener Bilder , 14. 06. 1914 , S. 11. Abb. 96 : KHM Postkarte Abb. 97 : NFP , 12. 04. 1914 , S. 78. Abb. 98 : Die Neue Zeitung , 25. 02. 1914 , S. 2. Abb. 99 : Bildarchiv ÖNB Abb. 100 : Die Neue Zeitung , 21. 07. 1914 , S. 3. Abb. 101 : Kikeriki , 15. 02. 1914 , S. 2. Abb. 102 : Fotopostkarte , um 1910 Abb. 103 : Bildarchiv ÖNB Abb. 104 : Sport & Salon , 13. 06. 1914 , S. 15. Abb. 105 : Sport und Salon , 13. 06. 1914 , S. 4. Abb. 106 : Die Muskete , 12. 06. 1914 , S. 10. Abb. 107 : Wiener Bilder , 28. 06. 1914 , S. 8. Abb. 108 : Neuigkeits-Welt-Blatt , 25. 06. 1914 , S. 9. Abb. 109 : Wiener Bilder , 28. 06. 1914 , S. 1. Abb. 110 : Wiener Bilder , 21. 06. 1914 , S. 10. Abb. 111 : RP , 15. 03. 1914 , S. 21. Abb. 112 : RP , 19. 07. 1914 , S. 35. Abb. 113 : Wiener Bilder , 12. 07. 1914 , S. 5. Abb. 114 : Wiener Bilder , 12. 07. 1914 , S. 9. Abb. 115 : Neuigkeits-Welt-Blatt , 28. 06. 1914 , S. 4. Abb. 116 : Das Interessante Blatt , 09. 07. 1914 , S. 12. Abb. 117 : Reichspost , 28. 06. 1914 , S. 1. Abb. 118 : Bildarchiv ÖNB Abb. 119 : Bildarchiv ÖNB
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Wien 1914 Abb. 120 : Wiener Bilder , 12. 07. 1914 , S. 8. Abb. 121 : Das Interessante Blatt , 09. 07. 1914 , S. 9. Abb. 122 : Wiener Bilder , 12. 07. 1914 , S. 1. Abb. 123 : Porträt von Wilkelm Vita , Heeresgeschichtliches Museum Abb. 124 : Wiener Bilder , 26. 07. 1914 , S. 7. Abb. 125 : NFP , 15. 07. 1914. S. 21. Abb. 126 : Wiener Bilder , 19. 07. 1914 , S. 11. Abb. 127 : Wiener Bilder , 26. 07. 1914 , S. 11. Abb. 128 : Der Floh , Nr. 22 / 23 , S. 4. Nach einer Steinzeichnung von Arthur Stadler Abb. 129 : Das Interessante Blatt , 30. 07. 1914 , S. 1. Abb. 130 : Sport und Salon , 24. 01. 1914 , S. 3. Abb. 131 : Wiener Bilder , 23. 08. 1914 , S. 12. Abb. 132 : Wiener Bilder , 23. 08. 1914 , S. 12. Abb. 133 : Wiener Bilder , 02. 08. 1914 , S. 1. Abb. 134 : Wiener Bilder , 16. 08. 1914 , S. 11. Abb. 135 : Wiener Bilder , 09. 08. 1914 , S. 10. Abb. 136 : Volksblatt für Stadt und Land , 16. 08. 1914 , S. 3. Abb. 137 : Wiener Bilder , 09. 08. 1914 , S. 6. Abb. 138 : Neuigkeits-Welt-Blatt , 18. 08. 1914 , S. 1. Abb. 139 : Wiener Bilder , 23. 08. 1914 , S. 8. Abb. 140 : Wiener Bilder , 23. 08. 1914 , S. 8.
