Alterstopoi: Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie 9783110213560, 9783110208450

Human ageing is always subject to cultural interpretation. The continuous process of maturing and decline thus only beco

280 23 10MB

German Pages 352 [353] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«
Alter und Sexualität
»Wird auch kahl sein mein Haupt«
Altern im Leben
Kindheitstopoi in Gottfrieds Tristan
Die liebeslustige Alte
Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters
›Der Greis im Frühling‹
»... die alten Möbeln ihrer Kammer«
Die ›Neuen Alten‹?
Wann beginnt das Leben?
Vom Schulpflichtigen zum jungen Straftäter
Backmatter
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Alterstopoi: Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie
 9783110213560, 9783110208450

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Alterstopoi



Alterstopoi Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie

Herausgegeben von

Dorothee Elm Thorsten Fitzon Kathrin Liess Sandra Linden

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020845-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

” Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Einbandabbildung: Jörg Breu d. J.: Die neun Lebensalter des Mannes. Augsburg 1540. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen

Inhalt DOROTHEE ELM/THORSTEN FITZON/KATHRIN LIESS/SANDRA LINDEN Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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KATHRIN LIESS

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«. Zur Alterstopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur . . . . .

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THERESE FUHRER

Alter und Sexualität. Die Stimme der alternden Frau in der horazischen Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DOROTHEE ELM

»Wird auch kahl sein mein Haupt«. Alterstopoi in Lukians Alexander oder der Lügenprophet und in der Apologie des Apuleius .

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FLORIAN STEGER

Altern im Leben. Alterstopoi in der antiken Medizin? . . . . . . . . . . . . . 101 ANNETTE GEROK -REITER

Kindheitstopoi in Gottfrieds Tristan. Anspielungen, Überlagerungen, Subversionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 SANDRA L INDEN

Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang . . . . . . . . . . . . . . . 137 STEFANIE KNÖLL

Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters. Zur Naturalisierung der Altersdarstellungen im 16. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 THORSTEN FITZON

›Der Greis im Frühling‹. Schöpferische Toposvariationen in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

VI

Inhalt

THOMAS KÜPPER

»... die alten Möbeln ihrer Kammer«. Alterstopoi in Storms Marthe und ihre Uhr und in Immensee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 MIRIAM HALLER

Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman . . . . . . . . . . . . . . . 229 ANDREAS KUNZ-LÜBCKE

Wann beginnt das Leben? Überlegungen zur pränatalen Anthropologie der Hebräischen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 STEFAN RUPPERT

Vom Schulpflichtigen zum jungen Straftäter. Der Wandel des deutschen ›Jugendrechts‹ im 19. Jahrhundert . . . . 277 Zu den Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

DOROTHEE ELM / THORSTEN FITZON / KATHRIN LIESS / SANDRA LINDEN

Einleitung Die hohe Plastizität des menschlichen Alterungsprozesses, die dazu führte, dass die Lebenserwartung in den letzten beiden Jahrhunderten stetig anstieg, stellt nicht nur die klassischen Theorien der Evolutionsbiologie vor neue Fragen,1 sondern lenkt vermehrt den Blick auch auf die ästhetische Repräsentation und das kulturelle Verstehen von Alterungsprozessen im historischen Wandel. Einerseits scheint durch den verlängerten Lebenszyklus ein rein evolutionsbiologischer Erklärungszusammenhang von Reproduktion, Seneszenz und Mortalität unzureichend, andererseits haben sich die kognitiven Vorstellungen vom symmetrischen Verlauf des menschlichen Lebens (Treppenstufen, Tagesund Jahreszeiten) vordergründig wenig verändert. Dass sich die Lebensphasen aber relativ zur gesamten Lebensdauer verhalten, spielte bereits der Stadtarzt Hippolytus Guarinonius aus Hall in Tirol in den Grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts (1610) gedanklich durch: So sei die populäre Einteilung des menschlichen Lebens in zehn Dekaden nicht so sehr wegen der optimistischen Lebenserwartung von 100 Jahren, als vielmehr wegen der starren Einteilung in Zehnerschritte kaum plausibel, dürfe man bei einem hundertjährigen Leben doch nicht annehmen, dass etwa die Kindheit mit dem zehnten Lebensjahr ende.2 Diese hypothetische Dissonanz zwischen variabler Lebenszeit und starrer Lebenseinteilung ist inzwischen Wirklichkeit geworden, da die Verlängerung des menschlichen Lebens im Zivilisationsprozess aktiv vorangetrieben wurde und sich die Lebenserwartung den modellhaften 100 Jahren immer mehr annähert. Das Gedankenspiel des Guarinonius führt so beispielhaft vor Augen, dass das menschliche Altern eine Ge-

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Vgl. James W. Vaupel / Kristín G. v. Kistowski, »Evolutionäre Demografie. Neue Perspektiven für die Erforschung des Alterns und der Langlebigkeit«, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2005. Tätigkeitsbericht der Institute, S. 107–112. Vgl. Hippolytus Guarinonius, Die Grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts, Ingolstadt 1610, S. 18: »Ob nun wol solliche abtheylung alt/ und für den gemein Mann/ darauß auch zu schliessen/ das unsere alte Teutschen mehrers die hundert Jahr erreicht/ so ist doch kein grund darinnen/ dann wer die hundert Jahr erreichen soll/ der kann zu zwanzig Jahren kein vollkommener Jüngling/ noch zu dreissig ein vollkommener Mann sein.«

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schichte hat, dass es als eine Wirklichkeit erfahren wird, die vielfach vermittelt und modelliert ist, und dass somit auch die Einteilung des menschlichen Lebens nicht einer unwandelbaren Natur folgt, sondern kultureller und gesellschaftlicher Deutung unterworfen ist. Die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung behandelt Lebensalter daher ähnlich wie Geschlecht und Rasse als eine Differenzkategorie. Gerade aufgrund der teilweise polarisierenden Beschreibungsmuster erscheinen die Lebensalter als soziale Konzepte, um deren Deutung verschiedene Gruppen miteinander konkurrieren.3 Die wichtigsten Medien der Differenzbildung sind generalisierte Vorstellungsbilder, die meist als Stereotype oder Klischees bezeichnet werden. Die Gerontologie wie auch die Sozialforschung betrachten solche Stereotype jedoch vor allem mit Blick auf ihre gruppenbildende Funktion.4 Sowohl der historische Wandel als auch die Frage, wie sich dieser innerhalb vermeintlich konstanter Beschreibungsmuster überhaupt vollziehen konnte, also die Frage nach der semantischen Variabilität und ästhetischen Potentialität von Altersbildern, sind nur ungenügend erforscht. Der vorliegende Band untersucht daher Alterstopoi als Beschreibungsmuster verschiedener Lebensphasen unter der Annahme, dass über eine Analyse des Toposgebrauchs Strategien beschrieben werden können, die erklären, wie sich ein Wandel in der Wiederholung formiert. Topoi wie diejenigen von der einfältigen Kindheit oder dem weisen Alter erschließen als habituelle Verstehens- und Denkmuster das soziale und kulturelle Wissen von den Lebensaltern. Die stereotypen Attribute, mit denen etwa das Kind, die junge Frau oder der Greis charakterisiert werden, weisen neben ihrer Stabilität teilweise eine bemerkenswerte Dissonanz auf. So reicht die Reihe antinomischer Begriffe, mit denen etwa der letzte Lebensabschnitt des Menschen charakterisiert wird, von Geistesschwäche und Weisheit über Lüsternheit und Lustfeindlichkeit bis zu Geiz und Fürsorge oder Völlerei und Askese. Sowohl ihre Konstanz als auch ihre Widersprüchlichkeit lassen die stereotypen Beschreibungsmuster für eine historische Diskursana-

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Zum Alter als Differenzkategorie vgl. etwa Heike Hartung, »Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s«, in: H. H. (Hrsg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 7–20, hier S. 7f. Vgl. etwa zum Altersvorbehalt für die Gruppenbildung unter Jugendlichen Clemens Dannenbeck / Felicitas Esser / Hans Lösch, Herkunft (er)zählt. Befunde über Zugehörigkeiten Jugendlicher, Münster 1999, S. 144–146. Zur Funktion von Altersbildern in der gerontologischen Sozialforschung vgl. den Überblick bei Irmhild Saake, Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Alternsforschung, Wiesbaden 2006, S. 142–193.

Einleitung

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lyse der Lebensalter vordergründig als ungeeignet erscheinen. Die Dissonanzen lösen sich allerdings auf, wenn man die Zuschreibungsmuster einzelnen Redegattungen wie der Klage, dem Lob, Trost, Spott und der Schelte des Alters zuordnet und so die widersprüchlichen Imagines in einen determinierten kommunikativen Kontext stellt.5 Die Bilder vom hohen Alter erscheinen zwar in der Summe heterogen und invariant, betrachtet man sie jedoch im Zusammenhang ihres Gebrauchs, erschließt sich ihre diskursive Funktion, wird das zugehörige rhetorische Muster zu einem Interpretament der sozialen, kulturellen, aber auch ästhetischen Konzeptualisierungen der menschlichen Lebensalter. Neben der dichotomischen Struktur einzelner Beschreibungsformeln hat aber auch die Persistenz konkurrierender Argumentationsmuster, etwa von Alterslob oder Altersspott, über mehrere Jahrhunderte dazu beigetragen, die Lebensalter mehr als anthropologische Konstante der menschlichen Biologie und weniger als sozio-kulturelles Deutungsmuster aufzufassen.6 Sobald jedoch deutlich gemacht wird, wer zu welchem Zweck und in welchem Kontext voll des Lobes für das Alter ist, dessen Rede sagt – wie schon Ciceros berühmtes Rollentraktat De senectute – trotz und gerade aufgrund eines topischen Verweischarakters durchaus etwas aus über das Alter als soziales Konzept einer bestimmten Zeit. Um die allgemeine Akzeptanz ebenso wie die Dynamik gebräuchlicher Lebensaltervorstellungen gleichermaßen beschreiben zu können, erscheint es daher sinnvoll, von Topoi zu sprechen, da Begriffe wie Bild, Klischee oder Stereotyp den Akzent mehr auf die Stabilität als auf die Variabilität der Vorstellungen legen.7 Der Begriff ›Alterstopos‹

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Zur diskursgeschichtlichen Interpretierbarkeit der Bilder und Topoi vom hohen Alter vgl. maßgeblich Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000, hier vor allem S. 14–35. Die Funktionsweisen der kulturellen Konstruktion des Alters wurden von der neueren Forschung im Zusammenhang der Ageing Studies insbesondere für das hohe Alter untersucht. Dass Altersbilder vor allem auch diskursgesteuerte soziale Konzepte der intergenerationellen Auseinandersetzung sein können, hat Gerd Göckenjan in seiner Geschichte des Altersdiskurses vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet (vgl. Anm. 5). Demgegenüber schlägt Rüdiger Kunow eine »postkoloniale Sichtweise auf Alter(n)« vor, da sie die Asymmetrie des Diskurses zwischen strukturell dominanten und peripheren Deutungsmustern trotz aller Probleme, die eine solche Übertragung mit sich bringt, im Blick behält, vgl. Rüdiger Kunow, »›Ins Graue‹. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter«, in: Hartung, Alter und Geschlecht, S. 21–43. Ernst Robert Curtius’ Gleichsetzung von Klischee und Topos als feste Ausdrucksschemata wurde in der Forschung einerseits dafür verantwortlich gemacht, dass der Begriff in der Literaturwissenschaft lange unscharf verwendet und oftmals mit der Motivgeschichte gleichgesetzt wurde, vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann / Anja Hallacker, »Topik. Tradition und Erneuerung«, in: Thomas Frank / Ursula Kocher / Ulrike Tarnow (Hrsg.), Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberliefe-

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vermag jene charakteristische Ambivalenz zu erfassen, welche die Lebensalterkonzepte bestimmt: zum einen die relative Konstanz wiedererkennbarer Meinungsnormen in ganz verschiedenen Diskursen und Medien, zum anderen den rhetorisch-argumentativen Rahmen, in dem die Topoi erst relevant werden und der einen Spielraum zur Aktualisierung und Variation tradierter Vorstellungsmuster eröffnet.8 Den Beiträgen dieses Bandes liegt die Annahme zugrunde, dass Topoi immer im Kontext einer Überzeugungsabsicht stehen, die umso Erfolg versprechender ist, als sie das Neue, für das überzeugt werden soll, an die Fülle des bekannten Wissens anbindet. Die argumentative Stärke der Topik beruht darauf, dass sie Wissen sammelt, ordnet und schließlich für neue Meinungsnormen verfügbar hält.9 Topik ist insofern nicht nur eine Technik der Wissensordnung, die mit der memoria zusammenspielt, sondern auch ein Medium der Innovation, insofern sie Polyvalenzen nicht ausschließt und so ein wahrscheinliches Wissen offen hält für diskursive Interpretationen. Nicht die Ausdrucksformen eines Topos verändern sich, sondern sein Gebrauch und die an ihn herangetragenen normativen Meinungen. Dieser Aspekt eines Wandlungskontinuums, das über wiederholten Gebrauch, Fragmentierung und Neuordnung von Topoi vorangetrieben wird, wurde insbesondere

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rungen des 13. und 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 15–27, hier S. 20. Andererseits wurde auch darauf hingewiesen, dass der unbestimmte Gebrauch des Begriffs eine bereits in der Antike begründete Tradition habe, von der sich Curtius nicht lösen könne, vgl. Max L. Baeumer, »Vorwort«, in: M. L. B. (Hrsg.), Toposforschung, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 395), S. Xf. Auch die aktuelle literaturwissenschaftliche Forschung unterscheidet nicht immer zwischen Stereotypen und Topoi, da der Akzent meist auf dem Vorstellungsinhalt, dem Ausdrucksmuster und weniger auf der rhetorischen Funktion eines Topos liegt. So spricht etwa Miriam Haller von literarischen Stereotypen und gebraucht den Ausdruck weitgehend synonym mit Klischees und Topoi, vgl. Miriam Haller, »Ageing trouble. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung«, in: Altern ist anders, Münster 2004 (Schriftenreihe des InitiativForum Generationenvertrag 1), S. 170–188. Der Ausdruck ›Altersstereotyp‹ wird in der Sozialforschung vor allem auf die gesellschaftlich wirksamen und die intergenerationelle Kommunikation bestimmenden Alterszuschreibungen angewendet. Dabei handelt es sich in der Regel um feste Eigenschaftskataloge, die durchaus widersprüchlich sein können. Vgl. etwa den Überblick bei Caja Thimm, Alter – Sprache – Geschlecht. Sprach- und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven auf das höhere Lebensalter, Frankfurt a. M. 2000, S. 93–127. Anders als Sprichwort, Bonmot und Stereotyp vereint der Topos die unterschiedlichen Akzente dieser Formeln auf sich und balanciert Alltagswissen, Gedankenspiel und Lebensdeutung zwischen Tradition und Innovation aus. Ein Topos ist daher, so formuliert es Lothar Bornscheuer, ein »dynamischer Konzentrationspunkt eines sinnstiftenden Horizonts«, vgl. Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 103. Zur Überzeugungsfunktion der Topik vgl. Schmidt-Biggemann / Hallacker, »Topik«, S. 16–18.

Einleitung

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in der literaturwissenschaftlichen Toposforschung lange zugunsten eines Modells vernachlässigt, das die stabile Tradition präferiert, in der einzelne Topoi identifiziert und systematisiert wurden.10 Auf die Konstruktion der menschlichen Lebensalter bezogen, bedeutet dies, dass Alterstopoi als bewahrende Formeln des Wissens einerseits die vermeintlich anthropologische Konstanz der Lebensalter abbilden und andererseits gerade in ihrer Unschärfe und dem heterogenen Nebeneinander teils widersprüchlicher Ausdrucksmuster einen Wissens- wie Formenvorrat darstellen,11 der in bestimmten diskursiven Formationen zum »historischen Spielmaterial neuer Arrangements« werden kann.12

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Schmidt-Biggemann und Hallacker sprechen davon, dass »der dynamische Aspekt der Topik« in der Tradition der Klassifizierungsgeschichte »durchweg dramatisch unterinterpretiert« sei, vgl. Schmidt-Biggemann / Hallacker, »Topik«, S. 21. Curtius selbst gibt zu bedenken, dass Topoi keine unveränderlichen Schemata seien, sondern dem historischen Wandel unterliegen und man daher »der Geschichte rhetorischer Formeln ein Stück Kulturgeschichte ablesen« könne, allerdings setze dies besonders einschneidende historische Umbrüche wie etwa die Christianisierung voraus, vgl. Ernst Robert Curtius, »Begriff einer historischen Topik«, in: Baeumer, Toposforschung, S. 1– 18, hier S. 17. Insbesondere in der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde der kulturhistorisch bedingte Funktions- und Bedeutungswandel einzelner Topoi daher kaum in den Blick genommen. Zwar kritisiert August Obermayer auch die Gleichrangigkeit von Topos, Motiv und Symbol in der Literaturwissenschaft und fordert eine Systematik, in welcher der Topos als »Vorstellungsmodell« den sprachlichen Ausdrucksformen wie Symbol oder Metapher voraus liege, aber auch Obermayers Auffächerung zielt darauf, Topoi zu identifizieren. Der historische Wandel findet vor allem auf der Ebene der sprachkünstlerischen Gestaltung statt, vgl. August Obermayer, »Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft«, in: Baeumer, Toposforschung, S. 252–267, hier S. 265f. Der systematische Mangel, dass die Topik auch »die sich widersprechenden Gesichtspunkte ins Gespräch« ruft und sich in das »geschichtlich geführte Gespräch über ein Problem« unter Anerkennung der historischen Autoritäten stellt, führte einerseits zwar zur Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Rhetorik (Pöggeler, »Dichtungstheorie und Toposforschung«, in: Baeumer, Toposforschung, S. 22–135, hier S. 85f.), eröffnet andererseits aber die Möglichkeit, die Topik als Grundlage der Diskursgeschichte heranzuziehen. Zur frühen Forderung, Diskursanalyse und Topik zusammenzuführen, vgl. die grundsätzlichen Überlegungen von Conrad Wiedemann, »Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen«, in: Dieter Breuer / Helmut Schanze (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 233–255, vor allem S. 248f., und Lothar Bornscheuer, »Neue Dimensionen und Desiderata der Topik-Forschung«, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 22 (1987), S. 2–27, hier S. 24f. Bereits in der Topik des Aristoteles habe die »methodologische Unschärfe« auf die Unschärfe der Darstellung durchgeschlagen und deutlich gemacht, dass im Zusammenspiel von »umgangssprachlicher Argumentationsstruktur« und »hermeneutischer Zirkelstruktur« kein systematischer Rahmen formuliert werden kann, vgl. Bornscheuer, Topik, S. 43. Vgl. Schmidt-Biggemann / Hallacker, »Topik«, S. 23. Zum Verhältnis eines Topos zum rhetorischen Arrangement in der dispositio vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, »Topische Modelle in Theorie und Praxis der Renaissance«, in: Ulrich Pfister / Max Seidel (Hrsg.), Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen

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Kunst, Literatur wie auch religiöse Texte, die sich in selbstreflexiver Struktur bis zu einem gewissen Grad von herrschenden Diskursmustern distanzieren oder diese zumindest kommentieren können, ermöglichen es nachzuzeichnen, wie Alterstopoi in solchen neuen Arrangements dynamisiert werden. Die vorliegenden Einzeluntersuchungen zeigen, dass die Konzeptualisierung von Lebensalterstufen nicht nur in Topoi verdichtet, sondern über diese auch für Aktualisierungen und spielerische Rekombinationen offen gehalten wird. Dies geschieht, indem die Topoi den herrschenden Meinungskonsens im Sinn von Aristoteles’ endoxa aufrufen und zugleich als variabel und gestaltbar vorführen. Auch wenn die oft konstatierte Unschärfe des Topos-Begriffs inzwischen selbst zu einem Gemeinplatz der Forschung geworden ist,13 liegt den Beiträgen insofern ein gemeinsames Konzept zugrunde, als sie weitgehend an ein metawissenschaftliches Topik-Verständnis anknüpfen, das Lothar Bornscheuer als »inventorisches Forschungsverhalten« charakterisiert. Dieses liegt »allen Künsten und Wissenschaften« voraus und schließt im Kern an die antike Auffassung einer »allgemeinverständlichen wie schöpferischen Argumentationskunst« an,14 ohne den Rang einer Metatheorie einzunehmen. Die Dimensionen des zugrunde gelegten Topos-Begriffs werden deshalb im Folgenden ausgehend von der antiken Rhetorik umrissen, um den gemeinsamen, nicht fachwissenschaftlich gebundenen Rahmen zu skizzieren, in dem die einzelnen Fallstudien des Bandes argumentieren. In der klassischen Rhetorik gehören – vereinfachend und schematisierend gesprochen – die topoi beziehungsweise loci in einem formalen Sinn überwiegend in das erste Produktionsstadium der Rede, nämlich zum Finden und Erfinden des Stoffes, der inventio. Die Suchformeln, als die man die topoi/loci bezeichnen kann, sollen es ermöglichen, aus der großen Fülle an denkbaren Argumenten und Beweisen die inhaltlich relevanten auszuwählen.15 Der Redner kann sich grundsätzlich auf zwei Gruppen von Argumenten beziehungsweise Beweisen stützen,

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Renaissance, Berlin 2003 (Italienische Forschungen. Vierte Folge; 3), S. 11–20, hier S. 12f. Vgl. Thomas Schirren, »Einleitung«, in: Th. Sch. / Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000 (Rhetorik-Forschungen 13), S. XIII–XXXI, hier S. XIII. Bornscheuer, Topik, S. 93. Eine Einführung in die Rhetorik bieten Gert Ueding / Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 21986; vgl. hier insb. S. 217–235 zu den Beweisen und ihren Fundstätten. Vgl. auch Manfred Kienpointner, »inventio«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 561–587.

Einleitung

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einerseits auf die natürlichen, probationes inartificiales, andererseits auf die kunstgemäßen, probationes artificiales. Nach Ciceros Schrift de oratore und nach Quintilian seien zur ersten Gruppe diejenigen Argumente zu zählen, die sich auf vorgegebene Tatsachen beziehen – dies können beispielsweise Zeugnisse, Urkunden, Verträge und ähnliches sein.16 Die Auffindung dieser Argumente bedarf weniger der Kunst, da sie aus der Sache selbst folgen. Andere Beweise hingegen müssen mithilfe der ars gefunden und aus Tatsachen entwickelt werden. In ihnen geht es mehr um die »wirkungspsychologische Absicherung einer im Detail schon abgeschlossenen Sachargumentation«.17 Die systematischen Suchformeln, also die loci, helfen vornehmlich beim Auffinden der kunstgemäßen Beweise. Bei Quintilian wird die gesamte Menge der Suchformeln in zwei Gruppen eingeteilt: in die loci a re, also die sich aus der Sache ergebenden Beweise, und die loci a persona, also die Qualitäten, Zustände und Akzidenzien, die die persona irgendwie betreffen und als Fundorte für Argumente dienen können.18 Wiederum auf Quintilian aufbauend, kann man innerhalb dieser letzten Gruppe folgende Unterteilungen finden: Neben der Abstammung, der Erziehung und Ausbildung, der Wesensart, der sozialen Stellung, dem Geschlecht und der Körperbeschaffenheit, die für bestimmte Verhaltensweisen als Gründe herangezogen werden können, ist insbesondere auch das Lebensalter (aetas) von großer Bedeutung. Die Altersbedingtheit beziehungsweise fehlende Altersgemäßheit bestimmter Verhaltensweisen erschließt so einen Argumentationsraum, der zu einem Arsenal konsensfähiger Argumente werden kann. Viele Beiträge dieses Bandes gehen der argumentativen Verknüpfung der loci a persona soziales Geschlecht, körperliche Beschaffenheit und Lebensalter in unterschiedlichen Kontexten und Textsorten nach – so beschäftigen sie sich unter anderem mit dem grauen Haar in der biblischen Weisheitsliteratur, dem frisierten Haar alter und junger Männer in der Selbstdarstellung von Philosophen und religiösen Experten des 2. Jahrhunderts n. Chr., mit der körperlichen Beschaffenheit der alten Frau in der horazischen Lyrik und im mittelalterlichen Minnesang oder dem Nachlassen körperlicher Vitalität ohne Verlust der Empfindung, wie es mit der Figur des Greises im Frühling in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts durchgespielt wird.

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Cic. de orat. 2,27,116; 2,24,100; entsprechend bei Quintilian: Quint. inst. 5,1,1. Zitat: Ueding / Steinbrink, Grundriss, S. 218. Bornscheuer, Topik, S. 78f. Quint. inst. 5,8,4. Vgl. zu Ciceros Behandlung der Topik in De inventione (Inv. 1, 34–43) Lucia Calboli Montefusco, »Die adtributa personis und die adtributa negotiis als loci der Argumentation«, in: Schirren / Ueding, Topik und Rhetorik, S. 37–50.

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Die rhetorische Tradition betont also den Topos als Aufrufschematismus, der in der inventio anzusiedeln ist; zugleich zeigt sich bereits in Aristoteles’ Topica ein Verständnis der Topik als Wissensfundus und Registratur.19 Die Funktion der Topik, ein Problem geordnet zu systematisieren, gerät gegenüber dem Aspekt des Sammelns und Bewahrens in den späteren Handbüchern immer mehr in den Hintergrund, die eine Fülle von Topoi in thematischen Listen aufführen. Ausgehend von diesen beiden Formen des Topikverständnisses, nämlich als produktive Denkform oder als abrufbarer Gemeinplatz, wird die Topik spätestens seit der Kritik von Thomasius20 immer stärker im letzteren Sinne gesehen: Sie wird auf einen formelhaften Gemeinplatz eingeengt und scheint somit das Anwachsen des Wissensfundus in der Neuzeit nicht mehr angemessen bewältigen zu können.21 In der Perspektive von Ernst Robert Curtius, der mit seiner 1948 erschienenen Monographie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter22 die literaturwissenschaftliche Sicht auf die Topik lange geprägt hat, wird der Topos auf die stehende Wendung, auf das Klischee reduziert und ein motivgeschichtlicher Zugriff forciert, der ein bestimmtes Motiv von seinem Entstehungsort aus über variante Entwicklungsstufen verfolgt. Die Wiederholung eines Themas in der literarischen Tradition wird für Curtius zum Signum seiner topischen Struktur. Nach dieser Konzentration auf Quellenanalyse und Einflussforschung kommt es ab den 1950er Jahren etwa mit den Arbeiten von Stephen Toulmin und Chaim Perelman zu einer Wiederbelebung des rhetori-

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Vgl. Schmidt-Biggemann / Hallacker, »Topik«, S. 23f. Vgl. Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, Halle 1691, sowie Klaus Petrus, »Rationalität, Wahrheit und Interpretation. Aspekte der Hermeneutik Christian Thomasius’ in der Auszübung Der Vernunfft-Lehre«, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 317–331, und Karl Helmer, »Anmerkungen zur Topik«, in: K. H., Ars rhetorica. Beiträge zur Kunst der Argumentation, hrsg. von Gay Herchert u.a., Würzburg 2006, S. 121–128, der S. 124ff. den Niedergang des topischen Denkens im späten 17. und 18. Jahrhundert nachzeichnet. Zur Einengung der Topik auf den formelhaften Gemeinplatz in der Renaissance vor allem durch Melanchthon vgl. auch Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Bd. 1, Hamburg 1983 (Paradeigmata 1), hier S. 15–20. Otto Pöggeler sieht den Hauptgrund für die Verdrängung der Topik als wissenschaftliche Heuristik in ihrer Unschärfe und systematischen Unbestimmtheit, vgl. Pöggeler, »Dichtungstheorie und Toposforschung«, S. 85f. Ernst Robert Curtius, Lateinische Literatur und Europäisches Mittelalter, Tübingen, Basel 11 1993. Detaillierter zum Topikbegriff: Ders., »Begriff einer historischen Topik«, vor allem S. 13f., wo er die Topik als Chance sieht, die Masse mittelalterlicher Literatur mit einer Systematik und Ordnung zu versehen. Zur Kritik dieses Topos-Begriffs vgl. Stefan Goldmann, »Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius«, in: Euphorion, 90 (1996), S. 134–149.

Einleitung

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schen Topikverständnisses,23 wobei vor allem die Thesen Lothar Bornscheuers hervorzuheben sind. Bornscheuer rehabilitiert die Topik als Form der kommunikativen Wirklichkeitsbewältigung und als »gesellschaftlich relevante Argumentationsphantasie«24, deren produktives Potential über die Definition als Motivwiederholung nicht erfasst werden kann.25 Er bestimmt die Topik als »eine Art ›generativer Grammatik‹ der Bewußtseinsformen und Handlungsmuster«26 und hebt vier Hauptdimensionen hervor: a) Die Habitualität meint eine kollektiv-habituelle Vorprägung, d.h. einen bestimmten Deutungsstandard. Die Gesellschaft wird dabei als eine Kulturgemeinschaft gesehen, die über einen verinnerlichten Besitz von Gedankenmustern wie zum Beispiel diejenigen vom weisen Alten verfügt und auf die Nennung des Topos in einer kalkulierbaren Weise reagiert. b) Unter der Potentialität eines Topos versteht Bornscheuer seine polyvalente Interpretierbarkeit, einen »Charakter der Fülle«27. Gerade die Potentialität trägt dazu bei, dass der Topos erstarrte Vorstellungen durch die je neue Kontextualisierung lockern und in seinem Phantasiepotential zur Reinterpretation anregen kann. c) Die Intentionalität eines Topos zielt auf seine primär rhetorische Funktion und bezeichnet die in der Situation effektive Argumentationskraft, die vom Sprecher beabsichtigte argumentative Wirkkraft seiner Aussage. Der Topos ist entsprechend der Interessenlage pragmatisch auf eine Wirkungsfunktion ausgerichtet, die auf die Zustimmungsneigung des Adressaten zielt. d) Mit dem Stichwort der Symbolizität benennt Bornscheuer die vielfältige Verweisleistung des Topos, seine Fähigkeit, mit einem knappen Bild oder einer gut memorierbaren, kurzen Merkformel beim Rezipienten eine Fülle von Bedeutungen und eine Thematik in ihrer ganzen gedanklichen Komplexität aufzurufen.

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Vgl. Stephen Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten. Original: The Uses of Argument (1958), aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Berk, Kronberg 1975 (Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung 1), und Chaim Perelman / Lucie OlbrechtsTyteca, Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren. Original: Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique (1958). 2 Bde., hrsg. von Josef Kopperschmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, vor allem Bd. 1, S. 115ff. Lothar Bornscheuer, »Artikel ›Topik‹«, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 4, S. 454–475, hier S. 455. Vgl. hierzu und zum Folgenden Bornscheuer, Topik; die vier Dimensionen der Topik werden ab S. 95 entfaltet. Zu den einzelnen Bestimmungskriterien vgl. auch Bernd Spillner, »Thesen zur Zeichenhaftigkeit der Topik«, in: Breuer / Schanze, Topik, S. 256–263, vor allem S. 257ff., sowie die konzise Zusammenfassung von Frauke Berndt, »Topik-Forschung«, in: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin, New York 2005, S. 31–52, hier S. 42f. Bornscheuer, Topik, S. 59. Bornscheuer, Topik, S. 99.

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Die Thesen Bornscheuers insbesondere zur Habitualität der Topoi weiterführend, weist Joachim Knape darauf hin, dass es bei der Topik um Konsensfindung gehe und ein Textproduzent deshalb »bei der Suche nach semantisch signifikativen Textbausteinen die herrschenden Kodes befragen« müsse.28 Knape bezieht sich auf einen soziolinguistisch geprägten Kode-Begriff, der von gruppenspezifischen Verständigungsweisen und Kommunikationsinhalten, somit also von einer diskursgebundenen Verwendung der Topoi ausgeht: Teils haben sie gesamtkulturelle Reichweite, teils nur für bestimmte wichtige Wissensbereiche. Die topische ›Merkformel‹ vermittelt sich dem Einzelnen in seiner Eigenschaft als Mitglied jeweils bestimmter, durch gemeinsame Sprache, Bildung und soziales Bewusstsein typisierbarer Gruppen.29

Die Topik erscheint somit nicht nur als ein Feld der Einbildungskraft und der »Argumentationsphantasie«, sondern explizit als Feld der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Das heißt, sie eröffnet über den performativen Gebrauch ebenso wie das ästhetische Spiel die Möglichkeit, Rückschlüsse auf historische Meinungsformationen in einer Gesellschaft zu ziehen. Zwei Aspekte der Topik werden in den Beiträgen dieses Bandes in besonderer Weise aufgegriffen: zum einen die Funktion der Wirklichkeitsbewältigung, das heißt die Möglichkeit, Weltwissen in einem handhabbaren und produktiven System zu ordnen, zum anderen die Potentialität von Topoi. Topoi verdichten keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse, sondern sind im Bereich des diskussionsfähigen Meinungswissens angesiedelt; sie führen keinen strengen Beweis mit sich, vielmehr sind sie Kristallisationspunkte breit anerkannter Auffassungen und zielen auf allgemeine Akzeptanz. Topoi gehen zunächst von einem präreflexiven Verständigtsein aus,30 dem in der realisierten Kommunikation Geltung verschafft wird. Mit Bezug auf eine logica probabilis bietet die Topik ein produktives Verfahren der kommunikativen Bewältigung von Problemen und Aporien. Topoi treten überall dort vermehrt in Erscheinung, wo sich Wissen nicht als systematische Erkenntnis sichern lässt, wo verschiedene, teilweise widersprechende

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Joachim Knape, »Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik und ihre methodologischen Implikaturen«, in: Schirren / Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, S. 747–766, hier S. 752 mit Bezug auf Arist. Top. 1,1. Knape, »Texttheoretische Betrachtungsweisen«, S. 753 mit einem Zitat aus Bornscheuer, Topik, S. 103. Vgl. Josef Kopperschmidt, »Topik und Kritik. Überlegungen zur Vermittlungschance zwischen dem Prius der Topik und dem Primat der Kritik«, in: Breuer / Schanze (Hrsg.), Topik, S. 171–187, hier S. 181.

Einleitung

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Deutungen, die oftmals aus unterschiedlichen Wissenskulturen stammen, aufeinander treffen. Auch das Verständnis des menschlichen Alterungsprozesses gehört dazu, indem er sich weder in einer medizinischen oder evolutionsbiologischen, noch in einer theologischen Deutung erschöpft. Das vielfältige Wissen um das menschliche Altern als Entwicklungsprozess ist so weit verbreitet, dass es in habituellen Mustern als ein nicht definiertes, aber wahrscheinliches Wissen in verschiedenen Diskursen präsent ist.31 Als Verfahren, mit dem man jedes Problem auf Grundlage der geltenden Meinungen in Form von Argumenten zu einem schlüssigen Urteil bringen kann,32 zielt die Topik auf ein argumentativ erzeugtes Einvernehmen aller Beteiligten und wird so zu einer Basis, auf der man diskursiv neue Wissenspositionen aufbauen kann. Zugleich hält sie bewusst, dass das Wissen kontingent ist und diskursiv verhandelt werden kann. Topoi vermitteln zwischen dem kollektiven Wissenserbe und seinen individuellen und aktuellen Realisierungen. Ihre eigentliche Leistung entfaltet die Topik daher weniger als Wissensverwalter denn als Generator für neues Wissen.33 So hält gerade die topische Struktur bewusst, dass das Wissen über das Alter kein statisches ist und in der historischen Perspektive immer wieder neu ausgehandelt wird. Topik ist stets auch ein Thema der Wissensgeschichte, indem sie dabei hilft, mit vertrauten Bildern in varianten Situationen neue Wissensgebiete zu eröffnen und – falls sich eine neue Fügung in der Wiederverwendung durch andere zu einem eigenen Topos emanzipiert – in den bestehenden Wissensfundus einzureihen. In den fiktionalen Entwürfen der Literatur suggeriert die Alterstopik zwar eine Referenz auf die biologischen Bedingungen des menschlichen Alterungsprozesses, dennoch dient der außertextuelle Verweis nicht der Erkenntnis, sondern der Evidenz im Überzeugungsakt. So können im Rahmen des Fiktionalitätsvertrags signifikante Abweichungen gegenüber dem realen Alterungsprozess auch ohne Rücksicht auf die Regeln der Plausibilität gesetzt werden, wenn sie innerhalb des topischen Argumentations-

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Zur systematischen Unbestimmtheit der topischen Heuristik vgl. Pöggeler, »Dichtungstheorie und Toposforschung«, hier S. 92f. Vgl. Bornscheuers Definition der Topik als »die Kunst, in konkreten Problemdiskussionen gesellschaftlich allgemein bedeutsame Gesichtspunkte auf geschickte Weise für die jeweils eigene Interessenargumentation auszunutzen.« (Topik, S. 455). Vgl. Rüdiger Bubner, Dialektik als Topik. Bausteine zu einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt a. M. 1990 (edition suhrkamp 1591), S. 49: »Topoi haben also eine doppelte Funktion, einerseits Problemdiskussionen im Rahmen des gesellschaftlichen Normensystems zu halten, andererseits die interpretatorische Reflexionskraft immer neu voranzutreiben zur Entscheidung zwischen divergierenden, ja oft kontradiktorischen Sinndeutungen des Einzelfalls.«

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musters vorgetragen werden. Das Wissen von den Lebensaltern, dessen topische Struktur in den Beiträgen dieses Bandes beschrieben und untersucht wird, überschreitet deshalb den Begriff von Wissen als beweisbarer Erkenntnis. Im Konzept des Wissens sind vielmehr alltägliche, ästhetische und wissenschaftliche Aussagen gebündelt, die zu einer bestimmten Zeit und in determinierten Kontexten aufgrund ihrer Akzeptanz Gültigkeit erlangen oder auf diese kritisch reflektieren. In diesem Sinn ist der topische Wissensbegriff sowohl offen für die Diskursanalyse wie für eine Poetologie des Wissens.34 An diesen erweiterten Wissensbegriff, den die Topik aufruft, knüpft auch der zweite zentrale Aspekt, die Variation und Modifikation von (Alters-)Topoi, an. Die strukturelle Variabilität der Topoi wurde in der Forschung vor allem aufgrund der motivgeschichtlichen Rekonstruktionen in der Nachfolge von Ernst Robert Curtius vernachlässigt. Die literaturwissenschaftliche Forschung tendierte dazu, die topische Phantasie aufgrund des vorgegebenen Traditionsarsenals als eine eingeschränkte zu definieren, doch ein Blick auf die Textbeispiele, in denen Alterstopoi aufgerufen werden, zeigt, dass Topoi immer auch ästhetische Gedankenspiele provozieren, die, ausgehend von der allgemeinen Akzeptanz, etablierte Vorstellungsmuster überschreiten und in ihrer Bedeutung verschieben. Wiederholung zeichnet sich – wenn man nicht von dem trivialen Wiederholungsbegriff einer bloßen Kopie ausgeht – durch die Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz aus,35 durch ein Zusammenspiel, das man auch für das wiederholte Aufrufen eines Topos festhalten kann. In der Varianz entfaltet gerade die Wiederholung ein produktives Potential, ergeben sich im Bemühen des Autors, sich gegenüber der Tradition positiv auszuzeichnen, neue Setzungen. Das Zusammenspiel von Vorhandenem und Neuem fügt sich auch in eine argumentationslogische Perspektive, denn im Rahmen einer Überzeugungsänderung

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Für einen in diesem Sinn erweiterten Wissensbegriff, der Kultur- und Naturwissenschaften überwölbt und an die Diskursanalyse Foucaults anschließt, vgl. vor allem die mehrfach dargelegten Überlegungen von Joseph Vogl, »Für eine Poetologie des Wissens«, in: Karl Richter (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Fs. Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1997, S. 107–127; Joseph Vogl, »Einleitung«, in: J. V. (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–16, und Joseph Vogl, »Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucaults Denken«, in: François Ewald / Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 193–204. Zum Wiederholungsbegriff in kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Markus Wild, »Play it! aber nicht again. Der Wiederholungsbegriff in pragmatistischer Beleuchtung«, in: Barbara Sabel / Jürg Glauser (Hrsg.), Text und Zeit. Wiederholung, Variante, Serie. Konstituenten literarischer Transmission, Würzburg 2004, S. 184–205.

Einleitung

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müssen die Argumente einerseits vertraut sein, damit sich der Rezipient auf das bereits Akzeptierte wiederum einlässt, zugleich müssen sie neu sein und ihn überraschen, müssen sich alternative Arrangements ergeben, um eine Zustimmungsneigung zu erreichen. Was Rüdiger Bubner als Verbindung zwischen Dialektik und Topik bezeichnet hat,36 wird von Roland Barthes vor allem als spielerisch-produktives Element gesehen, wenn er die Topik eine »Geburtshelferin des Latenten«37 nennt. Die Beiträge dieses Bandes zeichnen den Wandel der Alterstopik und ihres Gebrauchs von der Antike über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis in die Frühmoderne und Gegenwart nach. Dabei beleuchten sie an ausgewählten Beispielen für die Lebensalter Kindheit, Jugend und hohes Alter verschiedene Aspekte des Toposgebrauchs wie die genderspezifische Verwendung, die Variabilität oder die poetologische Funktion von Alterstopik. Der Beitrag »›Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar‹ (Prov 20,29). Zur Alterstopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur« von Kathrin Liess widmet sich der Alterstopik in der Weisheitsliteratur. Ist nach der älteren Weisheit (Proverbien) die Grauhaarigkeit des alten Menschen noch Zeichen seiner Altersweisheit und geachteten gesellschaftlichen Stellung, so zerbricht diese topische Zusammenstellung von hohem Alter, Grauhaarigkeit und Weisheit in den Schriften der jüngeren Weisheit (Hiob, Weisheit Salomos). Es wird gezeigt, wie in der Reflexion über das Leiden oder den vorzeitigen Tod des Gerechten traditionelle Alterstopoi relativiert, beziehungsweise neu definiert werden. In ihrer paradoxen Anwendung auf einen jungen Menschen führen die Topoi des hohen Alters in Weisheit 4 zu einer neuen Altersdefinition, nach der graues Haar, ehrenvolles Greisenalter und Lebensklugheit bereits einem jung Verstorbenen zukommen können. Genderspezifische Aspekte des Toposgebrauchs sind Thema des Beitrages »Alter und Sexualität. Die Stimme der alternden Frau in der horazischen Lyrik« von Therese Fuhrer. Sexualität im Alter ist ein Thema, das in der Lyrik des Horaz entweder als Gegenstand der sympotischen Parainese oder der Invektive gegen alte Frauen auftaucht. Auf diese Weise erscheint die Thematik zunächst unproblematisch, folgt Horaz doch bereits existierenden Schemata, indem er auf stereotypisierte Alterstopoi rekurriert. Therese Fuhrer zeigt jedoch insofern

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Vgl. Bubner, Dialektik als Topik, S. 79ff. Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 69.

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ein Paradoxon auf, als sie auf die Momente der Selbstreflexion und nüchternen Analyse der eigenen Situation aufmerksam macht, die Horaz seinen alten Charakteren zubilligt. In carmen 1,25 und Epode 12 erhalten alternde Frauen die Gelegenheit, ihre Perspektive zu Gehör zu bringen: diejenige verzweifelter Frauen, die wegen ihres Alters marginalisiert und erniedrigt werden, da ihre voluptas nicht enden will und sie libidinöse Beziehungen zu jüngeren Männern pflegen. Horaz wählt also einerseits die Satire als den literarischen Ort, um die durch die Alterstopoi transportierten Verhaltensnormen für alte Frauen zu wiederholen, andererseits jedoch stellt er nicht nur ihren Normenverstoß dar: Er gibt der alten Frau eine Stimme, und dies erlaubt es, die Probleme, die mit ihrem Verhalten assoziiert werden, zur Diskussion zu stellen. Mit der pragmatischen Verwendung von Alterstopoi in zwei Texten der so genannten Zweiten Sophistik beschäftigt sich Dorothee Elm in ihrem Beitrag »›Wird auch kahl sein mein Haupt‹. Alterstopoi in Lukians Alexander oder der Lügenprophet und der Apologie des Apuleius«. Sie führt aus, wie Lukian in der Schrift Alexander oder der Lügenprophet Alterstopoi performativ zur Desavouierung des Propheten einsetzt, der sein hohes Alter mit einer Perücke tarnt, während das Sprecher-Ich Apuleius in der Rede Pro se de magia sie zur Legitimierung seiner persona als asketischer und zugleich urbaner Philosoph einsetzt. Apuleius verteidigt sich mit der sprachlichen Inszenierung seines habitus corporis nicht nur gegen den Vorwurf, seine Frau als Magier zur Ehe gezwungen zu haben, sondern auch deutlich zu jung für sie zu sein. Erzähler und Sprecher beider Texte nutzen die Polyvalenz der Topoi, die unterschiedliche Kodierung des altersbedingten habitus corporis in philosophischen, kultischen und textsortenspezifischen Diskursen für ihre jeweiligen Intentionen. Auf diese Weise werden habituelle Denkmuster zur Disposition gestellt, und es entsteht Spielraum für ein Rearrangement – die Texte verhandeln die Autorität eines neuen Typus von religiösem und philosophischem Experten. Den Alterstopoi in der medizinischen Literatur geht Florian Steger nach. Er definiert zunächst den körperlichen Prozess des Alterns und das Alter als Lebensstufe nach modernem und antikem medizinischen Verständnis, um sich dann deren Beschreibungen und Interpretationen in den Corpora der medizinischen Literatur zuzuwenden. Der Beitrag zeigt, dass die Vorstellungen vom Altern und vom hohen Lebensalter im hippokratischen Corpus, in den Œuvres von Aristoteles und Galen zwar auf gemeinsamen Axiomen beruhen, die man auch als habituelle Denkmuster bezeichnen könnte. Ein bewusster selbstreflexiver Umgang und ein literarisches Spielen mit diesen Mustern seien jedoch nicht zu entdecken.

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Die Kindheitstopoi in der mittelhochdeutschen Epik behandelt Annette Gerok-Reiter in ihrem Beitrag »Kindheitstopoi in Gottfrieds Tristan. Anspielungen, Überlagerungen, Subversionen«. Am Beispiel des Wunderkinds Tristan, das zwar mit den Kindheitstopoi der Brillanz und des zukünftigen Heldentums charakterisiert, aber immer wieder mit negativen Kindheitserlebnissen konfrontiert wird, diskutiert sie, ob Angst im höfischen Roman ein spezifisches Charakteristikum des Kindes und des jungen Menschen ist. Während in der Heldenepik das feste Darstellungsmuster herrscht, dass im Kind bereits die Grundanlagen des späteren Helden vorhanden sind, wird Tristan in Gottfrieds Roman als ängstliches und schutzloses Kind gezeigt. Doch gerade diese Defizienz eröffnet neue Facetten des Erzählens, indem Tristan durch seine kindliche Angst auch in objektiv harmlosen Situationen zu Lügengeschichten motiviert wird, sich seine Geschichte nach eigenem Ermessen umerzählt und so eine besondere Form der Identität erringt. Einen genderspezifischen Toposgebrauch, aber vor allem auch die poetologische Funktion von Alterstopik untersucht Sandra Linden in ihrem Beitrag »Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang«. An Textbeispielen von Heinrich von Morungen, Walther von der Vogelweide und Neidhart zeigt sie, wie ab dem 13. Jahrhundert in den als ewig konzipierten idealen Minnedienst zwischen ablehnender Dame und treuem Ritter vereinzelt ein Zeitargument eingebaut wird, das die Vergänglichkeit von Werber und Dame thematisiert. Wenn in Walthers Lied L. 57,23 dann auch die personifizierte Minne gealtert erscheint, ergibt sich aus der Frage nach dem altersangemessenen Verhalten zugleich eine poetologische Diskussion um den richtigen Minnesang, wird schließlich die szenisch ausgeführte Narrativierung des Topos von der liebeslustigen Alten in den Liedern Neidharts zu einem kreativen Element, mit dem sich die Gattung neue Aussagefelder erschließt. Dem Thema des Alterns der Frau widmet sich auch der Beitrag »Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters. Zur Naturalisierung der Altersdarstellungen im 16. Jahrhundert« von Stefanie Knöll. Anhand von Lebensalterdarstellungen zeigt sie, dass Konzepte spezifisch weiblichen Alterns sich mit deutlicher Verspätung zu den männlichen Darstellungsmustern nachweisen lassen: Erst ab dem 16. Jahrhundert wird das Alter vor allem durch weibliche Figuren symbolisiert, während der männliche Körper aus dem Bilddiskurs zur Altersdarstellung ausgeklammert wird. An einer Reihe von Beispielen wird herausgearbeitet, wie das Alter aus moraldidaktischer Perspektive betrachtet und als memento mori zur Warnung vor der Todsünde der Luxuria eingesetzt wird. Dabei zeigt sich, dass der alte Frauenkörper nicht nur als vanitas-

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Symbol begegnet, sondern zugleich Hinweis darauf ist, wie die erotische Kraft der Frau gebrochen werden kann. Die Potentialität eines Alterstopos stellt Thorsten Fitzon in den Mittelpunkt seines Beitrags »Der Greis im Frühling. Schöpferische Toposvariationen in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts«. Er untersucht, wie das memento mori des humanistischen Topos vom Alter als Winter des Lebens seit der Empfindsamkeit in der topischen Figur des ›Greises im Frühling‹ variiert und harmonisiert wurde. Insbesondere auf die seit dem Humanismus betonte Diskrepanz zwischen linearer Lebenszeit und zyklischer Jahreszeit antwortet die Aufklärung mit dem Vorstellungsmodell vom Greis im Frühling. Der lyrischen Amplifikation des Wintervergleichs geht dabei die alphabetische Fragmentierung des Alterstopos in poetischen Katalogen voraus, die den semantischen Überschuss der Jahreszeitenanalogie freistellte. Da der Greis im Frühling, der in seiner paradoxen Struktur an den puer senex erinnert, aber nicht nur den Blick auf den ewigen Frühling im Jenseits weitet, sondern auch die Präsenz der Jugend als erinnerten Lebensfrühling aufruft, kommt es im 19. Jahrhundert in Gedichten wie Frühling im Alter von Ernst Moritz Arndt und Ewiger Frühling von Friedrich Rückert nochmals zu einer Variation des Topos, die eine individuelle Altersperspektive vorbereitet. Der Topos wird schließlich zu einem ästhetischen Argument für die subjektive Selbstbehauptung des Alters, das sich ohne metaphysischen Trost ganz im Erleben des Augenblicks erfüllt. Die poetologische Funktion von Altersdarstellungen und -topoi im Realismus analysiert Thomas Küpper unter dem Titel »›… die alten Möbeln ihrer Kammer‹. Alterstopoi in Storms Marthe und ihre Uhr und Immensee«. Am Beispiel von Theodor Storms Erzählung Immensee wird der Topos der Altersklage für ein literarisches Konzept umgedeutet, das der Verbindlichkeit und Unausweichlichkeit des Alterns die Freiheit einer Nostalgie entgegensetzt. Die mit dem Alter verbundene Inaktivität wird am Beispiel der Erzählung Marthe und ihre Uhr analysiert, wobei gerade die Altersleere, die hier eine erzählerische Produktivität bewirkt, dem Diktum des erzählenswerten Erlebnisses kritisch entgegengesetzt wird. In der parallelen Tendenz zu einer vom direkten Nutzen befreiten Reflexion kommt es somit zu einer Annäherung zwischen der Programmatik des Realismus und der Erzählfunktion des hohen Alters. Auch der Beitrag von Miriam Haller mit dem Titel »Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman« gilt der spezifischen literarischen Produktivität, die das hohe Alter im zeitgenössischen Roman auslöst. Traditionelle

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Alterstopoi werden in der Resignifikation als kulturelle Einschreibungen gesehen, die wiederholt werden, zugleich aber in der Fiktion den Zwängen der pragmatischen Rede entkommen und mit narrativer Distanz variiert werden können. Im Auserzählen werden die Topoi, die ursprünglich nicht dem narrativen, sondern dem argumentierenden Feld angehören, modifiziert, und so eröffnet sich in Monika Marons Roman Endmoränen die Ironie als ein Aussagemodus auf der Grenze zwischen dem abgeschlossenen Alten und dem noch nicht gefundenen Neuen der topischen Verwendung. Einen Ausblick auf die Funktionalisierung bestimmter Alterstopoi im Kontext theologischer und juristischer Argumentation bilden die beiden abschließenden Beiträge, die die Frage nach den Grenzen der Lebensalter diskutieren: Andreas Kunz-Lübcke fragt aus theologischer Perspektive nach dem Beginn des Lebens, Stefan Ruppert aus juristischer Perspektive nach der Altersgrenze der Jugend. So geht Andreas Kunz-Lübcke in seinem Beitrag »Wann beginnt das Leben? Überlegungen zur pränatalen Anthropologie der Hebräischen Bibel« von der (modernen) Fragestellung aus, ab welchem Zeitpunkt ein Embryo als individuelles menschliches Wesen gilt, und untersucht Vorstellungen und Bilder, die die alttestamentlichen Texte vom werdenden Leben entwerfen. Im Zentrum der Untersuchung stehen neben den Aussagen über die pränatale Existenz, zu denen unter anderem das Bild der ausgebliebenen Geburt oder die Auffassungen von pränataler Charakterbildung zählen, biokynetische Aspekte (Bilder und Vorstellungen von Zeugung und Entstehung des Fötus) und religiöse Aspekte der Menschwerdung wie die Frage nach dem Beginn der Gottesbeziehung, darunter besonders die bildhafte Vorstellung der Gottesbeziehung ›vom Mutterleib an‹. Einer rechtshistorischen Fragestellung gelten die Überlegungen von Stefan Ruppert zum Thema »Vom Schulpflichtigen zum jungen Straftäter. Der Wandel des deutschen ›Jugendrechts‹ im 19. Jahrhundert«, die auf der Beobachtung basieren, dass seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr Altersgrenzen Eingang in das Rechtssystem finden, die am männlichen Lebenslauf orientiert und auf ein produktives Erwerbsleben ausgerichtet sind. Es kommt zu einer Verdichtung von Normen und einer daraus resultierenden Binnenstrukturierung der Jugend, wobei sich die Diversität der verschiedenen Interessenlagen im Schulrecht, der Fabrikschutzgesetzgebung, dem Strafrecht und der Religionsmündigkeit ablesen lässt. Feste kalendarische Altersgrenzen nehmen zunehmend die Funktion von Topoi an, da für jede jugendliche Altersstufe bestimmte Leistungen erwartet werden, die auf allgemeine Akzeptanz treffen und keiner eigenen Diskussion mehr bedürfen.

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Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf eine Tagung, die am 13. und 14. März 2008 an der Universität Freiburg unter dem Titel Alterstopoi. Neues im alten Wissen von den Lebensaltern stattfand. Der Tagungsband dokumentiert den ersten Teil eines größeren Forschungsprojektes zur Religiösen und poetischen Konstruktion der Lebensalter, das im Rahmen des Nachwuchskollegs der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (WIN-Kolleg) gefördert wird. Das gemeinsame Forschungsprojekt fragt danach, wie sich seit der Antike aus den zum Teil topischen Beschreibungsmustern in religiösen und poetischen Texten kulturelle Deutungsspielräume des menschlichen Lebenslaufs eröffneten und wie sich dadurch ein Wandel in Altersdiskursen formiert hat. Das Kolleg ist von der Heidelberger Akademie mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg eingerichtet worden und darauf ausgerichtet, Projekte fachübergreifender Nachwuchsforschung zu unterstützen. Die Gruppe um Dorothee Elm, Thorsten Fitzon, Kathrin Liess und Sandra Linden verbindet Forschungsperspektiven aus Theologie, Altphilologie, germanistischer Mediävistik und neuerer deutscher Literaturgeschichte und wird zusammen mit drei weiteren Gruppen im Rahmen des 2007 eingerichteten Kollegschwerpunkts Der menschliche Lebenszyklus – Biologische, gesellschaftliche, kulturelle Aspekte von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gefördert. Es gilt, einen herzlichen Dank auszusprechen für die ideelle, organisatorische und finanzielle Förderung, die wir seit der Einrichtung des WIN-Kollegs von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erfahren haben. Unser Dank gilt daher zunächst den Akademiemitgliedern, allen voran unserem Mentor Professor Dr. Bernhard Zimmermann, und den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Geschäftsstelle, die unser Forschungsvorhaben stets mit Interesse begleiten und unbürokratisch unterstützen. Außerdem danken wir Mirjam Döpfert, Patricia Dufke, Maria Antonia Flamm, Stefanie Heimann, Thomas Moser, Max-Jacob Ost, Valeska Prenschke, Janja Soldo und Stefanie Rieder, die während der Vorbereitung und Durchführung der Tagung ebenso wie für die Redaktion der Beiträge unentbehrlich waren. Ein besonderer Dank gilt Helge Kaltenbach für die geduldige Einrichtung der Druckvorlage. Freiburg und Tübingen im Mai 2009

KATHRIN LIESS

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar« Zur Alterstopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur This essay treats the idea of old age in Old Testament wisdom literature. It focuses on two motifs: the motif of gray hair and that of the old person’s wisdom. In Proverbs, gray hair symbolizes the wisdom and respected position of an aged man (Prov 16:31, 20:29). In the later wisdom literature, however, (Job; Wisdom of Solomon), the connection of grayness, old age, and wisdom is questioned, in light of the suffering and premature death of the righteous. In the Book of Job, the aged man’s wisdom is ›questioned‹ in that Job’s older friends cannot offer a proper explanation for Job’s suffering (Job 32:5ff.). Thus, instead of correlating old age and wisdom, Job 12:20 and 32:8f. both emphasize wisdom’s non-availability: it can be given or withdrawn by God alone. In view of the premature death of the righteous, Wis 4 presents a definition of ›old age‹ that modifies the traditional view: grayness, the respectability of old age, and worldly wisdom can even fall to a young person who has died prematurely. In this manner, the text assimilates certain topoi of ancient consolation literature into its line of reasoning.

»Grau geworden sind allmählich meine Schläfen, weiß der Haarschopf, und die anmutsvolle Jugend ist vorbei. Vergreist die Zähne und vom süßen Leben bleibt mir nicht viel Zeit mehr übrig fürder.«1 – Diese Altersklage des griechischen Dichters Anakreon (ca. 570–485 v. Chr.) greift einen bekannten Alterstopos auf, der von der Antike bis heute kennzeichnend für Altersbeschreibungen ist. Auch im Alten Testament ist dieser Topos belegt: »Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«, heißt es in der Spruchweisheit (Prov 20,29). Zur Grau- oder Weißhaarigkeit als sichtbares Zeichen des Alterns treten in den antiken Altersbeschreibungen und -klagen weitere körperliche Merkmale des Alterungsprozesses. In den biblischen Texten zählen dazu u.a.:2 das

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S. dazu Hartwin Brandt, Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike, München 2002, S. 36. Vgl. dazu Martin A. Klopfenstein, »Die Stellung des alten Menschen in der Sicht des Alten Testaments«, in: M. A. K., Leben aus dem Wort. Beiträge zum Alten Testament, hrsg.

Kathrin Liess

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Schwinden der physischen Kraft/der (Lebens-)Kraft (Ps 71,9; Hos 7,9), nachlassende Sehkraft (Gen 27,1; 48,10; 1Sam 3,2; 4,15; 1Kön 14,4), Durchblutungsstörungen (1Kön 1,1–4), Erkrankung an den Füßen (1Kön 15,23), verminderte Hörfähigkeit (2Sam 19,39), Beeinträchtigung des Geschmackssinns (2Sam 19,36), Aufhören der Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit (Gen 18,11f.; 1Kön 1,4; 2Kön 4,14; Ruth 1,12f.), Abnehmen des Verstandes (Koh 4,13; Sir 3,13) oder mangelnde Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse (2Sam 19,36). In diesen Altersbeschreibungen spiegelt sich die Erfahrung des Alters als Begrenzung wider – in körperlicher Hinsicht als Nachlassen der physischen Kräfte sowie der Funktionsfähigkeit einzelner Körperteile wie Augen, Ohren oder Füße, in geistiger Hinsicht als Einschränkung kognitiver Fähigkeiten (2Sam 19,36). Das Alte Testament greift dabei stereotype körperliche Beschreibungsmerkmale auf, die auch in der altorientalischen Umwelt verbreitet sind, wie exemplarisch die ägyptische Weisheitslehre des Ptahhotep (um 2300 v. Chr.) zeigt: Gebrechlichkeit ist über mich gekommen, das Greisenalter ist eingetreten, der Körper ist kraftlos, Hilflosigkeit ist erneut da. Die Kraft ist geschwunden, da das Herz matt ist. Der Mund schweigt, er kann nicht mehr reden, die Augen sind schwach, die Ohren taub. Das Herz schläft und tränt den ganzen Tag. Das Herz ist auch vergesslich und kann sich nicht mehr an gestern erinnern. Die Knochen schmerzen vor Alter. Die Nase ist verstopft und kann nicht mehr atmen, Aufstehen und Hinsetzen sind gleichermaßen beschwerlich. Gutes ist zu Schlechtem geworden, und jeder Geschmack ist geschwunden. Was das Alter den Menschen antut – Übel ist es in jeder Hinsicht.3

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3

v. Walther Dietrich, Bern u.a. 1996, S. 261–273, hier S. 264ff.; Lothar Ruppert, »Der alte Mensch aus der Sicht des Alten Testaments«, in: Trierer theologische Zeitschrift, 85 (1976), S. 270–281, hier S. 273f. Zur Altersthematik im Alten Testament s. auch Josef Scharbert, »Das Alter und die Alten in der Bibel«, in: Saeculum, 30 (1979), S. 338–354; Frank-Lothar Hossfeld, »Graue Panther im Alten Testament? – Das Alter in der Bibel«, in: Arzt und Christ, 36 (1990), S. 1–11; F.-L. H., »Glaube und Alter«, in: Theologie und Glaube, 49 (2006), S. 267–276; Arndt Meinhold, »Bewertung und Beginn des Greisenalters«, in: A. M., Zur weisheitlichen Sicht des Menschen. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 2002, S. 99–116 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 6); Jörg Barthel, »›Bis ihr grau werdet, will ich euch tragen‹. Biblische Einsichten zum Thema Alter«, in: Theologie für die Praxis, 33 (2007), S. 67–83. Übersetzung: Hellmut Brunner, Die Weisheitsbücher der Ägypter, Düsseldorf, Zürich 2 1988, S. 110. S. dazu Josef Scharbert, »Die Altersbeschwerden in der ägyptischen, babylonischen und biblischen Weisheit«, in: Regine Schulz / Manfred Görg (Hrsg.), Lingua restituta orientalis, München 1990, S. 289–298 (Ägypten und Altes Testament

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«

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Der Altersklage über den körperlichen Verfall, die fest geprägte Bilder verwendet, steht auf der anderen Seite die Altersweisheit und Lebensklugheit des alten Menschen als ein geläufiger Topos im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike gegenüber. Ein zentrales Thema ist in diesem Zusammenhang die Überlieferung der Weisheit des lebenserfahrenen Alten von einer Generation zur nächsten, wie sie sich z.B. in den ägyptischen Lebenslehren findet.4 Der altersschwache und weise 110jährige Ptahhotep gibt »als einer, der den Unwissenden zum Wissen erzieht«5, in seiner Lebenslehre seine Lebensweisheit an seinen Sohn bzw. Nachfolger weiter, der wiederum die nachfolgende Generation in der Weisheit unterrichtet: Ein gehorsamer Sohn ist ein Horusdiener, es geht ihm gut, nachdem er gehört hat. Ist er alt geworden, so kommt er zu hohen Ehren, und dann spricht er ebenso zu seinen Kindern, indem er die Lehre seines Vaters erneuert; ein jeder lehrt entsprechend seinen Erfahrungen, und so spricht er zu seinen Kindern, damit diese wieder zu ihren Kindern sprechen.6

Die Weisheit des alten Menschen ist in seiner langen Lebenserfahrung begründet. »Erst im Alter darf ein Mann das Wort ergreifen«7, denn – so fasst Hellmut Brunner zusammen – »weise Männer [haben] am Ende ihres taten- und beobachtungsreichen Lebens die göttliche Ordnung der Welt und das Wesen der Menschen soweit erkannt, daß sie, selbstverständlich aufbauend auf der Weisheit der Vorfahren, ihre eigene Einsicht formulieren konnten.«8 Häufig wird diese Altersweisheit der jugendlichen Kraft gegenübergestellt. So heißt es bei Demokrit (um 460 bis zw. 380 und 370 v. Chr.) über die Charakteristika der jeweiligen Lebensphasen:

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20); Günter Burkard, »Ptahhotep und das Alter«, in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde, 115 (1988), S. 19–30. In der ägyptischen Schrift kann das Wort für »weise« auch mit dem Zeichen des »alten Mannes« determiniert werden; s. Hellmut Brunner, Altägyptische Erziehung, Wiesbaden 2 1991, S. 129 Anm. 71. Übersetzung: Brunner, Weisheitsbücher, S. 111. Übersetzung: Brunner, Weisheitsbücher, S. 131. Brunner, Erziehung, S. 129. Brunner, Erziehung, S. 130. Vgl. die aramäische Weisheitslehre des Achiqar, des »weisen Schreibers«, der alt geworden ist und seine Weisheit an seinen Nachfolger weitergibt; zum Text s. Ingo Kottsieper, »Die Geschichte und die Sprüche des weisen Achiqar«, in: Otto Kaiser (Hrsg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments III/2, Gütersloh 1991, S. 320–347, hier S. 324ff.

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Körperliche Kraft und schöne Gestalt sind Vorzüge der Jugend; die Blüte des Alters aber ist die Weisheit.9

In einer kritischen Rezeption des Topos vom alten, grauhaarigen Weisen erscheint das hohe Alter jedoch nicht nur »als Garant für den Besitz von Weisheit, sondern als Möglichkeit permanenten Weiterlernens«:10 »Wird auch silbern mein Haar, lern’ ich doch immer noch vieles.«11 Auch im Alten Testament gelten Grauhaarigkeit und Altersweisheit als charakteristische Altersmerkmale. Welche Bedeutung hat die oben zitierte Aussage »der Glanz der Alten ist ihr graues Haar« aus der Spruchweisheit? Welche Haltung nehmen die Weisheitsschriften Proverbien, Hiob, Jesus Sirach und Weisheit Salomos zum Thema Altersweisheit ein? Ausgehend von einem Überblick über den Topos der Grauhaarigkeit (1.) wird im Folgenden das Thema Altersweisheit in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur anhand von ausgewählten Texten untersucht (2.–4.).

1. Grauhaarigkeit als klassischer Alterstopos In der alttestamentlichen Anthropologie kommt Körperbildern eine besondere Bedeutung zu.12 Dabei gilt, so O. Keel, der Grundsatz, dass »Körperteile im biblischen Hebräisch nie unter dem Aspekt der Form wahrgenommen (werden), sondern unter dem ihrer Funktion und Dynamis«.13 Der Kopf bzw. das Haupt, das als pars pro toto den ganzen Menschen repräsentiert, wird im Alten Testament für »das ranghöchste Glied des Körpers« gehalten;14 dementsprechend spielt auch das Haar eine wichtige Rolle: Langes, schnell wachsendes Haar gilt als Zeichen der Vitalität und Symbol der Lebenskraft15 und die im Alten

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Frgm. 294 D-K; s. dazu Brandt, Wird auch silbern, S. 50f. Brandt, Wird auch silbern, S. 37. Solon, Fragment 22,7 Diehl; zit. n. Brandt, Wird auch silbern, S. 37. S. dazu Dörte Bester, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten, Tübingen 2007 (Forschungen zum Alten Testament II/24); Silvia Schroer / Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 2 2005. Othmar Keel, Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes, Stuttgart 1984 (Stuttgarter Bibelstudien 114/115), S. 27; vgl. Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2 2006, S. 20f. Schroer / Staubli, Körpersymbolik, S. 69. Vgl. Pnina Galpaz-Feller, »Hair in the Bible and in Ancient Egyptian Culture. Cultural and Private Connotations«, in: Biblische Notizen, 125 (2005), S. 75–94, hier S. 83. Zur Bedeutung der Haare im Alten Testament s. Schroer / Staubli, Körpersymbolik, S. 78ff.; Georg Hentschel, »Art. Haar«, in: Neues Bibel-Lexikon, 2 (1995), S. 2; G. Johannes

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«

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Orient weit verbreitete schwarze Haarfarbe16 als ein Merkmal der Jugend. Doch »die Jugend und die schwarzen Haare sind Windhauch«, beides ist – so sagt es Kohelet in seiner eindrücklichen Altersschilderung – vergänglich (Koh 11,10). Ein alter Mann wird deshalb stereotyp als »Mann mit grauem Kopf; Graukopf« (’iš ´eb¹h) bezeichnet (Dtn 32,25; vgl. Gen 42,38; 44,29.31).17 Dabei wird der Zusammenhang zwischen Alter und grauem Haar im biblischen Hebräisch bereits sprachlich deutlich.18 So wie im Deutschen der Begriff »Greis« auf mhd. grîs »grau« zurückgeht oder im Englischen »hoary« »(alters)grau, ergraut« und zugleich »alt« bedeuten kann, hängen auch in der hebräischen Terminologie beide Bedeutungen zusammen: Die Wurzel ´yb bedeutet »grau sein; alt sein« (vgl. 1Sam 12,2; Hi 15,10), und die entsprechenden Derivate ´êb und ´êb¹h bezeichnen das hohe Alter und zugleich das graue Haar des alten Menschen.19 Im Gegensatz zu z¹qen, der weitaus geläufigeren Bezeichnung für die Alten, die aufgrund der Ableitung von z¹q¹n »Bart« auf die Vollbärtigkeit der alten Menschen bzw. der Ältesten als Amtsträger verweist,20 »hat ´êb¹h deutlich das äußere Merkmal des Alters, die Grauköpfigkeit, semantisch bewahrt«.21 Auch in anderen Sprachen des Alten Orients hängen die beiden Bedeutungen eng zusammen;22 im Ugaritischen sind die Begriffe šb »alter Mann, Grau-/Weißhaari-

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Botterweck, »Art. gillaµ«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 2 (1977), S. 5– 20. Im Sumerischen und Akkadischen werden die Menschen auch »die Schwarzköpfigen« (ƒalm¹t qaqqadi ) genannt; s. Rivkah Harris, Gender and Aging in Mesopotamia – The Gilgamesh Epic and Other Ancient Literature, Oklahoma 2000, S. 51. In Ägypten galt dunkelbraunes oder schwarzes Haar als Schönheitsideal. Deshalb vermied man in der Ikonographie die Darstellung von Grauhaarigkeit; dies gilt nach P. Galpaz-Feller besonders für die Oberschicht, die – im Unterschied zu den unteren Schichten – in der Grabmalerei nur selten grauhaarig abgebildet wird. Grauhaarigkeit kann in der Grabmalerei Zeichen des Übergangs von der diesseitigen in die jenseitige Welt sein; vgl. Galpaz-Feller, »Hair«, S. 80. Vgl. Heinz-Josef Fabry, »Art. ´êb¹h«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 7 (1993), S. 751–757, hier S. 754; Scharbert, »Alter«, S. 340. Zu den Altersbegriffen im Alten Testament vgl. Scharbert, »Alter«, S. 339f.; Meinhold, »Greisenalter«, S. 99f.; Fabry, »Art. ´êb¹h «, S. 751–757; G. Johannes Botterweck / Joachim Conrad, »Art. z¹qen «, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 2 (1977), S. 639–650. Vgl. Ludwig Köhler / Walter Baumgartner, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Leiden, New York, Köln 1995, S. 1229 (= HAL). Vgl. Botterweck / Conrad, »Art. z¹qen «, S. 640. Fabry, »Art. ´êb¹h «, S. 754; vgl. HAL, S. 1229; Botterweck / Conrad, »Art. z¹qen «, S. 641. Vgl. Harris, Gender and Aging, S. 51f.; Alexander Militarev / Leonid Kogan, Semitic Etymological Dictionary, Vol. I: Anatomy of Man and Animals, Münster 2000 (Alter Orient und Altes Testament 278/1), S. 321f.

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ger« und šbt »Grauhaarigkeit; Alter« belegt;23 im Akkadischen sind es die Substantive šìbu »grauhaarig, alt«; »Alter, Greis«;24 šìbtu »graues Haar«; »alte Frau, Greisin«25 und das entsprechende Verb šiâbu , šâbu »grau, alt werden, sein«.26 Das Alter von 80 Jahren wird mit dem Begriff šibùtu »Alter, Greisenalter, hohes Alter« bezeichnet.27 Verschiedene Merkmale beschreiben den alten Menschen in Mesopotamien, doch graues bzw. weißes Haar galt als »the marker of senectitude in Mesopotamia«.28 So heißt es z.B. in dem sumerischen Text »Der Greis und das junge Mädchen« aus der Zeit um 1700 v. Chr. bei der Schilderung der Altersbeschwerden, das einst schwarze Haupthaar sei weiß geworden wie Gips (»My black mountain has produced white gypsum«).29 Auch in der griechischrömischen Antike überlagern sich beide Bedeutungen: Im Griechischen bedeutet der Altersterminus polia, »weißes, graues Haar« und »Alter«, das entsprechende Adjektiv polio,j »weißgrau, grau; alt«;30 im Lateinischen beinhaltet canus die beiden Bedeutungsaspekte »grauhaarig« und »alt, ehrwürdig«.

Welche Bedeutung hat nun der Topos der Grauhaarigkeit im Alten Testament, und in welchen Kontexten findet er Verwendung? In negativer Hinsicht deutet graues Haar auf den Verlust der Lebenskraft (koaµ), des Kennzeichens der Jugend. Graues Haar gilt als äußerlich sichtbares Zeichen mangelnder Vitalität und Stärke. Besondere Verwendung findet der Topos in dieser Bedeutung in der prophetischen Gerichtsankündigung Hos 7,9, denn hier ist von der Grauhaarigkeit nicht eines einzelnen Menschen, sondern eines ganzen Reiches die Rede: Fremde haben seine [sc. des Stammes Ephraim, d.h. Israel] Kraft verzehrt, aber er selber merkt es nicht; auch graue Haare (´êb¹h ) sind ihm schon gewachsen – aber er selber merkt es nicht.31

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Vgl. Gregorio del Olmo Lete / Joaquín Sanmartín, A Dictionary of the Ugaritic Language in the Alphabetic Tradition, transl. by Wilfred G. E. Watson, Boston, MA 2002 (Handbook of Oriental Studies 67), S. 801f. S. Wolfram von Soden, Akkadisches Handwörterbuch, Bd. 3, Wiesbaden 1981, S. 1228f. s.v. šìbu (= AHw). AHw, S. 1228 s.v. šìbtu(m). AHw, S. 1224. AHw, S. 1229 s.v. šìbùtu(m); vgl. die Sultantepe-Tafel (STT) 400,47; s. dazu Harris, Gender and Aging, S. 28f. Harris, Gender and Aging, S. 91; vgl. S. 51. S. dazu Scharbert, »Altersbeschwerden«, S. 292f. Zur Schwarzhaarigkeit der Menschen s. auch oben Anm.16. Vgl. Johan Lust / Erik Eynikel / Katrin Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint, Stuttgart 2003, S. 504 s.v. polia,; polio,j. Übersetzung: Jörg Jeremias, Der Prophet Hosea, Göttingen 1983 (Das Alte Testament Deutsch 24/1), S. 91.

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«

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Dieser Spruch bezieht sich auf die Gebietsverluste des Nordreiches Israel unter der assyrischen Fremdherrschaft im 8. Jh. v. Chr. Das Reich Israel altert, sein Leben neigt sich dem Ende zu, es will es jedoch nicht wahrhaben. Die prophetische Bildrede vom grauen Haar steht in diesem Zusammenhang für den Verlust der Stärke und der staatlichen Eigenständigkeit, denn das Nordreich ist dem Untergang geweiht. In positiver Bedeutung verweist graues Haar im Alten Testament auf die Weisheit und Lebenserfahrung der Alten: Wie gut steht den Weiß-/Grauhaarigen (polia,) Urteilskraft an und den Ältesten, Rat zu wissen. Wie gut steht den Greisen Weisheit an und den geehrten Männern Überlegung und Rat. (Sir 25,4f.)32

In den Rechtstexten wird deshalb zur Ehrerbietung und zum Respekt gegenüber den Grauhaarigen aufgefordert, indem die Ehrung der Alten mit dem Gebot der Gottesfurcht verbunden wird: Vor Grauhaarigen (´êb¹h ) sollst du aufstehen; ehre (h¹d¹r) den alten Menschen. Fürchte dich vor deinem Gott. Ich bin JHWH. (Lev 19,32)33

Der junge Mensch soll sich aus Ehrfurcht vor den ergrauten Alten erheben: »Das mag sich auf ein Treffen der Männer im Stadttor beziehen oder auf Versammlungen der Gemeinde oder auf gemeinsame Mahlzeiten. In jedem Fall gebührt dem Grauhaarigen der Ehrensitz.«34 Die Gottlosen hingegen haben keine Hochachtung vor dem grauen Haar des ehrwürdigen, alten Menschen: Lasst uns den armen Gerechten unterdrücken, die Witwe nicht schonen! Wir wollen keine Scheu haben vor dem grauen Haar (polia,) des Greises. (Weish 2,10)

Der arme Gerechte, die Witwe und der grauhaarige Greis – damit sind in Weish 2,10 die Personengruppen genannt, die im Alten Testament in besonderem Maße auf die göttliche Rettung angewiesen sind (vgl. V.18ff.). Die Zusammenstellung mit den typischen personae miserae verdeutlicht, dass graues Haar in diesem Kontext nicht nur ein Hinweis auf die würdevolle Stellung des alten Menschen, sondern auch auf

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Zur Übersetzung vgl. Georg Sauer, Jesus Sirach / Ben Sira, Göttingen 2000 (Das Alte Testament Deutsch. Apokryphen 1), S. 188. Übersetzung: Erhard S. Gerstenberger, Das 3. Buch Mose. Leviticus, Göttingen 1993 (Das Alte Testament Deutsch 6), S. 238. Gerstenberger, Das 3. Buch Mose, S. 254. Zum Aufstehen vor einem älteren Menschen vgl. die ägypt. Lehre des Ani 6,10; s. dazu Brunner, Weisheitsbücher, S. 205. Zum Respekt vor den Alten vgl. Prov 23,22; Sir 8,6; zur Ehrung der Eltern vgl. Ex 20,12//Dtn 5,16; Lev 19,3.

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seine (Alters-)Schwäche und Hilfsbedürftigkeit ist. Die Angewiesenheit des alten Menschen auf die Hilfe und Nähe Gottes ist auch Thema von Ps 71, der das Alter als Zeit, in der die Lebenskräfte (koaµ, vgl. Hos 7,9)35 nachlassen, beschreibt: Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters! Wenn meine Kraft schwindet, verlass mich nicht! (Ps 71,9)36

Diese Bitte um eine bleibende Gottesbeziehung auch im Alter wird in V.18 aufgegriffen, indem der schwindenden Kraft des alten, grauhaarigen Menschen die Kraft und Macht Gottes gegenübergestellt wird: Auch bis zum Alter und grauem Haar (´êb¹h), Gott, verlass mich nicht, bis ich deinen Arm/dein Wirken der Generation verkünde, jedem, der kommt, deine Heldenkraft. (Ps 71,18)37

Zwei Körpertermini stehen sich hier gegenüber: das graue Haar des Menschen als sichtbares Zeichen für den Verlust der Lebenskraft und der Arm Gottes als Symbol für dessen mächtiges und rettendes Handeln zugunsten des Menschen.38 Zu kraftvollem Handeln nicht mehr selbst in der Lage, besteht die Aufgabe des alten Menschen im Reden, in der Verkündigung der Taten Gottes für die kommende Generation. Worum der Einzelne in Ps 71 bittet, um die rettende Gegenwart Gottes bis in die Zeit des altersgrauen Haares, verheißt das prophetische Heilswort Jes 46,3f. für das ganze Volk Israel: Aufgeladen von Mutterleib her, getragen von Mutterschoß an, und bis zum Greisenalter bin ich derselbe, und bis zum Grauhaar (´êb¹h ) ich, der schleppt. Ich hab’ (es) getan; und ich werde tragen, und ich werde schleppen und retten.39

Wie in Hos 7,9 wird auch in diesem prophetischen Text der Topos der Grauhaarigkeit auf das Volk als ganzes übertragen. In beiden Texten bezieht sich das Alter auf die Zeit des Verfalls: Drohte nach Hos 7,9 dem Nordreich Israel der Untergang durch die Assyrerherrschaft, so steht im Hintergrund von Jes 46,3f. die Zeit des babylonischen Exils.

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Zur Bedeutung von koaµ »Kraft; Lebenskraft« s. unten 28. Übersetzung: Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Psalmen 51–100, Freiburg, Basel, Wien 2000 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), S. 290. Übersetzung: Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, S. 291. Vgl. Adam S. van der Woude, »Art. ze röa `«, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 1 ( 51994), S. 522–524, hier S. 523f.; Franz-Josef Helfmeyer, »Art. zerôa `«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 2 (1977), S. 650–660, hier S. 653ff.; vgl. z.B. Ps 44,4; 77,16; 89,14; Jes 40,11 u.ö. Übersetzung: Hans-Jürgen Hermisson, Deuterojesaja. 2. Teilband: Jesaja 45,8–49,13, Neukirchen-Vluyn 2003 (Biblischer Kommentar Altes Testament XI/2), S. 85.

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«

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In dieser Exilssituation bringt die Zusage in Jes 46,3f. mit dem Merismus »vom Mutterleib/Mutterschoß – bis ins Greisenalter/bis zum Grauhaar« zum einen die umfassende und kontinuierliche Zuwendung Gottes zu seinem Volk zum Ausdruck, die für die Vergangenheit wie auch für die Zukunft gilt.40 Zum anderen wird aber auch betont, dass Gottes rettende Gegenwart bis in die Lebenszeit reicht, in welcher der Mensch aufgrund nachlassender körperlicher Kräfte in besonderer Weise auf eine Stütze angewiesen ist. Den Veränderungen, denen der Mensch im Laufe seiner Lebenszeit bzw. das Gottesvolk im Laufe seiner Geschichte unterworfen ist, steht in Jes 46 Gottes Unveränderlichkeit (»und bis zum Greisenalter bin ich derselbe«) und kontinuierliche Lebensbegleitung gegenüber.41 Darin liegt in der Exilssituation die tröstende Kraft des prophetischen Heilswortes. Kanonisch betrachtet lässt sich diese »Schilderung der Verlässlichkeit Gottes«42 vom Mutterleib an bis ins hohe Alter gleichsam als Antwort auf die Bitte in Ps 71,9.18 lesen.43 Die ausgewählten Texte zur Altersthematik zeigen exemplarisch, wie sich in dem Topos der Grauhaarigkeit die ambivalente Sicht des alten Menschen zwischen Altersbeschwerden und schwindender Lebenskraft auf der einen und Altersweisheit und -würde auf der anderen Seite widerspiegelt. Das Thema Altersweisheit ist besonders in den folgenden Texten der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur von zentraler Bedeutung.

2. Grauhaarigkeit und Altersweisheit – Proverbien und Jesus Sirach 2.1. Proverbien In den Proverbien ist mehrfach von einem langen Leben als Ziel einer rechten Lebensführung die Rede (vgl. 3,1f.13ff.; 4,10ff.; 9,11 u.ö.); das hohe Alter selbst wird jedoch nur an wenigen Stellen explizit erwähnt, die zum älteren Teil des Proverbienbuches (Prov 10ff.) gehören. Belegt

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Vgl. Hermisson, Deuterojesaja, S. 112; Renate Brandscheidt, »Tragen, schleppen und retten. Der Gott der Führung und die Entmachtung der Götzen nach Jes 46,1–7«, in: Trierer theologische Zeitschrift, 112 (2003), S. 1–18, hier S. 11; Ulrich Berges, Jesaja 40–48, Freiburg, Basel, Wien 2008 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), S. 457. Vgl. Berges, Jesaja 40–48, S. 458. Brandscheidt, »Tragen, schleppen und retten«, S. 11. Zu den Parallelen zwischen den beiden Texten vgl. Berges, Jesaja 40–48, S. 457f.

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sind die hebr. Begriffe z¹ken »Greis, Alter« (Prov 17,6; 20,29; 22,6; 23,33; 31,23) und ´êb¹h »Grauhaarigkeit, Alter« (Prov 16,31; 20,29). Dabei gilt die Grauhaarigkeit als charakteristisches Merkmal des alten Menschen: Die Pracht (tip´æræt) der Jungen ist ihre Kraft (koaµ), und der Glanz (h¹d¹r) der Alten (ihr) graues Haar (´êb¹h ). (Prov 20,29)

Zwei Lebensalter werden hier voneinander abgegrenzt, indem ihre jeweiligen Charakteristika genannt werden:44 Der Vorzug (»die Pracht«) der Jugend besteht in ihrer »Kraft; Stärke« (koaµ), die Würde des Greisenalters im grauen Haar (´êb¹h). Beide Lebensphasen werden somit knapp charakterisiert, ohne dass sie bzw. ihre Charakteristika gegeneinander ausgespielt werden. Welche Lebensalter mit »Jugend« bzw. »Alter« in diesem Zusammenhang jeweils gemeint sein könnten, gibt die vergleichbare Gegenüberstellung dieser Lebensphasen in dem Mischna-Traktat Abot 5,24 mit der gleichen hebräischen Terminologie an: Dreißigjährig zur Kraft (koaµ), Siebzigjährig zum hohen Greisenalter/zur Grauhaarigkeit (´êb¹h ).45

Die Jugend zeichnet sich durch ihre Kraft aus. Der hebr. Begriff koaµ meint die »vitale Kraft«46 und kann die physische Stärke, aber auch in umfassenderem Sinne die »Lebenskraft« eines Menschen bezeichnen.47 Für das Alter hingegen ist das Schwinden der Kraft kennzeichnend (vgl. Ps 71,9; Hos 7,9). Im Gegensatz zur geläufigen topischen Gegenüberstellung von Jugend und Lebenskraft auf der einen, Alter und nachlassenden Kräften auf der anderen Seite, wird in Prov 20,29 auch die Lebensphase des Alters positiv bewertet, indem vom »Glanz« der Alten gesprochen wird. Warum kann in Prov 20,29 graues Haar, das als sichtbares Zeichen des Alterns in Altersklagen häufig im Zusammen-

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Vgl. dazu Arndt Meinhold, Die Sprüche. Teil 1: Sprüche Kapitel 1–15, Zürich 1991 (Zürcher Bibelkommentare 16/1), S. 345f.; ders., »Greisenalter«, S. 106; ders., »Zur weisheitlichen Sicht des Menschen (vornehmlich nach dem Sprüchebuch, speziell Spr 20,2–30)«, in: A. M., Zur weisheitlichen Sicht des Menschen. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 2002 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 6), S. 177–187, hier S. 187. S. dazu Meinhold, »Greisenalter«, S. 112f.; Thomas Pola, »Eine priesterschriftliche Auffassung der Lebensalter (Leviticus 27,1–8)«, in: Michaela Bauks / Kathrin Liess / Peter Riede (Hrsg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie, Fs. B. Janowski, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 387–408, hier S. 395f. Adam S. van der Woude, »Art. koaµ «, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 1 (5 1994), S. 823–825, hier S. 823. Vgl. Helmer Ringgren, »Art. koaµ «, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 4 (1984), S. 130–137, hier S. 131f.

»Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar«

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hang mit anderen körperlichen Gebrechen genannt wird,48 im positiven Sinne als »Glanz« des Alters bezeichnet werden? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in Prov 16,31: Eine prächtige Krone ( `a†æræt tip´æræt) ist graues Haar (´êb¹h ), auf dem Weg der Gerechtigkeit wird sie gefunden.

Dieser Spruch spielt auf die in den Proverbien häufig verwendete Metaphorik des Weges an, die sowohl den Lebenswandel (Verhalten) als auch den Lebensweg (Geschick) beschreibt.49 Auf dem »Weg der Gerechtigkeit«, d.h. durch einen rechtschaffenen Lebenswandel, haben die Alten einen langen Lebensweg beschreiten und ein hohes Alter erreichen können. Dieser Aussage liegt das klassische Konzept weisheitlichen Denkens, der Tun-Ergehen-Zusammenhang, zugrunde, der die ältere (Prov 10ff.) wie auch die jüngere Weisheit (Prov 1–9) prägt:50 Demjenigen, der nach der Weisheit lebt, wird ein langes, erfülltes Leben zuteil (vgl. Prov 3,1f.; 3,13–18; 4,13; 8,35; 9,11; 10,27a; 12,28; 13,14; 14,27 u.ö.), denn die Orientierung an Gerechtigkeit und Weisheit bewahrt vor einem vorzeitigen Tod (vgl. Prov 10,2; 11,4.19; 13,6). Der »Weg der Gerechtigkeit« führt zum Leben (Prov 12,28); wer Gerechtigkeit und Güte nachjagt, der findet Leben und Ehre (Prov 21,21). Die Gottlosen und Ungerechten hingegen erwartet nur ein kurzes Leben (Prov 2,22; 10,27b; 12,7a), denn »wer dem Bösen nachjagt, dem gereicht es zum Tod« (Prov 11,19). Den Zusammenhang von Lebensorientierung an der Weisheit und einem langen Lebensweg führt besonders Prov 4,1–9 aus und verwendet dabei das aus Prov 16,31 bekannte Motiv der »prächtigen Krone«. Zugleich wird in Prov 4,1–9 der Zusammenhalt der Generationen betont, indem die ältere Generation ihre Lehre und Weisheit an die

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Vgl. bes. die Klagen über das Alter in der griech.-röm. Literatur; s. dazu z.B. das eingangs erwähnte Zitat von Anakreon; zu weiteren Texten s. Brandt, Wird auch silbern, S. 34 u.ö. Zur Differenzierung zwischen »aktionsbezogener« und »passionsbezogener« Verwendungsweise der Wegmetaphorik s. Markus Philipp Zehnder, Wegmetaphorik im Alten Testament. Eine semantische Untersuchung der alttestamentlichen und altorientalischen WegLexeme mit besonderer Berücksichtigung ihrer metaphorischen Verwendung, Berlin, New York 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 268), S. 473; vgl. Georg Freuling, »Wer eine Grube gräbt …«. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, Neukirchen-Vluyn 2004 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 102), S. 37ff.; zur Wegsemantik in den Proverbien s. Kathrin Liess, Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen, Tübingen 2004 (Forschungen zum Alten Testament II/5), S. 237ff. Zum Tun-Ergehen-Zusammenhang in den Proverbien s. Freuling, Grube, S. 33–108; Jutta Hausmann, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit (Spr 10ff.), Tübingen 1995 (Forschungen zum Alten Testament 7), S. 231–247.

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jüngere weitergibt, auf dass diese lange lebe und ein hohes Lebensalter erreiche. Die Rede des Vaters greift in V.4–9 die überlieferten Worte des Großvaters auf: 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Hört, Söhne, auf die Erziehung des Vaters, und hört genau hin, um Einsicht kennenzulernen! Denn eine gute Lehre gebe ich euch. Meine Weisung sollt ihr nicht verlassen. Fürwahr, ein Sohn war ich für meinen Vater, zart und einziggeliebt vor meiner Mutter. Und er pflegte mich zu unterweisen, indem er zu mir sagte: »Dein Herz ergreife meine Worte! Bewahre meine Gebote! Dann wirst du leben. Erwirb Weisheit! Erwirb Einsicht! Vergiss nicht und wende dich nicht ab von den Reden meines Mundes! Verlass sie nicht! Dann wird sie dich bewahren. Liebe sie! Dann wird sie dich beschützen. Das Beste ist die Weisheit. Erwirb Weisheit! Und für deinen ganzen Besitz erwirb Einsicht! Liebkose sie! Dann wird sie dich erhöhen. Sie wird dich ehren, wenn du sie umarmst. Sie wird deinem Kopf einen anmutigen Kranz geben, eine prächtige Krone ( ` a†æræt tip´æræt) wird sie dir übergeben.«51

Wer Weisheit erwirbt, dem wird eine besondere Ehrenstellung zuteil (V.8f.). Indem der junge Mensch aufgefordert wird, bereits von Jugend an nach Weisheit zu streben, werden die beiden Lebensalter Jugend und Alter aufeinander bezogen. Wer sein Leben von Jugend an nach der Weisheit ausrichtet und so den falschen (Lebens-)Weg meidet, dem werden ein hohes Alter und Altersweisheit zuteil. Dieser Gedanke liegt auch Prov 4,10 und 22,5f. zugrunde: Höre, mein Sohn, und nimm meine Worte an, dann werden dir die Lebensjahre zahlreich sein! (Prov 4,10)52 Dornen, Fallen, sind auf dem Weg der Verkehrten; wer sein Leben bewahren will, hält sich von ihnen fern. Gewöhne den Knaben seinem Weg gemäß ein! Sogar wenn er alt wird, wird er (dann) nicht davon weichen. (Prov 22,5f.)53

Im Unterschied zu den Klagen über die körperlichen Zeichen des Alterns wird in Prov 16,31 und 20,29 das altersgraue Haar positiv bewertet, da es auf die Weisheit und Rechtschaffenheit des alten Menschen

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Zur Übersetzung vgl. Meinhold, Sprüche 1, S. 89. Zum Motiv der Krone vgl. ebd., S. 93; Gerlinde Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9, Tübingen 1996 (Forschungen zum Alten Testament 16), S. 242. Übersetzung: Meinhold, Sprüche 1, S. 93. Übersetzung: Arndt Meinhold, Die Sprüche. Teil 2: Sprüche Kapitel 16–31, Zürich 1991 (Zürcher Bibelkommentare 16/2), S. 365.

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verweist. Graues Haar und die Lebensklugheit/-weisheit gehören als klassische Alterstopoi in der Weisheitsliteratur eng zusammen: »In der Regel ist der Greis mit seinem grauen Haar der Lebenserfahrene, der weiß, wie man sein Leben verantwortlich vor Gott und den Menschen gestaltet.«54 Ein näherer Blick auf die hebräische Semantik, mit der die Grauhaarigkeit in Prov 16,31 und 20,29 beschrieben wird, kann die Frage nach der Bewertung des Alters noch weitgehender beantworten, denn bei h¹d¹r »Glanz«, tip´æræt »Pracht; Glanz« und `a†¹r¹h »Krone; Diadem; Kranz« handelt es sich um geprägte Begriffe. Der Begriff `a†¹r¹h stammt aus der alttestamentlichen Königstradition und bezeichnet die königliche Krone als Symbol der Macht und Würde des Königs (2Sam 12,30 par. 1Chr 20,2; Jer 13,18; Ez 21,31; Klgl 5,16; Ps 21,4 u.ö.).55 In der Weisheitsliteratur wird das Bild der Krone häufig im übertragenen Sinne verwendet:56 Die Weisheit verleiht dem Menschen eine »prächtige Krone« (Prov 4,9), Reichtum ist die »Krone der Weisen« (Prov 14,24), und eine tüchtige Frau ist die Krone ihres Mannes (Prov 12,4). Die »Krone der Alten« sind nicht nur graue Haare (Prov 16,31), sondern auch Kindeskinder (Prov 17,6), denn eine zahlreiche Nachkommenschaft verweist auf ein gesegnetes Leben und garantiert das Weiterleben in der kommenden Generation. Das graue Haar als »Krone« kann man sich zunächst vorstellen als einen Kranz grauer Haare um die Glatze des alten Menschen: »Ganz realistisch wird der weißgraue Haarsaum um die Glatze eines alten Mannes als ›prächtiges Diadem‹ bezeichnet.«57 Doch zugleich symbolisiert das Bild der Krone eine besondere Ehrenstellung des alten Menschen, denn nach Hi 19,9 ist der Verlust der Krone gleichbedeutend mit dem Verlust der Ehre. Auch der Begriff tip´æræt »Pracht; Glanz« ist ein königliches Prädikat, das – im Zusammenhang mit h¹d¹r »Pracht; Glanz; Hoheit; Herrlichkeit« – das Königtum Gottes kennzeichnen kann (Ps 96,6: »Erhabenheit und Glanz sind vor seinem [sc. Gottes] Angesicht, Macht und Pracht in seinem Heiligtum«; vgl. Ps 89,18; Jes 46,13; 60,19; 63,15; 1Chr 29,11.13 u.ö.). Häufig dient tip´æræt, wie in Prov 16,31, zur näheren Charakterisierung der Krone als prachtvoll (»prächtige Krone«: vgl. Jes 62,3; Jer 13,18; Ez 16,12; 23,42; Prov 4,9; Sir 6,31). Der dritte Begriff, h¹d¹r »Schmuck; Pracht; Glanz; Hoheit; Herrlichkeit«, gehört ebenfalls zum Wortfeld »Königtum« und kann in den Psalmen sowohl auf den menschlichen (Ps 21,6; 45,4) als auch auf den göttlichen König (Ps 29,4; 90,16; 96,6; 104,1; 145,5.12) bezogen werden. Gottes h¹d¹r ist »Zeichen der Königswürde des Weltherrn«,58 der als göttlicher König den menschlichen König

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Hans Hübner, Weisheit Salomons, Göttingen 1999 (Das Alte Testament Deutsch. Apokryphen 4), S. 62. S. dazu Diether Kellermann, »Art. `¹†ar«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 6 (1989), S. 21–31, hier S. 27ff. Vgl. Kellermann, »Art. `¹†ar«, S. 30. Meinhold, Sprüche 2, S. 279; vgl. ders., »Greisenalter«, S. 105. Georg Warmuth, »Art. h¹d¹r«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 2 (1977), S. 357–363, hier S. 359.

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mit »Hoheit und Glanz/Pracht« krönt (vgl. Ps 21,6). Dieser von Gott übergebene h¹d¹r äußert sich in Ruhm, Segen und Glück des Königs (vgl. Ps 21,4.5.7).59 Nach Ps 8,6 wird diese Königswürde jedem Menschen von Gott verliehen und begründet die königliche Stellung des Menschen. Im weiteren Sinne bezeichnet h¹d¹r »die Zier, den Schmuck, das Besondere eines Menschen«;60 in Prov 20,29 ist es das graue Haar. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass das Substantiv h¹d¹r mit der Wurzel h¹dar q. »schmücken; ehren« zusammenhängt, mit der in Lev 19,32 die Aufforderung zur Ehrung der Grauhaarigen/Alten formuliert wird,61 so deutet die Wendung »der Glanz der Alten« in Prov 20,29 auf ihre geachtete soziale Position.

In den Begriffen h¹d¹r, tip´æræt und `a†¹r¹h, die traditionsgeschichtlich besonders im Kontext der Königstradition belegt sind, spiegelt sich die Hochschätzung der Lebensphase des Alters. Mit dem Bild der »prächtigen Krone« wird beschrieben, was den alten Menschen gleichsam königlich auszeichnet. Seine grauen Haare sind Zeichen seiner besonderen Würde und ehrenvollen Stellung in der Gesellschaft,62 denn graues Haar gilt als gleichsam königlicher Schmuck, der nach Prov 16,31 auf ein rechtschaffenes Leben verweist. »Alter wird also als etwas durchaus Gutes angesehen, dessen Erreichen erstrebt wird.«63 Altersbeschwerden werden in den Proverbien im Unterschied zur ägyptischen Weisheitslehre des Ptahhotep (7–20) nicht geschildert,64 und graues Haar wird nicht als Kennzeichen des körperlichen Verfalls, sondern positiv als Glanz und Pracht betrachtet, die auf die Altersweisheit des alten Menschen deuten. Die Belege aus dem Buch Jesus Sirach entfalten diese Thematik. 2.2. Jesus Sirach Dass die Koinzidenz von Grauhaarigkeit/Alter und Weisheit auch Texten der jüngeren Weisheitstradition zugrunde liegt, zeigt Sir 25,3–6, ein Text aus dem Buch Jesus Sirach (2. Jh. v. Chr.), der den Topos des

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Vgl. Warmuth, »Art. h¹d¹r«, S. 360. Vgl. Warmuth, »Art. h¹d¹r«, S. 361. Zu diesem Beleg s. oben S. 25. Die These von P. Galpaz-Faller, »in Egyptian society, hair indicated transitions of age and social status … In the Bible, however, change in the condition of the hair is usually a message unconnected to gender, age, or social and economic status« (Galpaz-Faller, »Hair«, S. 87; vgl. S. 75), ist aufgrund der Proverbienbelege insofern zu modifizieren, als auch im Alten Testament das Haar Hinweis auf die gesellschaftliche Stellung sein kann. Hausmann, Studien zum Menschenbild, S. 248. Vgl. Hausmann, Studien zum Menschenbild, S. 248.

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grau-/weißhaarigen, weisen Alten im Vergleich zu den kurzen Sprüchen aus den Proverbien entfaltet: 3 4 5 6

Wenn du in der Jugend nicht gesammelt hast, wie kannst du dann in deinem Alter finden? Wie gut steht den Weiß-/Grauhaarigen (polia,) Urteilskraft an und den Ältesten, Rat zu wissen. Wie gut steht den Greisen Weisheit an und den geehrten Männern Überlegung und Rat. Die Krone (ste,fanoj) der Greise ist reiche Erfahrung, und ihr Ruhm ist die Furcht des Herrn.65

Den vielfältigen Bezeichnungen für die Alten – »Weiß-/Grauhaarige«, »Älteste«, »Greise«, »geehrte Männer« – korrespondieren ebenso vielfältige Bezeichnungen für ihre Fähigkeiten und Aufgaben: »Urteilskraft«, »Rat«, »Weisheit«, »Überlegung«, »reiche Erfahrung« und »Gottesfurcht« zeichnen den alten, weißhaarigen Menschen aus und begründen seine geachtete Stellung in der Gesellschaft.66 Die weisen Alten werden deshalb ausdrücklich »die Geehrten« genannt (V.5). »Die Weißhaarigkeit aufgrund des Alters erscheint […] als eine Art Garant für den Besitz der Weisheit.«67 Mit dem aus den Proverbien bekannten Motiv der Krone (ste,fanoj als griech. Äquivalent für hebr. `a†¹r¹h; vgl. Prov 16,31),68 eigentlich ein königliches Herrschaftszeichen, wird in V.6 beschrieben, worin die Altersweisheit letztendlich gründet: in der reichen Lebenserfahrung, aber vor allem in der Gottesfürchtigkeit des alten Menschen. Damit mündet der Text in einen zentralen Begriff weisheitlichen Denkens, der die theologische Ausrichtung der Weisheit aufzeigt. Gottesfurcht als Vertrauen und Hinwendung zu Gott ermöglicht »Orientierung und rechtes Verhalten angesichts einer komplexen Lebenswirklichkeit«;69 sie liegt der Weisheit des alten Menschen zugrunde, denn »Voraussetzung und Ziel jeder Erkenntnis des Menschen ist das Wissen um und die Bindung an JHWH«.70

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Zur Übersetzung s. Sauer, Jesus Sirach, S. 188. Zu den Qualitäten und Aufgaben der Alten s. Friedrich V. Reiterer, »Gelungene Freundschaft als tragende Säule der Gesellschaft. Exegetische Untersuchung von Sir 25,1–11«, in: F. V. R. (Hrsg.), Freundschaft bei Ben Sira. Beiträge des Symposions zu Ben Sira, Salzburg 1995, Berlin, New York 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 244), S. 133–169, hier S. 157ff. Reiterer, »Gelungene Freundschaft«, S. 155. Zum Motiv der Krone vgl. Sir 1,11 (Gottesfurcht); 1,18 (Gottesfurcht als Krone der Weisheit); 6,31 (Weisheit). Hans F. Fuhs, »Art. Furcht«, in: Neues Bibel-Lexikon, 1 (1991), S. 713–716, hier S. 715; vgl. ders., »Art. j¹re’«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, 3 (1982), S. 869– 893, hier: S. 890. Fuhs, »Art. Furcht«, S. 715.

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Sir 25,3 betont jedoch, dass man sich von Jugend an darum bemühen muss, Weisheit zu erwerben. Nur wer seinen Lebensweg verantwortlich gestaltet und sich an weisheitlicher Lehre und Gottesfurcht orientiert, kann den ehrenvollen Status eines alten, weißhaarigen Weisen erlangen. In Sir 6,18 wird deshalb der junge Mensch ermahnt: Mein Kind, von deiner Jugend an nimm Zucht an, und bis ins Alter/bis zur Weiß-/Grauhaarigkeit (polia,) wirst du Weisheit erlangen.71

Die auf diese Weise lebenslang erworbene Weisheit zeichnet den Menschen königlich aus: »als eine Krone (ste,fanoj) der Herrlichkeit wird sie [sc. die Weisheit] dich schmücken« (Sir 6,31, vgl. Prov 4,9). Die Aufgabe des von Weisheit gekrönten alten Menschen besteht in der Weitergabe der Tradition an die nächste Generation, damit auch diese Weisheit erwerben kann: Verachte nicht die Erzählungen der Alten (griech. gero,ntwn)/Grauhaarigen (hebr. [MS A] ´¹bîm), die sie selbst von ihren Vätern gehört haben. Denn durch sie erhältst du Einsicht, um im rechten Augenblick eine Antwort geben zu können. (Sir 8,9)72

An den jungen Menschen ergeht deshalb die Aufforderung: In die Schar der Alten reihe dich ein, und ihrer Weisheit schließe dich an. (Sir 6,34)73

Im Kreis der Alten ist darum Zurückhaltung geboten, wie es in Sir 7,14LXX heißt: »Du sollst nicht schwatzen in der Versammlung der Alten«.74 Die Vorrangstellung der weisen, grauhaarigen Alten zeigt sich nicht nur in der Weitergabe weisheitlicher Überlieferung, sondern beispielsweise auch in ihrem Vorrecht, beim Gastmahl als erste ihre Rede vorzutragen, bevor der jüngere Teilnehmer sprechen darf (V.7): Sprich, Greis (griech. presbu,teroj)/Grauhaariger (hebr. [MS B] ´¹b ),75 das steht dir zu! Beweise in Demut deine Weisheit und mindere den Gesang nicht. (Sir 32,3)

Jesus Sirach kennt aber auch die anderen Seiten des Alters, die Altersgebrechen76 sowie die mangelnde Einsicht und die Alterstorheit.

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Zur Übersetzung vgl. Sauer, Jesus Sirach, S. 83. Übersetzung: Sauer, Jesus Sirach, S. 96. Übersetzung: Sauer, Jesus Sirach, S. 84. Anders in der hebräischen Textüberlieferung: »Gib keinen Ratschlag in der Versammlung der Fürsten« (Übersetzung: Sauer, Jesus Sirach, S. 87). Im Unterschied zur griechischen Textfassung betont die hebräische Überlieferung (MS A) sprachlich das körperliche Merkmal der Grauhaarigkeit. Vgl. z.B. Sir 25,20 mit dem Hinweis auf die Mühe eines alten Menschen beim Besteigen einer Sanddüne.