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Anmerkungen 1 NFP , 01. 01. 1914 , S. 13 f. 2 NFP , 02. 01. 1914 , S. 8. 3 NFP , 31. 12. 1913 , S. 21. 4 NFP , 31. 12. 1913 , S. 13. 5 ebenda 6 NFP , 31. 12. 1913 , S. 23. 7 NFP , 31. 12. 1913 , S. 9. 8 NFP , 01. 01. 1914 , S. 1. 9 NFP , 02. 01. 1914 , S. 16. 10 AZ , 02. 01. 1914 , S. 4. 11 NFP 01. 01. 1914 , S. 12. 12 NFP 02. 01. 1914 , S. 9. 13 ebenda 14 AZ , 01. 01. 1914 , S. 1. 15 NFP , 01. 01. 1914 , S. 3. 16 NFP , 01. 01. 1914 , S. 4. 17 NFP , 01. 01. 1914 , S. 1 f. 18 ebenda 19 ebenda 20 ebenda 21 Max Nordau , eigentlich Simon Maximilian Südfeld ( 1 849– 1923 ), Sohn eines Rabbiners , Mediziner , Journalist , Weggefährte Theodor Herzls , Verfechter des Zionismus in Publikationen und Reden , 1914–1919 im Exil in Madrid. 22 ebenda 23 NFP , 01. 01. 1914 , S. 13. 24 NFP , 01. 01. 1914 , S. 10. 25 NFP , 01. 01. 1914 , S. 16. 26 NFP , 01. 01. 1914 , S. 17. 27 NFP , 01. 01. 1914 , S. 13. 28 RP , 01. 01. 1914 , S. 1. 29 NFP , 31. 12. 1913 , S. 1. 30 zitiert in NFP , 01. 01. 1914 , S. 16. 31 NFP , 02. 01. 1914 , S. 2. 32 NFP , 02. 01. 1914 , S. 6.
33 NFP , 04. 01. 1914 , S. 9. 34 ebenda 35 NFP , 07. 01. 1914 , S. 4. 36 ebenda 37 ebenda 38 1765 von Maria Theresia und Joseph II. aus dem riesigen Nachlassvermögen Kaiser Franz I. Stephan zur Versorgung nachgeborener Mitglieder der Dynastie geschaffen , um die Staatskasse zu entlasten. 39 Haslinger / Trumler , a. a. O. , S. 15. 40 ebenda 41 Montags-Zeitung , 15. 06. 1914 , S. 3. 42 RP , 28. 05. 1914 , S. 8. 43 ebenda 44 AZ , 26. 01. 1914 , S. 4. 45 AZ , 09. 01. 1914 , S. 5. 46 ebenda 47 AZ , 13. 02. 1914 , S. 7. 48 ebenda 49 ebenda 50 ebenda 51 ebenda 52 ebenda 53 ebenda 54 AZ , 04. 02. 1914 , S. 1. 55 AZ , 26. 02. 1914 , S. 1. 56 AZ , 04. 02. 1914 , S. 1. 57 Wiener-Montags-Journal , 16. 02. 1914 , S. 2. 58 NFP , 30. 12. 1913 , S. 11. 59 Neuigkeits-Welt-Blatt , 16. 01. 1914 , S. 10. 60 Die Fackel , Nr. 391 / 92 , 21. 01. 1914.
295
Wien 1914 61 RP , 15. 01. 1914 , S. 7. 62 ebenda 63 AZ , 16. 01. 1914 , S. 7. 64 RP , 31. 12. 1913 , S. 9. 65 NFP , 01. 01. 1914 , S. 13. 66 RP , 17. 01. 1914 , S. 7. 67 ebenda 68 RP , 15. 02. 1914 , S. 7. 69 RP , 18. 02. 1914 , S. 7. 70 NFP , 15. 02. 1914 , S. 18. 71 Adolphe Pegoud ( 1 889–1915 ), französischer Flieger , machte Überschlagflüge und die ersten Fallschirmversuche. 72 RP , 15. 02. 1914 , S. 8. 73 zitiert in der AZ , 15. 01. 1914 , S. 5. 74 RP , 17. 02. 1914 , S. 12. 75 Die Fackel , Nr. 391 / 392 , Mitte Januar 1914 , S. 9 f. 76 NWB , 24. 02. 1914 , S. 5. 77 Neuigkeits-Welt-Blatt , 26. 02. 1914 , S. 6. 78 RP , 23. 01. 1914 , S. 11. 79 ebenda 80 Neuigkeits-Welt-Blatt , 26. 02. 1914 , S. 6. 81 Der Antimodernisteneid wurde erst durch das 2. Vatikanische Konzil 1967 abgeschafft. 82 Das Österreichische Parlament , S. 19. ( Ausgabe 1965 ). 83 AZ , 31. 01. 1914 , S. 1. 84 AZ , 10. 03. 1914 , S. 1. 85 ebenda 86 ebenda 87 NFP , 12. 03. 1914 , S. 1. 88 ebenda 89 Christlichsoziale Arbeiterzeitung , 21. 03. 1914 , S. 1. 90 ebenda
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91 92 93 94
AZ , 17. 03. 1914 , S. 1. NFP , 12. 03. 1914 , S. 1. Prager Tagblatt , 17. 03. 1914 , S. 1. Neuigkeits-Welt-Blatt , 17. 03. 1914 , S. 1. 95 ebenda 96 NFP , 12. 03. 1914 , S. 1. 97 AZ , 20. 01. 1914 , S. 1 f. 98 ebenda 99 ebenda 100 NFP , 15. 03. 1014 , S. 12. 101 ebenda 102 AZ , 13. 02. 1914 , S. 1. 103 NFP , 15. 03. 1914 , S. 12. 104 Wiener Montags-Journal , 02. 02. 1914 , S. 1 f. 105 RP , 19. 03. 1914 , S. 1. 106 RP , 19. 03. 1914 , S. 1. 107 ebenda 108 ebenda 109 Montags-Zeitung , 16. 03. 1914 , S. 2. 110 AZ , 15. 03. 1914 , S. 1 f. 111 ebenda 112 ebenda 113 ebenda 114 RP , 10. 03. 1914 , S. 5. 115 Wiener Montags-Journal , 19. 01. 1914 , S. 1. 116 Deutsche Zeitung , 15. 03. 1914 , S. 1. 117 AZ , 17. 03. 1914 , S. 2. 118 AZ , 20. 03. 1914 , S. 1. 119 ebenda 120 AZ , 08. 03. 1914 , S. 2. 121 ebenda 122 AZ , 08. 03. 1914 , S. 1. 123 AZ , 08. 03. 1914 , S. 2 f. 124 ebenda 125 ebenda 126 ebenda
Anmerkungen 127 ebenda 128 ebenda 129 NFP , 17. 04. 1914 , S. 9. 130 ebenda 131 NFP , 18. 04. 1914 , S. 8. 132 ebenda 133 NFP , 18. 04. 1914 , S. 9. 134 RP , 24. 04. 1914 , S. 6. 135 ebenda 136 RP , 15. 04. 1914 , S. 1. 137 RP , 17. 04. 1914 , S. 6. 138 Neuigkeits-Welt-Blatt , 19. 04. 1914 , S. 4. 139 NFP , 28. 03. 1914 , S. 6. 140 ebenda 141 RP , 16. 04. 1914 , S. 6. 142 ebenda 143 AZ , 20. 03. 1914 , S. 7 f. 144 RP , 23. 06. 1914 , S. 14. 145 Wiener-Montags-Journal , 01. 06. 1914 , S. 2. 146 NFP , 28. 05. 1914 , S. 14. 147 RP , 31. 12. 1913 , S. 10. 148 ebenda 149 RP , 04. 03. 914 , S. 1. 150 RP , 07. 01. 1914 , S. 6. 151 ebenda 152 ebenda 153 ebenda 154 ebenda 155 RP , 29. 03. 1914 , S. 1 f. 156 ebenda 157 ebenda 158 ebenda 159 ebenda 160 RP , 08. 01. 1914 , S. 9. 161 Wiener Sonntags- und Montagszeitung , 05. 04. 1914 , S. 2 f. 162 RP , 09. 01. 1914 , S. 1. 163 Drabek / Häusler , S. 118. 164 RP , 04. 03. 1914 , S. 1 ff.