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Bereits die zitierte Ermahnung Sir 32,3 könnte aus der möglichen Gefahr heraus entstanden sein, dass ein Greis sich in seiner Rede nicht beschränkt, den Festgesang aufhält und damit die Feststimmung zu trüben droht. In Sir 25,2 ist von einem »ehebrecherischen Greis, dem es an Verstand mangelt«, die Rede, in Sir 42,8 von einem grauhaarigen Greis (´¹b), der »in sittlichen Fragen Auskünfte falscher Art erteilt«77 und der deshalb gleich den »Unverständigen und Toren« zurechtzuweisen ist. Während diese Kritik bei Jesus Sirach noch ein Einzelfall bleibt, ist eine kritische Sicht der Altersweisheit in verstärktem Maße Thema des Buches Hiob.

3. Eine kritische Sicht der Altersweisheit – Hiob Im Buch Hiob entzündet sich die Frage nach der Weisheit der grauhaarigen Alten an der Suche nach einer Erklärung für das Leiden des Gerechten. Als klassische Vertreter des Tun-Ergehen-Zusammenhangs deuten die drei Freunde Hiobs dessen Leiden als Hinweis auf seine Schuld und sein Vergehen. Um ihrer Position Autorität zu verleihen, berufen sie sich gegenüber Hiob auf die Weisheit der »Graugewordenen« (hebr. ´¹b) und »Hochbetagten« und argumentieren somit mit dem klassischen Topos der grauhaarigen, alten Weisen: 9

Was weißt du [sc. Hiob], was wir nicht wissen, verstehst du, was nicht bei uns bekannt? 10 Graugewordene (´¹b) und Hochbetagte sind bei uns, reicher an (Lebens-)Tagen als dein Vater. (Hi 15,9f.)

Eliphas, einer der drei Freunde Hiobs, wendet sich hier gegen die vermeintliche Behauptung Hiobs, er allein besitze die Weisheit.78 Hiob könne nicht – so der Einwand des Eliphas – aus dem gleichen reichhaltigen Erfahrungsschatz schöpfen wie die Freunde, denn diese können auf die Weisheit ihrer alten und ergrauten Angehörigen zurückgreifen, die Hiobs Vater an Alter und damit auch an Weisheit und Lebenserfahrung übertreffen. Das Thema Altersweisheit spielt auch in der Einleitung der ElihuReden (Hi 32,1–37,24), in denen sich Elihu kritisch mit den vorangehenden Reden der drei Freunde auseinandersetzt, eine wichtige Rolle. Der jüngere Elihu (vgl. V.4) folgt zunächst der klassischen Sicht, wie

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Sauer, Jesus Sirach, S. 289. Eliphas bezieht sich auf die Aussage Hiobs in Hi 12,2, unterstellt Hiob jedoch mehr, als dieser gesagt hat; vgl. Georg Fohrer, Das Buch Hiob, Gütersloh 2 1989 (Kommentar zum Alten Testament 16), S. 268. Hiob verweist lediglich darauf, dass er ebenso wie die Freunde Weisheit besitze (vgl. Hi 12,3; 13,2).

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sie auch die älteren Freunde vertreten, indem er das Privileg der Altersweisheit gegenüber der Jugend voraussetzt: 6

7

Und Elihu, der Sohn des Barachels, des Busiters, bezog Stellung und sagte: Ich bin gering an Lebensalter, ihr aber seid Hochbetagte; deshalb war ich zu zurückhaltend und ehrfürchtig, euch von meinem Wissen in Kenntnis zu setzen. Ich meinte, das Alter habe zu reden, die vielen Jahre vermittelten (weisheitlichen) Rat. (Hi 32,6–7)79

Aus Ehrfurcht vor dem Alter hat Elihu bisher geschwiegen (vgl. V.4), denn den Älteren steht es aufgrund ihrer Lebenserfahrung zu, zuerst das Wort zu ergreifen (vgl. Sir 32,3). Nachdem jedoch die älteren Freunde mit ihrer Weisheit in den Augen Elihus gescheitert sind – denn ihre bisherigen Reden boten keine hinreichende Erklärung für Hiobs Leiden –, relativiert Elihu die Altersweisheit: 8

Gewiss aber (ist es) Geist, der in den Menschen (ist), und Atem von Schaddaj, der sie einsichtig macht. 9 Große80 sind nicht (schon) weise noch wissen Älteste, was Recht ist. 10 Deswegen sage ich jetzt: Man höre mir zu! Auch ich will von meinem Wissen Kenntnis geben. (Hi 32,8–10)81

Nicht hohes Lebensalter und Lebenserfahrung sind die Voraussetzungen für eine weise Rede der Älteren, sondern der Geist Gottes ist »die entscheidende Grundlegung für alle (offenbarungsmäßige) weisheitliche Einsicht«.82 (Alters-)Weisheit ist eine Gabe Gottes, die nicht nur und nicht eo ipso den Alten zuteil wird; vielmehr kann auch ein junger Mensch Weisheit besitzen und deshalb wie Elihu das Wort ergreifen. Zwei unterschiedliche Auffassungen über die Vermittlung von Weisheit liegen diesem Text zugrunde,83 denn der Erfahrungsweisheit der Alten wird eine Offenbarungsweisheit gegenübergestellt. »Das hebt die Erfahrung der Altersweisheit nicht auf, schränkt sie aber (etwa als exklusiven Grundsatz) im Interesse des Schöpfergottes als eigentlichem Geber der Weisheit ein.«84

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Zu Text und Übersetzung s. Hans Strauss, Hiob. 2. Teilband: Kapitel 19,1–42,17, Neukirchen-Vluyn 2000 (Biblischer Kommentar Altes Testament XVI/2), S. 241. Die Bezeichnung der Alten als rabbîm spielt an auf die Wendung rob/rabbê j¹mîm »der/die Hochbetagte(n)«; wörtl. »der/die Grosse(n) an Jahren«; vgl. HAL, S. 1093 s.v. rab. Zu Text und Übersetzung s. Strauss, Hiob, S. 242. Strauss, Hiob, S. 278. Vgl. Fohrer, Hiob, S. 450f. Strauss, Hiob, S. 278.

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In ähnlicher Weise betont Hiob selbst, dass Gott allein über Weisheit und Erkenntnis verfügt. Wie Elihu zweifelt auch er an dem Privileg der Altersweisheit: 12 Ist bei Hochbetagten Weisheit, und ist langes Leben Einsicht? 13 Bei ihm [sc. Gott] (allein) ist Weisheit und Stärke, und bei ihm ist Rat und Einsicht. […] 20 Er entzieht die Sprache den Bewährten, und den Verstand nimmt er den Alten. (Hi 12,12f.20)

Die rhetorischen Fragen in V.12 implizieren, dass ein hohes Alter und ein langes Leben nicht zwangsläufig auf Altersweisheit und Einsicht deuten, denn – so heißt es in dem antithetisch zu verstehenden V.13 – allein bei Gott ist Weisheit begründet.85 Sie ist unverfügbar, da Gott sie den Alten auch entziehen kann (V.20).86 Damit bleibt die Rede der Freunde Hiobs trotz ihres Hinweises auf die Autorität der Alten (vgl. Hi 15,10) nicht unantastbar. Eine kritische Sicht der Altersweisheit, wie sie Hi 12,12f.20 und 32,6–10 einnehmen, liegt auch zwei weiteren Versen aus der nachexilischen, weisheitlich geprägten Literatur zugrunde, Koh 4,13 und Ps 119,100. Dass Alter nicht immer auf ein weises Verhalten schließen lässt, verdeutlicht Koh 4,13: Besser ein junger Mann, mittellos, aber weise, als ein König, alt, aber dumm, der es nicht mehr versteht, sich beraten zu lassen.87

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V.12 wird in der Forschung unterschiedlich übersetzt: als Aussagesatz (vgl. Horst, Hiob, S. 176: »Bei Graugewordnen soll doch Weisheit sein und langes Leben sich mit Einsicht decken«), als verneinte Aussage (vgl. Franz Hesse, Hiob, Zürich 1978 [Zürcher Bibelkommentare 14], S. 93: » ist bei Altersschwachen die Einsicht, und die Länge des Lebens [gibt] keine Einsicht«; s. auch Fohrer, Hiob, 233) oder als Fragesatz (s. Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Hiob, Teil 1: Hiob 1–20, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 107). Die rhetorischen Fragen im vorangehenden Abschnitt sprechen dafür, auch V.12 in diesem Sinne zu verstehen. Vgl. Hossfeld, »Graue Panther«, S. 9; Meinhold, »Greisenalter«, S. 108. Zu Text und Übersetzung s. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, Freiburg, Basel, Wien 2004 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), S. 304. Ein Beispiel für einen König, der sich nicht gut beraten lässt, bietet 1Kön 12,1–19. In dem Text geht es um die Frage, wie mit mit der Klage der Nordstämme über einen zu harten Frondienst umzugehen ist: Die Ältesten geben dem König Rehabeam, dem Nachfolger Salomos, den weisen Rat, den Forderungen nach Erleichterung des Frondienstes nachzugeben; die jungen Männer hingegen empfehlen ihm politische Härte und Unnachgiebigkeit. Rehabeam folgt jedoch nicht der Weisheit des Alters, sondern dem schlechten Rat der jungen Leute, der schließlich zum Unglück der Reichsteilung führte; vgl. Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, S. 306; Barthel, »Biblische Einsichten«, S. 72f.

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Das Verhältnis von Lebensalter, Weisheit und Macht bzw. Reichtum wird in diesem Vers neu bewertet, und in diesem Zusammenhang wird auch der Topos des weisen Alten infrage gestellt. Die Gegenüberstellung »weiser junger Mensch« – »törichter Alter« kehrt die klassischen Altersstereotypen um, indem beide Positionen mit einem atypischen Merkmal versehen werden.88 Dabei impliziert die Wendung »der es nicht mehr versteht«, dass der König seine Weisheit mit zunehmendem Alter verloren hat.89 In dem weisheitlichen Psalm 119 wird die Altersweisheit insofern relativiert, als weisheitliche Einsicht und Verständigkeit an das Halten der göttlichen Gebote geknüpft wird, sodass ein jüngerer Mensch weiser sein kann als die Alten, wenn er sich an den Torageboten orientiert: Mehr als Alte werde ich verständig werden, falls ich deine Forderungen beachtet habe. (Ps 119,100)90

Ein weiterer Text, der den Zusammenhang von hohem Alter und Weisheit kritisch beleuchtet und dabei den aus den Proverbien bekannten Topos vom altersgrauen Haar aufnimmt, ist Weish 4.

4. Eine neue Definition der Altersweisheit – Weisheit Salomos 4 Nach den Proverbien erreicht der Gerechte ein langes, gesegnetes Leben bis ins hohe Alter, wenn er sich sein Leben lang an Weisheit, Gerechtigkeit und Gottesfurcht hält. Was ist jedoch, wenn dieser TunErgehen-Zusammenhang, das Grundprinzip der klassischen Weisheit, nicht mehr gilt? Wenn Frevler am Leben bleiben, alt werden und an Kraft zunehmen (Hi 21,7), der Gerechte hingegen trotz seines rechtschaffenen Lebens vor der Zeit stirbt? Wenn nicht graues Haar (Prov 16,31; 20,29) oder eine zahlreiche Nachkommenschaft (Prov 17,6) die

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Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, S. 306. Vgl. Thomas Krüger, Kohelet (Prediger), Neukirchen-Vluyn 2000 (Biblischer Kommentar Altes Testament XIX. Sonderband), S. 200. Ohne dass das (Lebens-)Alter explizit genannt wird, erscheinen die Äußerungen Kohelets aufgrund der sog. Königsfiktion (Koh 1,12ff.) als »autobiographischer Rückblick« (Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, S. 189) und Lebensresümee eines Königs, der in besonderem Maße Weisheit erworben hat (Koh 1,16; 2,9b), aber eine kritische Haltung zur traditionellen Weisheitstradition einnimmt; vgl. z.B. Koh 1,16–18. S. dazu Krüger, Kohelet, S. 136f.; SchwienhorstSchönberger, Kohelet, S. 194ff. Zum Thema Alter im Buch Kohelet vgl. Koh 12; s. dazu Schwienhorst-Schönberger, Kohelet, S. 520ff. (mit weiterer Lit.). Zu Text und Übersetzung s. Karin Finsterbusch, JHWH als Lehrer der Menschen. Ein Beitrag zur Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 143f. (Biblisch-Theologische Studien 90).

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»Krone« seines Alters sind? Damit stoßen wir auf ein Problem, mit dem sich die alttestamentliche Weisheitstheologie in der Spätzeit auseinandersetzt. Ein Beispiel dafür ist Weish 4,7–20, ein Text aus der apokryphen griechischsprachigen Weisheit Salomos (1. Jh. v. Chr.), der eine neue Altersdefinition formuliert:91 V.7: Überschrift 7

Aber der Gerechte, wenn er vor der Zeit stirbt (teleuta,w), wird in der (himmlischen) Ruhe leben;

V.8–9: Das ehrenvolle Alter des Gerechten 8 9

denn ein ehrenhaftes Alter (gh/raj ti,mion) ist nicht das, was lang ist in bezug auf die Zeit (polucro,nioj), noch wird es gemessen nach der Zahl der Jahre. Ist doch menschliche Klugheit (gleichbedeutend mit) grauem Haar (polia,) und ein Leben ohne Flecken (bi,oj avkhli,d wtoj) (identisch mit) Greisenalter (h`liki,a gh,rwj).

V.10–14b: Das Geschick des Gerechten: Entrückung 10 Der (Mann), der Gott wohlgefällig war, wurde (von ihm) geliebt und, während er unter den Sündern lebte, wurde er entrückt. 11 Er wurde weggenommen, damit das Böse nicht sein Verstehen ändere oder List seine Seele betrüge. 12 Denn die Verzauberung der Boshaftigkeit trübt das Schöne, und das Herumstreifen der Begierde verwandelt den arglosen Sinn. 13 Er wurde vollendet (teleiwqei.j) in kurzer Zeit, und er füllte so lange Zeiten (cro,nouj makrou,j); 14ab denn seine Seele erschien dem Herrn als die beste. Deswegen eilte er hinweg aus der Mitte der Bosheit.

V.14cd–15: Die Torheit der Gottlosen 14cd Aber die Völker sahen es und verstanden es nicht, und sie ließen sich solches nicht zu denken geben. 15 [Denn Gnade und Erbarmen ist mit seinen Auserwählten. Und (seine) Visitation (gilt) seinen Frommen.]92

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Zur Frage der Kanonizität der Weisheit Salomos s. Hübner, Weisheit Salomons, S. 14f.; Helmut Engel, Das Buch der Weisheit, Stuttgart 1998 (Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament 16), S. 36ff. V.15 gehört als leicht modifizierte Wiederholung von Weish 3,9cd möglicherweise nicht zum ursprünglichen Text; vgl. Hübner, Weisheit Salomons, S. 64; Dieter Georgi, Weisheit Salomos, Gütersloh 1980 (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit III/4), S. 415 Anm. 14 c); zur Übersetzung s. ebd., S. 411.

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V.16: Das Geschick der Gottlosen: Verurteilung 16 Der Gerechte wird, wenn er ausruht, die Gottlosen, die noch leben, richten und die Jugend, die früh zur Vollendung gekommen ist (neo,thj telesqei/sa), das betagte Greisenalter (poluete.j gh/raj) des Ungerechten.93

Der einleitende V.7 gibt als thesenartige Überschrift das Thema von Weish 4 an: Es geht im ersten Teil des Kapitels (V.7–16) um den vorzeitigen Tod des Gerechten und sein postmortales Geschick. V.16 leitet thematisch zum zweiten Teil des Kapitels über, der das Ergehen der Gottlosen schildert (V.17–20).94 In seinem Argumentationsgang greift der Text zwei wichtige Themen auf, die Altersthematik in V.8–9 und die Entrückungsthematik in V.10–14. V.8–9 wenden sich der Altersthematik aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln zu, in V.8 mit zwei verneinten, in V.9 mit zwei positiven Aussagen. V.8 nimmt den klassischen Alterstopos eines »ehrenvollen Alters« (gh/raj ti,mion) auf. Nach der traditionellen Weisheitstheologie wird nur derjenige in Ehren alt, der sein Leben an Weisheit und Gottesfurcht ausrichtet (vgl. Prov 16,31). Die Weish 4,7–16 rahmenden Wendungen gh/raj ti,mion »ehrenvolles Alter« (V.8) und poluete.j gh/raj »vieljähriges (hohes) Alter« (V.16) gehören folglich nach der traditionellen Weisheitskonzeption – wie sie sich beispielsweise in den Proverbien widerspiegelt – eng zusammen, da ein hohes Alter auf ein rechtschaffenes und ehrbares Leben verweist. Nach Weish 4 jedoch gilt dieser Zusammenhang nicht mehr, denn der Gerechte stirbt bereits in jungen Jahren (V.7.13) und wäre damit nach der klassischen Konzeption des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ein Frevler und von Gott Verworfener. Die Gottlosen hingegen erreichen nach Weish 4,16 ein »vieljähriges (= hohes) Alter«. In Weish 4,8 wird deshalb die Vorstellung vom »ehrenvollen Alter« neu bestimmt, indem Alter nicht mehr zeitlich im Sinne einer langen Lebensspanne definiert und Alterswürde nicht an der Zahl der Lebensjahre bemessen wird. Nicht die zeitliche Dauer, die Quantität, sondern die Qualität des Lebens ist entscheidend

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Übersetzung: Georgi, Weisheit Salomos, S. 414f. Zu Weish 4 s. neben den Kommentaren: Adalberto Sisti, »La morte prematura in Sap. 4,7–17«, in: Rivista biblica, 31 (1983), S. 129–146; Armin Schmitt, »Der frühe Tod des Gerechten nach Weish 4,7–19. Ein Psalmthema in weisheitlicher Fassung«, in: Ernst Haag / Frank-Lothar Hossfeld (Hrsg.), Freude an der Weisung des Herrn. Beiträge zur Theologie der Psalmen, Fs. H. Groß, Stuttgart 2 1987, S. 325–347; Alain Gignac, »Quel sens donner à la mort prématurée du juste? La pédagogie éthique d’un texte biblique (Sg 4,7–20)«, in: Église et Théologie, 27 (1996), S. 199–227. Zur Textgliederung s. Engel, Weisheit, S. 92.

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für die Bewertung des Lebens, so dass auch ein jung Verstorbener bereits ein »ehrenvolles Alter« erreichen kann.95 Über die Kinder von Ehebrechern heißt es dagegen in Weish 3,17: Denn wenn sie auch lange leben sollten, werden sie für nichts gehalten werden, und in den letzten (Tagen) wird ihr Alter ohne Ehre (a;timon) bleiben.96

Weish 4,9 führt den Gedanken aus V.8 fort und greift dabei den Topos der Grauhaarigkeit auf. Graues Haar als »Glanz« und »prächtige Krone« zeichnet alte Menschen aus, denn es ist nach den Proverbien Zeichen ihrer Alterswürde und -weisheit. Angesichts des vorzeitigen Todes des Gerechten transformiert V.9 diese traditionellen Alterstopoi, indem Grauhaarigkeit und Lebensklugheit des alten Menschen auf den jungen Gerechten bezogen werden. Graues Haar deutet nicht mehr auf ein langes, ehrenvolles Leben, sondern bereits der junge Mensch kann »alt« genannt werden, wenn er ein »unbeflecktes Leben« (bi,oj avkhli,dwtoj) geführt hat. Sein »graues Haar« ist seine Klugheit (fro,nhsij),97 und die Würde seines »Greisenalters« besteht in seinem untadeligen Leben.98 Die traditionelle topische Zuordnung von Grauhaarigkeit/Alter und Weisheit wird aufgelöst, indem bereits einem jungen Menschen Lebensklugheit und Weisheit zugesprochen werden. Diesen Gedanken hat bereits der griechische Dichter Menander (342–291 v. Chr.) geäußert, indem er in gleicher Weise eine atypische Zuordnung der Alterscharakteristika vornimmt: Nicht weiße Haare machen den Verstand, und mancher Junge hat des Alters Weisheit. (Fragment 553)99

Das Leben des früh verstorbenen, weisen Gerechten kann nach Weish 4 trotz seiner Kürze als »langes Leben« bezeichnet werden. So heißt es in V.13: »Er wurde vollendet in kurzer (Zeit), und er füllte so lange Zeiten (cro,nouj makrou,j)«. In seinem kurzen Leben hat der junge Gerechte aufgrund seines rechten Lebenswandels ein »ehrenvolles Alter« (gh/raj ti,mion; V.8) erreicht, während das »hohe Alter«

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Vgl. Armin Schmitt, Das Buch der Weisheit, Würzburg 1986, S. 66; Hübner, Weisheit Salomons, S. 62. Übersetzung: Georgi, Weisheit Salomos, S. 412f. Zur Bedeutung von fro,nhsij s. Horst Balz, »Art. fro,nhsij«, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 3 (2 1992), S. 1051f.: Im hellenist.-jüd. Bereich kann fro,nhsij »die Bedeutung einer eigenen frommen Tugend« haben; vgl. Prov 3,19; 10,23; Weish 8,7 u.ö. Vgl. Meinhold, Sprüche 2, S. 280. Menander, Herodas, Werke in einem Band, hrsg. v. Kurt und Ursula Treu, Berlin, Weimar 1980 (Bibliothek der Antike), S. 293.

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(polue,tej gh/raj; V.16) des Ungerechten nur in der Zahl der Jahre besteht. Dass nach Weish 4 auch ein kurzes Leben als ein gelungenes, erfülltes Leben bewertet werden kann, spiegelt sich in den vom griech. Stamm tel- abgeleiteten Begriffen teleuta,w »beenden; vollenden; erfüllen; sterben« (V.7), teleio,w »vollenden; vollkommen machen« (V.13) bzw. tele,w »vollenden; erfüllen« (V.16) sowie plhro,w »erfüllen« (V.13) wider.100 Für das Lebensende des Gerechten wird das Substantiv qa,natoj »Tod« bzw. das entsprechende Verb qnh,skw »den Tod erleiden; sterben« vermieden, stattdessen heißt es, sein Leben habe sich in kurzer Zeit »vollendet« (teleio,w, V.13), seine Jugend sei früh »zur Vollendung gekommen« (tele,w, V.16) und er habe »lange Zeiten erfüllt« (plhro,w, V.13).101 Das Verb plhro,w »erfüllen« ist im qualitativen Sinne zu verstehen, indem die Wendung »lange Zeiten erfüllen« (V.13) als Umschreibung für eine erfüllte Lebenszeit dienen kann. Diese positiv konnotierten Begriffe verweisen auf ein zwar kurzes, aber vollendetes und erfülltes Leben des Gerechten.102 Die Gottlosen hingegen, die zwar ein langes Leben führen und sehr alt werden (V.16), erwartet ein furchtbares Endgeschick (V.17– 20), denn ihre Lebensführung wird an der des Gerechten gemessen. Im Kontrast zum »ehrenvollen Alter« (gh/raj ti,mion; V.8) des jung verstorbenen Gerechten werden sie nach ihrem Tod zum »ehrlosen Leichnam« (ptw/ma a;timon; V.19). Innerhalb der alttestamentlichen Altersthematik wird mit der Altersdefinition in Weish 4 ein neuer Weg beschritten. Wie sind die Themen und der Argumentationsgang dieses Textes aus der Spätzeit traditionsgeschichtlich einzuordnen? Das Buch der Weisheit Salomos ist nicht nur von biblisch-alttestamentlicher, sondern besonders auch von griechisch-hellenistischer Tradition geprägt.103 Dies gilt auch für die Argumentation in Weish 4, die eine große Nähe zu Topoi aus der griechisch-römischen Konsolationsliteratur aufweist, die sich – wie Weish

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Zur Bedeutung dieser Begriffe in der Septuaginta s. Gerhard Delling, »Art. tele,w«, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 8 (1969), S. 50–88, hier S. 52f., 59f. und 81f. Vgl. Engel, Weisheit, S. 93. Nach Armin Schmitt, Entrückung – Aufnahme – Himmelfahrt. Untersuchungen zu einem Vorstellungsbereich im Alten Testament, Stuttgart 1973 (Forschung zur Bibel 10), S. 189, gehen die Begriffe teleio,w »vollenden« (V.13) bzw. tele,w wahrscheinlich auf griech. Einfluss zurück, »denn in der griechischen Philosophie wird vielfach über das te,loj des menschlichen Lebens spekuliert und auch das Problem der ›Vollendung‹ (telei,wsij) des Menschen steht im Brennpunkt der Diskussion.« Vgl. dazu Hübner, Weisheit Salomons, S. 13f.

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4 – mit dem Problem des vorzeitigen Todes (de immatura morte) auseinandersetzt104 und als Gattung seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. voll ausgebildet ist.105 Eine der bekanntesten, freilich jüngeren Parallelen bietet Senecas um 39 n. Chr. entstandene Trostschrift an Marcia (Ad Marciam de consolatione), deren junger Sohn früh verstorben ist. Seneca führt als tröstenden Gedanken an, dass Marcias Sohn schon früh eine »Vollkommenheit« (virtus) und »Klugheit« (prudentia) erreicht habe, denn die Götter haben, »da sie ihn nicht für lange geben wollten, […] ihn gleich so gegeben, wie man in langer Zeit werden kann«:106 Was? Du, Marcia, als du sahest die Klugheit des Alters an einem jungen Mann (senilem in iuvene prudentiam), siegreich über alle Genüsse die Seele, befreit von Fehlern, Reichtum ohne Habsucht, Ehren ohne Ehrgeiz, Vergnügen ohne Genußsucht erstreben, da meintest du, lange könne er dir unversehrt bleiben? Was immer zur Vollendung kommt, ist dem Ende nahe. Es entreißt und entzieht sich den Augen sittliche Vollkommenheit (perfecta virtus), und nicht wartet auf die späteste Zeit, was zuerst gereift ist. […] Beginn, ihn nach seinen Vorzügen (virtus), nicht nach seinen Jahren einzuschätzen: lange genug hat er gelebt […].107

Dass bereits ein junger Mensch die Einsicht und die (Lebens-)Klugheit (prudentia) eines alten Menschen haben kann, führt auch Plinius d. J. an: Über ein früh verstorbenes Mädchen schreibt er in seinen Briefen, sie habe »die Klugheit einer alten Dame, die Würde einer reifen Frau« (anilis prudentia, matronalis gravitas) besessen.108

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Auf die griech.-röm. Konsolationsliteratur hat besonders Armin Schmitt in seinen Veröffentlichungen hingewiesen: s. Schmitt, Entrückung, S. 187f.; ders., Buch der Weisheit, S. 66f.; ders., »Der frühe Tod«, S. 339ff.; vgl. Engel, Weisheit, S. 93.98f.; David Winston, The Wisdom of Solomon, New York 1979 (The Anchor Bible 43), S. 137ff. Zur antiken Konsolationsliteratur s. Rudolf Kassel, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1958 (Zetemata 18); Hans Theo Weyhofen, Trost. Modelle des religiösen und philosophischen Trostes und ihre Beurteilung durch die Religionskritik, Frankfurt a. M. 1983 (Europäische Hochschulschriften 203), S. 62ff.; Wilhelm Kierdorf, »Art. Konsolationsliteratur«, in: Der Neue Pauly, 6 (1999), S. 709–711. Vgl. Albrecht Grözinger, »Art. Consolatio«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 2 (1994), S. 367–373, hier S. 367. Sen. dial. 6,12,3; s. Lucius Annaeus Seneca, Philosophische Schriften: lateinisch und deutsch, Bd. 1, hrsg. v. Manfred Rosenbach, Darmstadt 1995, S. 347. Sen. dial. 6,22,3 und 6,24,1; s. Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 384ff. Zu Seneca s. auch den Überblick bei Manfred Lang, »Johanneische Abschiedsreden und Senecas Konsolationsliteratur. Wie konnte ein Römer Joh 13,31–17,26 lesen?«, in: Jörg Frey (Hrsg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, Tübingen 2004 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 175), S. 365–412, hier S. 378ff. Plin. Epist. 5,16,2; s. Gaius Plinius Caecilius Secundus, Briefe. Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Helmut Kasten, München, Zürich 5 1984, S. 290f.

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Der in Senecas Trostschreiben anklingende Gedanke, dass nicht die Zahl der gelebten Jahre, sondern die sittliche Vollkommenheit und Tugendhaftigkeit (virtus) von entscheidender Bedeutung für die Bewertung des Lebens sind, ist ein häufig belegter konsolatorischer Topos. So heißt es bei Cicero: In Wahrheit begegnet man dann dem Tode am gleichmütigsten, wenn sich das untergehende Leben an seinen eigenen Leistungen trösten kann. Keiner hat zu kurz gelebt, der die Pflicht vollkommener Tugend erfüllt hat (qui virtutis perfectae perfecto functus est munere).109

Die »Vortrefflichkeit (to kalo,n), nicht die Länge der (Lebens-)Zeit« ist das »Maß des Lebens«, wie in dem Plutarch zugeschriebenen Trostschreiben an Apollonius betont wird.110 Wenn man sein Leben daran misst, dann kann auch ein kurzes Leben als »erfüllt« und »vollendet« empfunden werden. Dieser Gedanke prägt besonders jenen Brief Senecas an Lucilius, in dem er auf dessen Klage über den frühen Tod des Philosophen Metronax reagiert: Nicht daß wir lange leben, darf man Sorge tragen, sondern befriedigend: denn daß du lange lebst, bedarf es des Schicksals, befriedigend, des Geistes. Lang ist das Leben, wenn es erfüllt ist (longa est vita si plena est); es wird aber erfüllt (impletur), wenn die Seele das ihr eigene Gut entwickelt […] Mag seine Lebenszeit [sc. des Frühverstorbenen] auch unvollkommen sein, sein Leben ist vollkommen (licet aetas eius inperfecta sit, vita perfecta est).111 […] so kann bei geringer Dauer ein Leben vollendet sein (sic in minore temporis modo potest vita perfecta). Das Lebensalter gehört zu den belanglosen Äußerlichkeiten. Wie lange ich lebe, ist nicht meine Sache: solange ich lebe, wirklich zu leben, ist meine Sache.112

Neben der antiken Konsolationsliteratur finden sich in den Schriften des Philo von Alexandrien (20/10 v. Chr.–45 [?] n. Chr.) Parallelen zur neuen Altersdefinition in Weish 4. Nach Philo bemisst das Alter sich nicht an der Zahl der Lebensjahre, sondern an Klugheit, Einsicht und Vollkommenheit:

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Cic. Tusc. 1,109; s. Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum. Lateinisch-deutsch, hrsg. v. Olof Gigon, München 2 1970, S. 102f. Zu weiteren Trostmotiven aus der Konsolationsliteratur (der frühe Tod als Zeichen der Liebe der Götter, Bewahrung des früh Verstorbenen vor Schuld und Bösem) s. Schmitt, Buch der Weisheit, S. 67; Schmitt, Entrückung, S. 188f. 17,111 D; vgl. Frank Cole Babitt (Hrsg.), Plutarch’s Moralia in sixteen volumes, Vol. II, Cambridge, Massachusetts, London 1971, 158f. Zur Consolatio ad Apollonium s. Kassel, Untersuchungen, S. 49–98, hier S. 83ff. Sen. epist. 15,93,2.4; s. Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 4, S. 411. Sen. epist. 15,93,7; s. Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 4, S. 412f.

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[…] und zwar sämtlich Älteste, nicht an Jahren, sondern an Klugheit (fro,nhsij) und Rat, an Einsichten, an Streben nach altbewährter Art.113 Diesem, der solchen Frieden hatte, verspricht Gott ein schönes Greisenalter, nicht etwa ein zeitlich langes (polucro,nioj), sondern ein einsichtsvolles Leben (fronh,sewj zwh,n). Denn gleichwie selbst ein kürzeres Licht besser ist als ewige Finsternis, so ist ein Leben glücklicher Tage besser als das vieler Jahre.114

Als Konsequenz aus dieser Altersdefinition nimmt Philo eine neue Zuweisung der Lebensalter vor: […] denn die wahre Bezeichnung »der Ältere« ist nicht in der Länge der Zeiten, sondern in einem lobenswerten und vollkommenen Leben (telei,w| bi,w|) begründet.115

Gegenüber dieser »wahren Bezeichnung« des Alters gelten diejenigen, die sich während ihres langen Lebens »nur mit dem Körper hinbringen, ohne Streben nach dem Guten und Schönen« (kalokavgaqi.aj) als »langlebige Kinder« (polucroni,ouj pai/daj), »da sie niemals des grauen Haares würdige Kenntnisse sich angeeignet haben: Wer dagegen Einsicht und Weisheit und Gottvertrauen liebt, kann mit Recht ein ›Älterer‹ genannt werden«.116 Es fällt auf, dass sich in der antiken Literatur nicht nur vergleichbare Topoi, sondern z.T. auch die gleichen Begriffe wie in Weish 4 finden (vgl. bes. Philo). Dazu zählen besonders polucro,nioj »lange Zeit dauernd«, d.h. eine lange Zeit(dauer) im negativen Sinne als bloße Zahl der Lebensjahre (Weish 4,8; vgl. Philo her. 290; Philo Abr. 271); fro,nhsij »Klugheit; Einsicht« als traditionelles Kennzeichen des hohen Alters, das jedoch einem jungen Menschen zugesprochen wird (Weish 4,9; vgl. Philo migr. 201; Philo her. 290), sowie der Wortstamm tel-, mit dem die Vollkommenheit des kurzen Lebens beschrieben wird (Weish 4,13.16; vgl. Philo Abr. 271).117

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Philo migr. 201; s. Philo von Alexandrien, Die Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. v. Leopold Cohn u.a., Bd. V, Berlin 21962, S. 206. Philo her. 290, s. Philo von Alexandrien, Werke, Bd. V, S. 289. Philo Abr. 271; s. Philo von Alexandrien, Werke, Bd. I, S. 151f. Ebd., s. 152. In der lateinischsprachigen Konsolationsliteratur entsprechen dem u.a. die Begriffe prudentia »Klugheit; Einsicht« (Sen. dial. 6,22,3; Plin. Epist. V 16,2) und perfectus »vollendet; vollkommen« bzw. perficio »vollenden« (vgl. Sen. dial. 6,22,3; Sen. epist. 15,93,4.7, Cic. Tusc. 1,109). Zur Vollkommenheit eines kurzen Lebens vgl. Schmitt, Buch der Weisheit, S. 67: »Bei der mors immatura zählt es zu den tröstenden Gedanken (bezeugt durch Konsolationsliteratur und Grabinschriften), daß der früh Verstorbene das te,loj (›Ziel, Bestimmung, Erfüllung‹) oder wenigstens einen Teil des te,loj des Lebens erreicht hat.«

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Wie kommt es, dass die Weisheit Salomos den frühzeitigen Tod des Gerechten nicht in dem Maße als problematisch erfährt, wie nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang der klassischen Weisheit zu erwarten wäre? Zum einen formuliert Weish 4 eine neue Bewertung des Lebens: Ein kurzes Leben bedeutet nicht Unheil, sondern kann ein erfülltes Leben sein. Der jung Verstorbene kann ein »ehrenvolles Alter« erreichen, indem ihm die Würde des Greisenalters zuteil wird. Auf den jungen Menschen können somit klassische Alterstopoi mit neuer Bedeutung übertragen werden. Letztendlich steht aber hinter diesem gleichsam »problemloseren« Umgang mit dem frühzeitigen Tod des Gerechten die neue Hoffnung auf Unsterblichkeit und ewiges Leben.118 Diese Jenseitshoffnung hat sich erst in spätalttestamentlicher Zeit ausgebildet, denn nach den klassischen alttestamentlichen Jenseitsvorstellungen erwartet den Verstorbenen ein trostloses Leben in der Unterwelt, ein schattenhaftes Dasein fern von Gott.119 Auch in den Proverbien wird keine positive Jenseitshoffnung vorausgesetzt. Die Frage, was nach dem Tod ist, spielt keine Rolle; vielmehr ist die Spruchweisheit diesseitsorientiert, denn »die Zukunft wird rein innerweltlich gesehen«.120 Als Lebensideal gilt ein langes, erfolgreiches und heilvolles Leben mit Reichtum, Ehre sowie einer zahlreichen Nachkommenschaft.121 Erst in der späten Weisheitsliteratur wird die Todesgrenze überschritten, indem neue Jenseitsvorstellungen an Bedeutung gewinnen. Ein wesentlicher Impuls für diese Entwicklung geht von der Auseinandersetzung mit dem Zerbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs aus, mit dem sich auch Weish 4 beschäftigt. Nach Weish 4,7 wird der Gerechte nach seinem Tod »in der Ruhe (Gottes) sein«. Was diese Aussage bedeutet, veranschaulichen V.10–14: Den vorzeitig verstorbenen Gerechten erwartet eine Entrückung zu Gott (vgl. V.10f.: »er wurde entrückt«, »er wurde weggenommen«). Mit dieser Jenseitsvorstellung erinnert Weish 4 an die Entrückung des Henoch (vgl. Gen 5,21–24), wie

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Vgl. Schmitt, Entrückung, S. 191. Vgl. dazu Liess, Weg des Lebens, S. 294ff.; zur den alttestamentlichen Unterweltvorstellungen s. dies., »›Hast du die Tore des Todes gesehen?‹ (Hi 38,17). Zur Lokalisierung des Totenreiches im Alten Testament«, in: Angelika Berlejung / Bernd Janowski (Hrsg.), Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte, Tübingen 2009 (Forschungen zum Alten Testament 64), S. 397–422. Zur Todesthematik s. Bernd Janowski, »Der Gott Israels und die Toten. Eine religions- und theologiegeschichtliche Studie«, in: B. J., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 266–304, hier S. 267ff. Hausmann, Studien zum Menschenbild, S. 252; zu Leben und Tod in den Proverbien vgl. S. 321. Vgl. z.B. Prov 3,2.16.

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die terminologischen Bezüge »er war Gott wohlgefällig« und »er wurde hinweggenommen/entrückt (metatiqe,nai)« (Weish 4,10f.) zeigen:122 Und Henoch war Gott wohlgefällig, und er wurde nicht mehr gefunden, denn Gott hat ihn hinweggenommen/entrückt. (Gen 5,24LXX) Der (Mann), der Gott wohlgefällig war, wurde (von ihm) geliebt und, während er unter den Sündern lebte, wurde er entrückt. Er wurde weggenommen […] (Weish 4,10f.).

Dass auf Henoch als Beispiel für ein vollendetes, aber kurzes Leben angespielt wird, mag angesichts seiner 365 Lebensjahre, einer Zahl für die Vollkommenheit, erstaunen; aber mit dieser Lebenszeit gilt er im Vergleich zu den anderen vor der Sintflut genannten Erzvätern wie Methuschelach (969 Lebensjahre) oder Noah (950 Lebensjahre) geradezu als »jung«.123 Die Weish 4 zugrunde liegende Hoffnung auf eine Entrückung des frühzeitig verstorbenen Gerechten zu Gott lässt das diesseitige Leben in einem neuen Licht erscheinen.124 Weish 4 kann deshalb traditionelle Alterstopoi transformieren und die diesseitigen Lebensalter neu bewerten.125

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Vgl. Gen 5,24LXX; Sir 44,16. S. dazu Schmitt, »Der frühe Tod«, S. 334ff. Vgl. Engel, Weisheit, S. 93. Auch andere Texte aus der Weisheit Salomos setzen eine eschatologische Hoffnung voraus (s. dazu ausführlich Mareike Verena Blischke, Die Eschatologie der Sapientia Salomonis, Tübingen 2007 [Forschungen zum Alten Testament II/26]). So ist der Gerechte nach Weish 3,1–9 nach seinem Tod »in der Hand Gottes« (3,1) und »in Frieden« (3,3). In Begriffen wie »Unsterblichkeit« (1,15; 15,3) und »Unvergänglichkeit« (2,23; 6,18; 12,1) spiegelt sich die eschatologische Konzeption der Weisheit Salomons wider (vgl. Blischke, Eschatologie, S. 109f.). Der Hinweis auf ein positives jenseitiges Geschick zählt auch zu den Argumenten der antiken Konsolationsliteratur: »Die consolatio mortis entwickelt sich und erfährt ihre Hochblüte begreiflicherweise zu einer Zeit, in der die Anschauungen über das Phänomen Tod und den Zustand der Seele nach dem Tode zu den aktuellsten Themen der dogmatischen Auseinandersetzungen gehören« (HorstTheodor Johann, Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften über den Tod, München 1968 [Studia et Testimonia Antiqua 5], S. 120). In seiner Trostschrift an Marcia argumentiert Seneca ebenfalls mit dem postmortalen Ergehen des jung Verstorbenen. Die dunklen Unterweltsvorstellungen seien nur von den Dichtern »spielerisch erfunden«, die »uns mit nichtigen Schreckbildern geängstigt«; nach Seneca ist der Tod im positiven Sinne »aller Schmerzen Lösung«, denn er versetze den Menschen »in jene Ruhe, in der wir uns befunden haben, bevor wir geboren wurden« (Sen. dial. 6,19,5f.; s. Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 369ff.) Weitere Jenseitsvorstellungen sind u.a. die Gottesschau (Sen. dial. 11,9,3) oder das Vorausgeschicktwerden an einen Ort, an dem die Toten aufgenommen werden (Sen. epist. 63,16); zu weiteren Jenseitsvorstellungen in der Konsolationsliteratur s. Lang, Johanneische Abschiedsreden, S. 390f. Dabei verbindet der Text biblische Traditionen (Entrückung des Henoch) und Topoi der antiken Konsolationsliteratur. Vgl. Schmitt, »Der frühe Tod«, S. 346; Daniel A. Smith, »The ›assumption‹ of the righteous dead in the Wisdom of Solomon and the

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Vergegenwärtigt man sich abschließend noch einmal den Ausgangspunkt der Argumentation von Weish 4, den vorzeitigen Tod des Gerechten, so wird deutlich, welche Rolle das Zerbrechen des TunErgehen-Zusammenhangs bei dieser Neubewertung der Lebensalter spielt. An der Auseinandersetzung mit dem Leiden (Hiob) und dem frühzeitigen Tod des Gerechten (Weish 4) zerbricht mit dem TunErgehen-Zusammenhang auch die topische Zusammengehörigkeit von Alter, Grauhaarigkeit und Weisheit, wie sie noch die Proverbien voraussetzen. Denn zum einen versagt die Weisheit der Alten bei dem Versuch, Hiobs Leiden zu erklären (Hi 32,5ff.), und zum anderen können Lebensklugheit und Alterswürde ebenso einem jungen Menschen zugesprochen werden (Weish 4).

_____________ Sayings Gospel Q«, Studies in Religion – Sciences Religieuses, 29 (2000), S. 287–299, hier S. 292.

THERESE FUHRER

Alter und Sexualität Die Stimme der alternden Frau in der horazischen Lyrik In his lyric poetry Horace makes ‘sex in old age’ the subject of sympotic parainesis or invective against old women, but he does not reflect constructively on the theme. Through the use of stereotypical topoi of old age, Horace’s speech becomes strongly schematized, thereby making the subject matter appear unproblematic. Nevertheless, the poet does allow his old characters to experience moments of serious self-reflexion or sober analysis of their situation. In c. 1,25 and epod. 12 he even gives females the opportunity to elaborate on their perspective: it is the perspective of distraught women who by reason of their age are societally marginalized and are forced to endure abasement due to their unending libido and libidinous behaviour in their relationships with younger men. Thus it is a paradox that, on the one hand, Horace has chosen the satire as his literary locus to reproduce the behavioural norms of aging women as implied by the topoi of old age, whereas on the other hand he does more than merely portray the breach of norms these women commit: by giving the old women a voice he puts the problems associated with their behaviour up for discussion.

1. Alterstopoi in der horazischen Lyrik: Reflexionen von Grenzerfahrungen Alter und Tod sind prominente Themen in der horazischen Lyrik1 und dementsprechend breit ist die Palette der Topoi, auf die Horaz dabei zurückgreift. Merkmale wie weißes Haar, ausfallende Haare, hässliche Zähne, Trockenheit und Runzeln dienen dazu, die Vergänglichkeit des Menschen zu verdeutlichen.2 Der Grund für die negative Konnotation

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Den Begriff ›Lyrik‹ werde ich im Folgenden im Sinn des römischen Gattungsbegriffs sowohl für die Carmina (Oden, Abkürzung c.) wie für die Epoden (epod.) verwenden. Vgl. dazu Therese Fuhrer, »Lyrik II. Lateinisch«, in: Der Neue Pauly, 7 (1999), Sp. 592–594. Weißes Haar: c. 1,9,17f.; 3,14,25; 4,13,12 (vgl. auch Anthologia Palatina = A.P. 5,103; 5,204,4; 5,112; Prop. 3,25,13 und öfter); ausfallende Haare: c. 4,10,3 (vgl. A.P. 11,374,3f.; Mart. 2,33,1); Zähne: c. 4,13,10–12; epod. 5,47; 8,3 (vgl. Prop. 4,5,68; Mart. 2,41,7; 5,43; Iuv. 6,145); Trockenheit: c. 3,27,54f.; epod. 8,5–10 (vgl. Iuv. 6,144); Run-

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des Alters in Horaz’ Lyrik mag darin liegen, dass der soziale Ort lyrischer Dichtung ursprünglich das Symposion ist, wo Lebensgenuss zelebriert wird und wo Jugend, körperliche Unversehrtheit und Schönheit Bedingung für die Genussfähigkeit und Objekt der Aufmerksamkeit sind. In diese Tradition stellt sich Horaz, auch wenn die Funktion seiner Gedichte nicht mehr notwendigerweise auf den Gesang beim Gelage beschränkt ist. Dem Thema ›Alter‹ kommt dabei eine ähnliche Funktion zu wie dem Thema ›Tod‹: Beide sollen die Motivation steigern, die gegenwärtige Lebensphase, also die Jugend, und den Moment auszukosten, »solange dem grünenden Jüngling das mürrische Weißhaar noch fehlt« (c. 1,9,17: donec virenti canities abest).3 Die Fähigkeit zum – zumindest unbeschwerten – Genuss wird dem alternden Menschen abgesprochen, sei es, dass ihm die Kräfte fehlen, sei es, dass er an Attraktivität eingebüßt hat und von den entsprechenden Anlässen und Möglichkeiten ausgeschlossen ist.4 Im Zentrum der Betrachtungen liegt somit die körperliche Verfasstheit des alternden Menschen. Es wird darauf verzichtet, kompensatorische Qualitäten wie Erfahrung und Weisheit auszuweisen. Das Alter wird durchweg als Lebensphase gezeichnet, in der die ›besten Jahre‹ vorbei sind und die von physischem Verfall gezeichnet ist. Dennoch behält zumindest der alternde Mann seinen Platz in seiner sozialen Gruppe, wenn auch innerhalb der ihm von Alter und Körper gesetzten Grenzen der Schicklichkeit.5

2. Alte Frauen und Sex: Die Vetula-Skoptik Eine andere Funktion wird dem Thema ›Alter‹ und den damit verbundenen Topoi in der Invektive zugewiesen, die sich bei Horaz nicht allein in der traditionell dem Spott vorbehaltenen Gattung des Iambus, sondern auch in den melischen Formen findet, d.h. nicht nur in den Epoden, sondern auch in den Carmina. Die negative Konnotierung des

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zeln: c. 2,14,2f.; 4,13,11f.; epod. 8,3f. (vgl. A.P. 5,76,5; 11,66,1f.; 11,408,2; Prop. 3,25,12 und 14; 4,5,67; Mart. 3,93,4). Zum Thema ›Alter‹ und ›Tod‹ in dieser Funktion vgl. c. 1,4,13–26; 1,11,6–8; 4,7,13–20 und öfter. Vgl. auch A.P. 11,25; 11,51 und 53. Vgl. c. 1,9,13–18; 1,25; 2,11,5–8; 3,14,25–28; 3,15; 3,19,24; 3,26; 4,1; 4,13. Vgl. epist. 2,2,55–57 und 214–216; 1,1,3–19. Prägnant formuliert dies später Ov. am. 1,9,4: turpe senex miles, turpe senilis amor. Auf diese Grenzen wird öfter direkt oder indirekt Bezug genommen; vgl. c. 2,4,22–24; 2,5; 3,14,25–28; 3,26 (vgl. dazu auch den Abschnitt 4. S. 55–57); epist. 1,1,1–12; 1,7,25–28; 1,14,32–36. Vgl. auch A.P. 5,20; 5,112; Ov., ars 3,565–574; Maximian 1,101–106. – Dazu Karen Cokayne, Experiencing Old Age in Ancient Rome, London, New York 2003, S. 119 und 130.

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Alters bleibt wie in der sympotischen Lyrik, doch dienen die Motive der Hinfälligkeit und des körperlichen Verfalls nun allein der Häme. Im Gegensatz zur Situation beim Symposion, wo über die schwindende Kraft des alternden Mannes reflektiert wird, stehen hier öfter auch Frauen, in der Regel Hetären, im Fokus. Ihnen wird vorgeworfen, die dem Alter gebotene Zurückhaltung zu missachten und die der Frau von der Natur gesetzten Grenzen zu überschreiten.6 Diese Art von Spott, die zum ersten Mal bei Archilochos belegt ist und deren Tradition sich vor allem im Epigramm – bis in die Spätantike – fortsetzt, die so genannte Vetula-Skoptik,7 rekurriert zum einen auf die bekannten Alterstopoi, zum anderen auf die Regeln der Aischrologie, gemäß der bestimmte Eigenschaften des Objekts des Spotts konsequent negativ beschrieben werden.8 Horaz widmet dem Thema zwei Epoden und drei Carmina.9 Er lässt das Sprecher-Ich die Erscheinungen und Konsequenzen des Alterungsprozesses der angesprochenen Frauen durchweg aus der männlichen Perspektive beschreiben. Bei den Frauen handelt es sich um Hetären, in der Regel Freigelassene, und – zumindest in epod. 12 – um eine römische Bürgerin.10 Der Normverstoß wird nun nicht allein in der fehlenden Rücksicht auf die dem Alter gesetzten natürlichen Grenzen gesehen; hinzu kommt der Gedanke, dass die alternde Frau ihren Platz, den

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Der Frau wurde sexuelle Aktivität nur solange zugestanden, als sie reproduktionsfähig war. Dazu Cokayne, Experiencing Old Age, S. 123; 134f.; 144; Lindsay Watson, »Horace Odes 1.23 and 1.25: A thematic pairing?«, in: Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association, 82 (1994), S. 67–84, hier 70f. mit Verweis auf Ian Bremmer, »The old woman of ancient Greece«, in: Josine Blok / Peter Mason (Hrsg.), Sexual Asymmetry. Studies in Ancient Society, Amsterdam 1987, S. 191–215. Zum Begriff vgl. Lindsay Watson, A Commentary on Horace’s Epodes, Oxford 2003, S. 288–292; Amy Richlin, The Garden of Priapus. Sexuality and Aggression in Roman Humour, New York, Oxford 2 1992, S. 109–116; dies., »Invective against women in Roman satire«, in: Arethusa, 17 (1984), S. 67–80; Cokayne, Experiencing Old Age, S. 135–152. In der griechischen Dichtung ist die Vetula-Skoptik am prominentesten bei Archilochos vertreten (die Stellen bei David Mankin, Horace. Epodes, Cambridge 1995, S. 152f.). Vgl. A.P. 5,21; 5,204; 5,271; 5,273; 5,298; 11,66–74; 11,374; 11,408; 11,417. In der lateinischen Dichtung findet sich die Thematik am häufigsten bei Martial; vgl. 2,33; 3,32; 3,93; 4,20; 7,75; 8,79; 9,29; 9,37; 10,39; 10,67; 10,90; 11,21; 11,29; vgl. auch Hor. sat. 1,8; Prop. 3,25,11–18; Priap. 12; 32; 46; 57; Iuv. 6,191–199; Petron. 134–138. Dazu Wolfgang Rösler, »Über Aischrologie im archaischen und klassischen Griechenland«, in: Siegmar Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen, Trier 1993, S. 75–97. Isolde Stark, Die hämische Muse. Spott als soziale und mentale Kontrolle in der griechischen Komödie, München 2004, S. 13. Epod. 8 und 12; c. 1,25; 3,15; 4,13; vgl. auch 4,10. Die Beziehung zwischen einer alten Frau und einem jüngeren Mann ist ein beliebtes Thema der Epigrammdichtung; vgl. z.B. A.P. 11,70; 11,425; Mart. 9,80.

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sie als junge und attraktive Frau in einer Gruppe eingenommen hat, nun räumen muss oder, wenn sie dies nicht tut, eine ihrem Geschlecht völlig unangemessene Rolle übernimmt: Sie ist nun nicht mehr die begehrte Schönheit, sondern muss sich infolge ihres unattraktiv gewordenen Körpers selbst um Liebhaber bemühen, um ihre sexuelle Lust zu befriedigen. Sie bricht also die gesellschaftlichen Normen mehrfach.11 Die Dezenz wird verletzt, was im Text inszeniert wird, indem das ungebührliche Verhalten und die körperlichen Defizite detailreich beschrieben werden.12 Auch für die Darstellung von körperlichem Verfall und Hässlichkeit werden Topoi und damit Stereotype herangezogen; sie werden nun aber mit der Funktion eingesetzt, die Frau, die damit ausgestattet wird, zu verletzen. Nicht mehr nur die weißen Haare und die nicht mehr straffe Haut werden hervorgehoben, die in anderem Kontext der Paränese zum Lebensgenuss dienen können; beschrieben werden die schwarzen, gelben oder fehlenden Zähne, die runzlige Haut nicht nur auf der Stirn, sondern auch am After und an den Brüsten, der vertrocknete Körper, die dürren Gliedmaßen, der üble Geruch.13 Der Spott und die damit verbundene Aggression werden dadurch verstärkt, dass der männliche Sprecher seine überlegene Position gegenüber der alternden Frau herausstellt. In der Regel gibt er sich als ehemaliger Freier aus, der einst von der jungen und begehrten Frau abgewiesen wurde, nun aber die Frau selbst in der Situation sieht, dass sie nicht nur keine Freier mehr hat, sondern selbst auf Partnersuche gehen muss.14 Der Potenzierung des Spotts dient auch die Aussage, dass sich der Sprecher zwar mit der Frau sexuell eingelassen hat, jedoch angesichts der abstoßenden Eigenschaften ihres alten Körpers

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C. 1,25,9–12; 4,11,29–34; 4,13,2–8. Explizit verweist c. 3,15,7f. und 13–16 auf das decorum (non … decet bzw. decent). Vgl. Mart. 10,90; dazu Cokayne, Experiencing Old Age, S. 136–139. C. 1,25,9–15; 4,13,4–12, 17f. und 24–28; epod. 8,3–10; 12,1–12. Vgl. Mart. 3,93; 11,21; Priap. 32; 46,10. Die Beschreibung der Hässlichkeit der alten Frauen kehrt die Topoi der Beschreibung der Schönheit junger Frauen ins Negative; dazu Watson, Commentary, S. 291f. Richlin, »Invective«, S. 70–73, weist darauf hin, dass diese Gedichte zu den wenigen Texten gehören, in denen weibliche Genitalien beschrieben werden. Vgl. c. 4,10; 4,13,10–12; epod. 8,3–10; 12,4–12 (dazu siehe unten Abschnitt 6). Wie Richlin, Garden, S. 106 und John Henderson, »Horace talks rough and dirty: No comment (Epodes 8 & 12)«, in: Scholia, 8 (1999), S. 3–16 hervorheben, ist auch die sexuelle Stimulierung bei der Lektüre ein Grund für die Themenwahl und Darstellungsweise. So c. 1,25; epod. 12; vgl. Prop. 3,25,15f.; Ov. ars 3,69ff.; Mart. 3,93,18ff.; A.P. 5,280,5– 8. In Hor. c. 1,25 ist die Frau nicht alt, sondern die Situation im Alter wird ihr prophezeit (so auch dem Jüngling in c. 4,10); siehe unten Anm. 35.

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die entsprechende Leistung nicht mehr erbringen kann.15 Die situativ bedingte Schwäche wird damit auf die fehlende Attraktivität der Frau, insbesondere ihrer Geschlechtsteile, zurückgeführt und somit entschuldigt.16 Selbst die Tatsache, dass der Mann offenbar zum Geschlechtsverkehr mit der Alten bereit war, wird als Möglichkeit für beißenden Spott genutzt: Da die Frau nicht mehr begehrt wird, ist sie sexuell ausgehungert und muss sich ihre Liebhaber mit Geld beschaffen.17

3. Die argumentative Funktion der Alterstopoi in der Invektive Die Funktion der Alterstopoi kann also entsprechend der Sprechsituation, die in den horazischen Gedichten inszeniert wird, variieren: Paränese und Reflexion über die menschliche Begrenztheit stehen neben obszönem Spott und Denunziation; markiert wird sowohl die Differenz zwischen dem aktiven Lebensgenuss des Jünglings und der dezenten Zurückgezogenheit des Älteren wie auch die Diskrepanz von jugendlicher Schönheit und Hässlichkeit des verwelkten Körpers. Immer steht dabei die in der antiken Sozialethik verankerte Vorstellung im Hintergrund, dass der alte Mensch in der Gesellschaft einen bestimmten Platz hat und diesen nicht verlassen darf;18 nicht zuletzt muss er bzw. sie sein/ihr Sexualleben einschränken, sei es dass er/sie dafür nicht mehr genügend Kraft hat, sei es dass dies als unschicklich betrachtet wird. Für die Frau gilt dies deshalb in höherem Maße, weil ihr die Grenzen als Matrona durch die Gebärfähigkeit, als Hetäre durch

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Dazu epod. 8 und 12. Nach Watson, »Horace’s Epodes« und Commentary sollte hier nicht von Impotenz gesprochen werden, da die Potenz des Sprecher-Ichs bei jüngeren Frauen als noch intakt dargestellt wird. Zur apologetischen Funktion der Vetula-Skoptik vgl. Ellen S. Oliensis, »Canidia, Canicula, and the Decorum of Horace’s Epodes«, in: Arethusa, 24 (1991), S. 107–138, hier 124; dies., Horace and the Rhetoric of Authority, Cambridge 1996, S. 75; Wilfried Stroh, »De amore senili quid veteres poetae senserint«, in: Gymnasium, 98 (1991), S. 264–276; Richlin, »Invective«, S. 76f.; dies., Garden, S. 113. Siehe c. 1,25,9–15; epod. 12,7–9 und 25f. Das Thema war in den letzten Jahren Gegenstand einer ganzen Reihe von Monographien bzw. Sammelbänden. Vgl. neben Cokayne, Experiencing Old Age, auch Thomas M. Falkner / Judith de Luce (Hrsg.), Old Age in Greek and Latin Literature, New York 1989; Hartwin Brandt, Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike, München 2002; Andreas Gutsfeld / Winfried Schmitz (Hrsg.), Am schlimmen Rand des Lebens? Altersbilder in der Antike, Köln, Weimar, Wien 2003; Tim G. Parkin, Old Age in the Roman World. A Cultural and Social History, Baltimore, London 2003.

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die körperliche Attraktivität gesetzt sind.19 Hier spielen also Vorstellungen von Vergänglichkeit, Verlust der Fruchtbarkeit, liminalem Status beim Übertritt in eine andere Altersgruppe und männlichem Machtdiskurs eine Rolle.20 Die Gültigkeit der durch die Topoi aktivierten habituellen Denkmuster und die Stereotypie der Aussagen über den alternden Menschen werden aber nicht in Zweifel gezogen. Im Hinblick auf die Frage nach der Problematik ihres Inhalts bringt ihre Verwendung also keinen Erkenntnisgewinn. Eine solche Funktion ist der Definition des literarischen Topos auch gar nicht eingeschrieben, vielmehr dient dieser definitionsgemäß als »Suchformel und Rezept zur Gewinnung neuer Argumente«, als »Inventar an Schlussregeln«, »das wesentlicher Bestandteil der argumentativen Kompetenz der Teilhaber eines Kommunikationsgefüges ist«.21 Topoi basieren auf herrschenden Meinungen und auf allgemein verständlichen Vorstellungen. Sie bieten so ein Argumentationsreservoir, das durch den Rekurs auf vertraute Denkmuster in unterschiedlichen Situationen einen Konsens ermöglicht, das aber gleichzeitig die Überzeugungskraft eines einzelnen, idiosynkratischen Anliegens stärkt.22 Zwar sind die in den Topoi vermittelten Meinungsnormen durchaus auch Gegenstand der Interpretation und damit veränderbar. Allerdings wird dabei nicht die Meinung selbst bzw. ihre normative Gültigkeit zur Diskussion gestellt, vielmehr steht die Interpretationsfähigkeit eines Topos im Dienst der Wirksamkeit der Argumentation seines Interpreten. Die Möglichkeit der Innovation bietet sich bei der Verwendung von Topoi also nur insofern, als die damit transportierten Meinungsnormen im Hinblick auf das gerade verhandelte Problem verändert und dadurch wiederum argumentativ nutzbar gemacht werden können.23 Als Hauptcharakteristikum des Topos kann also gelten, dass er selbst nicht zugleich argumentativ eingesetzt und selbst Gegenstand der Argumentation sein kann. Denn sonst würde die argumentative Kraft des Topos in der Verwendung selbst unterlaufen.

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Zur Diskussion des weiblichen decorum im Alter vgl. Cokayne, Experiencing Old Age, S. 115–133, bes. 123. Vgl. Mankin, Commentary, S. 152f. Michael Pielenz, Argumentation und Metapher, Tübingen 1993, S. 121 und 123; Manfred Kienpointner, »Topische Sequenzen in argumentativen Dialogen«, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 14.3. (1986), S. 321–355, hier 327. Zugrunde liegt der ToposBegriff von Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt am Main 1967. Bornscheuer, Topoi, S. 91ff. unterscheidet die vier Strukturmerkmale Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität. Vgl. dazu Pielenz, Argumentation, S. 123–135. Vgl. dazu Bornscheuer, Topoi, S. 102ff.; Pielenz, Argumentation, S. 131.

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So kann die Invektive durch den Rekurs auf Topoi nicht gleichzeitig sowohl eine habituelle Vorstellung aktivieren als auch die Situation der verspotteten Person problematisieren. Die Vetula-Skoptik kann nicht das sexuelle Begehren alter Frauen verspotten und gleichzeitig um Verständnis werben.

4. Alte Männer und Sex: Die Altersklage und die Figur des senex amator Sind also die Alterstopoi in der antiken, zumal der horazischen Lyrik nicht mehr als ein Argumentationsreservoir, das der Reflexion auf die nur augenblickshafte Möglichkeit zum Lebensgenuss, den Spott und der Aggression gegen das weibliche Geschlecht dient? Werden hier nur Stereotype verwendet und Klischees transportiert, ohne die Problematik des Lebens im Alter – der Vergänglichkeit, des körperlichen Verfalls, der Einschränkung der sexuellen Aktivität – zu diskutieren? Nun darf eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema ›Liebe im Alter‹ von der antiken Literatur nicht ebenso erwartet werden wie von der modernen Fachliteratur.24 Zwar gibt es antike Abhandlungen peri gērōs oder de senectute, in denen in Form des philosophischen Dialogs, des Essays oder des (medizinischen) Fachtraktats Themen wie (körperliche und geistige) Gesundheit und sozialer Ort des alternden Menschen behandelt werden, so auch die Diskrepanz zwischen dem weiter bestehenden sexuellen Verlangen und den schwindenden Möglichkeiten, dieses zu befriedigen.25 So beschreiben Ciceros Cato oder Seneca als Sprecher-Ich die Erfahrungen des alternden Mannes, um daraus Lebensregeln abzuleiten.26 In den antiken medizinischen Schriften interessiert der Alterungsprozess im Hinblick auf die Erklärung und Behandlung von Krankheiten und die Empfeh-

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Vgl. aber noch Susan Sontag, »The double standard of aging«, in: Saturday Review of Literature, 39 (1972), S. 29–38, hier 37: »The double standard about aging converts the life of women into an exorable march toward a condition in which they are not just unattractive, but disgusting […]. Aging in women is a process of becoming obscene sexually, for the flabby bosom, wrinkled neck, spotted hands, thinning white hair, waistless torso, and veined legs of an old woman are felt to be obscene«. Dazu vgl. Hans Herter, »Demokrit peri gērōs«, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, N.F. 1 (1975), S. 83–92; Christian Gnilka, »Altersklage und Jenseitssehnsucht«, in: Jahrbuch für Antike und Christentum, 14 (1971), S. 5–23; ders., »Greisenalter«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, 12 (1983), Sp. 995–1094. Cic. Cato 7; 15; 39; 47–49; Sen. epist. 12. Vgl. bereits Plat. rep. 1,3,329b–c.

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lungen diätetischer Maßnahmen.27 Ansätze einer Problematisierung finden sich in poetischen Texten – in der archaischen Lyrik, der Elegie, der Komödie – im Motiv der Altersklage, in der der Sprecher die Situation, die in der Invektive dem Objekt des Spotts zugeschrieben wird, beklagt, wobei er die entsprechenden Topoi auf sich selbst anwendet: Die mit dem weißen Haar, den Zahnlücken usw. verbundene schwindende Attraktivität, die sich daraus ergebende Einsamkeit, daneben aber das noch immer vorhandene sexuelle Begehren, das nun unerfüllt bleibt, werden als eigenes Problem beschrieben.28 Auch hier wird mit den bekannten Alterstopoi operiert, und immer liegt dabei die Vorstellung zugrunde, dass die Alten mit ihrem Verhalten die Grenzen der Schicklichkeit und der körperlichen Möglichkeiten überschritten hätten.29 Es fehlt jedoch eine Diskussion der Tabuisierung von sexueller Aktivität im Alter oder eine weitergehende Reflexion auf die Problematik eines Phänomens, dessen Realität gerade durch die poetische Darstellung ja nicht geleugnet wird. So darf es nicht verwundern, dass das Thema ›Eros und Alter‹ auch in der horazischen Lyrik nicht Gegenstand konstruktiver Kritik ist. Die Verwendung der Alterstopoi in der sympotischen Paränese und der Invektive schließt die Möglichkeit der Altersklage vielmehr sogar aus, und auch der senex amator hat keinen Platz: Das Sprecher-Ich, das beim Fest mit dem Verweis auf das Alter zum Lebensgenuss auffordert, klagt nicht gleichzeitig über die sexuelle Unfähigkeit der Alten, und der Spötter gegen alte Frauen rechnet sich nicht selbst zu den Alten. Nur selten gesteht Horaz den alternden Figuren Momente der ernsten Selbstreflexion oder der nüchternen Analyse der eigenen Situation zu. In c. 3,26 zeigt das alternde Sprecher-Ich genau dann, wenn es sich von den Aktivitäten als Gigolo zurückziehen will, nochmals Anzeichen der Liebesleidenschaft. Der am Anfang des Gedichts anklingende Ton der Lebensbilanz (vixi) und der nun auf sich genommenen Zurückhaltung

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Bemerkenswert ist, dass das Corpus Hippocraticum keine spezifisch geriatrischen Schriften enthält. Dazu Georg Wöhrle, »Der alte Mensch im Spiegel der Medizin«, in: Elisabeth Hermann-Otto (Hrsg.), Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart, St. Ingbert 2004, S. 19–31. Vgl. z.B. Mimn. Frgg. 1, 2 und 5 W.; Alkm. Frg. 26 PMGF; Anakr. Frg. 322 PMG; Ibyc. 287 PMGF; Aristoph. Eccl. 877ff.; A.P. 11,30; 11,54; Plaut. Merc. 546–549 (vgl. auch 262–265; 290ff.; 303–306 sowie die Figuren der alten Männer in den Stücken Asinaria, Stichus, Cistellaria und Bacchides); Verg. ecl. 9,51–54; Maximian. eleg. 1, 2 und 5. Ein weibliches Ich ist in Sapph. Frg. 121 Voigt und P. Köln Inv. 21351 + 21376 r zu denken. Thema rhetorischer Schulübungen war auch die »Altersschelte«; dazu Gnilka, »Altersklage«, S. 7.

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wird am Schluss dadurch konterkariert, dass der Sprecher wünscht, die Peitschenhiebe der Venus mögen die ehemalige Geliebte nochmals mit ganzer Wucht treffen. Auch wenn im Gedicht nicht explizit gesagt wird, ob die damit entfachte Leidenschaft ihm selbst gelten soll, erweist sich der Sprecher doch nicht gefeit gegen den Gedanken an eine erotisierte Frau und damit weit entfernt von der unproblematischen Altersruhe, die er eben noch mit der Vorstellung der an den buchstäblichen Nagel gehängten Requisiten des aktiven Liebhabers beschworen hat. Buch 4 der Carmina beginnt mit einer Bitte an Venus, den fünf Lustren alten, also ca. 50-jährigen Dichter nun zu verschonen; die Bitte wird sich jedoch am Ende des Gedichts als nutzlos erweisen, da ihn die Liebe zu Ligurinus weiterhin umtreibt. Die Altersklage bleibt jedenfalls dezent und das alternde Sprecher-Ich bleibt innerhalb der Grenzen des Schicklichen, selbst wenn, wie in c. 3,26, der offene Schluss das Weiterbestehen des Liebesverlangens zumindest ahnen lässt.30

5. Die Perspektive der alternden Hetäre: Horaz c. 1,25 Nun gibt Horaz jedoch an zwei Stellen innerhalb des Corpus’ der Oden und Epoden auch Frauen Gelegenheit, ihre Perspektive darzulegen: die Perspektive der einsamen alten vetula, die sich durchaus noch ein Sexualleben wünscht. Dargestellt werden dabei verzweifelte Menschen, die durch ihr Alter an den Rand der Gesellschaft gedrängt und infolge ihrer fortdauernden Libido und dem entsprechenden Verhalten gegenüber jungen Männern zur Erniedrigung gezwungen werden. Somit sind paradoxerweise gerade Spottgedichte auf alternde Frauen der literarische Ort, wo Horaz die durch die Alterstopoi implizierten Verhaltensnormen zwar reproduziert, dabei aber nicht nur den Normverstoß, sondern auch die damit verbundene Problematik zur Diskussion stellt. Gemäß der Gattungskonvention setzt er die Topoi der Vetula-Skoptik gezielt ein, baut sie dabei aber jeweils zu kurzen narrativen Sequenzen aus. Parcius iunctas quatiunt fenestras iactibus crebris iuvenes protervi, nec tibi somnos adimunt, amatque ianua limen,

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Für eine Zusammenstellung der Stellen zum Thema ›Alter‹ in der horazischen Lyrik vgl. Paul Hohnen, »Zeugnisse der Altersreflexion bei Horaz«, in: Gymnasium, 95 (1988), S. 154–172.

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quae prius multum facilis movebat cardines. audis minus et minus iam ›me tuo longas pereunte noctes, Lydia, dormis?‹ in vicem moechos anus arrogantis flebis in solo levis angiportu, Thracio bacchante magis sub interlunia vento, cum tibi flagrans amor et libido, quae solet matres furiare equorum, saeviet circa iecur ulcerosum, non sine questu laeta quod pubes hedera virenti gaudeat pulla magis atque myrto, aridas frondes hiemis sodali dedicet Euro. Seltener treffen deine geschlossenen Fensterläden mit häufigen Würfen die Jünglinge in ihrem Ungestüm, nicht rauben sie dir deine Ruhe, fest befreundet haftet die Tür an der Schwelle, die früher so oft leicht bewegte die Angeln. Du hörst es weniger und weniger schon: »Ich, der ich Dein, vergeh in langen Nächten – Lydia, schläfst du?« Anders bald: Als Alte wirst du der Freier Übermut beweinen, verlassen verachtet im Winkel, da aus Thrakien tobt stärker beim Neumond der Sturmwind, während dir brennend Liebe und Gier, wie sie pflegen rasen zu lassen die Mütter der Rosse, wüten werden um deine schwärende Leber, voll von Jammer, dass frohe Jugend am Efeu, dem grünenden, freuet sich mehr und an der dunklen Myrte, trockene Blätter aber dem Wintersgefährten preisgibt, dem Eurus.

C. 1,25 beginnt mit einer nächtlichen Szene, die die angeredete Frau als alternde und damit zunehmend erfolglose Hetäre zeichnet (Vv. 1–8):31 Das männliche Sprecher-Ich evoziert die für eine Hetäre unvorteilhafte

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Die im Folgenden zitierten Texte stammen aus: Horatius, Opera, hrsg. von D. R. Shackleton Bailey, München 5 2008. Die Übersetzung wurde weitgehend übernommen aus: Horaz, Oden und Epoden, lateinisch-deutsch hrsg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart 3 2000.

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Situation, in der die Freier nun seltener an ihre Fenster klopfen und ihr damit nicht mehr den Schlaf rauben. Die vorher oft benutzte Tür »liebt« nun die Schwelle (V. 3: amat), d.h. sie bleibt öfter geschlossen. Die Freier singen immer seltener ihre Ständchen vor der Tür (die früher deshalb verschlossen blieb, weil die Frau die Freier abwies), was mit einem kurzen Zitat aus einem solchen traditionellen Freier-Lied, einem Paraklausithyron, untermalt wird (Vv. 8f.): »Während ich, der deinige, mich in langen Nächten verzehre, Lydia, schläfst du?« Das Sprecher-Ich lässt also einen anderen Mann oder sich selbst in der Rolle des exclusus amator die Frau als Lydia anreden. Damit evoziert er eine vertraute Situation, die sich offenbar wiederholt, nun allerdings bereits seltener wird und somit eher als ein Ereignis der Vergangenheit dargestellt wird. Durch diese Kombination von zwei Zeitebenen wird ein Kontrast zwischen der jungen und begehrten und der nun älter werdenden Frau erzeugt, der im Folgenden durch eine weitere Zeitebene noch verdeutlicht wird: Der Sprecher prophezeit der Frau, dass sie einmal diejenige sein werde, die sich um die Freier bemüht, die ihrerseits abweisend reagieren würden. Die Situation wird also genau umgekehrt sein (V. 9: in vicem), die Frau wird in einsamen Gassen in stürmischer und mondloser Nacht genau diese Männer suchen. Die normale Rollenzuteilung wird also pervertiert. Die Frau, die zuvor den Trieb der Männer professionell befriedigt hat, wird selbst getrieben von einer wilden Lust »in der Gegend der verwundeten Leber« (circa iecur ulcerosum) – gemäß der antiken Biologie der Sitz der sexuellen Begierde –, wie sie auch rossige Stuten umher treibt (Vv. 9–15).32 Sie wird in dieser hämischen Prolepse also zur Straßendirne, die sogar bei Sturmwetter auf Kundschaft wartet und dabei den Neumond (Vv. 11f.: interlunia) nutzt, um ihr unvorteilhaft gewordenes Äußeres verbergen zu können. Ihre Lüsternheit wird als biologisches und auch zoologisch dokumentiertes Phänomen dargestellt und damit versachlicht, aber auch entmenschlicht. Die Frau wird geradezu auf ihren Trieb reduziert. Horaz rekurriert hier einerseits auf die Topoi der Liebeselegie, die das Sprecher-Ich öfter als elegischen Liebhaber auf der Schwelle der Geliebten schmachten lässt. Andererseits greift er das bereits in der griechischen Lyrik, in der Komödie und dem Epigramm prominente Motiv der alternden Hetäre auf, die ihren früheren Hochmut gegen-

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Zur Leber als Sitz der sexuellen Begierde vgl. Theokr. 11,16; 13,71; Anacreontea 31,27f.; auch Hieron. epist. 64,1,3. Dazu Adolf Kiessling / Richard Heinze, Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, erklärt von A.K., besorgt von R.H., Berlin 131968, S. 69 (zu c. 1,13,4); Robin G. M. Nisbet / Margaret Hubbard, A Commentary on Horace: Odes Book 1, Oxford 21998, S. 172f. Zum ›Liebesrasen‹ der Stuten vgl. Verg. georg. 3,266; Aristot. hist. an. 6,21 (hippomanein).

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über ihren zahlreichen Verehrern nun dadurch büßt, dass sie sich jetzt selbst und dabei erfolglos bemühen muss, ihr sexuelles Verlangen zu stillen. Die Spannung zwischen schwindender Attraktivität und ungestilltem und dadurch umso größerem sexuellen Begehren gilt auch für den alternden Mann als Problem.33 Doch durch die Inversion der Normalität und die ungewohnte Situation, die sich für die ehemals begehrte und hochmütige Frau ergibt, bietet das Motiv hier die Möglichkeit, den Spott gegen die Frau zu potenzieren: Der vormals abgewiesene Mann ist nun selbst in der Situation oder wird es – wie in c. 1,25 – bald sein, sie abweisen zu können. Der erotische Machtdiskurs wird mit verteilten Rollen nochmals durchgespielt. Horaz’ Sprecher-Ich stellt der Frau in c. 1,25 eine sexuelle Gier und einen gleichsam tierischen Trieb in Aussicht, mit denen sie sowohl den traditionell leidenden elegischen Liebhaber wie auch den alternden Gigolo bei weitem übertrifft – zumindest legen dies der ungewohnte Realismus34 und der Rekurs auf das biologische Wissen von der Leber als Sitz der Sexualhormone nahe. Das Verhältnis des Sprecher-Ichs zum angeredeten Du wird in dem Gedicht nicht explizit definiert. Die Frau wird durch das Zitat des exclusus amator als Lydia identifizierbar, sie erhält also nur durch die indirekte Anrede einen Namen. Als Leser/in des ganzen Gedichtbuchs mag man die Frau auch mit der in c. 1,8 und 1,13 angesprochenen, dort aber offenbar noch jungen Lydia gleichsetzen, die einen Sybaris verführt und damit von einem ernsten Leben abbringt (c. 1,8) und die den Sprecher mit ihrer Schwärmerei für Telephus zur Eifersucht treibt (c. 1,13), so dass ihm »die Leber schwillt« (V. 4). Wenn man das Lesen der Gedichte in der vom Gedichtbuch bzw. der Sammlung der drei Gedichtbücher implizierten Reihenfolge voraussetzt, kann man Lydia auch in c. 3,9 wieder erkennen, wo sie und ein männlicher Sprecher sich im Dialog gegenseitig ihre dauerhafte Liebe beteuern. Der Bezug auf die Schilderung der aus Eifersucht geschwollenen Leber erlaubt es, die Sprechsituation im vorliegenden c. 1,25 so zu deuten, dass das männliche Ich die Frau mit den Topoi der Vetula-Skoptik auf die Situation hinweisen will, dass sie selbst einmal die Verschmähte und Getriebene sein werde. Lydia wäre dann durchaus noch als junge Frau zu denken, die immer noch – gerade auch vom Sprecher-Ich – begehrt wird und die durch die Prophezeiung der Einsamkeit im Alter über-

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Siehe oben Abschnitt 4. Nach Kiessling / Heinze, Oden und Epoden, S. 111 und Antonio La Penna, »Tre poesie espressionistiche di Orazio«, Belfagor, 18 (1963), S. 187–193 = »Espressionismo di Orazio«, in: ders., Saggi e studi su Orazio, Firenze 1993, S. 298–314.

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redet werden soll, den Sprecher als Liebhaber zuzulassen.35 Doch weder der Name noch die Konstruktion der Geschichte einer Beziehung vermag der Frau eine Individualität zu geben.36 Angesprochen ist jede Frau, die sich in jugendlichem Hochmut den Männern überlegen fühlt. Thema ist nicht die individuelle Situation des Sprechers und der Frau namens Lydia, sondern die Folgen, denen eine Frau, die werbende Männer abweist, ausgesetzt ist, wenn sie an Attraktivität verliert. Verhandelt wird dabei auch die Frage von Über- und Unterlegenheit von Partner und Partnerin in einer erotischen Beziehung. Wenn im ›Normalfall‹ der Mann um die Frau wirbt, ist sie in der Position, dass sie ihn abweisen und dadurch leiden lassen kann, was im Zitat des Paraklausithyrons zum Ausdruck kommt (V. 7: me … pereunte). Doch dadurch, dass das – vielleicht noch unterlegene – männliche Sprecher-Ich der – vielleicht noch überlegenen – Frau die Inversion der Situation voraussagt bzw. sie ihr herbei wünscht, stellt er sich auf die Position des Überlegenen und postuliert den Machtverlust der Frau. Die Macht des Sexualtriebs, der vorher den Mann gezwungen hat, sich ihr zu unterwerfen, macht nun sie zur Unterworfenen. Die ›normale‹ Rollenverteilung zwischen dem Mann als dem physisch und sozial Stärkeren und der Frau als der jeweils Schwächeren ergibt sich aus der Anomalie des Zustands der lüsternen alten Frau gegenüber dem abweisenden jungen Mann. Das Gedicht nimmt zum Schluss jedoch eine neue Wendung: Horaz legt der Frau in der ihr prophezeiten – oder herbei gewünschten – Szene, in der sie nachts einsam durch die Gassen zieht und weint, eine Klage in den Mund (V. 16: non sine questu): Die Jugend erfreue sich mehr am grünenden Efeu und an der dunkelfarbigen Myrte37 und übergebe die trockenen Blätter dem Ostwind, dem Gefährten des Winters. Mit der Pflanzenmetaphorik werden zwei Erfahrungen illustriert: dass junge Menschen junge Partner/innen vorziehen und dass sie ältere

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Dass die angesprochene Frau (Lydia) durchaus noch in jugendlichem Alter sei, betont auch William S. Anderson, »The Secret of Lydia’s Aging: Horace, Odes 1.25«, in W. S. A. (Hrsg.), Why Horace?, Wauconda, Ill. 1999, S. 85–91; vgl. auch Watson, »Horace Odes 1.23 and 1.25«, S. 73. Gegen Viktor Pöschl, »Horaz c. 1,25«, in: Justus Cobet / Rüdiger Lembach / Ada B. Neschke-Hentschke (Hrsg.), Dialogos, Fs. Harald Patzer, Wiesbaden 1975, S. 187–192, hier 190f. = Kleine Schriften I, hrsg. von Wolf-Lüder Liebermann, Heidelberg 1979, S. 192–199 = Horazische Lyrik. Interpretationen, Heidelberg 2 1991, S. 284–191. Vgl. dagegen Brian Arkins, »A Reading of Horace, Carm. 1.25«, in: Classica e Medievalia, 34 (1983), S. 161–175, hier 168–171, der von einer »sensitive exploration of la condition humaine« spricht. Zur Interpretation von magis atque im Sinne von magis et vgl. – gegen Nisbet / Hubbard, Commentary, S. 298 – Gian Carlo Giardina, »Hor. carm. I 25, 16ss.«, in: Museum Criticum, 18 (1983), S. 237–240.

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Menschen gering schätzen. Das Bild der dem Winterwind ausgesetzten trockenen Blätter rekurriert auf einen prominenten literarischen Vergleich: In Ilias 6,146-149 veranschaulicht der Lykier Glaukos den Wechsel der Generationen mit dem Bild der sprießenden und verwelkenden Blätter. Mimnermos vergleicht die Menschen mit (Blüten-) Blättern, die im Frühling nur kurz sprießen, und fährt mit einer Klage über die Vergänglichkeit der Menschen fort (Frg. 2 W.). Das Motiv findet sich auch im Kontext der Altersklagen in den Epigrammen der Anthologia Graeca: Das grüne Laub wird als Symbol der Jugend dem dürren Blattwerk als dem Symbol des Alters gegenübergestellt.38 Horaz lässt also ›Lydia‹ innerhalb ihrer Inszenierung als lüsterne Alte anhand des Naturvergleichs über die Vergänglichkeit des Menschen sinnieren und Topoi der Altersklage vorbringen, die nicht auf die spezifische Situation der alternden Frau beschränkt sind. Der Spott der VetulaSkoptik wird dadurch abgemildert und lässt, indem nun allgemein und damit geschlechtsunabhängig die menschliche Natur zum Thema gemacht wird, sogar Mitgefühl zu.39 Die Frau, die zuvor noch auf ihren Trieb reduziert schien, wird nun zum Sprachrohr des alternden Menschen überhaupt. Ihre Situation wird am Schluss verallgemeinert. Doch bleibt die Klagende ja dieselbe: Sie ist – in der Prolepse – immer noch die von ihrem unbefriedigten Sexualtrieb gequälte Alte. Die Altersklage wird ihr in der Situation, in der sie lüstern in den dunklen Gassen umher streift, in den Mund gelegt. Damit erhält die poetische und allgemein menschliche Klage auch für sie ihre Gültigkeit. Auch der fast tierische Sexualtrieb der alternden Frau wird damit als allgemein menschliches Phänomen interpretierbar. Die Denkmuster und Stereotype der Vetula-Skoptik werden aufgebrochen und geltende Meinungsnormen unterlaufen. Wenn der Rekurs auf die Topoi zunächst dem gewohnten Spott gegen die lüsterne Alte dient, so zwingt er am Schluss zur Reflexion auf die Situation des Menschen schlechthin. Jeder Mensch ist prinzipiell im Alter dem Problem des unbefriedigten Sexualtriebs ausgesetzt und kann in der Folge Gegenstand des Spotts sein. Das Schicksal der verschmähten und verachteten Alten droht nicht allein der Frau, sondern auch dem Mann. Der Machtdiskurs verläuft nicht allein innerhalb der Grenzen von biologischem und sozialem Geschlecht, sondern geschlechtsunabhängig zwischen Menschen unterschiedlichen Alters. Dadurch, dass die Reflexion auf das allgemein-menschliche Schicksal der alten Frau in den Mund gelegt wird, wird ihr sogar eine Position der Überlegenheit

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A.P. 5,118; 11,374,7f.; 12,234. Zum Motiv vgl Nisbet / Hubbard, Commentary, S. 299. So auch Pöschl, »Horaz c. 1,25«, S. 190.

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zugewiesen: Sie lässt mit den Topoi der Altersklage deutlich werden, dass auch das männliche Sprecher-Ich und letztlich das Lesepublikum dem Alterungsprozess unterworfen ist und so mit den Konsequenzen zu rechnen hat, unter denen sie leidet.40

6. Die Stimme der hässlichen Alten: Epode 12 Das horazische Epodenbuch enthält zwei Gedichte, die die Topoi der Vetula-Skoptik variieren: In Epode 8 verspottet ein männliches Sprecher-Ich eine offenbar reiche alte Frau gehobenen Standes, die ihm vorgeworfen habe, dass er sie sexuell nicht befriedigen könne, die dies aber durch die Hässlichkeit ihres vom Verfall gezeichneten Körpers selbst verschuldet habe. Epode 12 greift dieselbe Thematik nochmals auf.41 Hier lässt Horaz die vetula in der ganzen zweiten Gedichthälfte selbst zu Wort kommen (Vv. 14–26). Wiederum stellt sich die Frage, ob mit dieser Perspektivierung die mit den Alterstopoi der VetulaSkoptik operierenden Denkmuster reflektiert und möglicherweise hinterfragt werden: Quid tibi vis, mulier nigris dignissima barris? munera quid mihi quidve tabellas mittis nec firmo iuveni neque naris obesae? namque sagacius unus odoror 5 polypus an gravis hirsutis cubet hircus in alis quam canis acer ubi lateat sus. qui sudor vietis et quam malus undique membris crescit odor, cum pene soluto indomitam properat rabiem sedare! neque illi 10 iam manet umida creta colorque stercore fucatus crocodili iamque subando tenta cubilia tectaque rumpit. vel mea cum saevis agitat fastidia verbis: ›Inachia langues minus ac me; 15 Inachiam ter nocte potes, mihi semper ad unum mollis opus. pereat male quae te Lesbia quaerenti taurum monstravit inertem.

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Vgl. hierzu c. 4,13, wo das Sprecher-Ich sich selbst in den Spott der Vetula-Skoptik einbezieht (V. 20). Die Gedichte wurden wegen ihrer obszönen Thematik im 19. und noch im 20. Jh. öfter aus den (auch kritischen!) Editionen und Kommentaren ausgeschlossen. Dazu Henderson, »Horace talks rough and dirty«, S. 9. Als Allegorie auf den altertümlichen literarischen Stil, den der Dichter verabscheut, interpretiert die alte Frau Dee L. Clayman, »Horace’s Epodes VIII and XII: More than Clever Obscenity?«, in: Classical World, 69 (1975), S. 55–61.

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cum mihi Cous adesset Amyntas, cuius in indomito constantior inguine nervos quam nova collibus arbor inhaeret. muricibus Tyriis iteratae vellera lanae cui properabantur? tibi nempe, ne foret aequalis inter conviva magis quem diligeret mulier sua quam te. o ego non felix, quam tu fugis ut pavet acris agna lupos capreaeque leones! Was willst du denn, Weib, die du am besten zu schwarzen Elefanten passt? Geschenke für mich? Briefe schickst du mir? Ich bin weder ein starker Mann noch ist meine Nase verstopft. Ich kann ja schärfer schnüffeln, ob ein Polyp oder ein beizender Bock haust im Gestrüpp der Achseln, als ein scharfer Hund, wo die Sau steckt. Welch ein Schweiß! Wie allenthalben den verrunzelten Gliedern übler Geruch entströmt, wenn sie am schlaffen Schwanz sich müht, die ungezähmte Gier zu stillen, und nicht mehr will ihr die feucht gewordene Schminke haften, nicht die Farbe, mit Krokodilsmist angemacht. In ihrer Geilheit bricht sie entzwei Matratzen und Bettgestell. Oder aber sie schilt meinen Ekel mit heftigen Worten: »Bei der Inachia bist du doch weniger schlaff als bei mir! Inachia kannst du dreimal pro Nacht, bei mir bist du für eine einzige Nummer zu schlapp! Zur Hölle jene, die dich Schlappschwanz mir gezeigt, als einen Stier ich suchte, diese Lesbia! Hatte ich doch Amyntas aus Kos noch bei mir, in dessen ungezähmtem Schoß das Glied viel fester als ein Baum auf Hügeln haftet. Die Tücher aus der im tyrischen Purpur mehrfach gefärbten Wolle, wem wurden sie wohl so eifrig bereitet? Dir, damit nicht unter deinen Kumpanen ein Gast sei, den mehr seine Dame liebte als die deine dich. O ich Unglückliche! Du fliehst mich, so wie fürchtet die Wölfe ein Lamm, wie die Rehe den Löwen.

Mit der Frage »Was willst du für dich, Weib?« (quid tibi vis, mulier?) eröffnet das Sprecher-Ich die Anrede und schreibt damit der Frau ein bestimmtes Anliegen in eigener Sache zu. Im selben Atemzug (bzw. Vers) wird sie als »schwarzen Elefanten würdig« angesprochen (nigris dignissima barris), was gemäß antiker Vorstellung nicht nur an ein hässliches Äußeres, sondern auch an gewaltiges sexuelles Begehren denken lässt.42 Die Rolle des männlichen Ichs wird im Folgenden als die des von dieser Frau umworbenen Liebhabers gezeichnet, der von ihr

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Vgl. Viktor Graßmann, Die erotischen Epoden des Horaz. Literarischer Hintergrund und sprachliche Tradition, München 1966, S. 71; Mankin, Horace. Epodes, S. 206.

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Geschenke und Briefe erhält (V. 2), aber von ihrem widerlichen Geruch abgestoßen wird. Ein kurzer Vermerk zu Beginn, dass er selbst »kein starker Mann« sei (V. 3: nec firmo iuveni), und die Beschreibung der Frau – nun in der dritten Person –, die sich gierig am schlaffen Glied des Mannes abmüht, während ihr die Schminke am Körper herunter läuft, suggerieren eine ähnliche Situation wie in Epode 8: Die Hässlichkeit der Frau beeinträchtigt die Potenz des Mannes. Durch die Merkmale der runzligen Haut (V. 7) und der übermäßig aufgetragenen Schminke (Vv. 10f.) wird das abstoßende Äußere an ihrem Alter fest gemacht. Gegenüber stehen sich also der Sprecher, der sich als junger Mann bezeichnet (V. 3), und eine alte Frau; ihre Beziehung zueinander ist die des offenbar käuflichen Liebhabers, also eines Call-Boys,43 und der vermögenden alten ›Dame‹, die ihn mit Geschenken und Briefen umwirbt. Die traditionellen Rollenbilder sind von Anfang an vertauscht: Die Frau ist dem Mann in Bezug auf die ökonomische und damit soziale Position überlegen. Hinzu kommt, dass seine Manneskraft versagt, dass er also seine Aufgabe, für die er bezahlt wird, nicht erfüllt. Die Vetula-Skoptik hat somit die Funktion, die Verantwortung für die physische Schwäche des Mannes der Frau zuzuschieben und seine Überlegenheit über die Frau wieder herzustellen.44 Nach der Ansprache an das weibliche Du (Vv. 1–6) und der Beschreibung der Frau in der dritten Person (Vv. 7–13) geht der Text in die Rede der Frau in Form einer Ansprache an das männliche Du über (Vv. 14–26). Das Objekt des Spottes erhält somit innerhalb der Darstellung des männlichen Spötters eine Stimme.45 Sie wirft ihm sein sexuelles Versagen vor, das sie durch den Verweis auf seine Potenz bei einer anderen Frau zwar relativiert; doch entkräftet sie den Gedanken, dass die Ursache für seine Schlaffheit bei ihr selbst liegen könne, damit, dass sie seiner Schlaffheit und Unfähigkeit (Vv. 16f.: mollis bzw. iners) die beeindruckende Gestalt des Gliedes des jungen Amyntas entgegen hält (Vv. 18–20). Sie verflucht die Zuhälterin, die ihr, obwohl sie Amyntas noch als Liebhaber hatte, dann aber »einen Stier« suchte, den Angeredeten als neuen Liebhaber besorgte (Vv. 16–18). Durch diese Aussage bleibt die Frage offen, wer in diesem Machtdiskurs der sexuellen Potenz bzw. Attraktivität der oder die Überlegene ist. Das Ver-

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Noch deutlicher wird dies in Vv. 16f. Vgl. dazu oben Anm. 16. Nach Gerrit Kloss, »Explizite und implizite Zeitstruktur in drei horazischen Epoden (5, 12, 17)«, in: Lexis, 18 (2000), S. 223–241, hier 223–227, soll man sich die Sprechsituation so vorstellen, dass das männliche Ich einen Brief der vetula vorliest. Die Möglichkeit einer solchen Präzisierung der Vorstellung ist jedoch im Text nicht gegeben; die Präzisierung scheint mir allerdings auch nicht nötig.

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ständnis für sein Versagen, für das der Sprecher mit der Beschreibung der geilen und hässlichen Alten im ersten Teil des Gedichtes wirbt, wird dadurch untergraben, dass er nun eindeutig in der Rolle des männlichen Prostituierten gezeichnet wird: Er ist die Beziehung mit der Alten ja offenbar von sich aus eingegangen, die so abstoßend nicht sein kann, da andere ihrer Verpflichtung, die sie ebenfalls gegen Bezahlung eingegangen sind, nachkommen konnten. In ökonomischer Hinsicht ist sie jedenfalls den Männern überlegen. Auch in der Fortsetzung der Rede, die der Spötter der Frau in den Mund legt, wird der Spott konterkariert: Sie versichert ihm, dass die in Purpur mehrfach eingefärbten – also teuren – Wollstoffe nur für ihn gefertigt wurden, damit beim Symposion kein anderer Mann sei, den seine »Frau« (mulier) mehr liebe als sie, die zitierte Sprecherin, ihn, der sie zitiert (Vv. 21–24). Auch wenn das Zitat natürlich deutlich machen soll, dass die Frau die für den weiblichen Part ungewohnte Rolle der Werbenden übernimmt und damit gegen die gesellschaftlichen Normen verstößt, dass sie sich zudem mit ihrem Liebhaber in der Gesellschaft hervortun will, evoziert die Darstellung ihrer Bemühungen um ihn nicht allein Spott. Ihr verzweifeltes Werben und die Anrufungen an ihn im hymnischen Du-Stil (cui …? tibi, …ne …magis …quam te) lassen sie hier eher als ›over-protecting mother‹ denn als lüsterne Vettel erscheinen. Zudem spricht sie hier nicht mehr von ihrem sexuellen Begehren, sondern von unerotischer Liebe (V. 24: diligere). Sie beschließt ihre Rede mit einem Ausruf der Klage (V. 25: o ego non felix): Er, der erneut mit betontem »Du« angerufen wird, fliehe vor ihr (tu fugis). Diese Gegenüberstellung von ego und tu wird mit einem Tiervergleich verdeutlicht: Er flieht vor ihr wie das (weibliche) Lamm (agna) vor den Wölfen und die Rehe vor den Löwen (Vv. 25f.). Ihr Verhältnis zu dem Mann ist das eines Raubtieres zu einem Beutetier, des Verfolgers zu einer Verfolgten. Damit greift sie auf den Topos der »erotischen Jagd« zurück, der die Situation illustrieren soll, in der ein Mann sich vergeblich um eine Frau bemüht.46 Der Vergleich macht zum einen deutlich, dass sie in der Beziehung den aktiven und dominanten Part spielt, dass also die Rollen vertauscht sind, die – wie die Tierbeispiele zeigen – die Natur den Geschlechtern zuweist.47 Im Kontext ihrer Klage (o ego infelix) ist er zudem als Versuch zu verstehen, die eigene Situation und die Reaktion des Mannes zu analysieren. Sie interpretiert jedoch den Eindruck, den sie auf ihn macht, insofern falsch,

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Dazu Mankin, Horace. Epodes, S. 213; Watson, Commentary, S. 415. Vgl. auch Hor. c. 1,23,1 und 9f. Dazu Watson, »Horace’s Epodes«, S. 193.

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als er sie im ersten Teil mit ganz anderen Tieren verglichen hat als mit Wölfen und Löwen (V. 1: mit schwarzen Elefanten, in Vv. 5f. vergleicht er sich, der den Geruch von Polypen oder Ziegenbock in ihren Achseln riecht, mit einem Hund, der eine Sau erschnüffelt). Sie versteht also sein Verhalten, mit dem er den Kontakt zu vermeiden versucht, als Furcht, nicht als Ekel (vgl. V. 13: fastidia). Mit diesem Trugschluss endet das Gedicht. Da es sich um ein Zitat aus dem Mund des Spötters handelt, ist auch der Abbruch der Rede als Teil seines Spotts zu verstehen:48 Er stellt sie zum einen mit ihrer Selbstbezichtigung als Raubtier und zum anderen mit ihrer naiven Täuschung bloß. Wiederum enthält der Text aber auch Signale, die Mitleid hervorrufen: Der Topos der erotischen Jagd macht ihre Klage zur Liebespoesie, in der sie die Rolle des unglücklich Liebenden spielt, der nicht Objekt des Spotts, sondern des verständnisvollen Mitgefühls sein soll. Der Gedichtschluss eröffnet also – wie in c. 1,25 – die Möglichkeit der Reflexion auf die Situation der alternden Frau, die an den Folgen der fehlenden Attraktivität, der Vereinsamung, leidet. Dadurch, dass die Topoi der Vetula-Skoptik am Ende durch den Topos der erotischen Jagd abgelöst werden, dass also die literarische und stilistische Ebene gewechselt wird, lädt der Text dazu ein, den Spott auch im Kontext der Liebesklage zu lesen. Im Mund der alten Frau wird daraus eine Altersklage: Ihr Alter zwingt sie dazu, die werbende, also männliche Rolle zu übernehmen, doch auch in dieser scheitert sie. Da aber der Misserfolg mit dem Topos der Liebesjagd traditionell werbenden Männern zugeschrieben wird, wird ihre Erfahrung von der geschlechtsspezifischen Situation gelöst und verallgemeinert.49 Der Spötter räumt der alten Frau also die Möglichkeit ein, ihr Leid auf einer allgemeinen Ebene zu reflektieren. Er schließt sich damit selbst in seinen Spott mit ein. Er befindet sich ja selbst in der Lage, dass er eine Beziehung zu der alten Frau eingehen musste, die ihn mit Geschenken aushält (Vv. 2 und 21f.). Er hat sich selbst in die Situation begeben, dass er von ihr nicht nur als »schlaff« (V. 16: mollis), sondern auch als »Lamm« und als »Reh« wahrgenommen, also in die weibliche

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So Richlin, Garden, S. 112; Graßmann, Die erotischen Epoden, S. 85 spricht sogar von »drastischer Komik«. Die zitierte Rede gibt also nicht allein die weibliche Perspektive wieder (so Cokayne, Experiencing Old Age, S. 141), sondern die Perspektive des alternden Menschen mit sexuellen Bedürfnissen. Graßmann, Die erotischen Epoden, S. 57f. und 90 sieht in epod. 12 die »sittliche Entrüstung« des historischen Autors über die »Unsitte, für Geld selbst eine vetula in Kauf zu nehmen« und schreibt damit die antike Tendenz der Tabuisierung der Realität fort. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Carol C. Esler, »Horace’s Old Girls: Evolution of a Topos«, in: Thomas M. Falkner / Judith de Luce (Hrsg.), Old Age in Greek and Latin Literature, New York 1989, S. 172–182.

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Rolle gedrängt wird. Er wird damit selbst als Randfigur der Gesellschaft identifizierbar.50 Beide Figuren verstoßen gegen die geschlechtsspezifischen Normen: Der junge Mann und die alte Frau tauschen die ihrem Geschlecht je zugewiesenen Rollen des Freiers und der Umworbenen; er tut dies offenbar aus finanzieller Not, sie infolge des altersbedingten Verlusts ihrer erotischen Attraktivität. Ihr Normverstoß wird dadurch relativierbar: Nicht nur die alte Frau, sondern auch der junge Mann ist gezwungen, die Normgrenzen zu überschreiten.

7. Alter und Eros: Zum Reflexionspotential der Alterstopoi in der horazischen Lyrik Alter und Erotik sind zwei Gegenstandsbereiche, die die antike Literatur durchaus miteinander verbindet, nicht ohne die Problematik ihrer Schnittstellen und Überschneidungen herauszustellen. Das Thema ›Liebe im Alter‹ bleibt jedoch der Paränese, der männlichen Altersklage und der Invektive vorbehalten und wird durch den Rekurs auf Topoi, d.h. Denkmuster und Stereotype, stark schematisiert, mithin auch entproblematisiert. Die Alterstopoi haben also den Effekt, dass die Brisanz der Kombination der beiden Themenbereiche abgemildert wird: Die Aktivierung habitualisierter Denkmuster erlaubt es, die Problematik literarisch zu verorten und damit Distanz zu schaffen. Horaz’ Invektiven gegen alternde Frauen arbeiten mit den üblichen Topoi und dadurch mit der Möglichkeit der Distanznahme. Sie enthalten jedoch – innerhalb stark schematisierter Sprechsituationen und damit hinter den literarischen Konventionen gleichsam versteckt – Angebote, die Denkmuster aufzubrechen, indem Topoi anders kombiniert und neu kontextualisiert werden. Der Rekurs auf die Topoi aktiviert zwar durchaus habituelle Vorstellungen; deren argumentative Kraft wird aber nicht allein im Dienst der Invektive, sondern auch der Altersklage eingesetzt. Inszeniert wird diese argumentative Volte dadurch, dass dem Objekt des Spotts, der Figur der lüsternen Alten, eine Stimme gegeben wird. Die alte Frau erhält damit Gelegenheit, ihr Verhalten, das dem Schema der Vetula-Skoptik entspricht, aus der Perspektive des Opfers zu kommentieren. In beiden Gedichten lässt Horaz die Frauen Topoi aus einem anderen Bereich anführen: den Vergleich der Menschen mit Blättern, der seit der Ilias die Vergänglichkeit des Menschenlebens versinnbildlicht, und den Topos der Liebesjagd, der mit Tiervergleichen das Verhältnis zwischen hartnäckigem

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Dies hebt allein Watson, »Horace’s Epodes«, hervor. Vgl. auch Mart. 9,80.

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Freier und unwilliger Geliebten illustriert. Die Frauen machen damit deutlich, dass die Scheidung von Alter und Eros nicht nur als eine weibliche Problematik, sondern als Naturphänomen und anthropologische Konstante wahrgenommen werden soll.

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»Wird auch kahl sein mein Haupt« Alterstopoi in Lukians Alexander oder der Lügenprophet und in der Apologie des Apuleius This paper considers the pragmatic use of topoi of aging in two texts belonging to the so-called Second Sophistic. The satirist Lucian uses such topoi to create – more performatively than argumentatively – distance between the text’s firstperson narrative voice, the Epicurean Lucian, and his opponent, the prophet Alexander; as well as between the self-image staged by Alexander and his ›actual‹ being. Alexander hides his advanced age with a wig. Through his authorial power, the narrator can offer a view behind the façade, revealing the discrepancy between true and feigned age and thus unmasking false prophecy. In Apuleius’ oration Pro se de magia, the first-person speaker uses the linguistic staging of his habitus corporis to defend himself not only against the charge of having forced his wife to marry him through his magic, but also against that of clearly being too young for her. He has his persona play to the gallery as both an ascetic and urbane philosopher. The speakers and narrators of both texts make purposeful use of the polyvalence of topoi, the diverse codification of the age-determined habitus corporis in philosophical and cultic discourses, as well as those specific to different sorts of text. In this manner space emerges for a new arrangement: the texts negotiate the authority of a new type of religious and philosophical expert.