165 ebenda 166 ebenda 167 ebenda 168 RP , 21. 03. 1914 , S. 6. 169 AZ , 05. 03. 1914 , S. 6. 170 RP , 11. 03. 1914 , S. 1 f. 171 Ahasverus , der Legende nach ein Schuhmacher , der Christus auf dem Weg nach Golgatha von seiner Tür stieß und zur Strafe bis zum Jüngsten Tag umherirren muss , Sinnbild des »Ewigen Juden«. 172 ebenda 173 RP , 23. 04. 1914 , S. 7. 174 ebenda 175 ebenda 176 ebenda 177 Neuigkeits-Welt-Blatt , 18. 03. 1914 , S. 1. 178 Drabek / Häusler , S. 112. 179 Von Donau und Donaukanal umgeben , bildeten der 2. und 20. Bezirk mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil die nach dem jüdischen Brot scherzhaft benannte MazzesInsel. Hier wohnen 1914 etwa 130. 000 Juden. 180 RP , 18. 03. 1914 , S. 3. 181 ebenda 182 Wiener-Montags-Journal , 13. 07. 1914 , S. 2. 183 NFP , 22. 03. 1914 , S. 1. 184 NFP , 22. 03. 1914 , S. 1. 185 RP , 23. 03. 1914 , S. 1. 186 ebenda 187 RP , 04. 04. 1914 , S. 4. 188 NFP , 12. 04. 1914 , S. 15. 189 RP , 10. 04. 1914 , S. 5. 190 ebenda
297
Wien 1914 191 RP , 14. 04. 1914 , S. 7. 192 NFP , 12. 04. 1914 , S. 63. 193 AZ , 12. 04. 1914 , S. 10. 194 RP , 14. 04. 1914 , S. 4. 195 RP , 04. 04. 1914 , S. 5 f. 196 ebenda 197 ebenda 198 NFP , 14. 4. 1914 , S. 6. 199 ebenda 200 ebenda 201 NFP , 14. 4. 1914 , S. 7. 202 ebenda 203 AZ , 14. 4. 1914 , S. 4. 204 AZ , 14. 4. 1914 , S. 5. 205 NFP , 20. 4. 1914 , S. 1. 206 NFP , 20. 04. 1914 , S. 1. 207 ebenda 208 NFP , 20. 4. 1914 , S. 2. 209 NFP , 21. 01. 1914 , S. 1 f. 210 ebenda 211 NFP , 22. 04. 1914 , S. 2. 212 NFP , 21. 04. 1914 , S. 2. 213 NFP , 21. 04. 1914 , S. 3. 214 NFP , 23. 05. 1914 , Abendaus gabe , S. 1. 215 AZ , 02. 05. 1914 , S. 1. 216 ebenda 217 AZ , 02. 05. 1914 , S. 3. 218 ebenda 219 AZ , 02. 05. 1914 , S. 1. 220 RP , 02. 05. 1914 , S. 2. 221 Neuigkeits-Welt-Blatt , 03. 05. 1914 , S. 1. 222 RP , 01. 05. 1914 , S. 7. 223 NFP , 02. 05. 1914 , S. 9. 224 AZ , 03. 05. 1914 , S. 5. 225 NFP , 22. 03. 1914 , S. 14. 226 RP , 01. 05. 1914 , S. 7. 227 RP , 01. 05. 1914 , S. 8. 228 ebenda 229 RP , 03. 06. 1914 , S. 6.
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230 Wiener Bilder , 09. 08. 1914 , S. 10 231 NFP , 21. 06. 1914 , S. 1 f. 232 ebenda 233 ebenda 234 NFP , 01. 01. 1914 , S. 13. 235 ebenda 236 Kortz , a. a. O. , 1. Bd. , S. 76. 237 ebenda 238 AZ , 14. 04. 1914 , S. 4. 239 ebenda 240 NFP , 21. 06. 1914 , S. 1 f. 241 RP , 13. 01. 1914 , S. 40. 242 AZ , 01. 05. 1914 , S. 11. 243 NFP , 01. 05. 1914 , S. 12. 244 ebenda 245 ebenda 246 RP , 08. 01. 1914 , S. 11. 247 ebenda 248 AZ , 17. 03. 1914 , S. 6. 249 NFP , 02. 01. 1914 , S. 1 f 250 NFP , 03. 01. 1914 , S. 4. 251 AZ , 31. 05. 1914 , S. 10. 252 NFP , 22. 06. 1914 , S. 6. 253 RP , 20. 05. 1914 , S. 10. 254 Prager Tagblatt , 18. 03. 1914 , S. 2 f. 255 ebenda 256 RP , 05. 05. 1914 , S. 14. 257 AZ , 24. 02. 1914 , S. 7. 258 RP , 05. 05. 1914 , S. 14. 259 NFP , 21. 06. 1914 , S. 1 f. 260 AZ , 05. 03. 1914 , S. 8. 261 NFP , 21. 06. 1914 , S. 1 f. 262 ebenda 263 ebenda 264 ebenda 265 ebenda 266 Wiener-Montags-Journal , 30. 03. 1914 , S. 5. 267 ebenda 268 Wiener-Montags-Journal , 13. 04. 1914 , S. 6.
Anmerkungen 269 RP , 05. 03. 1914 , S. 9. 270 ebenda 271 ebenda 272 NFP , 05. 04. 1914 , S. 19. 273 ebenda 274 NFP , 12. 04. 1914 , S. 85. 275 AZ , 05. 03. 1914 , S. 6. 276 NFP , 25. 06. 1914 , S. 15. 277 NFP , 12. 04. 1914 , S. 87. 278 ebenda 279 AZ , 05. 03. 1914 , S. 8. 280 ebenda 281 ebenda 282 NFP , 21. 06. 1914 , S. 1 f. 283 Wiener Sonn- und Montags zeitung , 23. 05. 1914 , S. 4. 284 ebenda 285 NFP , 21. 06. 1914 , S. 1 f. 286 ebenda 287 AZ , 31. 05. 1914 , S. 10. 288 ebenda 289 RP , 20. 05. 1914 , S. 8 290 ebenda 291 Die Neue Zeitung , 03. 02. 1914 , S. 2. 292 Neuigkeits-Welt-Blatt , 24. 05. 1914 , S. 13. 293 NFP , 26. 06. 1914 , S. 10. 294 NFP , 08. 06. 1914 , S. 5. 295 ebenda 296 ebenda 297 RP , 30. 05. 1914 , S. 1. 298 ebenda 299 Deutsche Zeitung , 31. 05. 1914 , S. 1. 300 ebenda 301 RP , 25. 05. 1914 , S. 5. 302 ebenda 303 NFP , 22. 06. 1914 , S. 8. 304 RP , 22. 06. 1914 , S. 5. 305 ebenda
306 NFP , 22. 06. 1914 , S. 2. 307 Danzer’s Armeezeitung , 25. 06. 1914 , S. 8. 308 Wiener Bilder , Nr. 26 , S. 8. 309 ebenda 310 RP , 21. 06. 1914 , S. 1. 311 Wiener Bilder , 21. 06. 1914 , Nr. 25 , S. 21. 312 Neuigkeits-Welt-Blatt , 27. 06. 1914 , S. 5. 313 RP , 26. 06. 1914 , S. 7. 314 RP , 26. 06. 1914 , S. 6. 315 ebenda 316 ebenda 317 RP , 28. 06. 1914 , S. 8. 318 ebenda 319 ebenda 320 NFP , 29. 06. 1914 , S. 4. 321 Neuigkeits-Welt-Blatt , 27. 06. 1914 , S. 6. 322 NFP , 29. 6. 1914 , S. 4. 323 ebenda 324 ebenda 325 RP , 28. 06. 1914 , S. 2. 326 NFP , 28. 06. 1914 , S. 4. 327 RP , 30. 06. 1914 , S. 3. 328 NFP , 01. 07. 1914 , S. 4. 329 RP , 30. 06. 1914 , S. 3. 330 NFP , 03. 07. 1914 , S. 5. 331 NFP , 03. 07. 1914 , S. 5 f. 332 ebenda 333 RP , 04. 07. 1914 , S. 2. 334 NFP , 04. 07. 1914 , S. 2. 335 ebenda 336 ebenda 337 ebenda 338 RP , 04. 07. 1914 , S. 2. 339 ebenda 340 ebenda 341 RP , 04. 07. 1914 , S. 9. 342 RP , 06. 07. 1914 , S. 4.
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Wien 1914 343 NFP , 04. 07. 1914 , S. 1. 344 ebenda 345 AZ , 29. 06. 1914 , S. 1. 346 ebenda 347 AZ , 30. 06. 1914 , S. 1. 348 Die Fackel , 10. 07. 1914 , Nr. 400–403 , S. 1 f. 349 ebenda 350 Der Humorist , 10. 07. 1914 , Nr. 20 , S. 3 f. 351 Der Humorist , 10. 07. 1914 , Nr. 20 , S. 3. 352 Wiener Bilder , 19. 07. 1914 , Nr. 29 , S. 11. 353 NFP , 18. 07. 1914 , S. 3. 354 RP , 20. 07. 1914 , S. 1. 355 NFP , 21. 07. 1914 , S. 1. 356 NFP , 07. 07. 1914 , Abendblatt , S. 1. 357 NFP , 19. 07. 1914 , S. 1. 358 ebenda 359 ebenda 360 zitiert in NFP , 06. 07. 1914 , S. 3. 361 NFP , 21. 07. 1914 , S. 1. 362 zitiert in RP , 21. 07. 1914 , S. 1. 363 ebenda 364 RP , 26. 07. 1914 , Feuilleton , S. 1. 365 NFP , 27. 07. 1914 , S. 5. 366 Wiener-Montags-Journal , 27. 07. 1914 , S. 4. 367 Wiener Zeitung , 29. 07. 1914 , S. 1. 368 Die Bombe , 02. 08. 1914 , Nr. 31 , S. 2. 369 AZ , 28. 07. 1914 , S. 1. 370 RP , 14. 08. 1914 , S. 1. 371 NFP , 14. 08. 1914 , S. 4.