1. Einleitung Eine der zentralen Aussagen, die der Sprecher Cato zu Beginn von Ciceros Schrift Cato maior de senectute trifft, ist diejenige, dass es für einen philosophisch Gebildeten unangemessen sei, die von der Natur vorgesehenen Veränderungen, die das Altern mit sich bringt, nicht anzunehmen, sondern zu bekämpfen. Er verwendet zur Illustration seiner Aussage ein Bild aus der Mythologie: Ein Mensch, der sich gegen das Alter stemmt, sei wie ein Gigant, der mit Göttern kämpfe – er engagiere sich in einem aussichtslosen Kampf.1

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Der Titel des Aufsatzes wandelt Solon Frg. 22,7 Diehl in der Übersetzung von Hartwin Brandt ab: »Wird auch silbern mein Haar, lern’ ich doch immer noch vieles«. Dieses

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Es war und ist in der Tat nicht nur laut Ciceros Traktat de senectute eine der großen Herausforderungen, die das Leben an einen weisen Mann stellt, in Würde zu altern. Ein ehrenhaft verbrachtes Alter – die honesta senectus – erfordert auch den angemessenen Umgang mit den physischen Veränderungen, die mit dem Altern einhergehen. Juvenal zählt in der vernichtenden Alterscharakteristik seiner zehnten Satire folgende Merkmale dazu: die Falten, die zitternde Stimme, die gleichermaßen zitternden Glieder, die fehlenden Zähne, die triefende Nase und nicht zuletzt die Kahlheit.2 Aus der Perspektive der Medizin betrachtet wurde das körperliche Altern als ein Prozess der Auskühlung und Austrocknung beziehungsweise des Sichanstauens von Flüssigkeit verstanden.3 Gegen die Symptome dieses Prozesses anzukämpfen, indem man sich bewegte und einer bestimmten Diät folgte, hält auch der in der Schrift Ciceros spre-

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Fragment ist auch titelgebend für Hartwin Brandts Monographie Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike, München 2002. Cic. Cato 5: quid est enim aliud Gigantum modo bellare cum dis nisi naturae repugnare? »Was hieße es denn anderes, nach Gigantenart mit Göttern zu kämpfen, als der Natur zu widerstreiten?« Die hier und im Folgenden zitierten Texte stammen aus: Marcus Tullius Cicero, De re publica, De legibus, Cato maior de senectute, Laelius de amicitia, hrsg. von John G. F. Powell, Oxford 2006 (Oxford Classical Texts). Die Übersetzung wurde übernommen aus: Marcus Tullius Cicero, Cato maior de senectute. Cato der Ältere über das Alter. Lateinisch-deutsch, übersetzt und hrsg. von Harald Merklin, Stuttgart 1998 (Reclam Universalbibliothek 803). Juv. 10, 190–200: sed quam continuis et quantis longa senectus / plena malis! deformem et taetrum ante omnia vultum / dissimilemque sui; deformem pro cute pellem / pendentesque genas et tales aspice rugas, / quales, umbriferos ubi pandit Tabraca saltus, / in vetula scalpit iam mater simia bucca. / plurima sunt iuvenum discrimina: pulchrior ille / hoc atque ore alio; multum hic robustior illo. / una secum facies: cum voce trementia membra / et iam leve caput madidique infantia nasi./ frangendus misero gingiva panis inermi. »Doch wie sehr ist mit andauernden, großen Übeln ein langes / Alter erfüllt! Vor allem das häßliche, scheußliche und / sich selbst unähnliche Gesicht, das häßliche Fell anstelle / einer Haut sieh dir an, die hängenden Backen und derartige Falten, wie sie dort, wo Thabraca seine schattenspendenden Bergwälder / ausdehnt, sich die Affenmutter in die ältliche Backe kratzt. / Vielerlei Unterschiede bestehen bei jungen Männern; dieser ist / schöner als jener und hat ein anderes Gesicht, viel kräftiger ist dieser als jener: / einheitlich ist das Gesicht der Greise, samt der Stimme zittern die Glieder, der Kopf ist schon glatt, die Nase trieft wie bei Säuglingen, / zerkauen muß der Arme das Brot mit unbewehrtem Kiefer.« Der lateinische Text ist zitiert nach: Iuvenalis, Saturae, hrsg. von James A. Willis, Stuttgart, Leipzig 1997 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Die Übersetzung ist weitgehend übernommen aus: Juvenal, Satiren. Lateinisch-deutsch, hrsg., übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joachim Adamietz, Zürich 1993 (Sammlung Tusculum). Vgl. dazu unter anderem Georg Wöhrle, »Der alte Mensch im Spiegel der Medizin«, in: Elisabeth Hermann-Otto (Hrsg.), Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart, St. Ingbert 2004, S. 19–31; Manfred Horstmanshoff, »Alter«, in: Karl-Heinz Leven (Hrsg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, Sp. 32–33 und den Beitrag von Florian Steger in diesem Band.

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chende Cato für durchaus erforderlich und angemessen. Gleiches gilt für den Sprecher in Plutarchs Abhandlung An seni res publica gerenda sit.4 Der richtige Umgang mit einem besonders deutlich sichtbaren Anzeichen des Alters gerade bei Männern, nämlich dem Haarausfall und der daraus resultierenden Kahlheit, wird in der Schrift Ciceros und auch von Plutarch nicht explizit behandelt. Es ist aber impliziert und wird darüber hinaus – im Falle Ciceros – auch anhand von republikanischen Porträts deutlich, dass eine hohe Stirn bei einem in Würde Gealterten positiv besetzt sein konnte.5 Insbesondere der noch verbleibende silberne Haarkranz wird topisch als ein Diadem bezeichnet, das das Alter krönt und seinen Anspruch auf Regentschaft versinnbildlicht.6 In diesem Beitrag wird es um die Beschaffenheit des Haupthaares und die Kahlheit im Kontext anderer Schriften gehen – und in einem abstrakteren Sinne um die Pragmatik von Alterstopoi in Auseinandersetzungen um die Legitimität religiöser und philosophischer Experten. Als Ausgangspunkt wird eine Schrift des Lukian von Samosata dienen, die den Titel Alexander oder der Lügenprophet trägt. Darüber hinaus wird die Gerichtsrede des Apuleius von Madaura Pro se de magia als Beispiel herangezogen werden, in der dieser sich gegen den Vorwurf verteidigt, ein Magier zu sein. Bevor ich jedoch die Fragestellung präzisiere und mich diesen Texten widme, wird zunächst der Toposbegriff und die Art und Weise, wie er im Folgenden verwendet wird, umrissen.7

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Cic. Cato 11, 35–36: Resistendum, Laeli et Scipio, senectuti est, eiusque vitia diligentia compensanda sunt; pugnandum tamquam contra morbum sic contra senectutem: habenda ratio valetudinis, utendum exercitationibus modicis, tantum cibi et potionis adhibendum, ut reficiantur vires, non opprimantur. »Man muß sich der Vergreisung widersetzen, Laelius und Scipio, und ihre Gebrechen durch Umsicht ausgleichen. Man muß gegen das Alter wie gegen eine Krankheit kämpfen; (36) man muß gesundheitliche Rücksichten nehmen und sich maßvollen Übungen unterziehen; man sollte so viel essen und trinken, daß man seine Kraft stärkt und nicht belastet«. In der Abhandlung An seni res publica gerenda sit empfiehlt der Sprecher Plutarch ebenfalls, seine Kräfte dem Alter entsprechend zu stärken. Wenn auch die Körper nicht mehr dazu in der Lage seien, den Diskus zu werfen oder in Rüstung zu kämpfen, so sollte man auch nicht bei körperlicher Inaktivität auskühlen. Er empfiehlt vielmehr leichte körperliche Ertüchtigungen wie Schaukeln und Gehen, leichtes Ballspiel und Konversation; dabei würde der Atem beschleunigt und die Körperwärme wieder belebt, Plutarch, an seni resp. ger. 793 B. Vgl. dazu Brandt, Silbern, S. 137–150, hier S. 149: »Betonung eines würdevollen bürgerlichen habitus«. Z.B. Plut. an seni resp. ger. 789 D. Zum silbernen Haarkranz als Diadem in der alttestamentlichen Literatur vgl. den Aufsatz von Kathrin Liess in diesem Band. Im Rahmen dieses Beitrages kann der Toposbegriff nur vereinfachend und nicht in seiner ganzen Komplexität dargestellt werden. Eine Einführung in die Rhetorik bietet: Gert Ueding / Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode,

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Äußerst vereinfachend und schematisierend gesprochen gehören die topoi beziehungsweise loci in der klassischen Rhetorik in einem formalen Sinne überwiegend in das erste Produktionsstadium der Rede, nämlich zum Finden und Erfinden des Stoffes, der inventio. Die Suchformeln, als die man die topoi/loci bezeichnen kann, sollen es ermöglichen, aus der großen Fülle an denkbaren Argumenten und Beweisen die inhaltlich relevanten auszuwählen. Der Redner kann sich grundsätzlich auf zwei Gruppen von Argumenten beziehungsweise Beweisen stützen, einerseits auf die natürlichen Beweise, probationes inartificiales, andererseits auf die kunstgemäßen, probationes artificiales. Nach Ciceros Schrift de oratore und nach Quintilian sind zur ersten Gruppe diejenigen Argumente zu zählen, die »auf vorgegebenen Tatsachen beruhen« – dies können beispielsweise Zeugnisse, Urkunden und Verträge sein.8 Die Auffindung dieser Argumente bedarf weniger der Kunst, da sie aus der Sache selbst folgen. Die kunstgemäßen Beweise hingegen müssen mithilfe der ars gefunden beziehungsweise aus Tatsachen entwickelt werden. Bei ihnen geht es eher um die »wirkungspsychologische Absicherung einer im Detail schon abgeschlossenen Sachargumentation«.9 Die systematischen Suchformeln, die loci, helfen vornehmlich beim Auffinden der kunstgemäßen Beweise. Nach Quintilian wird die gesamte Menge der Suchformeln in zwei Gruppen eingeteilt: in die loci a re, die sich aus der Sache ergebenden Fundorte, und die loci a persona, also die Qualitäten, Zustände und Akzidenzien, die die persona irgendwie betreffen (attributa personis) und als Fundorte für Argumente dienen können.10 Wiederum auf Quintilian aufbauend kann man innerhalb dieser letzten Gruppe folgende Unterteilungen vornehmen: Neben der Abstammung, der Erziehung und Ausbildung, der sozialen Stellung, der beruflichen Tätigkeit und der Wesensart, die für bestimmte Verhaltensweisen als Gründe herangezogen werden können, sind insbesondere das Geschlecht (sexus), das

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Stuttgart 2 1986; vgl. hier insbesondere S. 217–235 zu den Beweisen und ihren Fundstätten. Cic. de orat. 2,27,116; 2,24,100; entsprechend bei Quintilian: Quint. inst. 5,1,1. Zitat: Ueding / Steinbrink, Grundriss, S. 218. Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 78f. Quint. inst. 5,8,4. Vgl. zu Ciceros Behandlung der Topik in De inventione (inv. 1,34–43) Lucia Calboli Montefusco, »Die adtributa personis und die adtributa negotiis als loci der Argumentation«, in: Thomas Schirren / Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000 (Rhetorik-Forschungen 13), S. 37–50.

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Lebensalter (aetas) und der habitus corporis von großer Bedeutung.11 So können unterschiedliche Verhaltensweisen bei Männern und Frauen geschlechtsspezifisch sein, bestimmte Verhaltensweisen unter Umständen altersbedingt und auch die körperliche Beschaffenheit kann Gründe für das Verhalten einer Person geben. Die Topik kann aber nicht nur in einem formalen Sinn als Disziplin zum Auffinden von loci der Argumentation verstanden werden, sondern in einer anderen Bedeutungsvariante auch ein Inventar gesellschaftlich akzeptierter Argumente bezeichnen. Es geht bei der Topik ja – wie Knape betont – »nicht um strenge wissenschaftliche Beweise, sondern um Konsensfindung«.12 Er bezieht sich auf Bornscheuers Begriff der Habitualität der Topoi und konkretisiert: »der Textproduzent [muss] bei der Suche nach semantisch signifikanten Textbausteinen die herrschenden Kodes befragen«.13 Knape bezieht sich hier bei der Verwendung des Begriffes Kode auf »soziolinguistische Vorstellungen von gruppenspezifisch verankerten Verständigungsweisen, die entsprechend auch gruppen- bzw. kodespezifische inhaltliche Komponenten transportieren«.14 Er führt im Folgenden mit Bezug auf Bornscheuer weiter aus: Solche ›leitenden Gesichtspunkte‹ sind natürlich in der Regel diskursgebunden. Teils haben sie gesamtkulturelle Reichweite, teils nur für bestimmte wichtige Wissensbereiche. Die topische ›Merkformel‹ vermittelt sich dem Einzelnen in seiner Eigenschaft als Mitglied jeweils bestimmter, durch gemeinsame Sprache, Bildung und soziales Bewusstsein typisierbarer Gruppen.15

Wie lässt sich die Fragestellung nach diesen Vorüberlegungen präzisieren? Für das Finden von Argumenten sind – wie gesehen – die attributa personis ein wichtiger Ort. Im Folgenden wird anhand von zwei Beispielen untersucht werden, wie insbesondere die Körperbeschaffenheit, der habitus corporis, und das Lebensalter, aetas, als loci argumentorum genutzt

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Vgl. dazu Ueding / Steinbrink, Grundriss, S. 220–225. Abstammung (genus, natio oder patria): Quint. inst. 5,10,24; Erziehung und Ausbildung (educatio et disciplina): inst. 5,10,25; berufliche Tätigkeit (studia): inst. 5,10,27; Wesensart (animi natura): inst. 5,10,27; Geschlecht (sexus): inst. 5,10,25; Alter (aetas): inst. 5,10,25; Körperbeschaffenheit (habitus corporis): inst. 5,10,26. Die attributa personis sind – soweit sie sich auf Qualitäten beziehen – grundsätzlich unbeschränkt, ihre Anzahl variiert daher je nach Schullehre, vgl. Calboli Montefusco, adtributa personis, S. 39f. Joachim Knape, »Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik und ihre methodologischen Implikaturen«, in: Thomas Schirren / Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000 (Rhetorik-Forschungen 13), S. 747–766, hier S. 752 mit Bezug auf Arist. top. 1,1. Bornscheuer, Topik; Knape, »Texttheoretische Betrachtungsweisen«, S. 752. Knape, »Texttheoretische Betrachtungsweisen«, S. 752 mit Anm. 26. Knape, »Texttheoretische Betrachtungsweisen«, S. 753 mit einem Zitat aus Bornscheuer, Topik, S. 103.

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und wie beide miteinander kombiniert werden können. Dies geschieht am Beispiel der körperlichen Anzeichen des Alterns und insbesondere anhand des Verhaltens, das aus der Kahlheit und anderen Veränderungen, die das Haupthaar im Zuge des Alterns erfährt, resultiert. Wie wird der ›richtige‹ oder ›falsche‹ Umgang mit diesen körperlichen Veränderungen argumentativ genutzt, welche Funktion hat er bei der Selbstdarstellung und satirischen Dekonstruktion von philosophischen und religiösen Experten? Inwiefern wird dabei auf bestimmte gruppenspezifische Kodes zurückgegriffen? Wie werden in der Argumentation Diskrepanzen zwischen verschiedenen Diskursen genutzt? Zunächst wird am Beispiel des lukianischen Alexander dem argumentativen Einsatz von Alterstopoi im Zusammenhang mit der Funktionsweise einer Satire nachgegangen, dann steht der rhetorische Text des Apuleius im Zentrum. Im Folgenden wird der Begriff Topos überwiegend in einem materialen Sinne verwendet, also zur Bezeichnung des Inhaltes eines Argumentes.

2. Lukians Alexander oder der Lügenprophet 2.1. Einführung: Demaskierung falscher Prophetie und fehlgeleitete Frömmigkeit Im letzten Abschnitt der Schrift Alexander oder der Lügenprophet beschreibt der Ich-Erzähler Lukian dem Epikureer Kelsos, seinem verehrten Freund und zugleich dem Adressaten der Darstellung, das unrühmliche Ende des Alexander von Abonuteichos mit folgenden Worten (Alex. 59–60): [59] Proeipw.n de. dia. crhsmou/ peri. auvtou/ o[ti zh/sai ei[martai auvtw|/ e;th penth,konta kai. e`kato,n, ei=ta keraunw|/ blhqe,nta avpoqanei/n, oivkti,stw| te,lei ouvde. e`bdomh,konta e;th gegonw.j avpe,qanen, w`j Podaleiri,ou ui`o.j diasapei.j to.n po,da me,cri tou/ boubw/noj kai. skwlh,kwn ze,saj, o[teper kai. evfwra,qh falakro.j w;n, pare,cwn toi/j iva troi/j evpibre,cein auvtou/ th.n kefalh.n dia. th.n ovdu,nhn, o[ ouvk a'n poih/sai evdu,nanto mh. ouvci. th/j fena,khj avfh|rhme,nhj. [60] Toiou/to te,loj th/j VAlexa,ndrou tragw|di,aj kai. au[th tou/ panto.j dra,matoj h` katastrofh. evge,neto, w`j eivka,zein pronoi,a j tino.j to. toiou/to, eiv kai. kata. tu,chn sune,bh. [59] Obwohl er durch einen Orakelspruch über sich selbst vorhergesagt hatte, dass es ihm bestimmt sei, hundertundfünfzig Jahre zu leben, dann vom Blitz getroffen zu sterben, erlitt er einen höchst jämmerlichen Tod im Alter von nicht einmal siebzig Jahren; als wäre er tatsächlich ein Sohn des

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Podaleirios, verfaulte ihm das Bein bis zum Unterleib und war von Würmern entzündet. Bei dieser Gelegenheit wurde auch entdeckt, dass er kahl war, weil er wegen der Schmerzen seinen Kopf von den Ärzten befeuchten ließ, und das konnten sie nur tun, indem sie ihm die Perücke entfernten. [60] Dies war das Ende von Alexanders Inszenierung, dies die Katastrophé des ganzen Dramas, so dass man dahinter ein Werk der Vorhersehung sehen könnte, obwohl es Zufall war.16

Am Ende seines Lebens wird dem angeblichen Propheten Alexander die Perücke abgenommen. Die ›Maske‹, die persona, die dieser sich zugelegt hat, muss entfernt werden, und zwar letztlich von ihm selbst aus von der Natur durch Krankheit erzwungenen Gründen.17 Mit dieser Demaskierung im wörtlichen Sinne ist auch das Anliegen des Erzählers der Schrift in einem Akt versinnbildlicht: Sein Bericht dient der Unterscheidung von Anspruch und Wirklichkeit, der Distanzierung von projiziertem Selbstbild und tatsächlicher Persönlichkeit, von persona und Mensch (ingenium; natura animi); er dient der Aufdeckung der Mechanismen einer Inszenierung, in der der Prophet Alexander nicht nur Hauptdarsteller, sondern zugleich auch Regisseur ist.18 Kurz gesagt: Die Schrift ist dem Anliegen jeglicher Satire verpflichtet, deren Wirkung darauf beruht, performativ Distanz herzustellen. »Satire is not a response to a prior difference« – so formuliert Bogel – »but an effort to make a difference, to create distance, between figures whom the satirist – who is one of those figures – perceives to be insufficiently distanced«.19 Worum geht es in diesem Werk? Die wahrscheinlich nach 180 n. Chr. verfasste Schrift Alexander oder der Lügenprophet beschreibt das Le-

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Text und Übersetzung übernommen aus: Lukian von Samosata, Alexandros oder der Lügenprophet. Eingeleitet, hrsg., übersetzt und erklärt von Ulrich Victor, Leiden, New York, Köln 1997 (Religions in the Graeco-Roman World 132). Als locus classicus zur philosophischen Reflexion des in der Rhetorik ausgeprägten persona-Konzeptes gilt Cic. off. 1,107–125. Vgl. zum Denken in Rollen, das sich in Texten rhetorisch geschulter Autoren findet, Therese Fuhrer, »Rollenerwartung und Rollenkonflikt in Catulls erotischer Dichtung«, in: Elke Hartmann / Udo Hartmann / Katrin Pietzner (Hrsg.), Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike, München 2007, S. 55–64, hier S. 55 mit Anm. 2. Vgl. dazu Dorothee Elm von der Osten, »Die Inszenierung des Betruges und seiner Entlarvung. Divination und ihre Kritiker in Lukians Schrift Alexander oder der Lügenprophet«, in: D. E. v. d. O. / Jörg Rüpke / Katharina Waldner (Hrsg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, Stuttgart 2006 (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 14), S. 141–157. Frederic V. Bogel, »The difference satire makes. Reading Swift’s poems«, in: Brian A. Connery / Kirk Combe (Hrsg.), Theorizing Satire: Essays in literary criticism, New York 1988, S. 43–53, hier S. 45. Siehe auch Tim Whitmarsh, Greek literature and the Roman Empire – the politics of imitation, Oxford 2001, S. 248 zur Funktion der Satire bei Lukian: »The socio-politics of satire, […] are performative not descriptive.«

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ben des Kultgründers und ersten Propheten des neuen Asklepios Glykon. Dies ist ein Orakel- und Heilgott, der möglicherweise ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. in der Hafenstadt Abonuteichos, in der Teilprovinz Pontus gelegen, kultisch verehrt wurde – so legen es zumindest numismatische, archäologische und epigraphische Zeugnisse nahe, die das lukianische Narrativ zu bestätigen scheinen.20 Die satirische Schrift, die Züge einer Schmährede trägt, stellt den jungen Alexander als einen wandernden Magier und Schüler eines Arztes dar, der seinerseits bei dem Neupythagoreer Apollonios von Tyana gelernt hatte. Alexander soll sich in seiner Jugend prostituiert und als Geliebter einer älteren Frau in Makedonien aufgehalten haben, von wo aus er auch die zahme Schlange mitgebracht habe, die schließlich als weissagender Schlangengott Glykon fungieren sollte. Der von ihm aus Habgier gegründete Kult erfreute sich, so die Erzählung, so großer Beliebtheit, zunächst regional, dann auch überregional, dass er schließlich in Rom selbst und auch im Kaiserhaus Anhänger gefunden habe.21 Der epikureisch argumentierende Ich-Erzähler, der den Namen ›Lukian‹ trägt, demaskiert mit der Autorität eines Augenzeugen, der Alexander in Abonuteichos aufgesucht und unter Lebensgefahr vor aller Augen gedemütigt habe, den Gott als eine Erfindung seines Propheten und den Kult als dessen Schöpfung. Die gesamte Schrift dient mit anderen Worten der Demaskierung falscher Prophetie und fehlgeleiteter Frömmigkeit. 2.2. Das Lebensende des Alexander: Ideal und Wirklichkeit Der Erzähler ›Lukian‹ berichtet, wie aus der oben zitierten Passage hervorgeht, Alexander habe folgende Umstände für sein Lebensende vorhergesagt: Er werde mit 150 Jahren von einem Blitzschlag getroffen sterben. Das Lebensende, das Alexander für sich selbst prophezeit, gibt in nuce wieder, welches Ideal er mit seiner für sich geschaffenen

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Vgl. zu den materialen Zeugnissen: Dorothee Elm, »6.a. Divination, Röm., D. Divination et pluralité religieuse, 1. Gründung eines Orakels: die Schlange Glykon«, in: Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum (ThesCRA), 3 (2005), S. 97f. Diese Zeugnisse sind vor dem Hintergrund des lukianischen Textes interpretiert worden, der selbst jedoch die postulierte Historizität des Orakels durch literarische Strategien zu unterlaufen scheint. Vgl. Elm von der Osten, »Inszenierung«, und Stefano Pozzi, »Sull’ attendibilità del narratore nell’ Alexander di Luciano«, in: Prometheus, 29 (2003), S. 129– 150, S. 241–258 zur Strategie, die Kompetenz und Glaubwürdigkeit des Ich-Erzählers zu hinterfragen. Zur religionsgeschichtlichen Einordnung des Kultes vgl. unter anderem Elm von der Osten, »Inszenierung«, S. 142f.

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persona verkörpern will: das eines Philosophen und Propheten, der auch heroische, ja göttliche Züge trägt. Das hohe Alter von 150 Jahren, das Alexander für sein Lebensende vorhersieht, verweist auf den Topos der Langlebigkeit großer Philosophen und Denker. In Ciceros Cato maior de senectute wird eine lange Reihe von Philosophen und Rednern genannt, die über 80 Jahre alt geworden seien.22 Die pseudolukianische Schrift Makro,bioi besteht ausschließlich aus einem Katalog langlebiger Staatslenker und Philosophen. Selbst derjenige unter den dort genannten Denkern, der das höchste Alter erreicht hat, nämlich der dem Pythagoreismus anhängende Xenophilos, stirbt jedoch bereits im 105. Lebensjahr.23 Alexanders prophezeite eineinhalb Jahrhunderte übertreffen also die lange Lebensdauer berühmter Philosophen bei weitem, ja gehen über das in der Antike für Menschen maximal denkbare Lebensalter von 120 hinaus.24 Der Topos der Langlebigkeit wird damit ins Absurde übersteigert – und in der Tat stirbt ja Alexander bereits mit weniger als der Hälfte der von ihm angestrebten Lebensjahre, er erreicht nicht einmal die siebte Dekade.25 Sein Tod ist zudem würdelos. Alexander geht weder wie die oben als exempla Genannten bei geistiger und körperlicher Gesundheit aus dem Leben, noch zu einem von ihm selbst bestimmten Zeitpunkt, wie es Lukian zum Beispiel für den Philosophen Demonax beschreibt.26 Alexander stirbt keineswegs, wie Asklepios, von einem Blitz getroffen – eine Todesart, die für die Apotheose steht.27 Würmer zerfressen ihm

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Cic. Cato 13: Platon verstarb im 81. Lebensjahr, Isokrates mit 98, Gorgias aus Leontinoi lebte sogar 107 Jahre. Ps.-Lucian. macr. 18. Zum Alter von 120 Jahren als Höchstmaß des menschlichen Lebens s. Tac. dial. 17,3; Cens. 17,4; Lact. inst. 2,12,23; 13,3 [CSEL 19,160]; Serv. Aen. 4,653. Vgl. Christian Gnilka, »Greisenalter«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, 12 (1983), Sp. 995– 1094, hier Sp. 1001. Zur 70 als rhetorischer Zahl vgl. Alois Dreizehnter, Die rhetorische Zahl. Quellenkritische Untersuchungen anhand der Zahlen 70 und 700, München 1978 (Zetemata 73), S. 70–81. Alle in Ciceros Cato maior de senectute genannten exempla führender Philosophen erfreuen sich bis ins hohe Alter hinein, ja bis zum Tod hoher Geistes- und Schaffenskraft; vgl. unter anderem Cic. Cato 23: Pythagoras, Demokrit, Platon, Xenokrates, Zenon, Kleanthes und der Stoiker Diogenes. Zum würdigen Ende des Demonax s. Lucian. Demonax 65. Als Demonax merkt, dass er sich nicht mehr selbst helfen kann, verkündet er den um ihn Seienden, der Wettkampf sei beendet. Er enthält sich von diesem Zeitpunkt an der Nahrung und geht heiter aus der Welt, so wie ihn alle, die ihn kannten, sein ganzes Leben hindurch gesehen hatten. Vgl. auch das Lebensende des Apollonios von Tyana: Philostr. VA 8,30. Vgl. auch Victor, Alexandros, zur Stelle.

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stattdessen das Bein.28 Die das eigene Lebensende betreffenden Voraussagen des ersten Propheten vom Orakel- und Heilgott Glykon erweisen sich also als hinfällig. 2.3. Alexanders Kahlheit und ihre Verdeckung mit einer Perücke Körperbeschaffenheit – habitus corporis Dem unwürdigen Tod des Alexander ging ein ebenso unwürdiges Alter voraus. Auf seinem Totenbett wird nämlich vor größerem Publikum offensichtlich, dass er kahl war und dies mit einer Perücke zu verdecken versuchte. Dieser erst jetzt – am Ende des Lebens – öffentlich zu Tage tretende Umstand ist dem Erzähler ›Lukian‹, der ja auch als Akteur in die Handlung eingreift, schon länger bekannt. Der IchErzähler kommt an mehreren Stellen des Berichtes auf die Frisur seines Gegners zu sprechen und berichtet davon, dass er selbst das Orakel befragt habe, ob Alexanders Haare echt seien. Für diejenigen, die den Betrug nicht durchschauten, schienen sie lang und voll zu sein.29 Wie lässt sich nun der Unterschied zwischen Rolle und Mensch, zwischen persona und ingenium charakterisieren, der anhand der paradigmatischen Handlung der Demaskierung zu Tage tritt? Anhand welcher Dichotomien werden Unterscheidungen getroffen? Welche Alterstopoi spielen dabei eine Rolle? Lebensalter – aetas Der Akt der Entlarvung lässt zum einen eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem vorgetäuschten Lebensalter des Alexander deutlich werden. Kahlheit kann als ein physisches Symptom des Alterns verstanden werden, das wie das ebenfalls mit ihm einhergehende Nachlassen der voluptas dankbar angenommen und nicht verdeckt werden sollte.30 Alexanders persona hingegen soll mit den künstlich langen Haaren ewige Jugendlichkeit und damit auch Virilität ver-

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Das Neue Testament berichtet davon, dass Herodes von Würmern gefressen wurde (Apg 12,23); auch beim Tod des Judas spielen Würmer eine Rolle, vgl. dazu auch Victor, Alexandros, zur Stelle. Erwähnung der Haare des Alexander: Lucian. Alex. 3, 11, 13, 53; Befragung des Orakels: Alex. 53; volles Haar: Alex. 3; langes Haar: Alex. 11, 13. Die nachlassende voluptas gilt im Alterslob topisch als begrüßenswert; Cicero weist die Klage, dass mit dem Alter auch die sinnliche Lust nachlasse, zurück – dies sei vielmehr als ein herrliches Geschenk der Natur zu verstehen (Cic. Cato 12). Dieser Gedanke findet sich auch bei christlichen Autoren (vgl. dazu Gnilka, »Greisenalter«, Sp. 1060): Clem. Alex. strom. 1,29,8: Das Greisenalter ist das Ende der törichten Lust; paed. 2,87,3: Die Neigung zum Genuss altert mit dem Körper.

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körpern. Dies verweist auf den Topos des Alters, das von den Lastern der Jugend nicht frei ist – und somit wird das puer senex-Ideal gewissermaßen auf den Kopf gestellt.31 Gender – sexus Die Tatsache, dass der Verlust der Virilität und Attraktivität nicht hingenommen, sondern mit Hilfe von Kosmetik verdeckt wird, ist ein Topos, der in der Satire zu Hause ist. »Unnachgiebigen Spott gießt vor allem Martial über alte Männer […] aus, die sich nicht mit ihrem hohen Lebensalter und den entsprechenden Begleiterscheinungen abfinden wollen.«32 So wird der alte Marinus mit folgenden Worten verspottet:33 Raros colligis hinc et hinc capillos et latum nitidae, Marine, calvae campum temporibus tegis comatis; […] calvo turpius est nihil comato. Deine spärlichen Haare suchst, Marinus, du von hier und von dort und deckst der Kahlheit leuchtend Feld mit dem kargen Haar der Schläfen; […] Nichts so schlimm als ein Kahlkopf, der frisiert ist.34

Während der Versuch, mithilfe der eigenen verbliebenen Haare die Glatze zu verdecken, der satirischen Darstellung alter Männer vorbehalten ist, ist das Tragen einer Perücke das Prärogativ der alten Frauen, die sich trotz ihres Alters noch der libido hingeben: Dentibus atque comis – nec te pudet – uteris emptis – »Laelia, Zähne und Haar – und du schämst dich nicht – hast du gekaufte« heißt es bei Martial.35 Alexander wird mithilfe des Topos der liebeslustigen Alten hier also nicht

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Zum Topos des Alters, das von den Lastern der Jugend nicht frei ist, vgl. unter anderem die Figur des senex amator in der Komödie; Jugendlaster im Greisenalter finden sich auch in der christlichen Literatur (Gnilka, »Greisenalter«, Sp. 1070; ders., Aetas spiritalis. Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens, Bonn 1972, S. 126): Hieron. ep. 125,19: Das Greisenalter ist nicht gegen Laster der Jugend gefeit; Joh. Chrys. in Hebr. hom. 7,3 [PG 63, 65]: Ein lasterhafter Greis darf nicht ge,rwn genannt werden. Zum puer senex- bzw. senex puer-Ideal vgl. unter anderem Gnilka, »Greisenalter«, Sp. 1028–1030, Sp. 1074 und auch den Beitrag von Kathrin Liess in diesem Band. Brandt, Silbern, S. 189. Mart. 10,83. Übersetzung übernommen aus Brandt, Silbern, S. 189. Mart. 12,23; Übersetzung: Brandt, Silbern, S. 190. Vgl. auch Mart. 12,7. Die Gewohnheit alter Frauen, durch Verwendung fremden Haares ihr eigenes voller erscheinen zu lassen, ist auch in christlicher Literatur verpönt (Hieron. ep. 38,3).

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nur als dem Laster hingegeben, sondern indirekt auch als effeminiert charakterisiert.36 Beschäftigung – studium Das lang wallende Haar, das sich Alexander mithilfe der Perücke aneignet, kann noch auf einer weiteren Ebene gedeutet werden. Das Abnehmen der Perücke wird als das Ende einer Inszenierung bezeichnet. Die Rolle, die der Schauspieler Alexander in ihr übernahm, machte es nicht erst im hohen Alter, sondern bereits in mittleren Jahren erforderlich, sein schon damals nicht mehr dichtes Haar durch künstliches zu verlängern und zu ergänzen. Alexander spielte – laut Ich-Erzähler ›Lukian‹ – in einer seiner Rollen einen neupythagoreischen Weisen und Wundertäter in der Nachfolge des Apollonios von Tyana. Die Anhänger des Pythagoras waren dafür berühmt, dass sie unter Berufung auf ihren Meister langes Haar trugen. Schönes, volles und lockiges Haar wird daher in den Schriften Lukians nicht ohne Ironie als eine pythagoreische Frisur bezeichnet.37 Auch Apollonios von Tyana selbst lässt sein Haar wachsen.38 Als Sprecher in Philostrats Vita verteidigt er dies mit dem Hinweis auf Empedokles, der sein Haar lang gelassen habe und mit dieser Frisur durch die Straßen Athens gegangen sei, während er Hymnen über seine Vergöttlichung sang.39 In der Schrift Lob der Kahlheit des Synesios von Kyrene wird Apollonios schließlich als Archetypus eines langhaarigen Philosophen genannt und als einzige Ausnahme in einer Galerie von bedeutenden Philosophen bezeichnet, die angeblich alle Kahlköpfe gewesen seien.40

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Zur Darstellung der liebeslustigen Alten in der Lyrik des Horaz vgl. den Beitrag von Therese Fuhrer in diesem Band. Lucian. Philops. 29,32. Philostr. VA 1,8; er soll sich mit vierzehn Jahren dazu entschlossen haben, die Haare wachsen zu lassen und fortan im Tempel zu leben. Philostr. VA, 8,17–19. Synesios von Kyrene, Lob der Kahlheit, Kapitel 6: :Exesti de. tou.j evn mousei,w| qea,sasqai pi,nakaj( tou.j Dioge,naj le,gw kai. tou.j Swkra,taj kai. tou.j ou[s tinaj bou,lei tw/n evx aivw/noj sofw/n\ falakrw/n ga.r a'n ei=nai do,xeie qe,a tron) VApollw,nioj mh. evnoclei,tw tw|/ lo,gw( mhdV ei; tij e[teroj go,hj kai. peritto.j ta. daimo,nia. »Man braucht sich nur die Bilder in einem Mouseion anzusehen, Bilder von Männern wie Diogenes und Sokrates und Bilder von all den anderen Weisen, die jemals gelebt haben; man möchte meinen, hier handle es sich um eine Galerie der Kahlköpfe. Weder Apollonios noch andere Gaukler und Hexenmeister sollen diese Aussagen Lügen strafen.« Übersetzung zitiert nach Synesios von Kyrene, Lob der Kahlheit. Griechischdeutsch, übersetzt, kommentiert und mit einem Anhang versehen von Werner Golder, Würzburg 2007.

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Darüber hinaus sind wehende lange Haare oft auch ein Kennzeichen von Ekstase – in einer solchen lässt Alexander sie wehen, als er die Ankunft des Gottes verkündet – und sie eignen sich somit auch für einen Seher oder vates, wie Artemidor in seiner Schrift über die Traumdeutung verrät.41 Auch in diesem Punkt passt also das lange Haupthaar besser zu der Rolle eines Charismatikers, die Alexander spielt, als sein mit dem Alter immer schütterer werdendes Haar, das zuletzt einer Glatze weicht.42 Soziale Stellung – conditio Die Glatze des Alexander, der für sich die Rolle des neupythagoreischen Weisen und göttliche Züge tragenden Propheten eines seine Polis aufwertenden Heil- und Orakelkultes annimmt, mag außerdem auch einen weiteren symbolischen Zug haben. Ein Schauspieler, als der er durch das Abnehmen der Perücke charakterisiert wird, unterliegt der infamia, ist von niedrigem sozialen Stand und in dieser Hinsicht auch auf einer Stufe mit den Prostituierten.43 Wesensart – natura animi Die Glatze wird darüber hinaus häufig als ein Zeichen von Knechtschaft und Sklaverei betrachtet, daneben als Symbol für die Knechtschaft gegenüber der Gier und der Wollust, die sich der Lächerlichkeit preisgibt.44 Auch auf diese Art wird also der Bogen zur Jugend des Alexander geschlagen, in der er sich angeblich prostituierte.

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Lucian. Alex. 13; Artem. onir. 1,18. Vgl. auch: Bernhard Kötting, »Haar«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, 13 (1986), Sp. 176–203, 194: »Mit ungepflegtem langen Haar liefen neben den Anhängern einiger Mysterien (Kybele) auch die Wahrsager (vates) ländlicher Kulte herum, sehr zum Verdruß christlicher Prediger (adulterinis criniculis charakterisiert sie Max. Taur. serm. 107,2 [CCL 23,421]).« Zum gepflegten langen Haar der Charismatiker vgl. auch Paul Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995, S. 242–251. Vgl. die Figur des mimus calvus im römischen Mimus. Zur negativ bewerteten Kahlköpfigkeit als Zeichen von Gier, Lust und Knechtschaft: Plut. Mor. 352c–d; Mart. 6,57; 12,28,19; Suet. Caes. 45,2; Petron. 109,8–10; in Bezug auf kahlgeschorene Isisverehrer: Mart. 12,28,19; Juv. 2,8–15; 6,532–534. Vgl. auch Werner Riess, Apuleius und die Räuber. Ein Beitrag zur historischen Kriminalitätsforschung, Stuttgart 2001, S. 332 zur Kahlheit des Erzählers und Isispriesters Lucius in den Metamorphosen des Apuleius.

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2.4. Schluss: Diskrepanzen Das Anliegen der Satire ist es, um Bogels Worte wieder aufzugreifen, performativ Distanz zwischen Figuren herzustellen, die dem Satiriker nicht ausreichend voneinander distanziert zu sein scheinen. Im Falle der Schrift Alexander oder der Lügenprophet wird diese Distanz zum einen zwischen der Figur des epikureisch argumentierenden Ich-Erzählers ›Lukian‹ und seinem Gegner Alexander hergestellt. Wichtiger jedoch ist zum anderen diejenige, die durch den Bericht des Ich-Erzählers zwischen der persona, die Alexander zu sein vorgibt, und dem Mensch, der er tatsächlich ist, geschaffen wird. Wie genau performativ Abstand hergestellt wird, konnte exemplarisch anhand des Schlusses der Schrift und des in ihm geschilderten Lebensendes des Alexander deutlich gemacht werden. Die Schilderung von physiognomisch bedeutsamen äußeren Merkmalen und der damit einhergehende Rekurs auf Alterstopoi schaffen Diskrepanzen zwischen Rolle und Person des Alexander. Die Konflikte, die zwischen der Rolle und der Person, beziehungsweise zwischen seinen verschiedenen Rollen bestehen, können zusammenfassend anhand von folgenden Gegenüberstellungen veranschaulicht werden: 1. Mithilfe des Topos der Langlebigkeit der Philosophen wird Alexanders Lebensende als unwürdig charakterisiert. Die Rolle, die Alexander als Prophet übernommen hat, erfordert ein ihr angemessenes Lebensende und darüber hinaus, dass dieses Lebensende vorhergesagt werden kann; der ›Mensch‹ Alexander stirbt jedoch unter entwürdigenden Umständen und vor allem unter anderen, als er in seiner Rolle als Prophet vorausgesagt hat. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen vorausgesagtem und tatsächlichem, zwischen heroischem und hilflosem Tod. 2. Die Rolle, die Alexander als Kultgründer und Prophet mit einer sich von Apoll ableitenden Genealogie übernommen hat, erfordert in der kultischen Fiktion charismatische Jugendlichkeit. Alexander kann diese ohne Maske jedoch nicht gewährleisten, da er sich bereits im hohen Alter befindet und die physischen Anzeichen des Alterungsprozesses sichtbar wären, wenn er sie nicht künstlich verdecken würde – er simuliert also nur, wie es Schauspieler ja bekanntlich tun. Es ergibt sich demnach eine Diskrepanz zwischen der ›Maske‹ der Jugendlichkeit und dem tatsächlichen Alter. 3. Die normative Anforderung an das Verhalten des alten Menschen Alexander bestünde darin, die physischen Anzeichen des Alters und auch das damit implizierte Nachlassen der voluptas dankbar anzunehmen und sich nicht dagegen aufzulehnen. Es besteht also eine Differenz zwischen der Rollenerwartung, der Alexander als alter Mann

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gerecht werden sollte, und der Rolle, die dieser übernimmt – man könnte diese auch als einen Inter-Rollenkonflikt bezeichnen. 4. Die Art und Weise, mit der die Person Alexander die Anzeichen seines Alters und damit das Auseinanderklaffen von ›Mensch‹ und Rolle zu verdecken sucht, nämlich indem er zu kosmetischen Mitteln greift und sich eine Perücke zulegt, lässt ihn wiederum verweichlicht und feminisiert erscheinen. Folglich lässt sich gewissermaßen eine Diskrepanz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht feststellen. 5. Das unwürdig verbrachte hohe Alter des Alexander schließt ein unwürdig verbrachtes Leben ab, wie es aufgrund des Topos, dass das hohe Alter dem vorangegangenen Leben entspreche, zu erwarten ist. Auch schon in mittleren Jahren entsprach das Äußere des ›Menschen‹ nicht dem Aussehen, das die Rolle des pythagoreischen Philosophen und Wunderheiler verlangte. Schon damals war das Haar nicht lang und dicht genug. Mit dem Entfernen der Perücke wird also ein Missverhältnis zwischen dem von der Rolle erforderten und dem tatsächlichen äußeren Erscheinungsbild offensichtlich, die auch unabhängig von der Diskrepanz von Alter und Jugend bestand. 6. Alexander ist ein Schauspieler; dies verweist auf eine Diskrepanz zwischen dem hohem Ansehen, das er in seiner Rolle genießt, und seiner eigentlich niedrigen sozialen Stellung. In Lukians Schrift Alexander oder der Lügenprophet übernimmt der IchErzähler die Rolle des Anklägers. Um den Propheten und Wunderheiler Alexander mit den Mitteln der Satire als Schauspieler zu entlarven und ihm so seine Autorität zu nehmen, rekurriert er auf viele attributa personis als loci argumentorum. Alexanders Wesensart (natura animi), sein Alter (aetas), sein biologisches beziehungsweise soziales Geschlecht (sexus), sein sozialer Status (conditio) und sein Beruf (studia) werden als loci argumentorum herangezogen. Zentral für die Argumentation sind jedoch die altersbedingte Körperbeschaffenheit, der habitus corporis, und das Verhalten, das sich aus ihr ergibt. Dabei nutzt die Satire das Potential, das die unterschiedliche Kodierung des habitus corporis – in diesem Fall der Beschaffenheit der Haare – innerhalb philosophischer, religiöser und literarischer textsortenspezifischer Diskurse bietet.

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3. Die Apologie des Apuleius 3.1. Einführung: Eine Mesalliance? In der Gerichtsrede Pro se de magia, die vermutlich um 160 n. Chr., also in einem ähnlichen Zeitrahmen wie die behandelte Schrift des Lukian entstanden ist, verteidigt sich der aus Nordafrika stammende Apuleius gegen den von seinen Anklägern vorgebrachten Vorwurf, er habe seine Frau Pudentilla, zum Zeitpunkt der Eheschließung eine reiche und enthaltsame Witwe höheren Alters, mit Hilfe der Magie zur Heirat verleitet, um an ihr nicht unbeträchtliches Vermögen zu gelangen. Für die aus der Familie seiner Frau stammenden Ankläger ist ein äußerst wichtiges Argument der große Altersunterschied, der zwischen Pudentilla und Apuleius besteht: Eine solche Verbindung könne nur aus Habgier von Apuleius angestrebt worden sein, da für ihn weder Liebe und erotisches Verlangen noch der Wunsch nach Kindern bei einer Frau jenseits der Menopause, die alle äußeren Anzeichen des Alters aufweise, ausschlaggebend gewesen sein könnten. Apuleius muss also in seiner Verteidigung nicht nur den Vorwurf entkräften, er sei ein Magier, sondern auch denjenigen, für seine Frau deutlich zu jung zu sein.45 Das Alter der Pudentilla Ein Binnenexordium leitet denjenigen Teil der Rede ein, der die Heirat mit Pudentilla behandelt. In diesem Rahmen fasst der Sprecher in einer divisio die Vorwürfe zusammen, die er im Folgenden zu widerlegen beginnt.46 Einer lautet, dass Pudentilla bei der Eheschließung bereits 60

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Zum mutmaßlichen Vermögen und sozialen Hintergrund der Pudentilla vgl. Andreas Gutsfeld, »Zur Wirtschaftsmentalität nichtsenatorischer provinzialer Oberschichten. Aemilia Pudentilla und ihre Verwandten«, in: Klio, 74 (1992), S. 250–268. Elaine Fantham beschreibt anhand der schwankenden Angaben der Apologie den Altersunterschied zwischen den Partnern und skizziert die jeweilige soziale Stellung der Ehepartner. Sie erwägt zudem, was Pudentilla zur Eheschließung bewogen haben könnte: Elaine Fantham, »Aemilia Pudentilla or the Wealthy Widow’s Choice«, in: Richard Hawley / Barbara Levick (Hrsg.), Women in Antiquity. New Assessments, London 1995, S. 220–232. Zum Bild der Pudentilla in der Apologie vgl. Vincent Hunink, »The Enigmatic Lady Pudentilla«, in: American Journal of Philology, 119 (1998), S. 275–291. Apol. 67: quin igitur res sunt, quas me oportet disputare. nam si probe memini, quod ad Pudentillam attinet, haec obiecere: una res est, quod numquam eam voluisse nubere post priorem maritum, sed meis carminibus coactam dixere; [...] deinde sexagesimo anno aetatis ad lubidinem nubsisse. »Fünf Punkte sind es also, die ich erörtern muss. Wenn ich mich nämlich recht entsinne, haben sie mir, was Pudentilla angeht, folgendes vorgeworfen: Ein Punkt ist, dass sie, wie sie behauptet haben, sich nach ihrem früheren Gatten nie wieder hätte verheiraten wollen, es aber unter dem Zwang meiner Zaubersprüche getan hätte, [...] dann warfen sie an dritter [...] Stelle vor, dass sie im 60. Lebensjahr zur Lust

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Jahre alt gewesen sei – diese Altersangabe ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits hat sie rechtliche Implikationen: Nach der Lex Iulia de maritandis ordinibus und der Lex Poppaea nuptialis ist eine Heirat für Frauen über 50 und für Männer über 60 verboten.47 Die Festsetzung der Alterszäsur im 50. Jahr geht dabei vermutlich auf die Vorstellung zurück, dass sich im Lebenszyklus der Frau in diesem Alter die Menopause bereits vollzogen habe.48 Eine Sechzigjährige hätte diese Zäsur bereits um ein Jahrzehnt überschritten. Andererseits variiert das chronologische Alter für den Eintritt in die senectus in den antiken Quellen innerhalb einer Spanne zwischen dem 46. und dem 60. Lebensjahr.49 Jemand, der das 60. Lebensjahr überschritten hat, ist in der allgemeinen Vorstellung also unumstritten alt – dies gilt insbesondere für Männer, die dann von verschiedenen Verpflichtungen des öffentlichen Lebens entbunden sind. Indem die Anklage behauptet, es habe sich bei der Braut um eine sechzigjährige Frau gehandelt, suggeriert sie also nicht nur, dass ihr Alter über der rechtlich festgesetzten Alterszäsur für eine Eheschließung lag, sondern auch, dass sie mit Sicherheit unfruchtbar und auch nach landläufiger Vorstellung eine alte Frau ist. In seiner refutatio dieses Vorwurfes argumentiert der Sprecher der Apologie mit diesen Alterszäsuren 40, 50 und 60.50 Apuleius hat mit Beurkundungstafeln zwar eindeutige Zeugnisse, die es ihm erlauben,

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geheiratet habe.« Der lateinische Text ist der Ausgabe von Rudolf Helm entnommen: Apuleius, Opera quae supersunt. Pro se de magia liber (Apologia), hrsg. von Rudolf Helm, 2. Nachdr. 1963, Leipzig 1994 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Die deutsche Übersetzung entstammt, wenn nicht anders angegeben, Apuleius, De magia. Lateinisch-deutsch von Jürgen Hammerstaedt, in: J. H. / Peter Habermehl / Francesca Lamberti / Adolf M. Ritter / Peter Schenk (Hrsg.), Apuleius. De Magia. Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen, Darmstadt 2002 (Sapere 5), S. 58–235. Vgl. Fritz Norden, Apulejus von Madaura und das Römische Privatrecht, Leipzig 1912, S. 106; Francesco Amarelli, »Il processo di Sabrata«, in: Studia et documenta historiae et iuris, 54 (1988), S. 110–146, hier S. 124f.; Jens-Uwe Krause, Witwen und Waisen im römischen Reich I. Verwitwung und Wiederverheiratung, Stuttgart 1994, S. 120f. Plinius der Ältere geht in Anlehnung an Aristoteles davon aus, dass Frauen zu einem Zeitpunkt zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr unfruchtbar werden (nat. hist. 7,14,61; Arist. hist. an. 585b3–5). Soranus stimmt dem zu, fügt allerdings an, dass manche Frauen bis zum sechzigsten Lebensjahr noch Kinder bekommen könnten (gyn. 1,4,20). Vgl. dazu Darrel W. Amundsen / Carol J. Diers, »The age of menopause in Classical Greece and Rome«, in: Human Biology, 42 (1970), S. 79–86. Mary Harlow / Ray Laurence, Growing Up and Growing Old in Ancient Rome. A life course approach, London 2002, S. 127. Vgl. Harlow / Laurence, Growing Up and Growing Old, S. 118. Für Quellen vgl. Wieslaw Suder, »On age classification in Roman Imperial literature«, in: The Classical Bulletin, 55 (1978), S. 5–8. Apol. 89.

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das exakte Alter seiner Frau anzugeben.51 Der Sprecher vermeidet dies jedoch, er spielt vielmehr mit Zahlen aus der Altersspanne zwischen 60 und 40. Die Zahlenangaben in seinem Rechenexempel beginnen mit der Zahl 60. Diese wird Schritt für Schritt reduziert: 55, 50, 40 werden angeführt, bis schließlich als letzte explizit genannte Zahl die 30 in Erinnerung bleibt.52 Im Rahmen dieses Zahlenspiels, das einem Verjüngungsprozesses gleicht, beschreibt Apuleius das Alter der Pudentilla mit den Worten »kaum über vierzig«.53 Auf diese Art und Weise wird nicht nur die gesetzlich relevante Alterszäsur von 50 Jahren unterschritten, sondern auch assoziativ die niedrigste der Altersangaben für den Übergang von der iuventus zur senectus, nämlich das 46. Lebensjahr. Zudem wird Pudentilla, nach Apuleius also eine Frau von vierzig Jahren, so der unteren Altersgrenze für den Beginn der Menopause angenähert.54 Ein weiterer Vorwurf, den der Angeklagte zu widerlegen versucht, ist derjenige, dass Pudentilla nicht nur in zu hohem Alter geheiratet habe, sondern auch aus den falschen Gründen, nämlich »zur Lust« – ad lubidinem.55 Im Zusammenspiel mit der von der Anklage gemachten Altersangabe 60 ist damit natürlich impliziert, dass die Eheschließung nicht liberorum quaerendorum causa, also der zukünftigen Kinder halber geschlossen worden sei. Dieser unausgesprochene Vorwurf wird in der Apologie bereits in demjenigen Abschnitt zurückgewiesen, der dem oben skizzierten Zahlenspiel vorangeht.56 Sein Thema ist die Hochzeit auf dem Lande – auch die Tatsache, dass die Hochzeitszeremonie in relativer Abgeschiedenheit in einer ruralen Villa der Pudentilla und nicht in der größeren Öffentlichkeit der Stadt Oea stattfand, war von der Anklage offenbar als verdächtig empfunden worden. In diesem Zusammenhang weist der Sprecher darauf hin, dass eine Hochzeit auf einem Landgut in einem Ambiente vollzogen werde, das für die zukünftige Ehe Glück verheißend sei:57 Pudentilla, die zukünftige Mutter – mater futura – befinde sich hier inmitten einer frühlingshaften Natur.58

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Vgl. Vincent Hunink, Apuleius of Madauros – Pro se de magia (Apologia), ed. with a commentary. Bd. 2: Commentary, Amsterdam 1997, zur Stelle. Apol. 89. Apol. 89: invenies nunc Pudentillae haud multo amplius quadragesimum annum aetatis ire. S. Anm. 47: die niedrigste Altersangabe ist das vierzigste Lebensjahr. Apol. 67. Apol. 88. Apol. 88,3–4: lex quidem Iulia de maritandis ordinibus nusquam sui ad hunc modum interdicit: ›uxorem in villa ne ducito‹; immo si verum velis, uxor ad prolem multo auspicatius in villa quam in oppido ducitur, in solo uberi quam in loco sterili, in agri cespite quam in fori silice. »Das Julische Gesetz über die Verheiratung der Stände spricht an keiner seiner Stellen ein Verbot in folgender Weise aus: ›Es ist untersagt, eine Frau auf einem Landgut zu heiraten‹; im

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Die Lebensalter und die Jahreszeiten sind in der antiken Bildsprache eng miteinander verknüpft.59 Indem Pudentilla mit dem Frühling in Verbindung gebracht wird, wird sie einerseits fruchtbar und andererseits verjüngt – entspräche ihrer tatsächlichen Altersstufe vermutlich doch die Phase des Spätherbstes. So ist durch den Rekurs auf den topischen Jahreszeitenvergleich auch der Anklagepunkt, dass die Ehe nicht der Kinder halber geschlossen worden sei, widerlegt. Diese Argumentationsweise führt darüber hinaus dazu, dass Pudentilla nicht mehr zur Gruppe derjenigen Frauen gehört, die Gegenstand der vetula-Skoptik und als solche ein beliebtes Ziel des Spottes der römischen Satire sind: alte alleinstehende Frauen (jenseits der Menopause), die nach wie vor sexuelle Lust empfinden und selbst danach streben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.60 Waren diese Frauen zudem nicht nur rechtlich, sondern auch finanziell unabhängig, konnten sie ein beängstigendes Gefühl der Unkontrollierbarkeit hervorrufen.61 Die Jugend des Apuleius In welchem Zusammenhang steht nun das Alter der Pudentilla mit der Selbstdarstellung des Apuleius? Die Ehe einer wohlhabenden älteren Frau mit einem deutlich jüngeren Mann – Apuleius war ein Studienfreund ihres Sohnes – konnte in der römischen Welt nicht nur die Beschuldigung hervorrufen, dass sie die Verbindung des erotischen Vergnügens halber einging, ohne dass sich dies mit der Hoffnung auf Kinder entschuldigen ließe. Auch der Ehemann setzte sich dem Vorwurf aus, er sei ein Erbschleicher. Ein wichtiges Ziel der Verteidigung

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Gegenteil, wenn du die Wahrheit wissen willst, heiratet man eine Frau unter viel günstigeren Vorzeichen für Nachkommenschaft auf dem Landgut als in der Stadt, auf fruchtbarem Grund anstatt an einem unfruchtbaren Ort, auf den Grasbüscheln des Feldes statt dem Splitt des Marktplatzes.« Apol. 88,5: Mater futura in ipso materno sinu nubat, in segete adulta, super fecundam glebam, vel enim sub ulmo marita cubet, in ipso gremio terrae matris, inter suboles herbarum et propagines vitium et arborum germina. »Die künftige Mutter heirate unmittelbar am mütterlichen Busen, in der aufgekeimten Saat, auf fruchtbarer Scholle, ja sie lagere sich unter einer eng vermählten Ulme, gleich im Schoß von Mutter Erde, zwischen Trieben von Kräutern, Setzlingen von Weinranken und Schösslingen von Bäumen.« Vgl. dazu den Beitrag von Florian Steger in diesem Band. So findet sich auch im ciceronischen Cato maior eine ausführliche Schilderung des Weinanbaus in den verschiedenen Jahreszeiten, insbesondere im Frühling, um die Aufgaben des senex als Lehrer und Vorbild für die Jugend zu veranschaulichen (Cic. Cato, 51–57). Vgl. den Beitrag von Therese Fuhrer in diesem Band. Als solche werden sie in der lateinischen Literatur oft auch in die Nähe von Magierinnen gerückt oder so bezeichnet. Vgl. zur Einschätzung der alten Frau unter anderem Harlow / Laurence, Growing Up and Growing Old, S. 127–130; zur Darstellung alter Frauen in der römischen Satire vgl. unter anderem Amy Richlin, »Invective against women in Roman satire«, in: Arethusa, 17 (1983), S. 67–80.

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ist es also, Apuleius und Pudentilla im Alter einander anzunähern: Pudentilla ist keine alte Frau und Apuleius kein junger, viriler und attraktiver Mann, der Frauen verführen könnte. 3.2. Das Haupthaar des Apuleius Körperbeschaffenheit – habitus corporis Die Verteidigungsstrategie des Apuleius baut darauf auf, das von der Anklage entworfene Bild des Magiers durch das eines Philosophen in der Anhängerschaft Platons zu verdrängen. Seine Beschäftigung mit Texten habe auch sein Äußeres geprägt. So bringt der Sprecher gleich in der ersten, sich dem exordium anschließenden refutatio der Rede Folgendes vor: […] continuatio etiam litterati laboris omnem gratiam corpore deterget, habitudinem tenuat, sucum exsorbet, colorem obliterat, vigorem debilitat. […] das unablässige literarische Mühen [wischt] allen Liebreiz von meinem Körper ab, dünnt meine Statur aus, entsaugt mir den Saft, lässt meine Farbe verblassen und schwächt meine Kraft.62

Apuleius durchläuft also einen vorzeitigen Austrocknungsprozess. Dieser habe auch sein Haar nicht unangetastet gelassen; durch lange Vernachlässigung sei es verknotet, trocken und hässlich geworden:63 capillus ipse. quem isti aperto mendacio ad lenocinium decoris promissum dixere, vides quam sit amoenus ac delicatus, horrore implexus atque impeditus, stuppeo tomento adsimilis et inaequaliter hirtus et globosus et congestus, prorsum inenodabilis diutina incuria non modo comendi, sed saltem expediendi et discriminandi. Und nun gar meine Haare, die diese unverschämten Lügner als eines Verführers würdig bezeichnet haben. Schau sie dir an, schau, wie elegant und verführerisch sie aussehen! Verschlungen und verwickelt sind sie, starrendes Stroh, struppig, zu Kügelchen verknäuelt, wegen des langen Mangels jeglicher Pflege völlig unentwirrbar, weder zu kämmen noch irgendwie zu scheiteln.

Die refutatio des Apuleius lässt erahnen, dass er sich gegen die Charakterisierung seines Haares als schön, lang und gepflegt zur Wehr setzt. Es fällt nicht schwer, sich eine ›Anklage‹ ähnlicher Natur vorzustellen, wie sie im dritten Fragment der Florida – eine Sammlung von Auszügen aus epideiktischen Reden des Apuleius – der Satyr Marsyas gegen den Musengott Apoll vorbringt, den er zum Wettbewerb im Flötenspiel herausfordert: coma intonsus sei der Gott, trage sein Haar also lang; aufwändig frisiert sei er zudem. Darüber hinaus seien seine Wangen gefällig

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Apol. 4. Apol. 4; Übersetzung hier übernommen aus: Zanker, Maske des Sokrates, S. 222.

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(genis gratus), also rasiert, sein Körper weich und seine Glieder glänzend (corpore glabellus, corpus totum gratissimum, membra nitida), also depiliert.64 Auch wenn in der Apologie die anderen Elemente der Beschreibung nicht genannt sind oder zumindest nicht explizit zurückgewiesen werden, so liegt doch nahe, dass das lange, gepflegte Haar auch hier nur ein Bestandteil eines ganzen ›Clusters‹ von Eigenschaften ist, die habituellen Denkmustern gemäß als zusammengehörig empfunden wurden. Auch wenn in der Apologie also nicht ausdrücklich davon die Rede ist, dass der Angeklagte sich nicht nur aufwändig frisiere, sondern auch rasiere und depiliere, so ist dies durch die Nennung eines der Merkmale, die einen bestimmten habitus bezeichnen, doch impliziert. Worum geht es nun eigentlich in dieser Auseinandersetzung, in der Gegenüberstellung eines ›apollinischen‹ Äußeren – wie es die Worte der Ankläger evozieren – und der Selbstdarstellung des Apuleius, die eher das Bild des Marsyas vor Augen führt? Gender – sexus Der Erzählung des Florida-Fragmentes zufolge stehen sich mit Marsyas und Apoll ein Mann mit dichtem kurzen Haar, Bart und Körperbehaarung und ein frisierter, rasierter und depilierter gegenüber. Struppig und weich, hirsutus und glabellus, sind die Differenzbegriffe, die die Beschreibung strukturieren. Anhand dieser Antinomie ›glatt – behaart‹ konnte den Kategorisierungen der zeitgenössischen physiognomischen und auch astrologischen Schriften zufolge zum Beispiel die Differenzierung von cinaedi beziehungsweise avndro,gunoi von ›normalen‹ Männern erfolgen.65 Was

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Folgende Kommentare können zu den Florida konsultiert werden: Vincent Hunink, Apuleius of Madauros. Florida. Edited with a commentary, Amsterdam 2001; Adolfo La Rocca, Il filosofo e la città. Commento storico ai Florida di Apuleio, Rom 2005 (Saggi di storia antica 24), Fl. 3: S. 144–152; Benjamin T. Lee, Apuleius’ Florida. A Commentary, Berlin, New York 2005 (Texte und Kommentare 25), zu Fl. 3: S. 72–77. Eine kurze Charakterisierung der einzelnen Fragmente nimmt Stephen J. Harrison, Apuleius. A Latin Sophist, Oxford 2000 vor, Fl. 3: S. 98. Eine englische Übersetzung mit Einleitung von Hilton findet sich in Apuleius, Rhetorical Works. Lateinisch-englisch, übersetzt von Stephen Harrison / John Hilton / Vincent Hunink, Oxford 2001, S. 123–176. Maud Gleason betrachtet Rhetorik als einen Bestandteil des Prozesses männlicher Sozialisierung. Unter dieser Perspektive versteht sie rhetorische Praxis und GenderIdentität als Teile eines zusammenhängenden Ganzen – nämlich als Bestandteile der Selbstdarstellung, die sie folgendermaßen charakterisiert: »the complex business of self-presentation, in which conscious choices interact with instinctive responses to traditional paradigms to produce a carefully modulated identity«, Maud W. Gleason, Making Men: Sophists and Self-Representation in Ancient Rome. Princeton 1995, S. XXVI. Ihre Arbeit zeigt im Detail, dass und wie Physiognomen, Astrologen und populäre Moralphilosophen des zweiten Jahrhunderts n. Chr. in Kategorien der Genderkonformität bzw. -devianz dachten: »They shared a notion of gender identity built upon

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dabei im Verhalten der cinaedi, der als effeminiert charakterisierten Männer, als deviant angesehen wurde, war nicht das biologische Geschlecht ihrer Sexualpartner, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie ihnen gefallen wollten: »A man who actively penetrates and dominates others, whether male or female, is still a man. A man who aims to please – any one, male or female – in his erotic encounters is ipso facto effeminate.«66 Apuleius widmet sich in der ersten auf das exordium folgenden refutatio der Rede also dem Vorwurf einer kosmetischen Praxis, die innerhalb der Gendersemiotik als Chiffre für die sexuellen Präferenzen des sie Praktizierenden dient. Mithilfe dieser Chiffre wird Apuleius als ein cinaedus gekennzeichnet. Sein angenehmes Äußeres und seine Eloquenz sind, wenn sie mit der Vorstellung verknüpft werden, dass Apuleius ein cinaedus sei, Mittel, um Gefallen bei potentiellen Partnern zu erregen. Mit ihrer Hilfe können amoralische Handlungen in die Wege geleitet werden – und dies ist ja auch der Grund, warum die Ankläger seine Frisur hervorheben: capillus, quem isti aperto mendacio ad lenocinium decoris promissum dixere – »mein Haar, das diese unverschämten Lügner als eines Verführers würdig bezeichnet haben« (apol. 4,11). Folgt man den Kategorisierungen der zeitgenössischen physiognomischen und auch astrologischen Schriften auch in diesem Punkt, könnte es sich aus der Perspektive der Ankläger bei Apuleius, der sich in der Öffentlichkeit des Gerichtsprozesses ja als zuverlässiger Ehemann, Stiefvater und Philosoph präsentiert, um einen so genannten crypto-cinaedus handeln. Die Aufgabe der Anklage bestünde dann darin, Apuleius als solchen zu entlarven. Lebensalter – aetas Die Pflege des Haupthaares, mit der oft auch die Enthaarung des Körpers einherging, kann aber auch als Zeichen von weltläufiger Eleganz angesehen werden, die mit der durch sie vermittelten Ambiguität in der

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polarized distinctions (smooth/hirsute, pantherine/leonine) that purported to characterize the gulf between men and women but actually divided the male sex into legitimate and illegitimate members, some of whom were unmistakable androgynes, while others were subtly deceitful impostors.« Zu den Termini vgl. Gleason, Making Men, S. 64: »The word avndro,gunoj (which I have been translating as ›effeminate‹) in its most literal sense describes an appearance of gender-indeterminancy, ›he who is between man and woman‹ (Anm. 43: qui inter virum est et feminam [Anon. Lat. 98, 2.213F]). The word cinaedus, on the other hand, describes sexual deviance, in its most specific sense referring to males who prefer to play a ›feminine‹ (receptive) role in intercourse with other men [mit Anm. 44, Anm. D.E.]. But the two terms become virtually indistinguishable when used to describe men of effeminate appearance and behavior.« Gleason, Making Men, S. 65 mit Anm. 49.

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Genderinszenierung lediglich spielt. Hinter dieser Art des Strebens nach Eleganz steht letztlich ein Bemühen darum, das Ideal einer knabenhaften Schönheit in das Erwachsenenalter zu übertragen.67 Mit der Hilfe von Kosmetik können schließlich äußerlich sichtbare Anzeichen des physischen Alterns zeitweise rückgängig gemacht werden. Das Frisieren, Rasieren und Depilieren führt temporär in eine Lebenszeit vor dem Einsetzen des Bart- und Körperhaarwuchses zurück. Dio Chrysostomus beschreibt in seiner kurzen ›Kulturgeschichte der Enthaarung‹, wie diejenigen, die zuerst versuchten, ihre Bärte zu rasieren, herausfanden, dass ihre Gesichter hübsch und unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter jungenhaft wurden.68 Die Vorstellung der körperlichen Entwicklung eines Mannes war davon bestimmt, dass der kontinuierliche Prozess der Reifung und des Abbaus mit einem Anstieg und Abfall an Körperwärme und Haarwuchs einherging. So hebt Clemens von Alexandria hervor, dass ein reifer Mann von Natur aus haariger und wärmer sei als ein unreifer.69 Die Phase des Übergangs von der Adoleszenz (adulescentia) zum jungen Erwachsenenalter (iuventus) wird physisch durch das Wachsen von Körper- und Gesichtshaar markiert. Jugendliche rasierten sich erst, wenn ihr Bart voll ausgewachsen war. Daher wurde der zarte Flaum der Wangen mit der adulescentia verbunden (Amm. Marc. 14, 11, 28). Der inberbus iuvenis wird zum Beispiel in der horazischen Ars poetica mit den Freuden junger Pferde und Jagdhunde, mit den Übungen auf dem Campus, mit der Abwesenheit eines Tutors und ebenso der mangelnden Verfügungsgewalt über ein Vermögen verbunden, er sei leidenschaftlich, noch weich und lasse sich leicht zum Üblen verführen (Hor. ars 156–78).70 Die dem sich verteidigenden Apuleius vorgeworfene kosmetische Praxis konnte sein Aussehen also verjüngen und somit auch attraktiver machen, ihn in eine Phase des Lebens zurückversetzen, die habituell mit einer gewissen Unstetigkeit, mit mangelnder Kontrolle über finanzielle Ressourcen und mit Leidenschaftlichkeit assoziiert wird. Diesem Bild stellt der Redner seine extreme Vernachlässigung des Körpers und der Haare gegenüber, deren mangelnde Pflege bereits zu

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Gleason, Making Men, S. 74: »After all, these mannerisms – from depilation to ingratiating inflections of the voice – were refinements aimed at translating the ideal of the beardless ephebic beauty into adult life and as such might appeal to women and boys, with whom one could not by definition play the pathic role.« Dio Chrysostomus Oratio 33, 63. Paid. 3,19,2. Vgl. dazu das Kapitel Hairy youths in der Monographie von Harlow / Laurence, Growing Up and Growing Old, S. 72–75, hier S. 72.

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einem verfrühten Austrocknungs- und somit Alterungsprozess geführt habe – glabellus wird mit hirsutus konfrontiert. Körperlich ist das Sprecher-Ich also bereits im von ihm postulierten Alter seiner Braut angekommen – dem Typus des jugendlichen Liebhabers, wie er z.B. als adulescens amator aus der Komödie bekannt ist, entspricht der von ihm in Szene gesetzte habitus corporis zumindest nicht. Beschäftigung – studium In den Schriften der Autoren Musonius Rufus und Epiktet, die der Stoa nahe standen, kommt das Thema der Haupt- und Körperhaare als Zeichen von reifer Männlichkeit ebenfalls zur Sprache. Das Haar hat bei ihnen eine besondere Bedeutung, da es als ein Begriff innerhalb der Symbolsprache der Maskulinität angesehen wird, der nicht lediglich als ein konventionelles Zeichen konstruiert werden kann. Es ist vielmehr ein Zeichen, das von der Natur selbst festgesetzt worden ist. In diesem Sinne preist Musonius den Bart als eine von der Natur vorgesehene Bedeckung und als das Symbol eines Mannes, das mit dem Kamm des Hahnes und der Mähne des Löwen gleichgesetzt werden könne (fr. 21). Epiktet rät einem aufwändig frisierten und depilierten jungen Rhetorikschüler, er solle doch die Pflege seiner Haare demjenigen überlassen, der sie gemacht habe (Diss. 3,1,26). Die Natur habe Frauen glatt und Männer behaart geschaffen. Ein Mann, der sich depiliere, entspreche nicht der Natur eines Mannes (3,1,27–29).71 Clemens von Alexandria wiederum präsentiert eine christianisierte Version dieser stoischen Ansichten in seiner Schrift Paidagogos (3,19,2): Denn von Natur trockener und wärmer als das Glatte ist das Behaarte; darum findet sich auch dichtere Behaarung und größere Wärme bei den männlichen als bei den weiblichen Geschöpfen und bei den Zeugungsfähigen als bei den Entmannten und bei den Ausgewachsenen als bei den noch Unfertigen.72

Es verwundert daher nicht, dass auch in dem Versuch, philosophische von sophistischen Lebensentwürfen abzugrenzen, die Frage nach der Beschaffenheit der Haare eine zentrale Rolle spielte.73 Aber auch

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Er solle sich dann doch besser gleich kastrieren und es so einfacher machen, ihn einer Kategorie zuzuordnen; vgl. Gleason, Making Men, S. 67–70. Übersetzung übernommen aus: Clemens von Alexandreia, Ausgewählte Schriften. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Stählin, Kempten, München 1934 (Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften Bd. 1; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. 7). Gleason (Making Men, S. 73) führt das Beispiel einer Konfrontation zwischen Timokrates, einem Arzt, der zum stoischen Philosophen geworden war, und Skopelian, einem Sophisten, an. Die Auseinandersetzung konzentrierte sich auf die Gewohnheit Skopelians, seinen Körper der Behandlung von Depilierern zu unterziehen, »an issue that symbolised intensely felt differences of opinion over the role of refinement in

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innerhalb der Philosophie gab es verschiedene Strömungen und traditionelle Zuordnungen, die zum Beispiel Platonikern, Aristotelikern und vor allem Pythagoreern durchaus zubilligten, dass sie der Frisur, dem Bart und generell dem Aussehen mehr Aufmerksamkeit zumaßen als andere Schulen, wie zum Beispiel die Kyniker.74 Der Sprecher Apuleius deutet dies mit einer Auflistung angeblich schöner Philosophen an – zu der neben Zenon von Elea, dem Schüler des Parmenides, auch Pythagoras gehört –, die er der Beschreibung seines eigenen Aussehens voranstellt.75 Dennoch scheint es das Sprecher-Ich als angemessener zu empfinden, sich nicht allzu sehr in Detailabstufungen zu verstricken, sondern mit der extremen Darstellung seiner ungepflegten Haare, die ja ein vom Nachdenken und von Askese gezeichnetes Haupt krönen, eindeutig die persona eines rigorosen Philosophen, der per definitionem kein cinaedus sein kann, zu inszenieren.76 Diese Selbstdarstellung mag auch dadurch bedingt sein, dass er nicht dem Typus eines charismatischen Wundertäters wie Apollonios von Tyana entsprechen wollte, den nicht mehr »die Anstrengung des Denkens quält«, der vielmehr Erhabenheit und Güte ausstrahlt und von höherem Sein ist.77 Eine Selbstdarstellung in der Art des schönen Charismatikers hätte eine größere Nähe zur Magie impliziert.

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masculine style«. In diesem Streit zwischen »hirsute philosophy and depilated rhetoric« habe die gesamte Jugend von Smyrna Position bezogen. Johannes Hahn, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, Stuttgart 1989, S. 37–38. Apol. 4. Zanker, Maske des Sokrates, weist in seiner Untersuchung der bildlichen Darstellung des Intellektuellen in der antiken Kunst für die Zeit nach Hadrian darauf hin, dass der Fall des Apuleius zeige, dass es »für den professionellen, in der Öffentlichkeit wirkenden Intellektuellen einen gewissen Zwang gab, sein Image zu definieren, das heißt vor allem sich als Rhetor bzw. Sophist oder aber als Philosoph zu erklären.« Die Forderung nach grundsätzlicher Unterscheidung der beiden bi,oi könne trotzdem nicht der alltäglichen Praxis der Selbstdarstellung entsprochen haben. Diese scheine vielmehr von Kompromissen geprägt gewesen zu sein. Daher seien extreme Formen der Selbstdarstellung in der bildenden Kunst auch selten, am häufigsten fänden sich Kompromisse in Form von eklektischen Kombinationen verschiedenartiger Elemente. Vgl. zum Äußeren des charismatischen Philosophen, den man dem Typus des qeio,j avnh,r zuordnen könnte, Zanker, Maske des Sokrates, S. 246–249, hier 246f.: Am Beispiel eines kleines Reliefs in Ostia aus dem späten 2. Jahrhundert und mithilfe von Plinius’ Schilderung des Euphrates (Plin. epist. 1,10,5–7) charakterisiert er es folgendermaßen: »Aber nicht nur das Auftreten, sondern auch das Gesicht des neuen Philosophen hat sich geändert. Euphrates hat einen ›tief ernsten‹, aber keinen ›finsteren‹ Ausdruck (womit Plinius die Mienen der Kyniker meint). Das Gesicht des Charismatikers strahlt Erhabenheit und Güte aus, ihn quält auch nicht die Anstrengung des Denkens, denn er kennt den Weg und die Regeln, die zu einem geordneten Seelen-

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Soziale Stellung – conditio Die in den Florida überlieferte Erzählung vom Wettkampf zwischen dem ungebildeten, rustikalen Marsyas und dem Musengott Apoll legt eine Identifizierung von Apoll und Apuleius nahe. Die Klage, die der rusticus Marsyas an den Gott Apoll richtet, ist mit derjenigen vergleichbar, die Apuleius in der Apologie zu widerlegen versucht. Wenn man die Florida-Episode als eine Art von Kommentar zur Apologie liest, dann wird mit der Lächerlichkeit der Pose des Marsyas zugleich aber auch diejenige von Apuleius’ refutatio selbst vor Augen geführt: Das Herausstellen des eigenen ungepflegten struppigen Haares, das Zurschaustellen einer ›Haariger-als-Du‹-Haltung, ist selbst wiederum Kennzeichen von Rustizität.78 So beobachtet Athenaeus, dass Männer, die sich schlecht und billig herrichten, um ihren philosophischen Rigorismus zur Schau zur stellen, gerne andere cinaedi nennen, wenn diese sich parfümieren oder etwas extravaganter kleiden.79 Dieser Habitus kann – wie gesehen – jedoch lediglich ein Streben nach urbaner Eleganz vermitteln. Zanker bemerkt: »Den meisten Männern, die auf eine Philosophenstilisierung Wert legten, kam es offenbar darauf an, gleichzeitig auch als weltläufig zu erscheinen, d.h. Zeichen philosophischer Ernsthaftigkeit mit solchen bürgerlicher Urbanität zu kombinieren.«80 In der Apologie zitiert Apuleius gewissermaßen zunächst die Pose des philosophischen Rigorismus unter dem Druck zu einem eindeutigen Bekenntnis – jegliche Ambiguität im Auftreten könnte von der rustikalen Anklägerschaft falsch gelesen werden. In den darauf folgenden Textpassagen kombiniert er dann jedoch auf spielerische Art und Weise dieses Zeichen der philosophischen Ernsthaftigkeit mit solchen bürgerlicher Urbanität: mit einem Lob der Reinlichkeit in der Zahnpflege, das im Lauf der Argumentation ausgeweitet wird zu einem ethischen Reinheitsdiskurs, ebenso wie mit dem Lob des Spiegels, der nicht nur der Kontrolle des Äußeren dient, sondern auch zu einem

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leben führen. So bietet sein verändertes Aussehen die Gewähr für die geistige Überlegenheit. Dies beruht aber im Gegensatz zu den großen Denkern des 3. Jahrhunderts v.Chr. nicht mehr in erster Linie auf außergewöhnlichem Denkvermögen, sondern einer Art von höherem Sein. Hier begegnen wir zum ersten Mal dem theios aner, dem ›göttlichen Mann‹ oder ›Holy Man‹, dessen Figur in der Folge so große Bedeutung gewinnen sollte. Schon Plinius spricht von der sanctitas eines Euphrates.« Gleason, Making Men, verwendet den Ausdruck »Hairier than Thou«. Gleason, Making Men, S. 74 wirft mit Bezug auf Athenaeus Deipnosophistai 13,565 c denn auch folgende Frage auf: »Might not a perfectly respectable gentleman, as Athenaeus implies, dab on a bit of perfume? Were all dandies pathics? If depilation, dainty grooming, and singsong speech were universally ridiculed as explicit signposts of sexual passivity, we must wonder why any man would court censure by adopting such practices unless he wished explicitly to advertise himself a pathic.« Zanker, Maske des Sokrates, S. 225.

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Mittel der philosophischen Introspektion wird.81 Auch mit seiner Sprache wird diese Urbanität inszeniert. Das Sprecher-Ich zitiert in diesen Kontexten mit Catull einen Vertreter der neoterischen Dichtung, die lepidus, witzig, poliert und urban elegant sein wollte.82 Ein allzu ›rustikales‹ Erscheinungsbild, das dem Typus hirsutus zugeordnet werden kann, birgt die Gefahr, als ungebildet, ländlich und somit sozial niedrig gestellt zu erscheinen – im römischen Nordafrika könnte dies zudem auf eine mangelhafte Romanisierung schließen lassen. Eine gewisse Abmilderung der Pose des Rigorismus konnte somit gerade vor dem römischen Magistraten, der ja als Richter der eigentliche interne Adressat der Rede ist, einen höheren sozialen Stand und eine größere Nähe zur mobilen römischen Verwaltungselite vermitteln. 3.3. Schluss: Diskrepanzen Auch in der Verteidigungsrede des Apuleius werden – wie in Lukians Alexander oder der Lügenprophet – die attributa personis als loci argumentorum herangezogen. Wiederum kommt der körperlichen Beschaffenheit und dem Lebensalter große Bedeutung zu. Es wird weniger argumentativ als vielmehr performativ Distanz geschaffen zwischen verschiedenen personae. Zum einen wird zwischen den Rollen, die die Ankläger Apuleius zugewiesen haben, sowie der persona, die der Sprecher sich in seiner Selbstdarstellung zumisst, differenziert. Zum anderen werden die Ankläger vom Sprecher und dem Richter Maximus distanziert, während die beiden letzteren einander angenähert werden. Die Unterschiede, die auf diese Weise deutlich werden, hebt folgende Zusammenfassung hervor: 1. Die Ankläger behaupten, Apuleius sei glabellus, dieser beschreibt sich jedoch als hirsutus. Es besteht also eine Differenz zwischen dem ihm von der Anklage zugeschriebenen habitus corporis und dem vom SprecherIch selbst inszenierten. 2. Die Physiognomie des Angeklagten entspreche derjenigen eines cinaedus. Apuleius bediene sich kosmetischer Mittel, um potentiellen Partnern zu gefallen. Der Redner spricht hingegen von der Vernachlässigung seines Äußeren, er lasse seiner reifen männlichen Natur freien Lauf. Es besteht also eine Differenz zwischen dem von den Anklägern insinuierten sozialen Geschlecht und dem vom Sprecher projizierten.

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Apol. 13–16. Vgl. dazu Stefan Tilg, »Eloquentia ludens. Apuleius’ Apology and the Cheerful Side of Standing Trial«, in: Werner Riess (Hrsg.), Paideia at Play. Learning and Wit in Apuleius, Groningen 2008 (Ancient Narrative Supplementum 11), 105–132.

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3. Apuleius mache sich, so der Vorwurf, mithilfe von Kosmetik jünger, als er tatsächlich sei. Die extreme Vernachlässigung seines Körpers, entgegnet dieser, habe zu einem beschleunigten physiologischen Alterungsprozess geführt. Es besteht also eine Differenz zwischen der von den Anklägern evozierten artifiziellen Jugendlichkeit und dem vom Sprecher in Szene gesetzten ›wahren‹ körperlichen Alter. 4. Sein gefälliges Äußeres kennzeichne ihn als eloquenten Sophisten, der mit Worten Gefallen zu erregen vermag. Sein gepflegtes Aussehen und die Potenz seiner Worte rückten ihn darüber hinaus in die Nähe von charismatischen qei/oi a;ndrej, denen man magische Fähigkeiten zuschreiben könne. Den Sprecher quält – seiner Selbstdarstellung zufolge – hingegen die Anstrengung des Denkens. Die Vernachlässigung des Äußeren zeuge von seinem philosophischen Rigorismus, er ist nicht göttlich erhaben. Es besteht also eine Differenz zwischen der Tätigkeit, die die Ankläger ihm zuweisen, und den vom Sprecher-Ich selbst postulierten studia. 5. Die Betonung der extremen Vernachlässigung des Körpers, Kennzeichen insbesondere kynischer Philosophen, kann als ein überdeterminiertes Zurschaustellen von philosophischem Rigorismus gelesen werden, ein Habitus, der nicht der sozialen Stellung eines Angehörigen der mobilen gebildeten Oberschicht des Imperium Romanum entspricht. Diese Diskrepanz zwischen der conditio des Sprecher-Ichs, wie es sie unter dem Druck zu einem eindeutigen Bekenntnis zu Beginn der Rede evoziert, und der von ihm selbst angestrebten sozialen Gleichstellung mit dem Provinzgouverneur und Richter Maximus wird im weiteren Verlauf der Rede durch die Inszenierung von Zeichen weltläufiger Eleganz aufgehoben. 6. Die von den Anklägern postulierte Diskrepanz zwischen dem Alter Pudentillas und demjenigen des Apuleius existiert nicht. Beide sind fast gleich alt. Auch in dem zweiten der beiden untersuchten Texte wird das Potential genutzt, das die je nach Wissensbereich unterschiedliche Kodierung bestimmter Topoi bietet. Die Antinomie hirsutus – glabellus ist je nach locus argumentorum anders konnotiert: sei es die Gendersemiotik, die lebensalterspezifische Verhaltensweise, die Frage nach philosophischer, sophistischer oder charismatischer Legitimierung, sei es die Frage nach dem sozialen Stand. Einander gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt werden die für die ›ungebildeten und rustikalen‹ Ankläger typischen habituellen Denkmuster und diejenigen des Sprechers, des internen Adressaten Maximus und des impliziten Lesers. Diese zweite Gruppe kann sich aufgrund ihrer Bildung und Welt-

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gewandtheit freier zwischen den einzelnen Wissensbereichen und ihren topischen Vorstellungen hin- und herbewegen, sie ist dazu im Stande, diese habituellen Muster zu hinterfragen und im Zuge dessen den Topoi eine neue Bedeutung zuzumessen. Beide Texte eröffnen durch ihren intentionalen Gebrauch der Polyvalenz der Topoi einen Spielraum für innovative Arrangements und verhandeln somit die Autorität und Legitimität eines neuen Typus von religiös-philosophischem Experten. Sie weisen ähnliche argumentative Strategien auf. In der Apologie ist die rhetorische Funktion der Topoi der körperlichen Beschaffenheit und des Lebensalters in einer Hinsicht jedoch derjenigen in der Schrift des Lukian entgegengesetzt: Apuleius will älter erscheinen, als er von seinen Anklägern dargestellt wird, während sich Alexander künstlich verjüngt. In beiden Fällen wird jedoch – mithilfe des formalen Topos der Antithese – wahres Alter vermeintlicher Jugend gegenübergestellt.

FLORIAN STEGER

Altern im Leben Alterstopoi in der antiken Medizin? Becoming older in life. Do topoi relating to age exist in ancient medicine? This paper begins by defining the meaning of (1) becoming older in life and (2) age. The paper’s main part will focus on various descriptions and interpretations of age in ancient medicine, mainly in the Corpus Hippocraticum, the works of Aristotle, and those of Galen. Furthermore, different ages in life and images associated with them will be considered. In conclusion, there are no topoi but only axioms of age(s) in ancient medicine.

I. Mit dem gewählten Obertitel »Altern im Leben« ist zunächst jener biologische Vorgang im Leben von Organismen gemeint, der nach der Zeugung einsetzt, sich vor dem Tod ereignet und mit biologischen Veränderungen zahlreicher Strukturen und Funktionen eines Organismus einhergeht. Im Klinischen Wörterbuch Pschyrembel wird »Altern« – ein Lemma »Alter« ist interessanterweise gar nicht enthalten – definiert als »degenerativer biologischer Prozess, der mit zunehmendem Lebensalter zu psychischen und physischen Abnutzungserscheinungen führt und meist zwischen [dem] 50. und 60. Lebensjahr beginnt (Eugerie)«;1 erweiternd heißt es dann im fortlaufenden Text: Die Differenz zwischen sog. chronologischem (entspricht Geburtsurkunde) und biologischem Lebensalter (entspricht Körperfunktion) und/oder intellektueller Leistung beeinflussen vor allem folgende Faktoren: sozioökonomische Bedingungen (vor allem Beruf, Lebensweise und Ernährung), genetische Konstitution, emotionaler Umgang mit Problemen […], lang dauernde Kontamination mit Schadstoffen […].

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte ursprünglich Menschen von 49 bis 59 Jahren als »alternd«, von 60 bis 74 als »älter«, von 75 bis 89 als »alt« und über 90 Jahre als »uralt« eingeteilt; zwischenzeitlich hat

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»Altern«, in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin, New York 259 2002, S. 49.

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man sich darauf geeinigt, alle Menschen über 50 als »älter« zu bezeichnen.2 In den westlichen Zivilisationen ist der Rentenbeginn eine wichtige soziale Alterszäsur, die je nach biologischem Eintritt den Anfang einer noch langen Lebensphase umfassen kann. So spricht man auch gerne von einem dritten Lebensalter (tertianum), das von Aktivität und reichen sozialen Kontakten gekennzeichnet ist und von einem vierten Lebensalter abgegrenzt wird, in welchem man sich stärker zurückzieht. Wertvoll ist dabei, dass eine feinere Differenzierung des höheren Alters dazu beitragen kann, negativen Stereotypen des Alter(n)s, wie beispielsweise solchen durch die Bilder vom multi-morbiden Alten und der Langzeitpflege erzeugten, entgegenzuwirken. Das hohe Alter kann so den realen Verhältnissen angepasst angemessener und nicht zuletzt auch moralisch verantwortungsvoll gewürdigt werden;3 man denke nur an den sportlich aktiven und sozial engagierten Rentner, dem man mit einer differenzierten Alterseinteilung eher gerecht würde. Kurzum: Nicht alle über 50 sind einfach »älter«. Im literarischen und künstlerischen Schaffensprozess wird eine streng biologische Perspektive auf das Altern ohnehin um viele weitere Aspekte erweitert, seien sie chronologisch, sozial, juristisch oder psychologisch. Der Begriff Alter ist schwerer zu fassen, da dieser sehr Verschiedenes einschließt. Damit können die Lebensdauer bis zu einem bestimmten Zeitpunkt oder einzelne Altersstufen bezeichnet werden. Schließlich ist mit Alter ein letzter Lebensabschnitt gemeint. Dieser Begriff kann metaphorisch auf andere Themen wie Weltzeit, Kosmos oder kulturelle Entwicklungsstufen übertragen werden. Die in diesem Tagungsband versammelten Beiträge beschäftigen sich mit Alterstopoi, das heißt, es geht in ihnen – so lautet zumindest meine Interpretation des Themas – um die Weitergabe, die Wiederaufnahme und auch das literarische Spielen mit Topoi vom Alter und Altern. Meinen Beitrag möchte ich in den weiteren Kontext von »Medizin und Literatur« stellen.4

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Vgl. Ortrun Riha, Grundwissen, Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin. Querschnittsbereich 2, Bern 2008, S. 155–156. Rüegger unternimmt den Versuch, eine ethische Diskussion im Rahmen der Gerontologie anzuregen, die auf diesem Gebiet bisher weitgehend fehlt. Vgl. Heinz Rüegger, Alter(n) als Herauforderung. Gerontologisch-ethische Perspektiven, Zürich 2009. Vgl. Bettina von Jagow / Florian Steger, Was treibt die Literatur zur Medizin? Ein kulturwissenschaftlicher Dialog, Göttingen 2009. Diesem Kontext entsprechend ist eine gute erste Forschungsfundstelle, die Antwortnäherungen vermuten lässt, das Lexikon Literatur und Medizin und das hierin enthaltene Lemma »Alter«: Daniel Schäfer, »Alter«, in: Bettina von Jagow / Florian Steger (Hrsg.), Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, Sp. 38–43.

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Die Frage nach dem Sinn des Alterns – eine sowohl für die Medizin als auch für die Literatur relevante – ist bis heute nicht geklärt. Die moderne medizinische Forschung beschäftigt sich in Anbetracht der demographischen Entwicklung – sie ist durch niedrige Geburtenzahlen und einen Anstieg der Lebenserwartung gekennzeichnet – intensiv mit Fragen des Alterns.5 Es existiert beispielsweise an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg ein eigenes Institut für Biomedizin des Alterns,6 in dem am 9. Februar 1980 als erstem deutschen Institut für Gerontologie die Arbeit aufgenommen wurde. Moderne Alternsforschung fußt dabei auf dem erklärten Ziel eines erfolgreichen Alterns. Im Mittelpunkt heutiger biomedizinischer Forschung stehen Fragen nach oxidativ geschädigten Enzymen, verminderter Wasserspeicherung im Gewebe oder reduzierter Regenerationsfähigkeit. Bedeutend ist nicht zuletzt, dass sich das Krankheitsspektrum, gerade der Alten, von den akuten deutlich hin zu den chronischen Krankheiten verschoben hat. Damit gewinnen Fragen nach einem ›guten‹ Tod wieder an Aktualität; man denke nur an die Problematik des Alterssuizids oder ganz generell an den häufig und vielerlei Ortes von zahlreichen Alten beklagten Verlust von Selbstbestimmung beispielsweise infolge von Immobilität. Diese exemplarisch genannten Themenfelder der aktuellen Forschung erinnern durchaus an Fragen, die bereits in der antiken Medizin gestellt wurden.7 Einhergehend mit der biomedizinischen Forschung wird das gesellschaftspolitische Problem diskutiert, ob sich eine Gesellschaft dieses verlängerte Altern leisten will – und daran anknüpfend, wie sie sich dieses Altern, auch vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit, leisten kann. Doch diese Anliegen sollen – so bedeutend sie auch sind – hier nicht weiter vertieft werden; vielmehr interessiert zunächst, was in einem vereinfachten medizinhistorischen Rückblick folgendermaßen festgehalten wurde: In medizinischen Konzepten der letzten 2500 Jahre wird statt einer Teleologie in erster Linie die Physiologie menschlichen Alterns diskutiert. Im Vordergrund stehen ganzheitliche Defizit-Modelle, die den Verlust eines LebensAgens (Wärme, Feuchtigkeit, Blut, Samen, Spiritus, Ferment, Lebensenergie, metabolischer Grundumsatz) vorbringen. […] In Kombination mit Defizitwerden nicht selten auch Überfluss- oder Vergiftungsmodelle angeführt, die von einem Zuviel an Unverdautem bzw. Nicht-Ausgeschiedenem ausgehen,

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2007: 8,2 Geburten/1000 Einwohner; Sterbetafel 2007: Männer: 76,9 Jahre, Frauen: 82,1 Jahre. Lehrstuhl Innere Medizin V, Prof. Dr. med. Cornel Sieber. Vgl. hierzu generell Florian Steger, Das Erbe des Hippokrates. Medizinethische Konflikte und ihre Wurzeln, Göttingen 2008.

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meist verursacht durch eine Magen-Darm-Schwäche, in neuerer Zeit auch durch Bakterien oder durch Anhäufung intrazellulärer Abfallprodukte.8

Man kann darüber hinaus ergänzen, dass die Vorstellung von einer zunehmenden Abnutzung bestimmter Organe im Laufe des Lebens eine moderne Entsprechung in der molekulargenetischen Theorie vom Altern durch eine Verkürzung der Chromosomenenden, der Telomere, findet.9 Im Untertitel des Beitrags wird die Frage nach Alterstopoi in der antiken Medizin gestellt. Hierzu kann aus der Forschung auf die im Lexikon zur Antiken Medizin enthaltenen Lemmata »Alter« und »Lebensalter« zurückgegriffen werden.10 Darüber hinaus ist die Monographie Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit des Kölner Medizinhistorikers Daniel Schäfer hinzuzuziehen, in welcher er auch auf die frühneuzeitlichen Grundlagen in Antike und Mittelalter eingeht.11 Schließlich ist, da sich alle drei Autoren hierauf maßgeblich beziehen, die grundlegende Arbeit On Ageing and Old Age von Mirko D. Grmek zu nennen.12

II. Nach diesem ersten Teil einführender Bemerkungen wird nun in einem zweiten Teil zunächst auf das Alter und dann auf das Lebensalter geblickt, bevor drittens und letztens die Überlegungen zusammenfassend gebündelt werden. Für den Begriff Alter (griechisch gh/raj, lateinisch senectus oder senium) lassen sich aus der Perspektive der antiken Medizin (und gemeint sind hier vor allem die im Corpus Hippocraticum vereinten Schriften sowie das Œuvre des Aristoteles und des Galen) folgende neun Ergebnisse festhalten: 1. In der dem Corpus Hippocraticum zugerechneten Schrift De octimesi partu ist die – gerade für die Geschlechterforschung interessante –

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Schäfer, »Alter«, Sp. 39. Vgl. Andrej Zeyfang / Ulrich Hagg-Grün / Thorsten Nikolaus, Basiswissen Medizin des Alterns und des alten Menschen, Heidelberg 2008. Manfred Horstmanshoff, »Alter«, in: Karl-Heinz Leven (Hrsg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, Sp. 32–33. Marie-Luise Deißmann, »Lebensalter«, in: KarlHeinz Leven (Hrsg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, Sp. 556–557. Daniel Schäfer, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase, Frankfurt am Main, New York 2004 (Kultur der Medizin 10). Mirko D. Grmek, On Ageing and Old Age. Basic Problems and Historic Aspects of Gerontology and Geriatrics, Den Haag 1958.

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Vorstellung erhalten, dass Frauen schneller als Männer altern, weil Körper und Lebensweise schwächer seien.13 2. Bei Aristoteles liest man in den Parva naturalia, dass starke Anstrengung und ausgeprägte Sexualität Männer schneller altern lasse.14 Sexuelles Begehren, gar Aktivität des alten Menschen werden kritisch gesehen (turpe senilis amor; Ov. am. 1,9,4). Es lässt sich hier ein Topos erkennen, der nicht zuletzt in Johann Nestroys Volksstück Der alte Mann mit der jungen Frau, Posse mit Gesang in 4 Acten (1848/49) wieder aufgegriffen wird. 3. Nach humoralpathologischer Vorstellung ist das Alter in der Regel als kalt und trocken zu charakterisieren.15 Diese Zuschreibungen nehmen beobachtbare Erfahrungswerte in die Theorie auf; für die Kälte wird zudem das Konzept von der Natur des Lebens im Sinne von innerer oder angeborener Lebenswärme aufgegriffen, der die Todeskälte gegenübersteht. Im Corpus Hippocraticum ist überliefert, dass das qermo,n e;mfuton (später: calor innatus) von der Geburt an abnimmt, bis am Ende des Lebens nur noch ein kleiner Rest übrig bleibt.16 Die Trockenheit des Körpers wird analog zu dem herbstlichen Vertrocknen vieler Pflanzen und Blätter gesehen.17 Nicht zuletzt wird auch der empirische Befund von der runzligen Haut zu diesem Analogieschluss beigetragen haben. So erklärt sich auch die stoische Auffassung, dass ein heißes Klima (wie in Äthiopien) das Altern beschleunige.18

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Hipp. Oct. 7,452–460 L., hier Oct. 1 (= Hermann Grensemann, Hippokrates. Über Achtmonatskinder. Über das Siebenmonatskind, Berlin 1968 (CMG 1,2,1), S. 80). Texte des Corpus Hippocraticum werden nach der Ausgabe von Littré (L.) zitiert: Œuvres complètes d’Hippocrate. Traduction nouvelle avec le texte grec, par Émile Littré, 20 Bände, Paris 1839– 1861, Nachdrucke Amsterdam 1961–1963 und 1973–1991. Hippokrates, Sämtliche Werke, ins Deutsche übersetzt und ausführlich commentiert von Robert Fuchs, 3 Bd.e, München 1895–1900. Sofern eine modernere Ausgabe im Corpus Medicorum Graecorum (CMG) vorliegt, wird darauf stets verwiesen. Vgl. zum Corpus Hippocraticum Gerhard Fichtner, Corpus Hippocraticum. Bibliographie der hippokratischen und pseudohippokratischen Schriften, erweiterte und verbesserte Auflage, Tübingen 2008 und zunächst Werner Golder, Hippokrates und das Corpus Hippocraticum. Eine Einführung für Philologen und Mediziner, Würzburg 2007. Aristot. Parv. nat. 5, 466b9–13. Arisot. Parv. nat. 5, 466a18–23. Eine Ausnahme findet sich in Hipp. Vict.; hier wird das Alter als kalt und feucht beschrieben. Hipp. Aph. 1,14 (4,466 L.); Hipp. Nat. Hom. 12 (6,64 L.) = Jacques Jouanna, Hippocrates. De natura hominis, ed., trad. et comm., Berlin 1975 (CMG 1,1,3). Hipp. Nat. Mul. 1 (7,312 L.); Hipp. Mul. 2,111 (8,238–240 L.). (Ps.-)Gal. Phil. Hist. 39 (19,344f. K.). Texte des Corpus Galenicum werden nach der Ausgabe von Kühn (K.) zitiert: Claudii Galeni opera omnia, 20 Bände, ed. Carl G. Kühn, Leipzig 1821–1833, Nachdruck Hildesheim 1965. Sofern eine modernere Ausgabe im Corpus Medicorum Graecorum (CMG) vorliegt, wird darauf stets verwiesen. Zu Galens

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4. Generell sind Umwelteinflüsse als für das Altern verantwortlich angesehen worden. In diesem Zuge werden Ernährung, Luft, Licht, Klima und Gestirne genannt. Solche Vorstellungen sind auch heute präsent. Zu erwähnen wären Erklärungsansätze, die davon ausgehen, dass die erhöhte Zahl an Antikörpern im Alter auf den längeren und intensiveren Kontakt mit Antigenen der Umwelt zurückzuführen sei. 5. Galen schließt sich an und beschreibt das Alter ebenfalls als kalt und trocken. Bei Greisen führe es aber zu heftigen Ausscheidungen – maßgeblich kann hier der empirische Befund von Katarrhen oder triefenden Augen sein – und dementsprechend sei es bei ihnen feucht.19 Alte Menschen werden dem letzten Viertel eines Jahres zugeordnet, das heißt dem Winter, der als kalt und feucht charakterisiert ist. Das Gleichgewicht der Säfte wird im Alter entweder durch ein Übergewicht an kalt-feuchtem Schleim, fle,gma, oder kalt-trockener schwarzer Galle, melai/na colh,, gestört. Diese humoralpathologische Vorstellung war bis mindestens 1700 von großer Bedeutung. 6. Celsus weist den Greisen mehr chronische Krankheiten zu als jüngeren Menschen.20 Für Aristoteles ist der Kraftverlust, avdunami,a, wie das Altern ein Vorgang wider die Natur, er zeigt aber zugleich die Endlichkeit des Menschen.21 Damit wird die zentrale Frage nach der Natürlichkeit des Alterns angesprochen, die aus der Perspektive der antiken Medizin eindeutig beantwortet wurde. Hierfür ist Galen selbst Gewährsmann, der Altern als einen natürlichen Prozess ansieht, keinerlei Krankheitstendenz im Altern selbst erkennt und entsprechend klar zum Ausdruck bringt, dass das Altern ein unausweichlicher physiologischer Prozess ist.22 Die Frage nach der Natürlichkeit des Alterns wird in der Rezeption vielfach aufgenommen. Von der körperlichen Schwäche schlägt Aristoteles den Bogen zu den kognitiven Fähigkeiten des alten Menschen, die ebenfalls mit dem Alter abnehmen.23 Vergessliche alte Menschen sind also nicht nur psychopathologisch fassbar und finden in der Antike Eingang in die medizinische Fachliteratur, sondern sie markieren auch den Gegenpol

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Werk vgl. Gerhard Fichtner, Corpus Galenicum. Bibliographie der galenischen und pseudogalenischen Schriften, erweiterte und verbesserte Auflage, Tübingen 2008. Gal. De temper. 2,2 (1,581f. K.). Vgl. auch schon Hipp. Vict. 1,32f. (6,508–512 L.) = Robert Joly / Simon Byl, Hippocrate. Du régime, Berlin 1984 (CMG 1,2,4). Cels. artes 2,1,5. Der durch Krankheiten geschwächte Greis wird auch zum Thema der Literatur, wie zum Beispiel in Shakespeares King Lear (1605/06). Arist. Cael. 2,6 (288b15–20). Gal. De mar. 2 (7,669ff. K.). Aristot. eth. Nic. 4,1,37 (1121b); 8,6,1 (1158a). Aristot. pol. 2,6,17 (1270b–1271a). Aristot. probl. 30,1 (955a5). Aristot. rhet. 2,12 (1389b–1390a).

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zum Bild der gepriesenen Altersweisheit, für die zum Beispiel die Figur des Nestor steht. Isidor von Sevilla spannt die Brücke dann weiter zu psychischen Fähigkeiten und nennt für das Alter charakteristisch das odium, die senile Verdrießlichkeit.24 7. Im Corpus Hippocraticum ist zu lesen, dass Jüngere schwerer als Ältere an Krankheiten leiden.25 Therapeutisch wird vor allem frühzeitig auf präventive Maßnahmen gesetzt, die das Altern an sich verzögern. Dies geschah ganz im Sinne des Ideals vom so genannten Jungbrunnen und ist Teil des allgemeinen Strebens nach einem jugendlichen, athletischen Körper. Das Streben des Alten nach Jugendlichkeit und frischer Kraft ist in die Literatur eingegangen. So findet sich bei Emile Zola in Le docteur Pascal (1893) die Sehnsucht des alternden Menschen nach Jungsein, und zwar in Form des Wunsches nach verjüngender Liebe. 8. Galen empfiehlt – entsprechend der Grundannahme contraria contrariis – im Alter feuchte und wärmende Mittel. Dabei sind Mittel gegen das biologische Altern, das heißt solche, die einem ein möglichst langes Leben ermöglichen, von denjenigen zu unterscheiden, die für die Gesundheitswahrung im Alter eingesetzt werden. Eine Gruppe von Pharmaka, die für typische Alterskrankheiten (Altersweitsichtigkeit, Gelenkbeschwerden oder Harninkontinenz) eingesetzt worden wären, ist nicht zu finden. Lebensverlängernde Mittel sind beispielsweise Ambrosia, das Galen erwähnt,26 oder das Allheilmittel Theriak, das den ausgezehrten Körpern innere Wärme zuführen soll.27 Daneben steht die zweite Gruppe mit dem Ziel der Gesundheitswahrung. Diese umfasst diätetische Empfehlungen zur Erhaltung der Gesundheit, bei denen konkrete Pharmaka in der Regel nur einen Baustein eines gesamten Konzeptes ausmachen. So findet sich auch in der dem Corpus Hippocraticum zugerechneten Schrift De diaeta die Vorstellung vom Alter als kalt und feucht. Wiederum nach dem Prinzip contraria contrariis werden erwärmende und austrocknende Maßnahmen empfohlen. Galen erläutert in De sanitate tuenda 5 eine ausgeprägte

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Isidor Hispalensis, Etymologiarum sive Originum libri XX, hier 11,2,7. Hipp. Morb. 1,22 (6,184–186 L.). Zum Text vgl. auch Renate Wittern, Die hippokratische Schrift De morbis I. Ausgabe. Übersetzung und Erläuterungen, Hildesheim, New York 1974. Gal. De san. tuenda 5,6 (6,341 K.) = Konrad Koch, Galeni De sanitate tuenda libri VI, Leipzig, Berlin 1923 (CMG 5,4,2); Gal. De simpl. medicament. temp. 6,27 (11,824 K.). Gal. De san. tuenda 5,6 (6,341 K.) = Konrad Koch, Galeni De sanitate tuenda libri VI, Leipzig, Berlin 1923 (CMG 5,4,2); Gal. De ther. ad Pis. 17 (14,286 K.).

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Altersdiätetik,28 die neben dem therapeutischen Prinzip der Gegensätze vom Ideal des Maßhaltens geprägt ist. 9. Ergänzend und ausblickend lässt sich feststellen: Während die medizinische Fachliteratur vorwiegend auf die Schwächen des Alterns abhebt, kann man bei den Nicht-Fachschriften eine Zweiteilung in altersverteidigende und altersablehnende Positionen erkennen: Für die Altersverteidigung seien Ciceros Cato maior de senectute und seine moderne Entsprechung, Noberto Bobbios De senectute (1996; dt. Vom Alter. De senectute) genannt, auch wenn es im letzteren bereits viele Elemente der Altersklage gibt; in beiden Schriften lassen sich kaum medizinische Argumente zur Verteidigung des Alters finden. Auch naturphilosophisch sind die Vorzüge des Alters nicht zu rechtfertigen. Kritische Stimmen zum Alter sprechen in der Lyrik des Horaz, Juvenal, Maximianus oder, um ein Beispiel für ein Drama zu nennen, im sophokleischen Ödipus auf Kolonos. Die körperliche Schwäche, die Hässlichkeit des alten Menschen, die sich an seinem oder ihrem grauen Haar, den Runzeln der Haut oder der Zahnlosigkeit zeigt, sind beliebte Themen. Der Begriff Alter kann auch ein bestimmtes Lebensalter bezeichnen – welche Lebensaltermodelle finden sich in der antiken Medizin und möglicherweise von ihr ausgehend auch in anderen Wissensbereichen? Das Leben kann in der Antike in bestimmte Abschnitte eingeteilt werden, deren Anzahl zwischen drei und sieben variiert. Eine moderne Einteilung in Phasen der nachgeburtlichen Entwicklung und des Lebenslaufs berücksichtigt körperliche, sexuelle und psychosoziale Entwicklungsabschnitte in bestimmten Altersstufen.29 Auch hier gibt es wiederum zahlreiche Differenzierungsmöglichkeiten, doch lässt sich vereinfacht folgende Übersicht erstellen: Geburt – 28. Tag: Neugeborenes; 29. Tag – 12. Monat: Säugling; 2.–3. Lebensjahr: Kleinkind; 4.–6. Lebensjahr: Vorschulkind; 7.–16. Lebensjahr: Schulkind; 17.–18. Lebensjahr: Jugendlicher; 19.–25. Lebensjahr: junger Erwachsener; ab 26. Lebensjahr: Erwachsener; 26.–50. Lebensjahr: Leistungsphase; 51.–66. Lebensjahr: Rückbildungsphase; ab 66. Lebensjahr: Alterung, Senium. Der Einteilung in Tag und Nacht entsprechend findet sich bereits in der Antike als kleinste Differenzierung die Zweiteilung in jung und alt. Analog zu den drei Hauptphasen des Tages Morgen – Mittag – Abend steht die Dreiteilung in pueritia – iuventus – senectus. Aus der Per-

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Gal. De san. tuenda 5 (6,305–380 K.) = Konrad Koch, Galeni De sanitate tuenda libri VI, Leipzig, Berlin 1923 (CMG 5,4,2). »Lebensabschnitte«, in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin, New York 259 2002, S. 935–936.

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spektive der antiken Medizin lassen sich für die Einteilung in »Lebensalter« (griechisch h`liki,a, lateinisch aetas) folgende drei Ergebnisse festhalten: 1. Das Lebensalter wurde in der antiken Medizin – entsprechend der naturphilosophischen Vierzahl (Mensch und Welt setzen sich aus Feuer, Wasser, Luft und Erde zusammen), der Vierzahl der Jahreszeiten und der Körpersäfte30 – in vier Abschnitte gegliedert.31 Diese vier Lebensalter finden als so genannte res naturales additae zur Beschreibung der natürlichen Befindlichkeiten des Menschen in die lateinische und islamische Rezeption Eingang: Kindheit (Frühjahr), Jugend (Sommer), Reife (Herbst) und Alter (Winter).32 2. Bei Varro ist in einer gewissen Erweiterung der Vierzahl und – in Anlehnung an die fünf Sinne beziehungsweise die fünf Finger – eine Fünfteilung der Lebensalter überliefert:33 infantia, pueritia, adulescentia, iuventa und senecta. Entsprechend variabel war diese Lebensaltereinteilung, und mit demgemäß differenten Namen wurden die einzelnen Abschnitte beschrieben. Bei christlichen Autoren findet sich in Analogie zu den sechs Tagen der göttlichen Schöpfung auch eine Sechsteilung der Lebensalter. Dabei gilt, dass die einzelnen Phasen nach der jeweiligen Mischung von warm und feucht eine unterschiedliche Anfälligkeit für Krankheiten aufweisen.34 3. Darüber hinaus ist eine weitere Differenzierung in sieben Teilschritte überliefert, die so genannte Hebdomadeneinteilung:35 Kindheit eins (bis zum zweiten Zahnen): bis sieben Jahre; Kindheit zwei (bis zur ersten Pollution): bis 14 Jahre; Jugend, griechisch h[bh (bis zum ersten Bartwuchs): bis 21 Jahre; Jünglingsalter (bis der Körper völlig ausgewachsen ist): bis 35 Jahre; ab dem 35. Lebensjahr nehmen die Kräfte – den im Corpus Hippocraticum überlieferten Vorstellungen entsprechend – wieder ab; Reifezeit, iuventus: bis zum 49. Jahr; späte Reife, seniores, griechisch presbu,thj (die Fähigkeit geht verloren, gesunde Kinder zu zeugen): bis zum 63. Jahr; Alter, senes (ge,rwn): bis zum 84. Jahr.

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Hipp. Hum. 11 (5,492 L.). Hipp. Vict. 1,33 (6,510f. L.) = Robert Joly / Simon Byl, Hippocrate. Du régime, Berlin 1984 (CMG 1,2,4). (Ps.-)Gal. Def. med. 104 (19,373f. K.). Hipp. Aph. 3,18 (4,494 L.). Varro, Incertae sedis fragmenta, frg. 447. Serv. In Verg. comm. 5,295. Hipp. Aph. 2,39 (4,480f. L.); Hipp. Aph. 3,24–31 (4,496–502 L.); Hipp. Vict. 1,33 (6,510f. L.) = Robert Joly / Simon Byl, Hippocrate. Du régime, Berlin 1984 (CMG 1,2,4). Hipp. Hebd. 5 (8, 636 L.). Vgl. zum Text Wilhelm Heinrich Roscher, Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung zum erstenmal herausgegeben und erläutert 1913, Nachdruck New York 1967. Vgl. auch Julius Pollux 2,4; Cens. 14,9.

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Diese Lebensaltereinteilungen wurden über den engeren biologischen beziehungsweise medizinischen Rahmen hinaus oft als Metapher für biologische Entwicklungen sowie historische Verläufe verwandt:36 So wird häufig der Vergleich geführt, dass jede Kultur die von der Natur gesetzten Altersstufen eines Menschen durchläuft. Schon Hesiod bezeichnet die Geburt von grauhaarigen Kindern als Zeichen eines ehernen Zeitalters.37 Polybios verwendet dann das Bild eines notwendigen Lebenskreises:38 Jeder Körper, jeder Staat, jede Haltung wachse, erreiche den höchsten Stand und vergehe wieder mit einer gewissen Naturnotwendigkeit. Nicht zuletzt wurden der Aufstieg des Imperium Romanum und sein Niedergang seit der Kaiserzeit von einer universalhistorisch orientierten Historiographie in einen Vergleich mit den Lebensaltern gestellt. Florus hat das Bild der Lebensalter in seinen Geschichtsbüchern in den Mittelpunkt gestellt:39 Er teilt seinen Abriss der römischen Geschichte von der Königszeit bis zum Tod von Augustus in drei Lebensalterabschnitte ein: infantia (gesamte Königszeit, 753–510 v. Chr.), adulescentia (Römische Republik vom Sturz des Königtums bis zum 1. Punischen Krieg) und iuventus (bis zur Alleinherrschaft Caesars, 264–30 v. Chr.).40 Florus steht mit dieser Dreiteilung in einer Tradition, zu der auch Ciceros De re publica mit Scipios dreigeteiltem Abriss der römischen Geschichte (nascentem, crescentem, robustam) gehört;41 daher kann die späte Republik in Ciceros Gesamtkonzeption nur schwerlich als vollkommener Staat (senectus) angesehen werden. Ein viertes Lebensalter gibt es jedoch in Ovids Metamorphosen, wenn hier die vier Jahreszeiten mit den vier menschlichen Altersstufen verglichen werden;42 desweiteren verwendet Lukrez die vier Lebensalter als Metaphern.43 Laktanz erweitert die Konzeption des Florus in den Divinae institutiones dann, wenn er Seneca den Älteren zu Wort kommen lässt und vom bevorstehenden Untergang des römischen

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Darauf hat nicht zuletzt vor 30 Jahren bereits Demandt hingewiesen: Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte, München 1978. Vgl. zur Thematik des Lebensaltervergleichs auch Reinhard Häussler, »Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs«, in: Hermes, 92 (1964), S. 313–341. Hes. op. 181. Polyb. 6,51,4. Vgl. Martin Hose, Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio, Stuttgart, Leipzig 1994 (Beiträge zur Altertumskunde 45), hier S. 53–141 (Florus). Senectus (seit Caesar Augustus, 30 v. – 98 n. Chr.) und reddita iuventus (seit 98 n. Chr.) sind bekanntermaßen textkritisch umstrittene Passagen. Cic. rep. 2,2–4. Ov. met. 15,199–213. Lucr. rer. nat. 3,445–458.

Altern im Leben

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Reiches spricht,44 um die beiden Stufen pueritia (Teil der Königszeit, 715–510; mit infantia ist hier nur die Königsherrschaft des Romulus, 753–715, bezeichnet) und senectus (seit Beginn der Kaiserzeit); eine ähnliche Verwendung der Lebensalter findet sich bei Ammianus Marcellinus und in der Historia Augusta.45 Kurzum: Ausgehend von Florus hat die metaphorische Verwendung der Lebensalter einflussreich gewirkt, und zwar von Petrarca bis zum Ende des Renaissance-Humanismus. Julius Caesar Scaliger hat schließlich im sechsten Buch seines Werkes Poeticae libri septem, das 1561 in Genf gedruckt wurde, unter der Überschrift De aetatibus poesos Latinos als erster das Bild der Lebensalter auf literaturgeschichtliche Epochen übertragen.46 Doch der Ausblick in diese Richtung greift im Grunde ein weiteres Thema auf, das hier nicht vertieft werden kann.

III. Thema dieser Überlegungen war das Altern im Leben, und zwar aus der Perspektive der antiken Medizin. Dabei galt es besonders darauf zu achten, inwiefern Überlegungen, Annahmen und Konzeptionen des Alterns im Leben in der antiken Medizin zum Topos wurden. Der Befund ist klar und deutlich: Zweifelsohne werden antike Vorstellungen vom Altern zum Topos, doch ist der Anteil der antiken Medizin hieran bescheiden. Für die antike Medizin lassen sich medizintheoretische Konzeptionen des Alterns erkennen, die im Wesentlichen humoralpathologische sind. Diese konnten natürlich eine ungemeine Rezeption für sich in Anspruch nehmen. Doch was lässt sich für das Altern aus Sicht der antiken Medizin herausarbeiten, das den Charakter eines Topos bekommen hätte? Hier dürfte bescheidene Zurückhaltung in der abschließenden Betrachtung angebracht sein. Denn die Lebensalter sind beispielsweise keine genuin medizinische Vorstellung, die einen Praxiswert für die Heilkunst gehabt hätte. Es sind dies vielmehr biologische Konzeptionen, die auch Eingang in die Medizintheorie gefunden haben. Man kann feststellen, dass es in der antiken Medizin eine formale Topik gab, und zwar durch die Herstellung von Ähnlichkeitsrelation(en). Es war also eine topische Systematik vorhanden, zu der

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Lact. inst. 7,11ff. Amm. 14,6,1–23. Hist. Aug. Car. 2–3. Vgl. auch Karl August Neuhausen, »Florus’ Einteilung der römischen Geschichte und seiner historischen Schrift in Lebensalter«, in: Henri Dubois / Michel Zink (Hrsg.), Les âges de la vie au Moyen Âge, Paris 1992 (Cultures et civilisations médiévales 7), S. 217–252.

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dann empirische Beobachtungen hinzutraten. Doch – und dies sollte deutlich konstatiert werden – sind in der antiken Medizintheorie keine Topoi im engeren Sinn zu erkennen. Es fehlt jegliche Form eines literarischen Spielens mit Topoi vom Alter und Altern, so dass folgende Feststellung berechtigt erscheint: Weil kein Spiel mit dem, was als Topos zu definieren sein könnte, zu erkennen ist, ist auch keine Definition als Topos bzw. Topoi möglich. Es handelt sich hierbei wohl eher um Axiome als um Topoi. Um es abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Perspektiven der antiken Medizin auf das Altern im Leben sind deutlich und klar zu erkennen. Blickt man näher auf diese frühen Annahmen und Vorstellungen, ist man – in Anbetracht moderner biomedizinischer Forschung – von deren Aktualität sehr erstaunt. Diese Erkenntnis lässt sich auch allgemein auf viele Aspekte antiker und zeitgenössischer Medizin übertragen. Ob sich in der antiken Medizin allerdings die gesuchten Alterstopoi finden lassen, ist zu bezweifeln.

ANNETTE GEROK-REITER

Kindheitstopoi in Gottfrieds Tristan Anspielungen, Überlagerungen, Subversionen The article takes issue with a critical dispute with Ariès by locating a remarkable spectrum of topoi of childhood in extraliterary and literary sources. Next, the special topoi related to childhood, addressing stages in a hero’s growing-up, are considered in the framework of the so called Enfances of German epics and courtly romance. Gottfrieds von Straßburg Tristan here serves as a paradigm, although he confronts the mythological topoi of childhood with an opposing conception encapsulated in the topos of the deficient child. With this interference, the two topical representations are changed in meaning: The childhood-related topoi, understood as topoi of the maturing hero, now appear as functions of a masterful self-production. Tristan proves to be a player sui generis, yet his play is not a child’s play, but rather a gamble, a matter of life and death. The topos of the deficient child opens in a contrary direction and evokes that unique moment when Tristan, before developing his future art of producing an identity without identity, seems to be, for the duration of some verses, a child, nothing but a child, which is to say: to be himself.

1. Kindheit und Jugend im Mittelalter – Perspektiven der Forschung Wie wurden Kindheit und Jugend1 im Mittelalter gesehen? Unterschiedliche Deutungen liegen vor. Am prominentesten ist sicherlich die

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Im Sinne der Lehre der ›Lebensalter‹, die bis in die Antike zurückreicht, über die Schriften des Byzantinischen Reichs sich bei den mittelalterlichen Kompilatoren wiederfindet und bis in die vulgärwissenschaftlichen Konzeptionen des 16. Jahrhunderts reicht, würde diese Zeitspanne die Lebensjahre bis ca. 14 umfassen: Nach der Heptomadenlehre des Solon etwa unterteilt sich die ›Kindheit‹ in zweimal sieben Jahre (zur Verbreitung der Heptomadenlehre in der Antike vgl. Franz Boll, Die Lebensalter. Ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur Geschichte der Zahlen. Mit einem Anhang über die Schrift von der Siebenzahl, Leipzig und Berlin 1913 [Sonderdruck aus dem 23. Band der Neuen Jahrbücher für das klassische Altertum – Geschichte und Deutsche Literatur, S. 89– 146], S. 24–30; zur Rezeption der antiken Lebensaltermodelle: Klaus Arnold, »Lebensalter«, in: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993, S. 216–222. Für Mittelalter und Renaissance bleibt die Einteilung nach Siebener-

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Deutung von Philippe Ariès, L’ enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960.2 Nach Ariès ist für das Mittelalter Kindheit gleichsam ein unbeschriebenes Blatt: Die mittelalterliche Gesellschaft […] hatte kein Verhältnis zur Kindheit […]. Deshalb gehörte das Kind auch, sobald es ohne die ständige Fürsorge seiner Mutter, seiner Amme oder seiner Kinderfrau leben konnte, der Gesellschaft der Erwachsenen an und unterschied sich nicht länger von ihr.3

Die Entdeckung der Kindheit als eigenständigem Lebensstadium beginne signifikant erst im 17./18. Jahrhundert. D.h., zwischen dem Kind und dem Erwachsenen habe es in der mittelalterlichen Gesellschaft keine kategoriale Unterscheidungslinie gegeben. Eine wesentliche Ursache hierfür sieht Ariès in der hohen Kindersterblichkeit. Diese habe dazu geführt, dass sich Eltern nicht emotional an ihre Kinder binden wollten.4 Ebendies habe dann aber auch verhindert, dass Kindheit als Lebensphase mit eigenen Ansprüchen und Möglichkeiten in den Blick treten konnte. Als Belegmaterial stützt sich Ariès dabei vor allem auf lexikalische und ikonographische Hinweise sowie Veränderungen im Ausbildungssystem. Lexikalisch weist Ariès darauf hin, dass die begriffliche »Grenze zwischen ›Kindheit‹ und ›Adoleszenz‹ auf der einen Seite und der Kategorie ›Jugend‹ auf der anderen […] verschwommen«

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schritten vorherrschend, so Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit, Paderborn, München 1980 (Sammlung Zebra, Reihe B, Bd. 2), S. 17–27. Wichtiges Zeugnis für diese Unterteilung ist der Grand Propriétaire de toutes choses, très utile et profitable pour tenir le corps en santé von B. de Glanville, eine lateinischen Kompilation des 13. Jahrhunderts, die im 16. Jahrhundert von Jean Corbichon ins Französische übersetzt und durch den Druck eine größere Verbreitung fand; die Kompilation ordnet diesem Abschnitt, so die Ausführungen zu den Lebensaltern im 6. Buch, die Altersstufe der frühen Kindheit, der infantia (0–7), sowie die Altersstufe der pueritia (bis 14) zu. In der Regel wird darauf die Altersstufe adolescentia angesetzt, die die Zeit bis zum Erwachsenenalter umfasst, gefolgt vom Zeitabschnitt iuventus: vgl. den Überblick zu den vier Lebensaltern bei Shulamith Shahar, Kindheit im Mittelalter, München 1991 [Childhood in the Middle Ages 1990], S. 29– 40, mit aussagekräftigem Belegmaterial zu den genannten vier Abschnitten S. 100 Anm. 3. Zur Überlagerung der antiken Teiler durch die Gliederung nach Dekaden seit dem 13. Jahrhundert siehe vor allem Thorsten Fitzon, »›Zehn Jahr ein Kind‹. Das Kind in Lebensaltermodellen der Frühen Neuzeit«, in: Klaus Bergdolt / Berndt Hamm / Andreas Tönnesmann (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, Wiesbaden 2008 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 25), S. 197–220. Im Folgenden zitiert nach: Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig, aus dem Französischen von Caroline Neubaur und Karin Kersten, München 16 2007 [dt. zuerst 1975]. Ebd., S. 209. Ebd., S. 98f.

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bleibt.5 Ikonographisch sei auffallend, dass man, wenn überhaupt, bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein in der Regel Kinder als kleine Erwachsene dargestellt habe, was Kleidung und Beschäftigung bezeugten.6 Erst mit dem 17. und 18. Jahrhundert würde – statistisch gesehen – die Zahl der kulturgeschichtlichen Zeugnisse, die das Kind in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des Interesses rücken würden, deutlich zunehmen. Erst jetzt etwa würden sich in Porträts bürgerlicher Familien in Bezug auf die Kinder Intimität, Privatheit und Stolz ausdrücken. Zur bewussten Wahrnehmung des Kindes habe dabei auch die Ablösung des Lehrverhältnisses, das das Kind in die Erwachsenenwelt integrierte, durch die Schulausbildung beigetragen, die die Kindheit um die »gesamte Dauer des Schulaufenthalts verlängert« hat.7 Die fehlende Kategorie ›Kindheit‹, die aufgrund ihres Fehlens in mittelalterlichen Kontexten keine Kindheitstopoi habe entstehen lassen, führt dabei jedoch nach Ariès keineswegs zu einem nur negativ einzuschätzenden Lebensalltag der Kinder. Denn die Kehrseite der fehlenden Zäsur zwischen Kindern und Erwachsenen sei gewesen, dass man Kinder schon sehr früh in die Welt der Erwachsenen einbezogen habe, sei dies bezogen auf Verhaltensformen, Verpflichtungen, Feste oder auch gemeinsame Spiele. Trotz der These von der fehlenden emphatischen Kategorie ›Kindheit‹ hat Ariès mittelalterliche Kindheit somit denn im Rahmen einer ausgeprägten Sozialität gesehen, die jedoch nicht durch den ›privaten‹ Schutzmantel der Familie, sondern durch das Netzwerk der nächsten Öffentlichkeit – Nachbarn, Verwandte, Lehrmeister – geprägt war.8 Man hat Ariès bekanntlich in verschiedener Hinsicht widersprochen. Gegenüber der positiven Integrationsmöglichkeit, die Ariès herausstellt und die ihm bei Wolfgang Maaz den Vorwurf eingetragen hat, er habe trotz aller Vorbehalte die Kindheit im Mittelalter doch eher »in ein warmes Licht getaucht«,9 hat Lloyd deMause10 versucht,

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Ebd., S. 86; zu den terminologischen Schwierigkeiten ausführlich S. 81–86. Vgl. auch Arnold, Kind und Gesellschaft, S. 20. Für die deutschen Lebensalterdarstellungen macht Fitzon, »Zehn Jahre ein Kind«, S. 198, eine weitaus präzisere Begrifflichkeit geltend. Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 112–174. Ebd., S. 463. Ebd., S. 469–558. Wolfgang Maaz, »Rezension zu Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit, Paderborn, München 1980 (Sammlung Zebra, Reihe B, Bd. 2)«, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 18 (1993), S. 323f., hier S. 323. Lloyd deMause, »Evolution der Kindheit«, in: L. deM. (Hrsg.), Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt a. M. 1977 [The History of Childhood 1974/1975], S. 12–111.

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den Komplex der mittelalterlichen Kindheit als »Alptraum zu rekonstruieren, aus dem es erst im 20. Jahrhundert ein Erwachen« gegeben habe.11 In diese Richtung argumentiert auch Edward Shorter, indem er Ursache und Folgen von Ariès’ Argumentation umdreht: Nicht die hohe Kindersterblichkeit sei für die emotionale Gleichgültigkeit der Mütter verantwortlich, sondern umgekehrt: der »Mangel an Fürsorge« für »die hohe Mortalität« der Kinder.12 Klaus Arnold kommt aufgrund eines reichen medizinhistorischen, hagiographischen, literarischen und didaktisch-enzyklopädischen Materials dagegen zu einer Einschätzung, die drei verschiedene Perspektiven in historischer Staffelung vorstellt: Neben einer ambivalenten, z. T. durch Aversionen geprägten Auffassung des Kindes bilde sich zwischen 1100 und 1300 unter positiver Auswirkung der Scholastik und Mystik die Position heraus, das Kind als »Wesen mit eigenständigen Rechten und Möglichkeiten«13 zu werten. Diese Umwertung setze sich im italienischen Humanismus fort, indem es zu einer Neubewertung der Familie insgesamt komme. Ein ähnlich breites Spektrum spiegeln Darstellungen, die sich allein auf literarische Quellen stützen. So lassen sich einerseits literarische Texte als Quellen mit realhistorischen Anspielungen auswerten, insofern einige ihrer Helden »typische Stationen des mittelalterlichen Bildungsplans, wie er den Dom- und Klosterschulen und den ersten Universitäten des 12. und 13. Jahrhunderts zugrundelag«,14 durchlaufen: so

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So das treffende Resümee bei Maaz, »Rezension«, S. 323. Edward Shorter, »Der Wandel der Mutter-Kind-Beziehungen zu Beginn der Moderne«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 1 (1975), S. 256–287, hier S. 286. Vorsichtiger formuliert seine Kritik an Ariès Otto Hansmann, Kindheit und Jugend zwischen Mittelalter und Moderne. Ein Lese-, Arbeits- und Studienbuch, Weinheim 1995, S. 123: Nicht »unbeschwerte Freizügigkeit und relativ frühe Selbständigkeit innerhalb der umfangreichen und generationenübergreifenden Familienbeziehungen« kennzeichneten die mittelalterliche Kindheit, vielmehr seien die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern vor allem von »Begehrlichkeiten der Eltern gegenüber ihren Kindern geprägt«. Arnold, Kind und Gesellschaft, S. 86. Eine ambivalente Einstellung zur Kindheit – allerdings nicht diachron aufgefächert, sondern abgeleitet vom Kindheitsstatus an sich – betonen in Auseinandersetzung mit ihren Quellen auch Shahar, Kindheit, S. 18–27, und Eva Schlotheuber, »Die Bewertung von Kindheit und die Rolle von Erziehung in den biographischen und autobiographischen Quellen des Spätmittelalters«, in: Klaus Bergdolt / Berndt Hamm / Andreas Tönnesmann (Hrsg.), Das Kind in der Renaissance, Wiesbaden 2008 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 25), S. 43–69, hier insbes. S. 44f. und mit Verweis auf die mittelalterliche Zweiwegelehre S. 55–58. Gunhild und Uwe Pörksen, »Die ›Geburt‹ des Helden in mittelhochdeutschen Epen und epischen Stoffen des Mittelalters«, in: Euphorion, 74 (1980), S. 257–286, hier S. 257.

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etwa Alexander, Gregorius oder – in Ansätzen – auch Tristan.15 Ältere literaturwissenschaftliche Arbeiten16 haben jedoch – neben kompilatorischen Materialsammlungen – vor allem das vom heutigen Standpunkt aus wenig Kindgemäße in den Kindheitsdarstellungen der literarischen Texte hervorgehoben, zum Teil unter stark ideologisch wertendem Aspekt.17 Nur Parzival gilt immer wieder als Ausnahme.18 In ähnliche Richtung, doch ohne problematische Werturteile, vor allem aber in kritischer Auseinandersetzung mit Ariès konnte James A. Schultz auf der Basis der mittelhochdeutschen Erzählliteratur herausarbeiten, dass hier durchaus ein Kindheitskonzept anzutreffen ist, das sich jedoch nicht wie die Kindheitskonstrukte der Romantik auf den Topos der Unschuld beziehe, sondern den Topos der Defizienz favorisiere. Positiv konnten Kinder demnach nur in dem Maß hervortreten, in dem sie ihre späteren Qualitäten als Erwachsene vorwegnehmen würden und sich somit ihrer Erbanlage, ihrem art entsprechend entwickelten.19 Minutiös hat auch Friedrich Wolfzettel konzeptuelle Vorstellungen von Kindheit in autobiographischem Schrifttum (Augustinus und Guibert de Nogent: De vita sua [verfasst ca. 1114–1117]) und im Bereich der altfranzösischen Lyrik des 13. und 14. Jahrhunderts nachgewiesen, die jedoch konzeptuell durchaus in eine andere Richtung weisen. Seine

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Vgl. zu den jeweils unterschiedlichen Lehrformen auch: Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 94). Siehe auch Beate Baier, Die Bildung der Helden. Erziehung und Ausbildung in mittelhochdeutschen Antikenromanen und ihren Vorlagen, Trier 2006 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 68). Vgl. Agnes Geering, Die Figur des Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung, Zürich 1899 (Gesellschaft für deutsche Sprache in Zürich, Abhandlungen, Bd. 4); Friedrich Carl Arnold, Das Kind in der deutschen Literatur des XI.–XV. Jahrhunderts, Diss. Greifswald 1905; Magdalena Rother, Die Darstellung der Kindergestalten im höfischen Epos, Diss. Greifswald 1930. Zur älteren Forschung resümierend Arnold, Kind und Gesellschaft, S. 65f., und Anja Russ, Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und LancelotRomanen: hohes und spätes Mittelalter, Stuttgart u.a. 2000, S. 13f. Helga Tiedemann, Das Kind in der literarischen Darstellung der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, Diss. Heidelberg 1957 [Masch.], S. 116, etwa argumentiert: »Das Kinderbild, wie es sich in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts und in den Fürstenspiegeln zeigt, ist geprägt von den Forderungen, die an das Kind herangetragen werden. Eine kindgemäße, das heißt dem Wesen des Kindes gerecht werdende Erziehung ist jener Zeit fremd. Ihr ist das Kind unvollkommen, nur Vorbereitung auf das Erwachsenenalter. Das wird in der Dichtung durch den Eindruck einer inneren und äußeren Vollkommenheit verdeckt«. So etwa bei Geering, Figur des Kindes, S. 19 und 117 u.ö; differenzierter bei Russ, Kindheit und Adoleszenz, die die parallelen Züge in der Gestaltung der Kindheitsgeschichten im Parzival, im Lanzelet und im Prosalancelot betont: zusammenfassend S. 389. James A. Schultz, The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages, 1100–1350, Philadelphia 1995.

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Textbeispiele zeigen, dass Kindheit und Jugend implizit oder explizit als Ressourcengrund für religiöse Erfahrung bzw. die Fähigkeit des Dichtens positiv gewertet und herausgestellt sein konnten.20 Blickt man schließlich auf die theologische und die hagiographische Tradition, insbesondere auf die Heiligenlegende, so wird man im Mittelalter selbst den Topos des unschuldigen Kindes wiederfinden.21 Prägnant fasst diesen Aspekt die etymologische Auslegung des Isidor von Sevilla zusammen: Puer a puritate vocatus, quia purus est.22 Man wird somit zwar mit Ariès sagen, dass sich Kindheit und Jugend als Lebensphase mit eigenem Recht kaum innerhalb des Mittelalters abzeichnen, zugleich wird man jedoch gegen Ariès einwenden, dass sich im Mittelalter durchaus bereits Konzeptionen von Kindheit und Jugend erkennen lassen. Die hierbei verwendeten Erklärungsmuster und Topoi zeigen eine erstaunlich große Bandbreite von der Vorstellung des grundsätzlich defizienten Kindes über die Vorstellung des nur noch nicht erwachsenen Kindes bis hin zum Topos des unschuldigen Kindes. Festzuhalten bleibt dabei, dass die unterschiedlichen Ergebnisse und Standpunkte nicht nur daher stammen, dass unterschiedliches Belegmaterial (Literatur, bildende Kunst, medizinhistorische Schriften etc.) und unterschiedliche Zeiten jeweils zu Rate gezogen wurden, sondern sich solch unterschiedliche Ergebnisse und Standpunkte auch innerhalb spezifischer Gattungsgruppen (wie etwa dem mittelalterlichen Roman),23 ja sogar

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Friedrich Wolfzettel, »Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung«, in: Ulrich Ernst / Klaus Ridder (Hrsg.), Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters, Köln, Weimar, Wien 2003 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 8), S. 291–313. Dazu: Shahar, Kindheit, S. 21–25 (unter Hervorhebung auch der medizinischen Tradition [S. 25]); Schultz, The Knowledge of Childhood, S. 52f.; Walter Haug, »Kindheit und Spiel im Mittelalter. Vom Artusroman zum ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander«, in: José Sánchez de Murillo / Martin Thurner (Hrsg.), Kind und Spiel, Stuttgart 2006 (Aufgang 3), S. 139–154, hier S. 144f. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX, hrsg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, Liber XI, 2, 10; vgl. dazu Shahar, Kindheit, S. 22; Grundlage der Deutung des unschuldigen und deshalb vollkommenen Kindes bieten etwa die Bibelstellen: Ps 8,3; Mt 11,25; Mt 18,3–5; Mt 19,14; Mk 10,14f.; Lk 18,16f. Vgl. auch Hans Herter, »Das unschuldige Kind«, in: Jahrbuch für Antike und Christentum, 4 (1961), S. 146–162, insbes. S. 158–160. Zur Zuwendung zum Kind, insbesondere der Darstellung des Jesuskindes, in der geistlichen Literatur vgl. auch die Hinweise bei Arnold, Kind und Gesellschaft, S. 60. Dies wird besonders deutlich bei Ursula Gray, Das Bild des Kindes im Spiegel der altdeutschen Dichtung und Literatur. Mit textkritischer Ausgabe von Metlingers »Regiment der jungen Kinder«, Bern, Frankfurt a. M. 1974 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 91), da sie nach gattungsspezifischen Gesichtspunkten – unterschieden nach geistlicher und weltlicher Dichtung, juristischer und medizinischer Fachliteratur, zugleich chronologisch verfahrend – sondiert.

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innerhalb eines Textes24 finden. Um die Frage nach mittelalterlichen Kindheitstopoi spezifizieren zu können, enge ich den Blick im Folgenden somit schrittweise ein, zunächst auf ein einziges Medium, die Literatur, und hier auf einen bestimmten Gattungsstrang, die narrative Großform von Roman und Heldenlied, um von dort aus die Figur des Tristan zu fokussieren.

2. Kindheitstopoi des werdenden Helden Im Bereich von mittelalterlichem Roman und Heldenlied ist zwischen zwei Erzählvarianten grundsätzlich zu unterscheiden: Erzählungen, die ohne Kindheitsgeschichte des Helden auskommen, und Erzählungen, die der Haupthandlung des Helden sog. Enfances, Kindheitsgeschichten, voranstellen. Nicht erzählte Kindheit korrespondiert dem Defizienztopos: Kindheit ist, als defiziente, nicht erzählenswert. Bei Erec und Yvain/Iwein etwa in den Romanen Chrétiens de Troyes oder Hartmanns von Aue spielt die Frage nach der Art der Kindheit und den Erfahrungen des Heranwachsenden keine Rolle. Anders jedoch im Alexanderroman, Hartmanns Gregorius, Wolframs Parzival, in Gottfrieds Tristan, in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet, in Wirnts von Gravenberc Wigalois, bei Siegfried usw.25 Hier lässt sich deutlich ein Interesse an Kindheit feststellen, wobei die Enfances nicht nur das eigentliche Kindesalter bis sieben umgreifen, sondern ebenso die Lehrjahre mitsamt der Adoleszenz.26 Gunhild und Uwe Pörksen haben sich in einer Studie von 1980 die Aufgabe gestellt, die »charakteristischen Züge und Motive in diesen Kindheitsgeschichten« herauszuarbeiten.27 Als Ergebnis halten sie elf typische Stationen fest, die sich in den von ihnen unter-

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So weist Haug, »Kindheit und Spiel«, für das ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander drei unterschiedliche Kindheitsbilder nach: »1) Kindsein unter dem resignativen Aspekt seines Verlusts, 2) Kindsein als mythisches Bild paradiesischer Unschuld und 3) Kindsein als gefährliche Unbedenklichkeit gegenüber der sündigen Welt« (S. 153). Eine umfassende Darstellung der Enfances in altfranzösischer Erzähltradition bietet Friedrich Wolfzettel, »Zur Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik I«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 83 (1973), S. 317–348, II, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 84 (1974), S. 1–32. Vgl. Wolfzettel, »Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung«, S. 291. G. und U. Pörksen, »Die Geburt des Helden«, S. 260; mit deutlicher und berechtigter Kritik an einem Verfahren, das sich anmaßt, »von der ästhetischen Darstellung auf die Lebenswirklichkeit des mittelalterlichen Kindes zu schließen« (S. 259). Die Kritik richtet sich dabei primär gegen Ariès (vgl. S. 259 Anm. 14). Umsichtig im Bezug zwischen Literatur und Leben verfahren: Helmut Brall-Tuchel / Alexandra Haussmann, »Erziehung und Selbstverwirklichung im höfischen Roman«, in: Der Deutschunterricht, 55 (2003), S. 18–28.

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suchten Kindheitsgeschichten28 mehr oder weniger ähnlich abzeichnen. Diese Stationen sind: die (in der Regel) hohe Abkunft (1), die ungewöhnliche Zeugung (2), Träume und Weissagungen (3), verborgene Geburt (4), Verwaisung (5), Gefahren im frühesten und späteren Kindesalter (6), wunderbare Rettung (7), Aufwachsen in ungemäßer Umgebung (8), Offenbarung von Tugenden (und Untugenden) (9), entscheidendes Hervortreten (10), Erfahren von Name und Herkunft (11).29

Die Aufzählung zeigt, dass nicht nur spätere Tugenden vorweggenommen oder eine ideale Erziehung vorangestellt wird, sondern dass eine spezifische Abfolge von Motivkomplexen zu erkennen ist, die sich, wie Gunhild und Uwe Pörksen zu Recht festhalten, zu »einem Muster zusammensetzen […]. Dieses Muster bzw. seine einzelnen Züge scheinen – ähnlich wie die Antizipation der Tugenden – auf das spätere Heldentum des Kindes vorauszuweisen.«30 Dabei müssen nicht alle Stationen realisiert sein, einzelne Stationen können fehlen oder auch modifiziert auftreten, ja zum Typus gehört in entscheidenden Ausmaßen auch dessen Variabilität,31 doch insgesamt zeigen sich große Konstanten. So wird festgehalten, dass sämtliche mittelalterliche Kindheitsdarstellungen in der Epik diesem Muster folgen; und mehr als dies: Eine »mittelalterliche Besonderheit« liege in der Art, die Kindheit der Heroen darzustellen, gerade nicht vor, vielmehr zeige sich hier ein Muster von universeller Geltung, das sich in unterschiedlichsten Kul-

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Dazu zählen: die Legenden um Gregorius, Judas, Pilatus; Stoffe und Dichtungen um Karl, Roland, Rennewart; arthurische Erzählungen um Tristan, Parzival, Artus, Merlin, Mordred; Heldensagen um Siegfried bzw. Sigurd, Högni und Wolfdietrich; Geschichtsdichtung um Alexander (vgl. die genaue Auflistung ebd., S. 263 und 263ff., Anm. 23). Ebd., S. 261. Ebd., S. 260. Ebd., S. 263, 269 und 284: »Je stärker ein Autor als Gestalter eines Stoffes hervortritt, um so mehr sind die typischen Muster im Rahmen seiner Erzählung funktionalisiert und individuell gedeutet, ist das Muster von dem Sinn der jeweiligen Geschichte modifiziert oder ganz aufgesogen.« Den Variabilitätsmodus stellt Russ, Kindheit und Adoleszenz, S. 387, in ihrer Kritik an den Thesen von G. und U. Pörksen nicht ausreichend in Rechnung: Statt von einem durchgehenden ›hero-pattern‹ möchte sie von zwei Typen von Kindheitsgestaltung ausgehen, dem »Typ des aus der Welt der Kindheit unerfahren ausziehenden Helden, der durch tumpheit charakterisiert ist, und de[m] Typ des die Kindheitswelt erfahren verlassenden Helden, der durch den puer-senexTopos gekennzeichnet wird. Dabei konnte dargelegt werden, daß beide Typen durch die gleichen Erzählmittel erzeugt werden: durch den Ort der Kindheit (abgeschlossen oder in der Welt), die Art des Aufwachsens (als Einzelkind oder unter Gleichaltrigen) und in der Erziehung (hindernd oder fördernd)«. Beide hilfreich gegeneinander abgegrenzten Typen sind jedoch als Binnendifferenzierung durchaus kompatibel mit dem Modell von G. und U. Pörksen.

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turkreisen und Zeiten wiederfinde, etwa im Gilgamesch-Epos aus dem 12. Jahrhundert v. Chr.,32 in zahlreichen Beispielen der griechischen Heroen- und Göttermythologie (das Paradebeispiel ist Herakles) oder auch in der Darstellung der Kindheit Jesu.33 Bei der mittelalterlichen Inszenierung von Kindheit auf der Basis dieses universellen Musters ist somit festzuhalten: 1) Die Kindheitsdarstellungen sind fokussiert auf Kinder männlichen Geschlechts; 2) sie lehnen sich an mythologische Muster an, verfahren insofern »mythologieanalog«; 3) die Kindheitsgeschichten beschreiben den Werdegang nicht irgendeines, sondern des herausragenden Kindes, sie beschreiben die »Geburt des Helden«.34 Damit versuchen sie – ebenso wie mythologische Kindheitsgeschichten – das Erstaunliche des jeweiligen Helden aus seiner Herkunft abzuleiten, seiner Außerordentlichkeit eine Legitimation und Erklärung durch seine Herkunftsschilderung hinzuzufügen,35 wobei ›Herkunft‹ sowohl genealogische Abstammung meint als auch die sich aus dieser Genealogie ergebenden Vorzüge und Schwierigkeiten. D.h. und dies ist zu betonen: Die Kindheitsbeschreibungen in mittelalterlichem Roman und mittelalterlicher Heldenepik dienen nicht einer differenzierenden Kindheitsanalyse, sie sind nicht Beschreibung um der Kindheit willen, sondern um den zukünftigen Helden als solchen herauszustellen, zu konstituieren und zu legitimieren. Die Topoi der Kindheit in den Enfances weisen somit immer über sich hinaus sowohl auf eine andere Figur: den erwachsenen Helden, wie auch auf eine andere Zeit: die Zukunft, auf die die erzählte Zeit des Kindes wie die Erzählzeit der Kindheitsgeschichte hinzueilen scheinen. Die Kindheitstopoi sind nicht zugleich, sondern ausschließlich Topoi des werdenden Helden: Sie werden im Horizont der Zukunft amalgamiert und funktionalisiert. Für den Tristan Gottfrieds von Straßburg zeichnen sich die oben genannten Stationen der narrativen Geburt des Helden (bis auf die Weissagung) in bemerkenswert klarer Weise ab: Tristan ist das Kind

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33 34

35

Die Verbindung können G. und U. Pörksen, »Die Geburt des Helden«, S. 270, hier allerdings nur durch den durch Albert Schott rekonstruierten ›Vorgesang‹ aus dem 21. Kapitel des 12. Buches der Tiergeschichten des Aelian herstellen. Ebd., S. 269–272. Zu Punkt 1: vgl. ebd., S. 269, zu Punkt 2: ebd., S. 274ff., Zitat: S. 284, zu Punkt 3: Zitat: ebd., S. 260 u.ö. Entsprechende Ergebnisse zeigt die Zusammenstellung bei Wolfzettel, »Zur Stellung und Bedeutung der Enfances I und II; zur mythenanalogen Struktur vgl. den knappen Hinweis II, S. 326. G. und U. Pörksen, »Die Geburt des Helden«, S. 275–279. Die mittelalterlichen Enfances gelten fast ausnahmslos als »nachträgliche, sekundäre Zusätze« (S. 275) zu ursprünglichen Stoffkernen. So auch Wolfzettel, »Zur Stellung und Bedeutung der Enfances I«, S. 317f.

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von Riwalin, König von Parmenie, und Blanscheflur, der Schwester des Königs von Cornwall. Seine hohe Abkunft ist damit gewährleistet (1). Die Zeugung erfolgt unter ungewöhnlichen Umständen: Blanscheflur schleicht sich nachts heimlich zu Riwalin, der an einer schweren Kampfwunde zu sterben droht; sie empfängt Tristan; das Paar flieht, nachdem Riwalin wieder genesen ist (2). Noch bevor Tristan geboren wird, stirbt der Vater im Kampf. Direkt nach der Geburt stirbt die Mutter (5). Tristans Geburt wird verheimlicht (4), um das verwaiste Kind vor dem Rivalen Morgan zu schützen (6). Rual, der getreue Gefolgsmann Riwalins, und seine Gattin Floraete nehmen sich des Kindes an. Floraete täuscht ein Wochenbett vor und zieht Tristan dann liebevoll auf (7). Rual übergibt Tristan mit sieben Jahren dem Erzieher Kurvenal, der ihm in der unstandesgemäßen Umgebung (8) eine standesgemäße Ausbildung zukommen lässt, wobei sich Tristans überragende Begabungen sowie seine außerordentliche Schönheit bereits früh und in jeder Hinsicht zeigen (9). Eine zweite Motivreihe von Gefahr und wunderbarer Rettung erfolgt, indem Tristan, vierzehnjährig, von Kaufleuten entführt (6), jedoch aufgrund eines Sturmes in Cornwall, dem Land seines Onkels Marke, ausgesetzt wird (7). Auf dem Weg zu Marke brilliert der Vierzehnjährige in der Jagdkunst, durch seine Sprach- und Musikkenntnisse und durch sein souveränes Auftreten (9). Sein ›Hervorteten‹ als Held wird durch den Kampf gegen Morold besiegelt (10). Zuvor hatten er und sein Onkel Marke durch den Ziehvater, der sich auf die Suche nach dem entführten Ziehsohn begeben hatte, die wahre Herkunft Tristans erfahren (11). Die Übertragung des Stationenrasters, das die narrative Genese des Helden markiert, auf den Tristan leuchtet auf den ersten Blick ein. G. und U. Pörksen haben deshalb den Roman als Paradigma ihrer Argumentation angeführt.36 Und doch gibt es Verschiebungen in der Funktion und im Detail, die auffallend sind. So wird das Erstaunliche des Helden nicht nur dadurch erklärt, dass auf seine bemerkenswerten Fähigkeiten in der Kindheit verwiesen wird, vielmehr scheint das Erstaunliche der Kindheit die späteren Fähigkeiten Tristans noch zu übertreffen. Ebenso ›verschoben‹ zeigt sich das Legitimationsargument: Legitimiert wird Tristans Außerordentlichkeit durch hohe Abkunft, zugleich jedoch verstärkt die genealogische Verbindung zu Marke die Illegitimität der Verhaltensweisen in der Zukunft. Die Legitimation von der Herkunft her bleibt somit ambivalent, die genealogische

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G. und U. Pörksen, »Die Geburt des Helden«, S. 260f.

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Herkunft kompliziert das spätere illegitime Gefüge.37 Beide Verschiebungen werten die Kindheitsbeschreibung auf. Oder umgekehrt: Weil den Kindheitsbeschreibungen (auch an Erzählzeit) in der Modifikation von Gottfrieds Tristan in besonderer Weise Gewicht und Komplexität zukommen, treten Umakzentuierungen der topischen Funktionen auf. Besonders deutlich lässt sich jene Akzentverschiebung angesichts einer Szene festmachen, die aus dem Rahmen des Musters zu fallen scheint und damit das Muster und seine Funktion erheblich irritiert.

3. Kindheitstopoi der Defizienz Als der noch junge Tristan entführt, dann ausgesetzt und schließlich in Cornwall an Land gespült worden ist, irrt er allein in fremdem Land, desorientiert und ohne die Aussicht, Menschen, gar Vertraute zu treffen, umher. In dieser Situation verfällt Tristan, der bisher immer nur als brillantes Wunderkind in Erscheinung trat, der Verzweiflung:38 Nu wie gewarp do Tristan? Tristan der ellende? ja, da saz er unde weinde alda; 2485 wan kint kunnen anders niht niwan weinen, alse in iht geschiht. der trostlose ellende der vielt uf sine hende ze gote vil innecliche: »[…] dise groze wilde die vürht ich: swar ich min ougen wende, da ist mir der werlde ein ende; 2505 swa ich mich hin gekere, dan sihe ich ie nimere niwan ein toup gevilde und wüeste unde wilde, wilde velse und wilden se. 2510 disiu vorhte tuot mir we;

Was aber tat nun Tristan? Tristan, der Heimatlose? Ja, er saß da und weinte; denn Kinder können nicht anders als weinen, wenn ihnen etwas zustößt. Der trostlose Heimatlose erhob flehentlich betend seine Hände zu Gott: »[…] Diese furchtbare Wildnis, die ängstigt mich. Wohin ich meine Augen auch wende, da scheint mir die Welt ans Ende zu kommen. Wohin ich mich auch kehre, da sehe ich nichts als ödes Land und Wüste und Wildnis, wilde Felsen und wilde See. Diese Angst setzt mir zu;

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38

Ambivalenz, rückgebunden an die Herkunft, gehört durchaus zum traditionellen Muster: vgl. andeutend ebd., S. 277; grundlegend: Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 113–115, S. 138ff., S. 424ff. Die genealogische Konstellation nicht als Ursache, sondern als Komplikationsverstärkung späterer Illegitimität ist jedoch als Spezifikum von Gottfrieds Tristan anzusehen. Zitiert nach: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde, hrsg. von Friedrich Ranke. Nachdruck der unveränderten Ausgabe 1978, Hildesheim 2001. Übersetzungen: A. G.-R.

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über daz allez so vürht ich, wolve unde tier diu vrezzen mich, swelhen enden ich gekere. […]«

vor allem aber fürchte ich, dass mich Wölfe und Tiere auffressen werden, wohin ich auch gehe. […]«

Schließlich versucht er, von einem Berg aus sich einen Überblick zu verschaffen:

2555

2560

2565

2570

hie mite bereitet er sich do weinende unde sere unvro uf sine kumberliche vart, do ime diu vart unwendic wart: under sinen gürtel zoher sinen roc ein lützel hoher; den mantel wander in ein und leitin uf sin ahselbein und streich uf gein der wilde durch walt und durch gevilde. ern hæte weder wec noch pfat, wan alse er selbe getrat. mit sinen vüezen wegeter, mit sinen handen stegeter: er reit sin arme und siniu bein. über stoc und über stein wider berc er allez clam, unz er uf eine hœhe kam.

Hiermit machte er sich weinend und verzweifelt auf den beschwerlichen Weg, da ihm nichts anderes übrig blieb: Unter seinem Gürtel zog er seinen Rock etwas höher; den Mantel schlug er zusammen, legte ihn über seine Achsel und zog auf die Wildnis zu durch Wald und Gefilde. Er hatte weder Weg noch Pfad, außer dem, den er sich selbst trat. Mit seinen Füßen bahnte er sich einen Weg, ebenso mit seinen Händen. Er kroch auf allen vieren. Über Stock und Stein erklomm er den Berg ganz hinauf, bis er zu einer Anhöhe kam.

Die Anhöhe führt ihn auf einen gangbaren Weg: 2580 An dem selben wege saz er

durch ruowe weinende nider.

An diesem Weg setzte er sich weinend nieder um auszuruhen.

Präsentiert wird in dieser Szene ein weinender, ein verängstigter Tristan, ein Tristan, der am Ende all seiner Fähigkeiten ist, der hier, an dieser Stelle, kein werdender Held mehr ist, sondern einfach ein Kind wie jedes andere: da saz er unde weinde alda; /wan kint kunnen anders niht / niwan weinen, alse in iht geschiht (V. 2484ff.). Das szenische Tableau eines verängstigten, weinenden Tristans, der sich unhöfisch, ja grotesk auf allen vieren fortbewegt und dem seine höfische Kleidung nur lästig sein kann, scheint das bisherige Bild des brillanten Tristan ebenso wie das Schema der Geburt des Helden in scharfem Schnitt zu brechen. Welche Funktion innerhalb der Narration hat dieser erstaunliche Konzeptionsumbruch des werdenden Helden auf den Status eines weinenden Kindes? Um diese Frage zu beantworten, ist auch der Kontext der Stelle zu beleuchten:39

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Mit den folgenden Ausführungen greife ich auf Überlegungen in meiner Habilitationsschrift (Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik,

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Bis zu seiner Schwertleite wird Tristan in exzessiver Weise als Kind mit außerordentlichen Fähigkeiten und Eigenschaften dargestellt. Beschreibungen im Superlativ zielen offensichtlich auf die Vorstellung von Tristans Außerordentlichkeit und entsprechen damit dem Narrativum der Geburt des Helden. Als sæligez kint (»glückseliges Kind«) wird Tristan denn auch leitmotivisch angesprochen – eine Formulierung, die auf die Geburt des Helden unter christlicher Perspektive hinweist.40 Die hypertrophen Beschreibungen zusammenfassend heißt es abschließend am Hof Markes: ezn gesach nie man von kinde / die sælde, die man an im sach (V. 3744f.; »es hat noch niemals jemand bei einem Kind solchen Segen gesehen wie bei ihm«). Die Einzigartigkeit des vom Glück gesegneten, vollkommenen Kindes beruht dabei nicht darauf, dass Tristan über eine besondere Unschuld oder über prinzipiell ungewöhnliche Fähigkeiten verfügt, sondern darauf, dass er traditionell anerkannte Fähigkeiten besonders früh in ungewöhnlich souveräner Weise beherrscht. D.h., Tristan verlässt durch seine herausragenden Fähigkeiten nicht die Normen der höfischen Gesellschaft, sondern repräsentiert diese Normen bereits als Kind in vollendeter Ausprägung. Tristan ist als Kind somit schon ein vollkommener Erwachsener und eben deshalb die Ausnahmeerscheinung, die den Helden als solchen indiziert. Bis hierher lässt sich die detaillierte Beschreibung problemlos in das Stationenraster von Gunhild und Uwe Pörksen einfügen. Doch entscheidend ist, dass Tristan genau jenes fehlt, was die Einzigartigkeit des Heros in der Regel zugleich provoziert und bestätigt: Der Held des traditionellen Heldenliedes sowie des Romans bewegt sich in einem überschaubaren Raum, in dem die Regeln seines Handelns fraglose Gültigkeit haben, er als einzigartiger Held geschätzt und durch seine Einzigartigkeit immer schon ausgewiesen ist. D.h., den Heros muss man, so Jan-Dirk Müller, nicht kennen oder mühsam kennen lernen, um ihn zu identifizieren; seine Identität erschließt sich vielmehr der Außenwelt aus seiner Erscheinung, die für seine Taten bürgt.41 Die Außenwelt ist es demnach, die dem Helden – falls ihm seine eigene Herkunft nicht bekannt ist, wie dies Erzählungen mit Kindheitsdarstellungen favorisieren – ebendiese Identität aus ihrem Wissen heraus zu vermitteln hat. Genau diese selbstverständliche

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Tübingen, Basel 2006 [Bibliotheca Germanica 51], S. 154–159) zurück und setze sie in modifizierter Form fort. Vgl. in Variationen: V. 2123–2125; 2240–2242; 3039; 3065; 3164; 3495; 3599f. Häufig steht auch das Attribut süez: V. 3162; 3269f.; 3271f., oder der Hinweis auf eine gnadenreiche Auszeichnung: vgl. auch V. 2741–2743; 3129–3131; 3686–3688. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 233–237.

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Konnexion von Erscheinung und Immer-schon-bekannt-Sein oder doch Sogleich-bekannt-Werden als Konstituens heroischer Idealität fehlt Tristan jedoch konsequent, ja diese Konnexion wird bei Gottfried, sobald sie sich herstellen könnte, geradezu programmatisch wieder unterlaufen: Geboren im eigenen Land und in seiner Identität von den Zieheltern gekannt, wächst Tristan doch incognito auf. Kaum hat er sich unter Ruals Söhnen als vornehmster und andersartiger hervorgetan, was seine Identifizierung vorantreiben müsste, wird er entführt. Als er durch Cornwall zieht und durch seine herausragenden Fähigkeiten immer wieder auffällt, dementiert er selbst durch die Versicherung, er sei Kind eines Kaufmanns, adäquate Zuordnungen und lebt so unerkannt am Hof Markes. Selbst als Tristan als Neffe Markes und Sohn Riwalins identifiziert wird und mit der anschließenden Schwertleite und ersten ritterlichen Bewährung im Moroldkampf seine Kindheitsgeschichte zu Ende ist, bleibt die Frage nach seiner Identität als Frage nach seiner Identitätsbasis virulent: Als Sohn Riwalins erhält Tristan Aufschluss über sein Geschlecht, seinen Stand und seinen Herrschaftsbesitz, doch er löst sich aus jenem Sozialverband, indem er Rual sein Land als Lehen überträgt und zu Marke geht. Als Thronfolger Markes erhält er den Herrschaftsraum Markes als Identitätsgrundlage, verliert ihn jedoch, als Marke sich zur Brautsuche entschließt. Als Neffe Markes bleibt ihm zwar ein selbstverständlicher sozialer Repräsentationsraum, andererseits veranlasst ihn der Neid der Höflinge, wieder als Fremder in die Fremde zu ziehen. Die Rückkehr an den Hof bedeutet zugleich ein Liebesleben incognito, d.h., die selbstverständliche Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft untergräbt Tristan schließlich selbst, indem er durch den Ehebetrug die Spielregeln dieser Gesellschaft, insbesondere seine soziale Verpflichtung gegenüber dem König des Landes, der zudem sein Onkel ist, missachtet.42 Der junge Tristan entspricht somit

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Zur fehlenden eindeutigen Identität auch über die Kindheit hinaus: Horst Wenzel, »Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Individualgeschichte im Tristan Gottfrieds von Straßburg«, in: Thomas Cramer (Hrsg.), Wege in die Neuzeit, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 8), S. 229–251, hier S. 238f., S. 242–245; Carola L. Gottzmann, »Identitätsproblematik in Gottfrieds Tristan«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, NF 39 (1989), S. 129–146; Christoph Huber, Gottfried von Straßburg: Tristan, Berlin 2000 (Klassiker-Lektüren 3), S. 56f.; Jan-Dirk Müller, »Identitätskrisen im höfischen Roman um 1200«, in: Peter von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln, Weimar, Wien 2004 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 23), S. 297–323, hier S. 304–306, 320– 322. Weiter differenzierend: Armin Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters), S. 290–354.

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dem Typus des werdenden Heros – ohne dessen (trotz aller Schwierigkeiten) letztlich immer schon klares soziales Bezugsfeld, d.h. ohne dessen integrativen Identifikationsrahmen. Die Kindheitstopoi als ›mythenanaloge‹ Topoi der Geburt des Helden werden somit aufgerufen, ohne den traditionellen narrativen Boden mitzuliefern. An diese Bruchstelle der Darstellungskonvention scheint es dann ganz konsequent anzuschließen, wenn Gottfried den in Cornwall ausgesetzten Tristan mit besonderer semantischer Nachhaltigkeit als Kind mit nunmehr ganz anderen Vorzeichen beschreibt: als Kind, das ellende, d.h. fremd in fremdem Land, ist, fern jeglichen sozialen Identifikationsnetzes voller Angst, und damit zum defizienten ›Durchschnittskind‹ wird. So finden sich in dieser Passage 22 Belege aus dem Wortfeld Angst (ellende, vorhte/angest, weinen/jamer),43 etwa ebenso viele wie Anspielungen auf Tristans außerordentliche Qualitäten. Man wird nicht sagen können, dass mit diesen Hinweisen eine physische Angstpathologie oder ein differenziertes Kindheitspsychogramm entworfen werden, genauso wenig veranlasst der Zustand der Hilflosigkeit Tristan zu tiefergreifenden Reflexionen über sich selbst, seine Befindlichkeit oder seine Überlebenschancen oder führt zu einem dauerhaften Abbruch seiner Brillanz. Und doch setzt sich dieses Verfahren der immer wieder repetierten Angst- und Verzweiflungshinweise, korreliert mit dem Status des unreifen Kindes und unterlegt durch plastische Details wie den Vierfüßlergang durchs Gelände, insofern grundsätzlich – so weit ich sehe – von den Gefahrenschilderungen ab, die üblicherweise zu den Kindheitsdarstellungen der Heroen dazugehören, insofern diese in der Regel allein durch Missgeschicke von außen narrativ konturiert werden – Missgeschicke, gegenüber denen sich der kindliche Held umso mehr durch eine nicht-kindliche Reaktion bewähren kann. Die differenzierte Perspektivierung vom Empfinden des Helden her, die Wahl der Emotionen Fremdheit, Angst und Verzweiflung als emphatische Beschreibungskategorien sowie die Begründung der negativ konnotierten Emotionen durch den Status des Kindes ergänzen offensichtlich kontrastiv das im Stationenmuster der ›Geburt des Helden‹ vorgesehene narrative Tableau. D.h., neben ein Erzählen entlang den herausragenden Kindheitstopoi des Heros tritt gleichsam parataktisch ein Erzählen, das eine gegensätzliche Kindheitskonzeption aufruft, den Topos des defizienten Kindes.

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ellende: V. 2483, 2487, 2843, 2862, 2921, 3254, 3381, 3388, 3437, 3461, 3555, 3567, 3742f.; vorhte/angest: V. 2502, 2510, 2511, 2654, 2669; weinen/jamer: V. 2484ff., 2553– 2555, 2581, 2585; vgl. auch Martin Przybilski, »Ichbezogene Affekte im Tristan Gottfrieds von Straßburg«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 126 (2004), S. 377–397.

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Korreliert mit dem Aspekt der Hilflosigkeit, der Angst, der Fremdheit des Kindes, zeigen sich die Kindheitstopoi des werdenden Helden dann jedoch in einem Zwielicht, ja sie erscheinen konterkariert: Statt ›mythenanaloge‹ Vorgaben zu sein, die den Helden in seiner Identität zweifelsfrei kennzeichnen, werden Tristans außerordentliche Qualitäten nun – in Gottfrieds narrativer Verfahrensweise der Interferenz gegenläufiger Kindheitskonzeptionen mit je unterschiedlichem Topoiangebot – zu Inszenierungen durch Tristan selbst, zu manipulativen Funktionen seiner eigenen Überlebensstrategie, zu willkürlichen Mechanismen des Sich-Darstellens und Sich-Versteckens. Denn statt heroische Identität zu verbürgen oder nach und nach offen zu legen, avancieren die herausragenden Qualitäten des kindlichen Helden nunmehr zu Mitteln des defizienten Kindes, sich vom Fluchtpunkt der Defizienz aus eine soziale Identität allererst qua Selbstinszenierung zu erstellen. Dies wird in folgender Passage besonders deutlich: Tristan trifft, nachdem er sich auf den Berg emporgearbeitet und einen gangbaren Weg erreicht hat, auf eine Gruppe von Pilgern, denen er sich anschließt und die ihm wohlgesonnen sind. Auf ihre Frage, woher er komme, antwortet er jedoch nicht wahrheitsgemäß. Vielmehr heißt es:

2695

2700

2705

2710

2715

Tristan der was vil wol bedaht und sinnesam von sinen tagen, er begunde in vremediu mære sagen: »sælegen herren« sprach er zin »von disem lande ich bürtic bin und solte riten hiute, ich und ander liute, jagen uf disem walde alhie. do entreit ich, ine weiz selbe wie, den jegeren unde den hunden. die die waltstige kunden, die gevuoren alle baz dan ich; wan ane stic verreit ich mich, unz daz ich gar verirret wart. sus traf ich eine veige vart, diu truoc mich unz uf einen graben, dan kunde ich min pfert nie gehaben, ezn wolte allez nider vür sich. ze jungest gelac pfert und ich beidiu zeinem hufen nider. don kunde ich nie so schiere wider ze minem stegereife komen, ezn hæte mir den zügel genomen und lief[e] allez den walt in.

Tristan war sehr vorsichtig und besonnen für sein Alter, so begann er, ihnen seltsame Geschichten zu erzählen: »Ihr frommen Männer«, sprach er zu ihnen, »ich bin aus diesem Land und sollte heute in diesem Wald hier zusammen mit anderen auf die Jagd reiten. Da habe ich, ich weiß selbst nicht wie, die Jäger und die Hunde verloren. Die die Waldwege kannten, nahmen alle besser ihren Weg als ich; denn ich verritt mich weglos, bis ich mich völlig verirrt hatte. So traf ich auf einen falschen Weg, der mich bis zu einem Graben führte, dort konnte ich mein Pferd nicht halten, es wollte unbedingt weiter hinab. Zuletzt lagen wir beide, das Pferd und ich, übereinander unten. Da konnte ich nicht so schnell wieder in den Steigbügel kommen, und da das Pferd mir die Zügel entrissen hatte, lief es auf und davon in den Wald.

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sus kam ich an diz pfedelin, daz hat mich unz her getragen. […]«

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So kam ich an diesen kleinen Weg, der mich bis hierher gebracht hat. […]«

Ähnlich erfindungsreich wird Tristan auch auf die Frage der späteren Gesellschaft antworten, auf die er treffen wird:

3095

3100

3105

3110

3115

3120

vil sinnecliche er aber began sin aventiure vinden. sin rede diun was kinden niht gelich noch sus noch so. vil sinnecliche sprach er do: »jensit Britanje lit ein lant, deist Parmenie genant: da ist min vater ein koufman, der wol nach siner ahte kan der werlde leben schone unde wol, ich meine aber, alse ein koufman sol. und wizzet endecliche: ern ist doch niht so riche der habe unde des guotes so tugentliches muotes: der hiez mich leren, daz ich kan. nu kamen dicke koufman von vremeden künicrichen dar: der dinges nam ich so vil war beid an ir sprache und an ir siten, unz mich min muot begunde biten und schünden stætecliche in vremediu künicriche; und wan ich gerne hæte erkant unkunde liute und vremediu lant, do was ich spate unde vruo also betrahtic dar zuo, biz daz ich minem vater entran und vuor mit koufliuten dan: als bin ich her ze lande komen. […]«

Raffiniert begann er erneut eine Geschichte zu erfinden. Wie er sprach, das war nicht kindgemäß, in keiner Hinsicht. Raffiniert sprach er: »Jenseits von Britannien liegt ein Land, das wird Parmenie genannt: Dort ist mein Vater ein Kaufmann, der seinem Stand gemäß wohlhabend und angesehen lebt, so wie es ein Kaufmann, meine ich, soll. Und wisst schließlich auch: Er ist nicht so reich an Hab und Gut wie an vorbildlicher Gesinnung: Der hieß mir beibringen, was ich kann. Oft kamen Kaufleute aus fremden Königreichen dorthin: Von ihrer Sprache und ihren Sitten nahm ich so viel wahr, dass ich mir allmählich wünschte und dies mich immer mehr reizte, in fremde Königreiche zu ziehen; da ich nun gerne unbekannte Menschen und fremde Länder kennen gelernt hätte, war ich von früh bis spät so sehr darauf aus, dass ich schließlich meinem Vater weglief und mit Kaufleuten davonfuhr: So bin ich hierher in dieses Land gekommen. […]«

Tristan erfindet sich also eine eigene Herkunftsgeschichte und dies in verschiedenen Varianten, d.h., er wird gleichsam – nach pragmatischem Bedarf und sozialem Kontext – immer wieder in neuer Weise zum Erzähler seiner selbst. Doch Tristans Fähigkeit zu immer neuer Selbstinszenierung beweist sich nicht nur darin, dass er sich immer wieder auf verbalem Weg als Erzähler mühelos verschiedene Herkunftslügengeschichten

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ausdenken,44 sich bei Bedarf andererseits auch durchaus religiös konform auf Gott berufen kann (vgl. etwa V. 6753–6793). Sie beweist sich ebenso darin, dass Tristan durch dramaturgisch durchgeplante Regie sich selbst performativ in Szene zu setzen weiß mit dem Ziel, seine Kontaktpersonen zu Zuschauern, dann zu Mitspielern seiner Selbstinszenierung zu machen. So führt er erst der Jagdgesellschaft Markes die Kunst des Entbastens in mehreren ›Aufführungsetappen‹ vor, weist ihnen darauf in der »zu einem Musikdrama transformierten Jagdprozession«45 verschiedene Rollen und Funktionen zu, um schließlich diese um zahlreiche Rollen erweiterte Vorführung einem neuen Zuschauerkreis – den Burgbewohnern und Marke – darzubieten, wobei Marke nun selbst zum Mitspieler werden muss. Denn es bildet gleichsam die Pointe dieser ebenso brillanten wie flexiblen Selbstinszenierung, dass der Inszenator Tristan schließlich die Bereitschaft suggerieren kann, sich von einem anderen die verschiedensten ›Oberflächen‹, Rollen oder Funktionen als Identität zuweisen zu lassen. Auf Markes Angebot, sein Jägermeister zu werden, antwortet Tristan in bezeichnender Weise: herre, gebietet über mich. / swaz ir gebietet, daz bin ich (V. 3373f.; »Herr, gebietet über mich. Was immer Ihr gebietet, das werde ich sein«). Die Topoi der Identitätsfindung des Kindes als werdendem Helden sind damit gleichsam in struktureller Doppelung auf den Kopf gestellt: Der junge Tristan stellt sich einerseits in der Rolle des defizienten Kindes dar, dem der herre zu gebieten hat, andererseits ist er der souveräne Erzähler und Inszenator, der in klarer Regieführung Marke erst zu dieser Form des Gebietens herausgefordert hat in der Absicht, sich selbst einen neuen Identitätsrahmen zu verschaffen.

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Bsp.: gegenüber den Pilgern: V. 2695ff.; gegenüber der Jagdgesellschaft: V. 3097ff.; gegenüber den boten von Develin V. 7560ff.; gegenüber dem Marschall des irischen Königs: V. 8796ff.; gegenüber Gandin: V. 13301ff.; im weiteren Sinn gegenüber der Königin Isolde: V. 8185ff. bzw. 9517ff. Entsprechend sieht Horst Wenzel, »Der unfeste Held. Wechselnde oder mehrfache Identitäten«, in: Peter von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln, Weimar, Wien 2004 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 23), S. 163–183, hier S. 176–180, die »Nicht-Identifizierbarkeit« Tristans in seiner »unfeste[n] Position« begründet, durch die Tristan »immer wieder neu der swebende (Tr. 7493)« werde (S. 176). Vgl. zum Problemfeld auch: Siegfried Grosse, »Vremdiu mære – Tristans Herkunftsberichte«, in: Wirkendes Wort, 20 (1970), S. 289–302; Monika Schausten, »Ich bin, alse ich hân vernomen, ze wunderlîchen maeren komen. Zur Funktion biographischer und autobiographischer Figurenrede für die narrative Konstruktion von Identität in Gottfrieds von Straßburg Tristan«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 123 (2001), S. 24–48. C. Stephen Jaeger, »Wunder und Staunen bei Wolfram und Gottfried«, in: Martin Baisch u.a. (Hrsg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Festschrift Ingrid Kasten, Königstein 2005, S. 122–139, hier S. 127.

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Gottfrieds andersartiges Verfahren gegenüber dem Narrativum der ›Geburt des Helden‹ erweist sich denn darin, dass er zwei unterschiedliche Kindheitskonzeptionen aufruft, ineinander lagert und dadurch modifiziert. Von der Fremdheits-, Angst- und Hilflosigkeitserfahrung des defizienten Kindes her werden die Kindheitstopoi des werdenden Helden umbesetzt zu manipulativen Verhaltensmustern einer Überlebensstrategie, deren Regisseur der Held selbst ist. Diese Interferenz gegensätzlicher Kindheitskonzeptionen macht die Kindheitsgeschichte Tristans dann doch letztlich so ungewöhnlich innerhalb der Figurenlandschaft mittelalterlicher Epik: Von der Verzweiflung, Angst und Identitätslosigkeit des defizienten Kindes aus rückt seine heroischstrahlende Identität als inszenierte Identität in den Blick. D.h., erst in der Differenz zum weinend-hilflosen Kind wird deutlich, dass Tristan die Fortsetzung seiner Geburt als Held selbst in die Hand nimmt. Die Heldengeschichte wird zum selbstinszenierten Spiel des Protagonisten: Tristan tritt in die Welt der Erwachsenen ein, indem er entdeckt, dass er Inszenator und Erzähler seiner selbst sein kann. Damit aber findet er zu einer gleichsam identitätslosen Identität: Er entpuppt sich als Spieler sui generis.

4. Kindheit und Spiel Ließe sich von hier aus formulieren, dass Tristan, der Spieler, zu dem er nach der Schlüsselszene des verängstigten Kindes wird, das nachholt, was er vorher nicht hatte: die Möglichkeit zum freien Spiel und damit eine Kindheit jenseits heroischer Stationenmuster? Die These ist weniger absurd, als sie auf den ersten Blick scheint. Kulturgeschichtlich ist gegen Ariès, der dem Mittelalter ebenso dezidiert eine spezifische Konnexion von Kind und Spiel abgestritten hat46 wie den reflektierten Status von ›Kindheit‹ insgesamt, sowie gegenüber Positionen

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So hält Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 137, noch für die Zeit um 1600 fest, dass sich die Spezialisierung der Spiele nur auf die »frühe Kindheit« erstrecke; »vom dritten oder vierten Lebensjahr an verwischt sie sich und hört dann ganz auf. Von da an spielt das Kind, sei es mit anderen Kindern, sei es im Kreise der Erwachsene, dieselben Spiele wie die Großen.« Erst im 16. und 17. Jahrhundert würden deshalb auch die Zeugnisse für Kinderspielzeug deutlich zunehmen. Mit der Differenzierung zwischen Kinder- und Erwachsenenspielzeug in der Frühen Neuzeit setze zugleich eine soziale Differenzierung ein: »Wir sind von einer gesellschaftlichen Situation ausgegangen, in der alle Altersstufen und alle Stände dieselben Spiele spielten. Das Phänomen, das es hervorzuheben gilt, ist, daß die Erwachsenen der oberen Klassen der Gesellschaft von diesen Spielen Abstand nehmen und diese statt dessen zugleich im Volk und bei den Kindern der oberen Klassen weiterlebten« (S. 173).

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eines noch radikaleren Alteritätsdenkens47 auf die theoretischen Reflexionen von Augustinus über Konrad von Megenberg bis zum italienischen Humanismus zu verweisen, die belegen, dass bereits früh das Kind in besonderer Relation zum Spiel gesehen wurde,48 auch wenn diese Zuordnung weniger scharf von der Erwachsenenwelt abzugrenzen war, wie dies sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert abzeichnet. Wenn also die Konnexion von Kindheit und Spiel zwar nicht im emphatischen, doch aber in einem konturierten Sinn keineswegs einen auf mittelalterliche Kontexte applizierten Anachronismus bedeutet, so ist zu fragen, ob Tristan, indem er, erwachsen, zum Spieler wird, sich jenen Freiraum zurückerobert, der dem Kind als werdendem Helden verschlossen blieb. Gestattet sei noch einmal ein Blick zurück: Bis zu seiner Entführung wird Tristan nicht spielend gezeigt. In der kurzen Reminiszenz, die auf die ersten sieben Jahre des Kindes Tristan verweist, wird allein auf den beschützten Status des ganz in der Mutterwelt aufgehenden infans abgehoben: Nu daz daz kint getoufet wart, nach cristenlichem site bewart, 2045 diu tugende riche marschalkin nam aber ir liebez kindelin in ir vil heinliche pflege: si wolte wizzen alle wege und sehen, ob ime sin sache 2050 stüende ze gemache. sin süeziu muoter leite an in mit also süezem vlize ir sin, daz sime des niht engunde, daz er ze keiner stunde 2055 unsanfte nider getræte.

Als das Kind nun getauft war und nach christlichem Brauch gesegnet, nahm die vorbildliche Marschallin ihr geliebtes Kind wieder in ihre überaus sorgsame Obhut: Sie wollte auf Schritt und Tritt wissen und sehen, ob ihm alles zum Wohl gereiche. Seine liebevolle Mutter wandte sich ihm mit so hingebungsvollem Eifer zu, dass sie es nicht zuließ, dass er auch nur einmal hart aufträte.

In krassem Schnitt werden darauf die Mühen und Plagen ab dem siebten Lebensjahr betont, mit denen die Zeit der Freiheit (vriheite; V. 2069) und Freude (wunne; V. 2075) zu Ende gegangen sei: Nu si daz mit im hæte getriben unz an sin sibende jar,

Als sie das mit ihm bis zu seinem siebten Lebensjahr betrieben hatte,

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Vgl. etwa Donata Eschenbroich, Kinder werden nicht geboren. Studien zur Entstehung der Kindheit, Frankfurt a. M. 1977, die die Annahme eines speziellen Kinderspielzeugs für den mittelalterlichen Zeitraum prinzipiell zurückweist: »Wenn in kunsthistorischen Geschichten des Spielzeugs solches abgebildet wird, wird dabei übersehen, daß es sich dabei um Luxusgegenstände einer Oberschicht handelt, um Geschenke an Frauen so gut wie an Kinder« (S. 59). Arnold, Kind und Gesellschaft, S. 69f. Zur Spiel- und Spielzeugdiskussion im Widerspruch zu Ariès und Eschenbroich vgl. ebd., S. 70–76.

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daz er wol rede und ouch gebar vernemen kunde und ouch vernam, sin vater der marschalc in do nam und bevalch in einem wisen man: mit dem sander in iesa dan durch vremede sprache in vremediu lant; und daz er aber al zehant der buoche lere an vienge und den ouch mite gienge vor aller slahte lere. daz was sin erstiu kere uz siner vriheite: do trat er in daz geleite betwungenlicher sorgen, die ime da vor verborgen und vor behalten waren. in den uf blüenden jaren, do al sin wunne solte enstan, do er mit vröuden solte gan in sines lebenes begin, do was sin beste leben hin: do er mit vröuden blüen began, do viel der sorgen rife in an, der maneger jugent schaden tuot, und darte im siner vröuden bluot. in siner ersten vriheit wart al sin vriheit hin geleit: der buoche lere und ir getwanc was siner sorgen anevanc [...]

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da er Sprache und Benehmen wohl verstehen konnte und auch verstand, nahm ihn sein Vater, der Marschall, und vertraute ihn einem klugen Mann an: Mit dem sandte er ihn alsbald fort in fremde Länder, um fremde Sprachen zu lernen; auch sollte er sogleich mit dem Studium der Bücher anfangen und dies ernster nehmen als alle anderen Arten von Studien. Das war seine erste Abkehr von der Freiheit: Da geriet er in das Fahrwasser auferlegter Mühen, die ihm zuvor erspart und vorenthalten worden waren. In seinen aufblühenden Jahren, als sein ganzes Glück erst anheben, als er mit Freuden in den Frühling seines Lebens eintreten sollte, da war sein bestes Leben schon vorüber: Als er mit Freuden aufzublühen begann, da befiel ihn der Raureif der Sorge, der so mancher Jugend schadet, und verdorrte ihm die Blüte seiner Freuden. Im Moment seiner ersten Freiheit wurde seine ganze Freiheit zunichte: Das Studium der Bücher und ihr Anspruch wurden zum Anfang seiner Sorgen […]

Gleich darauf geht die Schilderung von Mühsal, Anstrengung und Glücksverlust jedoch in einen Lobpreis des überaus begabten Kindes über: und iedoch do er ir began, do leite er sinen sin dar an und sinen vliz so sere, 2090 daz er der buoche mere gelernete in so kurzer zit danne ie kein kint e oder sit.

Und dennoch: Als er das Studium begann, da bemühte er sich so intensiv und wandte seinen Eifer so sehr daran, dass er mehr Bücher in kurzer Zeit durchstudiert hatte als jemals ein Kind vor oder nach ihm.

Hier könnte durchaus anders erzählt werden. Wolframs Parzival49 etwa schnitzt sich als Kind Pfeil und Bogen und hört den Vögeln zu

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Wolfram von Eschenbach, Parzival, Bd. I und II, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8).

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(V. 118,4ff.). Gut 150 Jahre später nennt Froissart in seiner Espinette amoureuse50 einen ganzen Katalog an möglichen Kinderspielen: In einem Bach Schleusen und Mühlen bauen, Schiffe schwimmen lassen, Schmetterlinge fangen, Bälle aus Erde formen, Wettrennen, Schalmeien basteln usw.51 Nur ein Spiel wird dagegen bei Tristan hervorgehoben: das Schachspiel – dieses aber wieder unter dem Index des Exzellenten, des Besonderen, der Brillanz, als Spiel der Könige, nicht der Kinder. Tristans Schachspiel reiht sich denn auch nahtlos ein in die Aufzählung der Kulturleistungen, die den jungen Tristan auszeichnen: Er beherrscht die verschiedensten Sprachen, kann fremdartige Schachausdrücke in seine Unterhaltung einfließen lassen, ist überaus redegewandt, beherrscht höfischen Gesang in Perfektion usw. Und so führt dieses Spiel, das kein Kinderspiel ist, das spielende Kind vielmehr als Nicht-Kind markiert, schließlich dazu, dass die Kaufleute Tristan der Welt seiner ersten 14 Jahre entreißen. Kehrt Tristan als der Spieler, zu dem er nach der Angstepisode geworden ist, nun etwa zum bisher ausgesparten Spielstadium des Kindes zurück? Welcher Art ist das Spiel des erwachsenen Tristan? Ist es vergleichbar mit jener Idealität des Spiels, die Spieltheorien einerseits mit dem Status des Kindes, andererseits mit der höchsten kulturellen Möglichkeit des homo ludens verbinden? Prägnant resümiert Walter Haug zwei der für unseren Zusammenhang entscheidenden Bedingungen der Möglichkeit des idealen Spiels: Das Spiel [verlangt] seinem Begriff nach einen ausgegrenzten Spielraum […], in dem die Regeln der Bewegung frei gesetzt werden. ›Frei‹ meint: unabhängig von der unmittelbaren Zweckbindung des Tuns und dies in einer partnerschaftlichen Konkurrenz, die den Verlierer unbeschädigt lässt. Zugleich wird Spielen jedoch vom Bewusstsein getragen, dass es eine Wirklichkeit außerhalb des Spielbezirks gibt, mit der es sich in ein Verhältnis setzen muss, und sei es nur, indem es für sich räumliche wie zeitliche Grenzen zieht.52

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Jean Froissart, L’Espinette amoureuse, hrsg. von Anthime Fourrier, Paris 1963 (Bibliothèque française et romane, B: Textes et documents 2). Vgl. Wolfzettel, »Kindheit, Erinnerung und geistige Berufung«, S. 307: Es handelt sich allerdings »um die erste Darstellung dieser Art in der französischen Literatur und wahrscheinlich in der mittelalterlichen Literatur überhaupt. Über hundert Verse widmet Froissart diesem Thema, dessen genaue Lektüre vielleicht auch die Thesen von Philippe Ariès etwas modifiziert hätte« (S. 307). Haug, »Kindheit und Spiel«, S. 143. – Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den diversen Spieltheorien kann hier nicht geleistet werden. Hingewiesen werden soll allein darauf, dass Haug mit seiner Bestimmung sowohl an die älteren als auch an die neueren Theorieversuche anknüpft. Kennzeichnend für die ältere Position ist die Auffassung des Spiels als klares ›Außerhalb der Realität‹. So gehört es zur zentralen These von Johan Huizinga, Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur, Amsterdam 1939, dass das Spiel sich durch »freies Handeln« (S. 12) sowie durch

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Legt man diese Charakteristika als Maßstab an, so wird sofort deutlich, dass Tristans Spiele weit davon entfernt sind, ja geradezu die Umkehrung bieten: Von einer freien Bewegung des spielenden Tristan kann keine Rede sein, Tristan und auch Isolde, die Mitspielerin, reagieren nach Notwendigkeit; ihr Tun ist eminent zweckgebunden, ihr Spiel arbeitet mit List. Auch mit einer partnerschaftlichen Konkurrenz, die den Verlierer unbeschädigt lässt, hat ihr Spiel nichts zu tun: Marke ist kein partnerschaftlicher Gegner, sein Schaden ist nicht zu messen. Vor allem aber werden die Spiele Tristans und Isoldes nicht vom Bewusstsein getragen, dass es eine »Wirklichkeit außerhalb des Spielbezirks gibt«, dass »räumliche wie zeitliche Grenzen« zwischen Spiel und Realität gezogen werden (außer in der Minnegrotte): Das entscheidende Konfliktpotential Tristans ist vielmehr, dass seine Spiele in der Realität der erzählten Welt stattfinden, sich etwa mit dem Wahrnehmungsbereich Markes durchdringen, eine Abgrenzung zwischen Markes und Tristans Welt, zwischen der Welt des Hofes und einer Welt der Liebe gerade nicht mit scharfem Schnitt möglich ist: Der Spieler Tristan verstößt somit vehement gegen die Regeln des idealiter gesehenen Spiels (als ›game‹). Oder anders formuliert: Tristans einzige Spielregel ist der Regelverstoß und damit hebt sein Spiel das emphatische Verständnis von Spiel als »Zielform menschlichen Lebens«53 gleichsam selbst auf: Tristans Spiel ist kein Kinder-, sondern ein Risikospiel, ein Spiel auf Leben und Tod. Tabula rasa also: Die positiven Kindheitstopoi, die sich im Tristan finden, erweisen sich als Heldentopoi. Die Heldentopoi jedoch erscheinen keineswegs stabil. Vielmehr werden sie vom interferierend einge-

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»Abgeschlossenheit und Begrenztheit« (S. 15) »vom gewöhnlichen Leben« absondert (ebd.): »Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm« (S. 13). Die These des Spiels als abgegrenzter Bereich gegenüber dem ›gewöhnlichen Leben‹ ist in der modernen Theoriebildung zunehmend Anlass der Auseinandersetzung und Relativierung geworden. Nach Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt a. M. 1982, kommen die vier Organisationsprinzipien des Spiels, Agon (Wettkampf), Alea (Zufall), Mimikry (Maske) und Illinx (Rausch), durchaus »auch außerhalb der geschlossenen Welt des Spiels zum Ausdruck« (S. 75), d.h., obwohl das Spiel eine in sich geschlossene Welt darstellt, ist es zur Kategorie des Nutzens ›außerhalb‹ nicht in Opposition zu begreifen. Die Relationalität betont in prinzipieller Hinsicht auch Gunter Gebauer, »Spiel«, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997, S. 1038–1048, hier S. 1042; das Wesentliche des Spiels sei nicht durch eine starre Opposition zu fassen, sondern durch »multiple Oppositionen« und die »Veränderbarkeit der Hinsichten« (S. 1038). Insgesamt ist damit nach Erika Fischer-Lichte und Gertrud Lehnert, »Einleitung«, in: Paragrana, 11 (2001), S. 9–13, eine Tendenz angezeigt, die Spiel im »performativen Sinne« eher als »play« denn als »game« fasst (S. 12). Haug, »Kindheit und Spiel«, S. 143.

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spielten Konzept des defizienten Kindes unterlaufen, so dass sie in irritierender Weise nunmehr als Funktion einer souveränen Selbstinszenierung in den Blick rücken. Tristan erweist sich als Spieler sui generis. Doch die Spielmetapher ist weit davon entfernt, auf einen emphatischen Kindheitsbegriff zu rekurrieren. Tristan, der nach der Phase der infantia nie Kind war, wird auch jetzt nicht zum Kind: Als Kind ist Tristan somit immer schon Erwachsener, als Erwachsener immer nur auf dem Sprung in eine andere Identität. Bleibt also Kindheit, im Tristan aufgerufen und in verschiedenen Topoi angespielt, doch immer nur Vorwand oder Mittel zum anderen Zweck? Insgesamt wohl ja. Und doch sollte in einer dekonstruktiven Lesart auf jenen einen Augenblick verwiesen werden, in dem Tristan – losgelöst aus seinem vertrauten sozialen Kontext, ja losgelöst aus jedwedem sozialen Kontext überhaupt – der Angst, dem Weinen anheimfällt. In diesem Moment ist Tristan ›nur‹ Kind und zugleich ist er – wie nirgends sonst – bei sich selbst. Ebendies ist das Erstaunliche: Auch der Topos des defizienten Kindes erhält durch die Narration und ihre Implikationen – gleichsam rückläufig – eine irritierende Tiefendimension: Aus dem Topos des defizienten Kindes heraus eröffnet sich, auch hier das Topische destruierend, jener singuläre Moment, bei dem Tristan – noch vor jeder späteren Inszenierungskunst einer identitätslosen Identität – für einige Verslängen niemand anders zu sein scheint als er selbst.

SANDRA LINDEN

Die liebeslustige Alte Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang This essay focuses on the theme of old age in the Middle High German minnesong, analyzing the topos of the old, love-crazed woman. This topos disturbs the classical system presented by the minnesong, a system in which the singer constantly reflects upon his lady and his love service. The topos prompts a description of the old woman in small action sequences, thus motivating the lyrical genre to develop narrative forms. Heinrich von Morungen depicts the lady’s aging in the course of unrewarded love service through a genealogical fantasy of revenge. Walther von der Vogelweide uses the personification of love as an old woman to present suitable concepts of minne and minnesong. In Neidhart’s summer songs, the conventional dialogue between mother and daughter is varied through the figure of a mother who desperately wants to go for a dance with the knight Nîthart. Despite her age, spring sparks her desire for love, and the song converts abstract thoughts about a connection between love and nature into an entertaining and comical scene.

Die Gattung Minnesang, die um 1200 ihre hochhöfische Blüte erlebt, eröffnet mit dem Zusammenspiel von idealer Dame, werbendem Sänger und Gesellschaft einen fiktiven Raum, in dem alte Menschen nicht vorgesehen sind. In der Fiktion idealer Minne unterliegt der Faktor Zeit normalerweise nicht der Konkretion, und wenn man sich die in der Reflexion besungenen Verhältnisse dann doch einmal konkret vorstellt, so geschieht dies meist in einem eher jugendlichen Setting. Das liegt zum einen darin begründet, dass die Liebe, die der Minnewerber trotz der Zurückhaltung der Dame mit unbeirrtem Eifer verfolgt, weniger durch Weisheit und Besonnenheit als in ihrer Radikalität und Unbedingtheit durch jugendlichen Übermut bestimmt ist. Zum anderen bezieht der breite mittelalterliche Diskurs über die Liebe in der Frage nach der angemessenen Zuordnung von Minne und Lebensalter deutlich zugunsten der Jugend und gegen das Alter Position.1

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Vgl. Alfred Karnein, »Die Zeit für die Liebe. Zur Darstellung des Verhältnisses von Lebensalter und Sexualität im mittelalterlichen Schrifttum«, in: A. K., Amor est passio. Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs im Mittelalter, hrsg. von Friedrich Wolf-

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Die Minnedame ist die Verkörperung sämtlicher höfischer Tugendwerte und unterliegt in dieser Idealität keinem Alterungsprozess.2 Wenn der Gedanke nach ihrem Alter in hochhöfischer Zeit überhaupt einmal aufkommt, wird er schnell wieder verworfen: So verwahrt sich das Ich in Reinmars Lied XV Der lange suozer kumber mîn (MF 166,16), als es angesichts seines langjährigen Minnedienstes vom Publikum gefragt wird, wie alt seine Dame mittlerweile wohl sei, gegen derartige Verletzungen des höfischen Anstands: si vrâgent mich ze vil von mîner vrowen jâren Und sprechent, welcher tage si sî, dur daz ich ir sô lange bin gewesen mit triuwen bî. si sprechent, daz es möhte mich verdriezen. nu lâ daz aller beste wîp ir zuhtelôser vrâge mich geniezen.3 (Sie fragen mich zu oft nach dem Alter meiner Dame und bereden, wie viele Tage sie wohl zähle, da ich ihr schon so lange aufrichtig diene. Sie reden, dass es mich verdrießen könnte. Nun möge die allerbeste Frau mich für deren unanständige Frage entschädigen.)

Wer nach dem Alter der Dame fragt, ist nicht nur unverschämt, sondern – so suggeriert Reinmar – hat auch das poetologische Konzept des Minnesangs, der in der einen Dame das Ideal aller besingt, nicht verstanden.

1. Zeit vergeht, Dienst besteht. Altern als literarische Konkretisierung im Minnesang Der Sänger trägt durch den Lobpreis der Dame zu ihrer Erhöhung bei und macht sie im Singen für sich immer unerreichbarer, so dass die Möglichkeit einer Erfüllung der Minnewerbung umso unwahrscheinli-

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zettel, Triest 1997, S. 133–146, der sich weniger auf den literarischen als vielmehr den wissenschaftlichen Diskurs über die Liebe etwa in Medizin, Theologie oder Rechtswissenschaft bezieht. Zur Konzeption der idealen Dame im Minnesang vgl. Günther Schweikle, »Die frouwe der Minnesänger. Zu Realitätsgehalt und Ethos des Minnesangs«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum, 109 (1980), S. 91–116, sowie Andreas Kablitz, »Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit«, in: Martina Neumeyer (Hrsg.), Mittelalterliche Menschenbilder, Regensburg 2000 (Eichstätter Kolloquium 8), S. 79–118. Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus hrsg. von Hugo Moser / Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl., mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988, 167,16ff. Die Ausgabe wird im Folgenden verkürzt als ›MF‹ zitiert.

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cher wird, je länger der Dienst andauert – die Forschung hat diese Bewegung treffend als Minneparadox benannt.4 Trotz der kategorischen Abwehr in Reinmars Lied ist das Älterwerden ein Thema, das sich durchaus logisch aus der Handlungskonstellation des Minnesangs ergeben kann: Wenn man die Forderungen der staete, der Beständigkeit, die den Werber trotz der Zurückweisung der Dame zu ständigem Weiterdienen animiert, zu Ende denkt, wenn man die Beteuerungen des endlosen Dienens ernst nimmt, so verrinnt in diesem immer neuen Besingen der Dame durch den unermüdlichen Sänger die Zeit. Dass man in dem auf Endlosigkeit angelegten Minnedienst älter wird, ist ein Gedanke, der zunächst vereinzelt in den Liedern aufblitzt5 und sich im 13. Jahrhundert zu einer Topik festigt, die im Folgenden nicht für den alten Sänger,6 sondern für die alte Frau im Minnesang analysiert werden soll. Die ältere Forschung hat die Lieder, in denen das Alter thematisiert wird, gern als reale subjektive Erfahrung des Autors gedeutet.7 Doch angesichts des Kunstcharakters des Sangs ist es

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Eine kurze Charakterisierung dieses vieldiskutierten Phänomens findet sich bei Christoph Huber, »Wege aus der Liebesparadoxie. Zum Minnesang Heinrichs von Mügeln im Blick auf Konrad von Würzburg«, in: Michael Zywietz / Volker Honemann / Christian Bettels (Hrsg.), Gattungen und Formen des europäischen Liedes vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, Münster, München / Berlin 2005 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 8), S. 89–109, vor allem S. 90f. Dass die Unerreichbarkeit der Dame durch das Lob des Sängers gesteigert wird, reflektiert Walther in seinem Lied Si wunderwol gemachet wîp (L. 53,25): ouwê, was lob ich tumber man? / mache ich si mir ze hêr, / vil lîhte wirt mîns mundes lop mîns herzen sêr (L. 54,4ff.; »O weh, ich Törichter, warum lobe ich? Mache ich sie mir [sc. durch mein Lob – S.L.] zu hoch, so wird das Lob meines Mundes leicht der Schmerz meines Herzens«). Ein Beispiel aus hochhöfischer Zeit bietet Reinmar in Lied LIV Wol im, der nu vert verdarp! (MF 198,28), wo das erfahrene Ich über die Jahre hohe Kompetenz im idealen höfischen Minnedienst angesammelt hat. Dennoch mündet die Welterfahrenheit nicht in ein entsprechendes Verhalten, da sich das Ich trotz des Wissens um die Vergeblichkeit seiner Bemühungen nicht vom Dienst für die ablehnende Dame lösen kann: Mîn gloube ist, sol ich leben, / ich wirde endelîchen alt; / diu mir vröide hât gegeben / unde sorge manicvalt, / Der diene ich die selben tage. / mîne jâr diu müezen mit ir ende nemen, / sô mit vröiden, sô mit klage. (MF 199,18ff.; »Ich glaube, wenn ich weiter lebe, werde ich schließlich alt; derjenigen, die mir Freude und vielfältige Sorge gegeben hat, der diene ich währenddessen. Meine Jahre müssen mit ihr enden, in Freude ebenso wie in Klage.«). Vgl. etwa Christoph Cormeau, »Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Einbettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide«, in: Ernstpeter Ruhe / Rudolf Behrens (Hrsg.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984, München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters XIV), S. 147–165, der zeigt, wie Walther den allgemein akzeptierten Gedanken einer Distanz zwischen Alter und Minne dazu nutzt, die Sonderrolle des Künstlers zu konturieren. Vgl. etwa Wolfgang Mohr, »Altersdichtung Walthers von der Vogelweide«, in: Sprachkunst, 2 (1971), S. 329–356, der davon ausgeht, dass der alt gewordene Walther sich für seinen Minnesang rechtfertigen muss, da die Minnethematik auf die Zeit der

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näherliegend, zunächst einmal nach der poetologischen Funktion des Altersmotivs zu fragen und soziale oder biologische Faktoren erst nachgeordnet zu berücksichtigen. Auch wenn die Fiktion mit Bezügen auf diese Realfaktoren spielt, bleibt das im Lied beschriebene Altern ein binnenpoetisches Konstrukt. Es geht nicht um eine außerliterarische Wirklichkeit, in der der nach 40 Jahren Minnedienst alt gewordene Sänger ein ebenso gealtertes Du besingt, sondern um die Frage, wie das Altersthema Eingang in den Minnediskurs finden kann, welche Interessen damit verknüpft sind und welchen Effekt das Thema auf die Gattung ausübt.8 Für den alten Mann und in der Zuspitzung für den alten Minnesänger eröffnen sich zwei konträre Rollen, nämlich die des weisen und erfahrenen Sängers und die des lächerlichen Alten. Das Alter bringt zwar einen Zuwachs der Sangeskünste und der Fähigkeit, Minnesituationen ethisch richtig zu bewerten, es behindert aber zugleich den unmittelbaren Minneerfolg. Der alte Sänger weiß aufgrund seines reichen Erfahrungsschatzes zwar mittlerweile ganz genau, wie man einen höfischen Minnedienst gestaltet, hat aber keine erotische Attraktivität mehr. Er kann die Minne zwar kunstreich besingen, doch der im Sang anvisierte Minnelohn rückt mit der Einsicht in das eigene Alter in unerreichbare Ferne. Die Minnedame, die in der passiven Rolle der Besungenen den Minnediener mit ihrer Schönheit, die eine innere Tugendhaftigkeit spiegelt, in ihren Bann zieht, hat mit zunehmendem Alter und entsprechendem körperlichen Verfall schlechte Karten. Fragt man nach einer generellen Bewertung der alten Frau, so bieten die meisten mittelalterlichen Quellen ein negatives Bild.9 Das mag daran liegen, dass die

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Jugend beschränkt ist. Die frühe Walther-Philologie ist ein treffendes Beispiel dafür, wie eine realistische Ausdeutung von Altersaussagen genutzt wird, um eine Chronologie der Lieder zu erstellen, genannt seien lediglich die Ausgaben von Karl Lachmann, Wilhelm Wilmanns und Carl von Kraus, eine kritische Sicht bietet Cyril Edwards, »Kodikologie und Chronologie. Zu den ›letzten Liedern‹ Walthers von der Vogelweide«, in: Volker Honemann / Nigel Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100– 1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 297–315, vor allem S. 297f. In jüngerer Zeit haben sich mit der Altersthematik im Minnesang beschäftigt: Volker Mertens, »Alter als Rolle. Zur Verzeitlichung des Körpers im Minnesang«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 128 (2006), S. 409–430, und Ute von Bloh, »Zum Altersthema in Minneliedern des 12. und 13. Jahrhunderts: Der ›Einbruch‹ der Realität«, in: Thomas Bein (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, Frankfurt a. M. 2002 (Walther-Studien 1), S. 117–144. Vgl. in allgemeiner Perspektive etwa Rolf Sprandel, »Modelle des Alterns in der europäischen Tradition«, in: Hans Süßmuth (Hrsg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1499), S. 110–123, vor allem S. 115ff., oder mit Blick auf den medizinischen Diskurs Daniel Schäfer, »Die

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unfruchtbare alte Frau keinen gesellschaftlichen Nutzen erfüllt und anders als der alte Mann nicht das Betätigungsfeld der Altersweisheit für sich in Anspruch nehmen kann. Die Darstellung alter Frauen in der mittelalterlichen Literatur changiert in einem Negativspektrum zwischen der Bösen und der Lächerlichen, zwischen dem übelen wîp, wie man es im Fastnachtspiel oder in den Mären findet,10 und der tanzlustigen Alten, die in ihrer triebgesteuerten Agilität nicht nur im Minnesang thematisiert wird, sondern quer durch Literatur- und Kulturgeschichte reist. Die liebeslustige Alte11 begegnet schon in den Oden des Horaz,12 man findet sie etwa auch als Figur in volkstümlichen Bräuchen, wo sie häufig mit der Jahreszeit des Frühlings verknüpft ist,13 in altisländischen Sagas,14 den Carmina Burana15 oder noch in Wielands Oberon.16

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alternde Frau in der frühneuzeitlichen Medizin – eine ›vergessene‹ Gruppe alter Menschen«, in: Sudhoffs Archiv, 87, Heft 1 (2003), S. 90–108, hier S. 90f. Vgl. für die Gattung des Fastnachtspiels Ute von Bloh, »Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend (Keller, Nr. 57)«, in: Klaus Ridder (Hrsg.), Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, Tübingen 2009, S. 327–344, sowie für die Märendichtung Monika Jonas, »Idealisierung und Dämonisierung als Mittel der Repression. Eine Untersuchung zur Weiblichkeitsdarstellung im spätmittelalterlichen Schwank«, in: Sylvia Wallinger / Monika Jonas (Hrsg.), Der Widerspenstigen Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Innsbruck 1986, S. 67–93. Eine motivgeschichtliche Untersuchung bietet Franz Rolf Schröder, »Die tanzlustige Alte«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, 1 (1950/51), S. 241–257. Vgl. den Beitrag von Therese Fuhrer in diesem Band. Vgl. Schröder, »Die tanzlustige Alte«, S. 247, der für das Motiv einen Zusammenhang mit Mai- und Fastnachtsbräuchen vermutet. Die Bezüge zur altisländischen Hallfredarsaga beschreibt Schröder, »Die tanzlustige Alte«, S. 245. Die letzte Strophe des Carmen Solis iubar nituit beschreibt eine alte Frau, die, dem Beispiel der jungen folgend, unbedingt im Frühling zum Tanz will, vgl. Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, mit Miniaturen aus der Handschrift hrsg. von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13), CB 81, S. 282ff. Das Carmen Virent prata hiemata tersa rabie erwähnt in der zweiten Strophe, wie Mütter und Töchter im Frühling gemeinsam ad choreas Veneras unter der Linde tanzen, vgl. ebd., CB 151, S. 508ff. Die lateinische Dichtung zeigt hier eine ähnliche Verknüpfung der Motive der liebeseifrigen Alten und der belebenden Kraft des Frühlings, wie sie im weiteren Verlauf des Beitrags für Neidharts Sommerlieder herausgearbeitet wird. Zu den Parallelen zwischen den Carmina Burana und dem deutschen Minnesang vor allem in der Gestaltung des Natureingangs vgl. Franz Josef Worstbrock, »Verdeckte Schichten und Typen im deutschen Minnesang um 1210–1230«, in: F. J. W., Ausgewählte Schriften, hrsg. von Susanne Köbele / Andreas Kraß, Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters, Stuttgart 2004, S. 87–101. Vgl. Scherasmins Tanz mit der zahnlosen alten Nonne in Gesang 2,37: Christoph Martin Wieland, »Oberon«, in: Ch. M. W., Werke, hrsg. von Fritz Martini / Hans Werner Seiffert, Bd. 5, hrsg. von Hans Werner Seiffert, München 1968, S. 162–381, hier S. 190f.

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In der Vielfalt der Verwendung besitzt die Figur der alten Frau topischen Charakter. Dabei soll im Folgenden nicht einfach das wiederholte Vorkommen eines Motivs registriert werden, wie es Ernst Robert Curtius tut, der den Topos auf die stehende Wendung reduziert und, da er motivgeschichtliche Traditionsketten aufspüren will, weniger die Varianz als das Gleichbleibende in der Wiederholung betont.17 In der folgenden Analyse soll der Topos der liebeslustigen Alten in der Funktion eines rhetorischen Aufrufschematismus verstanden werden, als eine produktive Denkform, die das allgemein Akzeptierte als Ausgangsbasis für die Erschließung neuer Argumentationsräume nutzt. Aufgrund der polyvalenten Interpretierbarkeit eines Topos, die Lothar Bornscheuer als »Potentialität«18 bezeichnet hat, kann die liebeslustige Alte zum Anfangsgrund ganz unterschiedlicher verbaler Realisierungen werden. Zugleich knüpft sich an die Verwendung des Topos eine bestimmte Dynamik, indem mit einer kurzen Formel ein komplexes Gedankenbild aufgerufen wird, das die gesellschaftliche Einbildungskraft ebenso wie die des Autors inspiriert. Der Topos steht nicht für sich und erreicht keine statische Abgeschlossenheit, sondern erzeugt immer neues Interpretationsbedürfnis, d.h., er regt zum Weiterdenken an und kann das vorhandene poetologische System durch neue Reflexionsfelder erweitern. Er wird – wie Schmidt-Biggemann und Hallacker formulieren – zum »Spielmaterial neuer Arrangements«19. So soll vor allem das produktive Potential der Topik untersucht werden, die in spielerischer Form als »gesellschaftlich relevante Argumentationsphantasie«20 bisher nur latent vorhandene Wissens- und Erfahrungsfelder zur Ausformulierung bringt. Um es auf den Anwendungsfall des Minnesangs zu beziehen: Wenn der Topos der tanzlustigen Alten in das bisher in seinen Rollen recht feste Arrangement des Minnesangs eintritt, kommt es zum Aufbau von Komplexität. Bislang statische Elemente des Sangs müssen auf die Änderung reagieren, und so werden der Gattung neue Äußerungs- und

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Vgl. Ernst Robert Curtius, Lateinische Literatur und Europäisches Mittelalter, Tübingen, Basel 11 1993. Lothar Bornscheuer, Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, entfaltet ab S. 95 die vier Dimensionen des Topikbegriffs, nämlich Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität. Vgl. auch die Einleitung des vorliegenden Bandes. Wilhelm Schmidt-Biggemann / Anja Hallacker, »Topik: Tradition und Erneuerung«, in: Thomas Frank / Ursula Kocher / Ulrike Tarnow (Hrsg.), Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 1), S. 15–27, hier S. 23. Lothar Bornscheuer, »Topik«, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 4 (2 1984), S. 454–475., hier S. 455.

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Denkformen eröffnet, erhöht der Topos der alten Frau die Vielschichtigkeit, in der Minnesänger und Publikum über das Phänomen Minne nachdenken. Das topische Sprechen über das Alter – so die These dieses Beitrags – löst in Konfrontation mit den literarischen Gepflogenheiten des Minnesangs ein Diskussionspotential aus. Dieses wird nicht mittels abstrakter Reflexion etwa über den Zusammenhang von Liebe und Alter integriert, sondern die Gattung reagiert darauf mit einer narrativen Ausfaltung, mit dem Auserzählen kleiner, oftmals nur punktueller Szenerien, in denen die alte Frau eine Handlungsrolle übernimmt. Der Minnesang ist in seiner hochhöfischen Ausformung der Minnekanzone ein reflektierendes Sprechen.21 Ein von der Minne betroffenes Ich denkt in immer neuen Anläufen über seinen im Sprechen akuten inneren Zustand und die Wertigkeit der Minne nach, wobei diese Reflexionen in der Regel in einem abstrakten und zeitfreien Raum stattfinden. Da der Erfolg der Werbung ausbleibt, hat die Rede des Minnesangs eine pragmatische Irrelevanz, entwickelt aber gerade in diesem Freiraum durch ständige Variation der immergleichen Werbungsrede neue Register poetischen Sprechens über die Minne. Nun ist die These von einer Narrativierung des Sangs, von einer Integration erzählender Elemente in die reflektierende Lyrik keineswegs neu und auch nicht auf das Thema Alter beschränkt. Sie ergibt sich im Zuge der Gattungsentwicklung ganz automatisch aus einer zunehmenden Konkretisierung, aus der immer häufiger aufkommenden Frage nach realistischer Plausibilität des Besungenen, wie sie Hugo Kuhn und andere für den Minnesang des 13. Jahrhunderts, den man früher gern als nachklassisch bezeichnete, festgestellt haben.22 In diesem Zeitraum

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Vgl. die grundlegende frühe Studie von Hennig Brinkmann, »Der deutsche Minnesang« (1952), in: Hans Fromm (Hrsg.), Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung 15), S. 85–166, vor allem Kapitel VI: »Minne als seelische Erfahrung«, S. 127ff., sowie die konzise Bestimmung der Minnekanzone bei Gert Hübner, Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, Bd. 1, Baden-Baden 1996 (Saecula Spiritalia 34), S. 30ff. Zur Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts vgl. Hugo Kuhn, Minnesangs Wende, 2., vermehrte Aufl., Tübingen 1967; sowie in Rezeption seiner Thesen Ingeborg Glier, »Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts«, in: Franz H. Bäuml (Hrsg.), From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide, Göppingen 1984 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 368), S. 150–168. Vgl. auch Volker Mertens, »›Biographisierung‹ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein«, in: Ingrid Kasten / Werner Paravicini / René Pérennec (Hrsg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris 16.–18.3.1995, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 331–344, sowie mit Blick auf die Sonderrolle Walthers von der Vogelweide Hartmut Bleumer, »Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen

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öffnet sich die Minnekanzone auf einer breiteren Ebene für die Narration, d.h. für das zumindest fragmentarische Schildern von Handlungsabläufen, die in der Vergangenheit liegen und in einem zeitlichen Nacheinander organisiert sind. Die Konkretisierung erfolgt häufig über das Auserzählen von Minnesangtopoi, so werden Topoi wie die Minne von Kindesbeinen an oder die Einwohnung der Dame im Herzens des Ritters in ihren realistischen Konsequenzen zu Ende gedacht, mit konkreten Informationen angereichert und in einen Handlungskontext eingebunden.23 In dieser allgemeinen Tendenz zur Narrativierung nimmt das Thema des hohen Alters eine Sonderstellung ein, da es in einen Gegensatz zur zeitlosen Reflexion des Minnesangs tritt, indem es direkt auf das lineare Verstreichen der Zeit verweist und implizit ein Früher und Jetzt in einer erzählbaren zeitlichen Abfolge voraussetzt. An einem Lied Heinrichs von Morungen soll zunächst exemplarisch gezeigt werden, wie sich die Thematik des Alterns aus der Konstellation des hohen Sangs heraus entwickelt und eine Dynamisierung zur Folge hat, die sich nach Sänger und Dame sogar noch auf die folgende Generation ausdehnt. Danach wird in Walthers von der Vogelweide Lied Minne diu hât einen site24 die topische tanzende Alte analysiert, die hier jedoch nicht die alte Minnedame, sondern die alt gewordene personifizierte Minne ist – eine Variation des topischen Materials, die den Fokus bereits auf die poetologische Ebene und die Frage nach dem richtigen Sang verschiebt. In Neidharts Liedern25 schließlich, die den Schwerpunkt des Beitrags bilden, kommen zwei Felder topischen Sprechens zusammen, nämlich der Topos der liebeslustigen Alten und der Topos der verjüngenden Kraft des Frühlings, die in der reflexiven

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zwischen Sangspruch und Minnesang«, in: Helmut Birkhan (Hrsg.), Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer, Wien 2005 (Österreichische Akad. d. Wiss. Sbb. 721), S. 83–102. Dass narrative Elemente in Ansätzen auch schon in der Kanzone um 1200 begegnen, zeigt Manfred Eikelmann, »wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone«, in: Michael Schilling / Peter Strohschneider (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 19–42. Oftmals wird dieses Verfahren zur Einbruchstelle für Komik, wie Ursula Peters am Beispiel von Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst gezeigt hat: Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung, Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 46), S. 56ff. Walter von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996. Die Edition wird im Folgenden verkürzt nach der Lachmann-Zählung zitiert. Die Lieder Neidharts, hrsg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, 4. Aufl. revidiert von Paul Sappler, Tübingen 1984 (ATB 44). Die Ausgabe wird im Folgenden verkürzt unter Angabe der Liednummer zitiert.