300
372 NFP , 10. 08. 1914 , S. 1 f. 373 Christlichsoziale Arbeiterzeitung , 08. 08. 1914 , S. 1. 374 NFP , 10. 08. 1914 , S. 1 f. 375 NFP , 06. 08. 1914 , S. 8. 376 ebenda 377 RP , 29. 07. 1914 , S. 10. 378 ebenda 379 NFP , 11. 08. 1914 , S. 8. 380 NFP , 08. 08. 1914 , S. 1 f. 381 NFP , 09. 08. 1914 , S. 1 f. 382 RP , 06. 08. 1914 , S. 6 f. 383 AZ , 07. 08. 1914 , S. 1. 384 RP , 29. 07. 1914 , S. 10. 385 ebenda 386 ebenda 387 Neuigkeits-Welt-Blatt , 09. 08. 1914, S. 6. 388 NFP , 05. 08. 1914 , S. 10. 389 NFP , 09. 08. 1914 , S. 7. 390 NFP , 10. 08. 1914 , S. 1 f. 391 Volksblatt für Stadt und Land , Nr. 32 , Illustrierte Unterhaltungsbeilage. 392 RP , 18. 08. 1914 , S. 1. 393 RP , 18. 08. 1914 , S. 9. 394 NFP , 19. 08. 1914 , S. 9. 395 ebenda 396 ebenda 397 NFP , 19. 08. 1914 , S. 10. 398 NFP , 19. 08. 1914 , S. 9. 399 Neuigkeits-Welt-Blatt , 18. 08. 1914 , S. 2. 400 Sport & Salon , 22. 08. 1914 , S. 2. 401 Der Humorist , 20. 08. 1914 , S. 2 f. 402 ebenda
Danksagung Für Unterstützung und freundliches Entgegenkommen danke ich den Damen und Herren der Stadtbibliothek Wien , der Wien-Büchereien und der Bezirksmuseen Leopoldstadt , Landstraße und RudolfsheimFünfhaus. Für militärhistorische Auskünfte danke ich Herrn Prof. Gunther Martin. Mein besonderer Dank gilt meinem Freund Mag. Walter Hackl für die technische Unterstützung bei den Computerprogrammen und für die textliche Verarbeitung.
JEAN-PAUL BLED
FRANZ FERDINAND DER EIGENSINNIGE THRONFOLGER
Die Beziehung zwischen dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und Kaiser Franz Joseph war kontrovers: Gemeinsam war ihnen zweifellos die hohe Achtung der Dynastie und des monarchischen Prinzips; ebenso gemeinsam war ihnen angesichts der zunehmenden Gefahren von außen die Verteidigung einer Friedenspolitik. Andererseits missbilligte Franz Ferdinand die Innenpolitik des Kaisers und brannte darauf, an den Regierungsgeschäften beteiligt zu werden. Im wichtigsten Punkt, der Frage der Organisation der Monarchie, waren sich die beiden Männer völlig uneins. Franz Ferdinand lehnte die Ungarnpolitik seines Onkels ab. Auch durch seine Heirat mit Sophie Gräfin Chotek wehrte er sich gegen kaiserliche Standesregeln. Hätte Franz Ferdinand im Falle einer Regentschaft den Lauf der Geschichte verändert? 2013. 322 S. 18 S/W ABB. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78850-8
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
MANFRIED RAUCHENSTEINER
DER ERSTE WELTKRIEG UND DAS ENDE DER HABSBURGERMONARCHIE 1914–1918
Die Geschichte von der Entfesselung des Ersten Weltkriegs, von der Rolle Kaiser Franz Josephs, vom Verhalten der Nationalitäten der Habsburgermonarchie bis zum Zerfall eines 630-jährigen Reiches liest sich wie ein spannender Roman. Es geht um Politik und Krieg, das Bündnis mit Deutschland, Krieg als Ausnahmezustand und als Normalität. Das Buch, von einem der führenden Historiker Österreichs, ist eine mitteleuropäische Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs. 2013. 1222 S. 32 S/W-ABB. UND 2 KARTEN. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78283-4
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