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Struktur des Minnesangs beide ein narratives Potential entfalten und als Beitrag zu der poetologischen Frage zu verstehen sind, ob die Minne in der Literatur eher als höfisch-ethisches Konstrukt oder als natürliches Phänomen zur Darstellung kommen soll.

2. Rachephantasien im ewig ungelohnten Dienst (Heinrich von Morungen) Die Reihe der Textbeispiele beginnt mit Heinrich von Morungen, der um die Wende vom 12. zum 13. Jh. dichtet und in dem überlieferten Corpus von rund 115 Strophen als ein Sänger begegnet, der die Minnereflexion immer wieder durch kurze erzählende Einschübe unterbricht, die als diskontinuierliche Narration oft punktuell bleiben und keinen geschlossenen Handlungsbogen ergeben.26 Sein Lied Het ich tugende niht so vil von ir vernomen (MF 124,32) setzt ein mit einer Reflexion über die beiden Faktoren, mit denen die Dame das werbende Ich in ihren Bann gezogen hat, nämlich ihre ethische Vorbildlichkeit und ihre Schönheit: Het ich tugende niht sô vil von ir vernomen und ir schoene niht sô vil gesehen, wie waere sî mir dann alsô ze herzen komen? (MF 124,32ff.) (Hätte ich nicht so viel Gutes von ihr gehört und nicht so oft ihre Schönheit gesehen, wie hätte sie mir dann so ins Herz kommen können?)

In einer ausgefeilten Semantik von Lichtschein und Blick, in der die Dame für die strahlende Sonne steht und das Ich wie der Mond passiv von der Sonne beschienen wird, entfaltet sich die typische Abhängigkeit zwischen Werber und Minnedame. Die zweite Strophe beschreibt in einer geläufigen Herzmetaphorik das Eindringen der Dame in das Herz des Sängers27 – ein Vorgang, der hier als sehr gewaltsam imagi-

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Vgl. z.B. Klaus Speckenbach, »Morungens Umspielen der Gattungsgrenzen. Zur Interpretation von Ez tuot vil wê (MF XV; 134,14) und Ich hôrte ûf der heide (MF XXIII; 139,19)«, in: Volker Honemann / Tomas Tomasek (Hrsg.), Germanistische Mediävistik, Münster 1999, S. 123–145; Hans Irler, Minnerollen – Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. u.a. 2001 (Mikrokosmos 62), hier S. 97ff., sowie Volker Mertens, »Fragmente eines Erzählens von Liebe. Die Konstruktion von Subjektivität bei Heinrich von Morungen«, in: Martin Baisch / Jutta Eming / Hendrikje Haufe / Andrea Sieber (Hrsg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein Ts. 2005, S. 34–55. Zur Herzmetaphorik vgl. Sandra Linden, »Körperkonzepte jenseits der Rationalität. Die Herzenstauschmetaphorik im Iwein Hartmanns von Aue«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007, S. 247–267, vor allem S. 254ff.

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niert wird und beim verzweifelt leidenden Ich sogar Todessehnsucht hervorruft: sold aber ieman an im selben schuldic sîn, sô het ich mich selben selb erslagen. (MF 125,3f.) (Dürfte man sich an sich selbst versündigen, so hätte ich mich selbst getötet.)

Doch das Leid, das ihm durch die Bindung zur Dame widerfährt, hat keineswegs eine Dienstaufsage zur Folge, sondern das Ich reagiert ganz gattungstypisch mit Sang, wenn es am Ende der zweiten Strophe heißt: in hôhte ir lop, swâ manz vor mir sprach (MF 125,9). Wo immer man die Dame erwähnt, erhöht er ihr Lob mit seinem Singen und steigert dadurch ihre Unerreichbarkeit, in der Konsequenz aber auch sein Leid. Die endlose Abfolge von Lob und Schmerz, die die Intensität des Dienstes für das Ich zur Unerträglichkeit steigert, das ständige Weiterdienen ohne Lohn bringt den Aspekt verstreichender Zeit und somit das Thema des Alterns in die Diskussion. Angesichts des andauernden Minneleids sucht das Ich nach Handlungsoptionen und entwickelt in der dritten Strophe mit dem Gedanken des imaginierten Alters und Todes eine Gewaltphantasie, in der es seine Rache an der ablehnenden Dame auf die nächste Generation, nämlich auf seinen Sohn, verlagert.28 Der Minnedienst wird einfach wie vererbbarer Besitz an die Folgegeneration weitergereicht, genealogische Konstanz kann das Altern des Einzelnen überwinden. Die von der ablehnenden Dame eingeforderte Zeitlosigkeit eines ewigen Dienens wird vom Ich in der ironischen Volte des vererbten Dienstes radikal angenommen und zugleich aufs Schärfste kritisiert: Mîme kinde wil ich erben dise nôt und diu klagenden leit, diu ich hân von ir. (MF 125,10f.) (Meinem Kind/Sohn will ich diese Not vererben und die beklagenswerten Qualen, die ich durch sie leide.)

Dass die Konventionen der hohen Minne zugleich aufrechterhalten und gebrochen werden, ergibt sich schon allein durch die Personenkonstellation: Das minnende Ich, das seine radikale Liebesbindung zur Dame besingt, entpuppt sich in der dritten Strophe als Familienvater, der ein – scheinbar glücklicheres – Leben mit einer anderen Frau außerhalb des Minnedienstes führt. Mit dem jungen Minnediener, der

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Eine detaillierte Analyse des Aggressionspotentials in Morungens Lied bietet Beate Kellner, »Gewalt und Minne. Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 119 (1997), S. 33–66, hier S. 47ff. Die Rachephantasie in Morungens Lied scheinen bereits die Zeitgenossen als besondere Pointe wahrgenommen zu haben, zumindest deutet sich eine rezipierende Bezugnahme an, vgl. Franz Rolf Schröder, »Morungens Dichterrache«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, 1 (1950/51), S. 318f.

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an die Stelle des alten Vaters tritt – und das ist der Clou dieser Konstruktion – verkehren sich die Hierarchien zwischen Werber und Dame. Auch wenn Morungen nicht explizit vom Älterwerden der Dame spricht, wird doch deutlich, dass sie für den schönen jungen Sohn keine Attraktivität hat und sich trotzdem in Liebe nach ihm verzehrt. Das Ich formuliert die Hoffnung, [d]az noch schoene werde mîn sun, daz er wunder an ir begê, alsô daz er mich reche und ir herze gar zerbreche, sô sîn sô rehte schoenen sê. (MF 125,14ff.) (dass mein Sohn so schön werde, dass er das Wunder an ihr fertig bringt, mich zu rächen und ihr Herz zu zerbrechen, wenn sie ihn in seiner ganzen Schönheit sieht.)

Mit der Pointe des Generationenwechsels kann das Ich die Vergänglichkeit durchbrechen und für sich in einer Art temporalen Dynamisierung ein Weiterleben im Sohn imaginieren – eine Rückbindung an eine alltägliche Lebenswelt außerhalb des Minnedienstes, die der idealen Dame hier versagt bleibt.29 Der Sänger kann seine Rache formulieren und zugleich seine Treue zur Minnedame bis in den Tod wahren, indem er die Gewaltphantasie auf seinen Sohn auslagert und die geschlossene Konstellation von Ich und Dame einfach durch eine dritte Person aufbricht. Nach der minnesangtypischen Reflexion über innere Befindlichkeiten deutet sich so in der dritten Strophe mit der genealogischen Perspektivierung eine recht konkrete Handlungsebene an, auch wenn sie noch im Modus der imaginierten Aggression verbleibt. Während Morungen die Rolle der Dame in den konventionellen Grenzen des Minnesangschemas belässt, definiert er für das Ich im fiktionalen Rahmen des Liedes und in der zusätzlichen Brechung des Konjunktivs neue Parameter und lässt es eine kleine Racheszene auserzählen. Die Themen der im ungelohnten Dienst verrinnenden Zeit und des Alterns werden nicht konkret benannt, sind aber logische Voraussetzung für die imaginierte Umkehrung der Hierarchien. Trotz des Rachegedankens wahrt Morungen dabei eine schonende Perspektive auf die Dame, indem er ihren körperlichen Verfall im Alter nicht direkt schildert,

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In einer Strophe eines namenlosen Dichters, die man Reinmar zugeschrieben hat, wird das Weiterreichen des Minnedienstes in genealogischer Linie jedoch auch auf die Dame angewandt: In einer Warnung an junge Minnediener, einer alten Frau zu dienen, wird die Perspektive eröffnet, dass sie sich anstatt von der alten Mutter von deren Tochter für den Dienst belohnen lassen sollen, vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts [KLD], hrsg. von Carl von Kraus, Bd. 1: Text, Tübingen 1952, Nr. 38. Namenlos: W, S. 293.

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sondern diese Assoziation durch die Betonung des schönen Sohnes lediglich anregt und letztlich der Phantasie des Publikums überlässt. Eine andere, wesentlich radikalere Lösung bietet Walther von der Vogelweide in einem parallelen Fall, nämlich im sumerlaten-Lied (Lange swîgen des hât ich gedâht, L. 72,31), in dem das Ich seiner Frustration über den langen vergeblichen Dienst in einer erotischen Gewaltphantasie Luft macht. Der Alterungsprozess der Dame wird nun deutlich benannt: Solde ich in ir dienste werden alt, die wîle junget sî niht vil. (L. 73,17f.) (Wenn ich in ihrem Dienst alt werde, wird sie unterdessen nicht viel jünger.)

Das zornige Ich rächt sich gegenüber der abweisenden Dame mit der Hilfe eines Stellvertreters, indem es den Dienst an einen jüngeren Werber abtritt und dieser in vitaler Überlegenheit die alte Haut der Minnedame ganz handfest mit frischen Reisigzweigen, mit sumerlaten (L. 73,22), angeht.30 Doch auch hier wird die Szenerie nicht als real vorgestellt, sondern lediglich im Modus eines prospektiven ›Was wäre wenn?‹ als Drohung gegenüber der ablehnenden Dame formuliert.

3. Die alte Frau Minne im jugendlichen Tanzschritt (Walther von der Vogelweide) Walther von der Vogelweide spielt die Altersthematik nicht nur in Bezug auf die Minnedame durch, sondern denkt den Topos der tanzlustigen Alten produktiv weiter, wie sich in seinem Lied Minne diu hât einen site (L. 57,23) zeigt.31 Das Ich äußert sich hier in einer anklagenden Rede über seine Herrin, die personifizierte Minne. Er wirft ihr unziemliches Verhalten vor, da sie ihre Werber vorschnell nach dem Alter auswählt: Ir sint vier und zwênzec jâr vil lieber, danne ir vierzec sîn, und stellet sich vil übel, sihts iender grâwez hâr. (L. 57,29ff.)

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Zum sumerlaten-Lied vgl. Mertens, »Alter als Rolle«, S. 416ff. Die produktive Rezeption, die Walthers sumerlaten-Lied bereits im Mittelalter gefunden hat, beschreibt Volker Mertens, »Alte Damen und junge Männer. Spiegelungen von Walthers ›sumerlatenLied‹«, in: Jan-Dirk Müller / Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck, Stuttgart 1989, S. 197–215. Eine Interpretation dieses Liedes bietet Cormeau, »Minne und Alter«, S. 150ff.

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(Ihr sind 24 Jahre viel lieber, als ihr 40 sind, und sie stellt sich ganz böse an, sobald sie irgendwo ein graues Haar sieht.)

Walther nutzt hier die topischen grauen Haare als Metonymie des hohen Alters,32 die im Minnesang meist als Kritikpunkt zwischen Werber und Dame begegnen, wenn etwa Heinrich von Veldeke klagt: Man seit al vür wâr nu manic jâr, diu wîp hazzen grâwez hâr. [...] Diu mê noch diu min daz ich grâ bin, ich hazze an wîben kranken sin, daz niuwez zin Nement vür altez golt. (MF 62,11ff.) (Man sagt wahrlich schon seit vielen Jahren, dass Frauen graues Haar hassen. [...] Genau deshalb, weil ich grau bin, hasse ich an Frauen schwachen Verstand, dass sie neues Zinn altem Gold vorziehen.)

Während Veldeke die Zurückweisung des alten Werbers als Fehlverhalten unverständiger Damen kritisieren kann, hat Walther angesichts der ablehnenden Haltung der übergeordneten Frau Minne eine ungünstigere Argumentationsposition. Man mag nachvollziehen, dass eine Ausgrenzung der 40-Jährigen und Grauhaarigen aus der Minneinteraktion eine für das lyrische Ich schmerzliche Erfahrung ist, doch als ein besonderes Fehlverhalten der Minne kann man diese Bevorzugung der Jugend bislang noch nicht verstehen. In der zweiten Strophe bewertet das Ich seine Beziehung zur Minne in einer historischen Rückschau durchaus positiv: Minne was mîn frowe [ ] gar, daz ich wol wiste al ir tougen. (L. 57,32f.) (Minne war ganz meine Herrin, so dass ich all ihre Geheimnisse gut kannte.)

Mit dem Altern des Ichs und dem gleichzeitigen Auftreten jüngerer Kandidaten ergibt sich eine ungünstige Vergleichssituation, denn angesichts des jungen Werbers erntet das Ich von der Minne scheele Blicke: sô wirde ich mit twerhen ougen / schilhend an gesehen (L. 57,36f.; »So werde ich mit schrägem Blick schielend angesehen«). Bis zu dieser Stelle fügt sich der Gedankengang des Liedes bruchlos zu dem allgemein akzep-

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Das graue Haar des gealterten Ichs, das im langen ungelohnten Minnedienst ausharrt, findet sich beispielsweise bei Heinrich von Rugge, MF 104,6ff.; Heinrich von Veldeke, MF 62,11ff.; Reinmar, MF 172,13ff. und 185,5; Walther von der Vogelweide, L. 57,31; Konrad von Altstetten, SM 3,2 (Die Schweizer Minnesänger, nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearbeitet von Max Schiendorfer, Tübingen 1990, S. 215f.); Neidhart, SL 30,3.

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tierten Paradigma, dass Minne ein Vorrecht der Jugend sei, doch mit dem Ende der zweiten Strophe verengt sich der Blick auf die Auswahlinstanz, auf Frau Minne selbst: Armez wîp, wes müet si sich? weizgot, wan daz si liste pfliget und tôren triuget, sî ist doch elter vil dann ich. (L. 57,38-58,2) (Arme Frau, was müht sie sich ab? Weiß Gott, auch wenn sie Tricks anwendet und Toren täuscht, so ist sie doch viel älter als ich.)

Als rhetorisches und literarisches Stilmittel stellt die Personifikation zum Zweck einer lebendigen und plastischen Beschreibung abstrakte Phänomene als handlungsfähige menschliche Gestalten dar.33 In den meisten Fällen meint dies jedoch keine realistische Vermenschlichung, sondern eher die Übernahme einer Rolle, die in den strengen Grenzen des personifizierten Begriffs verbleibt. Das Abstrakte wird keineswegs durch das Bildhafte ersetzt, vielmehr werden beide Ebenen vielschichtig überblendet, und in dieser Kombination menschlicher und nichtmenschlicher Elemente sperren sich Personifikationen oftmals gegen eine detaillierte narrative Entfaltung, wirken sie in einem lebhaften Handlungskontinuum mitunter etwas holzschnittartig.34 Anders Walthers Frau Minne: Dem überzeitlichen Phänomen der Minne wird hier über das Stilmittel der Personifikation nicht nur menschliche Handlungsfähigkeit eröffnet, sondern sie wird gleichzeitig einem realistischen menschlichen Alterungsprozess unterzogen.35 Sie kann zwar mit allerlei Tricks (liste, L. 58,1) ihr wahres Alter vertuschen und für einfältige Jünglinge noch attraktiv sein, doch eigentlich ist sie die Ältere, und nicht das von ihr so abschätzig betrachtete Ich. In der dritten Strophe wird nun mit dem Topos der tanzlustigen Alten die Unangemessenheit ihres Verhaltens deutlich markiert: Minne hât sich an genomen, daz si gêt mit tôren umbe springent als ein kint. war sint al ir witze komen? (L. 58,3ff.) (Die Minne hat sich angewöhnt, dass sie mit Toren Umgang hat und wie ein Kind herumspringt. Wohin ist all ihr Verstand gekommen?)

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Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 31990, §§ 826–829. Vgl. Christian Kiening, »Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten in der mittelalterlichen Literatur«, in: Helmut Brall / Barbara Haupt / Urban Küsters (Hrsg.), Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 4), S. 347–387, vor allem S. 372. Ganz ähnlich beklagt Neidhart in Winterlied 30 für die Personifikation der Frau Welt ein altersunangemessenes Verhalten: Mîn vrouwe diu ist elder danne tûsent jâr / unde ist tumber, dan bî siben jâre sî ein kindelîn (WL 30, Str. 4,1f.; »Meine Dame ist älter als 1000 Jahre, und sie ist dümmer als ein Kindlein von sieben Jahren«).

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Neben der strengen Anklage, dass Minne sich altersgemäß wie ein bescheiden wîp (L. 58,10; »rechtschaffene Frau«) verhalten solle, offenbart das Ich am Ende der dritten Strophe aber auch einen Zug des Mitleids mit seiner alten Herrin. Diese muss nämlich bei den jüngeren Werbern feststellen, dass der jugendliche Tanzschritt vielleicht doch ein wenig zu schnell für sie ist: si stôzet sich, daz ez mir an mîn herze gât (L. 58,11; »Sie stößt sich / benimmt sich so, dass es mir herzlich leid tut«). Das Verbum stôzen kann hier einerseits das unpassende Benehmen bezeichnen, aber auch ganz konkret meinen, dass sie sich beim wilden Tanzen anstößt und verletzt. Die vierte Strophe beschreibt die abgeklärte Reaktion des Sängers auf den stürmischen Tanz der Minne: Er setzt sich derweil hin und wartet. Minne sol daz nemen für guot, underwîlent sô si ringet, daz ich sitzen gê. (L. 58,12ff.) (Frau Minne soll es mir nicht übel nehmen, dass ich mich hinsetzen gehe, während sie so tobt.)

Er kann zwar beim Tanzen nicht mithalten, doch hat dieses äußerliche, körperliche Freude-Kriterium keinerlei Aussagekraft für seinen hôhen muot (L. 58,15). Die fröhliche Hochgestimmtheit, die neben anderen Zentralwerten wie mâze und zuht eine wichtige Voraussetzung für den höfisch vorbildlichen Minnediener ist, bleibt anders als die schwindende körperliche Attraktivität auch im Alter ungebrochen erhalten: ich hân alsô hôhen muot / als einer, der vil hôhe springet (L. 58,15f.; »Ich bin ebenso gut gelaunt wie einer, der sehr hoch springt«). Das Lied endet mit einer partiellen Dienstaufsage, indem das Ich die Wochentage des Minnedienstes zwischen sich und den neuen Werbern aufteilt. Er selbst will sich nun der Minne ironischerweise nur noch außerhalb der Arbeitswoche am ruhigen Sonntag zur Verfügung stellen: si besuoche, wâ di sechse sîn, von mir hât si in der wochen ie den sibenden tac. (L. 58,19f.) (Sie soll zusehen, wo die sechs Tage der Woche bleiben, von mir bekommt sie in der Woche jeweils den siebten Tag.)

Bedenkt man, wie sehr die alte Frau Minne im Tanz mit den jungen Männern außer Atem gekommen ist, ist das ein Arrangement, das sie schwerlich durchhalten kann – das Ich kennt ihre altersbedingte Schwäche ganz genau, und nur aus dieser Sicherheit heraus kann es einen solchen Rückzug aus dem Minnedienst formulieren. Walther nimmt in Lied L. 57,23 den Topos der tanzlustigen Alten produktiv auf, wendet ihn mit dem Stilmittel der Personifikation auf das Phänomen der Minne an und kann so die Minne im Wandel der Zeiten als menschlichen Alterungsprozess imaginieren. Er kann Ver-

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änderungen im Minnesang ganz einfach als Handlungssequenz in der Zeit beschreiben und auf diese Weise der Narration öffnen. Die nicht mehr ganz junge Minne muss sich zwischen zwei Anwärtern entscheiden: Das singende Ich vertritt hier eine bereits eingeführte und länger bestehende Art des Minnesangs, die nun von einem neuen, jüngeren und wesentlich dynamischeren Sang verdrängt wird. Während der alte Sänger die Minne als bescheiden wîp (L. 58,10) behandelt, das über Verstand (mhd. witze, L. 58,6) verfügt, und sich um einen ethisch fundierten, angemessenen Umgang miteinander bemüht, wirbelt der neue Sang mit der alten Minne herum, als ob sie ein junges Mädchen sei. Die Minne fügt sich zwar der neuen Mode, fühlt sich geschmeichelt und versucht ihr Alter so gut wie möglich zu vertuschen, doch scheint der Vertreter des alten Sangs in dem sicheren Wissen zu leben, dass sie diese schnelle Gangart nicht lange durchhält und demnächst reumütig zum bewährten Sang zurückkehren wird. Für das dem Sang zugrunde liegende Minnekonzept heißt das: Minne geht eben doch nicht in einem ausschließlich vital-erotischen Bedeutungsfeld auf, sondern braucht mit Urteilskraft und Erfahrung auch Qualitäten, die topisch dem Alter zugesprochen werden. Welche Minnesangformen Walther hier im Blick hat, ob er sich polemisch von den Tanzliedern Neidharts absetzen will, wie die Forschung vermutet hat,36 ist für die Thematik der poetologischen Produktivität von Alterstopoi nebensächlich. Festzuhalten bleibt: Der Topos von der tanzlustigen Alten, die sich quer zur Vorstellung eines altersangemessenen Verhaltens mit jungen Männern einlässt, wird hier zum Vehikel für eine Diskussion über das richtige Singen und hilft, abstrakte poetologische Überlegungen in eine anschauliche und stellenweise szenisch ausgeführte Handlungssequenz zu übersetzen.37

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Vgl. z.B. Hennig Brinkmann, »Studien zu Walther von der Vogelweide«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 63 (1939), S. 346–398, hier S. 368, ähnlich Edmund Wießner, »Berührungen zwischen Walthers und Neidharts Liedern«, in: Siegfried Beyschlag (Hrsg.), Walther von der Vogelweide, Darmstadt 1971 (WdF 112), S. 330–362, hier S. 345f. Der Gedanke ist nahe liegend, zumal Walthers Minnepersonifikation eine Nähe zur tanzlustigen Alten in Neidharts Sommerliedern aufweist und Neidhart in Winterlied 30, Str. 4, parodistisch auf Walthers Lied L. 57,23 zu antworten scheint. Auch Cormeau, »Minne und Alter«, deutet S. 159 einen direkten Bezug Walthers auf Neidharts Sang an und betont die Parallelen zwischen Walthers Gestaltung der Frau Minne und der tanzwütigen Alten in Neidharts Sommerliedern. Dass die Lebensalter im Minnelied genutzt werden, um über die richtige Art des Singens zu reflektieren, findet sich auch in Lied 7 des Tugendhaften Schreibers, vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts [KLD], hrsg. von Carl von Kraus, Bd. 1: Text, Tübingen 1952, Nr. 53,7 (S. 411): Während sich die jungen Minnesänger entsprechend der aktuellen Mode auf den klagenden Sang konzentrieren, sind Freudenlieder für die Dame nur noch bei den alten Sängern zu finden. Es kommt zu einer

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4. Die tanzwütige Alte als Laune des Natureingangs (Neidhart) Der dritte Beispielautor, Neidhart, der um 1220-1250 dichtet und im Umkreis von Herzog Friedrich dem Streitbaren am babenbergischen Hof zu finden ist, kreiert mit Sommer- und Winterliedern zwei sehr eigenwillige Liedtypen, die zentral über ihre Natureingänge in den Anfangsstrophen definiert sind.38 Neidharts Lieder zeichnen sich durch ein hohes narratives Potential aus, Personen und Situationen werden über eine Öffnung ins bäuerliche Milieu konkretisiert und in eine Art episches Kontinuum eingeordnet. So entsteht der Eindruck, die Lieder würden jeweils einen Ausschnitt aus einem kontinuierlich im Hintergrund ablaufenden Geschehen liefern, auch wenn sich die einzelnen Facetten nicht zu einer geschlossenen Geschichte zusammenfügen.39 Vor allem in seinen Sommerliedern, die häufig einen Dialog zweier Frauen – seien es Mutter und Tochter oder zwei Freundinnen – wiedergeben, zeichnet Neidhart Frauenfiguren mit einem ausgeprägten erotischen Begehren, das sie sinnigerweise auf den Ritter Nîthart richten, offen artikulieren und im ländlichen Tanzgeschehen ausleben.40

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Umkehrung der konventionellen Verteilung der Freude zwischen Alter und Jugend, so dass es in der letzten Strophe in pointierter Zuspitzung heißt: bî den alten mac man jungen, / bî den jungen wirt man alt, / wan ir sorge ist manicvalt (»Bei den Alten kann man sich verjüngen / jünger werden, bei den Jungen wird man alt, denn sie haben viele Sorgen«). Zu Neidhart vgl. den grundlegenden Beitrag von Kurt Ruh, »Neidharts Lieder. Eine Beschreibung des Typus«, in: Horst Bunner (Hrsg.), Neidhart, Darmstadt 1986 (Wege der Forschung 556), S. 251–273, sowie den Sammelband von Helmut Birkhan (Hrsg.), Neidhart von Reuental. Aspekte einer Neubewertung, Wien 1983 (Philologica Germanica 5). Ein detaillierter Forschungsüberblick zur Gruppe der Sommerlieder findet sich bei Jessica Warning, Neidharts Sommerlieder. Überlieferungsvarianz und Autoridentität, Tübingen 2007 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 132), S. 2ff. Wie erfolgreich Neidharts Lieder waren, kann man wohl am besten daran erkennen, dass es eine ganze Reihe von Nachdichtern gab, die ihre Lieder im Neidhart-Stil verfassten und die Neidhart-Philologie lange Zeit mit der Diskussion um eine Echtheit der Lieder beschäftigt haben. Zum Verfahren der Konkretisierung bei Neidhart vgl. Hildegard Janssen, Das sogenannte »Genre objectif«. Zum Problem mittelalterlicher literarischer Gattungen dargestellt an den Sommerliedern Neidharts, Göppingen 1980 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 281), vor allem S. 69ff., sowie Jan-Dirk Müller, »Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang«, in: Michael Schilling / Peter Strohschneider (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 43–76, der die Narrativität in Neidharts Liedern als ein Mittel versteht, um die Fiktionalisierung der Vortragssituation zu bewirken (S. 66). Zum Liedtypus des Dialogs innerhalb der Sommerlieder vgl. Günther Schweikle, Neidhart, Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler), S. 72ff.

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Das beobachtende Ich suggeriert in den Dialogliedern, die Frauen beim intimen Gespräch zu belauschen, doch was als Einblick in die wahre Natur der Frau präsentiert wird, ist freilich stets der männliche Blick des Sängers und Autors.41 Die Lieder präsentieren ein Geschlechterverhältnis, das mit der ethischen Fundierung des höfischen Minnedienstes bricht und offen ein naturhaftes, mitunter anarchisches Liebesbegehren beider Geschlechter zeigt.42 An die Stelle der Abweisung durch die hohe Dame ist eine Bejahung der Werbung getreten, d.h., Mann und Frau sind nicht mehr antagonistisch angeordnet, sondern verfolgen beide gleichermaßen das Ziel der Liebeszusammenkunft. Das Konfliktpotential der Lieder liegt nun auf einer anderen Ebene, etwa in der strengen Aufsicht der Mutter über die Tochter. Mit dieser Figurengestaltung und dem Ausgriff auf einen dörflichen Darstellungsraum erweitert Neidhart das Repertoire des Minnesangs beträchtlich, indem er sich Anregungen beim klassischen Sang holt und zentrale Elemente variiert. Dennoch wäre es verfehlt, Neidharts Lyrik rein negativ als ein Gegenmodell zum hochhöfischen Minnesang zu verstehen. Die Sommerlieder beginnen stets mit einer topischen Beschreibung frühlingshafter oder sommerlicher Natur, wie man sie etwa in Sommerlied 17 findet.43 Die Natur gibt den Rahmen für eine heitere Minne- und Tanzhandlung vor: Ein singendes Ich schaut auf die im Mai neuen grünen Blätter des Waldes, in der zweiten Strophe ist von lieblichem Vogelgesang die Rede, die Strophen 3 und 4 beschreiben den erfolgreichen Kampf des Sommers gegen den Winter. Blumen blühen und sind vom Rauhreif befreit, Vögel ziehen in lebhaftem Flug und mit tönendem Gesang durch die Landschaft – die Reihe der Naturphäno-

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Zur Frauenrolle bei Neidhart vgl. Ingrid Bennewitz, »›Wie ihre Mütter‹? Zur männlichen Inszenierung des weiblichen Streitgesprächs in Neidharts Sommerliedern«, in: Angela Bader (Hrsg.), Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), S. 178–193, sowie Edith Wenzel, »Hêre vrouwe und übelez wîp: Zur Konstruktion von Frauenbildern im Minnesang«, in: Ingrid Bennewitz / Helmut Tervooren (Hrsg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), S. 264–283, vor allem S. 280. Wie sich Neidhart gegenüber der Tradition des hochhöfischen Sangs positioniert, analysiert Jan-Dirk Müller, »Strukturen gegenhöfischer Welt: Höfisches und nichthöfisches Sprechen bei Neidhart«, in: J.-D. M., Minnesang und Literaturtheorie, hrsg. von Ute von Bloh / Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 39–79. Vgl. Die Lieder Neidharts (wie Anm. 25). Zur literarischen Funktion des Jahreszeiteneingangs vgl. Ludger Lieb, »Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang«, in: Beate Kellner / Ludger Lieb / Peter Strohschneider (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt, Berlin u.a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 183–206.

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mene ist topisch und ließe sich beliebig ergänzen. Neben dieser Naturschilderung wird bereits ab der ersten Strophe beschrieben, welche Wirkung die Veränderungen in der Natur auf den Menschen haben: In der ersten Strophe findet sich der fröhliche Reigen der Mädchen, in der zweiten Strophe sieht man sie beim abendlichen Ballspiel. Danach werden die Mädchen aufgefordert, das Frühjahr mit entsprechend prächtiger Kleidung zu begrüßen, und die vierte Strophe gilt in rahmender Wiederholung der Szenerie vom Anfang erneut dem Tanz. Das Frühjahr übt auf den Menschen eine Freude-Wirkung aus, die der ausführliche Natureingang in varianten Perspektiven zeigt: Ebenso wie die Natur wieder aufblüht, scheinen auch die Menschen nach den Nöten des Winters zu neuem Leben und ausgelassenem Vergnügen zu erwachen, naturhaftes und menschliches Geschehen sind in harmonischer Fügung aufeinander abgestimmt.44 Die Gestaltung des Natureingangs ist dabei keineswegs als lebensweltliche Anbindung in dem Sinne zu verstehen, dass das Lied vielleicht zu einem realen Tanzgeschehen in sommerlichem Ambiente auffordert. Es handelt sich vielmehr um ein Kunstprinzip, das mehr über Neidharts Minnekonzept aussagt als über den realen Jahreszeitenwechsel.45 Der Natureingang verweist auf eine Naturwüchsigkeit der Minne, die im Gegensatz zur klassisch höfischen Dienstminne steht. Diese sieht mit einer idealen Dame als Inbegriff höfischer Tugenden die ethische Vervollkommnung eines dienenden Ritters vor und ist eher ein Konstrukt höfischer Werte als ein natürliches Liebesverlangen der Geschlechter. In Neidharts Sommerliedern hingegen scheint sich das Minnegeschehen in Einklang mit der Natur zu entwickeln, er vertritt – zumindest vordergründig – ein naturalistisches Minnekonzept frei von höfischer Künstlichkeit, setzt der ethischen Rationalität eine unmittelbare natürliche Triebhaftigkeit entgegen.46

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Dieses harmonische Verhältnis von Liebenden und Natur ist keineswegs ein selbstverständliches Kriterium des Minnesangs, sondern es findet sich bei anderen Autoren häufig die Gedankenfigur, dass der unglücklich Liebende zwar das Aufblühen der Natur im Frühling und die Freude der anderen Leute beobachtet, selbst aber aufgrund des erfolglosen Minnedienstes davon ausgeschlossen bleibt. Mit Bezug auf das zunehmende Alter findet sich dies in Reinmars Lied XXXV Ich hân hundert tûsent herze erlôst in der zweiten Strophe: da entroestent bluomen unde gras; / Dâ sint als jaemerlîchiu jâr, / daz ich mich under den ougen rampf / und sprach: »nu gênt ûz, grâwe hâr.« (MF 185,1ff.; »Da trösten weder Blumen noch Gras; da sind viele kummervolle Jahre, in denen ich mich unter den Augen rupfte und sprach: ›Nun geht aus, graue Haare.‹«). Zum Natureingang vgl. Anm. 43. Jan-Dirk Müller bezeichnet Neidharts Verfahren, den gekünstelten Minnedienst durch anarchische Strukturen zu verdrängen, als Regression, die aber als Verhalten der unteren sozialen Schichten gekennzeichnet wird und keine Verbindlichkeit für die höfische Gesellschaft erhebt, vgl. J.-D. M., »Männliche Stimme – weibliche Stimme in

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In der Grundform des Mutter-Tochter-Gesprächs47 zeigt der neidhartsche Sommerliedtypus eine Auseinandersetzung zwischen der liebeslustigen Tochter, die zum Tanz mit dem Ritter Neidhart will, und ihrer strengen Mutter, die sie durch Verbote und manchmal auch Handgreiflichkeiten an diesem Vorhaben hindern will. Das natürliche Liebesbegehren der Tochter tritt in Konflikt zur mahnenden Position der Mutter, die in diesem Konflikt zumindest partiell die gesellschaftliche Moral vertritt und mit dem – oftmals ironisch gebrochenen – Anspruch einer normgebenden Ordnungsinstanz auftritt. Sie warnt vor der Untreue des ritterlichen Werbers, vor einer ungewollten Schwangerschaft, vor gesellschaftlichem Ansehensverlust usw., macht durch ihr striktes Verbot das erotische Tanzgeschehen für die Tochter aber nur umso attraktiver. Die Tochter lässt sich meist nicht auf die Lehren der Mutter ein, sondern setzt sich – wenn nötig auch mit Gewalt – durch und kann sämtliche Druckmittel wie etwa die Weigerung der Mutter, die Festtagskleidung herauszugeben, geschickt umgehen. Oft demonstriert ein narrativer Nachspann augenfällig, dass sich der natürliche Minnetrieb gegen alle künstlichen Schranken durchsetzt und dass der ausgelassene Tanz der Tochter wohl ebenso ein Naturgesetz ist wie das Aufblühen der Blumen im Mai. Dabei nimmt Neidhart diese neue Konzeption aber nicht als gegeben, sondern prüft in seinen Liedern zugleich, ob sie tatsächlich trägt. Eine Möglichkeit der erprobenden Durchführung ergibt sich nun daraus, dass er die Topik des Natureingangs weiterdenkt und mit der der liebeslustigen Alten konfrontiert. Einerseits steht in der gängigen Lebensaltertopik der Frühling für die Jugend und der Herbst bzw. Winter für das Alter, andererseits bringt der Frühling im Jahresverlauf

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Neidharts Sommerliedern«, in: J.-D. M., Minnesang und Literaturtheorie, hrsg. von Ute von Bloh / Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 233–244, hier S. 235f. Zum Mutter-Tochter-Gespräch bei Neidhart vgl. Janssen, genre objectif, vor allem S. 78ff., Lydia Miklautsch, »Mutter-Tochter-Gespräche. Konstituierung von Rollen in Gottfrieds Tristan und Veldekes Eneide und deren Verweigerung bei Neidhart«, in: Helmut Brall / Barbara Haupt / Urban Küsters (Hrsg.), Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 89–107, sowie Victor Millet, »Der Mutter-Tochter-Dialog und der Erzähler in Neidharts Sommerliedern«, in: Thomas Cramer / John Greenfield / Ingrid Kasten / Erwin Koller (Hrsg.), Frauenlieder. Cantigas de amigo, Stuttgart 2000, S. 123–132. Eine treffende Definition des Mutter-Tochter-Gesprächs bietet Schweikle, Neidhart, S. 74: »Grundkonstellation ist eine Auseinandersetzung zwischen einer tanz- und liebeslustigen Tochter und ihrer Mutter zur Zeit des nahenden Sommers und der beginnenden Tanzsaison mit ihren erotischen Gefährdungen. Die Absicht der Tochter, daran teilzunehmen, sucht die Mutter, in gewissem Sinne eine Personalisierung des huote-Motivs im früheren Minnesang, durch Verbote, Bitten [...] und Warnungen zu verhindern oder vorhersehbaren üblen Folgen durch Ratschläge vorzubeugen«.

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eine belebende Wirkung mit sich, die sich auch und sogar besonders auf die alte Frau auswirkt. Was passiert also, wenn nicht die Tochter im Frühling von Liebeslust erfasst wird, sondern ihre Mutter? Wenn die belebende Kraft der Natur nicht nur auf die Jugend wirkt, sondern alle Menschen gleichermaßen erfasst? Sommerlied 17 deutet die umfassende verjüngende Kraft des Sommers noch ganz allgemein und unverbindlich an, wenn es heißt: die alten / die suln sîn deste kinder (SL 17, Str. 3,9f.; »Die Alten sollen umso jünger sein«). Aber wie sieht es aus, wenn die Alten sich tatsächlich verjüngen und im Sommerreigen mittanzen wollen? Neidhart hat das Mutter-Tochter-Gespräch in einigen Liedern parodistisch umgekehrt und eine liebeslustige Mutter mit einer mahnenden, Einhalt gebietenden Tochter konfrontiert.48 Eine genaue Umkehrung ist dies freilich nicht, denn das Mädchen bietet andere Argumente auf, um die Mutter von ihrem Vorhaben abzuhalten, und kann sich damit häufiger durchsetzen als die Mutter im Ausgangsmodell. Hauptargument ist nun die Unangemessenheit des Verhaltens in Bezug auf das Lebensalter, was implizit nicht nur für die tanzwütige Mutter, sondern auch für die altklug mahnende Tochter gilt, d.h., der natürliche Ordo wird von beiden Parteien verkehrt. Die tanzende Alte eröffnet, falls sie ihr Ziel erreicht, im Lied eine Ebene grotesker Komik, die meist über eine expressive Körperlichkeit realisiert ist: Ein altiu diu begunde springen hôhe alsam ein kitze enbor: si wolde bluomen bringen. »tohter, reich mir mîn gewant: ich muoz an eines knappen hant, der ist von Riuwental genant. traranuretun traranuriruntundeie.« (SL 1, Str. 1,1ff.) (Eine Alte sprang tanzend hoch wie ein Kitz empor: Sie wollte Blumen holen. »Tochter, reich mir mein Kleid: Ich muss an die Hand eines Knappen, den nennen sie den Reutentaler. Traranuretun traranuriruntundeie.«)

Gerade bei der alten Frau bekommt der mit dem Frühjahr erwachte Lebenstrieb etwas sehr Dringliches und demonstriert die kosmische Macht des Jahreszeitenverlaufs, dem man sich nicht entziehen kann. Genauso wie der Frühling naturhaft stattfindet und sich nicht aufhalten lässt, nimmt auch die im Natureingang mit dem Frühling ver-

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Die liebeslustige Alte thematisieren die Sommerlieder 1, 3, 9 und 17. Zwei weitere Lieder, die nicht in die ATB-Edition aufgenommen worden sind, finden sich in der Ausgabe Die Lieder Neidharts. Der Textbestand der Pergament-Handschriften und die Melodien. Text und Übertragung, hrsg. von Siegfried Beyschlag, Darmstadt 1975, Nr. 71 (C 232– 236 u. c 52,1–5) und Nr. 72 (B78–82 u. c 51,1–5). Zum Status dieser Strophen in Neidharts Oeuvre vgl. Warning, Neidharts Sommerlieder, S. 106f. und 127f.

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knüpfte Liebe als naturhafter Trieb die alte Frau in ihren Bann. Der Frühling bewirkt, dass die alte Frau, obwohl sie in ihrem Lebensverlauf bereits – metaphorisch gesprochen – die Phase des Winters erreicht hat, wieder in die Jugendzeit des Frühlings versetzt wird. Die Zeit im persönlichen Lebensverlauf wird durch die kosmologische Zeitordnung des Jahresverlaufs überlagert und zumindest für einen Moment außer Kraft gesetzt. So erwacht in Sommerlied 3 eine Alte, die den ganzen Winter über mit dem Tod gerungen hat, mit dem Anbruch des Frühjahrs wieder zu neuem Leben, und zwar mit einem so akuten animalischen Liebes- und Lebenstrieb, dass sie sich rücksichtslos gegen die Jungen durchsetzt: Ein altiu mit dem tôde vaht beide tac und ouch die naht. diu spranc sider als ein wider und stiez die jungen alle nider. (SL 3, Str. 1,1ff.) (Eine Alte kämpfte Tag und Nacht mit dem Tod. Die sprang seitdem wie ein Schafbock und stieß die Jungen allesamt um.)

Sommerlied 17 bietet eine Variante, die zwischen den beiden Grundformen der tanzlustigen Tochter und der geilen Alten steht: Hier tarnt die Mutter ihre Liebesgier mit dem Vorwand, dass sie als Aufsichtsperson mit ihrer Tochter zum Tanz gehen will, und täuscht die altersangemessene Rolle vor, dass sie für die Einhaltung von mâze und zuht Sorge tragen will. Das übliche antagonistische Gesprächsmuster bleibt aus, vielmehr beantwortet die Mutter den Tanzwunsch der Tochter entsprechend positiv: »Dâ wil ich dîn hüeten«, sprach des kindes eide. »nu gê wir mit ein ander zuo der linden beide! [...]« (SL 17, Str. 5,1f.) (»Dort werde ich auf dich aufpassen«, sagte die Mutter des Mädchens. »Nun gehen wir beide miteinander zur Linde! [...]«)

Die Mutter stützt ihr Vorhaben, indem sie das Argument eines altersunangemessenen Verhaltens abwehrt, damit aber zugleich zugibt, dass sie wohl doch nicht nur in der Rolle der Aufseherin agieren will: ich bin mîner jâre gar ein kint, wan daz mînem hâre die locke sint grîse. (Lied 17, Str. 5,3ff.) (Ich bin an Jahren ganz jung, nur dass in meinem Haar die Locken grau sind.)

Was in den Strophen des Natureingangs mit der Aussage die alten die suln sîn deste kinder (SL 17, Str. 3,9f.) allgemein angekündigt war, wird nun konkret in der gefühlten Vitalität der Mutter ausgeführt. Der

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natürliche Alterungsprozess wird durch die aktuelle, ebenfalls natürliche Frühlingswirkung durchkreuzt.49 Die äußerlich sichtbaren grauen Haare treten in einen Gegensatz zur innerlich empfundenen eigenen Jugendlichkeit, der Schleier wird zum schnell gefundenen Requisit, mit dem sich die äußeren Anzeichen des realen Alters geschickt verbergen lassen. Doch die gewiefte Mutter hat nicht mit dem Widerspruch der Tochter gerechnet, die ihre zu neuem Liebeseifer erwachte Mutter plötzlich als Konkurrentin sieht und vom Tanzgeschehen zurückhalten will. Zu diesem Zweck formuliert sie altersbezogene Verhaltensnormen, die ihre Autorität aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Zustimmung beziehen: Muoter, die rîsen die hân ich vor iu behalten; diu zimet einer jungen baz dan einer alten ze tragen umb ir houbet an der schar. (SL 17, Str. 6,1ff.) (Mutter, den Schleier habe ich vor Euch verwahrt; es schickt sich besser für eine Junge als für eine Alte, ihn in der Tanzschar auf dem Kopf zu tragen.)

Es folgt der Appell an die Vernunft (wer hât iuch beroubet / der sinne gar?, SL 17, Str. 6,5f.; »Wer hat Euch den Verstand so völlig geraubt?«) und die autoritäre Nötigung zur Inaktivität: slâfet! (SL 17, Str. 6,7; »Schlaft!«). Am Ende setzt sich nicht die Lust der Mutter durch, sondern die der Tochter, wie der Bericht vom Tanz in der letzten Strophe zeigt: si bôt im bî dem tanze ein krenzel: sô mir got, deist unlougen. (SL 17, Str. 7,8ff.) (Sie [sc. die Tochter – S.L.] bot ihm beim Tanz ein Kränzchen an: Bei Gott, das ist ungelogen.)

Das Beispiel illustriert, dass die Natur allein als Begründungsfeld und Ordnung der Minne nicht taugt, weil die belebende Frühlingswirkung Mutter und Tochter gleichermaßen erfasst und den – ebenfalls natürlichen – Generationsunterschied nivelliert. Erst das zügelnde Argument der Schicklichkeit, die sich aus gesellschaftlich akzeptierten Sollenswerten formiert und hier gerade kein natürliches, sondern ein kulturell geformtes Phänomen ist, gebietet der wilden Mutter Einhalt. Die Naturbindung der Minne, wie sie die Sommerlieder proklamieren, ist nur mit einer Art Sondermoral für die Jugend möglich, die zwar den jungen Leuten das ungebundene Ausleben erotischer Freuden erlaubt, es aber nicht als Norm für alle akzeptiert. Mit der liebeslustigen Alten wird ein

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Zur Kombination der beiden topischen Felder des zirkulären Jahreszeitenwechsels und der linearen Lebenslinie vgl. den Beitrag von Thorsten Fitzon in diesem Band.

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gesellschaftliches Konfliktpotential in den Minnesang eingebracht, weil sie einen Raum im Liebesdiskurs einfordert, der als normfreier Ausnahmeraum lediglich für die Jungen reserviert ist. Hier wird nicht gesagt, dass die Minne im Alter unnatürlich ist, sondern dass sie sich nicht schickt, dass sie nicht in einen regulierten gesellschaftlichen Generationenverband integrierbar ist. Was man den Jungen mit Nachsicht durchgehen lässt, wird bei den Alten, die ebenfalls ein jugendliches Handlungsmuster für sich in Anspruch nehmen, mit umso schärferer Kritik geahndet. Das minnesängerische Konzept einer Rückbindung der Minne an das natürliche Begehren wird in Neidharts Lied nicht abstrakt diskursiviert, sondern in der konkreten Streitsituation zwischen Mutter und Tochter narrativ entfaltet und über den Topos der liebeslustigen Alten an seine Grenzen geführt. Zugleich leitet die kleine erzählte Szene über das Moment der Komik in einen gefahrloseren und unverbindlicheren Bereich als den der normativen Minnediskussion über, geben die übermütigen Sprünge der tanzenden Alten der Positionsbestimmung der Minne zwischen naturhaftem Trieb und ethischem Reglement eine unterhaltsame Note. Auch in Neidharts Sommerlied 9 wird die Minnewirkung auf die alte Frau problematisiert. Neidhart spielt hier raffiniert mit der Erwartungshaltung des Rezipienten, indem er Konventionen der Sprecherzuordnung verschiebt. Das Lied beginnt zunächst mit einem traditionell anmutenden Natureingang: Die erste Strophe beschreibt die heilende Wirkung des Sommers nach den Winterzwängen, in der zweiten Strophe geht es um die erfolgreiche Verdrängung des kummervollen Winters durch den Sommer, was einen Aufruf zur Freude motiviert, der explizit an die Jugend gerichtet ist: jungen, sult iuch aber zen vröuden strîchen! (SL 9, Str. 2,6; »Ihr Jungen sollt euch erneut zur Freude schmücken!«). Ab der dritten Strophe erscheint der Wald im Bild des Krämerladens, der im Mai seine Waren ausbreitet und allerlei freudespendende Dinge im Angebot hat: Walt hât sîne krâme gein dem meien ûf geslagen. ich hœre sagen, vröide bernder sâme der sî dâ veile nû mit voller âme (Lied 9, Str. 3,1ff.) (Der Wald hat seine Waren um die Maizeit ausgebreitet. Ich habe gehört, dass dort freudebringender Samen in vollem Maß zu kaufen sei).

Die Natur bietet den Samen feil, aus dem sich für den Menschen eine Pflanze der Freude entwickelt, sobald er diese Waren einkauft. Die

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vierte Strophe schließlich präzisiert den Blick auf das Warenangebot und nennt den Vogelgesang, der sämtliche Wunden heilt. Und dann folgt am Ende des ausführlichen Natureingangs eine irritierende Sprecherangabe: also sprach ein altiu in ir geile (Lied 9, Str. 4,6; »So sprach eine Alte in ihrem Übermut«). Hier spricht nicht wie üblich das lyrische Ich, sondern eine liebeslustige Alte. Ganz unfreiwillig und ohne es zu wissen, hat der Rezipient ihre Perspektive auf die aufblühende Natur nachvollzogen und für sich akzeptiert. Dass es um die Akzeptanz der Editoren für diese Perspektive anders bestellt ist, ergibt sich aus der Interpunktion, die der Edition beigegeben ist. Mit Anführungszeichen wird die Frauenrede markiert und vom Sprechen des Sänger-Ichs abgesetzt. Moriz Haupt und Edmund Wießner haben sich in der zitierten Edition dafür entschieden, dass die Rede der Alten mit der dritten Strophe beginnt, es gibt auch Vorschläge, sie erst ab Strophe 4 sprechen zu lassen und ihre Redepartie so möglichst kurz zu halten.50 Selbstverständlich ist eine solche Festlegung freilich nicht, denn die Sprecherzuweisung ist von Neidhart bewusst uneindeutig gestaltet und gehört zum raffinierten Spiel mit der unerwarteten Perspektive.51 Ab der fünften Strophe werden die Minneleiden der Alten nicht wie üblich im wilden Tanz ausagiert und der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern im Gespräch diskursiviert. Durch die Nachfrage einer jungen Frau, die sich wundert, dass man im Alter von der Minne getroffen werden kann, wird der Zustand der Alten in einer kleinen

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Vgl. z.B. Neidhart von Reuenthal, hrsg. von Moriz Haupt, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1858, Stuttgart 1986 (Neidharts Lieder 1), S. 9,13ff., wo die Rede der Alten auf die drei Verse Str. 4,3–5 reduziert ist. Ebenso in der Salzburger Neidhart-Edition: Neidhart-Lieder. Text und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hrsg. von Ulrich Müller / Ingrid Bennewitz / Franz Viktor Spechtler, Bd. 1: Neidhart-Lieder der PergamentHandschriften mit ihrer Parallelüberlieferung, Berlin / New York 2007 (Salzburger Neidhart-Edition 1), S. 89ff. Man mag einwenden, dass der mittelalterliche Sänger in der Aufführungssituation durch stimmliche Modulation sicher markiert habe, dass die Strophen von einer Frau gesungen werden, doch einen sicheren Beleg gibt es für diese Vermutung nicht, zumal die explizite Sprecherangabe in Strophe 4 (alsô sprach ein altiu in ir geile) als schriftsprachliches Element das Rollenspiel durchkreuzen würde. Zur Aufführungssituation in der Gattung Minnesang vgl. den grundlegenden Beitrag von Hugo Kuhn, »Minnesang als Aufführungsform«, in: H. K., Text und Theorie, Stuttgart 1969 (Kleine Schriften 2), S. 182–190, sowie die Reaktion von Peter Strohschneider, »Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung«, in: Johannes Janota (Hrsg.), Vorträge des Augsburger Germanistentags, Bd. 3, Tübingen 1993, S. 56–71. Vgl. auch Gerhard Hahn, »dâ keiser spil. Zur Aufführung höfischer Literatur am Beispiel des Minnesangs«, in: Gerhard Hahn / Hedda Ragotzky (Hrsg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, Stuttgart 1992, S. 86–107, sowie Müller, »Männliche Stimme«, S. 240f.

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Gesprächsszene dem Verstehen zugänglich gemacht. So erklärt sie etwa die Kraft der Minne als schmerzhafte Schicksalswirkung: Sî hât mit ir strâle mich verwundet in den tôt; wan seneder nôt lîde ich mange quâle. si ist von rôtem golde, niht von stâle. an mîn herze schôz si zeinem mâle. (Lied 9, Str. 6,1ff.) (Sie hat mich mit ihrem Pfeil tödlich verwundet, denn ich leide unzählige Qualen sehnsuchtsvoller Not. Sie ist aus rotem Gold, nicht aus Stahl. Sie schoss mir so mit einem Mal in mein Herz.)

Die Alte selbst trifft keine Schuld, der Pfeil der Minne hat sie ganz unerwartet und ohne ihr Zutun getroffen. Die Wirkungen der Minne, die sie in der siebten Strophe als unverschuldetes Schicksal beschreibt, dem der Mensch machtlos gegenübersteht, sind dann bewusst altersunspezifisch gehalten und können ebenso für den jungen Minneleidenden gelten: unsenftic lôz kan diu Minne machen: si twinget, daz man swindet under lachen, selten slâfen, dick in trûren wachen. (Lied 9, Str. 7,3ff.) (Ein unbequemes Los kann die Minne bereiten: Sie zwingt so, dass man unter Lächeln schwächer wird, dass man selten schläft, oft in Kummer wach liegt.)

Der Topos der liebeslustigen Alten wird hier zur willkommenen Gelegenheit, das Wirken der Minne zu hinterfragen, und leitet von der konträr zum Alter stehenden Besonderheit schnell zu einer allgemeingültigen Minnediskussion über. Minne ist nicht der Verfügung des menschlichen Willens unterworfen, sondern regiert als pfeilschießende Schicksalsinstanz und scheint in Demonstration ihrer Machtfülle ihr unsenftic lôz (SL 9, Str. 7,3) ganz willkürlich zu verteilen. Dabei fällt die Darstellung der liebeslustigen Alten im Gespräch mit der verwunderten jungen Frau wesentlich versöhnlicher aus als sonst – vielleicht auch deshalb, weil die Alte hier nicht zusammen mit den jungen Mädchen nach dem Ritter Neidhart giert, sondern angemessenere Handlungsmöglichkeiten sucht, wie sie mit ihrem Zustand umgehen kann. Ihr Minneschmerz zielt nicht mehr primär auf eine konkrete Erfüllung, vielmehr gibt sie sich mit bescheideneren Freuden zufrieden und versucht ihr Minneleiden mit dem lieblichen Vogelgesang zu mildern. In Sommerlied 9 hält Neidhart die natürliche Minne, die jeden Menschen unabhängig vom Alter treffen kann, als Konzept aufrecht und sichert zugleich über den Faktor der Selbstdisziplinierung der Alten die Einhaltung eines gewissen Ordo zwischen Jung und Alt. Und

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so sieht die junge Frau in der alten auch keine Konkurrenz, sondern bringt angesichts der beschriebenen Minnequalen Mitleid und Verständnis für sie auf: Wol verstuont diu junge, daz der alten ir gedanc nâch vröuden ranc – (SL 9, Str. 8,1ff.) (Die Junge verstand sehr wohl, dass die Alte in ihrem Gemüt zur Liebesfreude hindrängte – )

Schließlich kann sich am Ende des Liedes sogar das lyrische Ich, das unter seinem erfolglosen Minnedienst leidet, über die mittelhochdeutsche Vergleichspartikel als (Lied 9, Str. 8,4) in eine direkte Relation zur ebenfalls unglücklich liebenden alten Frau setzen, wenn es im Anschluss an das obige Zitat heißt: als ich gerne runge, ob mich ein sendiu sorge niht entwunge und an herzenliebe mir gelunge. (SL 9, Str. 8,4ff.) (genauso wie ich gerne hindrängen würde, wenn mich nicht eine sehnsuchtsvolle Sorge zwänge und ich Erfolg bei der Herzgeliebten hätte.)

Beide streben nach Freude, ohne sie zu erreichen. Das Sänger-Ich blickt nicht mit ironisch-distanzierter Verachtung auf die liebeskranke Alte, sondern betont die Parallelität einer unglücklichen, schicksalhaften Liebesbetroffenheit, und dann ist es vielleicht doch nicht mehr so undenkbar, dass man der Alten den gesamten Natureingang zuspricht und ihre Rede mit der ersten Strophe beginnen lässt.

5. Alterstopoi im Minnesang. Ein Vehikel poetologischer Reflexion Für sämtliche Textbeispiele gilt der zunächst erstaunliche Befund, dass sie in der Aufnahme und Variation der Alterstopoi auf die Schilderung expressiver Alterskörperlichkeit verzichten. Die Autoren ergehen sich nicht in der Beschreibung schlaffer, runzeliger Haut und körperlicher Altersgebrechen, es taucht höchstens einmal der Verweis auf das graue Haar auf, der aber in seiner metonymischen Struktur recht unkonkret bleibt.52 Vielmehr nutzen die Autoren den Topos der liebeslustigen Alten als eine Störstelle im System des konventionellen Sangs, um die in variierender Reflexion besprochene, aber letztlich statische Minne-

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Eine Ausnahme stellt Neidharts Sommerlied 3 in der Überlieferung von Handschrift c dar, wo die liebeslustige Alte 1000 Runzeln hat. Die Erwähnung der grauen Haare findet sich für die alte Frau in Neidharts SL 17, Str. 5,5ff.

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konstellation zwischen Dame, Sänger und Gesellschaft über die zeitliche Struktur des Alterns in eine bewegliche Erzählsituation aufzubrechen. In diesem erzählenden Zugriff werden dann neue Minnekonzeptionen oder Verhaltensmuster im Interaktionsfeld der Minne entworfen und erprobt. Dabei ist gerade wie bei Walther und Neidhart die natürliche Triebhaftigkeit der Minne ein Faktor, der dem Konstrukt der hohen Minne entgegengestellt wird, aber nicht abstrakt rationalisiert werden kann und deshalb über eine erzählte Szene zur Darstellung kommt. Es geht somit bei der Analyse von Alterstopoi in der Gattung Minnesang nicht um den unzweifelhaften Befund, dass die liebeslustige Alte wiederholt in den verschiedensten Liedkontexten als Motiv begegnet, sondern dass das Motiv eine rhetorische Signifikanz und Funktionalisierungsfähigkeit im Blick auf den Minnediskurs besitzt und so seine topische Qualität ausspielen kann. Der Topos der liebeslustigen Alten funktioniert zwar über eine Wiederholungsstruktur, die beim Rezipienten einen Wiedererkennungseffekt auslöst, doch nicht die Wiederholung hält den Topos am Leben und sichert seine poetische Attraktivität, sondern die Variation. Als ein im klassischen Minnesangsystem nicht vorgesehenes Bedeutungsfeld eröffnet das Alter einen Spielraum für neue Aussagen über Minne und Sang. Aus dem zunächst als selbstverständlich akzeptierten Gedanken einer Distanz zwischen hohem Alter und Minne entwickelt sich ein Diskussionspotential, an das eine produktive narrative Ausfaltung des Themas anknüpfen kann. Der kreativ-gestalterische Umgang mit dem Topos der liebestollen Alten erweist sich somit eher als ein Arbeiten an den Variablen der Gattung Minnesang als an einer Phänomenologie der Lebensalter. Das Alter interessiert hier weniger als biologisches oder soziologisches, sondern als literarisches Paradigma im Ringen um die Frage nach dem richtigen Minnesang, es wird zum Vehikel poetologischer Diskussion, die sich schnell vom konkreten Ausgangspunkt entfernt und zu grundsätzlichen Fragen der Gattung Minnesang führt.

STEFANIE KNÖLL

Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters Zur Naturalisierung der Altersdarstellungen im 16. Jahrhundert In the Middle Ages, ageing and old age were traditionally represented through the use of male figures. It was only around 1500 that images of female ageing emerged in high art. These images usually stressed the fleeting beauty of old women by depicting their naked bodies. This paper suggests reasons for the invention of such representations and traces the further development of depictions of old age – for which the naked old woman became a symbol within only a few decades. In high art, male figures consequently disappeared from images of old age, whereas, on the other hand, more and more popular depictions of female ageing emerged.

Seit einiger Zeit ist, nicht nur in Deutschland, ein interessanter Umschwung in der Wahrnehmung des Alterns zu beobachten. Während man noch bis vor einigen Jahren davon sprach, dass Frauen alt, Männer jedoch weise werden, scheinen die Zeichen des Alters nun auch beim Mann weniger positiv bewertet zu werden. Freilich wurde noch nie in Frage gestellt, dass auch Männer altern. Doch es ist frappierend, in welchem Maße die körperlichen Kennzeichen des Alters bei Frauen in den Vordergrund gerückt wurden, während das körperliche Altern des Mannes bis vor kurzem kaum thematisiert wurde. Diese Situation ist umso erstaunlicher, wenn wir uns die frühen mittelalterlichen Darstellungen der Lebensalter vor Augen führen, die durchweg Männer zeigen. Es ist daher zu fragen, wann sich die Verhandlung des menschlichen Alterns vom Mann auf die Frau und insbesondere auf den weiblichen Körper verlagert hat. Dieser Frage soll im Folgenden anhand von Lebensalterdarstellungen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert nachgegangen werden.

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1. Frühe Lebensalterdarstellungen Es ist bislang unklar, wann die frühesten figürlichen Lebensalterdarstellungen des Mittelalters entstanden sind. Man vermutet bereits karolingische Prototypen, doch datiert die früheste erhaltene figürliche Lebensalterdarstellung des Mittelalters erst von 1022–1023. Die Darstellung der sechs Lebensalter findet sich in einer Handschrift in der Klosterbibliothek in Montecassino (Abb. 1).1 Vor einem neutralen Hintergrund sind fünf Figuren in einer Reihe dargestellt, etwas vor die Reihe gerückt liegt links vorne ein Säugling. Bei den dargestellten Figuren handelt es sich ausschließlich um männliche Personen. Zeichen des Alters ist vor allem der Bart.

Abb. 1: Hrabanus Maurus, De naturis rerum, Montecassino, Ms. 132, 1022-1023. Aus: Mark Gregory D’Apuzzo, I segni del tempo. Metamorfosi della vecchiaia nell’arte dell’Occidente, Bologna 2006, S. 132.

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Klosterbibliothek Montecassino, MS 132 (Hrabanus Maurus, De naturis rerum), S. 150 (keine Folioangabe!), vgl. auch Elizabeth Sears, The ages of man: medieval interpretations of the life cycle, Princeton 1986, S. 66 und Abb. 14.

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Die Herausbildung klarer Attribute für die einzelnen Lebensabschnitte scheint sich erst etwa 200 Jahre später entwickelt zu haben. Noch zwischen 1230 und 1330 zeigt eine Gruppe von Manuskripten lediglich die Sechser-Reihe männlicher Personen ohne besondere Attribute.2 Doch eine um 1220 entstandene Bible moralisée (heute Toledo) ordnet den einzelnen Figuren bereits Attribute zu:3 Von rechts nach links sind zu erkennen: Das ballspielende Kind, der Junge mit Pfeil und Bogen und der Jüngling mit einem Falken.4 Der Mann der nächsten Lebensphase spaltet mit einer Axt Holz, während der ältere Mann daneben eine Melancholia-Pose einnimmt. Der älteste Mann wird wieder zum Kind, denn er wird von einer jungen Frau mit der Brust genährt. Bis ins 14. Jahrhundert gab es keine klar festgelegten Darstellungsformen. Die Lebensalter konnten als eine additive Zusammenstellung von Einzelbildern realisiert werden ebenso wie – ab dem 13. Jahrhundert – als kreisrunde Anordnungen, die an die Vorstellung des Rades der Fortuna erinnern,5 oder auch als Baumstrukturen.6 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstand in Ergänzung zu den bisherigen Formen die eines linearen Nebeneinanders von Figuren. Die Einteilung in zehn Lebensalter wird dabei gängig.7 Jedem Alter wurden nun zudem ein Tier und ein Begleitvers zugeordnet. Ein süddeutscher Einblattholzschnitt von 1482 zeigt in einer Reihe angeordnet zehn Figuren, die jeweils stellvertretend für eine Dekade des menschlichen Lebens stehen (Abb. 2). Wir finden auch hier die

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Beispielsweise London, British Library, MS Harley 1527 (Bible moralisée), fol. 23r, entstanden ca. 1235–1245 in Paris; Paris, Bibliothèque Nationale, MS fr. 167 (Bible moralisée), fol. 251r, entstanden Mitte des 14. Jahrhunderts. Vgl. Sears, The ages of man, S. 75 und Abb. 21–22. Toledo, Kathedrale, Bible moralisée, Band III, fol. 21r, kurz nach 1220. Vgl. Sears, The ages of man, S. 75 und Abb. 20. Zur Phase der Kindheit und deren Attributen in Lebensaltermodellen vgl. auch Thorsten Fitzon, ››Zehn Jahr ein Kind. Das Kind in Lebensaltermodellen der Frühen Neuzeit‹‹, in: Das Kind in der Renaissance. Arbeitsgespräch des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung, hrsg. von Klaus Bergdolt / Berndt Hamm / Andreas Tönnesmann. Wiesbaden 2008 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 25), S. 197–220. So beispielsweise im Psalter des Robert de Lisle (vor 1339). Zur Entwicklung der Radform aus dem Rad der Fortuna und anderen frühen Formen der Lebensalterdarstellung: Rudolf Schenda, »Die Alterstreppe – Geschichte einer Popularisierung«, in: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Ausstellungskatalog Städtisches Museum Haus Koekkoek Kleve u.a., Köln 1983 (Schriften des Rheinischen Museumsamtes 23), S. 11–24. Zu Baumstrukturen: Sears, The ages of man, S. 151–153, Abb. 93–97. Die Aufteilung in zehn Lebensalter zu je zehn Jahren findet sich in Deutschland seit dem 13. Jahrhundert in Textquellen. Bildnerische Darstellungen sind erst ab 1464 bekannt. Vgl. Schenda, »Die Alterstreppe«, S. 13–16.

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Attribute Ball beim Kind, Falke beim Jüngling und Stock beim alten Mann. Darüber hinaus ist nun die Zuordnung der Begleittiere und der Verse schon voll ausgeprägt. Jedes Alter wird mit einem Säugetier verglichen.8 So steht das Kitz, [d]az da nit hat wiz, für den Zehnjährigen und der starke, aber oft unbesonnene Stier für den 30-Jährigen.9 Der 40-Jährige wird mit dem Löwen verglichen, der nicht nur stark, sondern auch klug ist. Dem 60-Jährigen hingegen wird der Wolf zugeordnet, der als gierig und zornig gedeutet wird. Der 80-Jährige schließlich sitzt nur noch wie eine streitsüchtige Katze zu Hause und der 90Jährige wird mit einem Esel verglichen.

Abb. 2: Die zehn Lebensalter des Mannes, kolorierter Einblattholzschnitt, süddeutsch 1482. British Museum London, C. 40 1872.6.8.351. Aus: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Ausstellungskatalog Städtisches Museum Haus Koekkoek Kleve u.a., Köln 1983 (Schriften des Rheinischen Museumsamtes 23), S. 17.

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Als früheste Quelle für den Vergleich bestimmter Lebensalter des Mannes mit einem Tier gilt das Augsburger Liederbuch der Clara Hätzlerin (1471). Vgl. Hubert Wanders, »Das springende Böckchen – Zum Tierbild in den dekadischen Lebensalterdarstellungen«, in: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Ausstellungskatalog Städtisches Museum Haus Koekkoek Kleve u.a., Köln 1983 (Schriften des Rheinischen Museumsamtes 23), S. 61–71; Klaus T. Wirag, Cursus aetatis – Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Diss. München 1994, Rosenheim 1995, bes. S. 203–209. Die Deutung der Tiere ist dabei zuweilen großen Veränderungen unterworfen. Vgl. Hubert Wanders, »Das springende Böckchen«.

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Die Tierattribute deuten das Leben des Mannes auf einer gesellschaftlichen Ebene. Auf eindrückliche Weise machen sie bewusst, dass Unbesonnenheit zwar in jungen Jahren geduldet wird, der reife Mann sich jedoch durch Klugheit hervortun sollte. Im Alter wird schließlich vor allem auf den Verlust von Einfluss, gesellschaftlicher Bedeutung und Selbstbestimmung verwiesen. Die bereits erwähnten Begleitverse werden auch für die um 1540 neu entstandene Visualisierungsform, die Lebenstreppe, übernommen.10 Diese Verse lauten: 10 Jahr ein Kind 20 Jahr ein Jüngling 30 Jahr ein Mann 40 Jahre wohlgetan 50 Jahre stillestahn 60 Jahr geht’s Alter an 70 Jahr ein Greis 80 Jahr schneeweiß 90 Jahr der Kinder Spott 100 Jahre: Gnad’ dir Gott!11

Die nur auf das männliche Altern bezogenen Verse wurden bis ins 20. Jahrhundert tradiert. In dieser langen Tradition von Lebensalterdarstellungen spielen Frauen über Jahrhunderte hinweg keine Rolle. In der Kunst wird das Altern fast ausschließlich an männlichen Figuren vor Augen geführt. Eine Ausnahme waren die Fresken im Chor der Kirche der Eremitani in Padua, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Guarientos Zyklus der sieben Planeten und der sieben Lebensalter datierte aus den frühen 1360er Jahren (Abb. 3). Jedes der sieben Bildfelder zeigte die zentrale Planetengottheit flankiert von einer männlichen und einer weiblichen Figur und führte den Einfluss des Planeten auf Personen beider Geschlechter vor Augen. Gerade in der Gegenüberstellung mit den Planeten, also der Deutung des astrologischen Einflusses auf den Menschen, mag der Grund für die Einbeziehung weiblicher Figuren zu suchen sein. Denn Frauen finden sich im 14. Jahrhundert nur in diesem Zyklus in Padua sowie in verwandten Bildern in Handschriften,

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Die frühesten bekannten Lebenstreppen sind die beiden fast gleichzeitig entstandenen Blätter von Cornelis Anthonisz (Amsterdam, um 1540) und Jörg Breu dem Jüngeren (Augsburg, 1540). Zur Entstehung des Motivs: Vgl. Wirag, Cursus aetatis, S. 209–217; Peter Joerißen, »Lebenstreppe und Lebensalterspiel im 16. Jahrhundert«, in: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Ausstellungskatalog Städtisches Museum Haus Koekkoek Kleve u.a., Köln 1983 (Schriften des Rheinischen Museumsamtes 23), S. 25–38. Zitiert nach Schenda, »Die Alterstreppe«, S. 11.

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die ebenfalls die Lebensalter den Planeten zuordnen. Elizabeth Sears verweist in diesem Zusammenhang auf das ab dem frühen 14. Jahrhundert entstandene Motiv der Planetenkinder.12 Dahinter steht das Konzept, dass alle Menschen von den Planeten beeinflusst werden. Die Kinder eines bestimmten Planeten sind die, die in seinem Zeichen geboren wurden und am meisten von ihm beeinflusst sind. Folglich werden in Darstellungen dieses Motivs Männer und Frauen nebeneinander gestellt.13

Abb. 3: Guariento, Saturn und das siebte Lebensalter, Fresko im Chor der Kirche der Eremitani in Padua, 1360er Jahre. Aus: Mark Gregory D’Apuzzo, I segni del tempo. Metamorfosi della vecchiaia nell’arte dell’Occidente, Bologna 2006, S. 138.

Erst im 16. Jahrhundert sollten schließlich Bilder des weiblichen Alterns entstehen, nachdem über mehrere Jahrhunderte hinweg im Sinne des Ein-Geschlecht-Modells das männliche Altern als umfassendes Zeichen des menschlichen Alterns vor Augen geführt worden war. Obwohl diese Vorstellung im 16. Jahrhundert im medizinischen Bereich immer noch gängig war, so scheinen sich in der Kunst bereits

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Sears, The ages of man, S. 113. A. Hauber, Planetenkinderbilder und Sternbilder. Zur Geschichte des menschlichen Glaubens und Irrens. Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Straßburg 1916, S. XI–XII.

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erste Differenzierungen der Geschlechter anzukündigen.14 Dass das Auftreten weiblicher Personen in den Lebensalterdarstellungen des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang komplexer Entwicklungen zu sehen ist, werde ich im Folgenden zeigen.

2. Weibliche Lebensalterdarstellungen in der Kunst Gregor Erharts meisterhafte Kleinplastik Allegorie der Vanitas (Kunsthistorisches Museum Wien, Abb. 4) 15, die um 1500 entstand, steht am Beginn einer Reihe von Darstellungen, die das Altern des Menschen an einem weiblichen Beispiel vor Augen führen. Einer jungen Frau und einem jungen Mann ist lediglich die Figur einer alten Frau gegenübergestellt. Ein alter Mann fehlt. Erharts Skulptur unterscheidet sich von den populären Lebensalterdarstellungen der Zeit ganz wesentlich durch die Nacktheit der Figuren. Ihr Alter wird nicht durch Haltung, Gesten und Kleidung zum Ausdruck gebracht, sondern ist direkt am Körper ablesbar. Im Kontext der Altersdarstellungen ist von besonderem Interesse, dass die Darstellung des Alterns hier nicht vom Mann auf die Frau ausgeweitet, sondern regelrecht verlagert wurde. Auch Hans Baldung Grien führt in einigen seiner Gemälde den Alterungsprozess und die damit verbundenen Veränderungen des Körpers an einem weiblichen Beispiel vor Augen. Bereits 1512 entstand Die drei Lebensalter und der Tod,16 um 1540 dann das heute im Prado befindliche Die Lebensalter und der Tod und 1544 schuf er schließlich die zwei Tafeln der zehn Lebensalter der Frau (Abb. 5).17

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Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. / New York 1992. Auch S. Schade datiert den Beginn geschlechtsspezifischer Differenzierungen um 1500: »Auch wenn aus medizinischanatomischer Sicht noch das ›Ein-Geschlecht-Modell‹, in dem der weibliche Körper eine Modifikation des männlichen darstellt, vorherrscht, finden sich in den Proportionsstudien Dürers schon die ersten geschlechtsspezifischen Differenzierungen.« (Sigrid Schade, »›Himmlische und/oder Irdische Liebe‹. Allegorische Lesarten des weiblichen Aktbildes der Renaissance«, in: S. Sch. / Monika Wagner / Sigrid Weigel (Hrsg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 95–112, hier S. 109). Vgl. u.a. Heribert Meurer, »Gedanken zur Wiener Vanitasgruppe«, in: Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä. Spätgotik in Ulm, Ausstellungskatalog Ulmer Museum 2002, Stuttgart 2002, S. 162–171. Abbildung unter dem Titel Allegorie des Todes bei Christian Kiening, Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, Farbabbildung F6. Vgl. Stefanie Knöll, »Frauen, Körper, Alter. Die weiblichen Lebensalter in der Kunst des 16. Jahrhunderts«, in Andrea von Hülsen-Esch und Hiltrud WestermannAngerhausen (Hrsg.), Zum Sterben schön! Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis

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Abb. 4: Gregor Erhart, Allegorie der Vanitas, um 1500, Kunsthistorisches Museum Wien. Aus: Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä. Spätgotik in Ulm, Ausstellungskatalog Ulmer Museum 2002, Stuttgart 2002, S. 163.

_____________ heute, Ausstellungskatalog. Köln und Düsseldorf 2006, 2 Bände, Regensburg 2006, Band 1, S. 43–51; Gert von der Osten, Hans Baldung Grien: Gemälde und Dokumente, Berlin 1983, S. 237–246; Wirag, Cursus aetatis, S. 23–24.

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Abb. 5: Hans Baldung Grien, Die sieben Lebensalter des Weibes, 1544, Museum der bildenden Künste Leipzig. Aus: Pat Thane (Hrsg.), Das Alter. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2005, S. 77.

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Im Gegensatz zur Situation in den populären Darstellungen spielt die Einteilung in zehn Lebensabschnitte in der Hochkunst des 16. Jahrhunderts nur eine geringe Rolle.18 Wichtiger ist die Einteilung in drei oder vier Phasen oder die Versinnbildlichung des Alters an einer Einzelfigur. Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts war der vereinzelt dargestellte alte, nackte Frauenkörper mehrfach thematisiert worden. Zu den bedeutendsten Beispielen zählen die Garstige Alte eines anonymen oberrheinischen Meisters (um 1500)19, die Birnbaumholz-Figur der Sitzenden Alten (um 1520–25)20 sowie Daniel Mauchs Nackte Alte (um 1530/40)21. Nackte alte Männer sind in der Kunst dieser Zeit nicht anzutreffen. Hier wird also erstmals ein geschlechtsspezifisch kodiertes Körperkonzept deutlich, das das Altern nur am weiblichen Körper vor Augen führt. Der Frauenkörper scheint im frühen 16. Jahrhundert – innerhalb weniger Jahrzehnte – zum Sinnbild des Alters zu werden. Doch wie kam es dazu? Warum wird das Altern plötzlich eine Angelegenheit der Frauen und was sind die Gründe für die beobachtete Naturalisierung der Altersdarstellungen? Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, diese ›alten Frauen‹ im Kontext der etwa zeitgleich an Bedeutung gewinnenden Aktmalerei, der Ästhetisierung der Nacktheit sowie dem gerade erst entstehenden Begriff von Erotik zu verorten. Nördlich wie südlich der Alpen stand die Aktdarstellung in engem Zusammenhang mit dem Interesse an der Konstruktion von Körperproportionen und der Zentralperspektive.22 Das Streben nach Mimesis, nach getreuer Nachahmung der Natur, führte dazu, dass die gemalten Körper zunehmend lebendiger wurden und den Bildcharakter vergessen ließen.23 Während Nacktheit im Mittelalter ikonographisch motiviert war, konnte der Körper in der Renaissance zu einem eigenen bildnerischen Problem werden.

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Eine Ausnahme ist Hans Baldung Griens zweiteilige Darstellung der weiblichen Lebensalter von 1544. Dazu Knöll, »Frauen, Körper, Alter«, S. 43–51. Andrea von Hülsen-Esch / Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hrsg.), Zum Sterben schön! Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Ausstellungskatalog. Köln und Düsseldorf 2006, 2 Bände, Regensburg 2006, Band 2, Kat. Nr. 108. Norbert Jopek, German sculpture 1430–1540: a catalogue of the collection in the Victoria and Albert Museum, London 2002, Nr. 41; von Hülsen-Esch, Zum Sterben schön, Band 2, Kat. Nr. 110. von Hülsen-Esch, Zum Sterben schön, Band 2, Kat. Nr. 109. Anne-Marie Bonnet, »Akt« bei Dürer, Köln 2001 (Atlas – Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung 4), S. 29. Schade, »›Himmlische und/oder Irdische Liebe‹«, hier S. 101.

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Als die ersten monumentalen, nach genauem Naturstudium entstandenen Akte in der nordeuropäischen Tafelmalerei gelten Jan van Eycks Adam und Eva vom Genter Altar (1432). Es handelt sich hier zwar um echte Akte, also gestaltete Nacktheit, doch sind sie immer noch durch den biblischen Kontext legitimiert. Darstellungen des nackten weiblichen Körpers ohne ikonographischen Bezug sind im 15. Jahrhundert noch selten. Als Ausnahmen sind v.a. einige in Oberitalien entstandene Zeichnungen zu nennen, die ein starkes Interesse am nackten weiblichen Körper erkennen lassen, aber auch Dürers Zeichnung Nackte Frau von 1493.24 Besonders faszinierend sind zwei – leider nur schlecht dokumentierte – Gemälde Jan van Eycks. Die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen Gemälde zeigen unbekleidete Frauen in einer Badeszene.25 Der weibliche Körper wird hier nicht allegorisch gedeutet, sondern soll rein ästhetisch rezipiert werden. Die Darstellung des nackten weiblichen Körpers ohne ikonographische Legitimierung war im 15. und frühen 16. Jahrhundert nicht unproblematisch. Anne-Marie Bonnet fasst das Problem folgendermaßen zusammen: Der weibliche Körper ist erstens ungewöhnlicher, neuartiger, zweitens inkriminierter und drittens, da stets mit der Voluptas der Fleischlichkeit verbunden, erotischer als der männliche und deshalb moralischen Bedenken eher ausgesetzt [...]. Das männliche Pendant wird zudem stets mit dem menschlichen Körper schlechthin [...] gleichgesetzt, während der weibliche stets geschlechtlich polarisiert ist.26

Im Zuge dieser Entwicklung ist die Herausbildung eines genderspezifischen Blickes zu beobachten. Daniela Hammer-Tugendhat hat gezeigt, dass Aktdarstellungen immer öfter auf einen weiblichen Körper redu-

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Dabei handelt es sich wohl um die früheste weibliche Aktstudie nördlich der Alpen. Vgl. Anne Röver-Kann (Bearb.), Albrecht Dürer. Das Frauenbad von 1496, Ausstellungskatalog Kunsthalle Bremen 2001, Bremen 2001, S. 20. Auch Bonnet schreibt: »Dürer führt nun als erster neben dem männlichen ›Akt‹ auch den weiblichen ein [...].« (Bonnet, »Akt« bei Dürer, S. 36), und: »Es handelt sich um den sog. Ersten Natur-Akt nördlich der Alpen, die gezeichnete Naturstudie einer ›Nackten Frau von vorne‹ [...] aus dem Jahre 1493« (ebd., S. 62). Das Werk Frau bei der Toilette ist nur durch Quellen und ein Sammlungsgemälde dokumentiert. Es entstand vermutlich um 1433/34. Bei dem zweiten Gemälde handelt es sich um eine Darstellung mit badenden Frauen und einem Spiegel. Vgl. Elisabeth Dhanens, Hubert und Jan van Eyck, Königstein i.T. 1980, S. 206–211; Daniela Hammer-Tugendhat, »Jan van Eyck – Autonomisierung des Aktbildes und Geschlechterdifferenz«, in: Kritische Berichte, 17,3 (1989), S. 78–99, hier S. 83–85. Bonnet, »Akt« bei Dürer, S. 37.

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ziert wurden.27 In diesem Prozess wurde die Frau zum alleinigen Objekt der Beobachtung, der Mann zum Beobachter – männliche Ersatzfiguren verschwanden zunehmend aus den Darstellungen.28 Je natürlicher und lebendiger die Darstellung des Körpers wurde, umso mehr wurde er auch erotisch aufgeladen. Die weibliche Aktfigur wurde als Verführerin wahrgenommen, die zum Genuss aufforderte und gleichzeitig vor der Vergänglichkeit des Genusses warnte. Die erotische Macht der Frau war daher besonders im 16. Jahrhundert ein beliebtes Thema der Kunst. Wie gefährlich die Hingabe an die Frau sein kann, beschreiben zahlreiche Darstellungen der Weibermacht.29 Die Macht der Frauen wurde dabei hauptsächlich mit ihrer Schönheit und Fleischeslust begründet.30 Es war Omphales Schönheit, die Herkules gefügig und willenlos machte, ebenso wie Phyllis’ Jugend und Schönheit Aristoteles dazu brachten, sich selbst zu erniedrigen.31 Darstellungen von Herkules und Omphale wie von Aristoteles und Phyllis machten zwar einerseits die Männer zum Gespött, waren jedoch gleichzeitig eine eindrückliche Warnung an den Betrachter, sich nicht ebenso ›um den Finger wickeln‹ zu lassen. Die Darstellung des nackten weiblichen Körpers – ohne Bezug zur christlichen Ikonographie – war also gerade in der Frühphase, also der Zeit um 1500, in besonderem Maße mit Wunsch- und Angstvorstel-

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Hammer-Tugendhat, »Jan van Eyck«, hier S. 91–92. Vgl. auch Sigrid Schade, »Zur Genese des voyeuristischen Blicks. Das Erotische in den Hexenbildern Hans Baldung Griens«, in: Cordula Bischoff u.a. (Hrsg.), FrauenKunstGeschichte. Zur Korrektur des herrschenden Blicks, Gießen 1984, S. 98–110. Daniela Hammer-Tugendhat, »Erotik und Geschlechterdifferenz. Aspekte zur Aktmalerei Tizians«, in: Daniela Erlach (Hrsg.), Privatisierung der Triebe? Sexualität in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u.a. 1994 (Frühneuzeit-Studien 1), S. 367–421, hier S. 376ff. »Die Frau wird offenbar als erotisch gefährdend erlebt; denn die WeibermachtThemen, bis hin zur Umdeutung älterer Themen in diese Richtung, und ambivalente Venus-Bilder treten vermehrt auf.« (Bonnet, »Akt« bei Dürer, S. 36). Vgl. Thomas Kleinspehn, »Schaulust und Scham: Zur Sexualisierung des Blickes«, in: Kritische Berichte, 3/17 (1989), S. 29–48; Sigrid Schade, Schadenzauber und die Magie des Körpers. Hexenbilder der frühen Neuzeit, Worms 1983; Charles Zika, Exorcising our demon. Magic witchcraft and visual culture in early modern Europe, Leiden 2003. Jutta Held, »Die ›Weibermacht‹ in Bildern der Kunst von der frühen Neuzeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts«, in: Tendenzen, 152 (1985), S. 45–56, hier S. 45ff; Bettina Baumgärtel / Sylvia Neysters (Bearb.), Die Galerie der starken Frauen. Die Heldin in der französischen und italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Düsseldorf und Hessisches Landesmuseum Darmstadt, München 1995; Claudia Schnitzer / Cordula Bischoff, Mannes Lust und Weibes Macht: Geschlechterwahn in Renaissance und Barock, 2 Bände, Dresden 2005; Michael Roth (Hrsg.), Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance, Ausstellungskatalog Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin 2006, Berlin 2006, Kat. Nr. 67–69.

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lungen verknüpft. Galt die Frau seit jeher als gefährliche Verführerin, die sogar den Sündenfall verschuldet hatte, so musste die nun in Bildwerken so deutlich für den Betrachter nachvollziehbare Sinnlichkeit auch eine drastischere Moralisierung der von ihr ausgehenden Gefahr bedingen. Einige der frühen Bildwerke, die einen nackten, alten Frauenkörper zeigen, sind wohl nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Garstige Alte aus dem Liebieghaus in Frankfurt (um 1500, Abb. 6) scheint sich bewusst zu sein, dass sie beobachtet wird, und versucht – in ihrer Haltung an den Typus der Venus pudica erinnernd, wie wir ihn beispielsweise von der Kapitolinischen Venus kennen – Brüste und Scham zu verbergen. Doch gerade dadurch werden ihre hängenden Brüste besonders betont. Durch den Vergleich mit der Göttin der Schönheit und Liebe wird die alte Frau zu einer Karikatur.

Abb. 6: Garstige Alte, Buchsbaumholz, Oberrhein, um 1500. Aus: Andrea von Hülsen-Esch und Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hrsg.), Zum Sterben schön! Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Ausstellungskatalog. Köln und Düsseldorf 2006, 2 Bände, Regensburg 2006, Band 2, Kat. Nr. 108, S. 190.

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Auch Hans Sebald Behams Kupferstich Der Tod und die drei nackten Weiber (Kupferstich, um 1546/50, Abb. 7) ist von einem Vorbild inspiriert. In diesem Fall ist es Dürers Kupferstich Die vier Hexen (1497).32

Abb. 7: Hans Sebald Beham, Der Tod und die drei nackten Weiber, Kupferstich, um 1546/50, Graphiksammlung Mensch und Tod der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.

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Vgl. u.a. Michael Roth (Hrsg.), Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance, Ausstellungskatalog Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin 2006, Berlin 2006, Kat. Nr. 37; Rainer Schoch / Matthias Mende / Anna Scherbaum, Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Band 3: Buchillustrationen, München u.a. 2004, S. 61–64; Berthold Hinz, Aphrodite: Geschichte einer abendländischen Passion, München, Wien 1998, S. 207–209; Linda C. Hults, »Dürer’s Four Witches Reconsidered«, in: Jane L. Carroll / Alison G. Stewart (Hrsg.), Saints, Sinners, and Sisters: Gender and Northern Art in Medieval and Early Modern Europe, Aldershot 2003, S. 94–126.

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Ob es sich bei Dürers Darstellung wirklich um Hexen handelt, sei dahingestellt, doch ist der Bezug zu Venus und den Grazien offensichtlich. Es scheint sich wieder um Frauen zu handeln, deren Schönheit und Sexualität den Betrachter besonders faszinieren sollten.33 So sieht Linda Hults in diesem Stich eine gelehrte Mahnung an die Männerwelt, sich der Macht der weiblichen Verführungskunst und Begierde bewusst zu sein.34 Doch was wird in Behams Stich nun aus diesen verführerischen und gefährlichen nackten Frauen? Er lässt die Frauen nicht nur schrittweise altern, sondern kombiniert sie gar mit dem Tod. So sehen wir, im Uhrzeigersinn angeordnet: Zunächst eine junge, von vorne dargestellte Frau. Das bei Dürer vor die Scham gehaltene Tuch hält sie nur in einer Hand; ihre Scham wird verdeckt von der Hand der zweiten Frau. Zweitens eine Frau im mittleren Alter, die von hinten gezeigt wird. Sie entspricht der Frau in pudica-Pose bei Dürer. Hier hat sie diese Pose aufgegeben und ihre Figur ist wesentlich fülliger als im Vorbild. Drittens eine alte, ausgemergelte Frau mit hängenden Brüsten. Viertens der Tod als Skelett. Mit klarem Bezug zum Vorbild dekonstruiert Beham die Schönheit und Anziehungskraft der Frauen und damit auch ihre Macht über den Betrachter. Der alte Frauenkörper fungiert demnach im frühen 16. Jahrhundert nicht nur als ein Symbol der vanitas. Er wird – im Kontext der Diskussionen um die Verführungskraft der Frauen und die Macht sinnlicher Kunst – zu einem Zeichen dafür, dass die erotische Macht der Frauen gebrochen werden kann. Doch die Genese von Darstellungen alter nackter Frauen ist nicht nur einem zunehmenden Interesse am jungen weiblichen Körper und seiner Ästhetisierung geschuldet. Gerade Einzelfiguren alter Frauen zeigen, dass diese Bildwerke auch in Bezug zur allegorischen Instrumentalisierung des weiblichen Körpers in der Renaissance gesetzt werden müssen. Die allegorisierende Darstellung des weiblichen Körpers steht in einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition. In Allegorien, Personifikationen und exemplarisch-lehrhaften Darstellungen wird der weibliche Körper zur »Matrix des Unsichtbaren«35, wie Aleida Assmann es nannte:

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»Der Erfolg des Bildes, der sich weniger dem bis heute nicht überzeugend gedeuteten, auch den Zeitgenossen dunkel gebliebenen Hintersinn als der sensationell vitalisierten Erscheinung nackter Frauenkörper verdanken dürfte, ist der Erfolg jener Subjektivität, die zum Kriterium der Epoche wurde.« (Hinz, Aphrodite, S. 209). »Dürer’s Four Witches expresses men’s need to control female sexuality.« (Hults, »Dürer’s Four Witches«, S. 100). Aleida Assmann, »Der Wissende und die Weisheit – Gedanken zu einem ungleichen Paar«, in: Sigrid Schade / Monika Wagner / Sigrid Weigel (Hrsg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 11–25, hier S. 24.

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Die allegorische Frau verkörpert, was der Mann aus sich heraus- und sich gegenüberstellt; für solche Formen indirekter Selbstbegegnung bietet sich die Materialität des weiblichen Körpers als Projektionsfläche an, die dem Mann das Eigene als Fremdes zurückspiegelt.36

Dass die Frau der Natur und der Mann der Kultur zugeordnet wurde, ist eine These, die lange Zeit die feministische Argumentation bestimmte.37 Daniela Hammer-Tugendhat hat gezeigt, dass diese uralte Geschlechterpolarisierung bei Jan van Eyck eine neue Form der Verbildlichung fand, die das »Paradigma der naturgegebenen Geschlechterpolarität« verfestigte.38 In diesem Zusammenhang gewinnt die Entkleidung der weiblichen Lebensalterfiguren eine weitere Komponente. Das Konzept der der Natur näher stehenden Frau wird durch die Naturalisierung der Körperdarstellung auf eindrückliche Weise vor Augen geführt. Eine etwas anders gelagerte Deutung entwickelt Erin Campbell in Bezug auf Giorgiones La Vecchia (1505–1510). Anhand von Francesco Bocchis Text Eccellenza del San Giorgio di Donatello (1571 Cosimo de Medici gewidmet, 1584 publiziert) argumentiert Campbell, dass männliche Schönheit als unvergänglich betrachtet wurde. Die Schönheit der Frauen hingegen sei vergänglich. Der Grund für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Bewertung des Alters scheint im Charakter des Mannes (Anmut, guter Geschmack und Güte) zu liegen, den Bocchi auch mit Kleidung oder Tracht umschreibt und der Frauen fehle: For Bocchi, costume or character is explicitly gendered masculine. Women are devoid of costume, since they are ›modest and of tranquil soul‹, qualities which don’t count as ›character‹. By contrast, masculine character is ›full of boldness and spirit‹'. Beauty in women is fleeting he tells us.39

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Assmann, »Der Wissende«, S. 25. Vgl. u.a. Hammer-Tugendhat, »Jan van Eyck«, S. 81–83; Sherry Ortner, »Is Female to Male as Nature is to Culture«, in: Michelle Zimbalist Rosaldo und Louise Lamphere (Hrsg.), Woman, Culture and Society, Stanford 1974, S. 67–87; Karin Hausen, »Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben«, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 367–393; Brita Rang, »Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Jutta Dalhoff / Uschi Frey / Ingrid Schöll (Hrsg.), Frauenmacht in der Geschichte, Düsseldorf 1986, S. 194–204. Hammer-Tugendhat, »Jan van Eyck«, S. 82. Erin J. Campbell, »›Unenduring Beauty‹: Gender and Old Age in Early Modern Art and Aesthetics«, in: E. J. C. (Hrsg.), Growing Old in Early Modern Europe. Cultural Representations, Aldershot 2006, S. 153–167, hier S. 167.

Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters

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Obwohl die erwähnten Diskurse kaum Einfluss auf die populären Lebensalterdarstellungen gehabt haben dürften, scheint gerade die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Akt eine wichtige Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Lebensalterdarstellungen gewesen zu sein. Ab 1520 meldet sich schleichend eine Änderung der jahrhundertealten Tradition der Lebensalterdarstellungen an.

3. Populäre Darstellungen der weiblichen Lebensalter Nun entstehen erstmals populäre Darstellungen der weiblichen Lebensalter. Unter populären Bildern verstehe ich einerseits günstige Druckgraphiken, andererseits Darstellungen im öffentlichen Raum, die sich gleichfalls an ein breites Publikum wenden. Die damit angesprochenen Rezipienten bedingten einen Verzicht auf die Darstellung von nackten Frauen. Dennoch ist von Bedeutung, dass populäre Darstellungen des weiblichen Alterns erst entstanden, nachdem die Hochkunst das Thema für sich entdeckt hatte. Im Folgenden soll auf einige Charakteristika der weiblichen Altersdarstellungen eingegangen werden. Dies kann leider nicht in der Ausführlichkeit geschehen, die dem – bis auf eine Ausnahme40 – noch fast völlig unbearbeiteten Gegenstand angemessen wäre. Als frühestes Beispiel der zehn weiblichen Lebensalter gelten die 1520–22 von Franz Maidburg geschaffenen Tuffsteinreliefs an den Emporenbrüstungen der St. Annen-Kirche in Annaberg.41 Die Reliefs sind in ein größeres Bildprogramm eingebunden, das neben den Lebensaltern der Frau auch die Lebensalter des Mannes, Szenen aus dem Marienleben, der Passion Christi sowie Heilige und Apostel zeigt. Somit wird nicht nur das geschlechtsspezifische Altern direkt vergleichbar, sondern es wird auch deutlich, was Sinn und Zweck dieser Lebensalterdarstellungen im kirchlichen Kontext ist: nämlich alters- und

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Kristina Bake, »Geschlechtsspezifisches Altern in einem Lebensalter-Zyklus von Tobias Stimmer und Johann Fischart«, in: Heike Hartung (Hrsg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 113–133. Vgl. u.a. Peter Joerißen, »Die Lebensalter des Menschen. Bildprogramm und Bildform im Jahrhundert der Reformation«, in: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Ausstellungskatalog Städtisches Museum Haus Koekkoek Kleve u.a., Köln 1983 (Schriften des Rheinischen Museumsamtes 23), S. 39–59, bes. S. 39–41; Gisold Lammel, »Die Lebensalterdarstellungen an den Emporen der Annenkirche zu Annaberg«, in: Sächsische Heimatblätter, 2 (1974), S. 61–67; Gisold Lammel, »Franz Maidburg und die Emporenreliefs in der Annenkirche zu Annaberg«, in: Sächsische Heimatblätter 4 (1972), S. 171–179.

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geschlechtsspezifisch genau festgelegte korrekte Verhaltensweisen vor Augen zu führen. Beim Vergleich der männlichen und weiblichen Lebensalter fällt auf, dass die seit einem halben Jahrhundert kanonisch festgelegten männlichen Begleittiere nicht für die Frauen übernommen wurden. Stattdessen wurden ihnen Vögel beigegeben, die auf geschlechtsspezifische Verhaltenskonzepte verweisen.42 Der 30-Jährigen, deren Attribut ein Pfau ist, wird die Eitelkeit zwar noch zugestanden, doch schon die 40-Jährige wird mit einer Henne verglichen. Sie soll ihre vorgesehene Rolle als Mutter ausüben. Im Alter der Frau geht es dann nicht um den Verlust der Macht oder des Verstandes wie bei den Männern. Die Frau hat in fortgeschrittenem Alter vor allem ihre vergangene Schönheit zu beklagen, ein Konzept, das uns bereits in den künstlerischen Versionen begegnete. Nach dieser ersten ließ die zweite überlieferte Lebensalterdarstellung für Frauen etwa 30 Jahre auf sich warten. Für uns heute fassbar ist erst wieder die 1550/60 entstandene weibliche Lebenstreppe des in Modena tätigen Christofano Bertelli (1526–1580). Wie in Annaberg wurden auch hier die weiblichen Lebensalter als Pendant zu den männlichen Lebensaltern geschaffen. Abgesehen von Kleidung, Haltung und Bezugstieren sind die älteren Frauen in Bertellis Kupferstich nicht von den jüngeren zu unterscheiden. Lediglich das Kopftuch ab der siebten Stufe und die sitzende Haltung der 90-Jährigen, die ihren Kopf auf ihre Handfläche stützt, weisen sie als alt aus. Auch hier sind den Frauen Vögel als charakteristische Tiere beigegeben. In den 1570er Jahren häufen sich dann die deutschen Beispiele:43 In kurzen Abständen entstehen die Darstellungen in Retz (1570)44, Martin Schrots Die zehn Alter der Welt (1574)45, Jost Ammans Kunstbüch-

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Beim Mann: 10 Jahre: Kitz / Rehbock, 20: Kalb, 30: Stier, 40: Löwe, 50: Fuchs, 60: Wolf, 70: Katze / Hund, 80: Hund / Katze, 90: Esel, 100: Gans. Bei der Frau: 10 Jahre: Küken / Zeisig, 20: Wiedehopf / Nachtigall/ Taube, 30: Pfau / Elster, 40: Henne, 50: Kranich, 60: Gans, 70: Adler / Taube/ Geier, 80: Eule / Kauz, 90: Fledermaus. Vgl. Wanders, »Das springende Böckchen«, S. 68. Für die Begleittiere der Frauen bildete sich jedoch auch in den späteren Jahrhunderten nie ein derartig feststehender Kanon heraus wie für die der Männer. Leider ist die Aufarbeitung der Lebensalterdarstellungen noch nicht so weit vorangeschritten, dass man sich einen ausreichenden Überblick über die europäische Situation verschaffen kann. Joerißen, »Die Lebensalter«, S. 42–46. In Schrots Werk werden erstmals auch für die Bühne weibliche Lebensalter eingeführt. Vgl. Joerißen, »Lebenstreppe«, S. 37–38; Anton Englert, »Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild«, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 17 (1907), S. 16–42.

Der weibliche Körper als Sinnbild des Alters

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lein (1578)46 und das bei Jobst und Hercules de Necker in Wien erschienene Stamm oder Gesellen Büchlein (1579).47 Sie alle fügen den männlichen Lebensalterbildern weibliche hinzu. In der Gegenüberstellung werden vor allem die geschlechtsspezifischen Alterskonzepte deutlich. Kristina Bake hat anhand von Tobias Stimmers Lebensalter-Zyklus (nach 1576, Abb. 8) herausgearbeitet, dass die Pflanzensymbolik ein wesentlich früheres Altern der Frau nahelegt.

Abb. 8: Tobias Stimmer, 70- und 80-jährige Frau, in: Die zehn Lebensalter der Frau, nach 1576. Aus: Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Ausstellungskatalog Städt. Museum Haus Koekkoek Kleve u.a., Köln 1983 (Schriften des Rhein. Museumsamtes 23), 23, S. 53.

Darüber hinaus wird ihr Altern in den beigegebenen Texten auf den Verlust der Schönheit reduziert, ein Konzept, das uns aus der zeitgenössischen Kunst ausreichend bekannt ist. So lautet der Text bei der 90-Jährigen:

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Hélène de Panafieu, »Les âges de la vie dans la peinture et l’estampe occidentales des XVIe et XVIIe siècles«, in: Bulletin archéologique du Comité des Travaux Historiques et Scientifique, 29 (2002), S. 43–79, bes. S. 65–67. Joerißen, »Die Lebensalter«, S. 51.

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Was hilfts euch nu(n) / spricht hie der Tod / Ir Weiblin zu der lezten not / Das jr seit jung vnd frisch gewesen / Vnd wird jzund zum stumpfen Besen? / Ja gar zu Dornen vngeheur / Die zu nichts daugen als inns Feur?48

Während im 16. Jahrhundert die weiblichen und männlichen Lebensalter nur in klar getrennten Bildern zu finden sind, können sie im 17. Jahrhundert im selben Bild gezeigt werden. Bei dem frühesten mir bekannten Beispiel handelt es sich um einen Kupferstich von Gerhard Altzenbach in Köln, der um 1616 entstand (Abb. 9).49

Abb. 9: Gerhard Altzenbach, Der Tod mit den zehn Lebensaltern, 1616, Köln. Aus: Anton Englert, »Die menschlichen Altersstufen in Wort und Bild«, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 17 (1907), S. 16–42, hier S. 27.

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Zitiert nach Bake, Geschlechtsspezifisches Altern, S. 127. Abgebildet bei: Anton Englert, »Die menschlichen Altersstufen«, hier S. 27.

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Im Zentrum des Blattes ist ein Skelett mit Pfeilen, Schädeln, einer Sanduhr und diversen, auf die Vergänglichkeit verweisenden Gegenständen zu sehen. Diese memento-mori-Darstellung umgeben an drei Seiten kleine Darstellungen der Lebensalter. Jede der zehn Szenen vereint Mann und Frau und kennzeichnet sie mit den entsprechenden, uns bereits bekannten Tiersymbolen. Die Texte geben jedoch nur den für den Mann bestimmten Spruch wieder. Ein weibliches Pendant setzte sich nie durch. In all diesen populären Bildern gibt die Gegenüberstellung von Mann und Frau der Überzeugung Ausdruck, dass es ein spezifisch weibliches Altern gibt und dass männliche und weibliche Lebensentwürfe entscheidend voneinander abweichen. Bei der Einbeziehung von Frauen in die Lebensalterbilder handelt es sich allerdings weniger um eine positive Anerkennung ihrer Andersartigkeit als vielmehr um eine Maßnahme zur Disziplinierung des weiblichen Geschlechts. Die Bilder führen deutlich vor Augen, welche Werte das Leben einer Frau bestimmen sollten: Schönheit wird als eitel entlarvt; bleibende Werte sind das Streben nach Tugend und die Erziehung von Kindern.

4. Fazit Die kunsthistorische Forschung hat seit langem gezeigt, dass im Zuge der Entstehung weiblicher Akte und der zunehmenden Erotisierung des weiblichen Körpers der Mann im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts immer mehr zum Betrachter und der beobachtete Körper weiblich wurde: Alles, was mit Körper, Sexualität, Erotik und Natur verbunden ist, wird mit der Frau identifiziert. Der Mann (der männliche Künstler, Auftraggeber und Betrachter) sieht diese von sich abgespaltenen Bereiche in seinem Spiegelbild des weiblichen Aktes thematisiert.50

Beinahe zwangsläufig musste diese Identifizierung des Körperlichen mit der Frau auch zu einer Naturalisierung der Altersdarstellungen führen. Populäre Darstellungen der Lebensalter verwendeten – wie gezeigt wurde – andere Strategien zur Visualisierung des Alterns. Hier finden sich keine Einzelfiguren als Allegorien des Alters, sondern meist Darstellungen mit zehn Lebensabschnitten. Die moralisch-wertende Funktion der Nacktheit mit ihrem Verweis auf die Vergänglichkeit der

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Hammer-Tugendhat, »Jan van Eyck«, hier S. 91–92.

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Schönheit wird hier von Attributen, Begleittieren, Texten und dem Auf und Ab der Treppe übernommen. Interessanterweise bleibt die Darstellung des männlichen Alterns in den populären Bildern bis ins 19. Jahrhundert präsent. In der Hochkunst wurde der männliche Körper bereits um 1500 aus den Naturalisierungs- und Allegorisierungsprozessen ausgeklammert und damit aus dem Bilddiskurs zur Darstellung des Alters zurückgedrängt.

THORSTEN FITZON

›Der Greis im Frühling‹ Schöpferische Toposvariationen in der Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts This essay inquires into the ways in which the topos of age as the winter of life has been varied and harmonized since the second half of the eighteenth century, above all in lyric poetry through the figure of the old man in springtime. The analysis is grounded in the assumption that in poetic catalogues, such topoi of aging were removed from their original semantic contexts according to their alphabetical ordering and thus rendered into the material of creative recombination. By displacing the winter-like old man into springtime, the epoch of ›Empfindsamkeit‹ was responding to the discrepancy, underscored in Humanism, between linear lifetime and seasonal cycle through a fundamental reinterpretation of the topos. With two metaphoric significations of springtime – the springtime of life is recalled together with one’s own childhood and springtime, understood in the sense of that season’s eternity, points forward to life beyond the grave – the consoling figure of the sensitive old man also introduces an interiorized temporal perspective composed of recollection and hope; this sets the stage for the emergence in the nineteenth century of an individual perspective on old age. The old man in springtime becomes an aesthetic argument for the subjective self-assertion of old age – for its self-fulfillment entirely through experience of the moment, without metaphysical consolation.

1. Topoi und Innovation Die Rede vom hohen Alter als Winter des Lebens ist sprichwörtlich.1 Bereits in der Antike wurden die Lebensalter allegorisch mit den Jahreszeiten ins Verhältnis gesetzt, wenngleich der Winter zunächst nicht

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Vgl. etwa Johann Wolfgang von Goethes Briefäußerung an Christian Heinrich Schlosser vom 26. September 1813: »Ja ich würde Sie dringender hierzu einladen, wenn ich mir nicht allzusehr bewußt wäre, daß wir in dem Herbst und Winter des Lebens starrer und schroffer werden als billig ist; die Wirkung dieser Eigenschaften wird durch guten Willen, am besten aber durch Entfernung gemildert.« (Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Abt. 4: Briefe, Bd. 24: September 1813–24. Juli 1814, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1901, S. 10–11).

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immer mit dem hohen Alter in Verbindung stand.2 Seit dem Mittelalter war die Gleichsetzung der kalten Jahreszeit mit dem Ende des Lebens allerdings so etabliert, dass Friedrich Nietzsche sich schließlich veranlasst sah, den Vergleich zwischen Lebensaltern und Jahreszeiten als »eine ehrwürdige Albernheit« zurückzuweisen, da die Gleichsetzung insbesondere des hohen Alters mit dem Winter jeder psychologischen Grundlage entbehre, wolle man sich nicht »mit dem Weiss des Haares und des Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen« begnügen. Der Jahreszeitenvergleich sei vor allem deshalb unstimmig, da das menschliche Leben keinen Winter kenne, »es sei denn, dass man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einsamen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren Krankheitszeiten die Winterzeiten der Menschen nennen will«.3 Nietzsches Kritik zeigt, dass sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur der Vergleich des hohen Alters mit dem Winter zu einem geläufigen Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens geworden war. Die Allegorie erschöpft sich aber nicht in der Entsprechung der Naturbilder, sie bringt vielmehr im Ablaufprogramm der Jahreszeiten auch zum Ausdruck, dass das menschliche Leben der Zeit unterworfen ist, mit der es einerseits in Einklang zu bringen ist und die andererseits dazu zwingt, dem Verlauf des Lebens einen Richtungssinn zu geben.4 Bis ins 18. Jahrhundert wurde die Zusammenschau von begrenzter Lebenszeit und naturalisiertem Jahreszeitenvergleich vorwiegend als memento mori gedeutet. Mit der anschaulichen Vorstellung, dass jedem Lebensfrühling immer auch ein Winter folgt, verband sich die Aufforderung, das Leben zur rechten Zeit zu nutzen. So ruft etwa der

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Die Einteilung des Lebens in vier mal zwanzig Jahre, denen jeweils eine Jahreszeit zugerechnet werden kann, ist für die Pythagoreischen Schriften und Hippokratischen Schriften belegt. Allerdings waren die Jahreszeiten in der Antike nicht so gleichmäßig verteilt und klar voneinander abgegrenzt. Frühling und Herbst berühren einander beinahe, weshalb der Winter auch mit dem reifen und nicht unbedingt mit dem hohen Alter in Verbindung gebracht wurde. Vgl. Franz Boll, Die Lebensalter: ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur Geschichte der Zahlen. Mit einem Anhang über die Schrift Von der Siebenzahl, Leipzig, Berlin 1913, S. 14–17. Weitere Belege für die Einteilung des menschlichen Lebens nach der Vierzahl im Schrifttum der römischen Antike und mehr noch in Mittelalter und Renaissance nennt Wilhelm Wackernagel, Die Lebensalter. Ein Beitrag zur vergleichenden Sitten- und Rechtsgeschichte, Basel 1862, S. 16–18. Friedrich Nietzsche, »Der Wanderer und sein Schatten 269. Die Lebensalter«, in: F. N., Menschliches, Allzumenschliches I und II, Kritische Studienausgabe, Bd. 2, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari , Berlin, New York 1999, S. 668–669. Bereits im Mittelalter werden die vier Lebensalter ikonographisch auf den Kreislauf der Jahreszeiten bezogen und zum Teil mit weiteren Naturgrößen wie den vier Elementen oder den vier Himmelsrichtungen dargestellt. Vgl. hierzu Wackernagel, Die Lebensalter, S. 18.

›Der Greis im Frühling‹

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allegorische Reyen der Zeit in Andreas Gryphius’ Trauerspiel Cardenio und Celinde zum carpe diem auf, nachdem der Ablauf des Lebens in Gestalt weiblicher Jahreszeiten- und Lebensalterallegorien vorgeführt wurde. Der Appell des Reyens richtet sich an die Jugend, der das Alter als Schreckensbild vorgeführt wird. Das letzte Bild des Reyens zeigt den Winter in Gestalt einer hässlichen, alten Frau, die den zögernden jungen Menschen mahnt, die Entscheidung zum Leben nicht aufzuschieben, da am Ende seines Verlangens ihn nichts als das Alter erwartet.5 Zwar wurde die Dissonanz, die zwischen der linearen Endlichkeit des menschlichen Lebens und der Wiederkehr des Naturkreislaufs besteht, auch schon im Humanismus reflektiert, jedoch nur, um über den Gegensatz beider Zeitmodelle die Kürze des menschlichen Lebens gegenüber der ewigen Wiederkehr der Natur herauszuheben.6 Erst in der Empfindsamkeit entstand mit der Figur des ›Greises im Frühling‹ ein topisches Paradoxon, das die diskrepanten Bildbereiche aufeinander bezieht und reinterpretiert. Dieser Figur hat der sechzigjährige Zürcher Dichter Leonhard Meister 1802 eine apologetisch-konsolatorische Schrift mit dem gleichnamigen Titel Der Greis im Frühling gewidmet, die das poetische Altersbild des 18. Jahrhunderts zusammenfasst und zeigt, dass der Topos vom Greis im Frühling auf einen Ausgleich zwischen dem Leben des Einzelnen und dem Fortleben der Menschengattung zielt. So verbindet bereits die Eingangsreflexion das nochmals erwachende Leben des Greises im Frühling mit dem Fortleben der Jugend: Welche reinere Luft umsäuselt mein graues Haupt? Trunken noch vom aufthauenden Reifen, aber durchflochten von des Frühlings ersten Sonnenstrale, kühlt und erwärmt sie zugleich; freundlich belebt sie mich wieder, wie dort den erstorbenen Baum. […] Sey mir als alter Freund gegrüßt, ehrwürdiger Baum! Um des noch blühenden Zweigs willen schont deiner das Beil; theilnehmend haucht dir rund umher das Blüthengebüsch von seiner eignen Lebenskraft ein; […] so

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Vgl. Andreas Gryphius, Dramen, hrsg. von Eberhard Mannack, Frankfurt 1991 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 15), S. 273–276. Zur Deutung der Jahreszeitenallegorie vgl. auch Ferdinand van Ingen, »Die vier Jahreszeiten und die vier Lebensalter des Menschen. Ein Motiv zwischen Allegorie und Emblem. Zu Otto van Veen (›Moralis Horatiana‹) und Andreas Gryphius (›Cardenio und Celinde‹)«, in: Dietrich Jöns (Hrsg.), Festschrift für Erich Trunz zum 90. Geburtstag. Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte, Neumünster 1998 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 19), S. 7–21. Vgl. im dritten Abschnitt die humanistischen Variationen des Topos bei Konrad Celtis, Erasmus und Matthias Casimir Sarbiewski.

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schont meiner die Sense der Zeit, so erfrischt mich unter Scherzen und Spielen die jüngere Welt.7

Meisters empfindsame Harmonisierung zwischen der alten und der jungen Generation, für die der absterbende Baum auf der einen und das »Blüthengebüsch« auf der anderen Seite stehen, knüpft in ihrer paradoxen Form an den Ausgleichstopos vom puer senex an8 und antwortet auf den pessimistischen Wintervergleich des Alters. So wird in der Konfrontation des hohen Alters mit dem Frühling der Topos vom Alter als Winter des Lebens im 18. Jahrhundert unterlaufen, indem die Analogie auch auf die Zyklik der Jahreszeiten ausgedehnt wird. Die dem Wintervergleich inhärente Überbietung durch den Frühling eröffnete einen ästhetischen Spielraum, der von konkurrierenden Alterszuschreibungen ausgefüllt wurde. Neben Meisters Text gibt es eine Reihe von Variationen des Topos ›Greis im Frühling‹, der zuerst in der Anakreontik durchgespielt und bis in die Moderne variierend aktualisiert wurde. Unter Toposvariationen soll im Folgenden analog zum Verfahren intertextueller Bezugnahme die Balance aus Wiederholung und Transformation verstanden werden, welche es einerseits ermöglicht, Muster wieder zu erkennen, und andererseits auf dieser Folie Differenzen markiert.9 Die Dynamik der intertextuellen Variationen, die in aktualisierenden Wiederholungen zum Ausdruck kommt, wurde bisher von der Forschung nicht beachtet. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, wie sich ausgehend von der Tradition antiker Alterstopoi im Humanismus und ihrer Fragmentierung in den poetischen Katalogen des 17. Jahrhunderts der Wintervergleich des Alters über die Figur des Greises im Frühling verselbständigte und sowohl in ein affirmatives als auch kommentierendes Verhältnis zum herrschenden Alters-

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Leonhard Meister, Der Greis im Frühling, Basel 1802, S. 1. Ernst Robert Curtius vermerkt zum Topos vom puer senilis oder puer senex, dass die Prägung des Paradoxons nicht zufällig aus dem Geist der Spätantike stamme, da »nur späte Zeiten […] ein Menschenideal, in dem die Polarität von Jugend und Alter zu einem Ausgleich strebt«, entwickelt hätten (E. R. C., Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 2 1954, S. 108–112, hier S. 108). Gnilka hat demgegenüber zu Recht darauf verwiesen, dass Spätzeitlichkeit alleine das vermehrte Auftreten des Topos nicht hinreichend erklären könne. Vielmehr komme in der Verschränkung der Lebensalter eine »Popularisierung hellenistischer Philosopheme« zum Ausdruck, in denen die Erfüllung von der bloßen Dauer des Lebens entkoppelt sei (vgl. Christian Gnilka, »Greisenalter«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, 12 (1983), Sp. 995– 1094, hier Sp. 1028f.). Zum Verhältnis von Variation und Wiederholung in den Künsten vgl. Gérard Genette, »L’autre du même«, in: Corps écrit, 15 (1985), S. 11–16. Dass die Interpretation von Topoi an vergleichbare methodische Probleme von Identifikation und Differenzierung anknüpfen, zeigt die Intertextualitätsforschung, vgl. François Rastier, »Topoï e interprétation«, in: études françaises, 36,1 (2000), S. 93–107, hier vor allem S. 100–105.

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diskurs treten konnte. Das so poetisch generierte Wissen vom hohen Alter knüpft einerseits an die bekannten Muster an, reorganisiert und interpretiert sie andererseits jedoch im Kontext des jeweils gültigen Altersbildes neu, so dass die Toposvariationen eine Quelle sowohl für den Altersdiskurs als auch für die Strategien seines Wandels sein können. Der ›Greis im Frühling‹ ist ein neuzeitlicher Topos, der den älteren Topos vom Winter des Lebens fortschreibt.10 Die semantischen und pragmatischen Variationen, die der Topos vom Greis im Frühling dabei durchläuft, lassen sich an Gedichten nachzeichnen, die zum einen aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und zum anderen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen. Den beiden historischen Schnitten entsprechen dabei zwei Konjunkturen des Altersdiskurses, die mit dem Ende des Ancien Régime und dem Beginn der Frühindustrialisierung zusammenfallen und Übergangsphasen darstellen, in denen die gesellschaftlichen und familialen Altersrollen neu bestimmt wurden. Während durch die Französische Revolution die aufklärerische Säkularisierung der Alterswürde dahingehend vorangetrieben wurde, dass allein aus dem selbstlosen Dienst des Alters für die Gesellschaft Respekt erwachsen konnte,11 engte sich um 1850 etwa mit der »Erfindung der Großmutter« der Nützlichkeitsanspruch an die Alten auf den emotionalen Dienst für die Familie ein.12 Ziel der Analyse ist es daher, einerseits die Potentiale herauszuarbeiten, die im Topos vom Alter als Winter des Lebens angelegt sind und die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in der Figur des Frühlingsgreises variiert wurden,

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Dass ein Topos nicht notwendigerweise bis in die Antike zurückreichen muss, sondern zu jeder Zeit auch neu entstehen kann, zeigt mit Rücksicht auf den ursprünglichen Charakter des Topos als rhetorische Schöpfung August Obermayer, »Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft«, in: Peter Jehn (Hrsg.), Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1972, S. 155–159, hier S. 156f. Die Säkularisierung der Alterswürde im Zuge der Französischen Revolution zeigt sich in so genannten Greisenfeiern in den 1790er Jahren, bei denen sich die Festgemeinde um einen würdigen Alten reiht und bei deren Gelegenheit auch sentimentale Rührstücke zur Aufführung kamen, in denen die Ehrfurcht vor dem Alter gefeiert wurde. Solche Feste sind vor allem für das revolutionäre Frankreich belegt (vgl. David G. Troyansky, Old age in the old regime: image and experience in eighteenth-century France, Ithaca, London 1989, S. 205–207), wurden aber auch im französisch beeinflussten Südwesten Deutschlands gefeiert, wie die Festrede von 1798 zeigt, die der Theologe und Philosophieprofessor Johann Neeb anlässlich eines Festes der Greise im Dekadenz-Tempel in Mainz gehalten hat (Johann Neeb, Vermischte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1821, S. 19–25). Vgl. Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen, Frankfurt a. M. 2000, S. 144–149 und 199– 221.

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und andererseits die pragmatische Funktion des ästhetischen Paradoxons, also die Intentionalität13 des Topos für den Altersdiskurs zu bestimmen.14 Der im Folgenden verwendete Toposbegriff knüpft an das vorwissenschaftliche, antike Verständnis der Topik als eines »Argumentationshabitus« an, der nach Lothar Bornscheuer durch die vier Strukturmomente der Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität gekennzeichnet ist. In diesem Sinn ist Topik eine »schöpferische Argumentationskunst«, die immer darauf zielt, in einem Topos Tradition und Innovation in ein Gleichgewicht zu bringen, das an der »argumentatorisch erreichbaren situativen Verbindlichkeit« der jeweiligen Aussage ausgerichtet ist.15 Intentionalität als situative Überzeugungskraft und Potentialiät als polyvalente Interpretationsbedürftigkeit eines Topos schränken dabei einander wechselseitig ein, so dass jeder schöpferische Toposgebrauch nur im Ausgleich zwischen bekanntem Wissen und neuer Bedeutung gelingen kann. Mit Ernst Robert Curtius’ grundlegender Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1949) hat der Toposbegriff Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden. Seither war die Forschung allerdings vor allem darum bemüht, feste Denk- und Ausdrucksschemata in der neuzeitlichen Literatur als antike Topoi zu identifizieren und die Geschichte ihrer Tradierung nachzuzeichnen.16 Dieses Erkenntnisinte-

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Auch wenn sich die charakteristische ›Unschärfe‹ des Toposbegriffs durch keine Definition aufheben lässt, schlägt Lothar Bornscheuer vier allgemeine Eigenschaften vor, die einen Topos auszeichnen: Neben ›Habitualität‹, also seiner kulturellen Verankerung im kollektiven Gedächtnis, und der damit in engem Zusammenhang stehenden ›Symbolizität‹, seiner »formelhaften Fixierung« mit dem Ziel größtmöglicher Einprägsamkeit und Merkfähigkeit, sind es vor allem die Aspekte seiner ›Potentialität‹ und ›Intentionalität‹, welche die Toposforschung für diskursanalytische und kulturhistorische Forschungen anschlussfähig machen. Vgl. Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1974, S. 91–108, hier S. 94. Vergleiche zum zu Grunde gelegten Toposbegriff auch die Einleitung des vorliegenden Bandes. Eine theoretische Integration von Topos- und Diskursanalyse liegt bisher noch nicht vor, obwohl bereits früh von Lothar Bornscheuer und Conrad Wiedemann gefordert (vgl. hierzu im vorliegenden Band den Forschungsüberblick des Beitrags von Miriam Haller). Ungeachtet dessen, berücksichtigen diskursgeschichtliche Analysen jedoch die topisch verdichteten und generalisierenden Altersbilder in ihrem Wandel (vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 14–16). Ebd., S. 93 und 103. Zur Problematik von Curtius’ unscharfer Begrifflichkeit, die eine Konstanz des Ausdrucks wie des gedanklichen Inhalts nahe legt, und dem Bemühen der nachfolgenden Forschung um alternative Bezeichnungen vgl. Max L. Baeumer, »Vorwort«, in: M. L. B. (Hrsg.), Toposforschung, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 395), S. VII-XVII, hier S. X–XI und S. XV–XVI. Auch die frühe Toposforschung, vertreten durch August Obermayer, Otto Pöggeler und Walter Veit, hat bereits darauf hingewiesen,

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resse und die von Curtius selbst genannten Beispiele führten dazu, dass Topoi entweder als wiederkehrende rhetorische Gestaltungsmerkmale oder als substantielle Motivkerne aufgefasst wurden. Bereits die problematische Gleichsetzung der Topoi mit erstarrten Inhalten, Beispielsätzen und Sentenzen, wie sie etwa Johann Gottfried Herder symptomatisch für die Literaturkritik des ausgehenden 18. Jahrhunderts formulierte, hatte den Unterschied zwischen dem variablen Muster und der konkreten Aussage ausgeblendet.17 Seither ist das Variationspotential aus dem Blick geraten, das einem Topos nicht trotz, sondern gerade aufgrund seiner Wiederholbarkeit innewohnt.18 Das innovative Moment, das der intertextuellen Variation topischer Muster innewohnt, wird nach wie vor zu wenig beachtet.19 Wilhelm SchmidtBiggemanns These, dass sowohl die heuristische Topik als auch die materialen Topoi »Muster zur Generierung neuen Wissens« dar-

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dass die Toposforschung nicht nur die Identifikation antiker Topoi in der neuzeitlichen Literatur zum Gegenstand hat, sondern auch den historischen Wandel ihrer Semantik beschreibt. Vgl. hierzu exemplarisch die diachrone Untersuchung von Walter Veit, Studien zur Geschichte des Topos der Goldenen Zeit von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Diss. Köln 1961, und die grundlegenden Überlegungen zur Aktualität von Curtius’ Modell einer modernen Toposforschung in den beiden titelgleichen Überblicksbänden zur Toposforschung herausgegeben von Peter Jehn (1972) und Max L. Baeumer (1973). Herders zeittypische Kritik an der Topik mögen zwei Textstellen verdeutlichen: In der Skizze »Jugend und Veraltung Menschlicher Seelen«, die Herder in das Journal meiner Reise im Jahr 1769 aufnahm, vergleicht er die altersstarre Erfahrung der Greise mit den loci communes (Johann Gottfried Herder: »Journal meiner Reise im Jahr 1769«, in: J. G. H., Werke in zehn Bänden, Bd. 9/2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften, hrsg. von Rainer Wisbert / Klaus Pradel, Frankfurt a. M. 1997, S. 115) und im ›Briefwechsel über Ossian‹ polemisiert er in ähnlich bildungskritischer Absicht gegen die künstliche Langeweile eines »dogmatischen locus« (Johann Gottfried Herder, »Von deutscher Art und Kunst«, in: J. G. H., Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hrsg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, S. 488). Zum Spannungsverhältnis von Wiederholung und Differenz in der Topik, das auch als performativer Resignifikationsprozess beschrieben werden kann, der sich nicht nur auf die Wiederholung einzelner Topoi, sondern auch auf die Ebene der narrativen Darbietung erstreckt, vgl. auch den Beitrag von Miriam Haller im vorliegenden Band. Dass sich die Topik sowohl an den Strukturalismus anschließen ließe wie auch eine »Nahtstelle für intertextuelle Prozesse« darstellt, hat für die Frühe Neuzeit Wolfgang Neuber gezeigt. Topik, so Neuber, »strukturiert die Vorgaben, steuert eine eventuelle Systemreferenz und organisiert die Aktualisierung der Prätexte«. Der vorgeschlagene weite Begriff von Intertextualität schließt neben der Bezugnahme auf Texte auch die wiederholte Auseinandersetzung mit Themen und Sachfragen ein und öffnet sich so auch für die topische Struktur der Texte (vgl. Wolfgang Neuber, »Topik und Intertextualität. Begriffshierarchie und ramistische Wissenschaft in Theodor Zwingers METHODUS APODEMICA, in: Wilhelm Kühlmann / W. N. (Hrsg.), Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt a. M., Berlin, Bern u.a. 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 253–278, hier S. 254f.).

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stellen,20 gilt es für die historische Literaturanalyse erst noch fruchtbar zu machen. Das Desiderat ist hingegen schon älter: So hat in den 1980er Jahren Karl Allgaier gefordert, die literaturwissenschaftliche Kategorie der Originalität durch diejenige des »Toposbewußtseins« zu ergänzen, da das Originalgenie sich erst sowohl durch »die tiefe Einsicht in die Historie, auf der das Individuum steht, als auch durch aktives Wissen um die Potentialität der Muster, gegen deren Erstarrung es sich stemmt«, auszeichnet.21 Dass die Topik bereits bei Aristoteles nicht nur auf eine rhetorische Überzeugungsabsicht zielt, die sich möglichst vertrauter und anschaulicher Muster bedient, sondern auch eine eigene Erkenntnisleistung diesseits analytischer Begründung zu vollbringen vermag, zeichnet Walter F. Veit im Kontext seiner Theorie von der Literatur als System ästhetischer Argumentation nach.22 Insbesondere dort, wo das Neue und Unerklärte zur Sprache drängt, geht die Topik als bildkräftige Heuristik der rationalen Analytik voraus, da sie an jenen Vorstellungsbildern mitwirkt, die den Blick für das Neue erst zu öffnen vermögen und dessen Eigenart so grundlegend erfassen, dass die wissenschaftliche Kognition auf ihre Sprachbilder und Formeln aufbauen kann.23 Die Analyse folgt dabei dem von Wilhelm Schmidt-Biggemann und Anja Hallacker beschriebenen Transformationsmodell, nach dem Topoi über den Prozess der Fragmentierung und spielerischen Rekombination Meinungswissen nicht nur tradieren, sondern auch neu generieren. Schmidt-Biggemann und Hallacker sprechen in diesem Zusammenhang von Übergangsphasen, in denen alte Ordnungszusammenhänge aufbrechen und bestehende Ordnungsmuster ihre integrative Kraft verlieren. Die Tendenz zur Fragmentierung, die in solchen Phasen der Wissensgeschichte beobachtet werden kann, zeichnet sich dadurch aus, dass die Topoi »aus den Bindungen traditioneller Wissensformationen entlassen und für einen flüchtigen Augenblick sozusagen freigesetzt« und so »zum historischen Spielmaterial neuer

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Wilhelm Schmidt-Biggemann / Anja Hallacker: »Topik. Tradition und Erneuerung«, in: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, hrsg. von Thomas Frank / Ursula Kocher / Ulrike Tarnow, Göttingen 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 1), S. 15–27, hier S. 16. Vgl. den am Genre des Detektivromans exemplarisch argumentierenden Aufsatz von Karl Allgaier, »Toposbewusstsein als literaturwissenschaftliche Kategorie«, in: Dieter Breuer / Helmut Schanze (Hrsg.),Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 264–274, hier S. 266. Vgl. Walter F. Veit, »Topics and the Discovery of the New«, in: Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart, Weimar 2004, S. 59–80. Zum Vorrang der Imagination und der innovativen Einbildungskraft vor der Analytik siehe ebd., S. 74f.

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Arrangements [werden], die entweder in eine neue Stabilität münden oder zum Zwecke des weiteren Experimentierens erneut fragmentiert werden«.24 Ein Topos, wie er im Folgenden verstanden wird, ist demnach ein anerkanntes »Vorstellungsmodell«,25 das voranalytisches Wissen in der variierenden Wiederholung jeweils so zur Anschauung bringt, dass es zu einem ästhetischen Argument werden kann, mit dem auch solches zur Sprache kommt, das sich einem rational begründenden Erklärungsmodell zunächst entzieht. Die Topik, traditionell ein Teil der inventio, stellte immer dann ein Reservoir neuer Ausdrucksmuster zur Verfügung, wenn die bestehenden hierarchischen Begriffssysteme aufgebrochen und die loci communes neu geordnet wurden. Ausgangspunkt für eine literaturhistorische Analyse der schöpferischen Einbildungskraft eines Topos können daher jene topischen Wissensfragmente sein, die in Musterbüchern und poetischen Katalogen verzeichnet wurden und die an der Schwelle zur Neuzeit eine, wie es Schmidt-Biggemann formuliert, »neue Disposition von Wissen« erst schufen, in der sich »die Topoi neu und selbständig entfalten« konnten.26

2. Fragmentierung Das inhaltlich determinierte Kompositum ›Alterstopos‹ weist bereits darauf hin, dass es zunächst um jene loci communes geht, die im Spätmittelalter und Humanismus thematisch geordnet und im 17. Jahrhundert in poetischen Formelbüchern zusammengestellt wurden.27 Diese Kata-

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Wilhelm Schmidt-Biggemann /Anja Hallacker, »Topik. Tradition und Erneuerung«, in: Thomas Frank / Ursula Kocher / Ulrike Tarnow (Hrsg.), Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 15–27, hier S. 23. Um einerseits den Aussagecharakter eines Topos, um mit Bornscheuer zu sprechen seine Intentionalität, wie auch seine besondere Anschaulichkeit zu erfassen, die in der gedanklich-philosophischen Rede vom Topos als ›Redeweise‹ verloren geht, schlägt August Obermayer für die Literaturwissenschaft vor, Topoi als ›Vorstellungsmodelle‹ zu verstehen (vgl. Obermayer, »Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft«, S. 156). Ebd., S. 24. Zur Rhetorisierung und inhaltlich orientierten Katalogisierung der loci in der Frühen Neuzeit, insbesondere durch Philipp Melanchtons Elementa Rhetorices (1519) vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983 (Paradeigmata 1), S. 15–21.

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loge28 listen umfassend Ausdrücke und Sentenzen eines semantischen Feldes auf und dienten neben der Dokumentation des Sprachwissens insbesondere auch der Unterrichtung des Redners und Dichters.29 Solche alphabethischen Register der Dinge (res) mit den systematisch zugehörenden Worten (verba), die wiederum meist in alphabetischer Reihung aufgeführt werden, markieren in ihrer Mischung aus alphabetischer und systematischer Ordnung einen hohen Grad an Fragmentierung. Die Kataloge sollten vornehmlich dem Dichter die Mühen der rhetorischen inventio und dispositio erleichtern und folgen dem von Martin Opitz im Buch von der deutschen Poeterey beschriebenen Zusammenhang von Dichtkunst und Rhetorik. Aber schon die umfassende, kaum mehr systematisch begründete Ordnung der Dinge

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Zu den am weitesten verbreiteten und zum Teil im Nachdruck vorliegenden Katalogen gehören in zeitlicher Reihung Michael Bergmann: Deutsches Aerarium Poeticum, oder Poetische Schatz-Kammer. in sich haltende Poetische Nahmen/ Redens Arthen und Beschreibungen/ so wohl Geist- als Weltlicher Sachen/ Gedicht und Handlungen; Zu Verfertigung eines zierlichen und saubern Reims/ auff allerhand fürfallende Begebenheiten: Theils aus Hhn. Martin Opitzens/ Paul Fleminges/ Andreas Tscherninges/ George Phil. Harsdörffers/ Johan[n] Franckens […] zusammen getragen; Theils aus dem Lateinischen […]. Wercke/ Hn. M. Melchior Weinrichs […] übersetzet, Anitzo auffs neue […] vermehret. Zum andern Mahl in Druck gegeben durch M. Michael Bergmann, Landsberg an der Warthe, 1675 [EA Jena 1661]; Gottfried von Peschwitz, Jüngst-erbauter hoch-teutscher Parnaß./ Das ist/ Anmuthige Formlen/ Sinnreiche Poetische Beschreibungen/ und Kunst-zierliche verblühmte Arten zu reden/ aus den besten und berühmtesten Poeten unserer Zeit/ mit Fleiß zusammen getragen, Hamburg 1663 und als spätes Beispiel Johann Georg Hamann, Poetisches Lexicon, oder nützlicher und brauchbarer Vorrath von allerhand Poetischen Redens-Arten, Beywörtern, Beschreibungen, scharffsinnigen Gedancken und Ausdrückungen. Nebst einer kurtzen Erklärung der mythologischen Nahmen, Leipzig 1737. In engem Zusammenhang zu den poetischen Katalogen stehen die rhetorischen Musterbücher, die vor allem Anwendungsbeispiele für Gelegenheitsdichtungen versammeln und auch Beispiele für das Alterslob verzeichnen. Hierzu gehören vor allem die zwischen Rhetorik und Poetik changierenden Handbücher von Balthasar Kindermann, Der Deutsche Poet/ Darinnen gantz deutlich und ausführlich gelehret wird/ welcher gestalt ein zierliches Gedicht/ auf allerley Begebenheit/ auf Hochzeiten/ Kindtauffen/ Gebuhrts- und Nahmens-Tagen/ Begräbnisse/ Empfah- und Glückwünschungen/ u.s.f., Wittenberg 1664, und Balthasar Kindermann, Teutscher Wolredner. Auf allerhand Begebenheiten im Stats- und Hauswesen gerichtet, Jena 1680. Ein spätes Beispiel für die rhetorisierte und noch an den Toposkatalogen ausgerichteten Musterbücher ist Christian Schröter, Gründliche Anweisung zur deutschen Oratorie nach dem hohen und sinnreichen Stylo der unvergleichlichen Redner unseres Vaterlandes, Leipzig 1704. Die heuristische Funktion der Toposkataloge auch für eine diskursanalytische Interpretation von Texten untersucht Conrad Wiedemann, »Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Topos-Katalogen«, in: Dieter Breuer / Helmut Schanze (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 233–255, hier S. 248f.

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deutet bei Opitz auf ein zunehmend enzyklopädisches Verständnis der Poesie hin.30 Die Lexikalisierung der materialen Topoi, welche die »erfindung der dinge« erleichtern sollte, schlug sich in zum Teil mehrbändigen poetischen Aerarien und Formelbüchern nieder, in denen Lemmata aus allen Bereichen des Lebens, der Historie und der Mythologie – also res im weitesten Sinn – verzeichnet sind. Solche Registraturen des Sprachwissens wurden noch bis Anfang des 18. Jahrhunderts als Lehrund Handbücher fortgeschrieben und neu aufgelegt. Unter dem Schlagwort ›Alter‹ etwa findet man Ausdrücke aufgelistet, die in einer attributiven, synonymen, logischen oder analogen Beziehung zum Lemma stehen und so eine Gruppe semantischer Relationen bilden. Oftmals ergänzt um gelungene Beispiele aus der volkssprachigen Literatur, kanonisierten die Kataloge auch ursprünglich innovative Bilder, bis diese schließlich wiederum zu Klischees absanken. Formal markieren sie jenen Übergang, an dem die Topoi allmählich aus der Systematik gelöst und zu »alphabethisch-unhierarchisch geordneten Lemmata in den Enzyklopädien« wurden.31 Dieser Wechsel zeigt sich etwa, wenn man Michael Bergmanns 1661/1662 herausgegebenes Deutsches Aerarium Poeticum mit Gottfried von Peschwitz’ Formelbuch Jüngsterbauter hoch-teutscher Parnaß von 1663 vergleicht. Michael Bergmanns Deutsches Aerarium Poeticum ist ein Beispiel, an dem sich die Fragmentierung, wie sie in poetischen Katalogen durch die alphabethische Anordnung vollzogen wurde, gut nachzeichnen lässt. Während die Lemmata in einer hierarchisch-systematischen Ordnung, die von Gott bis zu den Handwerkskünsten reicht, aufgenommen sind, stehen die zugeordneten Ausdrücke und Metaphern in streng alphabetischer Reihung. So verzeichnet das Lemma ›Alter‹ zunächst die attributiven loci nach dem inneren Wesen des Alters und den Beziehungen zu diesem, bevor nach einer Reihe von Genitivmetaphern (Z. 19–20) im dritten Teil literarische Sentenzen unter anderem

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»Weil die Poesie/ wie auch die Rednerkunst/ in dinge vnd worte abgetheilet wird; als wollen wir erstlich von erfindung vnd eintheilung der dinge/ nachmals von der zuebereitung vnd ziehr der worte […] reden«. Die Verschiebung von einer topischen zu einer umfassend enzyklopädischen inventio deutet sich in der anschließenden Formulierung an: »Die erfindung der dinge ist nichts anders als eine sinnreiche faßung aller sachen die wir vns einbilden können / der Himlischen vnd jrrdischen / die Leben haben vnd nicht haben / welche ein Poete jhm zue beschreiben vnd herfür zue bringen vornimpt« (Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey. Breslau 1624. Nach der Edition von Wilhelm Braune neu herausgegeben von Richard Alewyn, Tübingen 1963, S. 17). Zur Ablösung topischer Begriffssystematik in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts vgl. Neuber, »Topik und Intertextualität«, S. 272f.

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von Georg Philipp Harsdörffer und Martin Opitz den Katalog vervollständigen: Alter. Das abgelebte / abgematte / Adlergleiche / angenehme / Arbeitsvolle / arme / ausgediente / ausgelebte / bejahrte / beraubte / beredte / bereiffte mit weissem Haare / berunzlichte / betriegliche / blasse / blinde / Blut-leere / Brunstfreye / dürfftige / dürre / dunckel-äugige / ehrliche / entblöste / entkrafftende / erkalte / erschöpffte an Kräfften / euserste / faule / gebrechliche / gebückte / gefrorne / gefällige / geizige / gelblich-schwarze / Gewinsüchtige / graue / greise / greißgraue / grüne / heilige / herannahende / Hirschengleiche / hochbetagte / hochgebrachte / Jahren-reiche / kahle / kalte / karge / kindische / klägliche / klagende / köstliche / kommende / kräfftige / Krafftlose / krancke / krumme / krummgebückte / künfftige / lange / langlebige / langsame / lasse / Lebens-satte / müde / mürbe / närrische / Nestorische / Nestor-kluge / nimmer-satte / nüchterne / Pilische / Raths-verständige / reife / rohe / ruhliche / Runzel-volle / schändliche / Scherben-dürre / schleichende / schwache / selige / späte / Todesnahe / Todessichre / träge / traurige / verdrißliche / verfrorne / vergeßliche / verheißne / verjüngte / verlaßne / verneuerte / verweilende / vierfüßige / unbegnügte / ungeschickte / ungestalte / unverlezte / untergehende wie die Sonne / Waffen-lose / weise / weisse / weißbeschneyte / welcke / wiedersinnische / wohlbetagte / Zeit-reiche / zitternde / Alter. Das Alterthum. Des Alters Jahre / Schnee / Schwere / Unglück / Zeiten. Die Schmerzenschwere Bürde Harsd. Die rechte Ehren-Zeit. Die grauen Jahre. Fr. Der Jahre Schwerigkeit / Vielheit / Winter. Der altgewordne Leib. Feind der Schönheit. A. o eine schöne Wahr / der Mutter krummer Halß / des Vatern graues Haar. Op. Die greise Zeit / die unsre Cörper macht ganz Geistund Seelenleer. Das weiß an Kinn und Sinnen kommt geschlichen auff leisen Füßen her / verendert die Gestalt. A. Zeucht Furchen auff der Stirn. So unvermercket uns dem Grabe näher bringt. Das auff vier Füßen geht. So klüglich weiß zurathen. Vertreibt die Liebes-Brunst. Id.32

Aufgrund der alphabetischen und nicht systematischen Zusammenstellung sind die loci, die das Alter in Beziehung zum Winter setzen, über den ganzen Artikel verteilt. Folgt man dem Alphabet, so ist das Alter das »bereiffte mit weissem Haare« (Z. 2/3), das »erkalte« (Z. 5), das »kahle, kalte, karge« (Z. 8), das »weißbeschneyte« (Z. 17) und das »zitternde« (Z. 18). Liest man sie zusammen, entsteht ein dichtes Netz aus Analogien, welche in den Genitivmetaphern von des Alters »Schnee« (Z. 19) und dem Alter als »der Jahre Winter« (Z. 20f.) kulminieren. Die Ähnlichkeitsrelation wird insbesondere über die weiße Färbung, die Unfruchtbarkeit (das »Brunstfreye« Alter, Z. 4; das Alter »Vertreibt die Liebes-Brunst«, Z. 26) und die Kälte hergestellt. Besonders deutlich wird die Dominanz des Wintervergleichs aber unter dem Stichwort ›Graue Haar‹. Das graue Haar, das metonymisch für das Alter steht, erscheint vom Winter der Jahre »gräulich-weiß-bereifft[ ]«,

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Bergmann, Deutsches Aerarium Poeticum, S. 667–669.

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»Schnee-weiss[ ]« oder ist nur »Schnee«.33 Im Nebeneinander der ganz unterschiedlichen Adjektive wird einerseits die Ambivalenz zum Teil widersprüchlicher Altersbilder augenscheinlich, andererseits lösen sich die Zuschreibungen aus ihren systematischen Zusammenhängen und öffnen sich hin zu neuen Kombinationen, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft zum »kahle[n], kalte[n], karge[n]« auch das »kindische« Alter erscheint. Die nicht hierarchische Ordnung der Alterstopoi ermöglicht so freie Rekombinationen. In Gottfried von Peschwitz’ Formelbuch Jüngst-erbauter hoch-teutscher Parnaß sind demgegenüber die Lemma bereits ganz unsystematisch allein nach dem Alphabet geordnet und verweisen vor allem auf die Kanonisierung vorbildlicher Ausdrucksformen aus der Literatur, wenn etwa unter dem Lemma ›Alter‹ Zitate aus Werken von Opitz und Harsdörffer aber auch von Paul Fleming und Andreas Tscherning versammelt sind. Während der Kanon der Musterautoren weitgehend identisch ist, fehlen die allgemein anerkannten Attribute, Vergleiche und verblassten Metaphern. Opitzens poetisches Bild vom Alter als der Zeit, Wann das Haar/ des Hauptes Kleid/ Mit dem kalten Schnee befält: Wann der Kräfften Winter kömmt Und die Seiten linder stimmt,34

erstarrt so mit der Aufnahme in das Formelbuch selbst zum Klischee. Vor allem gegen diese Form der Kodifizierung poetischer Metaphern wandte sich die Kritik des 18. Jahrhunderts. Zugleich nahm mit dem Verlust an externer Referentialität aber die textimmanente Präsenz des Topos zu.35 Die Anschaulichkeit der Exempel übersteigt in der Regel die Intentionalität des topischen Arguments: So wird die Analogie zwischen Winter und hohem Alter von einer Spannung aus zyklischer Jahreszeit und linearer Lebenszeit begleitet, die im Zuge der Aufklärung nach einer ästhetischen Lösung verlangte, welche sowohl den Gedanken des Lebensfortschritts als auch die rationale Stimmigkeit des Topos berücksichtigen musste. So bilden gerade die in den Katalogen fragmentierten und erstarrten Topoi im 18. Jahrhundert den Anstoß zur ästhetischen »Beherrschung des gewöhnlich unterbewussten Anteils am Habitus zugunsten bestimmter Absichten«.36

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Ebd., S. 547. Peschwitz, Jüngst-erbauter hoch-teutscher Parnaß, S. 29. Vgl. Neuber, »Topik und Intertextualität«, S. 270f. So die These von Karl Allgaier, der auch in der Moderne ein Fortleben der Topoi erkennt, das sich als »Toposbewußtsein« von der Genieästhetik bis zur Gegenwartsliteratur nachweisen lässt (vgl. Allgaier, »Toposbewusstsein als literaturwissenschaft-

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3. Rekombination Während die antike Gleichsetzung von hohem Alter und Winter in den Alterszuschreibungen nahezu aller Formelbücher auftaucht, ist die Spannung zwischen zyklischem und linearem Zeitmodell, die dem Topos anhaftet und die im Humanismus als memento mori gedeutet wurde, durch die alphabetische Fragmentierung in den poetischen Katalogen verloren gegangen. Die Lyrik der Empfindsamkeit greift insofern auf das humanistische Toposbewusstsein zurück, als sie den Wintervergleich wieder in den Zusammenhang der Jahreszeitenanalogie stellt. Dabei ermöglicht jedoch die Fragmentierung des erstarrten Bedeutungszusammenhangs eine neue Habitualisierung des Musters im neuzeitlichen Topos vom ›Greis im Frühling‹, nachdem der semantische Überschuss der Allegorie in den Katalogen freigestellt wurde. Die Figur des Greises im Frühling kombiniert somit zwei Traditionen, den wertungsfreien Jahreszeitenvergleich und das memento mori humanistischer Altersdichtung, um den dissonanten Topos vom Alter als Winter des Lebens neu zu deuten. Schon Konrad Celtis markiert in der Ode Ad senectutem suam (1494/95) den logischen Bruch in der Jahreszeitenanalogie, wenn er zunächst den allegorischen Wintervergleich detailliert ausführt, um dann in der Mitte des Gedichts (ab V. 8) umso deutlicher herauszustellen, dass zwischen der endlichen Lebenszeit, die kein Herrscher der Welt zu besiegen vermag (V. 16–18), und dem Naturkreislauf der Jahreszeiten eine unüberwindbare Differenz besteht. Während der Frühling die Gesamtheit des Lebens leicht aus der Starre des Winters wieder heraufführt (cuncta lubricus reducit annus, V. 8), verweigert Proserpina dem Menschen den Weg zurück ins Leben (reduci negat ire via, V. 15). Dem Greis ist kein Lebensfrühling mehr beschieden: AD SENECTVTEM SVAM. I IAm mihi tristis hyems Boreasque rigentibus procellis, Incana menta sparserant pruinis.

_____________ liche Kategorie«, S. 266). Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Rudolf Drux, der den Topos von der ›dichterischen Ahnenreihe‹ bei Bertolt Brecht als ein Paradigma dafür untersucht, dass »identische Argumentationsmuster zu ganz verschiedenen Momenten der Zeit- und Geistesgeschichte unterschiedliche Konkretationen erfahren und daß mit gewandelten Intentionen demselben formalen Material andere kommunikative Funktionen zugemessen werden« (Rudolf Drux, »Aspekte literaturwissenschaftlicher Toposanalyse. Am Beispiel der ›dichterischen Ahnenreihe‹ des Bertolt Brecht«, in: Dieter Breuer / Helmut Schanze (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 275–286, hier S. 284).

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Et modo testa mihi glabrescit perditis capillis, Squalent vt arbores comis solutis. 5 Quas Capricornus atrox & aquarius algido rigore Denudat, & suo spoliat decore. Quae tamen ad verni reparantur syderis calores, Dum cuncta lubricus reducit annus. Sollicitatque suis stimulis Venus incitata ab astris, 10 Vt prole terras impleat renata. Ast vbi pigra semel nostris venit artubus senectus Et mors supremo nos locat feretro, Imperiosa trahit Proserpina sub suum cubile, Quod ferreis cum vectibus serauit. 15 Et reduci negat ire via, nos alligans sopore Quo nullus excitabitur sepultus. Sit quamvis Rheni dominus, vel Vistulae colonus, Istri vel Arctoi sinus tyrannus.37

Noch deutlicher formuliert Erasmus in einem Brief an Wilhelm Copus, der als ›Lied an das Alter‹ bekannt wurde, die exzentrische Positionalität des Menschen, die aus dem Bewusstsein resultiert, dass der endlichen Lebenszeit eine unendlich scheinenden Erneuerung der Natur gegenübersteht: Sol mergitur vicissimque 155 Exoritur nouus et nitido redit ore serenus. Extincta luna rursum Nascitur inque vices nunc decrescente minuta Sensim senescit orbe, Nunc vegeta arridet tenero iuueniliter ore. 160 Redit ad suam iuuentam Bruma vbi consenuit, Zephyris redeuntibus, annus Et post gelu niueisque Ver nitidum floresque reuersa reducit hirundo.

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[1. Auf sein Alter. Schon haben mir der bittere Winter und der Nordwind mit durchdringenden Stürmen das Kinn mit Reif grauweiß besprengt, und kahl ragt nun mein Schädel nach Verlust der Haare, wie Bäume traurig dastehn, wenn das Laub abgefallen ist, sie, die der furchtbare Steinbock und der Wassermann mit starrer Kälte entblößen und um ihre Zierde bringen. Sie jedoch gewinnen neue Kraft bei der Wärme des Frühlingsgestirnes, wenn der Kreislauf des Jahres alles wieder heraufführt und Venus, bewegt vom Lauf der Sterne, mit ihren Reizen alles erregt, um die Länder mit wiedererstandenem Sproß zu erfüllen. Aber wenn unsere Glieder erst einmal das starre Alter ergreift und uns der Tod auf die letzte Bahre hinstreckt, dann zieht uns gewaltig Proserpina auf ihr Lager, das sie mit eisernen Riegeln eingeschlossen hat, und verweigert uns, den Weg zurückzugehen, fesselt sie uns mit ihrem Schlaftrunk, aus dem keiner im Grab wieder erwacht, mag er auch Herr am Rhein sein oder Siedler an der Weichsel oder Tyrann an der Donau oder im nordischen Land.] Konrad Celtis, »Ad senectutem suam I / 1. Auf sein Alter«., in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, lateinisch und deutsch, hrsg. von Wilhelm Kühlmann / Robert Seidel / Hermann Wiegand, Frankfurt a. M. 1997, S. 62–65.

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At nostra posteaquam 165 Feruida praeteriit saeclis labentibus aestas, Vbi tristis occupauit Corpus hyems capitisque horrentia tempora postquam Niue canuere densa, Nulla recursuri spes aut successio veris.38

Während Sonne, Mond und Jahreszeiten vergehen und wiederkehren (V. 154–163), bemächtigt sich der Lebenswinter auf immer des menschlichen Körpers. So gibt es auch bei Erasmus weder eine Hoffnung auf Rückkehr noch auf einen weiteren Frühling (Nulla recursuri spes aut successio veris, V. 169). Beide Texte veranschaulichen über den inneren Widerspruch des Topos die marginale Stellung des Menschen in der Zeit. Der Topos des Alters als ›Winter des Lebens‹ war um 1500 somit sowohl ein eindringliches memento mori als auch ein Vorstellungsmodell für das Missverhältnis, dass der Kürze der endlichen Lebenszeit eine fortdauernde Weltzeit gegenübersteht.39 Daher verlangte das Vorstellungsmodell ›Winter des Lebens‹ im Zuge der Aufklärung nach einer Deutung der mitgeführten divergierenden Zeitkonzepte. Hierzu wurde die topische Begriffsordnung aufgebrochen und von einem rationalen Erklärungsmodell abgelöst, das die Polyvalenz des Topos aufzulösen suchte. Die Altersgedichte der Aufklärung indes greifen auf ein anderes neulateinisches Vorbild zurück, das den Wintervergleich des Lebensendes variiert, indem es die beiden gegenläufigen Zeitmodelle angleicht. Der stoischen Annahme eines begrenzten und marginalen menschlichen Lebens, wie es bei Celtis im Bild des ewigen Winters zum Ausdruck kommt, und der christlichen Ausrichtung auf das Jenseits, zu der Erasmus sich selbst ermahnt, stellt Matthias Casimir Sarbiewski in seiner Ode Vitæe humanæ brevitatem benefactis extendendam

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[Die Sonne versinkt und erhebt sich dafür wieder als eine neue und zeigt der Welt heiter ihr strahlendes Antlitz. Der Mond, der erloschen schien, beginnt wieder zu wachsen und dann wiederum zu altern, wenn sich sein Kreis wieder allmählich verkleinert und er an Umfang verliert; nun lächelt er wieder, belebt, mit jugendlich zartem Antlitz. Das Jahr gewinnt seine Jugend wieder, wenn der Winter alt geworden ist und der Zephyr zurückkehrt, und nach Schnee und Kälte bedeutet die Wiederkehr der Schwalbe den strahlenden Frühling im Schmucke der Blumen. Aber wenn unsere Zeit verronnen und unser glühend heißer Sommer vergangen ist, der Winter sich des Körpers bemächtigt hat und das struppige Haupt durch eine dichte Schneedecke weiß geworden ist, dann gibt es keine Hoffnung auf Rückkehr des Frühlings, und ein anderer kommt sicher nicht mehr.] Erasmus: »An Wilhelm Copus, den hochbegabten Arzt, ein Lied über das Alter«, in: E., Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden, Bd. 2, hrsg. von Werner Welzig, Darmstadt 1975, S. 340–357, hier S. 350. Zur Marginalisierung des menschlichen Zeitmaßstabes von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert vgl. Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 100–170.

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esse den Aufruf zum carpe diem entgegen.40 Denn nur so könne die fama gemehrt werden, die dem humanistischen Verständnis nach allein dem Zugriff der Horen und damit der Sterblichkeit entzogen ist. Die Diskrepanz zwischen der Fortdauer der Natur und dem Leben, das keinen zweiten Frühling kennt, wird so im Fortleben der geistigen Werke ausgeglichen. Die Publius Memmius gewidmete Ode aus dem zweiten Buch der Gedichte (Liber Lyricorum II, Ode 2) wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrfach rezipiert. Dies zeigen etwa die Übersetzungen Des Lebens Winter von Johann Gottfried Herder41 und Das Alter von Johann Nikolas Götz42 sowie eine freie Bearbeitung durch Robert Burns The Winter of Life von 1794, die allerdings den humanistischen Trost der überdauernden fama am Ende ausspart und mit der melancholischen Erinnerung an die unwiederbringliche Jugend schließt.43 Götzens Übersetzung der neulateinischen Ode des so genannten ›polnischen Horaz‹ Matthias Casimir Sarbiewski aus dem Jahr 1746 unter dem Titel Das Alter steht noch ganz in der Abhängigkeit der poetischen Kataloge, wie eine ganze Reihe formelhafter Wendungen zeigt, die den Topos vom Alter als Winter des Lebens gestalten. Die barocke Form der sapphischen Ode44 intoniert in der ersten von fünf Strophen den Widerspruch zwischen der Zyklik der Jahreszeiten und der Endlichkeit des menschlichen Lebens, der den eigentlichen Kern der humanistischen Toposvariation darstellt: Welcher die Thäler izt bedeckt, der Winter, Blöset sie wieder, wenn die nahen Hügel Phöbus bestrahlet. Niehmals, wenn des Alters Schneeichter Winter

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Der vom Jahreszeitenwechsel abgeleitete Aufruf zum carpe diem findet sich bereits in der Antike, so etwa in Horaz’ Frühlings-Ode an Lucius Sestius (Horaz, Oden, I, 4). Johann Gottfried Herder, »Des Lebens Winter«, in: J. G. H., Sämmtliche Werke, Bd. 27, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin 1881, S. 316. Johann Nikolaus Götz, »Das Alter. Des Sarbiewski zweyte Ode des zweyten Buchs«, in: J. N. G., Vermischte Gedichte, Bd. 1, hrsg. von Karl Wilhelm Ramler, Mannheim 1785, S. 57–58. Die Bearbeitung schließt mit den Versen: »Thou golden time o’ Youthfou’ prime, | Why comes thou not again!« (Robert Burns, The Complete Works, Bd. 6, hrsg. von James A. MacKay, Whitefish 2005 [Reprint der kommentierten Ausgabe von 1886], S. 35–36). Allerdings weicht sie in der Reimlosigkeit von der regelmäßig paargereimten barocken Form der sapphischen Ode ab. Götz ahmt, abgesehen vom identischen Reim »Winter«, der die erste Strophe rahmt, die unregelmäßigen Paarreime des Originals nicht nach. (Matthias Casimir Sarbievius, »Ode 2, Lib 2.«, in: M. C. S., Carmina. Nova editio, prioribus longè auctior & emendatior, Paris 1791, S. 57).

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Dir auf die Schläfe späten Reif gestreuet, Schmilzt er herunter.45

Herder, dessen Übersetzung enger der Vorlage folgt,46 verzichtet nicht nur auf die mythologische Paraphrase der Sonne als »Phöbus« (V. 3), sondern vermeidet auch die topisch verdichtete Genitivmetapher vom Winter des Lebens (V. 3–4), so dass die Alterität zwischen Naturbild und Lebensverlauf stärker konturiert wirkt: Der die weißen Thäler umhüllt, der Winter, Wird sie wieder enthüllen, wenn die Sonne Jene Berge bestrahlt. Ein anderer Winter, Wenn er dir einmal, Freund, mit Schnee und Reifen das Haubt bestreute, Weichet nimmer.47

Die empfindsame Lyrik des 18. Jahrhunderts greift – auch vermittelt durch die Rezeption der humanistischen Dichtung – das dialektische Vorstellungsmodell vom Winter des Lebens wieder auf. Allerdings wird die Jahreszeitenallegorie der Lebensalter dadurch variiert, dass in der Empfindsamkeit Greise mit einem Frühlingserlebnis konfrontiert werden. Auch ruft das Substantiv ›Greis‹ mit der Winterfarbe Grau ein semantisches Feld auf, das die paradoxe Gleichzeitigkeit von Winter und Frühling konturiert.48 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Frühling als Verkünder des Eros nicht mehr der natürliche Widerpart des Alters, wie ihn etwa Johann Christoph Rost in seiner anakreontischen Vers-

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Götz: »Das Alter«, S. 57. Im Original lauten die Verse Sarbiewskis: »Quae regit canas modò bruma valles, | Sole vicinos iaculante montes, | Deteget rursum. Tibi cum nivosæ | Bruma senectæ | In caput seris cecidit pruinis, | Decidet numquam« (Sarbievius: »Ode 2, Lib. 2«, S. 57). Herder kannte nachweislich Götzens Übersetzung, die er mit seiner Übertragung bewusst zu korrigieren suchte. Vgl. Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 17, hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin 1881, S. 173. Herder, »Des Lebens Winter«, S. 322. Die Schäfererzählung Der verliebte Alte von Johann Christoph Rost aus dem Jahr 1742 ist ein Beispiel dafür, wie die etymologische Semantik des Substantivs ›Greis‹ mit dem Frühling kontrastiert. Darin erscheint der als Greis bezeichnete Hirte Palemon, der sich in die junge Cintia verliebt hat, ganz dem traditionellen Topos gemäß als »ein abgelebter Mann, | Wie uns die Malerei den Winter bilden kann«. Die topische Gegenüberstellung von Winter des Lebens und Liebeswerben im Frühling präludiert dabei schon zu Beginn, dass der greise Freier an seiner mangelnden Libido scheitern wird (Christoph Rost, »Der verliebte Alte«, in: Chr. R., Schäfererzählungen, Berlin 1742, S. 63). ›Greis‹ als stark flektiertes Substantiv setzte sich zwar in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Neuhochdeutschen durch, die adjektivische Bedeutung ›grau‹ haftete dem Substantiv aber nach wie vor an, wie ambivalente Formen noch bis ins 18. Jahrhundert belegen (vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Lemma ›Greis‹, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, München 1984, Sp. 72–81, hier vor allem Sp. 73).

›Der Greis im Frühling‹

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erzählung Der verliebte Alte noch ganz in antiker Bildtradition darstellt.49 In der Figur des Greises, der einen vielleicht letzten Frühling erlebt, versucht die Zusammenführung von Frühling und Winter, die im hohen Alter manifeste Kürze des Lebens mit der ihr gegenüber indifferent fortschreitenden Zeit auszusöhnen.50 So wird die zyklische Zeitstruktur des Lebensaltertopos dahingehend aufgegriffen, dass an die Stelle des Topos vom Alter als ewigem Winter eine empfindsame Neuinterpretation des Frühlings aus der Perspektive des Alters tritt. Die drei empfindsamen Gedichte Frühlingslied eines Greisen (1774) von Christian Friedrich Schubart, Der blinde Greis. Im Frühling (1781) von Gotthold Friedrich Stäudlin und das Frühlingslied eines Greises (1788) von Heinrich Christian Lebrecht Senf verschieben die Bedeutung des Lebensaltertopos, indem sie die Todessemantik des Winters auf den Frühling als Sinnbild der Jenseitserwartung übertragen und so den konventionalisierten Gegensatz der Jahreszeiten aufheben. Dem Kreislauf der Natur, den der Tod durchbricht, werden ein regressiver und ein transzendentaler Zyklus gegenübergestellt. So wie sich in der Erinnerung an die Kindheit und Jugend der Kreis des Lebens schließt, so kehrt der Mensch mit dem Tod wieder ein ins Paradies. In allen drei

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Rosts kleine Verserzählung gehört nicht nur vom Titel her in die Motivtradition des verliebten Alten (vgl. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, Stuttgart 1980, S. 1– 11), er knüpft insbesondere mit seinem Spott über das impotente Alter an die seit der Antike im Motivkomplex verhandelte Unvereinbarkeit von jugendlicher Libido und Frühling auf der einen sowie Alter und unfruchtbarem Winter auf der anderen Seite an. Vgl. Ibykos, »Die Macht des Eros«, in: Griechische Lyrik, hrsg. von Dietrich Ebener, Berlin 1980, S. 172. Dass auch der Topos von der Wollust als Jugendlaster zur Unzeit des Alters in der Lyrik variiert wurde, so dass die normative Kritik zu einem Lob der Altersliebe umgedeutet wurde, kann hier nur am Rande angedeutet werdet. So mahnt Just Friedrich Wilhelm Zachariae in seinem Sinngedicht Der Greis und die junge Frau (1771) Zurückhaltung an, wenn er in traditioneller Weise daran erinnert, dass das Begehren des Alters mit dem sexuellen Verlangen der Jugend unvereinbar sei, was dem betroffenen Greis allerdings erst zu Bewusstsein gelangt, »nachdem sie manche Nacht | Sehr kalt zusammen zugebracht« (J. F. W. Z., Fabeln und Erzählungen. In Burcard Waldis Manier, Frankfurt, Leipzig 1771, S. 84). Demgegenüber mildert die Liebe in Wilhelm Müllers Gedicht Gruß des Winters den Gegensatz der Jahreszeiten und damit den der Lebensalter, wenn der in der Liebe verjüngte Greis ausruft: »Wenig bedarf ich des Mais, duftet der Winter mir so!« (W. M., Werke. Tagebücher. Briefe, Bd. 1: Gedichte I, hrsg. von Maria-Verena Leistner, Berlin 1994, S. 34). Zur antiken Perspektive auf die Wollust als Jugendlaster im Alter vgl. Gnilka, »Greisenalter« Sp. 1070f. Der Topos ›Greis im Frühling‹ antwortet auch auf die brüchige Analogie zwischen Lebensaltern und Fortschrittsidee, die schon Ende des 17. Jahrhunderts dazu führte, dass die letzte Lebensphase jenseits des Reifungsprozesses, also Alter und Tod, für die Veranschaulichung des geschichtlichen Fortschritts ausgeblendet werden musste (vgl. hierzu auch Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, S. 101). Die Figur des Frühlingsgreises lässt sich in diesem Kontext als Versuch deuten, den ganzen Lebenszyklus mit dem Fortschrittsmodell wieder in Einklang zu bringen.

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Gedichten blickt daher das greise Ich im Spiegel des Frühlings auf sein Leben zurück und dem eigenen Tod entgegen. Die kontrastive Trennung des auf den Tod gerichteten Lebenslaufs vom Kreislauf der Natur, die im Humanismus noch Anstoß zum memento mori und carpe diem war, erscheint in der empfindsamen Lyrik dadurch aufgehoben, dass in der Kreisbewegung von Erinnern und Erwarten ein verinnerlichter Lebenszyklus dem Naturzyklus angeglichen wird.51 Diese Entwicklung lässt sich exemplarisch an den themengleichen und intertextuell aufeinander bezogenen drei Gedichten von Schubart, Stäudlin und Senf nachzeichnen. Schubarts Frühlingslied eines Greisen52 erschien zuerst 1774 in der von ihm selbst herausgegebenen Deutschen Chronik und verschränkt den Ton der pietistischen Liedstrophe mit dem sentimental empfindsamen Ausdruck des greisen Sprecher-Ich: Frühlingslied eines Greisen

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Hier in diesem Paradiese Find’ ich bald – ach bald mein Grab; Alt bin ich, und meine Füße Stüzt schon dieser Dornenstab.

Bald werd’ ich die grünen Haine Und die Hecken nimmer sehn! – 15 Gott vergieb mirs, wenn ich weine; Denn die Welt ist gar zu schön.

Aus der schönen Welt zu scheiden, Guter Gott, das fällt mir schwer. Zwar erlebt’ ich manches Leiden, Aber doch der Freuden mehr.

Nachtigallen im Gesträuche, Lerchen in der blauen Luft, Singt auf, singt mir halben Leiche 20 Todtenlieder in die Gruft.

Athme deine Balsamdüfte 10 Mir zum leztenmal, Natur. Spielt, ihr warmen Frühlingsdüfte Mit den Silberlocken nur!

Doch ich schlafe! – Deine Güte Ist’s, du guter Frühling, du! – Decke mich mit Apfelblühte Ja dem sanften Schlummer zu.

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Erinnern und Erwarten hat zuerst Georg Lukács als Ausdruck eines spezifisch modernen Zeitgefühls beschrieben, das im Roman gegen die kontingente Verzeitlichung des Lebens aufgeboten wird: »Und aus diesem resigniert-mannbaren Gefühl entsteigen die episch echtgeborenen, weil Taten erweckenden und aus Taten entsprossenen Zeiterlebnisse: die Hoffnung und die Erinnerung; Zeiterlebnisse, die zugleich Überwindungen der Zeit sind: ein Zusammensehen des Lebens als geronnene Einheit ante rem und sein zusammensehendes Erfassen post rem« (G. L., Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, München 1994, S. 110). Christian Friedrich Daniel Schubart, »Frühlingslied eines Greisen«, in: Chr. D. Sch., Sämtliche Gedichte. Von ihm selbst herausgegeben. Zwei Bände, Bd. 2, Stuttgart 1786, S. 319–320.

›Der Greis im Frühling‹

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Trotz der Trauer über das nahe Verlassen der Welt überformt die Lobmetapher vom paradiesgleichen letzten Frühling die Jahreszeit mit der transzendenten Vorstellung eines ewigen Frühlings.53 Mit dem paradiesgleichen Frühling korrespondiert in der letzten Strophe das euphemistische Bild des sanften Todes im Frühjahrsschlummer. Die Schönheit des Frühlings, deren Verlust das greise Ich betrauert, ist zugleich tröstliches Bindeglied zwischen den Welten und wird so als Begleiterin ins Jenseits angerufen.54 Während in Schubarts Lied fast ausschließlich die Gegenwart des Alters mit der nahen Todeszukunft konfrontiert wird und es nur in den Versen sechs und sieben zu einem summarischen Rückblick kommt, erweitert Gottlob Friedrich Stäudlin sein auf siebzehn Strophen angewachsenes Lied Der blinde Greis. Im Frühling (1781)55 um eine längere Passage der Rückerinnerung, so dass die Gegenwart des Greises im Frühling von der Erwartung des Todes wie von der Erinnerung an die Jugend gerahmt wird:

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Vgl. die Beschreibung des Paradieses als ewigen Lenz etwa in Ovids Metamorphosen I, V. 107f. (Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1997). Zu den antiken Vorstellungsbildern des goldenen Zeitalters als eines jahreszeitenlosen Zustands ewigen Frühlings vgl. auch Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967, S. 187. Diese konsolatorische Vorstellung eines ewigen Frühlings, in den das Alter nach dem Lebenswinter eintrete, war in der moralischen und volkspädagogischen Dichtung des späten 18. Jahrhunderts weit verbreitet. So fand nicht nur Schubarts Frühlingslied eines Greisen Eingang in das Mildheimische Liederbuch, auch andere Lieder, die dem Greisentrost zugeordnet sind, rufen den Topos vom ›ewigen Frühling‹ auf. So etwa das anonyme Lied 327 Der Greis, das in den Strophen 6 bis 8 den altersschwachen Sänger tröstend ausrufen lässt: »Aber auch die Leiden fliehen, wie der Winter flieht, neue schöne Blumen blühen, und der Fruchtbaum glüht, Wiesen grünen, Wolken träufen, schöne goldne Saaten reifen, nach dem härtesten Winter doch. || Gottes Erd’ ist wie ein Garten, den man bauen muß: alle, die ihn gut bewarten, haben auch Genuß, sollen einst zu lauter Frommen in den schönsten Garten kommen, in die schöne andre Welt. || Da ist stete, stete Jugend, o wie wird’s da seyn! Stete Treue, stete Tugend, Menschen gut und rein, bessres Wissen, höh’re Kräfte, edle Freuden und Geschäfte treff’ ich in dem Garten an« (vgl. Rudolph Zacharias Becker, Mildheimisches Liederbuch von acht hundert lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann. Mit einem Nachwort von Günter Häntzschel, Stuttgart 1971 [Faks. der Ausgabe von 1815], S. 205–209, hier S. 205f.). Zur volksaufklärerischen Intention des Liederbuchs vgl. Gottfried Weissert, Das Mildheimische Liederbuch. Studien zur volkspädagogischen Literatur der Aufklärung, Tübingen 1966 (Volksleben 15), hier vor allem S. 11–37. Gottlob Friedrich Stäudlin, »Der blinde Greis. Im Frühling«, in: G. F. St., Proben einer deutschen Aeneis nebst lyrischen Gedichten, Stuttgart 1781, S. 146–150. In einer Fassung von 1788 hat Stäudlin neben Korrekturen (»Linden« statt »Lieder« in V. 11) die erste und dritte Strophe leicht verändert und so die allegorische Bedeutung des Frühlings als Jenseitsverheißung hervorgehoben (vgl. Gottlob Friedrich Stäudlin, »Der blinde Greis. Im Frühling«, in: G. F. St., Gedichte, Bd. 1, Stuttgart 1788, S. 21–26).

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Der blinde Greis. Im Frühling Leitet mich in jene Laube Du, mein Freund! und du, mein Stab! Leitet meine welken Füsse Hin durch die bethaute Wiese Und das Veilchenthal hinab!

Herrliche! im Frühlingskleide 45 Dich die ofnen Augen sahn! –

Nein! Du zürnst nicht! und die Thräne 5 Rechtet mit dem Schöpfer nicht! Lächelte mir doch dein Segen, Lasst mich schweben in dem Himmel, Deine Schönheit lang entgegen! Welchen nicht die Augen sehn! 50 Spät verlosch der Augen Licht! Strömt, in dieser Abendkühle, In mein Herz, ihr Lustgefühle! Mir den nahen Schlaf zu künden, 10 Mit der Weste lindem Wehn! Und die kühle Grabesruh Duftet süs, ihr schwanken Lieder! Düfte lieblich, Blütenstrauch! Zephir, komm im Duft der Rose, Fächle diese Wang’ und kose 15 Sie mit sanftem Liebeshauch! Neiget eure Wipfel nieder, Kirschenbäume, neubelaubt! Regnet, junge Blütenfloken; Weiss, wie meine Silberloken, 20 Regnet nieder auf mein Haupt! Singt, ihr Lerchen! Flötet Finken Hellen Melodienklang! Girre sanfter, Filomele! Sing aus wehmutvoller Seele, 25 Zärtliche! den Abendsang! Ist mein Auge gleich verschlossen; Ist doch offen meine Brust! Tief empfind’ ich deine Schöne, O Natur! Mir quillt die Thräne 30 In den Becher deiner Lust. Zürne nicht, wenn in die Thränen Eine Schmerzenthräne quillt! Dass dein holdes Antliz nimmer Lächelt mir im Frühlingsschimmer, 35 Dass mein Auge Nacht umhüllt. Dass ich dich im Veilchenthale, Und in grüner Wälder Nacht, Auf des blauen Berges Höhe Nimmer finde, nimmer sehe, 40 Dass mir nicht die Sonne lacht! Ach! wie war ich einst so seelig, Sank aufs Knie, und betet’ an, Als in deinem Brautgeschmeide,

Kam der Bote Tod, und drükte Eh er noch den Geist entrükte, 55 Sanftes Druks die Augen zu! Drük ihn fester an den Busen, O Natur! den müden Greis! Wie an’s Herz mit nassen Bliken Mütter ihren Säugling drüken, 60 Ueberströmt von Todesschweis! Ach! vielleicht zum leztenmale, Dass du, holde Frühlingsluft! Mit den Silberloken spielest, Mir die bleiche Wange kühlest, 65 Und mich labst mit Rosenduft! – Lebt dann wohl, ihr Lustgefilde! Thäler, Haine, lebet wohl! Dank für jede Freudenthräne, Die von eurer Himmels Schöne 70 Mir entlokt, vom Auge quoll! Für die süssen Blumendüfte, Für der Nachtigallen Lied! Für die heiligen Gefühle, Die mich in der Abendkühle, 75 In des Morgens Wehn durchglüht! Kömmst du, Tod! mich hinzuführen Durch das düstre Gräberthal; O so sei’s auf dieser Stätte, Hier auf dem bemoosten Bette, 80 In der Abendröthe Stral! Neige dann, bestreut von Blüthen, Und vom Nachtigallenchor Eingewiegt, zum Grabeshügel Dich, mein Haupt! Auf Zefirs Flügel 85 Schwebe froh, mein Geist! empor!

›Der Greis im Frühling‹

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Dass Stäudlins Lied intertextuell von Schubarts Frühlingslied eines Greisen abhängt, ist offensichtlich: Nicht nur ist die Situation identisch, auch wird die bald zu missende Schönheit der Natur mit Tränen betrauert und der Tod unter Blüten verklärt. Übereinstimmungen finden sich ebenfalls in der Metaphorik und Lexik, so etwa das zu »Silberlocken« aufgewertete graue Haar, mit dem in beiden Gedichten die Frühlingsluft spielt (Stäudlin V. 62–63 und Schubart V. 11–12). Stäudlins Lied ist jedoch in allen Teilen eine Amplifikation des Gedichts von seinem Freund Schubart.56 So ist bereits die Strophenform gegenüber Schubarts trochäischem Vierheber um einen zusätzlichen fünften Vers erweitert. Sowohl die reimlose Waise im ersten Vers als auch der Wechsel vom Kreuzreim zum umarmenden Reim führen zu einer rhythmischen Verzögerung und zu einer Dehnung der Strophe, die mit dem Abschiedsmotiv und dem Moment des innehaltenden Greises angesichts des nahen Todes korrespondieren.57 Insbesondere die Erinnerung des Greises nimmt ab Strophe neun einen wesentlich größeren Raum ein. Mit der Anrufung des blinden Greises, »O Natur! Mir quillt die Thräne | In den Becher deiner Lust« (V. 29f.), beginnt die Ausgestaltung der schon bei Schubart intonierten Trauer, die von Stäudlin aber durch die wehmütige Erinnerung an die vergangenen Jugend psychologisch begründet wird. Eingeleitet durch den Tempuswechsel in Vers 41 gipfelt die Lebensrückschau in einem imperativen Regressionsverlangen des greisen Ich (V. 56–60). So verschmilzt in der erinnerten Wiederkehr des eigenen Lebens der Kreislauf der Natur mit dem Lebenszyklus, wenn die Natur in gegenzeitlicher Reihung von der angebeteten Braut bis zur fürsorglichen Mutter überformt wird und der müde Greis sich schließlich im Augenblick seines Todes wieder an den Busen der Natur gedrückt wünscht, wie »Mütter ihren Säugling drüken« (V. 59). Die Verinnerlichung des Greises im Frühling wird von Stäudlin gegenüber Schubart dadurch intensiviert, dass der Frühling für das blinde Ich nur ein erinnerter sein kann, der sich vor dem inneren Auge des Greises entfaltet. Auch die euphemistische Einkleidung des Todes in den Frühling, die in Schubarts Lied lediglich eine Strophe umfasst, wird von Stäudlin um drei Abschiedsstrophen amplifiziert (V. 66–85).

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Zur freundschaftlichen Beziehung zwischen Stäudlin und Schubart vgl. auch Walter Ernst Schäfer, »Gotthold Friedrich Stäudlins ›Klio‹«, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 144 (1996), S. 315–339, hier S. 316–317. Horst Joachim Frank weist darauf hin, dass sich dieser Fünfzeiler direkt auf den trochäischen Vierzeiler (4.49) zurückführen lässt (Horst Joachim Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2. durchges. Aufl., Tübingen, Basel 1993, S. 391–393).

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Den Gedanken einer Wiederkehr des Lebens in der Erinnerung, mit der Stäudlin den Jahreszeitenzyklus parallelisiert, greift Heinrich Christian Lebrecht Senf im Frühlingslied eines Greises (1788)58 wenige Jahre später nochmals auf. Senf verschränkt jedoch den Frühling als Zeit, in der sich der greise Sprecher an den Anfang seines Lebens zurückerinnert fühlt, mit der Vorstellung, dass das erinnerte, aber verlorene Leben im Jenseits wieder gefunden wird. Der Frühling wird so, wie es bereits im ersten Vers von Schubarts Gedicht anklingt, zum Sinnbild des Paradieses ausgestaltet. Er führt dem Alter zwar einerseits vor Augen, was ihm bald – im Wortsinn – nicht mehr blühen wird, tröstet zugleich aber im figuralen Sinn mit der Verheißung eines ›ewigen Frühlings‹ darüber hinweg: Frühlingslied eines Greises

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Sei gegrüßt! Noch einmal seze Ich in deinen Schatten mich, Trautes Wäldchen! Ach! und leze An der schönen Schöpfung mich!

25 O wie oft – Auf steile Wege Trieb mich Lieb’ und Ehrbegier! Oft schwankt’ ich auf morschem Stege, Jähe Tiefen unter mir.

Seh’ die grünen Saten wogen; Seh’ die Bäume blütenweis; Seh’ die Flur, die mich erzogen Noch in ihrer Pracht, als Greis.

Emma – eh’ in meine Arme 30 Ich dich als die meine schlos; Wie getrübt von Sorg’ und Harme Manches Jahr vorüberflos!

Nah schon an der Todenbare 10 Denk ich noch des Lebens Mai, Jahre meiner Kindheit! Jahre, Wolkenlos und sorgenfrei;

O wie ich – doch überstiegen Sind die rauhen Klippen nun; 35 Hinter mir seh’ ich sie liegen; Kan von meinen Mühen ruh’n!

Hier genoßen; in der Kühle Dieser Buchen hingeträumt – 15 Meines Herzens Erstgefühle Sind bei euch emporgekeimt!

Bald wird auch der Tag erscheinen, Dem mein Wunsch entgegen blikt, Wo in Edens Palmenhainen 40 Endlos Friede mich erquikt,

Meine Welt war dies Gefilde; Meine Sorge Spiel und Ball; Und ich wähnte Frühlingsmilde 20 In dem ganzen Schöpfungsall. Ungeruffen kam der Schlummer; Hatt’ ich müde mich geschwärmt, O wie oft hab’ ich vol Kummer Schlaflos mich als Mann gehärmt!

Denn, wenn Dämrung diese Auen Mit dem Schauerflügel dekt; Wenn die Wolken Kühlung tauen; Ruhe jedes Wesen schmekt; 45 Dann seh’ ich Gestalten schimmern Der Verklärten aus den Höh’n; Und sie winken mir, und flimmern, Und vergehn im Westwinds Wehn!

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Heinrich Christian Lebrecht Senf, »Frühlingslied eines Greises«, in: H. Chr. L. S., Gedichte. Mit Musik, Leipzig 1788, S. 44–46.

›Der Greis im Frühling‹

Ach! ich ahnd’ es! Wenn um Rosen 50 Wiederum der Westwind spielt; Wenn der Bach mit sanftem Kosen Blumen am Gestade kühlt.

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Ach, in Emma’s Arm dann wieder Lacht mir Edens bessres Land! Um uns Engelharfenlieder, 60 Knüpfen wir der Liebe Band!

Dann feir’ ich nicht mehr hier unten, Frühling, deine Wiederkehr! 55 Atme nicht den Duft der bunten Blumenvollen Täler mehr.

Während bei Schubart der Rückblick gerade einmal zwei Verse einnimmt und in Stäudlins Frühlingsgedicht die Lebenserinnerung des greisen Ich in drei Strophen durch den Tempuswechsel vage angedeutet wird, erweitert Senf die Analepse auf sechs Strophen. Er ruft darin das ganze Leben zunehmend beschleunigt auf: von der Kindheit (V. 11f.) über Irrungen und Wirrungen des jungen Mannesalters (V. 25f.) bis zur glücklichen Ehe (V. 29f.) und den Alterssorgen (V. 31f.), bis schließlich die Erinnerung mit der Aposiopese »O wie ich –« (V. 33) in der Gegenwart abreißt. Das Hier und Jetzt des greisen Sprechers nimmt kaum eine Strophe ein, bis sich eine ebenfalls sechsstrophige Prolepse symmetrisch zur Analepse anschließt. In zwei parallel gebauten Konditionalsätzen wird die Jenseitserwartung als zweite Liebeserfüllung aufgerufen und so nicht nur formal mit der Rückerinnerung in Beziehung gesetzt (V. 41–60): Der Wiederkehr des Frühlings stellt Senf das Wiedersehen der Geliebten im Jenseits, der Fortdauer der irdischen Zeit die Ewigkeit des Paradieses gegenüber. Durch die Vorstellung eines ›ewigen Frühlings‹, die an das goldene Zeitalter der Antike anknüpft, wird das äußere, progressive Zeitmodell durch ein inneres, transzendental-regressives relativiert. Dadurch werden die diskrepanten Zeitmodelle, die im Jahreszeitentopos aufeinander treffen, angeglichen. Die Figur des ›Greises im Frühling‹ führt so in zweifacher Weise eine verinnerlichte Zeitperspektive des Alters mit sich: zum einen retrospektiv über die Erinnerung, zum anderen prospektiv über die Jenseitserwartung. Die zyklische Struktur der inneren Zeiterfahrung überwölbt dabei das Leiden am Missverhältnis von eigener Endlichkeit und Fortdauer der Natur. Die eingangs erwähnte Schrift Der Greis im Frühling von Leonhard Meister resümiert 1802 die Rekombination des Jahreszeitentopos, wie sie während der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in der empfindsamen Lyrik durchgespielt wurde. Die Konfrontation des wintergleichen Greises mit der erwachenden Natur im Frühling führte nicht nur zu einer semantischen Akzentverschiebung des Jahreszeitentopos vom memento mori zum memento resurrectionis, sondern bildete mit

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der innerlichen Vergegenwärtigung des Lebensfrühlings einen Ausgangspunkt zur Subjektivierung der Alterserfahrung. Wie sehr der Topos vom Winter des Lebens zwischen 1770 und 1800 hin zur Figur des Greises im Frühling verschoben wurde, verdeutlicht der Vergleich mit Christian Cay Lorenz Hirschfelds Abhandlung Der Winter von 1775, einem Lob auf die Vorzüge der kalten Jahreszeit, deren Gleichsetzung mit dem letzten Lebensalter allerdings in eine traditionelle Altersklage mündet: Wenn einmal der Winter des Lebens über uns herscht; so ist keine Hofnung mehr zu einem andern Frühling, als zu dem der jenseits des Grabes blühet. Wir wandeln beständig unter den letzten Finsternissen der Jahre, ohne auf der Erde noch eine heitere Aussicht zu gewinnen; eine traurige Melancholie begleitet uns den Weg des Lebens hinab, und allen unseren Schwachheiten überlassen, wider welche die Natur die ganze erfindsame Kunst keine Stütze hat, treibt uns der Sturm vor den Augen der Welt weg.59

Zwar weiß auch Hirschfeld um den »Trost und Ruhm«, sich im hohen Alter »mit einem heitern Geist in die Jahre der Jugend zurückdenken zu können«, aber ihm geht es vordringlich um die nützliche Stärkung der Seele und einen »durch die Wissenschaften aufgeklärten Geist, der sich in der Einsamkeit zu unterhalten und sich selbst zu vergnügen weiß«.60 Demgegenüber expliziert Meisters Alterstrost den figuralen Sinn des Frühlings als Wiederkehr des Lebens, wie er sich im Zusammenspiel von sentimentaler Rückerinnerung und heilsgeschichtlicher Ahnung erschließt: Jeder wiederkehrende Frühling erinnert an den ersten Frühling der Schöpfung, vor dessen Aufgange noch überall nichts war; nur du warst, Vater der Dinge, der ins ungeheure Leere zahllose Welten hinstreut! Das Dankfest der Schaffung ist also der Frühling, das Nachbild vom Paradiese, das Vorbild von jenem Leben jenseits der Gruft.61

So ist auch dem Greis der Frühling nicht versagt, wenngleich er sich nur innerlich mit ihm in Übereinstimmung zu setzen vermag, sobald sich regressive und transzendentale Perspektive im Bild des Frühlings zum Lebenskreis schließen: Selbst in des Greisen Brust weckt der Gesang [der Nachtigall, T.F.] den Wiederhall der ersten Jugendgefühle; stärker erhebt sich in meiner Brust die Vorahnung der künftigen unsterblichen Jugend, zu der wir dort oben in dem Gestirne neu empor blühen.62

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Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Der Winter. Eine moralische Betrachtung, neue verbesserte Aufl. Leipzig 1775, S. 234. Ebd., S. 234f. Meister, Der Greis im Frühling, S. 17. Ebd., S. 50.

›Der Greis im Frühling‹

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Die tröstliche Figur des Greises im Frühling korrespondiert mit dem Erwartungscode, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts an die Alten richtete: Sie sollten zufrieden auf ein erfülltes Leben zurückblicken und prospektiv den bevorstehenden Tod annehmen, sich auf ihn mental vorbereiten und ohne Bitterkeit ihren Platz für die nächste Generation räumen.63

4. Inversion Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als im Zuge des Fortschrittsoptimismus die Alten ökonomisch und sozial zunehmend marginalisiert, zugleich aber durch eine Rhetorik der Seniorität und familialen Idylle idealisiert wurden,64 erfreute sich die Figur des Greises im Frühling nochmals einer Blüte in der Literatur. Die Subjektivierung der Zeiterfahrung, die mit der retro- wie prospektiven Reflexion des Greises im Frühling einherging, löste sich dabei jedoch zunehmend vom heilsgeschichtlichen Ziel, so dass der Topos schließlich eine semantische Inversion vom Jenseitstrost zum Diesseitsgenuss auch im hohen Alter erfuhr. Die Hinwendung zur Immanenz einer subjektiven Altersperspektive vollzog sich allmählich und innerhalb der topischen Ausdrucksmuster, wie sich an der Prosaskizze Der Greis im Frühling beobachten lässt, die Jean Paul im Frühjahr 1805 als Teil der Sammlung Meine Miszellen verfasste: Der Greis im Frühling Holder Frühling, sagte der Greis, auch im alten dunkeln Herzen gehen deine blühenden Reiche auf, doch nicht wie ein singender Morgenhimmel, sondern wie eine stumme träumende Mondnacht. Einsam, ohne Aurora tritt der leise Mond auf sein Gebirg und breitet die schimmernden Länder der Nacht aus, aber im Glanze liegt stumm die Welt voll verborgener Träume, und das Auge sieht die toten Länder und die lebendigen Sterne an; dann wird das Auge dunkel von weinenden Träumen und zuletzt von süßem Schlafe. Holder Frühling! weich und sehnend seh’ ich in deine Blüten, aber es ist leise um das Herz, und der Schlaf ist auch nahe.65

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64 65

Vgl. Gerd Göckenjan, »Das hohe Alter in theologischen Texten vom letzten Drittel des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts«, in: Christoph Conrad / Hans-Joachim Kondratowitz (Hrsg.), Zur Kulturgeschichte des Alterns, Berlin 1993, S. 97–134, hier vor allem S. 109–112. Vgl. Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 172–221. Jean Paul, »Der Greis im Frühling«, in: J. P., Sämtliche Werke, Abteilung II: Jugendwerke und Vermischte Schriften, Bd. 3: Vermischte Schriften, hrsg. von Norbert Miller / Wilhelm Schmidt-Biggemann, München 1978, S. 145.

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Die Miszelle ruft die empfindsame Situation des Greises auf, der vom Wiedererwachen der Natur ergriffen ist und den Frühling als Verkünder des letzten Schlafes begrüßt. Bis auf die Inquitformel entspricht die Redesituation der des greisen lyrischen Ich im 18. Jahrhundert. Die »blühenden Reiche« aber, die der Frühling im »alten dunkeln Herzen« aufgehen lässt, künden nur vom Tod. Der Greis bei Jean Paul ist allem voran einsam und ganz in sich gekehrt. Dreimal sagt der Greis, dass sein Verhältnis zur verstummenden Welt einem Traum gleicht, während der Gedanke einer zyklischen Wiederkehr des Lebensfrühlings im Jenseits nur in der Antithese der »lebendigen Sterne«, die den »toten Länder[n]« gegenüberstehen, aufscheint. Jean Paul ruft so zwar den Lebensabschied und die Hinwendung des Greises zum Jenseits auf, im Mittelpunkt steht aber die andere Wahrnehmung des todesnahen Alters, dem sich die Welt nur als ein schwindender Traum vergangenen Lebens zeigt. Die Altersperspektive bedarf bei Jean Paul anders als in Stäudlins Lied keiner äußerlichen Plausibilisierung mehr: Allein das Alter und nicht die Erblindung begründet den verinnerlichten Blick auf die Welt. Auch wenn Jean Paul mit seiner Miszelle den harmonisierenden Erwartungscode nicht widerruft, rückt der heilsgeschichtliche Alterstrost bereits an den Rand, während das andere Frühlingserleben des Alters als einsame und somnambule Weltbegegnung zentral wird. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Figur des Greises im Frühling dahingehend variiert, dass sie sich ganz dem diesseitigen Frühling zuwendet und sich so gegen den harmonisierenden Erwartungscode eines auf das Jenseits ausgerichteten Alters positioniert. Die Subjektivierung der Alterserfahrung, wie sie in der empfindsamen Lyrik über Erinnerung und Erwartung vorbereitet wurde, verselbständigt sich zur subjektiven Selbstbehauptung des Alters, die sich sowohl gegen die Vorhaltung eines endgültigen Lebensendes als auch gegen den lediglich beschwichtigenden Jenseitstrost wendet. Besonders deutlich wird die Inversion des wintergleichen Alters, vorbereitet durch die Rekombination des Jahreszeitentopos, in einem Gedicht Ernst Moritz Arndts von 1841:

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Frühling im Alter Singen die Vöglein im grünen Wald, Klingen die Bächlein bergunter, Lockt es den Alten mit Lustgewalt, Klopfet das Herz ihm so munter: Denket der Wonnen verschienener Lenze, Denket der Kränze und denket der Tänze, Fallen auch Tränen herunter.

›Der Greis im Frühling‹

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Singet und klinget! das Heute ist mein, Heut will ich singen und klingen 10 Lustig mit spielenden Kindern feldein, Fröhlich mit fröhlichen Dingen, Will mir bekränzen die Locken, die greisen: Bald muß ich hinnen und wandern und reisen, Wo mir die Vögel nicht singen.66

Schon der invertierte Titel und die eigentlich für das fröhliche Studentenlied reservierte Vagantenstrophe weisen darauf hin, dass der 72jährige Arndt ein Alter aufruft, das sich dem erwünschten Rückzug aus dem Leben verweigert. Weder gibt sich Arndts Greis im Frühling der wehmütigen Erinnerung ganz hin, noch tröstet er sich mit der Jenseitsverheißung. Mit dem epanaleptisch hervorgehobenen Doppelvers »Singet und klinget! das Heute ist mein, | Heut will ich singen und klingen« (V. 8–9) unterstreicht er ebenso wie durch die Kontrafaktur der Vagantenstrophe den Anspruch des Alters auf die Gegenwart. Mit der Selbstbehauptung des Greises wird der Jahreszeitentopos schließlich so invertiert, dass er den dominierenden Altersdiskurs kritisch zurückwendet. Auch Friedrich Rückert wendet sich zur gleichen Zeit in zehn Romanzenstrophen gegen das memento des Winter- und den Trost des Frühlingstopos, obwohl er, als das Gedicht Ewiger Frühling67 entstand, noch zwanzig Jahre jünger war als Arndt. Sein heiter sinnierendes Lied reklamiert an der Schwelle zum Alter den christlichen Trost für das Hier und Jetzt. Wo Arndts Greis im Alter eine lebensfrohe Hingabe an den Augenblick beansprucht, fordert Rückerts Ich gar ein frühlingsgleiches Leben ohne Altern: Ewiger Frühling Ew’gen Frühling zu ertragen Fürchtet wol ein blöder Mann, Dem kein reines Gut behagen Ohne Uebels’ Zuthat kann. 5

Diesen Zug kann ich begreifen, Aber minder jenen Trieb, Der sie macht gen Norden schweifen, Da es warm im Süden blieb.

Und er meint, dazu erfunden Sei der Jahreszeiten Tanz, Daß ihm nach den trüben Stunden Neu gefalle Sonnenglanz.

25 Wenigstens, hätt’ ich die Zügel Meines Schicksals in der Hand, Nie gebraucht’ ich meine Flügel Um zu ziehn ins kalte Land.

Und Natur vom Sommerschweiße 10 Müsse ruhn im Winterfrost,

Und wenn ich im ew’gen Lenze 30 Doch den Winter wollte sehn,

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Ernst Moritz Arndt, »Frühling im Alter«, in: E. M. A., Werke. Auswahl in zwölf Teilen, Bd. 1: Gedichte, hrsg. von August Leffson / Wilhelm Steffens, Berlin 1912, S. 237. Friedrich Rückert, »Ewiger Frühling«, in: F. R., Gedichte, Frankfurt a. M. 1841, S. 596.

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Thorsten Fitzon

Wie der Baur von seinem Fleiße; O wie nordisch ist der Trost!

Sollt’ an meines Thales Grenze Er gethürmt als Schneeberg stehn.

Doch mir schwillt im Herzen südlich Unerschöpfter Schöpfungshort, 15 Und wie Palmen unermüdlich Möchte’ ich blühn in einem fort.

Grauer Winter, mit dem Alter Magst du droben dich erfreun, 35 Niemals deine Flocken, kalter, Mir auf Aun und Locken streun.

Wenn nicht liebten Nachtigallen Immer frisches Rosensprühn; Zögen sie, wenn unsre fallen, 20 Dorthin wol, wo neue blühn?

Ströme frischer Frühlingssaft zu Immer mir und meinem Hain; Und wir trauen uns die Kraft zu, 40 Ein Jahrhundert jung zu sein.

Zwar bedient sich Rückert der bekannten Versatzstücke des Jahreszeitentopos, er organisiert sie aber so um, dass sowohl das humanistische memento mori wie die pietistische-empfindsame Aussöhnung mit der Natur im Jenseits argumentativ invertiert werden: So reklamiert das selbstermächtigte lyrische Subjekt den ›ewigen Frühling‹ bereits für das Diesseits, um das mahnende Alter an den äußersten Rand seines Lebens zu verbannen, wo es bestenfalls ästhetisch im Panorama einer fern liegenden Winterlandschaft gewürdigt wird. Für das Selbstverständnis des alternden Ich besitzt der Winter weder mahnende noch spiegelnde Funktion. Im Wunsch nach einer hundert Jahre dauernden Jugend, der von Celtis und Erasmus als verwerfliche Hybris verurteilt wurde, klingt bei Rückert im Spiel mit dem topischen Material bereits das aktuelle Bild von den jungen Alten des 20. Jahrhunderts an. Jedoch ging im 19. Jahrhundert die Variation des Topos vom Alter als Winter des Lebens nicht immer mit einer ähnlich plakativen Umdeutung einher. So werden in Eichendorffs Sonett Das Alter68 die resignative wie die transzendentale Semantik von Winter und Frühling beibehalten und lediglich perspektivisch unterlaufen:

5

Das Alter Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise, Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen, Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen, Und trüber Winter deckt die weiten Kreise. Die Wanduhr pickt, im Zimmer singet leise Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen. Ein Bilderbuch scheint Alles, was vergangen, Du blätterst d’rin, geschützt vor Sturm und Eise.

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Joseph Freiherr von Eichendorff, »Das Alter«, in: J. v. E., Werke in sechs Bänden, Bd. 1: Gedichte. Versepen, hrsg. von Hartwig Schultz, Frankfurt a. M. 1987, S. 447.

›Der Greis im Frühling‹

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So mild ist oft das Alter mir erschienen: 10 Wart’ nur, bald taut es von den Dächern nieder, Und über Nacht hat sich die Luft gewendet. Ans Fenster klopft ein Bot’ mit frohen Mienen, Du trittst erstaunt heraus – und kehrst nicht wieder, Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.

In der Kontrastierung des »[s]o mild« (V. 9) erscheinenden Alters im Oktett mit dem unweigerlich todbringenden Frühling im Sextett erfährt die entfaltete Altersidylle trotz der »frohen Mienen« (V. 12) des vom ewigen Frühling kündenden Boten einen Bruch. Der Sprecherwechsel im letzten Terzett markiert zudem einen Perspektivenwechsel vom hinscheidenden zum zurückbleibenden Ich, das mit dem Halbvers »und kehrst nicht wieder« (V. 13) deutlich macht, dass die Welt auch ohne den Verstorbenen fortdauert, wie die »Wanduhr« in Vers 5 nicht aufhören wird zu ticken.69 Die Inszenierung einer subjektiven Zeitperspektive des Alters, die nicht vollständig in der harmonisierenden Trostformel vom ewigen Frühling aufzugehen vermag, wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert erneut aufgegriffen und innerhalb der tradierten Zuschreibungsmuster aktualisiert. Hugo von Hofmannsthals unechte Terzine Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer von 1905 überbietet so in vierzehn Strophen den Jahreszeitenvergleich, wenn das gealterte Rollen-Ich vergeblich versucht, dem allegorisch aufgeladenen Frühling zu entfliehen, indem es sich in die Lebensfülle des Sommers imaginiert. Mit der Gegenüberstellung von März und Juli, die sich in den beiden rahmenden Waisen widerspiegelt, wird die ursprüngliche Dissonanz des Jahreszeitenvergleichs verschoben und auf das harmonisierende Zuschreibungsmuster zurückgewendet. Nicht nur wird der Frühling zwischen Winterende und Hochsommer ausgespart, auch die Absage des sommererfüllten Ich an den Vanitasgedanken (»Doch nirgend flüsterts: ›Alles dies ist nichts.‹« V. 19) weist auf das empfindsame Modell des Frühlingsgreises und dessen Jenseitstrost zurück. In der Terzine sind mit Lebenssehn-

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Ludwig Pfaus schlichtes Lied Im Alter knüpft ebenso wie Eichendorffs Sonette an den Topos vom Greis im Frühling an und parallelisiert wie schon Leonhard Meister auf vielfältige Weise den Baum im Frühling mit dem Alten und seiner Erinnerung »in des Herzens Schacht« (V. 4), allerdings treiben die »alten Schmerzen und Freuden«, die wie die Bäume im Winter von den Jahren »entblättert« (V. 12) sind, nicht wieder aus. Mit der ergebenen Selbstaufforderung »Mein Herz lass’ dich bescheiden | Und schleiche still nach Haus« (V. 13f.) muss der Alte ohne metaphysischen Trost ertragen, dass mit dem Leben auch seine Gefühle und Erinnerungen enden, während die Zeit der Welt fortdauert (vgl. Ludwig Pfau, »Der Alte«, in: L. Pf., Gedichte, Stuttgart 3 1874, S. 141).

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Thorsten Fitzon

sucht (»Sommerland«) und Todesgewissheit (»März«) die unvereinbaren Jahreszeiten lediglich Projektionen innerer Dissonanz, die daraus resultiert, dass der Tod, auf den der ausgesparte Frühling verweist, weder in der Rückerinnerung noch durch eine projektive Imagination des Lebens überbrückt werden kann. Die Aufspaltung des greisen Ich in ein sehnendes und ein absterbendes radikalisiert am Ende der Terzine die im Topos vom Greis im Frühling angelegte Subjektivierung des Alters, indem das Ich schließlich auf sich selbst zurückgeworfen wird: 35 Und auf das mondbeglänzte Sommerland Fällt weit ein Schatten: dieser, der so traurig Hier nickt, hier hinterm Kissen an der Wand? So trüb und traurig, der halb aufrecht kauert Vor Tag und böse in das Frühlicht starrt 40 Und weiß, daß auf uns beide etwas lauert? Er, den der böse Wind in diesem März So quält, daß er die Nächte nie sich legt, Gekrampft die schwarzen Hände auf sein Herz? Ach, wo ist Juli und das Sommerland!70

Die Dissonanz zwischen naturalisiertem Lebenszyklus und der linearen, sterblichen Zeit wurde in der Moderne als innerer Konflikt reaktualisiert. Die Figur des Greises im Frühling erscheint dabei meist nur noch mittelbar als trügerische Korrespondenzerfahrung zwischen Lebens- und Naturfrühling und ist keineswegs mehr allein an den Greis oder den alten Mann gebunden, wie Thomas Manns späte Erzählung Die Betrogene zeigt.71

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Hugo von Hofmannsthal, »Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer«, in: H. v. H., Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Gedichte. Dramen I. 1891–1898, Frankfurt a. M. 1986, S. 55. Wie bereits in Meisters Schrift Der Greis im Frühling setzt sich auch die fünfzigjährige Rosalie in Thomas Manns Erzählung ins Verhältnis mit einem alten Baum, der im Frühling trotzdem noch austreibt, um ein Naturbild für ihren Lebenswillen nach der Menopause zu finden: »›Wackerer Alter! Kannst du’s ohne Rührung sehen, wie der sich hält und es immer noch treibt? […] Hohl zementiert, und zu voller Belaubung reicht es nicht mehr. Aber kommt seine Zeit, da steigen die Säfte ihm doch – nicht überall hin, aber er bringt’s fertig, ein bisschen zu grünen, und man achtet es und schont seine Tapferkeit« (Thomas Mann, »Die Betrogene«, in: Th. M., Die Betrogene und andere Erzählungen 1940–1953, Frankfurt a. M. 2005, S. 16–242, hier S. 180f.). Die Erzählung spielt so durch, wie die Selbstspiegelung Rosalies in der Natur zum Selbstbetrug der verliebten Frau in den kritischen Jahren wird. An die Stelle der »Anpassung der Seele an die neue Körperverfassung, die […] das Schwierigste« (ebd., S. 185) ist, tritt die trügerische Anpassung des alternden Körpers an die wieder belebte Frühlingsnatur. Ihr Selbstbetrug liegt darin, dass Rosalie den topischen Vergleich des Lebens mit den Jahreszeiten wörtlich, d.h. in ihrem Fall körperlich nimmt.

›Der Greis im Frühling‹

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Die Figur des Greises im Frühling ist ein neuzeitlicher Topos der Empfindsamkeit, der auf den Topos vom Alter als Winter des Lebens intertextuell antwortet. Die Diskrepanz zwischen dem wintergleich abgestorbenen Leben einerseits und der zyklischen Wiederkehr der Jahreszeiten andererseits provozierte seit dem Humanismus literarische Sinnstiftungen, die den Topos zu einem Vorstellungsmodell menschlicher Lebenszeit erweiterten. Die empfindsame Dichtung des 18. Jahrhunderts reagierte auf den Pessimismus dieses Vorstellungsmodells mit der Figur des Greises im Frühling, einem Topos, der die sozialen Altersrollen des Rückzugs und der Jenseitsorientierung mit der subjektiven Alterserfahrung harmonisierte. Die tröstliche Vorstellung einer inneren Zeit, die mit dem Heilsplan der Welt korrespondiert, wurde im 19. Jahrhundert invertiert und zugunsten einer Selbstbehauptung des Alters in der Gegenwart teilweise wieder zurückgewiesen. Die intertextuellen Variationen des ›Greises im Frühling‹ schöpften, dies konnte der historische Vergleich zeigen, aus dem Interpretationspotential des Jahreszeitentopos jeweils abgewandelte ästhetische Argumente, deren vorbegriffliche Anschaulichkeit der Dissonanzerfahrung zu differenten Bewertungen der Lebenszeit in der Spannung der sie überwölbenden Zeitmodelle führte.

Thomas Küpper »... die alten Möbeln ihrer Kammer« Alterstopoi in Storms Marthe und ihre Uhr und in Immensee This article examines the locations and spatial positions given old age in Theodor Storm’s novellas Marthe and Her Clock and Immensee. Accordingly, we may speak of ›topoi of old age‹ in relation to place. A paradigm of such topoi is the retirement home: following Michel Foucault, it is an example of heterotopias, of ›other spaces‹, a counter-place or counter-image to other places. Storm’s novellas reveal how places and spaces assigned to old age gain their poetical enchantment: by being sealed off from the hustle and bustle of society, these places arouse the interest of literature. As ostensibly separate, self-enclosed worlds far removed from everyday life, the spaces of old age furnish transfiguring images of the Real and thus comply with the programmatic aims of poetic Realism around 1850.

Der Topos-Begriff bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für literaturund kulturwissenschaftliche Altersstudien: Unter ›Alterstopoi‹ lassen sich zum einen ›Gemeinplätze‹ verstehen, so dass – wie indirekt und gebrochen auch immer – Bezüge zur antiken Rhetorik und heuresis hergestellt werden können. Zum anderen ist es von buchstäblich heuristischem Wert, ›Alterstopoi‹ im wörtlichen Sinne als Orte des Alters aufzufassen: Die Alterstopoi in Theodor Storms Novellen Marthe und ihre Uhr sowie Immensee können als Beispiele dafür gelesen werden, wie die Literatur das Alter verortet, ihm räumliche Positionen zuweist. Entsprechend geht es – neben den ›Gemeinplätzen‹ – um die Plätze, die das Alter einnimmt. Das Augenmerk richtet sich bei der Lektüre nicht in erster Linie darauf, ob und wie antike Topoi des Alterslobs und des Altersspotts, des Alterstrostes und der Altersklage im späteren Kontext aufgegriffen und verändert werden.1 Im Mittelpunkt steht vielmehr das Problem, wie die Literatur das Alter räumlich ansiedelt. Topographien

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Vgl. Christian Gnilka, »Altersklage und Jenseitssehnsucht«, in: Jahrbuch für Antike und Christentum, 14 (1971), S. 5–23; Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000; Miriam Haller, »›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text«, in: Heike Hartung (Hrsg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45–63.

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im Sinne von Ortsbeschreibungen haben für die Poesie besonderen Stellenwert – ist doch »die literarische Darstellung strukturell mit der Aufgabe konfrontiert [...], das Verhältnis von Zeit und Raum im Kontinuum des Textes zu gestalten«.2 Die Verortung des Alters ist ein Beispiel dafür, wie die Literatur Beziehungen zwischen Zeit und Raum herstellt. ›Alterstopoi‹ dieser Art finden sich nicht nur in der Poesie, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft. Ein Ort, der dem Alter in der Gesellschaft zugeordnet wird, ist unter anderem das Altersheim. Michel Foucault beschreibt das Altersheim als Heterotopie, als einen ›anderen Ort‹, einen Gegen-Ort beziehungsweise ein Gegen-Bild zu den übrigen Orten, und zwar eine Zwischenform von Krisen- und Abweichungsheterotopie, »da das Alter letztlich eine Krise darstellt, aber auch eine Abweichung, denn in unserer Freizeitgesellschaft gilt Untätigkeit als Abweichung«.3 Zu überprüfen ist, ob das Altersheim nicht gerade dadurch für die Poesie interessant wird, dass es einen solchen Gegen-Ort bildet: Die Abweichung von der Norm, die – sei es auch noch so klischeehafte – Situierung alter Menschen jenseits des hektischen gesellschaftlichen Treibens, kann eine eigene literarische Faszination erlangen; denn durch eine solche Verortung des Alters ist es der Literatur möglich, sich einen ›anderen Raum‹ zu erschließen, einen Bereich, in dem die sonst geltenden Gesetze in ihr Gegenteil verkehrt sind. Dieser sozusagen »außerhalb aller Orte«4 liegende Ort bietet sich als Gegenstand autonomer Literatur an, die sich ihrerseits von der übrigen Gesellschaft abgrenzt. Insofern kann die Verortung des Alters mit der Selbstverortung der Poesie zusammenhängen.5 Die Novellen, an denen diese Ausgangsvermutungen überprüft werden sollen, handeln nicht vom ›Altersheim‹ im heutigen Wortverständnis, aber von Orten, an denen das Alter angeblich ›heimisch‹ ist und die ebenfalls »außerhalb aller Orte« liegen. Marthe wohnt im Alter einsam, als letztes Familienmitglied, in ihrem Elternhaus und pflegt

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Sigrid Weigel, Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, München 2004, S. 238. Vgl. auch Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen, Basel 11 1993, S. 206f. Michel Foucault, »Von anderen Räumen«, in: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 317–329, hier S. 322. Ebd., S. 320. Vgl. dazu auch Thomas Küpper, Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850, Würzburg 2004.

»... die alten Möbeln ihrer Kammer«

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Umgang mit den »alten Möbeln ihrer Kammer«.6 Die Hauptfigur von Immensee ist ein alter Mann, dem, als er zu Hause im Lehnstuhl sitzt, Bilder seiner vergangenen Jugend aufscheinen. Diese Verhältnisse von Raum und Zeit sollen im Folgenden genauer untersucht werden.

1. ›Marthe und ihre Uhr‹ Marthe, alt und unverheiratet, wohnt allein in ihrer Kammer, die einen in jedem Sinn des Wortes abgeschlossenen Raum darstellt: In ihm lebt Marthe wie in einer eigenen Welt. Charakteristisch für Marthe sind ihre Marotten: In der Einsamkeit nimmt sie die alten Möbelstücke ihrer Kammer als Gesprächspartner, vor allem eine Uhr.7 Das »Ding« erscheint »seltsam«,8 es handelt sich um eine »altmodische[ ] Stutzuhr, welche ihr [Marthes, Anm. T.K.] verstorbener Vater vor über funfzig Jahren, auch damals schon als ein uraltes Stück, auf dem Trödelmarkt zu Amsterdam gekauft hatte«.9 Der Tand ist antiquiert und rückständig; er fügt sich nicht in die Gegenwart ein: »Die Uhr hatte aber auch wirklich ihren eigenen Kopf; sie war alt geworden und kehrte sich nicht mehr so gar viel an die neue Zeit«.10 Nach gewöhnlichen Kriterien ist das Gerät zu nichts nütze; es tickt nicht mehr richtig. So aber gesellt es sich zu Marthe, die »zuweilen ein Gefühl der Zwecklosigkeit ihres Lebens nach außen hin«11 hat. Marthe und ihre Uhr bilden eine im wörtlichen Sinn sonderbare, von der übrigen Welt abgesonderte Gruppe. Auch den Weihnachtsabend verbringt Marthe allein mit ihrer Uhr. Indem die Erzählung der Eigenbrötlerin Aufmerksamkeit widmet, spielt sie eine Wirklichkeitskonstruktion durch, die vom gewöhnlichen gesellschaftlichen Leben abweicht. Die Außenseiterin übt eine poetische Anziehungskraft aus; die soziale Abseitsstellung bildet in Storms Novelle einen Bereich mit eigenen Gesetzen, so dass geradezu ein Reiz des Exotischen ensteht. Marthe ist verrückt und entführt dadurch das Publikum aus dem Alltag, der von Terminen, Pflichten und Zwecken

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Theodor Storm, »Marthe und ihre Uhr«, in: Th. St., Sämtliche Werke, in 4 Bänden hrsg. von Karl Ernst Laage / Dieter Lohmeier, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1987, S. 281–287, hier S. 282. Ebd., S. 282f. Ebd., S. 283. Ebd., S. 282f. Ebd., S. 283. Ebd., S. 282.

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bestimmt ist, in eine Welt, in der nicht einmal die Uhr in einem geregelten Takt läuft. So unterliegt auch Marthes Lebens-Wandel besonderen Bedingungen. Sie erfährt die wichtigsten Einschnitte just in dem Zimmer, in dem sie noch als alte Frau sitzt, beispielsweise den Tod der Mutter.12 Der Raum bietet fortwährende Bezugspunkte für Marthes Leben – ungeachtet der Veränderungen, die ›draußen‹ eintreten mögen. Insbesondere ist die Uhr Marthes bleibende Zeit-Zeugin: »[S]ie [die alte Uhr, Anm. T.K.] wußte von Allem, sie hatte Alles mit erlebt, sie erinnerte Marthe an Alles, an ihre Leiden, an ihre kleinen Freuden.«13 Die Uhr lässt die Zeit nicht nur verrinnen, sondern hält sie auch fest. Das Gerät mahnt an die verschiedenen Ereignisse und fasst sie beständig in sich ein. Diese Bedeutung der Uhr wird durch die Schlusspointe des Textes herausgestellt. Der Erzähler wünscht, Marthe möge sich an ihn erinnern: »Die alte Uhr wird helfen; sie weiß ja von Allem Bescheid.«14 Der Titel Marthe und ihre Uhr markiert damit einen Alterstopos: einen Raum, der so eingerichtet ist, dass eine alte Frau mit Hilfe von Dingen, Erinnerungsstücken, in eigentümlicher Weise auf das Leben zurückblickt. Zugleich kann von einem ›Topos‹ im Sinne eines Klischees gesprochen werden, insofern die Figur Marthe zur stereotypen Zeichnung alter Frauen beiträgt.15 Entscheidend aber ist, dass Marthes Kammer ein besonderes Verhältnis zur Zeit in sich einschließt. Der Raum umfasst Marthes beschauliches Leben und bildet einen festen Rahmen für die Perspektive auf den Wandel der Zeit. Nach Fritz Martinis Interpretation dieser Novelle scheint das Leben »in der Idylle befriedet; aber in seiner Enge öffnet sich die Weite des Zeitlichen«.16

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Siehe ebd., S. 284 und 286f. Ebd., S. 287. Ebd. Vgl. Gerd Göckenjan / Angela Taeger, »Matrone, Alte Jungfer, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 30 (1990), S. 43–79. Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848–1898, 3., mit einem ergänzenden Nachw. vers. Aufl., Stuttgart 1974, S. 638.

»... die alten Möbeln ihrer Kammer«

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2. ›Immensee‹ Eine vergleichbare Topographie des Alters findet sich in der Novelle Immensee.17 Auch dieser Text ließe sich nicht nur hinsichtlich der Orte lesen, die er entwirft, sondern auch hinsichtlich der ›Gemeinplätze‹, auf die er zurückkommt. Formelhafte Verknüpfungen von ›Alter‹ mit ›Abend‹, ›Herbst‹, ›Ende eines Weges‹ werden gleich zu Beginn aufgerufen: »An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause zurückzukehren; denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode angehörten, waren bestäubt.«18 Er »sah [...] ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag«.19 Abermals verschränken sich zeitliche und räumliche Vorstellungen miteinander. Was das Zeitliche betrifft, liegt eine Eigenart des bejahrten Mannes in seiner Langsamkeit. Er vollzieht das Tempo des gewöhnlichen Lebens nicht mehr mit. Mit seinen Schnallenschuhen, die »einer vorübergegangenen Mode« entsprechen, fällt er gleichsam aus dem Heute heraus. Von dem, was derzeit in der Gesellschaft vorgeht, ist er weitgehend abgerückt – und zwar nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich: Wenn er »ruhig [...] in die Stadt« hinabsieht, hat er sich bereits vom Zentrum sozialen Geschehens entfernt. Noch weiter zieht sich der alte Mann in eine eigene Welt zurück, als er von der Straße in sein Haus tritt und in ein entlegenes, »mäßig großes« Zimmer geht, in dem es »heimlich und still«20 ist. Dieser Innenraum bildet einen Gegensatz zur Stadt, die damit implizit als laut, geprägt von geschäftigem Treiben vorgestellt wird. Wie in Marthe und ihre Uhr ist der Alterstopos in Immensee ein Ort fernab gesellschaftlicher Turbulenzen. Darüber hinaus lassen sich weitere Parallelen zu Marthes Kammer ziehen: Auch das Zimmer des alten Mannes wird zum Ort der Erinnerung. In diesem Raum findet der Bejahrte die Möglichkeit, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen: Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Händen von seinem Spaziergange auszuruhen. – Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rückte, folgten die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem schwarzen

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Theodor Storm, »Immensee«, in: Th. St., Sämtliche Werke, in 4 Bänden hrsg. von Karl Ernst Laage / Dieter Lohmeier, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1987, S. 295–328. Ebd., S. 295. Ebd. Ebd.

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Thomas Küpper

Rahmen. »Elisabeth!« sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; er war in seiner Jugend.21

Zunächst wird das Motiv der Heimkehr aufgegriffen: Der alte Mann legt Hut und Stock ab und ist am Ende seines Weges angelangt, an einem Punkt, von dem aus die Stationen des Lebens überschaut werden können. Wenn der Bejahrte sich in den Lehnstuhl setzt und wie zum Ausruhen die Hände faltet, nimmt dieser Mann einen dem Alter zugewiesenen Platz ein. Darüber hinaus ist der Lehnstuhl Teil einer räumlichen Anordnung, die die Vergangenheit aufscheinen lässt. Zu dieser Anordnung gehören neben dem Stuhl, in dem der Bejahrte unbeweglich sitzt: die dunkle Kammer, geradezu eine Camera obscura, in die der wandernde Mondstrahl fällt, und die Bilder an der Wand, die vorübergehend von ihm beleuchtet werden. Eine solche Zusammenstellung lässt heute an das Kino-Dispositiv denken, das etwa von JeanLouis Baudry nach dem Modell von Platons Höhlengleichnis beschrieben wird.22 Für Storms Novelle ist der ›dunkle Raum‹ insofern von besonderer Bedeutung, als er es gestattet, das gelebte Leben gleichsam träumerisch zu reimaginieren. Es handelt sich dabei um einen Projektionsraum, der dem Alten die Vergangenheit vorspiegelt; der Mann »war in seiner Jugend«. Allerdings bleibt die Vergangenheit eine Welt für sich und vermischt sich nicht mit der Gegenwart. Elisabeth, die geliebte Person von einst, scheint in einem Bildrahmen auf – der Rahmen trennt das Damalige vom Jetzigen ab und erlaubt auf diese Weise, die frühere Wirklichkeit als einen eigenen Bereich zu verklären.23 Ein weiterer strukturbildender Rahmen für diese Novelle liegt in der Rahmenerzählung selbst: Das letzte Kapitel des Textes ist ebenso wie das erste mit »Der Alte« überschrieben und schildert, wie dieser, nachdem er die Ereignisse hat Revue passieren lassen, »noch immer mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl«24 sitzt. Die Bewegungen der Binnengeschichte sind damit von einer unbewegten Klammer umschlossen – ganz so wie man auch in der Alltagssprache sagt, dass etwas ›im Rahmen bleibt‹.25 Der Rückblick, der einschneidende Ereignis-

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Ebd., S. 296. Hervorhebung im Text. Jean-Louis Baudry, »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Psyche 48 (1994), S. 1047–1074. Vgl. zur trennenden Funktion von Rahmen Georg Simmel, »Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch«, in: G. S., Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, S. 46–54. Storm, »Immensee«, S. 327. Zur Funktion des Rahmens vgl. auch Roy C. Cowen, Der Poetische Realismus. Kommentar zu einer Epoche, München 1985, S. 239; Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 639.

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se umfasst, geschieht in einem festen Rahmen und ist auch insofern mit der Rückschau in Marthe und ihre Uhr vergleichbar. Den Texten liegt somit die Unterscheidung von Beständigkeit und Unbeständigkeit zugrunde: Längst Verlorenes wird noch einmal wieder(ge)holt und in seiner Kohärenz vor Augen geführt. Die Unruhe des Lebens- beziehungsweise Zeitlaufs wird dadurch nicht beseitigt, aber gleichsam in Ruhe eingefasst. Das Alters-Heim im wörtlichen Sinn ist mit Bildern eines gelebten Lebens eingerichtet. Die entschwundene Zeit kehrt in beiden Novellen allerdings nicht wieder, das Versäumte lässt sich nicht mehr nachholen, weshalb Nostalgie entsteht. Auf dieses Prinzip von Storms Werken macht Thomas Mann aufmerksam, wenn er schreibt, die Heimatlichkeit jenes Dichters sei »wesentlich Sehnsucht, Nostalgie, ein Heimweh, das durch keine Realität zu stillen ist, denn sie richtet sich durchaus aufs Vergangene, Versunkene, Verlorene«.26 Das »Vergangene, Versunkene, Verlorene« wird in Immensee besonders pointiert. Der alte Herr, der seiner unglücklichen Liebe nachsinnt, stellt sich eine im tiefen Wasser liegende Blume vor, die er nicht erhaschen konnte: Allmählich verzog sich vor seinen Augen die schwarze Dämmerung um ihn her zu einem breiten dunklen See; ein schwarzes Gewässer legte sich hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so fern, daß die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam zwischen breiten Blättern eine weiße Wasserlilie.27

Das Verlangen ist unerfüllt; was dem Alten bleibt, ist der »Selbstgenuß des trauernden und entsagenden Fühlens«.28 Im ›dunklen Raum‹ kann die Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen ausgekostet werden. Doch die Besonderheit dieses Raumes, das Dispositiv der Rückschau wird zunichte gemacht, als die Tür geöffnet wird: »[...] ein heller Lichtstrahl fiel in’s Zimmer. ›Es ist gut, daß Sie kommen, Brigitte‹, sagte der Alte. ›Stellen Sie das Licht nur auf den Tisch.‹«29 Damit wird der Bejahrte in die Gegenwart zurückversetzt; der Alterstopos in diesem Text ist auf Abgeschlossenheit angewiesen.

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Thomas Mann, »Theodor Storm«, in: Th. M., Essays, 6 Bde., hrsg. von Hermann Kurzke / Stephan Stachorski, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1994, S. 223–244, hier S. 230 (Hervorhebung im Text). Mann fügt hinzu: »Es ist selten, daß Gegenwart und Jugendglück das Gedicht zeitigen. Die Erinnerung daran, das Heimweh danach zeitigen es, und vergebens sieht man sich in Storms Lyrik nach der unmittelbaren Verherrlichung des jugendlichen Maitages um, dem das novemberliche ›Vorbei‹ verherrlichend nachtrauert« (ebd.). Storm, »Immensee«, S. 328. Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 638. Storm, »Immensee«, S. 328.

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Im Kontext des real-idealistischen Programms, das darauf abzielt, »das Schöne im Realen aufzufinden und in der Literatur zu ›verklären‹«,30 erfüllen solche Alterstopoi eine besondere Funktion: Wie sich in der Lektüre gezeigt hat, halten die ›anderen Räume‹ der Bejahrten für die Literatur idealisierende Perspektiven, Abweichungen von gewöhnlichen Auffassungen des Wirklichen bereit: In den AltersHeimen werden zeitliche Umbrüche in einen Rahmen eingelassen und dadurch ästhetisiert sowie im Zusammenhang erzählbar. Mit diesen Alterstopoi macht sich die Literatur Räume für Idealisierungen des Realen zu eigen.

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Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 129ff.

MIRIAM HALLER

Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman This essay analyzes the narrative strategies that are altering the approach taken to the topoi of aging and old age in contemporary fiction. In novels like Monika Maron’s Endmoränen and Ach Glück and J. M. Coetzee’s Slow Man, these topoi are both cited and transformed. Consequently this paper proposes that Judith Butler’s concept of performativity helps describe a transformative process affecting the cultural construction of aging and old age. In this context, a new genre is emerging that has been termed the Reifungsroman or »novel of maturation« (Waxman). The article shows that the new genre’s structure is based on the different phases represented by human »rites of passage« (van Gennep) and that the aging topoi are ironically transformed by a performative process of iterability.

1. Topos, Diskurs und Intertextualität »Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie«, so formuliert der Titel dieses Sammelbandes das gemeinsame Unterfangen, in dessen Rahmen dieser Beitrag sich der Analyse der narrativen Konstruktion des ›Alters‹ am Beispiel dreier zeitgenössischer Romane1 widmet. Im Zentrum der Untersuchung stehen die narrativen Strategien der Produktion des Neuen beziehungsweise die Resignifikationsstrategien des topischen ›alten‹ Wissens vom Alter. Jedoch ist bereits die gemeinsame These des Sammelbandes, dass man in topischen Kombinationen nicht nur Altes findet, sondern auch Neues (er)findet, durchaus umstritten. Darüber, was unter Topik oder unter einem Topos zu verstehen ist, »scheint Einigkeit nicht zu bestehen, vielmehr der Satz von den vielen Köpfen und vielen Mei-

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Monika Maron, Endmoränen, Frankfurt a. M. 2002; Monika Maron, Ach Glück, Frankfurt a. M. 2007 und John M. Coetzee, Zeitlupe. Roman, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt a. M. 2007, S. 290. [Titel der Originalausgabe: Slow Man, London 2005].

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nungen zu gelten«,2 ja »[d]ie gesamte auf Curtius folgende Toposforschung erscheint zu einem gewichtigen Teil als hartnäckig geführte Diskussion um eine eindeutige und klare Definition des Topos«.3 Der Warnung Josef Kopperschmidts – »[w]er sich mit Topik befaßt, gerät leicht in die Gefahr, sich im begriffsgeschichtlichen Gestrüpp zu verfangen [...]«4 – zum Trotz, scheint es deshalb unerlässlich, zunächst den Toposbegriff zu klären, mit dem im Folgenden gearbeitet wird. Topoi werden hier als diskursgeschichtliche Analysekategorie operationalisiert, mit der Diskurssegmente des sozio-kulturellen Wissens über das Alter erfasst werden können. Jede Formulierung von Wissen beruht auf einer Topik, die historischem Wandel unterliegt, und sie lässt sich auch nur im Rahmen der jeweils herrschenden Topik legitimieren. Indem die Topik sowohl der Formulierung als auch der Legitimation von Wissen dient, regelt sie, was zu einer bestimmten Zeit und innerhalb bestimmter Diskurse gesagt beziehungsweise geschrieben werden kann, um als ›wahr‹ wahrgenommen zu werden. Eben dies hat bereits die Archäologie Michel Foucaults5 gezeigt und die Grammatologie von Jacques Derrida auf den Punkt gebracht: Wenn die Wörter und die Begriffe nur in differentiellen Verkettungen sinnvoll werden, so kann man seine Sprache und die Wahl der Ausdrücke nur innerhalb einer Topik und im Rahmen einer historischen Strategie rechtfertigen. Mit anderen Worten, eine solche Rechtfertigung kann niemals absolut und endgültig sein. Sie entspricht einem bestimmten Kräftezustand und vermittelt ein historisches Kalkül.6

Topoi stiften aber auch die intertextuellen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Diskursen. Deshalb lässt sich das von Julia Kristeva eingeführte analytische Konzept der Intertextualität mit Wolfgang Neuber als »topisch geleitete Diskursanalyse« verstehen, in der die »Topik als Nahtstelle für intertextuelle Prozesse« anzusehen ist: »Sie

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Dieter Breuer / Helmut Schanze, »Topik. Ein interdisziplinäres Problem«, in: D. M. / H. Sch. (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 9–13, S. 9. Max L. Baeumer: »Vorwort«, in: M. L. B. (Hrsg.), Toposforschung, Darmstadt 1973, S. VII–XVII, S. X. Vgl. auch Sascha Löwenstein, »Literatur und Topik. Anmerkungen zu einer nicht selbstverständlichen Beziehung«, in: Andreas Dörpinghaus / Karl Helmer (Hrsg.), Topik und Argumentation, Würzburg 2004, S. 187–209. Josef Kopperschmidt, »Formale Topik. Anmerkungen zur ihrer heuristischen Funktionalisierung innerhalb einer Argumentationsanalytik«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik (= Rhetorik-Forschungen Bd. 1), Tübingen 1991, S. 53–62, S. 53. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973 und ders., Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 6 1996, S. 122.

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strukturiert die Vorgaben, steuert eventuelle Systemreferenz und organisiert die Aktualisierung der Prätexte«.7 Gleichzeitig dient sie aber auch als »analytisches Instrument der Intertextualität«.8 Diskursanalysen bedürfen demnach immer auch einer Analyse der Topik. Im Kontext von poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen werden Topik und Rhetorik als Propädeutik für die Textwissenschaften neu mobilisiert, jedoch wurde in der deutschsprachigen Toposforschung das von Wiedemann9 und Bornscheuer10 bereits in den achtziger Jahren benannte Forschungsdesiderat einer Verknüpfung von Foucaults Diskurstheorie mit der Toposforschung lange Zeit ignoriert: Erst 2003 stellt Martin Wengeler eine Methode vor, welche die Toposforschung explizit als zentrales Instrument einer linguistischen

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Wolfgang Neuber, »Topik und Intertextualität. Begriffshierarchie und ramistische Wissenschaft in Theodor Zwingers METHODVS APODEMICA«, in: Wilhelm Kühlmann / Wolfgang Neuber (Hrsg.), Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1994, S. 253–278, hier S. 254. Ebd., S. 257. Vgl. Conrad Wiedemann, »Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen«, in: Dieter Breuer / Helmut Schanze (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 233–255, hier S. 248f.: »Auf was wir hier stoßen, sind die topischen Strukturen der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die ja primär nicht kategorial geordnet, sondern individuell oder kollektiv bewältigt sein will. Dazu hat jede Zeit und jede Gesellschaft eine Unzahl von Sonderrhetoriken und Sonderhermeneutiken, also sprachlichen Produktions- und Verstehensanweisungen, und in ihrem Rahmen wiederum Sondertopiken ausgebildet, in denen sich das Bezugsgeflecht der kurrenten Ideen, Dogmen, Ideologeme und Interessen widerspiegelt. Erst die strukturale Beschreibung dieser teils konkurrierenden, teils sich ergänzenden, teils beziehungslos nebeneinanderexistierenden Modelle vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, in welchem Maß die Sprache neben ihrer bloßen Verständigungsfunktion ein Instrument ist, um gesellschaftliches Leben zu regeln und zu beeinflussen, um Gruppen nach der einen Seite hin abzuschließen und nach der anderen zu öffnen [...]. Diese strukturale Beschreibung aber fällt in die Zuständigkeit des Topikers, der als Verfügungsgewaltiger über die universalen Reihen allein den Selektions- und Akzentuierungscharakter der jeweiligen Sonder- oder Realtopiken nachzuweisen vermag (vgl. die Foucaultsche Verfahrensweise).« Vgl. Lothar Bornscheuer, »Neue Dimensionen und Desiderata der Topik-Forschung«, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 22 (1987), S. 2–27, hier S. 24f.: »Dennoch erscheint heute die Überlegung nicht mehr völlig spekulativ, daß sich die Topik-Forschung bei weiterer konsequenter Verfolgung historisch übergreifender und interdisziplinär gebündelter Fragestellungen zu einer ganz anderen Art von ›Archäologie‹ entwickeln könnte, als sie Curtius im Sinne hatte, nämlich zu einer ›Archäologie‹, die eher im Sinne von Michel Foucault nach den ›fundamentalen Codes einer Kultur‹ fragt, die ›ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen‹ und die allem bewußten und allem fachwissenschaftlichen Wissen (›epistemologische Ebene des Wissens‹) voraus- beziehungsweise zugrundeliegen, oft ganz unbewußt bleiben und daher nur auf der ›archäologischen Ebene des Wissens‹ erkennbar werden.«

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Diskursanalyse profiliert und ihre Leistungsfähigkeit als Instrumentarium der Analyse belegt.11

2. Topoi – zwischen Differenz und Wiederholung Die Ambivalenz des Toposbegriffs, changierend zwischen Klischee beziehungsweise Stereotyp und Suchformel zur Auffindung neuer Gedanken, ist oft beklagt worden.12 In ihr liegt jedoch – hier lässt sich an Bornscheuer anschließen – gerade das produktive Moment der Topik, die seit der Antike »sowohl als habituell-symbolisches Sediment wie auch als polyvalent-argumentatorisch generierendes Produktionsinstrument soziokultureller Entwicklungsprozesse« genutzt wird.13 Auch Roland Barthes macht diese Doppelfunktion der Topik stark: Topik ist für ihn »die Geburtshelferin des Latenten: eine Form, die Inhalte artikuliert und dadurch Sinnfragmente, intelligible Einheiten hervorbringt«.14 Als »Geburtshelferin des Latenten« ist die Topik, die traditionell der inventio zugeordnet wird, jedoch nicht isoliert von der dispositio und der elocutio zu sehen, handelt es sich doch bei den rhetorischen Produktionsstadien, wie Roland Barthes betont, keineswegs »um Elemente einer Struktur, sondern um Akte einer fortschreitenden Strukturierung«.15 Die mit diesem Toposkonzept untersuchte diskursive Einheit von Tradition/Memoria und Innovation/Invention ist – erzähltheoretisch ausgedrückt – nicht auf die Ebene der histoire zu

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Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Tübingen 2003 (Germanistische Linguistik 244). Vgl. Josef Kopperschmidt, »Formale Topik. Anmerkungen zur ihrer heuristischen Funktionalisierung innerhalb einer Argumentationsanalytik«, in: Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik, Tübingen 1991 (Rhetorik-Forschungen 1), S. 53–62. Lothar Bornscheuer, »Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-Begriffs«, in: Heinrich F. Plett, (Hrsg.), Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, München 1977 (Kritische Information 50), S. 204–212, hier S. 210. Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 69. Ebd., S. 53. Vgl. zu diesem Ansatz auch Conrad Wiedemann, »Topik als Vorschule der Interpretation«, S. 241: »Im Allgemeinen hat jedoch die antike Rhetorik und die ihr verpflichtete Tradition die Bereiche der inventio (der Sachen) und elocutio (Wörter) systematisch auseinandergehalten [...]. Nach einem argumentativen Mehrwert des Stils (etwa der Metaphorik) wurde offensichtlich nicht gefragt. Hat diese Auffassung ihre Gültigkeit verloren (wie für uns), so ist es mehr oder minder unvermeidlich, daß auch die bekannten Kategorienreihen der Stillehre den Stellenwert von topischen Frageinventaren annehmen. – Nicht anders dürfte es sich mit dem Bereich der dispositio (verstanden als Gattungslehre) verhalten.«

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reduzieren, sondern lässt sich erst durch die Ebene des discours, des durch die Gattung bedingten Erzähldiskurses, der Erzählperspektiven und der Schreibweisen und ihrer bevorzugten rhetorischen Tropen und Figuren erfassen. Eine Analyse der Alterstopik, die die Resignifikationen des Alters im zeitgenössischen Diskurs zu erfassen sucht, muss deshalb methodisch immer auch eine Analyse der narrativen Muster und der rhetorischen Schreibweisen, mit denen Topoi kulturpoetisch verbunden werden, beinhalten.16 Dabei ist das Neue und Innovative, das die Topik im jeweiligen Diskurs aufzuspüren hilft, – so meine These – immer Resignifikation, also eine Neueinschreibung der traditionellen Alterstopoi. In Erweiterung meiner These lässt sich dieser Resignifikationsprozess als performativ im Sinne Judith Butlers verstehen. Judith Butler definiert Performativität als »die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt«.17 Diese Praxis ständiger Wiederholung und Zitation bedeutet aber nicht eine Wiederholung des ewig Gleichen, denn die Differenz schreibt sich in den Prozess mit ein. So markiert Butler auch die politischen Einsatzmöglichkeiten subversiver Neueinschreibungen im Rahmen des herrschenden Diskurses: In der Performance der abweichenden ReIterationen kultureller Einschreibungen – Butler nennt als Beispiel für diese Praxis die Performance des ironisch hyperaffirmierenden Zitats der Inszenierungen von Geschlecht – können Normierungen als historisch variabel gezeigt und gleichzeitig verschoben werden.18 Zur Analyse von performativen Prozessen topischer Resignifikation bieten sich literarische Texte und insbesondere der zeitgenössische Roman deshalb in besonderem Maß als Forschungsgegenstand an, weil davon ausgegangen wird, dass »Literatur [...] nicht nur deshalb zum

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Dieser Ansatz erfüllt ein Forschungsdesiderat der literaturwissenschaftlichen TopikForschung. Vgl. Frauke Berndt, »Topik-Forschung«, in: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hrsg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin, New York 2005, S. 31–52, hier S. 38: Frauke Berndt kritisiert, dass »die literaturwissenschaftliche Topik-Forschung es bisher versäumt hat, historische Textsorten- und Gattungstheorien sowie formalistische und strukturalistische Texttheorien (z.B. Narratologie, Dramentheorie) als ihren Gegenstand zu definieren.« Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Berlin 1995, S. 22. [Titel der Originalausgabe: Bodies that Matter, New York 1993]. Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1991. [Titel der Originalausgabe: Gender Trouble. New York 1990]. Vgl. insbesondere das Kapitel ›Leibliche Einschreibungen, performative Subversionen. Von der Parodie zur Politik‹. S. 190–218.

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Gegenstand der Topik-Forschung werden [kann], weil sie das Organon der kulturellen Einbildungskraft beziehungsweise der Kultur als Einbildungskraft ist«. Sie eignet sich vielmehr »vor allem dadurch, dass sie die Distribution und Zirkulation des Allgemeinwissens in ihren kombinatorischen Texten reflektiert beziehungsweise zeigt«.19 Literarische Texte bieten kulturelle Räume, in denen die Topik auf sich selbst trifft und autoreferentiell auf sich zurückgeworfen wird.

3. ›Neue Alte‹? Alterstopoi auf der Ebene der histoire Welches neue Wissen über das Alter zeigt sich also in zeitgenössischen Romanen? Eine Forschungsmeinung kommt zu dem Schluss, dass in den zeitgenössischen »literarischen Darstellungen« Altern erstmals in der Literaturgeschichte »als eine positive, befähigende Erfahrung gezeigt wird«, als »Aufbruch zum Selbst«.20 Diese Lesart beruht auf einer abbild-theoretischen Funktionalisierung von Literatur, die sie auf einen Spiegel faktischer Entwicklungen reduziert, die ihr vorausgegangen sind: So wurden die sogenannten »neuen Alten« in der empirischen Sozialforschung bereits Anfang der 1990er Jahre in einer Infratest/Sinus-Studie vorgestellt. Sie machen laut der Studie 25% der 55bis 70-Jährigen aus und werden wie folgt beschrieben: Sie wollen die Chancen, die das Älterwerden in ihren Augen bietet, aktiv nutzen. Selbstverwirklichung, Kreativität, Persönlichkeitswachstum, Aufgeschlossenheit für das Neue stehen im Zentrum ihrer Lebensansprüche. Lebensgenuss (auch durch Konsum), Mobilität (man reist gern), vielfältige Kommunikation, soziale Kontakte, das Wahrnehmen kultureller Angebote kennzeichnen diesen Lebensstil. [...] Bei den meisten aktiven ›neuen Alten‹ finden wir gutsituierte Verhältnisse [...]. Die akademischen Berufe sind hier überdurchschnittlich häufig vertreten.21

Eine weitere Forschungsmeinung geht über die Abbild-Theorie hinaus und spricht der Literatur eine emanzipatorische Bildungsfunktion zu. In aufklärerischer Absicht verhelfe Literatur dazu, die Einstellungen gegenüber alten Menschen und insbesondere gegenüber alten Frauen zu verändern:

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Frauke Berndt, »Topik-Forschung«, S. 45. Roberta Maierhofer, »Der gefährliche Aufbruch zum Selbst. Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Kultur. Eine anokritische Einführung«, in: Ursula Pasero / Gertrud Backes / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion, Wiesbaden 2007, S. 111–127, S. 115. Horst Becker, Die Älteren. Zur Lebenssituation der 55- bis 70jährigen, Bonn 1991, S. 86.

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In the past three decades, increasing numbers of female fiction writers in the United States, Britain, and Canada [...] have created a whole new genre of fiction that rejects negative cultural stereotypes of the old women and aging, seeking to change the society that created these stereotypes.22

Wenn man unter dieser Perspektive die hier ausgewählten Romane liest, so scheinen sich – zumindest auf den ersten Blick – die beiden Forschungsmeinungen zu bestätigen. Sowohl in Monika Marons Endmoränen und Ach Glück als auch in J. M. Coetzees Slow man (dt. Übersetzung Zeitlupe) finden sich Thematisierungen des Neuanfangs, des Aufbruchs in den neuen Lebensabschnitt Alter. Diese histoire ist schnell erzählt: Im Mittelpunkt des Romans Endmoränen von Monika Maron stehen die Gedankengänge der Ich-Erzählerin Johanna, die sich mit Anfang fünfzig dazu veranlasst sieht, über ihr Altern, ihre Vergangenheit, ihre Ehe und ihren zukünftigen Lebensentwurf zu reflektieren. Einer Endmoräne gleich hat sich der »Lebensschutt von Jahrzehnten [...] aufgetürmt: all die Hoffnungen und Sehnsüchte, die enttäuschten Liebschaften, die Träume von einem glücklichen Leben«.23 Schließlich wagt sie einen One-Night-Stand mit einem jüngeren Liebhaber und liest am Ende des Romans in einem Anfall von Spontaneität einen ausgesetzten Hund an einer Raststätte auf. Am Ende des zweiten Romans Ach Glück macht sie, ermutigt durch das Vorbild einer um Jahre älteren russischen Aristokratin, eine Reise nach Mexiko auf den Spuren der Surrealistin Leonora Carrington. Der Protagonist in Coetzees Zeitlupe verliert nach einem Fahrradunfall ein Bein. Durch diesen Verlust sieht er sich auf schmerzliche Weise mit seinem Alter konfrontiert: Er hadert mit dem Verlust seiner Mobilität und glaubt auch, seine sexuelle Attraktivität eingebüßt zu haben. Dennoch verliebt er sich bald darauf in seine Krankenpflegerin, die sein Begehren jedoch nicht erwidert. Aber eine junge blinde Frau lässt sich auf ein sexuelles Abenteuer mit ihm ein. Am Ende des Romans bekommt er vom Sohn seiner Krankenpflegerin, den er inzwischen finanziell unterstützt, ein behindertengerechtes Fahrrad geschenkt, das ihm eine, wenn auch eingeschränkte, »Freiheit« zurückgeben könnte: »Die Freiheit, unterwegs zu sein.«24

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Barbara Frey Waxman, From the Hearth to the Open Road. A feminist study of aging in contemporary literature, New York, Westport, London 1990, hier S. 2. Sieglinde Krause, Interpretation von Monika Marons ›Endmoränen‹ im Rahmen der Projektgruppe Literarische Altersbilder, Seniorenstudium der Universität zu Köln, http://www.literarischealtersbilder.uni-koeln.de/, zuletzt überprüft am 28. Juli 2008. J. M. Coetzee, Zeitlupe, S. 290.

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Zeigt die Literatur also tatsächlich die sozialwissenschaftlich mit dem Schlagwort »neue Alte« beschriebenen Alten, deren literarische Abbilder sich nun im zeitgenössischen Roman tummeln – mobil, intellektuell und sexuell aktiv, hedonistisch, aber dennoch sozial engagiert und nach einigem Zaudern aufbrechend in das Abenteuer einer neuen Lebensphase? Wird diese Lesart der Komplexität, der Ästhetizität und der Literarizität der Romane gerecht? Sind mit dieser Figuration die seit der Antike tradierten Alterstopoi von Alterslob, Altersspott, Alterstrost und Altersklage25 obsolet geworden? Oder hat mit der Rede vom Alter als Aufbruch, als Chance und Neuanfang ein Resignifikationsprozess stattgefunden, der dem Topos des Alterslobs nur eine neue Facette hinzufügt? Die historische Diskursanalyse des Alters, die Gerd Göckenjan vorlegt, verdeutlicht, dass »nicht die Existenz des polarisierten Altersdeutungsmodells [...] historisch verankert und in der Entwicklung erklärt werden [muss], denn es existiert seit der Antike und bis heute, sondern die jeweils unterschiedliche Nutzung dieses polaren Modells, als ein Alterserwartungscode«.26 Vor diesem Hintergrund wäre dann kritisch gegenüber den beiden oben dargestellten Forschungsmeinungen zu fragen, ob der Literatur nicht mehr zugetraut werden sollte, insofern Literatur nicht nur in der Lage ist, diesen »Alterserwartungscode«, diese historisch jeweils unterschiedlich funktionalisierte Topik zu zitieren, sondern auch zu reflektieren und zu re-signifizieren. Um dieser Fragestellung gerecht zu werden, muss der Blick freilich auf andere rhetorische Register gerichtet werden. Folgt man dem Ansatz, die Topik nicht nur in der inventio, sondern auch in der dispositio zu verorten, so lässt sich ein topisches Ordnungsmuster erkennen, das die drei Romane strukturiert: Die histoire gliedert sich in Erzähleinheiten, die sich an die von Arnold van

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Vgl. ausführlicher zu den Topoi des Alterslobs, der Altersklage, des Altersspotts und des Alterstrosts: Christian Gnilka, »Altersklage und Jenseitssehnsucht«, in: Jahrbuch für Antike und Christentum, 14 (1971), S. 5–23; Uwe Opolka, »Gesichter der Alterns. Ein historischer Text- und Bilderbogen«, in: Einführungsbrief Funkkolleg Altern, Tübingen 1996, S. 60–102; Gerd Göckenjahn, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000. Miriam Haller, »Ageing trouble. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung«, in: Altern ist anders, Münster 2004 (Schriftenreihe des InitiativForum Generationenvertrag 1), S. 170–188; Miriam Haller, »Unwürdige Greisinnen. Ageing trouble im literarischen Text«, in: Heike Hartung (Hrsg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45–63; Gerd Göckenjan, »Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur ›alternden‹ Gesellschaft«, in: Heiner Fangerau / Monika Gomille / Henriette Herwig u.a. (Hrsg.), Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007, S. 125–140, S. 128f. Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 31f.

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Gennep analysierte dreiphasige Struktur von Übergangsriten anlehnen: Ablösungsphase, Schwellenphase und Phase der Re-Integration.27 Michael Titzmann zeigt,28 dass sich zumindest die Erzählstruktur des klassischen Bildungsromans beziehungsweise der erzählte Bildungsprozess der/des jugendlichen Helden/in unübersehbar am Strukturschema van Genneps orientiert. Vom Bildungsroman ausgehend, so meine These, hat sich diese Struktur inzwischen auch in den zeitgenössischen Reifungsroman eingeschrieben.29 In den ausgewählten Reifungsromanen dominieren in der Ablösungsphase jeweils die Topoi der Altersklage (Klage über den körperlichen Verfall, Verlust der sexuellen Attraktivität und der gesellschaftlichen Wertschätzung, Klage über Vergänglichkeit und Vergeblichkeit), in der Schwellenphase die Topoi des Altersspotts (sexuelles Verhältnis mit Jüngeren, mit ›Jugendlichkeit‹ konnotiertes Verhalten) und in der Phase der Re-Integration die Topoi des Alterslobs (Persönlichkeitswachstum, Carpe diem angesichts des Memento mori, Genuss des Augenblicks, Neuanfang, Vergangenheitsbewältigung, soziales oder intellektuelles Engagement, Erhabenheit über beziehungsweise Kompensation der körperlichen Einschränkungen durch Einstellungsänderung, Triebsublimierung, Selbstregierung). Dass auch andere zeitgenössische Romane, die den Übergang in die Lebensphase des Alters thematisieren, dieses narrative Ordnungsmuster topisch funktionalisieren, mag als Indiz für die Legitimität der Gattungsbezeichnung ›Reifungsroman‹30 gelten, den die Anglistik analog zum Begriff des ›Bildungsroman‹ eingeführt hat.31

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Arnold van Gennep, Übergangsriten, aus dem Französischen übersetzt von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a. M., New York 1999. [Titel der französischen Ausgabe: Les rites de passage, Paris 1981, 1. Veröffentlichung 1909]. Michael Titzmann, »Die Bildungs-/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche«, in: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 7–64. Vgl. Miriam Haller, »Altern erzählen. ›Rites de passage‹ als narratives Muster im zeitgenössischen Roman«, in: Dieter Ferring / Miriam Haller / Hartmut Meyer-Wolters / Tom Michels (Hrsg.), Sozio-kulturelle Konstruktionen des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg [im Druck]. Vgl. Barbara Frey Waxman: From the Hearth to the Open Road, S. 1ff. Vgl. auch Rosario Arias Doblas: »Moments of Ageing. The Reifungsroman in Contemporary Fiction«, in: Brian J. Worsfold (Hrsg.), Women Ageing through Literature and Experience, Lleida 2005, S. 3–12. Als weitere Beispiele lassen sich nennen: Louis Begleys Schmidt-Romane, Wilhelm Genazinos Liebesblödigkeit, Philipp Roths Ein sterbendes Tier und Jedermann, Coetzees Schande, Doris Lessings Und wieder die Liebe, Martin Walsers Der Lebenslauf der Liebe und Ein liebender Mann.

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Die Ablösungsphase in Endmoränen ist durch die räumliche Trennung der Protagonistin von ihrem alltäglichen Umfeld gekennzeichnet. Allein in ihrem Ferienhaus fühlt sie sich befallen von einer »Ahnung« oder »Furcht«, dass bald diese öde lange Restzeit beginnt, zwanzig oder dreißig Jahre Restzeit, in der wir nur noch als Zielgruppe von Verkäufern aller Branchen und als katastrophaler Kostenfaktor für die Krankenkassen wichtig sind und sonst von skandalöser Unwichtigkeit, so daß unsere Enkelkinder eines Tages auf die Idee kommen müssen, ob sie uns überhaupt leben lassen können, unnütze, faule Menschen, die unnützen, faulen Vergnügungen nachgehen, zwanzig oder dreißig Jahre lang, und das obendrein ihren wohlverdienten Lebensabend nennen, vom ganzen Leben ein Drittel.32

Die Topoi, die in der Ablösungsphase zur Illustration der Situation verwendet werden, stammen aus dem Fundus der Altersklage. Die zentrale Figur beobachtet akribisch die Veränderungen ihres Körpers, bemängelt die »Greisenhaftigkeit« ihrer Haut, den »melierte[n] Scheitel«.33 Das Altwerden erscheint ihr als ein demütigende[r] und wehrlose[r] Zustand des Altwerdens, der, worauf kaum einer gefaßt ist, über uns kommt, während wir uns fast noch im Lager der Jugend wähnen; dann aber, eine Grippe, ein paar anstrengende Wochen, ein Schmerz, und eines Tages, unvorbereitet, erkennen wir im Spiegel unser neues, das fast alte Gesicht und warten von da an auf die unbarmherzige tägliche Verwandlung in das ganz alte.34

Johanna reflektiert ironisch-skeptisch über ihre erotischen Erwartungen: »Ich sagte, daß alt und verkrüppelt ähnliche Zustände seien, weil Alten ebenso wie Verkrüppelten bestimmte Ansprüche einfach nicht zustünden.«35 Ihr früheres politisches Engagement ist einer gewissen »Schläfrigkeit« und Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft gewichen. Sie fragt sich, »ob mich das alles wirklich noch anging und warum ich mich erhitzen sollte an einer Welt, die ganz sicher kommen, in der ich aber nicht mehr leben würde. Laß sie doch ziehen, die Welt...«.36 Die Schwellenphase wird durch ein sexuelles Verhältnis zu einem jüngeren Geliebten, dem russischen Kunsthändler Igor, markiert. Dieser zentrale Topos des Altersspotts wird hier neu eingeschrieben, nämlich als Moment der Anagnoresis – als Moment der Wiedererkennung der durch ihr Altern sich selbst entfremdeten Johanna:

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Monika Maron, Endmoränen, S. 55f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 35. Ebd., S. 137.

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Ich wußte nicht, wie wir ohne Peinlichkeit in ein Bett finden sollten; daran hatte sich also in zwanzig Jahren nichts geändert. [...] Den Rausch der Fremdheit erkannte ich als erstes wieder, die abenteuerliche Nähe fremder Haut, die erschreckende Nacktheit; [...]. Alles erkannte ich wieder, den herben Geruch, die Hitze, das Fordern und Drängen; ich kannte Igor, seit ich den ersten Mann umarmt hatte, und ich war dieselbe wie damals.37

Nach diesen Erfahrungen der Grenzüberschreitung scheint Johanna bereit, sich auf eine neue Lebensphase einzulassen: Sie hat die Idee zu einer neuen Biographie, die sie schreiben möchte, und entscheidet sich, nachhause, zu ihrem Mann zurückzukehren. In einem Anfall von Spontaneität nimmt sie auf der Fahrt einen ausgesetzten Hund mit. Die Reintegrationsphase wird in der Ich-Erzählperspektive als ambivalent geschildert: »Jedesmal nach einer längeren Reise war ich überrascht, vielleicht auch enttäuscht, wenn alles aussah, wie ich es verlassen hatte. [...] Ein wunderlicher Anfang, dachte ich.«38 Mit diesem offenen Ende und dieser nicht aufgelösten Ambivalenz zwischen Scheitern und geglücktem Neuanfang schließt der Roman. Im Anschluss an die Endmoränen hat Maron mit Ach Glück den Faden wieder aufgenommen. Johanna ist zu ihrem Mann Achim zurückgekehrt, hört mit ihrem eigentlichen Beruf als Biographin auf und beginnt in der Galerie ihres Liebhabers zu arbeiten, jedoch ohne den sexuellen Kontakt zu ihm weiterzuführen. Sie unternimmt nächtliche Spaziergänge mit ihrem Hund und bricht schließlich zu einer Reise nach Mexiko auf – auf den Spuren Leonora Carringtons. In Coetzees Slow Man werden die Schwellen- beziehungsweise Grenzüberschreitungen der Übergangsriten sogar explizit thematisiert: Nach der sexuellen Begegnung mit der jungen blinden Marianna raisonniert Paul Raymont darüber, warum Elizabeth Costello, die Schriftstellerin, die ihn verfolgt, dieses Treffen arrangiert haben könnte: ›Our friend [Elizabeth Costello, Anm. M.H.] advocated this [...] because in her eyes it represents the crossing of a threshold. She is of the opinion that until I have crossed a certain threshold I am caught in limbo, unable to grow. That is the hypothesis she is testing out in my case. [...]‹ Even as he speaks he knows it is a lie. Elizabeth Costello has never used the word growth in his hearing. Growth comes out of the self-help manuals.39

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Ebd., S. 245f. Ebd., S. 253. Coetzee, Slow Man, S. 112. [Coetzee, Zeitlupe, S. 127f.: »›Unsere Freundin hat das [...] empfohlen, weil es in ihren Augen das Überschreiten einer Schwelle darstellt. Sie ist der Meinung, wenn ich nicht eine gewisse Schwelle überschreite, dann stecke ich fest und kann nicht wachsen. Das ist die Hypothese, die sie in meinem Fall ausprobiert. [...]‹ Schon während er das sagt, weiß er, dass es eine Lüge ist. Elizabeth Costello hat

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An anderer Stelle fragt er sich: Might that be the real explanation for why the woman has descended on him out of nowhere: not to write him into a book but to induct him into the company of the aged? Might the whole Jokić affair, with his ill-considered and to this point fruitless passion for Mrs Jokić at its centre, be nothing in the end but a complicated rite of passage through which Elizabeth Costello has been sent to guide him?40

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die traditionellen Alterstopoi weiterhin relevant sind, aber im zeitgenössischen Roman narrativ in das topische Ordnungsmuster der Übergangsriten integriert werden, so dass die Topoi von Altersklage, Altersspott (beziehungsweise Altersschelte) und Alterslob sich ablösen und sich im Handlungsverlauf gegenseitig relativieren. Das für die Struktur des Bildungsromans typische dreistufige Ordnungsmuster der Übergangsriten wird auf die Erzählung des Alterns übertragen. Indem der Übergang in die Lebensphase Alter in Analogie zum Übergang von der Jugend zum Erwachsenendasein gesetzt wird, wird das Alter(n) narrativ als Bildungsprozess konstruiert. Die traditionelle Alterstopik wird in dieses Ordnungsmuster integriert, indem sie zitiert, sortiert und somit gleichzeitig resignifiziert wird. Diese Lesart unterschlägt jedoch die exponierte Bedeutung der Erzählerin/des Erzählers und der Erzählperspektive für die Analyse der Alterstopoi. Letztlich sind Erzähleinheiten ebenso wie die konstativen Aspekte einer Äußerung durch eine Figur im Text ohne Berücksichtigung der je besonderen Fokalisierung und ohne die Verortung ihrer Aussagen im Kontext der anderen Erzählperspektiven nicht zu bewerten. Erst unter Berücksichtigung der Vielfalt der Erzählperspektiven und der mit ihnen verbundenen Schreibweisen sowie ihren intertextuellen Verknüpfungen wird die »Redevielfalt« beziehungsweise »Polyphonie« der Stimmen im Roman deutlich, durch die die Darstellung eindimensionaler Realität unterlaufen wird.41

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in seiner Gegenwart nie das Wort Wachstum gebraucht. Wachstum kommt aus den Handbüchern zur Selbsthilfe.«]. Coetzee, Slow Man, S. 191. [Coetzee, Zeitlupe, S. 218: »Könnte das die eigentliche Erklärung dafür sein, warum die Frau wie aus dem Nichts plötzlich bei ihm aufgetaucht ist: nicht weil sie ihn in einem Buch verwenden will, sondern weil sie ihn in die Gemeinschaft der Alten einführen will? Könnte die ganze Jokíc-Affäre, mit seiner unüberlegten und bisher fruchtlosen Leidenschaft für Mrs Jokíc im Mittelpunkt, am Ende nichts weiter sein als ein komplizierter Übergangsritus und Elizabeth Costello war gesandt, um ihn hindurchzuleiten?«]. Vgl. Michail M. Bachtin, »Die Redevielfalt im Roman«, in: M. B. (Hrsg.), Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M. 1979, S. 192–219.

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Um diese Dimension nun ebenfalls in den Blick zu nehmen, werden die rhetorischen Register der Toposanalyse noch einmal gewechselt: Nach der Topik der inventio und der dispositio wird nun die elocutio in die Analyse einbezogen, das heißt der topos wird nun auch in seiner Relation zum trópos untersucht. Dabei konzentriert sich die Analyse der ausgewählten Romane auf den trópos der Ironie als Form uneigentlichen Sprechens.

4. Ironische Resignifikationen Nicht von ungefähr bietet sich in Zeiten der Infragestellung traditioneller Altersbilder und des herrschenden politischen Diskurses über die Notwendigkeit der Etablierung neuer Altersbilder eine ironische Verhandlung der Alterstopoi in der Literatur an: »Ironie hat ihren historischen Ort in Übergangszeiten zwischen einem abgeschiedenen Alten und einem noch nicht absehbaren Neuen [...].«42 Deshalb ist es wenig erstaunlich, dass der ironische Diskurs im zeitgenössischen Roman einen besonderen Stellenwert hat hinsichtlich der Resignifikation und der ironischen Relativierung traditioneller Alterstopoi. Rainer Warning zeigt am Beispiel des realistischen Romans, dass die Ordnung des narrativen ironischen Diskurses im Zitat von Referenzdiskursen [besteht] und dass diese Zitation zu sehen ist in der Ambivalenz von Distanzierung und Wiederholung, von Kritik und Rettung, von illusionärem Trug und autonomem Schein. Als nur noch zitierter ist der Referenzdiskurs um seinen eigenen Wahrheitsanspruch verkürzt, zugleich aber wird er – im Zitat – erneut ›realisiert‹ und damit ästhetisch gerettet. Seine Fülle bleibt auch als durchschaute ein Faszinosum, sie spricht hinein in die exzentrische Negativität des Ironikers, der im Zitat auf Distanz geht, um sich in dieser Distanz zu salvieren für die erneute ›Realisation‹ des Zitierten.43

Diese Beschreibung ironischer Strategien von Intertextualität konkretisiert – ohne auf Butlers Theorie selbst Bezug zu nehmen – das hier angewandte Konzept von Performativität und subversiver Resignifikation im Kontext des literarischen Textes. Die performative Resignifikation der Alterstopoi unterliegt nämlich besonderen Bedingungen, da die Fiktion den Zwängen der pragmatischen Rede in der rhetorischen Situation entkommt. Gleichwohl wird fiktionale Rede ebenfalls ›benutzt‹, da auch sie in Relation zu Interpreten/innen steht. Das Spezifikum fiktionaler Rede beschreibt Warning als

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Rainer Warning, Die Phantasie der Realisten, München 1999, hier S. 163f. Ebd., S. 152f.

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eine Situationsspaltung dergestalt, dass eine interne Sprechsituation in Opposition tritt zu einer externen Rezeptionssituation. Dabei kann die interne Sprechsituation, kann die Binnenpragmatik das kompensieren, was die externe Rezeptionssituation an pragmatischer Determination entbehrt. [...] Die Figur des Erzählers wird zum Orientierungszentrum, das die dargestellte Welt interpretatorisch bindet und in dieser Bindung dem Leser vermittelt.44

Auf diese Weise kann ein auktorialer Erzähler die erzählte Welt, die histoire, ironisieren. Der als Orientierungszentrum vorgeschobene auktoriale Erzähler kann aber in einer Steigerung der ironischen Verunsicherung ebenfalls abgebaut werden in eine personale Erzählsituation45 oder einen »unreliable narrator«,46 einen unzuverlässigen Erzähler. In den hier exemplarisch ausgewählten Romanen lassen sich drei unterschiedliche Ebenen unterscheiden, auf denen der narrative ironische Diskurs die Alterstopik resignifiziert: 1. experimentieren die Romane und die Epitexte von Coetzee und Maron in besonderer Weise mit der Autorfunktion, 2. zeigen wechselnde Erzählperspektiven die traditionelle Alterstopik in unterschiedlichen Facetten, 3. übernimmt das intertextuelle Zitat der Alterstopoi resignifizierende Funktionen. 4.1. Experiment: Autorfunktion Zu den zentralen Paradigmen neuzeitlicher Literatur zählt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Prinzip der Autorschaft. Als Funktion des Textes etabliert sich im Rahmen der Genieästhetik ein Konzept des Autors, das nach Foucault in vier Modalitäten den ›Autor‹ als Funktion ausspielt: Der Autor fungiert zum einen als einheitliches Wertniveau, das es ermöglicht, Modifikationen oder Brüche im Werk im Rückgriff auf die Autorbiographie zu erklären. Zum zweiten fungiert er als Feld eines einheitlichen begrifflichen und theoretischen Zusammenhangs, der die Annahme der Einheit des Werks legitimiert. Drittens fungiert der Autor als stilistische Einheit, die sich wiedererkennen lässt, und viertens als geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt von außer ihm liegenden Ereignissen, die er umsetzt.47 Eines der Kennzeichen des zeitgenössischen Romans ist die Irritation eben dieser Funktionen. Auch Coetzee und Maron arbeiten mit Erzähl- und Textstrategien, die mit den traditionellen Modalitäten der

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Ebd., S. 158. Vgl. Franz Karl Stanzel, Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. Wayne Clayton Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961. Vgl. Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: M.F. (Hrsg.), Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, S. 7–31.

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Autorfunktion spielen. So unterlaufen sie das Begehren der Leserschaft nach dem Rückgriff auf die Autorbiographie zur biographischen Stilllegung des Interpretationsspektrums in unterschiedlichen Epitexten zu ihren Romanen, wie Interviews oder Vorlesungen. Beide spielen mit der Analogie von Schreibprozess und Experiment: So beschreibt Monika Maron in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche den Schreibprozess als Experiment: Die Autorin stelle eine Hypothese auf, die der Schreibprozess dann entweder verifiziere oder falsifiziere: Diesmal, im Falle der ›Endmoränen‹ und einer möglichen Fortsetzung verhielt es sich ähnlich, wenn auch umgekehrt. Auch am Anfang dieses Buches stand eine These, sie hieß: Unsere ideellen Lebensentwürfe enden lange, bevor wir sterben. Diese Behauptung beruhte nicht, wie die Freiheitsbehauptung in der ›Überläuferin‹, auf einem Wunsch, sondern auf Wahrnehmung und wurde darum von dem Buch auch nicht widerlegt. Aber beide Bücher enden mit dem entschiedenen Wunsch ihrer Protagonistinnen nach Veränderung der eigenen Lage.48

Auch Coetzee nutzt zur Irritation der Autorfunktion den Epitext einer Vorlesung: der Tanner Lecture on Human Values der Universität Princeton. Dort präsentiert er einen Vortrag, mit dem er Elizabeth Costello als fiktive Autorfigur einführt, die einen Vortrag an einer Universität hält, die Ähnlichkeit mit der Universität Princeton hat. Coetzee publiziert diesen Vortrag 2001 – also vier Jahre vor Erscheinen von Slow Man – unter dem Titel The Lives of Animals.49 Auch in dem Essayband Elizabeth Costello50 tritt diese Autorfigur wieder auf. Dass sie als ›weibliches Alter Ego‹ von Coetzee bezeichnet wird,51 erscheint aus literaturwissenschaftlicher Sicht naiv, zeigt aber letztlich nur die Stärke des Begehrens der Interpreten/innen nach dem Autor, oder zumindest doch nach einem impliziten Autor als einheitsstiftendem Orientierungszentrum im Sinne Foucaults. In Slow Man ist Elizabeth Costello die Figur einer alternden Schriftstellerin, die sich – als Roman im

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Monika Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, Frankfurt a. M. 2005, hier S. 14. J. M. Coetzee, The Lives of Animals, Princeton 2001. J. M. Coetzee, Elizabeth Costello. Acht Lehrstücke, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, Frankfurt a. M. 2006. [Titel der Originalausgabe: Elizabeth Costello, London 2003]. Vgl. z.B. Alan A. Stone, »Elizabeth Costello«, in: American Journal of Psychiatry, 161 (2004), S. 2336–2337, hier S. 2336: »Eight years ago J. M. Coetzee was asked by Princeton to give the annual Tanner Lecture on Human Values. Coetzee, who was awarded the Nobel Prize for literature in 2003, chose to present the lectures in the form of a fictional account of a distinguished woman, a writer and literary critic like himself, giving similar lectures at a college much like Princeton. Mrs. Elizabeth Costello, I take it, is Coetzee’s alter ego or perhaps his Jungian anima.«

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Roman – den Protagonisten Paul Raymont als ›Vorlage‹ für eine Figur aussucht, dessen Verhalten und Einstellung gegenüber dem eigenen Altern sie zu beeinflussen sucht. »An experiment, that is what it amounts to, an idle, biologico-literary experiment.«52 In diesen ironischen Irritationen der Autorfunktionen suchen nicht wie in Pirandellos Drama Sechs Personen einen Autor, sondern Autorinnenfiguren eine Figur und einen Schreibprozess, der ihre Hypothesen bezüglich des Alternsprozesses entweder verifiziert oder falsifiziert. Die traditionellen Alterstopoi werden durch diese Strategie in den Status einer Hypothese versetzt, in ihrem Geltungsanspruch eingeklammert und ironisiert: Das Alter(n) versteht sich im zeitgenössischen Roman nicht mehr von selbst – es wird zum Experiment und der Reifungsroman zum »literarischen Menschenversuch«.53 Der Topos des Aufbruchs und des Neuanfangs, der auf der Ebene der histoire die Topoi des Alterslobs ergänzt, wird so auf der Ebene des Erzähldiskurses mit proto-experimentellen literarischen Strategien verschränkt. 4.2. Erzählperspektiven: Polyphonie der Stimmen Ob sich in einem zweiten Roman ein Neuanfang der Protagonistin, ein positiv konnotierter Aufbruch in die Lebensphase Alter anschließen könnte – darüber spekuliert Monika Maron in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung. Zentral für die Möglichkeit, einen Neuanfang der Protagonistin zu erzählen, ist nach Maron die Wahl der Erzählperspektive. In Endmoränen wird die dominierende Erzählperspektive der IchErzählerin Johanna mehrfach unterbrochen durch einen Briefwechsel der Ich-Erzählerin mit einem Jugendfreund, zu dem sie, ausgelöst durch die Lebenskrise, wieder Kontakt aufnimmt. Nur durch ihn und die direkte Figurenrede der anderen Personen wird die Perspektive der Ich-Erzählerin in ihren vom Ich zum Wir tendierenden Verallgemeinerungen relativiert. In der Poetikvorlesung spielt Maron die Möglichkeiten unterschiedlicher Erzählperspektiven und deren Einfluss auf die Fortsetzung der Romanhandlung exemplarisch durch: Sie kommt zu dem

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Coetzee, Slow Man, S. 114. Auch hinsichtlich der literarischen Funktionalisierung des Menschenversuchs lohnt sich ein Vergleich mit narrativen Verfahren im Bildungsroman des 18. Jahrhunderts, an deren Beispiel Nicolas Pethes rekonstruiert, wie in literarischen Fallgeschichten die proto-experimentellen Operationen des Isolierens, Irritierens, Observierens, Protokollierens und Interpretierens funktionalisiert werden. Vgl. Nicolas Pethes, Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007.

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Ergebnis, die Ich-Erzählperspektive aufzugeben, um andere Deutungsmuster zu ermöglichen. »Jeder Versuch, die Geschichte [aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, Anm. M. H.] fortzudenken, kehrt nach einer kurzen Schleife wie ein Bumerang an seinen Ausgangspunkt zurück, an das Ende der ›Endmoränen‹.«54 Die Darstellung eines Neuanfangs der Protagonistin sei plausibler aus der Perspektive eines nahen Beobachters darstellbar, der die strauchelnden Versuche der aus der »Balance« geratenden Johanna kommentiert.55 Die Wahl ist in dem 2007 erschienenen Roman Ach Glück auf die Figur des Ehemannes Achim gefallen. Die Ich-Erzählperspektive Johannas wird aufgegeben: In stetigem Wechsel relativiert die männliche Perspektive die personale Erzählperspektive Johannas. Um die Topoi des Alterslobs und das ihnen eigene Pathos der Suche nach Altersglück der Passagen, die aus Johannas Perspektive erzählt werden, zu relativieren und zu reflektieren, wird der Figur des Ehemanns als Kontrast eine ironische Lebenshaltung zugeschrieben. Er erinnert sich: Es war noch nicht lange her, dass er Johanna belächelt hat, als sie beim Frühstück, weil sie die überschwängliche Rezension eines Debütromans gelesen hatte, die Zeitung beiseite legte und fragte, ob er diese Lust, alles und jedes, auch sich selbst, nur noch ironisch zu betrachten verstünde. Ja, natürlich, sagte er. Ich nicht, sagte Johanna, ich überhaupt nicht. Er sagte, dass dem, der die Wiederkehr des Ewiggleichen durchschaue, nur die Ironie bliebe, um mit seiner Nichtigkeit fertigzuwerden. Und Johanna sagte, sie hätte aber eher den Eindruck, diesen ganzen Ironikern ginge es eher um ihre Wichtigkeit als um ihre Nichtigkeit. Schließlich könnten wir, nur weil vor uns schon Milliarden von Menschen gelebt hätten, die ähnlich gefühlt hätten wie wir und gestorben seien, wie wir auch sterben würden, uns nicht nur als deren postmoderner Abklatsch verstehen. Ihr sei es vollkommen gleichgültig, ob Heerscharen anderer Menschen ihre Sehnsucht auch schon empfunden hätten; für sie sei sie neu.56

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Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann, S. 78. Vgl. ebd., S. 90: »Wenn ich, während ich an ›Endmoränen‹ schrieb, gefragt wurde, worum es in dem Buch geht, konnte ich auch nur antworten: Eine Frau fährt aufs Land, weiß nicht, was sie da soll, und fährt wieder nach Hause. Diesmal müßte ich von Balance sprechen; eine Person hat die Balance verloren, weiß aber, daß ihr unvorteilhafter Zustand eigentlich ein Gewinn ist; wie jemand, der ein Leben lang mit einer Kugel am Bein herumlaufen mußte und dann, von dieser Kugel befreit, die Mitte seines Körpers erst wiederfinden muß. Johannas Gleichgewicht beruhte auf einer Täuschung. Abhanden gekommen ist ihr das Gewicht der eigenen Wichtigkeit, einer Wichtigkeit, die keine war. [...] Das Ende der Täuschung bedeutet für Johanna [...] die Ahnung, daß diese Leere Wahrheit ist und jeder Versuch, sie aufzufüllen, die nächste Täuschung werden könnte und daß sie lernen muß, ohne einen durch andere gestifteten Sinn auszukommen.« Ebd., S. 72.

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In Coetzees Slow Man orientiert sich die Konzeptstruktur ebenfalls an einer männlich-weiblichen Oppositionsfiguration. Allerdings übernimmt den ironisch-reflektierenden Part hier die weibliche Figur: ›[...] Ever since the day of my accident, ever since I could have died but seem to have been spared, I have been haunted by the idea of doing good. Before it is too late I would like to perform some act that will be – excuse the word – a blessing, however modest, on the lives of others. Why, you ask? Ultimately, because I have no child of my own to bless as a father does. [...] For that my heart bleeds all the time. For that there is a blessure in my heart. Smile if you wish, Mrs Costello.‹ 57

Die Häufung der Signifikanten blessing, to bless, blessure verknüpft in dieser Passage pathetisch überhöhend deren doppeldeutige Konnotation als Wunde, Verletzung, Verwundung einerseits und Segen oder Wohltat auf der anderen Seite. Die Perspektive Costellos vorwegnehmend wird das pathetische Bekenntnis jedoch gleich wieder hinsichtlich der Wortwahl entschuldigt. Das ironische Lächeln der Gegenspielerin wird antizipiert. 4.3. Intertextuelles Zitat der Alterstopoi Eine weitere, häufig angewandte Möglichkeit der ironischen narrativen Resignifikation traditioneller Alterstopoi im zeitgenössischen Reifungsroman ist das intertextuelle Zitat, das in Coetzees Slow Man sowie in Marons Endmoränen und Ach Glück auf unterschiedlichen Ebenen seine performative Wirkung entfaltet. So werden in Slow Man Alterstopoi des Altersspotts wie die/der lüsterne Greis/in als »vorgegebene Spielregeln«58 im Kommunikationsverhalten zwischen dem alten Patienten und seiner Pflegerin zitiert und ironisch in ihrer Normativität reflektiert: »Ein geiler alter Bock zu sein gehört zum Spiel, zum Spiel, das er nicht mitspielt.«59 Im ironischen Zitat der Alterstopoi unterscheidet Slow Man nicht zwischen dem intertextuellen Verweis auf den literarischen Kanon

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Coetzee, Slow Man, S. 155f. [Coetzee, Zeitlupe, S. 177: »›Seit meinem Unfall, seit dem Tag, an dem ich hätte sterben können, aber anscheinend verschont worden bin, hat mich der Gedanke daran, Gutes zu tun, nicht losgelassen. Ehe es zu spät ist, möchte ich etwas tun, das sich als – entschuldigen Sie das Wort – Segen, wie bescheiden auch immer, für das Leben anderer Menschen erweist. Sie fragen warum? Letzten Endes, weil ich kein eigenes Kind habe, das ich segnen könnte, wie ein Vater seinen Sohn segnet. [...] Deswegen blutet mir unaufhörlich das Herz. Deswegen trage ich eine blessure in mir. Lächeln Sie ruhig, Mrs Costello. [...]‹«]. Coetzee, Zeitlupe, S. 23. Ebd., S. 20.

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(z.B. auf Cervantes Don Quixote oder Flauberts Madame Bovary60) und dem Verweis auf populärkulturelle Texte. In der direkten Figurenrede Elizabeth Costellos, gerichtet an Paul Raymont, folgt direkt auf das Zitat eines Witzes aus dem Fundus des Altersspotts der zum Alterslob gehörige carpe diem-Topos – in Form eines Doris Day-Songs aus den 50er Jahren Enjoy yourself – It’s later than you think: Losing a leg is not a tragedy. On the contrary, losing a leg is comic. Losing any part of the body that sticks out is comic. Otherwise we would not have so many jokes on the subject. There was an old man with one leg / Who stood with his hat out to beg. And so forth. Be advised, Paul: The years go by as quickly as a wink. So enjoy yourself while you’re still in the pink. It’s always later than you think.61

In Monika Marons Ach Glück bildet Leonora Carringtons Roman Das Hörrohr den Intertext, der nicht nur die surrealistischen Schreibweisen als Kontrastfolie zum Realismus aufruft, sondern auch einen Gegenentwurf zu Marons alternsgeplagter glückssuchender Protagonistin formuliert: »Glück hat nichts mit Alter zu tun. Es hängt von der Fähigkeit ab.«62 Wenn man nicht so weit gehen will, das literarische Wissen über das Alter als die »wahre Gerontologie«63 zu bezeichnen – wie Adorno es mit Bezug auf Samuel Becketts Endspiel nahelegt –, so lassen sich doch in literarischen Texten die narrativen Strategien erkennen und unterscheiden, mit denen Alter(n) auch lebensweltlich erzählt, reflektiert und performativ resignifiziert wird. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Ambivalenz des Toposbegriffs, changierend zwischen Perpetuierung des Klischees oder Stereotyps und dessen Modifikation, nicht als konzeptionelle Schwäche zu werten ist, sondern gerade die analytische Potenz ausmacht, die es für die Analyse des sozio-kulturellen Wissens über das Alter(n) zu operationalisieren gilt.

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Vgl. Coetzee, Slow Man, S. 228f. [Coetzee, Zeitlupe, S. 261]. Ebd., S. 99. Leonora Carrington, Das Hörrohr. Roman, aus dem Englischen von Tilman Spengler, Frankfurt a. M. 1980, hier S. 101. [Titel der englischen Vorlage: The Hearing Trumpet, Paris 1974]. Theodor W. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.), Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1989, hier S. 311.

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Wann beginnt das Leben? Überlegungen zur pränatalen Anthropologie der Hebräischen Bibel When life begins is a modern and indeed recently posed question. Medicalbiological processes such as ovulation and nidation are unknown in the ancient world. One of the striking differences between modern and pre-modern thinking is the ancient idea that procreation is comparable to the process of sowing seed. Within this schema, the prefigured child exists in the body of the man, who brings it into the woman’s womb through intercourse. A consideration of several literary sources in the Hebrew Bible suggests that the answer to the questions of whether and from which date a fetus was human depended on the specific theological and anthropological concepts of the author at hand.

Ein Witz* antwortet auf die mit der Themenwahl gestellte Frage mit einer saloppen und fingiert jüdischen Antwort: »Sobald die Kinder aus dem Haus sind!«1 Aufs Korn genommen ist damit eine nicht enden wollende Debatte um die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt einer Schwangeren die Möglichkeit zugestanden wird, die sich in ihr entwickelnde Leibesfrucht unter Zuhilfenahme medizinischer Mittel abzutreiben. Dabei wird in Deutschland unterschieden zwischen einer Abtreibung im Fall einer medizinisch unauffälligen Schwangerschaft, die bei nachgewiesener Beratung der Schwangeren oder im Fall einer Verursachung durch eine kriminelle Tat bis in die zwölfte Woche nach der

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Besagter Witz trägt folgenden Inhalt: Auf die Frage, wann das Leben im Hinblick auf Zeugung und Schwangerschaft beginne, benennt ein katholischer Geistlicher nachdrücklich die Zeugung des Kindes, sein evangelischer Kollege gibt sich unschlüssig: Irgendwo zwischen Zeugung und Geburt. Die Antwort eines Rabbiners lautet: »Sobald die Kinder aus dem Haus sind.« Der in verschiedenen Varianten kursierende Insiderwitz unterstellt eine differenzierte Wahrnehmung von Sexualität und pränataler Entwicklung. Während die katholische Position vom Übereifer gezeichnet ist, das Leben schon mit dem Sexualverkehr beginnen zu lassen, zeigt sich die protestantische Seite auffällig unschlüssig. Die Pointe der jüdischen-rabbinischen Position basiert gerade darauf, dass sie katholischprotestantische Spekuliererei als Puritanismus entlarvt und diese mit einem hedonistischen Gegenentwurf konterkariert.

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Nidation straffrei bleibt. Möglich und straffrei bleibt eine Abtreibung auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche, wenn eine psychische und physische Beeinträchtigung der Mutter nur auf diesem Weg abgewendet werden kann. Eine Vorstellung, dass die zeitliche Entwicklung des Fötus qualitative Sprünge vollzieht,2 die erstens ein sich stetig steigerndes höheres Schutzinteresse des Fötus erkennen lässt und die zweitens eine Verschärfung der Sanktionen für den Fall einer Abtreibung mit sich bringt, hat bereits in der Antike Vorbilder. Die aristotelische Unterscheidung zwischen einer empfindungslosen anima vegetativa, einer Gefühle empfindenden anima animalis und schließlich einer anima intellectiva führte in der kirchlichen Rezeption zur Differenzierung zwischen einem fetus inanimatus (meist die ersten 80 Tage nach der Empfängnis) und einem fetus animatus. Aristoteles knüpft die Notwendigkeit einer Abtreibung im Fall einer Überzahl gezeugter Kinder an die Entwicklungsphase des Fötus: Die Zahl der zu zeugenden Kinder ist ja bestimmt, wenn aber Eheleute durch die Beiwohnung noch weiteren Nachwuchs über diese Grenze hinaus erzielen, so muss man diese Leibesfrüchte, bevor ai;sqhsij und zwh, in sie kommt, abtreiben.3

ai;sqhsij, Sinneswahrnehmung, wird hier mit zwh,, Leben, gleichgesetzt. Anders gesagt: Der Fötus wächst in sein Menschsein hinein. Erst das Vermögen zur sinnlichen Wahrnehmung definiert ihn als Lebewesen, beziehungsweise er ist ein Lebewesen, weil er sinnlich wahrnehmen kann. Die Vorstellung von einer zwischen der Konzeption und der Geburt stattfindenden Beseelung des Fötus hat auch ins rabbinische Denken Einzug gehalten, allerdings dürften dabei griechische Einflüsse

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Luc Boltanski, Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens. Übersetzung aus dem Französischen von Marianne Schneider, Frankfurt am Main 2007, S. 322ff., verweist auf das Dilemma von Argumenten, die Abtreibung unter dem Aspekt einer bestimmten Frist der fötalen Entwicklung zu betrachten. Demnach müsse der Fötus erst eine bestimmte »Prüfung« bestehen, »die ihm den Aufstieg in die höhere Klasse ermöglicht« (ebd., S. 323). Der Umstand, dass diese willkürlich festgelegt werden kann (Geschlechtsakt, Nidation, embryonale Formung, Erkennbarkeit von Bewegungen, Lebensfähigkeit außerhalb der Gebärmutter und schließlich Geburt), zeige, wie subjektiv entsprechende medizinische und ethische beziehungsweise rechtliche Argumente sein können. Arist. pol. 1335b 20ff. Gemeint ist hier, dass ein Fötus nicht getötet werden darf, wenn ihm die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung zugeschrieben werden kann, wenn er also aufgrund seiner Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung während der Abtreibung Schmerzen erleiden würde; vgl. Arist. pol. Buch VII/VIII. Zitiert nach: »Über die beste Verfassung«, in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9. Politik. Teil IV, übersetzt und erläutert von Eckart Schütrumpf, Berlin 2005, S. 535.

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mitgewirkt haben. So differenziert der Talmudtraktat Sanhedrin zwischen der Zeugung, der Beseelung und der Ausstattung mit negativen Eigenschaften: Antoninus fragte Rabbi: ›Von wann an kommt die Seele (n eš¹m¹h ) in den Menschen, von der Stunde seiner Heimsuchung an (miš-š ea`t p eqîd¹h )4 oder von der Stunde der Formung an (miš-š ea`t y eƒîr¹h)?‹ Er sprach zu ihm: ›Von der Stunde der Formung an.‹ Er sprach zu ihm: ›Ist es möglich, dass ein Stück Fleisch (µ atîk¹h šæl b¹´¹r) sich drei Tage lang ungesalzen hält, ohne übel riechend zu werden? Vielmehr: Von der Stunde der Heimsuchung (miš-š ea`t p eqîd¹h ) an!‹ Rabbi sagte: ›Das hat mich Antoninus gelehrt und die Schrift bestätigt dies, denn es heißt: Deine Heimsuchung (p eqûdatk¹ ) hat meine Seele (rûµî ) bewahrt (Hi 10,12).‹ Ferner fragte Antoninus Rabbi: ›Von wann an herrscht der böse Trieb im Menschen, von der Stunde seiner Formung (miš-š ea`t y eƒîr¹h) oder von der Stunde seines Ausgangs (miš-š ea`t y eƒî´¹h ) an?‹ Dieser erwiderte: ›Von der Stunde seiner Formung an!‹ – ›Demnach schlägt er schon im Leibe seiner Mutter aus der Art und kommt dann heraus!? Vielmehr von der Stunde seines Ausgangs an!‹ Rabbi sagte: ›Dies lehrt mich Antoninus und ein Schriftvers unterstützt ihn, denn es heißt: Vor der Tür lauert die Sünde.‹ (Gen 4,7; bSan 91b)5

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Euphemistisch für Geschlechtsverkehr beziehungsweise Zeugung. Die Vorstellung von der pränatalen Vollkommenheit des Kindes, die erst im Augenblick der Geburt zu einem jähen Ende kommt, findet sich ebenso in bNid 31a. Nach der hier begegnenden Konzeption weist das pränatale Kind folgende Eigenschaften auf: Es sei weise und es kenne die gesamte Tora auswendig. Im Augenblick der Geburt stehe ein Engel bereit, dieser gebe dem Kind einen Klaps auf den Mund und die ganze Tora sei wieder vergessen (und muss mühselig wieder neu erlernt werden). Ebenso wie in bSan 91b wird Gen 4,7 als Beleg herangezogen. Die vor der Tür lauernde Sünde sei hier als eine Macht zu verstehen, die den Menschen erst ab dem Augenblick seiner Geburt anfallen könne. Die Vorstellung einer Phasenhaftigkeit der fötalen Entwicklung zeigt sich auch bei der Konzeption und in Praktiken, das Geschlecht des Kindes beeinflussen zu können. Einerseits solle der Umstand eines vor dem Mann erfolgten Orgasmus der Frau ein männliches Kind (und umgekehrt ein weibliches Kind) zur Folge haben (bNid 31a). Diese Vorstellung wird greifbar durch den in bNid 31a begegnenden Gedanken, dass das zuerst erfolgte Emitieren des Samens durch die Frau zu einem männlichen Kind (und wiederum umgekehrt zu einem weiblichen Kind) führe; vgl. Yehuda Feliks, »Art. Biology«, in: Encyclopaedia Judaica, 4 (1971), S. 1015–1030, hier S. 1019f. Demzufolge sei das Geschlecht des Kindes auch durch eine entsprechende Sexualpraxis manipulierbar: »Rabbi sagt: ›Jemand, der männliche Kinder zeugen möchte, vollziehe den Geschlechtsverkehr zweimal hintereinander‹«. Nach der Deutung Raschis würde beim ersten Koitus der Austritt des Samens bei der Frau ausgelöst, beim zweiten hätte dann der Mann zwangsläufig den »zweiten« Orgasmus; vgl. Raschi, Komm. zu bNid 31a.b. Hierbei scheint es sich um eine vereinfachte Übernahme griechisch-römischer Vorstellungen zu handeln, nach der beide Geschlechter sowohl über weibliche als auch über männliche Samen verfügten. In dieser pangenetischen Vorstellungswelt erweise sich der männliche Samen als »stark«, der der Frauen als »schwach«. Über das Geschlecht des Kindes entscheide die Quantität der beiden verschiedenen Samen; vgl. Corpus

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Unverkennbar ist, dass hier die griechische Vorstellung von einer Entwicklung des Fötus übernommen worden ist. Unterschieden werden eine Phase zwischen Zeugung und Animation und eine zwischen Animation und Geburt, aus denen die drei Phasen lebloses Gebilde, Lebewesen und Sünder abgeleitet werden. Bemerkenswert ist, dass die »Stunde der Formgebung« (š ea`t y eƒîr¹h) aufgrund der Vorstellung, ein Fötus ohne Animation müsse verderben wie gewöhnliches Fleisch, sehr früh angesetzt wird. Dennoch scheint mit der Animation in rabbinischer Perspektive noch keine völlige Menschwerdung vorzuliegen. Bei der Diskussion der Frage, ab welchem Zeitpunkt ein abgegangener Fötus als Kind zu betrachten sei (Hintergrund ist die 40- bzw. 80-tägige Tabuisierung der Frau nach der Geburt nach Lev 12,2ff.), wird mit 41 Tagen zwischen Konzeption und Abort ein Zeitmaß festgelegt: Eine Frau, die am 40. Tag einen Abort erleidet, macht sich wegen eines Kindes (wld ) keine Sorgen, (ab) dem 41. Tag sitzt sie wie für einen Jungen, für ein Mädchen und wie für eine Menstruierende. (bSan 91b)

Die Talmudstelle will nicht klären, ab wann ein Fötus als menschliches Wesen zu gelten habe. Im Mittelpunkt steht die Frage, nach welcher Anzahl von Schwangerschaftstagen der Embryo die Mutter im Fall eines Aborts ›verunreinige‹, wie das bei einer normalen Geburt auch der Fall ist. Hervorzuheben ist allerdings, dass der Embryo ab dem 41. Schwangerschaftstag als wld, als Kind und somit als Mensch zu betrachten sei. Die Vorstellung einer pränatalen (und auch anderweitigen) Animation fehlt der Hebräischen Bibel. Welche Vorstellungen verbanden sich also mit dem werdenden Leben?

1. Das pränatale Wesen 1.1. Die Totgeburt (nepæl ) als ein im Totenreich verharrendes Wesen In seiner Klage über sein Schicksal, das er am liebsten durch eine rückwärts projizierte Auslöschung seiner Existenz beenden möchte, lässt das Buch Hiob seinen Protagonisten über seine pränatale Existenz sinnieren:

_____________ Hippocraticum, De genitura (Über den Samen), S. 5f.; und dazu Charlotte Schubert / Ulrich Huttner, Frauenmedizin in der Antike. Griechisch-lateinisch-deutsch, Düsseldorf, Zürich 1999, S. 514.

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Warum bin ich nicht vom Mutterleib (meræµæm) her (kommend) gestorben, warum nicht verstorben, als ich den Mutterleib (mibbæ†æn ) verließ? Warum hat man mich auf die Knie gehoben, was sollten die Brüste, dass ich saugte? Dann würde ich liegen und ich wäre still, schlafen würde ich, Ruhe wäre mir beschieden, mit Königen und Ratgebern der Erde, die sich Trümmer erbauen, oder mit Fürsten, die mit Gold sich füllen ihre Häuser. Wie eine Fehlgeburt (k enepæl ) verscharrt, ich hätte nicht gelebt wie Kleinkinder (k e`ol elîm), die das Licht nicht sehen. (Hi 3,11–16)6

Mit V.11 wechselt der in V.1–10 vorherrschende Ton des Fluchs in die Klage. Der Wunsch bricht sich Bahn, dass aufgrund der durchlittenen Schicksalsschläge die gesamte Biographie annulliert werden könnte. Wäre Hiob vom Mutterleib (meræµæm / mibbæ†æn) an gestorben, hätte seine Existenz gar nicht erst begonnen, dann wäre sein Schicksal dem einer Totgeburt (k enepæl ) und dem von Kleinkindern (k e`ol elîm), die ihre Geburt nicht überlebt haben, vergleichbar.7 Dass dabei eine Vor-

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Die gern und häufig vorgeschlagene Umstellung oder Streichung von V.16 mit der Begründung, dieser passe nicht in den Kontext (vgl. Anm. 11), lässt sich mit der selten belegten ägyptischen Praxis, verstorbene Neugeborene und einige Monate alt gewordene Säuglinge zusammen mit Föten beziwhungsweise Totgeburten zu bestatten, hinterfragen. Françoise Dunand, »Les enfants et la mort en Egypt«, in: Véronique Dasen (Hrsg.), Naissance et petite enfance dans l’Antiqué. Actes du colloque de Fribourg, 28 novembre – 1er décembre 2001, Fribourg, Göttingen 2001, S. 13–32, hier S. 23, verweist auf die in der Nekropole von Dush bestatteten zwölf Föten zwischen sechs und acht Monaten (bei acht davon kann nicht sicher zwischen Totgeburt und verstorbenen Neugeborenen unterschieden werden) und 16 Kleinkindern, die sich zum Zeitpunkt ihres Todes im Alter von fünf Monaten bis sechs Jahren befanden. Die gefundenen Leichname weisen einen schlechten Erhaltungszustand auf, was auf eine möglicherweise nicht erfolgte Mumifizierung hindeutet. Bemerkenswert und für das Verständnis von Hi 3,11–16 hilfreich ist die Gleichbehandlung von verstorbenen Föten, Neugeborenen und Kleinkindern. Auf eine entsprechende Praxis in Mesopotamien hat auch Konrad Volk, »Vom Dunkel in die Helligkeit. Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit in Babylonien und Assyrien«, in: Véronique Dasen (Hrsg.), Naissance et petite enfance dans l’Antiqué. Actes du colloque de Fribourg, 28 novembre – 1er décembre 2001, Fribourg, Göttingen 2001, S. 71–92, hier S. 80, verwiesen. Sowohl Föten ab dem siebten pränatalen Monat als auch Säuglinge bis zum zehnten postnatalen Monat sind intramural in Töpfen bestattet worden. Dass es sich um einen Tod des Kindes während der Geburt handelt, hat Marianne Grohmann, Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen, Tübingen 2007 (Forschungen zum Alten Testament 53), S. 257, unlängst unterstrichen und sich damit einer ganzen Reihe von Auslegern angeschlossen; vgl. Marvin H. Pope, Job. Introduction, Translation, and Notes, New York u.a. 1965, S. 26 (Übersetzung); Samuel R. Driver / George B. Gray, The Book of Job. Together with a New Translation, Edinburgh 1986 (International Critical Commentary), S. 36; Wim A. M. Beuken, »Job’s Imprecation as the Cradle of a New Religious Discourse. The Perplexing Impact of the Semantic Correspondences

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stellung von der Fehlgeburt als eine dem »Bereich des zu Verabscheuenden«8 entstammende Kreatur zu betrachten sei, ist unzutreffend. Das entsprechende Verb †¹man bezieht sich in seinen Belegen überwiegend auf ein (gelegentlich) hastiges Verbergen von Dingen durch Vergraben.9 Dass in Hi 3,16 eine Vorstellung von der Fehlgeburt zum Tragen komme, die deshalb so übereilt verscharrt wurde, um das Aufkommen von Unholden zu vermeiden,10 scheint als Deutung überzogen. Erklären lässt sich die motivische Verbindung von Geburt, Tod und Verbleiben im Mutterleib mit der ägyptischen Konzeption eines »mütterlichen Todesbildes«.11 In zahlreichen auf Särgen stehenden Sprüchen redet die Gottheit den Verstorbenen als ihren Sohn an, den

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between Job 3, Job 4–5 and Job 6–7«, in W. A. M. B. (Hrsg.), The Book of Job, Leuven 1994 (Bibliotheca Ephemeridum theologicum Lovaniensium CXIV), S. 41–78, hier S. 64; Pieter van der Lugt, Rhetorical Criticism and the Poetry of the Book of Job, Leiden u.a. 1995 (Oudtestamentische Studien XXXII), S. 57; Melanie Köhlmoos, Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch, Tübingen 1999 (Forschungen zum Alten Testament 25), S. 152; Samuel Terrien, Job, Genf 2 2005 (Commentaire de l’Ancien Testament XIII), S. 113. Allerdings hat schon Karl Budde, Hiob, Göttingen 1913 (Handkommentar zum Alten Testament II/1), S. 14, darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck »vom Mutterleib« ( meræµæm) eher einen durativen Zustand impliziere. Somit wäre weniger auf einen einmaligen Akt des Tötens als auf einen Prozess des Sterbens verwiesen. Friedrich Horst, Hiob. I. Teilband. Hiob 1–19, Neukirchen-Vluyn 62003 (Biblischer Kommentar Altes Testament XVI/1), S. 50. In seinem Diskurs über die Abtreibung verweist Boltanski, Soziologie, S. 444 darauf, dass in moderner Perspektive »die Abtreibung in ihrem ontologischen Status in die Nähe des Verscharrens« zu versetzen sei, weil sie das gleichsam im Verborgenen entstandene Produkt von Sexualität »in die Dunkelheit zurückstoßen und vergessen machen wolle, wie man eine schlechte Erinnerung vergißt«. Vgl. Ludwig Köhler, Der Hebräische Mensch. Eine Skizze. Mit einem Anhang: Die hebräische Rechtsgemeinde, Darmstadt 1980, S. 38. Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, S. 220. Die meisten Kommentatoren streichen V.16 oder stellen ihn hinter V.11 beziehungsweise V.13; vgl. stellvertretend Georg Fohrer, Das Buch Hiob, Gütersloh 2 1963 (Kommentar zum Alten Testament 16), S. 111. Der Gedanke eines mütterlichen Todesbildes ist allerdings in Hi 1,21 aufgegriffen worden: »Nackt bin ich aus meiner Mutter Leib gekommen, nackt kehre ich dorthin zurück.« Eine Vorstellung von einer Gleichheit von Mutterleib und Mutter Erde als dem »bergenden Bereich beim Werden und Entwerden des Menschen« hat Horst, Hiob, S. 19, an dieser Stelle als Deutung vorgeschlagen. Der häufig erfolgende Verweis auf Ps 139,15, nach dem die Gebeine des Menschen JHWH nicht verborgen waren, als er geschaffen und gewirkt wurde im Verborgenen (bassetær) und in den Tiefen der Erde ( b etaµtiyyôt ´æræƒ), wird meist als Hinweis auf eine wie auch immer geartete Vorstellung von Mutter Erde angeführt; vgl. schon Friedrich Delitzsch, Das Buch Hiob, Leipzig 21876 (Biblischer Commentar über das Alte Testament IV/2), S. 58. Allerdings wird der entsprechende Ausdruck taµtî in den Psalmen nur im Zusammenhang mit dem Tod beziehungsweise der Totenwelt gebraucht; vgl. Ps 63,10; 86,13; 88,7. Unter dieser Voraussetzung sollte auch die Vorstellungswelt von Ps 139,15 so verstanden werden, dass das Kind vor seiner Geburt gedanklich in eine lebensferne jenseitige Sphäre versetzt wird.

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sie wieder in ihren Leib zurückkehren lässt. Nach einer hymnischfeierlichen Anrede an den König durch die im Sarg repräsentierte Himmelsgöttin erfährt der Verstorbene, dass er sich im Sarg nunmehr mit dem Körper der Göttin vereint: Ich traf dich, indem du auf meinem Rücken bist, ich hebe deine Mumie empor, indem meine Arme unter dir sind, ich nehme deine Schönheit ständig in mich auf.12

Der Tod erscheint als zweite Geburt, bei der die Vereinigung mit dem Sarg beziehungsweise der göttlichen Mutter zu einer Inversion des physischen Verfalls des Leichnams führt. Wenn du an mir saugst, lecke ich deinen Leib und vollziehe deine Reinigung mit dem Schweiß meiner Glieder. Wenn du dich auf der Bahre niederstreckst, die ich bin, mache ich für dich einen Himmel mit dem, was in mir ist. Wenn du (dich) entfernst an meinem Rücken, mache ich dir den Erdboden mit meinem Bauch.13

Das Bild einer ausgebliebenen Geburt, das für Hiob ein ewiges Verbleiben in der Welt des Schlafes bedeutet hätte, taucht ebenfalls in den hymnischen ägyptischen Texten, adressiert an die Muttergottheit, auf. Das Eins-Werden mit der Angesprochenen garantiert ein ewiges jenseitiges Leben: O Mutter, o Große! O Frohgemute, aus der ich hervorgegangen bin! O gute Amme, die nicht ermüdet, o gute Nährerin, zu der man eintreten muss, o du, zu der jedermann eingeht Tag für Tag. O große Mutter, deren Kinder nicht entbunden werden, o große Göttin im Innern der Unterwelt.14

An anderer Stelle verheißt die Muttergöttin dem Verstorbenen das ewige Ausbleiben seiner Geburt, d.h. die ewige Perpetuierung seiner jenseitigen Existenz: Deine (irdische) Mutter hat dich zehn Monate getragen, sie hat dich drei Jahre genährt. Ich trage dich auf unbestimmte Zeit, ich werde dich nie gebären.15

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Text Text Text Text

nach Assmann, Tod, S. 221. und Ergänzung nach Assmann, Tod, S. 221. nach Assmann, Tod, S. 227. und Ergänzung nach Assmann, Tod, S. 226.

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Die Vorstellung einer ausbleibenden Geburt in Hi 3,11–16 ist oft als Anlehnung an Jer 20,17 gedeutet worden.16 In der mit Hi 3,11–16 durchaus vergleichbaren Stelle wird ebenfalls der Wunsch nach einer nicht erfolgten Geburt aufgegriffen: Weil er mich nicht getötet hat vom Mutterleib her, und meine Mutter mein Grab geworden wäre, und ihr Leib bliebe schwanger auf ewig. Warum bin ich aus dem Mutterleib gekommen, um zu sehen Mühe und Sorge und ich vollenden muss in Schande meine Tage? (Jer 20,17f.)

Dass hier durch die ewige Schwangerschaft ein »lebensgefährliches Risiko«17 für die Mutter gedanklich assoziiert sein soll, ist so nicht zutreffend. Hier ist vielmehr der Wunsch zum Ausdruck gebracht, Jeremia wäre gar nicht erst in seine eigentliche Existenz getreten, indem sein lebensschwaches pränatales Dasein von vornherein gänzlich ausgelöscht worden wäre.18 Eine wie auch immer geartete medizinische Frage steht hier nicht im Hintergrund. Offensichtlich knüpft Jer

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Vgl. stellvertretend Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia. Kap. 1–20, Göttingen 2008 (Das Alte Testament Deutsch 20), S. 339. Georg Fischer, Jeremia 1–25, Freiburg, Basel, Wien 2005 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), S. 624. Der Gedanke eines »Tötens vom Mutterleib her« (lo’ môt etanî meræµæm) ist bereits in der Antike auf Unverständnis gestoßen. Die griechische Übersetzung mit o[ti ouvk ape,k teine,n me evn mh,tra| mhtro.j setzt ein Töten bereits im Mutterleib voraus. Mit Blick auf die mehrfach belegte Vorstellung eines »Tötens vom Mutterleib her« bleibt diese Übersetzung als ein »harmonistischer Versuch« (Friedrich Giesebrecht, Das Buch Jeremia, Göttingen 1907 [Handkommentar zum Alten Testament III/2]) unbefriedigend. Eine Durchsicht der Stellen, in denen das Verb »töten« ( mût ) wie in Jer 10,17 im Pol. begegnet, verweist auf die Bedeutung »vollends töten« beziehungsweise den »endgültigen Todesstoß versetzen«. Das betrifft die schon schwer angeschlagenen Kämpfer, die von ihrem eigenen Waffenträger den Todesstoß erbitten, um so dem schmachvollen Tod des Wehrlosen durch den Feind beziehungsweise durch eine Frau zu entgehen; vgl. Ri 9,54; 2Sam 1,9.10.16. Ebenso begegnet das Verb im Pol. dort, wo vom Töten des bereits besiegten und am Boden liegenden Feindes die Rede ist; vgl. 1Sam 14,13; 17,51. Dass ein Frevler durch das Böse getötet (mût , Pol.) werden kann, betont der Beter von Ps 34,22. Der dabei parallel gebrauchte Ausdruck »sich schuldig machen« (yæ´š¹mû ) macht den prozesshaften Charakter der Auslöschung des Frevlers durch sein eigenes böses Tun deutlich. Den Tod des sozial Schwachen, ausgelöst durch eine permanente Entrechtung und Unterdrückung, hat Ps 109,16 vor Augen. Dem hier angefeindeten Gegner wird der Vorwurf gemacht, er habe den Elenden und den Armen verfolgt und sein Herz mit dem Ziel erniedrigt, ihn zu töten ( l emôtet ). Der final gebrauchte Inf. cons. stellt sicher, dass der Tod der Betroffenen durch den langen Prozess der Verfolgung und Entwürdigung verursacht wird. Mit Blick auf den sonstigen Gebrauch von mût Pol. sollte auch Jer 20,17f. ein entsprechender Aussageinhalt angenommen werden: Der Sprecher wünscht sich, dass sein schwaches vorgeburtliches Leben gänzlich ausgehaucht worden wäre und er so in einem Zustand dauernder Ruhe und Schläfrigkeit (Hi 3,13) verbliebe.

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20,17f. an eine ägyptische Vorstellung an, nach der Tod und Mutterleib eine metaphorische Symbiose eingehen. Für die ägyptische Jenseitshoffnung stellt der Tod die Rückkehr in eine bildlich von mütterlicher Fürsorge bestimmte Ewigkeit dar. Dass die Phase des irdischen Lebens zwischen Geburt und Tod angesichts der anstehenden Ewigkeit dabei als unwirklich und unbedeutend angesehen werden kann, belegt ein Osirishymnus aus der 19. Dynastie: Du bereitest ihre Stätte im Totenreich, zu deinem Ka flehen sie. Die da kommen Millionen über Millionen, am Ende steht das Anlanden bei dir. Die im Mutterleib haben ihr Gesicht schon auf dich gerichtet, es gibt kein Verweilen in Ägypten.19

Deutlich negativ gebraucht Ps 58,9 das Motiv der Fehlgeburt: [Die Frevler,] sie vergehen wie Wasser, das verrinnt, wie sie zielen mit ihren Pfeilen, so zerbrechen sie, wie die Schnecke ausschleimt, so gehen sie dahin, wie die Fehlgeburt einer Frau (nepæl ´ešæt), die die Sonne nicht sieht. (Ps 58,8f.)

Während im Hiobbuch das Ausbleiben des Existenzbeginns mit dem Verweilen in der Totenruhe gleichgesetzt wird, ist hier von einer Annullierung einer bestehenden Existenz die Rede.20 Dass im Vorstellungshorizont des Vorderen Orients der Vorgang der Geburt als ein Akt des Ins-Licht-Kommens verstanden wurde, mit dem das Kind aus dem chaotischen Bereich befreit wird, belegt die folgende akkadische Gebetsbeschwörung: Aus dem Wasser des Kopulierens entstand der Knochen, aus dem Fleisch der Sehnen entstand das Kind. Aus dem Wasser der wütenden See, der furchtbaren,

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Übersetzung nach Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, hrsg. von Otto Kaiser, Bd. II/6, Gütersloh 1991, S. 897. Die syntaktische Konstruktion »Fehlgeburt einer Frau« (nepæl ´ešæt) ist ungewöhnlich. Der folgende Satz »die die Sonne nicht sieht« nimmt hier offensichtlich die Funktion des Nomen rectum ein; vgl. Friedrich Eberhard König, Syntax der Hebräischen Sprache. Bd. II, Leipzig 1897, § 337x.y, S. 421f. Demgegenüber sehen Wilhelm Gesenius / Emil Kautzsch, Hebräische Grammatik, Leipzig 28 1909, § 96, S. 295, hier eine außergewöhnliche Form im Status absolutus. Dem Vergehen der Fehlgeburt werden die beiden Bildaussagen »Vergehen wie ausgegossenes Wasser« und »Vergehen, wie eine (verletzte?) Schnecke ausschleimt«, vorangestellt. Das Targum (und zustimmend Raschi, Kommentar zur Stelle) deuten beziehungsweise übersetzen den Ausdruck mit »Grashüpfer und Maulwurf«. Folgt man jedoch den allermeisten Kommentatoren und hält an der Bedeutung »Fehlgeburt einer Frau« fest, so ist diese bestimmt von der Vorstellung eines Prozesses des Vergehens, das natürlichen Prozessen wie dem Versickern von Wasser und dem Ausschleimen von Schnecken vergleichbar ist.

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aus dem Wasser des weiten Meeres, wo das Kind an seinen beiden Händen gebunden ist, in dessen Tiefe das Auge der Sonne nicht hineinleuchtet. Da sah es Asalluxi, der Sohn des Ea. Seine verknoteten Fesseln löste er, bereitete ihm den Weg, öffnete ihm den Pfad.21

Erschaffen aus dem »Wasser der Zeugung«22 und gebildet aus dem »Fleisch der Sehnen«, wird als Ort des Kindes der chaotische Urozean angesehen, in den das »Auge der Sonne« nicht hinein dringt. Die Geburt befreit das Kind aus seiner dunklen und chaotischen Umgebung, der Eintritt in die geordnete Welt ist zugleich verbunden mit dem Kommen in das Licht. In der Klage Hiobs, er wäre besser nicht geboren worden, er würde seinem Schicksal das Dasein einer Totgeburt (nepæl) beziehungsweise dasjenige eines Kleinkindes vorziehen, welches nicht durch die Geburt ins Licht gekommen ist – dies hätte ihm bleibende Ruhe und dauernden Schlaf beschieden – klingt somit folgende Vorstellung an: Das Kind verbleibe mit dem Tod vor oder während der Geburt in einer negativ-jenseitigen Welt; es komme erst gar nicht in seine Existenz. Hi 3,16 stellt somit gegenüber V.11–15 weder einen thematischen Bruch dar, noch steht der Vers an dieser Stelle unpassend.23 Hiobs Wunsch, bei seiner Geburt besser gestorben zu sein und so im Totenschlaf Ruhe zu finden, entspricht die zweite gedankliche Möglichkeit, das Los einer Fehlgeburt vorzuziehen. Den Gedanken, dass das pränatal verstorbene Kind gar nicht erst in seine eigentliche Existenz gekommen ist und es so in einer gedachten Gegenwelt verharrt, kennt auch das Buch Kohelet: Wenn ein Mann 120 Kinder zeugte und er lange leben würde und seine Lebensjahre zahlreich wären, und er selbst würde an Gutem nie gesättigt werden, ja nicht einmal ein Grab für ihn existierte, (über ihn) sage ich: Besser als ihm geht es der Fehlgeburt (nepæl), denn in Nichtigkeit geht sie, in der Finsternis wandelt sie und ihr Name bleibt verborgen. Auch die Sonne hat sie weder gesehen noch gekannt, Ruhe bleibt ihr mehr als jenem. (Koh 6,3–5)

Ebenso wie in Hi 3,16 liegt hier die Vorstellung zugrunde, das Ausbleiben der Geburt eines lebenden Kindes bedeute dessen dauerhaftes Verbleiben in einem dämmrigen Zustand. Kohelet gebraucht mit dem

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Übersetzung nach Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge, Bd. 4, hrsg. von Bernd Janowski / Gernot Wilhelm, Gütersloh 2008, S. 72. Die Bezeichnung von Sperma als Wasser begegnet auch in ägyptischen Texten, vgl. die Belege bei Erika Feucht, »Der Weg ins Leben«, in: Véronique Dasen (Hrsg.), Naissance et petite enfance dans l’Antiqué. Actes du colloque de Fribourg, 28 novembre – 1er décembre 2001, Fribourg, Göttingen 2001, S. 33–53, hier S. 38. Vgl. Anm. 11.

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Wortpaar »kommen« und »gehen« eine Schlüsselformulierung seiner kosmologischen und anthropologischen Konzeption. Wie die menschliche Existenz von einer Perpetuierung des Werdens und Vergehens der Geschlechter bestimmt ist (Koh 1,4), wie jede individuelle Existenz vom mittellosen (nackten) Kommen in die Welt und vom mittellosen Dahinscheiden bestimmt ist (Koh 5,14f.) und schließlich wie die Frevler zu ihrer Bestattung am heiligen Ort kommen, während die, die recht gehandelt hatten, sich eben von diesem Ort entfernen müssen und vergessen werden (Koh 8,10), so ist auch die Fehlgeburt in die Nichtigkeit gekommen und wird weiterhin in der Finsternis umhergehen. Im Gegensatz zum Kommen und Vergehen der Generationen und Individuen, die mit Geburt und Tod qualitative Veränderungen erfahren, ist die Fehlgeburt von einer steten Existenz in Nichtigkeit und Dunkelheit bestimmt. 1.2. Der durch äußere Gewalt ausgelöste Abort Das Bundesbuch beschäftigt sich mit der Frage, welche Kompensationsleistung im Fall eines durch äußere Gewalteinwirkung ausgelösten Abortes zu leisten sei: Wenn Männer miteinander streiten und sie stoßen eine schwangere Frau und ihre Kinder (y el¹dæh¹ ) kommen heraus (wey¹ƒ´û), wenn es kein tödlicher Unfall (´¹sôn ) ist, eine Strafe legt man ihm auf, entsprechend dem, was der Mann der Frau ihm auflegt, er gibt es nach einem Richterspruch. Ist es aber ein tödlicher Unfall (´¹sôn ), dann sollst du Leben für Leben geben. (Ex 21,22f.)

Die Regelung ist insofern eindeutig, als im Fall eines tödlichen Ausgangs der Verursacher mit der Todesstrafe zu belegen ist. Unklar ist allerdings, auf wen sich die Klassifizierung ´¹sôn bezieht. Die meisten Ausleger unterstellen hier, dass nur die Mutter in den Blick genommen wird. Kommt diese zu Tode, wird der Verursacher als Mörder bestraft, überlebt sie den Abort, muss der Verursacher eine materielle Kompensation an den Ehemann zahlen, die allerdings richterlich bestätigt werden muss. In diesem Fall wäre es unerheblich, ob das Kind überlebt beziehungsweise ob es schon lebensfähig war oder nicht, allein das Geschick der Mutter wäre von Belang. Gegen eine solche Betrachtung spricht allerdings der Ausdruck »Herausgehen ihrer Kinder«.24 Von pränatalen Kindern ist in der Hebrä-

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An den Stellen, wo eine Totgeburt thematisiert ist, wird das auch explizit gesagt. Neben der oben zitierten Stelle Hi 3,11 ist das der Fall in Num 12,12. Mose bittet für die aussätzige Mirjam, die nicht wie eine sein soll, die tot aus dem Bauch ihrer Mutter herauskommt.

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ischen Bibel immer nur von voll entwickelten Säuglingen die Rede, nirgendwo sind Föten in einem ihrer Entwicklungsstadien gemeint.25 Zudem stehen auch die sonstigen (wenigen) Belege des betreffenden Ausdrucks »tödlicher Unfall« (´¹sôn) im Zusammenhang mit dem Verlust eines Lebens.26 Eine Interpretation, der tödliche Unfall könne sich nur auf das Versterben der Mutter beziehen, da im Fall eines NichtEintretens eines ´¹sôn ja keine Schädigung, weder für die Mutter noch für das Kind, vorläge, wird der Intention der Stelle nicht gerecht.27 Dass das Schicksal des infolge der gewaltsamen Einwirkung geborenen Kindes völlig ohne Bedeutung sein soll, dass zwischen einem glücklichen beziehungsweise tödlichen Ausgang für das Kind nicht unterschieden wird, ist kaum glaubhaft. Zudem greift die Stelle auf eine Formulierung zurück, die sonst in typisierter Redeweise auf eine normale Geburt verweist. Das entsprechende Verb »herausgehen« (y¹ƒ¹´) wird häufig zur Bezeichnung normal verlaufender Geburten verwendet.28 Die Plural-Formulierung »und ihre Kinder kommen heraus« dürfte kaum zufällig gewählt sein. Syntaktisch ist die Stelle in der Abfolge Herausgehen (Plural) der Kinder

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Gegenüber der Konzeption des Bundesbuches, wie im Falle von Handgreiflichkeiten zwischen Männern, in die Frauen, in diesem Fall eine Schwangere, involviert sind und in deren Folge ein Abort evoziert wird, zu verfahren sei, beschäftigt sich die dtn/dtr Reflexion der Stelle mit der Frage der Legitimität einer aktiven Beteiligung einer der Ehefrauen der beteiligten Männer. Aus Ex 21,22 übernimmt Dtn 25,11 die den Rechtsfall einleitende Formulierung »Wenn zwei Männer zusammen streiten« (kî yinn¹ƒû ´ an¹šîm yaµd¹w), führt dann aber den Fall aus, dass gegen die Frau, die in der Hitze der Auseinandersetzung den gegnerischen Mann an dessen Genitalien verletzt beziehungsweise gegen diese schlägt, mit dem Tod bestraft wird. Im Unterschied zu Ex 21,22f., wo nichts darüber gesagt wird, ob die Frau aktiv in den Streit eingreift oder ob gegen sie als Unbeteiligte Gewalt ausgeübt wird, geht Dtn 25,11 generell von einer aktiven Beteiligung der Frau aus. Warum in dtn/dtr Perspektive die Frau aus ihrer Rolle als Geschädigte unter dem besonderen Aspekt einer vorliegenden Schwangerschaft in die Rolle einer aktiv in den Streit eingreifenden Person wechselt beziehungsweise warum die Schwangerschaft hier überhaupt keine Rolle spielt, muss offen bleiben. Vgl. Gen 42,4.38; 44,29. Eine kurze Übersicht der antiken Diskussion der Stelle, die sich insbesondere um die Frage dreht, ob der Schlag gegen die Mutter oder eben auch (oder ausschließlich) gegen den Fötus geführt wird, bietet Christina Tuor-Kurth, »Geboren werden, um etwas Neues anzufangen. Wahrnehmungen von Geburt in der Antike«, in: Ekkehard W. Stegemann / Klaus Wengst (Hrsg.), Eine Grenze hast du gesetzt, Fs. Edna Brocke zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2003 (Judentum und Christentum 13), S. 263–279, hier S. 268f. Vgl. Matthias und Heidelore Köckert, »Ungeborenes Leben in Exodus 22,22–25. Wandlungen im Verständnis eines Rechtssatzes«, in: Ingolf Hübner / Karsten Laudien / Johannes Zachhuber (Hrsg.), Lebenstechnologie und Selbstverständnis. Hintergrund einer aktuellen Debatte, Münster 2004, S. 43–73, hier S. 43f. Vgl. Gen 25,25.26; 38,28.29.30; Jer 1,5; 20,18; Hi 1,21; 10,18; 38,8; Koh 5,14.

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(determiniert) und Benennen der ersten Möglichkeit (keine Todesfolge; unbestimmt im Singular) und der zweiten Möglichkeit (Todesfolge; unbestimmt im Singular) gestaltet. Meist wird die syntaktische Konstruktion so gedeutet, dass der Plural den an sich indeterminierten Charakter des determiniert stehenden Ausdrucks »ihre Kinder« verdeutlichen soll.29 Demnach will die Stelle den Rechtsfall diskutieren, dass die Geburt durch den Stoß ausgelöst wird, jedoch nicht den Fall, dass die Frau während einer Geburt betroffen ist. Die Formulierung wäre auch sinnvoll zu verstehen, wenn hier von einer Mehrlingsgeburt die Rede wäre.30 Der »tödliche Unglücksfall« würde dann auch den Sonderfall einschließen, dass bei einer gewaltsam ausgelösten Geburt von Mehrlingen ein oder zwei Kinder und/oder die Mutter sterben beziehungsweise tot auf die Welt kommen.31 Ex 21,22f. setzt eine Vorstellung voraus, nach der der Fötus, für den es keine hebräische Entsprechung gibt, ab einer bestimmten Entwicklungsphase als Kind (yælæd) und damit als ein Mensch gilt, der

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Vgl. Paul Joüon / Takamitsu Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, 2 Bde., Rom 1991 (Subsidia biblica 14/1.2), S. 503; § 136j. Dass hier eine »Mehrlingsgeburt, die den Einzelfall erkennen läßt« gemeint sei, hat Frank Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, S. 189, hervorgehoben. Allerdings sieht auch Crüsemann hier nur das Leben der Mutter, nicht aber das der Kinder durch die Androhung der Todesstrafe geschützt. Fraglich bleibt dann aber, welchen Sinn der Verweis auf den Sonderfall einer Mehrlingsgeburt haben soll, wenn nur das Geschick der Mutter von Bedeutung sei. Wenn Crüsemann kommentierend übersetzt »aber kein (weiteres) Unglück passiert« (ebd.), wird die eindeutige Semantik des Begriffs ´¹sôn (vgl. Anm. 26) verwässert. Gerade die Postulierung einer Mehrlingsgeburt setzt die Möglichkeit einer Todesfolge für die Mutter und/oder für mindestens eines der Kinder voraus. Anders gesagt: Auch dann, wenn eines der Kinder überlebt, liegt der Fall eines ´¹sôn vor. Auch die hier vorgeschlagene Interpretation von Ex 21,22f. ist nicht frei von Schwierigkeiten. Meines Wissens gibt es keinen Beleg in der literarischen Hinterlassenschaft Israels und seiner Nachbarkulturen, in denen der Tod eines Kindes bei der Geburt beziehungsweise eine Totgeburt beklagt wird. Demgegenüber steht eine ganze Reihe von Beispielen eines Lamento für die bei der Geburt beziehungsweise im Kindbett gestorbene Mutter; verwiesen sei auf das sehr eindrückliche Beispiel der fiktiven Klage einer jungen Frau, die auf die glückliche Zeit mit ihrem Bräutigam hinweist, in deren Schlafzimmer aber der Tod am Tag des Gebärens geschlüpft sei; vgl. Gwendo Leick, Sex and eroticism in Mesopotamian literature, London 1994, S. 175ff. Die bewegenden Worte der Toten, die sehr wahrscheinlich von ihrem Ehemann post mortem verfasst worden sind, verarbeiten den Tod der Frau in einer metaphorischen Rede. Über das Schicksal des Kindes wird nichts gesagt. Dennoch kann auf der anderen Seite nicht e silentio dahingehend generalisiert werden, dass in der Antike der Tod von ungeborenen Kindern beziehungsweise von Kindern bei der Geburt stoisch hingenommen worden ist; vgl. dazu die Überlegungen von Marc Golden, »Childhood in Ancient Greece«, in: Jenifer Neils / John H. Oakley (Hrsg.), Coming of Age in Ancient Greece. Images of Childhood from the Classical Past, Hannover, New Hampshire 2003, S. 13–29, hier S. 22.

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genau wie ein Erwachsener auch vor einer Gewalteinwirkung mit Todesfolge zu schützen ist. Maßgeblich ist, dass der Verursacher eines Schlages mit Todesfolge für die Mutter und/oder das Kind genauso behandelt wird wie ein »regulärer« Totschläger. Allerdings trifft die Regelung nur für den Fall zu, dass die abgegangene Leibesfrucht sich bereits zu einem Kind im eigentlichen Sinne entwickelt hat. Wie im Fall einer durch den Schlag ausgelösten Abortion eines noch nicht voll entwickelten Fötus zu verfahren sei, wird an dieser Stelle explizit nicht gesagt. Denkbar wäre, dass dann die Geldleistung fällig ist, die im Fall einer nicht tödlich verlaufenden Geburt geleistet werden muss. Die Interpretation der Septuaginta an dieser Stelle, die zwischen voll entwickelter und nicht voll entwickelter Leibesfrucht unterscheidet, spräche ebenfalls für diese Deutung. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die rabbinische Festlegung, wonach ein Kind nach sechs Monaten und einem Tag im Mutterleib als lebensfähig galt.32 Zusammenfassend lässt sich für Ex 21,22f. feststellen: Im Fall einer durch Gewalteinwirkung eines Dritten verursachten frühzeitigen Geburt ist bei der Verhängung des Strafmaßes zwischen der Todesstrafe und einer Geldstrafe zu unterscheiden. Ersteres ist im Fall des Todes der Mutter und/oder des voll entwickelten Kindes anzuwenden. Eine Geldstrafe wird verhängt, falls Mutter und Kind die frühzeitige Geburt überleben beziehungsweise wenn ein noch nicht voll entwickelter und somit noch nicht lebensfähiger Fötus abgeht. In der rechtlichen Perspektive des Bundesbuches sind somit das voll entwickelte pränatale Kind und das unter normalen Umständen auf die Welt gekommene Kind gleichgestellt. Anders gesagt: Der Rechtsschutz für das werdende Leben setzt mit dem Ende der anatomischen Entwicklung des pränatalen Kindes ein. 1.3. Pränatale Charakterbildung Die Weisheitsliteratur Israels wird nicht müde, für eine strenge Erziehung zu werben, in der es weniger um eine Prägung des jungen

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Vgl. tShab 15,7. Dass die Lebensfähigkeit eines Neugeborenen nicht als selbstverständlich angesehen wurde, belegt bNid 44b: Die ersten dreißig Lebenstage eines Neugeborenen wurden als eine Art Testphase betrachtet, an deren Ende erst die Lebensfähigkeit des Kindes feststand. Nach der Auffassung von R. Schimeon Ben Gamaliel wird das Kind, das dreißig Tage überlebt hat (eigentlich: dreißig Tage als Mensch verweilte), nicht mehr als Fehlgeburt (nepæl ) betrachtet. Raschis Kommentar zur Stelle bemerkt, dass für Tiere eine achttägige Karenzzeit zwischen der Geburt und der Feststellung der Lebensfähigkeit anzunehmen sei.

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Menschen zu positiven Charaktereigenschaften hin als vielmehr um eine Strategie zur Vermeidung negativer Entwicklungen geht.33 Außerhalb der Weisheitsliteratur begegnet die Vorstellung, nach der negative Charaktereigenschaften von der Mutter auf die Tochter übertragen werden.34 Ebenso kann sich der negative Charakter eines Menschen bereits an seinem auffälligen Verhalten zeigen, das darin besteht, sich gegen die Geburt zu stemmen und so einen komplikationslosen Ablauf zu verhindern: Die Wehen einer Gebärenden sind über ihn gekommen, aber er ist einer, der nicht weise ist, denn zur Zeit steht er nicht auf am ›Durchbruch der Kinder‹. (Hos 13,13)

Der Vers gebraucht zwei Bilder aus dem Bereich der Geburt. Das Überkommen durch Geburtswehen ist ein häufig gebrauchtes Motiv, das, bildlich übertragen auf Männer, einen Zustand der Not oder auch das Erdulden einer Strafe ausdrückt.35 Dass hier zunächst das Bild der Gebärenden auf Israel übertragen wird, macht V.13a deutlich. Dann aber wandelt sich das Bild. Israel wird jetzt mit einem starrsinnigen36 Kind verglichen, das sich nicht zur rechten Zeit im Mutterleib einfindet. Es ist gut denkbar, dass an dieser Stelle eine sprichwörtliche Rede zitiert wird, nach der sich der negative Charakter eines Menschen von dessen Geburt ableiten lasse. Auf der Bildebene wird hier zudem eine aktive Verweigerungshaltung zum Ausdruck gebracht. Die ihm bekannte Tradition von der schon im Mutterleib beginnenden Konkurrenz zwischen den beiden Zwillingen Jakob und Esau erklärt der Verfasser von Hos 12,4 mit einer sich schon vor der Geburt abzeichnenden negativen Charaktereigenschaft Jakobs: Im Mutterleib (babbæ‰æn ) hat er schon seinen Bruder betrogen, und in seiner Stärke mit Gott gekämpft. (Hos 12,4)

Gegenüber ihrer Vorlage, der Geschichte von der Schwangerschaft Rebekkas, ist in der Hoseastelle eine bemerkenswerte Umdeutung vorgenommen worden.37 Gen 25,22 spricht davon, wie die beiden Zwillin-

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Vgl. Prov 13,24; 19,18; Sir 7,23f. Vgl. Ez 16,44; siehe dazu unten S. 14. Vgl. Jes 13,8; 21,3; 26,17f.; Jer 22,23; Mi 4,9f. Wörtlich steht hû´ b¢n lo’ µ¹k¹m – »er ist ein nicht-weiser Sohn«. Von älteren Auslegern ist an dieser Stelle vermutet worden, Hosea habe hier eine Tradition beziehungsweise narrative Nuance der Jakob-Esau-Sage gekannt, die das Geschehen auf eine »gröbere Weise« (Kurt Marti, Das Dodekapropheton, Tübingen 1904 [Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament 13], S. 94), dargestellt habe; vgl. auch Wilhelm Nowack, Die kleinen Propheten, Göttingen 1903 (Handkommentar zum Alten Testament III/4), S. 74f. Demgegenüber ist von Hans Walter Wolff, Dodekapropheton 1. Hosea, Neukirchen-Vluyn 31976 (Biblischer Kommentar Altes Testament XIV/1), S. 274, das Stichwort »Abwandlung« gebraucht worden. Hos 12,4 habe den

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ge im Leib so sehr miteinander ringen, dass sich die Mutter über ihr schweres Los beklagt. Daran schließt sich der Orakelspruch an, der jüngere Sohn werde über den Erstgeborenen dominieren (V.23). Die volksetymologische Deutung des Namens Jakob (ya`aqob) mit dem Nomen `¹qeb (Ferse) ist in Hos 12,4 aufgegriffen und als Hinweis auf den Charakter Jakobs gedeutet worden. In Gen 25,22 ist von einer Negativzeichnung Jakobs nichts zu spüren. Er ist der erwählte Zweitgeborene, der sich schon bei seiner Geburt gegenüber seinem grobschlächtigen Bruder Esau als der listenreichere erweist.38 Dass sich der negative Charakter einer Mutter auf ihre Tochter übertragen kann, unterstellt das sehr drastisch gehaltene Kapitel Ez 16. Die sich sexuell lasziv gebärdende Frau in Ez 16, die ein Abbild des seinem Gott untreuen Israel bieten soll, habe ihre negativen Charaktereigenschaften von ihrer Mutter übertragen bekommen: Siehe, ganz wie das Sprichwort, das sich auf die sagen lässt: ›Wie die Mutter, so die Tochter‹. (Ez 16,44)

2. Biokynetische Aspekte der Menschwerdung Vielerorts sind Spekulationen darüber angestellt worden, aus welchen Bestandteilen sich das im Mutterleib entstehende Wesen aufbaut. Der Gedanke, dass das Sperma die Grundlage für die Bildung des Blutes liefert, findet sich in der apokryphen Weisheit Salomos: Auch ich bin ein sterblicher Mensch, allen gleich. Und ein Nachkomme des ersten, aus Erde gemachten Menschen. Und im Mutterleib wurde ich als fleischliches Wesen gebildet, in zehn Monaten im Blut geronnen, aus dem Samen eines Mannes und der Lust, die zum Beischlaf hinzukam.

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gesamten Jakob-Esau-Zyklus im Blick, also auch den tatsächlichen späteren Betrug, insbesondere Gen 27,36. Demnach habe Hosea den Charakter Jakobs auch bis zu dessen unbewussten Taten rückprojizieren und verfolgen können; ebd. Für die hier erhobene Fragestellung ist es von Bedeutung, dass der Verfasser von Hos 12,4 eine pränatale charakterliche Determiniertheit immerhin voraussetzen kann. Die Vorstellung einer vorgegebenen pränatalen charakterlichen Eigenschaft begegnet in der ägyptischen Sinuhe-Erzählung. Die Aussage über den Herrscher »Er eroberte schon im Ei« unterstellt ein kämpferisches Draufgängertum, das sich schon im Mutterleib abzeichnet. Die entsprechende Formulierung jw=f m nsw j¾.n=f m swµ.t (SinB 69; »Er ist ein König, der schon im Ei/Mutterleib erobert hat«) unterstreicht, dass die positiven Eigenschaften des Herrschers bereits pränatal ausgebildet waren. Die Stelle hält zudem fest, dass sich die vorgeprägten Charaktereigenschaften des Königs auch unmittelbar nach seiner Geburt zeigen: jw=f µr=f ¼r msj.tw=f (SinB 69; »Er [richtete] seinen Blick darauf, [bereits] als er geboren wurde«); zum Text vgl. Aylward M. Blackman, Middle-Egyptian Stories, Brüssel 1972 (Bibliotheca Aegyptiaca II), S. 21.

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Und als ich geboren wurde, da atmete ich (allen gemeinsame) Luft ein. Und ich fiel auf die Erde, die gleiches von allen erduldet (oder: auf der alle das gleiche erdulden), und wie alle weinte ich beim gleichen ersten Laut. In Windeln und mit Sorge wurde ich aufgezogen, kein König hatte nämlich einen anderen Anfang seiner Geburt. Einen Anfang ins Leben (ei;sodoj eivj to.n bi,on) haben alle, und der Ausgang ist (für alle) gleich. (Weish 7,1–6)39

Die Vorstellung einer zehn Monate währenden Schwangerschaft ist ebenso wie der Gedanke, dass das Sperma im Leib der Frau einen Gerinnungsprozess des Menstruationsblutes auslöst, aus dem der Fötus hervorgeht, in der hellenistischen Literatur auch anderweitig belegt.40 Bemerkenswert für die hier erhobene Fragestellung ist der prozesshafte Charakter der Entstehung des Fötus. Die Geburt, der erste Atemzug, der erste Schrei und die erste Fürsorge für das neugeborene Kind sind Spezifikationen, die dann mit dem Ausdruck »Anfang ins Leben« (ei;sodoj eivj to.n bi,on) noch einmal zusammengefasst werden. Das pränatale Wesen ist hier als »embryonic material« gekennzeichnet.41 Die Argumentationsstruktur von Weish 7,1–6 zielt darauf aufzuzeigen, dass der König gegenüber allen anderen Menschen keine biologischen und biographischen Vorteile genießt. Wie alle anderen Menschen kommt er hilfsbedürftig auf die Welt, wie alle anderen Menschen erfährt er elterliche Fürsorge. Unterschieden wird hier zwischen einer pränatalen Vor- und Reifephase, die mit der Geburt als dem eigentlichen »Eingang ins Leben« abgeschlossen wird. Während hier die Entwicklung des Fötus zu einem Kind rückblickend von der Geburt her betrachtet wird, verstehen andere Stellen die Zeugung eines Menschen im Sinne einer Initialzündung, bei der der künftige Mensch als Samen in die Mutter eingebracht wird. Eine entsprechende Sichtweise begegnet mit der semantischen Breite des Ausdrucks zæra`, der die Bedeutungen Sperma,42 Saatgut43 und Nachkommen umfasst. Bildlich gesprochen bringt der Vater mit dem Sexualverkehr seinen Samen in die Mutter ein, so wie Saatgut bei der Aussaat in die Erde eingebracht wird.44

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Übersetzung nach Hans Hübner, Die Weisheit Salomons, Göttingen 1999 (Das Alte Testament Deutsch. Apokryphen 4), S. 92. Zu den Belegen siehe Hübner, Die Weisheit Salomons, S. 94. Moyna McGlynn, Divine Judgement and Divine Benevolence in the Book of Wisdom, Tübingen 2001 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/139), S. 109. Vgl. Lev 15,16.17.18.22. Vgl. Dtn 22,2; 28,3; Hag 2,19. Zum altorientalischen beziehungsweise ägyptischen Hintergrund der Vorstellung vgl. Andreas Kunz, »Zur Vorstellung von Zeugung und Schwangerschaft im antiken

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Die Vorstellung, dass mit der Zeugung der Samen des Mannes belebt wird, begegnet in der Geschichte von Lot und seinen Töchtern. Nach der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas sehen Lots Töchter nur eine Möglichkeit, zu Kindern zu kommen: Da sprach die Ältere zur Jüngeren: ›Unser Vater ist alt und es gibt keinen Mann im Land, der zu uns eingehen könnte in der auf der ganzen Welt sonst üblichen Weise. Komm, lass uns unserem Vater Wein zu trinken geben, wir wollen mit ihm schlafen und wir wollen am Leben halten (µyh Pi.) Samen/Sperma/ Nachkommen (zæra` ) von unserem Vater!‹ (Gen 19,31f.; vgl. V.34)

Das hier verwendete Verb »am Leben halten« (µyh Pi.) steht in allen seinen sonstigen 54 Belegen im Piel immer in der Bedeutung »am Leben lassen« bzw. »Leben retten« oder negiert in der Bedeutung »töten«. Die Tat der beiden Töchter, die in der Auslegungsgeschichte sowohl als negativ eingefärbter Inzest als auch als heroische Tat gedeutet worden ist,45 initiiert die Weiterexistenz des väterlichen Samens in der Gestalt von Nachkommen. Die Zeugung ist dabei kein Vorgang, an dem beide Seiten in gleicher Weise beteiligt sind. Die Möglichkeit, dass ein Mann in der sonst üblichen Weise »in sie eingeht« und sie so zu zæra` kommen, ist den Töchtern Lots verwehrt. So bleibt ihnen nur, sich zæra` von ihrem Vater zu verschaffen und diesen zu beleben.46 Sehr drastisch wird ein entsprechender Vorstellungshorizont in Num 5,28 ausformuliert. Für den Fall, dass eine des Ehebruchs verdächtigte Frau durch ein Ordal als unschuldig erwiesen wurde, kann ihr Ehemann wieder mit ihr Sexualverkehr ausüben bzw. mit ihr ein Kind zeugen:

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Israel«, in: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 111 (1999), S. 561–582, hier S. 561ff. Dass die Episode einen verwerflichen Inzest aufzeigen wolle, zieht sich als roter Faden durch die Auslegungsgeschichte; vgl. beispielsweise August Wilhelm Knobel, Die Genesis, Leipzig 1875 (Kurzgefasstes exegetisches Handbuch 11), S. 287; Walter Brueggemann, Genesis, A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Atlanta 1982, S. 176f. Allerdings hat sich schon Hermann Gunkel, Genesis, Göttingen 5 1922, S. 218, gegen eine negative Deutung der Erzählung gewandt: »Die Söhne aber, die aus solchem Bette geboren sind, schämen sich dieser Herkunft durchaus nicht, sondern sie verkünden stolz den Heroismus ihrer Mütter [...]«. Gegenüber Interpretationen von Gen 19,30–38, nach denen durch den Inzest eine Negativfolie auf die beiden Völker Moab und Ammon gelegt werden soll, lässt sich das Argument anführen, dass in der Genesis sonst eine derartige diffamierende Sicht auf Nachbarkulturen Israels nicht begegnet; vgl. die anderweitige Auffassung zuletzt bei Timothy D. Finlay, The Birth Report Genre in the Hebrew Bible, Tübingen 2005 (Forschungen zum Alten Testament II/12), S. 203. In synchroner Perspektive stößt der Leser hier zum dritten Mal auf das Verb µyh im Piel. Zum ersten Mal taucht der Ausdruck in Gen 7,3 im Zusammenhang der Beauftragung Noahs auf, er solle sieben Tiere oder Tierpaare von jeder Art in der Arche aufnehmen, um deren Samen »zu beleben«; vgl. auch die zutreffende Übersetzung M. Bubers »Samen neuzubeleben«. Vgl. auch Gen 12,12.

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Wenn sie aber nicht (durch illegitimen Sexualverkehr) verunreinigt ist, so ist sie rein und bleibt straffrei, mit Samen/Sperma (zæra` ) kann sie besamt werden (z¹ra` ; Niphal). (Num 5,28)

Das hier verwendete Verbum z¹ra` verweist in seinen sonstigen Belegen im Niphal auf ein Aussäen von Saatgut.47 Jacob Milgrom hat zu dieser Stelle vermutet, dass das verwendete Wasser sowohl bei einem erwiesenen Ehebruch als auch bei erwiesener Unschuld eine magische Funktion erfüllt. Während das magische Wasser sich im Fall eines zurückliegenden illegitimen Sexualverkehrs zerstörerisch auf den Leib der Frau auswirkt, führt es im gegenteiligen Fall zu einer Schwangerschaft.48 Der älteste Beleg dieser Sichtweise findet sich bei Josephus, der bei einer durch übergroße Liebe und unbegründete Eifersucht ausgelösten Untersuchung unterstellt, dass die Frau im 10. Monat nach dem Ordal ein Kind zur Welt bringen werde.49 Bemerkenswerterweise verliert der Mischna-Traktat Sota, der sich ausführlich mit dem Eifersuchtsordal in Num 5,11–31 beschäftigt, kein Wort über die Möglichkeit einer vorliegenden Unschuld der Frau. Die talmudische Kommentierung hält später fest, dass im Fall eines unbegründeten Ehebruchverdachts das Ordal für die Frau wirkungslos bleibe.50 Eine konträre rabbinische Position erläutert dagegen, falls die Frau unschuldig sei, wirke sich das Ordal positiv aus. Neige sie zu schwerer Geburt, werde diese im konkreten Fall durch das Ordal zu einer leichten.51 Angesichts der schon in der frühen jüdischen Kommentierung anzutreffenden Unsicherheit über die (magische) Funktion des Ordals bei einem unbegründeten Verdacht dürfte die Frage kaum zu klären sein.52 Fraglich

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Vgl. Lev 11,37; Dtn 21,4; 29,22; metaphorisch in Ez 36,9; Nah 1,14. Vgl. Jacob Milgrom, »Ablution«, in: Erhard Blum / Christian Macholz / Ekkehard Stegemann (Hrsg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, Fs. R. Rendtorff zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 90–95, hier S. 91. Vgl. Jos. Ant. III, § 270–273. Vgl. bSot 7b. Vgl. tSot II, 3. Der Ausdruck w enizr`¹h zæra` wird zum Teil als »Gegensatz zum Schwinden der Hüfte« verstanden, der entweder eine »Erhaltung der Konzeptionsfähigkeit« oder aber »die Wiederherstellung des ehelichen Verkehrs« impliziere; Heinrich Holzinger, Numeri, Leipzig 1903 (Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament IV), S. 23, mit Verweis auf entsprechende Positionen Stades und Dillmanns. Vgl. auch Hermann Leberecht Strack, Die Bücher Genesis, Exodus, Leviticus und Numeri, München 1894 (Kurzgefasster Kommentar zu den heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments 1), S. 384, nach dem das Ordal erweise, dass die Frau nicht unfruchtbar sein werde. Eine Vermischung der Positionen nimmt Diether Kellermann, Die Priesterschrift von Num 1,1–10,10, Berlin 1970 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 120), S. 78, vor, wenn er im Ausdruck w enizr`¹h zæra` einen Hinweis dafür findet, dass die Frau (nunmehr?) »empfängnisbereit« sei und sie »ihre Ehe normal weiterführen« könne.

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bleibt, ob der Ausdruck »mit Samen besamt werden« (w enizr`¹h zæra` ) überhaupt im Zusammenhang mit Zeugung und Schwangerschaft steht.53 Auf die Feststellung, dass die Frau bei einem Ausbleiben der Schwellung des Bauches und des Schwindens der Hüften als »nicht verunreinigt« (lo’ ni‰me´¹h) bzw. als »rein« (‰ehor¹h) gilt, folgt die wiederum gedoppelte Aussage, dass sie »straffrei bleibt« (niqqet¹h) und mit zæra` »besamt« (w enizr`¹h zæra` ) wird. Die Reihung »nicht unrein«, »rein«, »straffrei bleiben« und »Besamung« legt den Schluss nahe, dass nach dem ausgeräumten Verdacht des Ehebruchs Sexualität (mit dem Ziel der Zeugung von Nachkommen) wieder erlaubt sei. »Mit Samen besäen« stellt sich somit als ein Euphemismus dar, der Sexualität nicht bildlich, sondern realiter, als ein Einbringen von Samen und damit potenziellen Nachkommen versteht. Demgegenüber vergleicht Lev 12,2 die Zeugung mit dem aus Gen 1,11f. übernommenen Bild, Pflanzensamen durch die Erde aufkeimen zu lassen: Rede mit den Israeliten und sprich: Wenn eine Frau Samen / Sperma / Nachkommen aufkeimen lässt (tazrîa` ) und sie ein männliches (Kind) gebiert, dann ist sie sieben Tage lang unrein, wie im Fall ihrer Menstruation. (Lev 12,2)

Die in Lev 12,2 und Num 5,28 durchscheinenden Vorstellungen der Verfasser der Priesterschrift machen es schwer, von einem Beginn des Lebens im eigentlichen Sinn zu sprechen. So wie sich nach dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht die Pflanzen selbst durch das perpetuierte Hervorbringen von Samen reproduzieren, so ist auch die menschliche Fortpflanzung einem Prozess unterworfen, in dem durch Sexualität der im Samen/Sperma des Mannes präfigurierte Mensch in die Frau eingebracht wird, die diesen dann, wie die Erde die Pflanzen, zu einem Menschen ausbildet.54 Einen weiblichen Anteil an der Schaffung des neuen Menschen hat es in der Vorstellungswelt der Hebräischen Bibel nicht gegeben. Ganz anders als später bei den griechischrömischen medizinischen Schriftstellern, die sehr wohl die Beteiligung

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In der halachischen Diskussion bei Maimonides werden altersbedingt oder physisch infertile Frauen vom Eifersuchtsordal ausgeschlossen. Der Ausdruck beziehe sich nur auf gebärfähige Frauen, deren Schwangerschaft dann durch das bestandene Eifersuchtsordal ausgelöst wird und das dann die Schwangerschaft positiv beeinflussen werde: Die Frau, die sonst zu schweren Geburten neigt, werde eine leichte haben, die, die sonst Mädchen gebiert, werde einen Jungen gebären; vgl. Maimonides, Mischneh Ha-Torah, Sefer Nashim, Sotah 2,10. Zur kulturübergreifenden Vorstellung von der Zeugung als ein mit der Pflanzenreproduktion vergleichbarer Vorgang vgl. zuletzt Dorothea Erbele-Küster, Körper und Geschlecht. Studien zur Anthropologie von Leviticus 12 und 15, Neukirchen-Vluyn 2008 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 121), S. 103f.

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weiblicher und männlicher Samen an der Ausbildung der Leibesfrucht betonen, steuert die Frau keinen essentiellen Stoff, kein Ei oder dergleichen, dem Reproduktionsprozess bei.55 Eine entsprechende Annahme findet sich auch im apokryphen äthiopischen Henoch. Nach der Erwähnung der sogenannten Engelehen in Gen 6,1–4 wird begründend festgehalten: Deshalb habe ich ihnen Frauen gegeben, damit sie sie besamen (i[na spermati,zousin) und mit ihnen Kinder zeugen, sodass ihnen also nichts auf Erden fehlt. (äthHen 15,5)

Die Vorstellung von einer Befruchtung der Frau mittels Samen, in dem der Fötus bereits vollständig präfiguriert ist, musste sich nachhaltig auf das Verständnis der Vater-Kind-Beziehung niederschlagen. Es ist gerade keine metaphorische Rede, wenn Nachkommen als Leibesfrüchte des väterlichen Bauches angesehen wurden. So kann Hiob seine eigenen Söhne als die Früchte seines Leibes bezeichnen, die sich zusammen mit seinen Brüdern und Bekannten, Verwandten, Bediensteten, Mägden und dem (obersten?) Hausdiener von ihm distanzieren: Mein Atemhauch ist fremd meiner Frau, zuwider bin ich den Söhnen meines Leibes (lib enê bi‰nî ). (Hi 19,17)

Dass hier, wie häufig angenommen, von den Früchten des Leibes der Mutter Hiobs die Rede sein soll, ist alles andere als überzeugend.56 Schließlich ist bereits in V.13 die Rede von den Brüdern; es bliebe rätselhaft, warum Hiob den Gedanken noch einmal in V.17 in einer derart verschlüsselten Weise aufgreifen sollte. Zudem würde jegliche Parallele dafür fehlen, dass der Sohn seine Mutter als »mein Leib« bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist zudem auf die Stellen zu verweisen, in denen die Nachkommenschaft der angesprochenen männlichen Person als »Früchte deines Leibes« bezeichnet wird. Die Fluchreihe in Dtn 28 identifiziert die »Früchte deines Leibes« mit den eigenen Söhnen und Töchtern, die in den hier geschilderten chaotischen Umständen in höchster Not verzehrt werden: Du wirst essen die Früchte deines Leibes (p erî bi‰n ekâ ), das Fleisch deiner Söhne und Töchter, welche dir JHWH, dein Gott, gegeben hat während der

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Vgl. Baruch Levine, »›Seed‹ versus ›Womb‹. Expressions of Male Dominance in Biblical Israel«, in: Simo Parpola / Robert M. Whiting (Hrsg.), Sex and Gender in the Ancient Near East. Proceedings of the 47th Rencontre Assyriologique Internationale, Helsinki, July 2–6, 2001. Part II, Helsinki 2002, S. 337–343, hier S. 341f. Vgl. Fohrer, Hiob, S. 308. Zutreffend ist dagegen die Deutung von David Wolfers, Deep Things Out of Darkness. The Book of Job. Essays and a New English Translation, Kampen 1995, S. 135–137: Die Wortphrase beziehe sich auf die biologischen Kinder Hiobs.

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Belagerung und der Bedrängung, mit der dein Feind dich bedrängen wird. (Dtn 28,53)57

Dass in Hi 19,17 die Frau und Mutter in einem Atemzug mit den Söhnen des Leibes Hiobs genannt wird, gewährt einen tiefen Einblick in die Vorstellung von der Zeugung eines Kindes.

3. Religiöse Aspekte der Menschwerdung Ab welchem Zeitpunkt ist das entstehende menschliche Wesen als eigenes Subjekt und Gegenüber Gottes definiert? Zur Beantwortung dieser Frage ist auf statistisches Material zurückzugreifen. Die Verwendung der Ausdrücke für »vom Mutterleib an« erscheint auffällig häufiger als der entsprechende Terminus »im Mutterleib«.58 Zum Vorstellungshorizont, dass das erste Rettungshandeln Gottes am Menschen während dessen Geburt geschieht, ist auf Ps 22 zu verweisen: Nach der Auflistung der Themen »vergebliches Schreien um Hilfe« (V.2f.), »unnahbare Heiligkeit Gottes« (V.4), »historisches Rettungshandeln Gottes an den Vätern« (V.5) aufgrund ihres Schreiens um Hilfe (V.6), »Nichtigkeit des Beters« (V.7) und »Spott der Feinde«, gegenüber dem JHWH dem Beter beistehen möge (V.7f.), erfolgt der Rückblick auf ein bereits erlebtes Rettungshandeln JHWHs zugunsten des Beters, nämlich das bei seiner Geburt: Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen (goµî ), du hast mich sicher gemacht an den Brüsten meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen, vom Mutterleib an, mein Gott bist du. (Ps 22,10f.)

Die Parallelstellung der Ausdrücke »Ziehen aus dem Mutterleib« und »Sicherheit geben an den Brüsten der Mutter« macht deutlich, dass hier an die Geburt und das erstmalige Stillen des Kindes gedacht ist. Das hebräische Verb »herausziehen« (g¹µ¹h) begegnet nur an dieser Stelle. Allerdings lässt die griechische Übersetzung ein Verständnis erkennen, dass hier doch eher an eine recht ›robuste‹ Geburtshilfe zu denken

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Vgl. außerdem Jes 13,18; Ps 127,2. Die entsprechenden hebräischen Ausdrücke meræµæm mit zwölf Belegen, mibbæ‰æn mit 16 Belegen und mim e`ê mit vier Belegen beziehen sich, sofern sie nicht in metaphorischer Rede stehen (und sofern eine entsprechende Interpretation überhaupt möglich ist), auf den Zeitpunkt der Geburt. Demgegenüber fällt das Vorkommen der Belege, die explizit vom pränatalen Fötus beziehungsweise Kind reden, wesentlich geringer aus: babbæ‰æn weist vier Belege auf, b¹ræµæm begegnet nur ein einziges Mal, bim e `ê zweimal, davon einmal metaphorisch zur Bezeichnung des Fischbauches im Jonabuch.

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ist.59 Das Gegensatzpaar »Herausziehen aus dem Mutterleib« und »Geworfensein auf Gott« legt dem Geburtsvorgang zudem noch eine gewisse Dramatik unter. Ps 22,10f. lässt die Beziehung zwischen JHWH und Beter erst mit dessen Geburt beginnen. Der Vorgang des Ins-Leben-Kommens bedarf des helfenden und rettenden Eingreifens JHWHs. Eben auf diesen Punkt konzentrieren sich die Appelle des Beters. So wie JHWH die Väter auf deren Schreien hin errettet hat und so wie er dem Beter bereits einmal bei dessen Geburt rettend zur Seite gestanden hat, so möge er auch jetzt wieder eingreifen und ihn vor den Nachstellungen der Feinde bewahren. Während der Verfasser des 22. Psalms die Gott-Mensch-Beziehung eindeutig mit der Geburt beginnen lässt, ist der Sachverhalt in Jes 44,2 schwieriger zu entscheiden: So spricht JHWH, der dich geschaffen (`o´ækâ ) und geformt (yoƒærkâ ) hat: Vom Mutterleib an hilft er dir (mibbæ‰æn ya`z rækâ ). Fürchte dich nicht, mein Knecht Jakob, und Jeschurun habe ich erwählt. (Jes 44,2)

Spannend bleibt die Frage, ob der Ausdruck »vom Mutterleib an« zu den voranstehenden beiden Partizipien zu ziehen ist, wobei sich so eine Aussage »der dich vom Mutterleib an gebildet hat« ergeben würde. Letzteres legt der masoretische Text (bzw. das Druckbild der Biblia Hebraica Stuttgartensia) nahe. Zunächst ist hier zu bedenken, dass die beiden Partizipien `o´ækâ (der dich geschaffen hat) und yoƒærkâ (der dich geformt hat) eine innere Einheit bilden und auf der Tempusebene eine andere Aussage treffen als das anschließende Imperfekt ya`zrækâ, mit dem die bleibende Hilfe JHWHs gegenüber seinem Knecht Jakob ausgedrückt wird. Insofern würde sich eine zweifache Begründung für den Anspruch JHWHs gegenüber Jakob/Israel als seinem Knecht

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Die LXX gebraucht evkspa,w und somit einen Ausdruck, der unter anderem zur Beschreibung diverser Vorgänge wie das Herausziehen eines Dolches aus dem Leib des Opfers (Ri 3,22), das Entreißen des geraubten Schafes aus dem Maul des Löwen (1Sam 17,34; vgl. Hi 29,17), das rettende Herausreißen aus dem Netz des Fallenstellers (Ps 24,15), das Herausreißen von Körperteilen durch Raubtiere (Am 3,12) und das Herausreißen eines glühenden Holzscheites aus dem Feuer (Am 4,11; Sach 3,2) herangezogen wird. In Anlehnung an Mi 4,10 hat Marianne Grohmann, »›Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen‹. Geburt in Ps 22«, in: Detlef Dieckmann / Dorothea Erbele-Küster (Hrsg.), »Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen«. Beiträge zur Geburt im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2006 (Biblisch-Theologische Studien 75), S. 73–97, hier S. 77, eine Bedeutung vermutet, nach der die Akustik des Geburtsvorgangs hier mit anklingen soll.

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ergeben: Er hat ihn erstens im Mutterleib geschaffen und er hat ihm zweitens von Geburt an zur Seite gestanden.60 Allerdings greift Jes 44,24 das Thema der Menschenschöpfung wieder auf und stellt dabei das schaffende und das erlösende Handeln JHWHs auf eine zeitliche Ebene: So spricht JHWH, dein Erlöser (go´ alækâ ) und dein (dich) Formender (yoƒærkâ ) vom Mutterleib (mibbæ‰æn ) an: Ich, JHWH, habe all dies gemacht, der ich den Himmel allein ausspanne, der ich die Erde fest stampfe, wer ist bei mir? (Jes 44,24)

In seiner bildhaften Rede von JHWH als Schöpfer und Erlöser geht Deutero-Jesaja offensichtlich über den konventionellen Vorstellungshorizont hinaus. JHWH bringt Individuen in ihre Existenz, indem er sie schafft, formt und sich helfend und rettend bereits im Mutterleib an ihre Seite stellt. An dieser Stelle kann eine Zwischenbilanz gezogen werden. Die Frage, wann das Leben beginnt oder ab welchem Punkt seiner Entwicklung ein Embryo oder ein (pränataler) Säugling als individuelles menschliches Wesen betrachtet wurde, lässt sich nicht einhellig beantworten. Die Antwort fällt unterschiedlich aus, je nachdem in welcher sozial- bzw. literaturhistorischen Perspektive sie gesucht wird. Damit ist allerdings noch lange nichts darüber gesagt, ab welchem Zeitpunkt ein individuelles Wesen als religiöses Subjekt, als Gegenüber Gottes beziehungsweise als Teil des religiösen Systems betrachtet wurde. Das Thema ›Kinder als Gegenüber Gottes‹ wird im 8. Psalm einem Diskurs unterzogen: JHWH, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde, der du zeigst deine Hoheit am Himmel, vom Mund (mippî ) der Kleinkinder und Säuglinge an hast du deine Macht gesetzt, wegen deiner Widersacher und um zur Ruhe zu bringen Feind und Rächer. (Ps 8,2f.)

Der Gedanke, dass JHWH vom Mund der Säuglinge an seine Macht gegründet habe, hat eine ganze Flut von Deutungen provoziert: Die »ersten Regungen eines naiven, unreflektierten Frommseins«,61 die »am

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Vgl. Klaus Baltzer, Deutero-Jesaja, Gütersloh 1999 (Kommentar zum Alten Testament X/2), S. 242f. Artur Weiser, Die Psalmen, Göttingen 5 1959 (Das Alte Testament Deutsch 14/15), S. 95.

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sichersten« vom Kind gefühlte »Gotteserkenntnis«,62 der Beter wolle, wie »ihm gleichsam die Kinder vorsingen, stammelnd, im Bewusstsein seiner Unmündigkeit« seine Unvollkommenheit zum Ausdruck bringen,63 die Kinder seien die »schwächste und wehrloseste Gruppe im Volk JHWHs«, die trotz der feindlichen Konfrontation den Lobpreis JHWHs fortsetze64 – Deutungen wie diese zeigen, dass sich die Rede vom Gotteslob aus einem Kindermund sehr facettenreich hat verstehen lassen. Eine originelle Deutung hat Frank Crüsemann zu dieser Stelle vorgeschlagen. Das unerbittliche nächtliche schlafraubende Geschrei der Kinder sei hier gemeint, dem sich in seiner Intensität niemand entziehen könne.65 Vf. hat an anderer Stelle66 schon vorgeschlagen, den schwierig zu verstehenden Satz »vom Mund der Kleinkinder und Säuglinge hast du deine Macht gegründet« als temporale Aussage zu verstehen. Wenn der Ausdruck »vom Mund« (mippî ) zunächst als Hinweis auf den Mund als »Organ für sprachliche Kommunikation«67 zu verstehen ist, kann hier nur das Generelle der Kommunikation der Kleinkinder, also Geschrei ebenso wie Gebrabbel, gemeint sein. Auch wenn die Stillzeit im Altertum länger als heute üblich gewesen ist und mit »Säugling« dann wohl auch noch Kinder bezeichnet wurden, die schon etwas sprechen konnten, so liegt hier doch der Fokus auf der Inhaltslosigkeit kleinkindlicher Äußerungen. Die Präposition min sollte daher hier in einem partitivtemporalen Sinn verstanden werden. Nicht das, was aus dem Mund der Kinder herauskommt, ist entscheidend, sondern der Zeitpunkt, seit dem etwas aus dem Mund der Kinder herauskommt.68 Mit diesem Vor-

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Rudolf Kittel, Die Psalmen, Leipzig 3/4 1922 (Kommentar zum Alten Testament 13), S. 27. Bernhard Duhm, Die Psalmen, Tübingen 1899 (Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament XIV), S. 27. Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Die Psalmen I. Psalm 1–50, Würzburg 1993 (Neue Echter Bibel 29), S. 79. Vgl. Frank Crüsemann, »Die Macht der kleinen Kinder. Ein Versuch, Ps 8,2b.3 zu verstehen«, in F. C. u.a. (Hrsg.), Was ist der Mensch ...? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments, Fs. H. W. Wolff zum 80. Geburtstag, München 1992, S. 48–60. Vgl. dazu Andreas Kunz-Lübcke, »Gotteslob aus Kindermund. Zu einer Theologie der Kinder in Psalm 8«, in: Angelika Berlejung / Raik Heckl (Hrsg.), Mensch und König. Studien zur Anthropologie des Alten Testaments, Fs. Rüdiger Lux zum 60. Geburtstag, Freiburg u.a. 2008 (Herders Biblische Studien 53), S. 85–106. Félix García-López, »Art. pæh«, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, VI (1989), Sp. 522–538. Zum partitiv-temporalen Gebrauch der Präposition min vgl. Carl Brockelmann, Hebräische Syntax, Neukirchen-Vluyn 2 2004, § 111e, S. 109. Vgl. auch das folgende Beispiel in Ex 4,10. Mose unterstreicht an dieser Stelle, dass er noch nie ein großer Redner

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Andreas Kunz-Lübcke

schlag lassen sich zwar nicht alle der für Ps 8 offenen Fragen beantworten, etwa die nach der Identität der Feinde. Dennoch wird so die Sinnhaftigkeit der Einbindung der Kinder in das hymnische Kollektiv Israels besser verständlich. Ps 8 will als anthropologisches Grundmanifest gelesen werden.69 Nach der hier vorgeschlagenen Deutung ist der Kindermund nicht das Instrument JHWHs gegen seine Feinde, ebenso wenig repräsentieren die »Kinder und Säuglinge« den »schwächsten und angewiesensten Teil der Volksgemeinschaft«.70 Auch ist hier nicht an angstvolles Schreien der Kinder als Folge feindlicher Aktivitäten gedacht.71 Dass hier vielmehr die Gesamtheit menschlicher Kommunikation zum Lob JHWHs geschieht, dass das menschliche Vermögen, sich äußern zu können, als anthropologisch-doxologisches Grundmuster verstanden ist, kann mit einem Verweis auf einen entsprechenden ägyptischen Vorstellungshintergrund noch untermauert werden. Der berühmte Große Sonnenhymnus Echnatons weist mit Ps 8 einige substanzielle Berührungspunkte auf. Darauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.72 Für den hier diskutierten Sachverhalt muss es genügen, auf die Vorstellung von Zeugung, pränataler Existenz und göttlicher Fürsorge zu verweisen. Der Hymnus preist den Sonnengott als den Schöpfer des Fötus in den Frauen, als Erschaffer der Samenflüssigkeit in den Männern, als Beleber des Sohnes im Mutterleib und als Amme, da er wie sie das Kind im Leib tröstet: Du öffnest seinen (des Kindes) Mund zum Sprechen, du sorgst für seinen Bedarf. Das Küken im Ei spricht in der Schale, du mögest ihm Lebenshauch in sein Inneres geben, um es zu beleben. […] Es kommt heraus aus dem Ei, um zu sprechen zu seiner Frist.73

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gewesen sei, auch nicht, seitdem JHWH begonnen habe, mit ihm zu sprechen (gam m¢´¹z dabbærkâ). Vgl. Bernd Janowski, »Schöpferische Erinnerung. Zum ›Gedenken Gottes‹ in der biblischen Fluterzählung«, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, 22 (2007), S. 63–89, hier S. 66ff. Vgl. Ute Neumann-Gorsolke, »›Mit Ehre und Hoheit hast du ihn gegründet‹ (Ps 8,6b). Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde«, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, 15 (2000), S. 39–65, hier S. 50. Vgl. auch dies., Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten, Neukirchen-Vluyn 2004 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 101), S. 48: Der Ausdruck bezeichne den »schwächsten und abhängigsten Teil der jeweiligen Volksgemeinschaft«. Helmut Schnieringer, Psalm 8. Text – Gestalt – Bedeutung, Wiesbaden 2004 (Ägypten und Altes Testament 59), S. 318. Vgl. dazu Kunz-Lübcke, »Gotteslob«, S. 85ff. Zur Übersetzung vgl. Kunz-Lübcke, »Gotteslob«, S. 90f.

Wann beginnt das Leben?

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Nicht genug damit, dass der Sonnengott das Kind im Mutterleib schafft, er wendet sich diesem auch noch liebevoll sorgend und beruhigend zu. Offensichtlich liegt hier die Vorstellung zugrunde, dass auch der Fötus artikulationsfähig und trostbedürftig zugleich ist. Dass seine Fähigkeit, sich artikulieren zu können, metaphorisch mit dem SichÄußern des Kükens noch im Ei und nach seinem Schlüpfen verglichen wird, zeigt, dass es hier, wie in Ps 8,2 auch, nicht um gewöhnliches menschliches Reden geht. Der Sonnenhymnus versteht alle weltimmanenten biokynetischen Vorgänge als Artikulationsformen des Gotteslobs. Darunter fällt eben auch das Sich-Äußern des Neugeborenen, das in die Vielfalt der geschöpflichen Stimmen einstimmt. Dass der Fötus im Mutterleib einer Versorgung durch den Sonnengott bedarf, ist ein in der ägyptischen Literatur häufig anzutreffender Gedanke. So wird Amun besungen als Versorger aller Geschöpfe, einschließlich des Fötus: Der die Gebete erhört dessen, der zu ihm ruft, der einen Mann rettet vor den Gewaltherzigen. […] Wenn er aufgeht, lebt die Menschheit, ihre Herzen leben, wenn sie sehen. Der dem, der im Ei ist, Luft gibt, der Fische und Vögel am Leben erhält.74

Ebenso wie in der ägyptischen Konzeption von einem umfassenden Menschsein die Rede ist, die alle Phasen des Lebens, auch die vorgeburtliche, einschließt und die menschliches Kommunizieren als Teil aller biokynetischen Vorgänge als Lob des Sonnengottes versteht, so bindet auch der Beter des 8. Psalms die Kleinkinder in den kollektiven Hymnus Israels ein. Menschliches Sich-Äußern beginnt mit der Geburt und geschieht zum Lob des Gottes Israels.

Ausblick Der Vorgang der Menschwerdung, die Akzeptanz eines sich zu einem menschlichen Individuum entwickelnden Lebens, die Feststellung der

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Übersetzung nach Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, hrsg. von Otto Kaiser, Bd. II/6, Gütersloh 1991, S. 878. Zu den Spekulationen, dass das während der Schwangerschaft nicht austretende Menstruationsblut der Versorgung des Fötus diene, weswegen mit magischen Mitteln versucht wurde, eventuelle Blutungen zu unterbinden, vgl. Christian Leitz, »Zwischen Zauber und Vernunft. Der Beginn des Lebens im Alten Ägypten«, in: Axel Karenberg / Christian Leitz (Hrsg.), Heilkunde und Hochkultur. Geburt, Seuche und Traumdeutung in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes, Münster, Hamburg, London 2000 (Naturwissenschaft – Philosophie – Geschichte 14), S. 133–150, hier S. 134f.

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Andreas Kunz-Lübcke

Lebensfähigkeit eines Neugeborenen – für Prozesse wie diese lässt sich keine eindeutige Charakteristik entwerfen. Die Kulturen Israels und seiner Nachbarn verfügten nicht über die modernen diagnostischen Fähigkeiten, ihnen fehlte das grundlegende Wissen über die biologischen Vorgänge und Zusammenhänge von Zeugung und Befruchtung, aber auch über die Hintergründe von Infertilität und körperlichen Fehlfunktionen. Die Frage, wann das Leben beginnt, ist eine moderne, die versucht, auf die Herausforderungen der pränatalen Diagnostik, der Stammzellforschung, der ethisch-juridischen Abwägung zwischen den Interessen von Mutter und Kind im Fall einer beabsichtigten Abtreibung Antworten zu finden. Die Frage, wann das Leben beginnt, wäre, hätte man sie den Menschen in den antiken Kulturen des Mittelmeers gestellt, auf Unverständnis gestoßen. Ein Vorstellungshorizont, der das künftige Kind im Samen des Vaters präfiguriert sieht, der das werdende Leben immer unter dem Aspekt der Gefährdung und der Fragilität betrachten muss und der schließlich eigene Kinder, kleine wie erwachsene, als wesentliches Ziel und Inhalt des Lebens versteht, lässt etwas von der Intensität erahnen, mit der das sich entwickelnde Leben und das Heranwachsen der Kinder in Augenschein genommen worden ist. Ob die Menschen in Israel in biblischer Zeit über die eingangs erwähnte jüdische Antwort voller Chuzpeh gelacht hätten? Mit Sicherheit! Wenn das Durchbringen der Kinder durch alle real existierenden und mythisch geglaubten Gefährdungen hindurch erfolgt war, dann ließ sich tatsächlich von gelungenem und gelingendem Leben sprechen.

STEFAN RUPPERT

Vom Schulpflichtigen zum jungen Straftäter Der Wandel des deutschen ›Jugendrechts‹ im 19. Jahrhundert Throughout the nineteenth century, new legislation and public policy used rigid age limits to segment the human life-cycle. Compulsory schooling and a large number of new norms in the Prussian educational system played leading roles in the constitution of youth as a legally protected category. The themes in this ›youth legislation‹ changed in the second half of the nineteenth century. A special criminal and welfare law addressing the younger population of the growing cities identified these adolescents as a new social group.

1. Einleitung In der Verfassung des Staates liegen unverkennbar Mittel, der Jugend eine Freiheit zu sichern, die gegen die frühe Verwöhnung schützen könnte. Die allgemeine Verpflichtung, die schulfähigen Kinder bis zur Konfirmation zur Schule zu halten, widerstreitet – vollständig durchgeführt – ihrer allzu frühen Verwendung zu mechanischen Arbeiten. Die allgemeine Militärpflichtigkeit entzieht die Jünglinge gleichfalls in einem noch biegsamen Alter dem unbedingten Mechanismus der Werkstätten.1

Der preußische Staatskanzler Carl August von Hardenberg äußerte diese bemerkenswerten Worte im Kontext eines Runderlasses an die preußischen Oberpräsidenten im Jahr 1817. Auffallend ist insbesondere, dass er den Begriff ›Jugend‹ explizit verwandte. Sucht man im Recht des 19. Jahrhunderts nach diesem Begriff, so stößt man nämlich auf folgenden Befund: Die Lebensphase wird als rechtlich abgegrenzte

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»Runderlaß des preußischen Staatskanzlers von Hardenberg vom 5. September 1817, betreffend allgemeine Vorschläge zur Verbesserung der Verhältnisse der Fabrikarbeiter« (Kinderarbeit), abgedruckt bei Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Berlin 1967. Vgl. auch Ruth Hoppe / Jürgen Kuczynski / Heinrich Waldmann (Hrsg.), Hardenbergs Umfrage über die Lage der Kinder in den Fabriken und andere Dokumente aus der Frühgeschichte der Lage der Arbeiter, Berlin (Ost) 1960, hier S. 23–26.

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Lebensphase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Rechtsgebiete gebildet, die das Wort anders als in Hardenbergs Runderlass nicht enthalten und keinesfalls ausschließlich den Schutz junger Menschen bezwecken. Es gibt ein Jugendrecht ›avant la lettre‹.2 Hierzu gehören nur in einem weiteren Sinn die Bestimmungen über die Mündigkeit und Geschäftsfähigkeit. Diese Normen des Privatrechts sind sehr alt, sie stammen zumeist aus dem römischen Recht und werden dann im jeweiligen Zusammenhang leicht variiert.3 Das Privatrecht bildete aber den Bezugsrahmen der neuen Normen des öffentlichen Rechts. Die nach den Befreiungskriegen erstarkende staatliche Verwaltung erließ im Vormärz eine Vielzahl von Verordnungen, Reskripten und Verfügungen, die Kindheit und Jugend strukturierten. Zentrale Bedeutung kam dem Schulrecht, dem Wehr- und abgestuft auch dem Wahlrecht zu. Zentrales Motiv dieser Gesetzgebung war es vor allem, leistungsfähige Beamte sowie Soldaten und ganz allgemein tüchtige Bürger heranzuziehen. Diese klassische Absicht, die bereits in der aufgeklärt-absolutistischen Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts zu finden war, hatte nun, angereichert durch die neuen pädagogischen Methoden4 und im Kontext neuer Verwaltungsstrukturen, eine bessere Aussicht auf Erfolg. Bereits im 18. Jahrhundert finden sich neue Bestimmungen zur Schulpflicht, die aber noch nicht zu einer uniformeren Strukturierung der Lebensläufe aller jungen Menschen führten.5

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Die hier ausgeführten Überlegungen zur Vertaktung der Jugend durch eine Vielzahl neuer rechtlicher Regeln sind Teilaspekte einer umfassenderen historischen Rekonstruktion dieses Vorgangs durch den Verfasser, die Ende 2009 als Monographie erscheinen sollen. Vgl. zur Geschichte dieser Normen Andreas Thier, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, Tübingen 2003, hier §§ 104–113, Geschäftsfähigkeit, S. 365–400; einen Überblick über sämtliche diesbezügliche Normen des deutschen Privatrechts gibt Hans-Georg Knothe, Die Geschäftsfähigkeit der Minderjährigen in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt a. M. 1983. Eine zentrale Rolle spielte insbesondere die Rezeption der Pädagogik Pestalozzis. Vgl. hierzu Fritz-Peter Hager / Daniel Tröhler (Hrsg.), Studien zur Pestalozzi-Rezeption im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts, Bern 1995, sowie die unterschiedlichen Aufsätze bei Heinz Stübig, Pädagogik und Politik in der preußischen Reformzeit. Studien zur Nationalerziehung und Pestalozzi-Rezeption, Weinheim 1982; einen Überblick mit ausgewählten weiteren Literaturnachweisen gibt Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim 4 2008. Ein interessantes Beispiel für eine dem Wortlaut nach weitgehende, praktisch aber nur ansatzweise umgesetzte Norm zur allgemeinen Schulpflicht ist das Generallandschulreglement aus dem Jahr 1763. Der gesamte Gesetzestext ist abgedruckt bei Ludwig von Rönne, Das Unterrichts-Wesen des Preußischen Staates in seiner geschichtlichen Entwicklung, Bd. 1, Berlin 1854, S. 64–74; zu den inneren Widersprüchen vgl. Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preussen, Berlin 1985, S. 174.

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Institutionell und rechtlich um- und vor allem durchgesetzt wurde das neue öffentliche Recht erst im 19. Jahrhundert.6 Es gelang, den regelmäßigen Schulbesuch zu etablieren, die Bildungsbiographien wurden verlängert und reglementiert und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Diese erste Phase des ›Jugendrechts‹ gelangte Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem gewissen Abschluss. Der aufkommende Interventionsstaat des Vormärz7 ist in Bezug auf die Strukturierung jugendlicher Lebensläufe wesentlich ›erfolgreicher‹ als sein unter absolutistischen und damit noch stärker ständischen Vorzeichen agierender Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert. Um 1850 waren junge Menschen auch de iure nicht mehr kleine Erwachsene, weil sie in die Volksschule zu gehen und dann verstärkt die staatlich strukturierte berufliche Sozialisation zu durchlaufen hatten. Sie prägten als soziale Gruppe auch das Bild vieler Großstädte und wurden dort stark als von traditionellen Bindungen isoliert wahrgenommen.8 Die öffentliche Debatte und nicht zuletzt der rechtliche Diskurs entdeckten die Lebensphase Jugend und machten Jugendliche zu speziellen Normadressaten. ›Die Jugend‹ gab es natürlich auch im 19. Jahrhundert nicht,9 innerhalb der einzelnen Kohorten bestanden erhebliche soziale Unterschiede. Die Skala reichte vom hoffnungsvollen jungen Mann, der dem Abitur zustrebte, über den Absolventen einer Realschule, den Lehrling und den jungen Fabrikarbeiter bis zu eben dem straffälligen jungen Mann. Die Aufzählung macht deutlich, dass die Strukturierung des Lebenslaufs vor allem das männliche

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Die nur ansatzweise Durchsetzung der Schulpflicht im 18. Jahrhundert gezeigt und ältere Annahmen widerlegt zu haben, ist das Verdienst der Arbeit von Neugebauer, Absolutistischer Staat, siehe insbesondere S. 630f. Für das 19. Jahrhundert dagegen konstatiert Frank-Michael Kuhlemann in seiner gründlichen sozialgeschichtlichen Studie zum preußischen Volksschulwesen zwischen 1794 und 1872 eine »weit fortgeschrittene, im internationalen Vergleich beispiellose Modernisierung des Volksschulwesens«, vgl. F.-M. K., Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794–1872, Göttingen 1992, S. 14. Michael Stolleis datiert den Zeitpunkt der Entstehung des modernen Interventionsstaates auf das Jahr 1878 und betrachtet dabei die Funktion des öffentlichen Rechts, vgl. M. S., »Die Entstehung des modernen Interventionsstaates und das öffentliche Recht«, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 11 (1989), S. 69–96. Für die Intervention in jugendliche Lebensläufe wird man bereits das beginnende 19. Jahrhundert nennen müssen. Entsprechend datiert Jon Savage die Erfindung der Jugend erst auf den Zeitraum von 1875, vgl. Jon Savage, Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945), Frankfurt a. M. 2008. Zur Geschichte der Jugend vgl. neben dem eben genannten Jon Savage auch Winfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1998.

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Geschlecht betraf.10 Regelungen für junge Mädchen finden sich durchaus, aber deutlich weniger und erheblich später. Wahrgenommen und vom neuen expliziten Jugendrecht thematisiert wurden vor allem die jungen Arbeiter in den Städten sowie verarmte, verwahrloste und delinquente Jugendliche. Neue Normen des Arbeitsschutzrechts11 begannen, Jugendliche direkt zu adressieren. Ein eigenes ›Jugendrecht‹,12 das diese Bezeichnung für sich selbst in Anspruch nimmt, entstand dann vor allem mit dem neuen Jugendstrafrecht13 und dem Jugendfürsorgerecht14 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesen Rechtsgebieten wird die ›Jugend‹ zunehmend als mit spezifischen Problemen behaftet verstanden, die es in anderer Form zu behandeln gilt als Erwachsene oder gar alte Menschen. Der Erziehungsgedanke bleibt zwar präsent, wird aber um ein paternalistisches, entweder fürsorgliches oder therapeutischstrafendes Element ergänzt. Dieser vorweggenommene Befund soll im Folgenden genauer dargelegt werden. In einem ersten Schritt ist auf den qualitativen Wandel im rechtlichen Umgang mit Lebensphasen zwischen der Frühen Neuzeit und dem 19. und 20. Jahrhundert einzugehen. Zudem ist die erfolgreichere administrative Erfassung der individuellen Lebensdaten und eine verbesserte Kommunikation zwischen den einzelnen staatlichen Verwaltungen als Voraussetzung für eine rechtliche Neuvermes-

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Zur Geschichte der weiblichen Jugend vgl. aus der neueren Literatur etwa die Beiträge in Christina Benninghaus / Kerstin Kohtz (Hrsg.), ›Sag mir wo die Mädchen sind…‹ Beiträge zur Geschlechtergeschichte der Jugend, Köln 1999. Zur Bedeutung der Fabrikschutzgesetzgebung für Jugendliche im Kontext des neuen Jugendrechts vgl. Stefan Ruppert, »Neues ›Jugendrecht‹ und Fabrikschutzgesetzgebung im Vormärz. Zur Bedeutung von Normativität für die Entstehung einer Lebensphase«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1 (2008), S. 55–75. Es gab immer wieder Versuche, aus der Zusammenschau einzelner Rechtsgebiete ein eigenes Fach Jugendrecht zu etablieren, vgl. etwa das zwischen 1922 und 1943 erschienene Jahrbuch des Jugendrechts (Berlin) sowie den kurzlebigen Nachfolger des Jahres 1958, das Archiv für Jugendrecht. Der vorerst letzte Versuch stammt von Thilo Ramm, Jugendrecht. Ein Lehrbuch, München 1990. Vgl. hierzu den Überblick bei Andreas Roth, »Die Entstehung eines Jugendstrafrechts. Das Problem der strafrechtlichen Behandlung von Jugendlichen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg«, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 13 (1991), S. 17–40; ferner Markus Fritsch, Die jugendstrafrechtliche Reformbewegung (1871–1923), Freiburg i. Br. 1999; älter ist die Diskussion um einen gesonderten Strafvollzug, vgl. hierzu Christine Dörner, Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs 1871–1945, Weinheim 1991. Vgl. hierzu Detlev J. K. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986; Hans Scherpner, Geschichte der Jugendfürsorge, Göttingen 2 1979; Heike Schmidt, Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, Opladen 2002.

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sung des menschlichen Lebenslaufs zu zeigen. Im zweiten Teil soll nach einem kurzen Überblick über das neue öffentliche (Jugend-)Recht die Strukturierung der Lebensphase Jugend im Vormärz am Beispiel der Durchsetzung der Schulpflicht etwas genauer betrachtet werden. Im dritten Teil wird schließlich die explizite Adressierung des als problematisch empfundenen Teils der Jugend ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts skizziert, indem die Regulierung der Fabrikarbeit und das neue Jugendstrafrecht betrachtet werden.

2. Die neue Einteilung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750 Die Vertaktung des menschlichen Lebenslaufs beginnt historisch und dem Lebensverlauf nach betrachtet vom Anfang her. Das bedeutet, dass zunächst Kindheit und Jugend detaillierter rechtlich konturiert und strukturiert wurden. In diesem Bereich nahm die Zahl der Altersgrenzen im Recht seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert massiv zu.15 Erst danach wurde die eigentliche Erwerbsbiographie genauer gesetzlich gefasst. Dies geschah durch den Siegeszug von Versicherungslösungen im Allgemeinen und der Bismarckschen Sozialversicherung im Besonderen.16 In einem dritten Schritt, geprägt durch die Rentenreformen des 20. Jahrhunderts, wurde dann der Ruhestand als eigene, ebenfalls zunehmend arbeitsfreie Phase gesetzlich von der Erwerbsbiographie abgegrenzt.17

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Hierüber quantitative Aussagen zu machen ist kaum möglich. Angedeutet sei nur das Auftauchen zahlreicher Altersgrenzen im neuen Verwaltungsrecht, etwa der Schulgesetzgebung, vgl. hierzu das bei Rönne, Unterrichts-Wesen, Bd. 1 und Bd. 2 abgedruckte neue Verwaltungsrecht und die dort aufgeführten Altersgrenzen. Ähnliche Häufungen finden sich im Fabrik- und Arbeitsschutzrecht, vgl. beispielhaft die bei Annika Boentert, Kinderarbeit im Kaiserreich 1871–1914, Paderborn 2007 im Anhang, S. 437– 453, abgedruckten preußischen Gesetze. Ein Überblick über einige aktuell geltende Altersgrenzen im deutschen Recht findet sich bei Kurt Weis, »Zeit der Menschen und Menschen ihrer Zeit – Zeit als soziales Konstrukt«, in: Trude Ehlert (Hrsg.), Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung: Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn 1997, S. 155–178. Vgl. zu ihrer Geschichte bis 1914 die zahlreichen zumeist von Florian Tennstedt und Christoph Sachße herausgegebenen Quellenbände zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, Wiesbaden, Berlin, hier 1993ff. In qualitativer Hinsicht ist vor allem die Rentenreform des Jahres 1957 von großer Bedeutung, vgl. hierzu Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, Stuttgart 1980.

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Die Jugend sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, so ist immer wieder zu lesen.18 Angesprochen wird damit eine fundamentale Änderung in den Lebensformen junger Menschen zwischen dem frühen 18. Jahrhundert und dem 19. Jahrhundert. Verkürzend kann man sagen, dass – neben dem Vater und der im Sinne des gesamten Hauses begrifflich weit gefassten Familie – der Staat mit seiner Gesetzgebung zur bedeutenden Instanz für die Sozialisation junger Menschen wurde. Das Leben junger Menschen begann sich im Lauf des 19. Jahrhunderts verstärkt getrennt vom Haus des Vaters oder Lehrherrn, etwa in der Stadt oder der Schule abzuspielen. Mit diesem Prozess gingen auch habituelle Änderungen einher. Zwei kurze Schlaglichter sollen im Folgenden zur Verdeutlichung dieses qualitativen Wandels geworfen werden. Das erste betrifft den rechtlichen Status alter und junger Menschen in der rechtswissenschaftlichen Literatur der Frühen Neuzeit. Am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte besteht eine Sammlung von über 60.000 der vermutlich knapp 90.000 juristischen Dissertationen des Alten Reichs.19 Die Texte entstanden zwischen dem frühen 16. Jahrhundert und dem Jahr 1806. Die meist kurzen Schriften dienten nicht ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken. Sie erörterten anhand konkreter Fälle der an den Universitäten bestehenden Spruchkammern höchst praxisrelevante Fragen, waren Teil einer größeren später vorzulegenden Arbeit oder eines Rechtsgutachtens.20 Ihre Autorschaft ist nicht immer zu klären, weil es häufig die Professoren waren, die diese Texte verfassten. Die Doktoranden hatten sie dann lediglich in einer mündlichen Prüfung zu verteidigen. Gibt man die entsprechenden Wortstämme für eine digitale Suche ein, so finden sich zahlreiche Arbeiten, die sich mit der rechtlichen Stellung von Menschen in bestimmten Lebensaltern befassen. Festgehalten sei an dieser Stelle dazu nur folgendes: Die Rechtsstellung des jungen und noch stärker des alten Menschen knüpft sich in diesen rechtswissenschaftlichen Texten kaum an ein exakt nach Lebensjahren bestimmtes Alter.21 Vielmehr wurde ein

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So jüngst wieder bei Jon Savage, der die Erfindung der Jugend erst auf 1875 datiert, vgl. Savage, Teenage. Digitalisiert wurden die Titelblätter und man kann durch die Eingabe von Stichworten und Wortstämmen nach Themen und Fragestellungen suchen. Der Prozess der Digitalisierung ist bereits sehr weit fortgeschritten, siehe unter http://dlib-diss.mpier.mpg.de. Ein gutes Beispiel für eine erste Auswertung dieses Katalogs findet sich bei Michael Stolleis, »Die Erschließung kirchenrechtlicher Dissertationen des 17. und 18. Jahrhunderts«, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, 49 (2004), S. 99–107. Thomas Duve, »Generationengerechtigkeit und Altersversorgung in der juristischen Literatur zur Rechtsstellung alter Menschen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts«, in: Stefan Brakensiek / Heide Wunder / Michael Stolleis (Hrsg.), Generationengerechtigkeit?

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sozialer Status oder eine andere Eigenschaft mit dem jeweiligen Lebensalter verbunden. Jung ist, verkürzt gesagt, wer noch in der Familie lebt, wer in einem Ausbildungsverhältnis steht, wer unerfahren oder sittlich und moralisch nicht gefestigt ist. Jung ist auch, wer den Hof noch nicht übernommen hat, wer noch nicht als Soldat herangezogen werden kann oder mangels nachweisbaren Einkommens noch nicht heiraten darf. Alt ist, wer den Hof übergeben hat, in den Zunftordnungen nicht mehr als Meister fungieren darf, wer Witwer oder Witwe ist. Alt ist, wer weise ist, wer irr oder pflegebedürftig ist, alt ist man, wenn der Wiederverheiratungswunsch wie im Fall altersungleicher Paare als Lüsternheit ausgelegt wird. Zwar finden sich meist aus dem römischen Recht stammende Altersgrenzen, wie wir sie zum Teil noch heute kennen.22 Man entdeckt durchaus noch heute bekannte Zahlen wie 14 Jahre für die Religionsmündigkeit23 oder das, was wir heute Geschäftsfähigkeit nennen. Auch die Strafmündigkeit oder die Volljährigkeit und das Mindestalter für den Zugang zu Ämtern sowie – wenn auch sehr selten – die Altersgrenze von 60 Jahren kann man finden. Diese Altersangaben dienen aber kaum der Bildung juristischer Kategorien, sondern lediglich als ungefähre Orientierung. Von ihnen kann abgewichen werden oder man benötigt sie gar nicht, weil man weiß oder im jeweiligen Kontext immer neu bestimmt, wer alt oder jung ist. Mit anderen Worten: Es dominiert so etwas wie ein vom jeweiligen Kontext abhängiges Alter, etwas, das man den Vorrang eines sozialen Alters vor einem kalendarischen Alter nennen könnte. Nicht das eigentliche kalendarische Lebensalter alleine, von dem wir wissen, dass es dem Einzelnen vor der Zeit der statistischen Bureaus und der Dominanz der Kirchenbücher nur ungefähr bekannt war, löste Rechtsfolgen aus, sondern das von der sozialen Umgebung zugewiesene Alter. Diese Beobachtung mag als banal oder sachgerecht erscheinen, die

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Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500–1850, Berlin 2006, S. 45–62; Thomas Duve, »Die Bedeutung des Lebensalters im frühneuzeitlichen Recht«, in: Arndt Brendecke / Ralf-Peter Fuchs / Edith Koller (Hrsg.), Die Autorität der Zeit in der frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 93–116. Eine spezielle Untersuchung des Katalogs im Hinblick auf jene juristischen Schriften, welche die Jugend thematisieren, fällt nicht ganz so eindeutig aus, bringt aber ebenfalls hauptsächlich Titel zum Personenstand der jungen Menschen im Rahmen des väterlichen Hauses. Eine Übersicht zu diesen älteren Altersgrenzen und den hinter ihnen stehenden Zusammenhängen und Zyklen findet sich bei Wilhelm Wackernagel, Die Lebensalter. Ein Beitrag zur vergleichenden Sitten- und Rechtsgeschichte, Basel 1862. Vgl. hierzu Dagmar Freist, »Lebensalter und Konfession. Zum Problem der Mündigkeit in Religionsfragen«, in: Arndt Brendecke / Ralf-Peter Fuchs / Edith Koller (Hrsg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 69–92.

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auf normative Ordnung und Rationalisierung bedachten Juristen der letzten 200 Jahre beunruhigte sie. Ein zweites Schlaglicht befasst sich mit den Bedingungen, unter denen das entstehen konnte, was der Lebenslaufsoziologe Martin Kohli den institutionalisierten Lebenslauf genannt hat.24 Voraussetzung für den Siegeszug des kalendarischen, an Altersgrenzen anknüpfenden Alters und die engere Vertaktung des Lebenslaufs waren zwei institutionelle Veränderungen: Die Gründung der bereits erwähnten statistischen Bureaus und der Ausbau effizienterer Verwaltungsstrukturen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.25 Wenn man das individuelle Lebensalter zum exakten Differenzierungskriterium für die Zu- und Aberkennung von Rechten und Pflichten machen wollte, dann musste man beginnen, nicht nur die tatsächliche Zahl der in den einzelnen deutschen Staaten lebenden Menschen, sondern auch ihr Lebensalter zu erfassen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in allen größeren Ländern die Vorläufer der heutigen Statistischen Ämter gegründet.26 Sie begannen, Daten zu erfassen. Die Erkenntnisse aus der Mathematik und der Statistik des 18. Jahrhunderts konnten nutzbar gemacht werden. Spätestens als man bedingt durch konfessionelle Streitigkeiten das Monopol der Kirchenbücher nicht mehr akzeptieren konnte, ging man dazu über, mit Personenstandsgesetzen Meldepflichten einzuführen.27 Schon zuvor verlangten immer mehr Gesetze das Anlegen von sach-

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Vgl. hierzu Martin Kohli, »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37 (1985), S. 1–29; M. K. »Der institutionalisierte Lebenslauf. Ein Blick zurück und nach vorn«, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.), Entstaatlichung und Soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Bd. 1, Opladen 2003, S. 525–545; zur Rolle des Staates vgl. Karl Ulrich Mayer / Urs Schoepflin, »The State and the Life Course«, in: Annual Review of Sociology, 15 (1989), S. 187–209. Vgl. hierzu aus der neueren Forschung Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt a. M. 2005; ferner die wichtige Arbeit von Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, München 3 1989. Zur Vorgeschichte dieser Gründung vgl. aus der älteren Literatur Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des königlich statistischen Bureaus, Berlin 1905; Richard Boeckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen Statistik des Preussischen Staates. Eine Festgabe für den internationalen Statistischen Congress in Berlin, Berlin 1863; zur Ideengeschichte vgl. Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005, zur Gründung der statistischen Bureaus vgl. insbesondere S. 22–26. In den einzelnen Staaten war dies zum Teil bereits deutlich früher der Fall, vgl. etwa die Beratungen zum hessischen Personenrechtsentwurf 1846/47, hierzu Werner Schubert (Hrsg.), Beratungen über den hessischen Personenrechtsentwurf. Verhandlungen der 1. und 2. Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen in den Jahren 1846–1847, Frankfurt a. M. 1988; das Reichspersonenstandsgesetz stammt dann vom 6. Februar 1875.

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bezogenen Einwohnerlisten, etwa zu den Schul- und Wehrpflichtigen.28 Beispielhaft sei eine typische Bestimmung der Zeit zitiert: Um die Zahl der schulpflichtigen Kinder jeder Gemeinde leicht übersehen, und eine genaue Aufsicht über den Schulbesuch der Kinder führen zu können, soll von jetzt an ein Verzeichnis aller schulpflichtigen Kinder jeder Gemeinde, und eine Liste über den Besuch jeder Schule geführt werden. Das Verzeichnis der schulpflichtigen Kinder ist von dem Prediger der Gemeinde sofort aus dem Kirchenbuche nach dem beifolgenden Schema A anzufertigen und dann sorgfältig fortzuführen, und die Schulbesuchs-Listen werden von den Schullehrern nach dem vom Prediger gefertigten Verzeichnisse nach dem Schema B angefertigt, und von ihnen auf das pünktlichste geführt. [...] Sobald der gesetzliche Anfang der Winter- oder Sommerschule da ist, also für die Winterschule am ersten Montage nach Michaelis, und für die Sommerschule am ersten Montage nach Ostern, fängt der Lehrer, auch wenn gar kein Kind zur Schule gekommen seyn sollte, an die fehlenden Kinder auf die beschriebene Art zu notiren, und reicht am Ende jeden Monats die Listen dem Prediger des Orts, oder dem Schulvorstande, wo dieser bereits eingerichtet ist, ein, damit die nöthigen Nachfragen und Anzeigen in Hinsicht der Kinder, welche die Schule versäumt haben, geschehen können. Mit dem Schluss der Winterund Sommerschule werden sämtliche Listen von dem Schulhalbenjahre an den Superintendenten oder Schulinspector eingesandt, damit dieser das Nöthige zur Bestrafung pflichtvergessener Eltern und Vormünder bei den betreffenden Gerichten einleite, auch wird das Consistorium selbst diese Listen, wo es nöthig erachtet wird, einfordern. Jeder der Herren Prediger hat bei jedem Schulbesuche die Präsentienliste nachzusehen, ob dieselbe ordentlich geführt wird, und ist dafür verantwortlich, wenn er eine etwaige Nachlässigkeit in dieser Hinsicht nicht sofort dem betreffenden Herrn Superintendenten oder Schulinspector anzeigt und die Herren Superintendenten oder Schulinspectoren werden sich, so oft sie einen Ort ihrer Diöces besuchen, beide Verzeichnisse vorlegen lassen und sorgfältig prüfen, ob sie mit gehöriger Genauigkeit geführt sind, wie auch die Herren Schulräthe auf ihren Departementsreisen stets auf die genaue Führung dieser Listen ihr Augenmerk richten werden.29

Die Genauigkeit bei der Beschreibung des Vorgehens sagt viel über die Reichweite des gesetzlichen Anspruchs aus. Das durch verbesserte interne Verwaltungskommunikation aufgebaute Wissen war notwendig, um im Sinne einer Rationalisierung Rechte und Pflichten ausschließlich an das Lebensalter zu knüpfen. Schon bald bemerkten Statistiker und

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Eine hierfür typische Bestimmung ist die Instruktion der Ministerien des Innern und des Krieges für das Geschäft der Ersatz-Aushebung zur jährlichen Ergänzung des stehenden Heeres vom 30. Juni 1817, abgedruckt mit Erläuterungen in: W. Dittmar, Die Heeres-Ergänzung. Eine Sammlung, Magdeburg 2 1851, S. 91–117. »Publicandum des Königlichen Consistoriums in Magdeburg vom 5. August 1817«, abgedruckt in: Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Sammlung der auf den Oeffentlichen Unterricht in den Königl. Preußischen Staaten sich beziehenden Gesetze und Verordnungen, Hamm 1826 (Neudruck Köln 1988), S. 187–189.

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die von diesen beratenen Gesetzgeber, dass die allgemeine Lebenserwartung stieg und gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die Kindersterblichkeit deutlich zurückging. Das damit einhergehende massive Bevölkerungswachstum veranlasste Juristen, stärker über allgemeingültige Abgrenzungen der einzelnen Lebensphasen nachzudenken.30 Nur wer um die individuelle Lebenssituation eines jeden Staatsbürgers wusste, der konnte ihn auch zum direkten Gegenstand staatlicher Steuerung machen.31

3. Die rechtliche Strukturierung der Jugend im Vormärz Zahlreiche Gesetze des frühen 19. Jahrhunderts konturierten die Jugend neu. Allerdings muss betont werden, dass es sich um eine Strukturierung des männlichen Lebenslaufs handelte. Die rechtliche Ordnung des weiblichen Lebenslaufs erfolgte in Teilen später, lediglich die Elementarschulpflicht galt auch für Mädchen. Viele der neuen Normen stehen in Zusammenhang mit der preußischen Reformgesetzgebung in den Jahren nach 1806. So beendete die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Jugend und wurde zu einer potentiell von jedem jungen Mann zu durchlaufenden Lebensphase. Zentrale Bedeutung hat vor allem das in Anschluss an Humboldt immer weiter ausgebaute Schulrecht. Neben der Durchsetzung der Elementarschulpflicht etablierte sich ein Jahrgangsklassensystem mit Versetzungen und Zeugnissen. Das Abitur wurde zur praktisch bedeutsamen Prüfung. Ein weiteres für die Beendigung der Jugend relevantes Rechtsgebiet ist das Wehrrecht und darin insbesondere die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Diese Rechtsgebiete waren Teil eines allgemeinen Verrechtlichungsprozesses, der durchaus nicht linear verlief, weil sich nach 1819 die politischen Vorzeichen der Restauration bemerkbar machten. So sehr der Gesetzgeber semantisch um eine Wiederherstellung alter Zustände bemüht war, so sehr wurde das einmal erreichte Niveau

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Zu diesem unter Juristen und Staatswissenschaftlern geführten Diskurs vgl. Martin Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002. Die Diskussion um die Steuerungswirkung insbesondere des preußischen Verwaltungsrechts könnte der aktuellen Debatte noch mehr historische Tiefenschärfe verleihen. Gerade die Verwaltungsgesetzgebung des Vormärz ist ein gutes Beispiel für diese Feinsteuerung, vgl. zu der heutigen Debatte Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1: Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, München 2006, zum Steuerungsbegriff im Kontext des Verwaltungsrechts vgl. in diesem Band insbesondere Andreas Voßkuhle, »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft«, S. 20–26.

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allenfalls in Einzelakten revidiert. Die generelle Tendenz zur Verrechtlichung des Lebenslaufs hielt an. Die Gesetzgebung zu den Elementarschulen, den weiterführenden Schulen, aber auch die neue Wehrgesetzgebung standen unter den Vorzeichen der pädagogischen Konzepte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vor allem die Schriften und Einrichtungen Pestalozzis beeinflussten die preußischen Heeresreformer bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht als ›Schule der Nation‹. Die mehrere Buchmeter einnehmende Reformgesetzgebung zum preußischen Schulrecht32 ist ohne die zahllosen Denkschriften von Juristen zu Pestalozzi nicht denkbar. Die preußischen Schul- und Heeresreformer besaßen nachweislich detaillierte Kenntnisse über die Pädagogik Pestalozzis. Sie in ihrem Sinne anzuwenden war ihnen ein besonders bedeutsames Anliegen. Bereits im April 1803 und damit deutlich vor den katastrophalen Niederlagen gegen Napoleon versandte der damalige Kompaniechef und spätere Heeresreformer Neidhardt von Gneisenau33 eine anonyme Denkschrift über die Elementarmethode Pestalozzis an den König.34 Gneisenaus Kenntnisse beruhten auf der Lektüre von Pestalozzis berühmter Schrift Wie Gertrud Ihre Kinder lehrt aus dem Jahr 180135 sowie eines Berichts Johann Iths über die Pestalozzische Bildungseinrichtung im Schloss Burgdorf.36 Signifikant an dieser frühen Pestalozzirezeption bei Gneisenau ist vor allem, dass er sich von dessen Pädagogik zwar eine Verbesserung der Bildung aller Menschen erhoffte, jedoch diente ihm die elementare Bildung durch eine neue ›Methode‹37 gerade zur Festigung der bestehenden ständischen Ordnung:

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Vgl. hierzu nur die Sammlung von Rönne, Unterrichts-Wesen. Rönne verweist auf eine große Zahl von Gesetzessammlungen und neuen Kommentaren, Bd. 1, S. 12–15. August Wilhelm Antonius Graf Neidhardt von Gneisenau, preußischer Generalfeldmarschall, geboren am 27. Oktober 1760 in Schildau / Sachsen, gestorben am 23. August 1831 in Posen. Karl Griewank (Hrsg.), Gneisenau. Ein Leben in Briefen, Leipzig 1939. Abgedruckt bei Stübig, Pädagogik und Politik, S. 27–34; zu dieser Schrift vgl. H. S., »Erziehung und Gesellschaft im Denken Gneisenaus bis zum Beginn der preußischen Reformen«, in H. S., Pädagogik und Politik, S. 5–26. Heinrich Pestalozzi, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, ein Versuch den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten, in Briefen, Bern 1801. Johann Ith, Amtlicher Bericht über die Pestalozzische Anstalt und die neue Lehrart derselben, Bern 1802. Zur Konjunktur des Begriffs um 1800 in diesem Zusammenhang vgl. Daniel Tröhler, »›Methode‹ um 1800. Ein Zauberwort als kulturelles Phänomen und die Rolle Pestalozzis«, in D. T. / Simone Zurbuchen / Jürgen Oelkers (Hrsg.), Der historische Kontext zu Pestalozzis ›Methode‹. Konzepte und Erwartungen im 18. Jahrhundert, Bern 2002, S. 9–30.

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Sie [die Methode Pestalozzis, Anm. S. R.] will dem Land fleissige Bauern, dem Staat brauchbare und willige Bürger, der Industrie geschikte Hände, dem Heere rechtschaffene Vertheidiger, den Familien gute Väter und Mütter bilden. Durch innere Zufriedenheit will sie Sittlichkeit gründen, daher öffentliches Glück erzeugen. Sie ist endlich vorzüglich dazu geschickt, der immer mehr in allen Ständen überhand nehmenden Unzufriedenheit einen mächtigen Damm entgegen zu stellen.38

Es ist dieses utilitaristische Element der Lehren Pestalozzis, das sie für die preußische Gesetzgebung auch dann attraktiv erscheinen ließ, als sich die politischen Vorzeichen wieder im Sinne der Restauration änderten. Die ›Jugend‹ ist in der Gesetzgebung der Oberbegriff für Kindheit und Jugend.39 Sie ist ihrerseits in unterschiedliche Phasen unterteilt, wie etwa die Zeit bis zum Schulbesuch,40 der die Phase der Pflichtschulzeit folgt, die mit etwa 14 Jahren endete. Zu diesem Zeitpunkt traten die Religionsmündigkeit und spätestens dann auch die Strafmündigkeit ein. Zwischen dem 14. und je nach Betrachtung 20. oder 21. Lebensjahr konnte die ihrerseits rechtlich geordnete Ausbildung liegen. Man konnte bereits arbeiten oder eine höhere Schulbildung anstreben, wobei natürlich zu betonen ist, dass diese Jugendkarrieren stark von sozialem Stand und Geschlecht determiniert waren. Am Ende der Jugend standen die volle Geschäftsfähigkeit, der Wehrdienst und die Möglichkeit, ohne Einwilligung der Eltern zu heiraten. Sie lag je nach partikularer Gesetzgebung in den deutschen Staaten zwischen dem 20. und dem 24. Lebensjahr.41 Im Schulrecht ist zwischen der Gesetzgebung zur Durchsetzung der Elementarschulpflicht und der rechtlichen Strukturierung des höheren Schulwesens sowie der beruflichen Bildung zu unterscheiden. Die vielfältigen neuen Normen zum höheren Schulwesen können hier nicht weiter ausgeführt werden. Hingewiesen sei nur noch auf ein für

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Anonyme Denkschrift Gneisenaus an Friedrich Wilhelm III. vom April 1803 über die Elementarmethode Pestalozzis, abgedruckt in: Stübig, Pädagogik und Politik, S. 27–34, hier S. 29. ›Jugendliche‹ war meist der gebräuchliche Sammelbegriff für Kinder und junge Leute etwa in § 128 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes sowie § 136 der Novellierung von 1878, vgl. hierzu auch Annika Boentert, Kinderarbeit im Kaiserreich 1871– 1914, Paderborn 2007, S. 15f. Auch diese Phase war durchaus Gegenstand rechtlicher Regelungen etwa zu Kinderbewahranstalten und Kindergärten, vgl. hierzu Burkhard Müller, Öffentliche Kleinkindererziehung im Deutschen Kaiserreich. Analysen zur Initiierung, Organisierung, Nationalisierung und Verstaatlichung vorschulischer Anstalten in Deutschland, Weinheim 1989. Vgl. hierzu Thier, Kommentar §§ 104–113, Geschäftsfähigkeit, S. 365–400; einen Überblick über sämtliche diesbezügliche Normen des deutschen Privatrechts gibt Knothe, Geschäftsfähigkeit.

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die Strukturierung des jugendlichen Lebenslaufs interessantes Zusammenwirken zwischen Wehr- und Schulrecht. Eine allgemeine Schul- oder zumindest Unterrichtspflicht hatten bereits mehrere Normen des 18. Jahrhunderts statuiert, weitgehend durchgesetzt wurden sie erst im 19. Jahrhundert. Der Grund ist in einer neuen und leistungsfähigeren Schulverwaltung zu suchen, der es gelang, die erheblichen Unterschiede im Elementarschulwesen zwischen Stadt und Land, aber auch den einzelnen preußischen Provinzen ganz allgemein unter Einbindung der lokalen Instanzen langsam zu nivellieren. Weil kaum finanzielle Ressourcen dafür zur Verfügung standen, respektierte man die finanzierenden kommunalen und geistlichen Instanzen und machte ihnen vermeintlich nur formal-rechtliche Vorgaben, die dem gemeinsamen Ziel einer verbesserten Elementarschulausbildung dienen sollten. In vielen neuen Gesetzen, Verordnungen, Reskripten und Regulativen zur Neustrukturierung des Lebenslaufs mussten bestehende Lebensgewohnheiten in den Familien, soziale Verhältnisse und wirtschaftliche Erfordernisse überwunden werden. Gerade die Kinder von Eltern, die häufig den Aufenthaltsort wechselten, wurden meist von der Schulpflicht nicht erfasst, was wiederum neue Verordnungen notwendig machte.42 Aber auch die hohe soziale Mobilität junger Menschen machte deren Registrierung schwierig. Wer als Dienstmädchen, als Knecht oder Waise die Familie oder das Dorf wechselte, entging häufig den Schullisten. Dem versuchte man ebenfalls durch detailgenauere Anweisungen zu begegnen. So wurde durch ein Publicandum des Königlichen Consistoriums in Königsberg vom 4. September 1817 »wegen des Schulbesuchs vermietheter Kinder« […] »aufs neue verordnet«: Kein Kind darf eher aus dem Kirchspiele seiner Eltern in ein anderes als Dienstbote ziehen, als bis die Eltern oder Vormünder ihrem Pfarrer ein Zeugnis von dem Pfarrer des Orts, wohin das Kind vermiethet werden soll, eingereicht haben, daß der Miethende sich verpflichtet habe, das dienende Kind mit Ordnung zur Schule anzuhalten.43

Auch die darin erfolgte Wiederholung bereits bestehender Normen, wie man sie vor allem aus der Zeit vor der Einführung der Gesetz- und Verordnungsblätter für die Gesetze kannte, gehörte zum Arsenal der angewandten Praktiken bei der Durchsetzung der Schulpflicht.

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Vgl. etwa das »Rescript des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten und des Ministers des Innern und der Polizei vom 19. März 1825«, abgedruckt in: Rönne, Unterrichts-Wesen, Bd. 1, S. 563. »Publicandum des Königlichen Consistoriums in Königsberg vom 4. September 1817«, abgedruckt in: Neigebaur, Sammlung, S. 187–189.

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In ländlichen Gegenden und kleinen Städten bereitete lange Zeit die Einhaltung der Sommerschulpflicht besondere Schwierigkeiten.44 Immer wieder versuchte man, deren Stellung zu stärken und den Schulbesuch gerade im Sommer zu verstetigen. Zumindest wer nicht im Elternhause mitarbeitete, wurde zum Schulbesuch verpflichtet. Wer zu arbeiten hatte, sollte wenigstens zu einem dreistündigen Schulbesuch an sechs Tagen in der Woche angehalten werden. Problematisch war dies insbesondere bei den Kindern, die zum Viehhüten eingesetzt wurden, weshalb einzelne Bestimmungen sehr weit gingen und diese Arbeit für Kinder gleich ganz verboten.45 Zwar galt auch im Sommer die Pflicht, die bereits angesprochenen Schulbesuchslisten zu führen. Augenscheinlich bestanden in der Praxis aber zahlreiche Defizite bei der Umsetzung dieser Norm. So verwies eine Bekanntmachung der Königlichen Regierung in Stettin, den Schulbesuch auf dem Lande und in kleinen Städten betreffend46 vom 27. Juni 1819 zunächst auf die zahlreichen bereits bestehenden Bestimmungen. Dann forderte man von den Kreisbehörden und Magistraten Berichte über die unternommenen Anstrengungen, »um den gesetzwidrigen und strafbaren Schulversäumnissen« entgegenzutreten. Auch wies man immer wieder darauf hin, dass die Schulversäumnisse im Sommer ebenso zu ahnden seien wie im Winter.47 Ähnliche Probleme bestanden auch in den kleinen Städten. Es liegt der Verdacht nahe, dass sich die lokalen Behörden schwer taten, Eltern tatsächlich zu bestrafen und die angedrohten Geldstrafen durchzusetzen. Entsprechend wollten Verwaltungen wissen, »wie viel die für die Schulcasse erhobenen Strafgelder überhaupt betragen«.48 Viele der vermeintlich rein rechtlichen Bestimmungen wollten auch einfach ein neues Bewusstsein für die Bedeutung einer umfassenden Durchsetzung der Schulpflicht schaffen. So enthielten sie

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Vgl. etwa das »Circular-Reskript der Regierung zu Potsdam vom 25. Februar 1834«, das die Schulzeiten im Sommer an die Bedürfnisse der mitarbeitenden Kinder anpasste, abgedruckt in: Rönne, Unterrichts-Wesen, Bd. 1, S. 606–608. Vgl. etwa die »Verordnung der Regierung zu Minden vom 16. Juni 1819 betreffend das Hüten des Viehes durch Kinder«; ebenso das »Verbot der Regierung zu Arnsberg vom 23. April 1820 betreffend das Viehüten durch Kinder«, beide abgedruckt in: Rönne, Unterrichts-Wesen, Bd. 1, S. 612. »Bekanntmachung der Königlichen Regierung in Stettin vom 27. Juni 1819«, abgedruckt in: Neigebaur, Sammlung, S. 191f. Vgl. etwa die »Verordnung der Regierung zu Marienwerder vom 1. Juli 1828, betreffend den Schulbesuch«, abgedruckt in: Rönne, Unterrichts-Wesen, Bd. 1, S. 572–576, hier S. 575. »Bekanntmachung der Königlichen Regierung in Stettin vom 27. Juni 1819«, abgedruckt in: Neigebaur, Sammlung, S. 192.

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Ermunterungen, lobende Worte über Fortschritte und besonders Appelle zur weiteren Verbesserung: Aus einigen Kreisen und Aemtern sind uns über den guten Anfang und Fortgang der Sommerschule bereits sehr erfreuliche Berichte zugekommen, die uns aufs Neue davon überzeugen, daß die redlichen Bemühungen thätiger Pfarrer für die Fortbildung ihrer Schullehrer und die Verbesserung des Unterrichts und der Schulzucht besser gelingen, wenn auch die polizeilichen Behörden in den Städten und auf dem Lande die allgemeine Volksbildung und die wahre Wohlfahrt der Gemeinden sich ernstlich angelegen sein lassen, und die hier und da sich in den Weg stellenden Hindernisse und Schwierigkeiten mit Eifer und Umsicht zu beseitigen suchen.49

Sogar die erlaubten Entschuldigungsgründe für ein Fernbleiben vom Unterricht wurden genau geregelt. Lediglich »eigene Krankheit des Kindes« oder »ungestüme Witterung und schlechte Wege bei Kindern, welche von dem Schulorte entfernt wohnen« ließ man gelten.50 Weitere Maßnahmen betrafen die verbesserte Lehrerausbildung. Nicht mehr Schneider, Küster oder ehemalige Soldaten, sondern vermehrt ausgebildete, etwas besser bezahlte und mit einem eigenen Statusbewusstsein versehene Volksschullehrer machten den Schulbesuch attraktiver. Das Bündel dieser gesetzgeberischen Maßnahmen hatte durchaus Erfolg.51 Die Schulbesuchszahlen stiegen an und der Schulbesuch verstetigte sich bei einer weiter fortbestehenden Differenz zwischen Sommer- und Winterschule. So besuchten um die Mitte des 19. Jahrhunderts 91 % der Sechs- bis Zwölfjährigen mehr als 100 Tage im Jahr eine Volksschule und angeblich befanden sich 1846 unter den 122.897 Soldaten der preußischen Armee nur zwei, die nicht lesen und schreiben konnten.52 Dies war die Voraussetzung für eine Ausdifferenzierung der weiteren Ausbildung und in der Folge der Verlängerung der Lebensphase Jugend.

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»Bekanntmachung der Königlichen Regierung in Stettin vom 27. Juni 1819«, abgedruckt in: Neigebaur, Sammlung, S. 192. »Verordnung der Regierung zu Marienwerder vom 1. Juli 1828, betreffend den Schulbesuch«, abgedruckt in: Rönne, Unterrichts-Wesen, Bd. 1, S. 572–576, hier S. 573. So konstatiert Frank-Michael Kuhlemann in seiner gründlichen sozialgeschichtlichen Studie zum preußischen Volksschulwesen zwischen 1794 und 1872 eine »weit fortgeschrittene, im internationalen Vergleich beispiellose Modernisierung des Volksschulwesens«, vgl. F.-M. K., Modernisierung, S. 14. Vgl. zu diesen Zahlen auch im internationalen Vergleich Kuhlemann, Modernisierung, S. 18.

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4. Jugend als Problem – die neue Jugendgesetzgebung zum Fabrikschutz- und Jugendstrafrecht Jugendliche wurden als eigene soziale Gruppe zunehmend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrgenommen.53 Dies gilt vor allem für die in den wachsenden Städten in neuem Arbeitsumfeld tätigen Jugendlichen. Gerade weil Jugendkriminalität keinesfalls ein neues Phänomen war,54 muss betont werden, dass der Diskurs darüber vor allem durch die neuen Lebensformen mit einer als nicht ausreichend empfundenen sozialen Kontrolle ausgelöst wurde. Er steht in engem Zusammenhang mit der industriellen Revolution.55 Hierzu gehört auch die Angst vor ›sittlicher Verwahrlosung‹ durch gemeinsame Arbeit von Jungen und Mädchen. Diese Debatte blieb nicht ohne Konsequenzen für die Gesetzgebung und soll an zwei Beispielen vorgestellt werden. Mein erstes Beispiel ist die Fabrikschutzgesetzgebung für Kinder und Jugendliche. Dieses Rechtsgebiet hat seine Ursprünge ebenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auslöser ist die einsetzende Industrialisierung mit ihrer vermehrten Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts vor allem in den Bereichen der Textil-, Tabak- und Zündholzindustrie. Entsprechend finden sich Vorbilder zu dieser Gesetzgebung im englischen ›poor law‹. Zu wirksamen Normen sollte es aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen. Anders als in der rechtlichen Debatte des 18. Jahrhunderts, als der Staat nicht in die familiären Verhältnisse, in die patria potestas des pater familias eingreifen wollte, sollte auch gegen den Willen der Eltern in Beschäftigungsverhältnisse jugendlicher Fabrikarbeiter interveniert werden: Schon seit längerer Zeit ist das Ministerium bemüht gewesen, in Beziehung auf die in Fabriken arbeitenden Kinder, allgemeine Anordnungen herbeizuführen, durch welche den Nachtheilen vorgebeugt werden können, welche für Unterricht, Erziehung, Moralität und Gesundheit dieser armen Geschöpfe zu besorgen sind, so lange ihre Benutzung zu Fabrik-Arbeiten ohne feste Norm und Kontrole der Willkür der Eltern und Fabrik-Herrn überlassen ist.

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Vgl. hierzu etwa die Zäsursetzung im Buch von Savage, Teenage. Vgl. hierzu etwa Paul Griffiths, »Juvenile Delinquency in Time«, in: Pamela Cox / Heather Shore (Hrsg.), Becoming Delinquent: British and European Youth, 1650–1950, Aldershot 2002, S. 23–40. Dies zeigt auch die Untersuchung von Peter King, »The Rise of juvenile Delinquency in England 1780–1840: changing Patterns of Perception and Prosecution«, in: Past and Present, 160 (1998), S. 116–166. Die Debatte um straffällige Jugendliche setzte dort analog zur industriellen Revolution früher ein.

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Da jedoch dergleichen allgemeinen Verordnungen nur mit reichlichster Berücksichtigung aller dabei konkurrirenden Interessen, also nicht bloß der Kinder selbst, sondern auch ihrer dürftigen Eltern und der bestehenden Fabriken, die zu ihrem Flor dieser wohlfeilern Arbeiter nicht wohl entbehren können, erlassen werden müssen; da ferner bei den festzusetzenden Bestimmungen eine sorgfältige Rücksicht auf den Unterschied genommen werden muss, der nicht bloß unter den mancherlei Fabrikations-Arten, sondern auch unter den verschiedenen Arbeiten in jeder einzelnen Fabrik stattfindet, um darnach die angemessensten Vorschriften über das Alter der zu benutzenden Kinder, über die Dauer und Tageszeit ihrer Beschäftigungen, und über ihre zweckmäßige übrige Behandlung, wovon sich zum voraus einsehen lässt, dass in Beziehung auf jede Art von Arbeiten andre Normen anzusehen sein werden, ertheilen zu können und da endlich bei diesen Festsetzungen auch der bisherige Zustand und die wirklich gemachten Erfahrungen und Beobachtungen sorgsam und gründlich zu Rathe gezogen werden müssen: so leuchtet ein, warum mit allgemeinen Bestimmungen bis jetzt nicht rascher vorgeschritten ist, und man vorgezogen hat, lieber etwas später desto durchgreifendere und anwendbarere Verordnungen zu erlassen, als sofort Einrichtungen zu treffen, die auf die vorhandenen Verhältnisse nicht allseitige Rücksicht genommen haben möchten und deshalb später mit Erklärungen, Modifikationen und Abänderungen wieder versehen werden müssten.56

Ordnet man das Dokument rechtshistorisch ein, so muss man zunächst betonen, dass der zuständige Minister mit seinen Forderungen nach einer Fabrikschutzgesetzgebung weder bei seinen Kollegen noch beim König ausreichend Unterstützung für die von ihm intendierte Fabrikschutzgesetzgebung Jugendlicher fand. Es handelt sich also in gewisser Hinsicht um den Alleingang eines Ministers, der sich darauf beschränkte, die bestehende Schulpflicht zu betonen und ihre Durchsetzung auch gegenüber den in den Fabriken arbeitenden Kindern anzumahnen. Er sollte bald Unterstützung von dritter Seite bekommen. Ein Vertrauter des Königs und pensionierter General monierte, dass die Rekruten in den industrialisierten Gebieten Preußens zunehmend in schlechter körperlicher Verfassung seien, was die militärische Schlagkraft des Heeres gefährde. Diese und weitere Eingaben insbe-

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»Cirkular-Reskript des Königl. Ministeriums der Geistlichen-Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten, an sämmtliche Königl. Regierungen sowie an das Königl. Provinzial-Schul-Kollegium und Polizei-Präsidium in Berlin, die Beaufsichtigung der in Fabriken arbeitenden Kinder betreffend«, abgedruckt in: Karl Ritsch (Hrsg.), Sammlung der Verordnungen und Bekanntmachungen welche in Bezug auf das ElementarUnterrichtswesen für den Regierungsbezirk Aachen erlassen worden sind, Aachen 1835 mit zwei Nachträgen Aachen 1838 und 1845, Nachdruck Köln 1985, Erster Nachtrag, S. 64– 68, hier S. 64f.

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sondere aus dem Rheinland sollten dann zu der Gesetzgebung des Jahres 1839 führen, die allerdings nur sehr geringen Schutz gewährte.57 Auffallend an der gesamten Arbeitsschutzgesetzgebung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist, dass es fast ausschließlich die Fabrikarbeiter sind, die geschützt werden sollen. Regelungen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Ausbeutung im weit verbreiteten Heimgewerbe und im Handwerk sollten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlassen werden58 und auch dies nur sehr zaghaft. Die Kinderarbeit in der Landwirtschaft wurde im gesamten 19. Jahrhundert nur in einzelnen Ausnahmevorschriften reguliert.59 Es ist wichtig, dies festzuhalten. Kinder und Jugendliche wurden nicht deshalb schon als schützenswert betrachtet, weil sie arbeiteten. Es sind die Umstände dieser Arbeit, die zum Schutzanspruch des Gesetzgebers führen. Die Arbeit außerhalb des Elternhauses oder unter der strengen Aufsicht eines Lehrherrn wurde besonders kritisch beäugt. Die Gefahr von Verwahrlosung in den wachsenden Städten, von Kriminalität und sittlichem Verfall erschien dem Gesetzgeber in den Fabriken und in der Stadt um ein Vielfaches höher als in den traditionellen Arbeitsformen im Handwerk und auf dem Land. Erst das Isoliertsein der Jugendlichen in diesen größeren Betrieben, zumeist nicht nach Geschlechtern getrennt, führte zum Wunsch nach einem verstärkten Schutz. Entspre-

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Die wesentlichen Bestimmungen lauten wie folgt: § 1: Vor zurückgelegtem neunten Lebensjahr darf niemand in einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden. § 2: Wer noch nicht einen dreijährigen regelmäßigen Schulunterricht genossen hat, oder durch ein Zeugnis des Schulvorstands nachweist, daß er seine Muttersprache geläufig lesen kann und einen Anfang im Schreiben gemacht hat, darf vor zurückgelegtem sechzehnten Jahr zu einer solchen Beschäftigung in den genannten Anstalten nicht angenommen werden. Eine Ausnahme hiervon ist nur da gestattet, wo die Fabrikherren durch Errichtung und Unterhaltung von Fabrikschulen den Unterricht der jungen Arbeiter sichern. Die Beurteilung, ob eine solche Schule genüge, gebührt den Regierungen, welche in diesem Fall auch das Verhältnis zwischen Lern- und Arbeitszeit zu bestimmen haben. § 3: Junge Leute, welch das sechzehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, dürfen in diesen Anstalten nicht über zehn Stunden täglich beschäftigt werden. Die Ortspolizeibehörde ist befugt, eine vorübergehende Verlängerung dieser Arbeitszeit zu gestatten, wenn durch Naturereignisse oder Unglücksfälle der regelmäßige Geschäftsbetrieb in den genannten Anstalten unterbrochen und ein vermehrtes Arbeitsbedürfnis dadurch herbeigeführt worden ist. Die Verlängerung darf täglich nur eine Stunde betragen und darf höchstens für die Dauer von vier Wochen gestattet werden. PrGS 1839, S. 156ff. Erst nach und nach werden in die Gewerbeordnung und ihre gesetzlichen Novellierungen entsprechende Bestimmungen aufgenommen, vgl. hierzu die Darstellung zu den gesetzlichen Bestimmungen der Jahre 1869, 1878, 1891 und 1903 in: Boentert, Kinderarbeit, S. 88f., 166ff., 243ff. und 335ff. Vgl. Anm. 45.

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chend wird das spätere Schutzgesetz des Jahres 1839 die Fabrikherren auch anhalten, den Kommunions- und Konfirmationsunterricht zu ermöglichen.60 Diese besonderen Umstände der Kinderarbeit führten dazu, dass auch die Eltern der Kinder kritischer betrachtet wurden. Ausdrücklich richtete man sich in der Gesetzgebung nicht nur gegen die nahe liegende Willkür und Ausbeutung durch die Fabrikbesitzer, sondern auch gegen die Eltern. Auch ihnen misstraute man wesentlich stärker als den Eltern von Kindern, die in traditionellen Wirtschaftszweigen arbeiteten. Das kam nicht von ungefähr, waren doch viele Eltern in den industrialisierten Gebieten auf den Zuverdienst der Kinder angewiesen. Entsprechend regte sich Widerstand gegen diese Gesetzgebung keinesfalls nur aus den Reihen der Arbeitgeber, die sich vor steigenden Produktionskosten fürchteten, sondern sehr wohl auch von Seiten der Eltern.61 Selbst die Arbeiterbewegung begrüßte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kinder- und Jugendarbeit, wie ein Zitat von Karl Marx belegt: Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an dem großen Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche, gesunde und berechtigte Tendenz […]. In einem rationellen Zustand der Gesellschaft sollte jedes Kind vom neunten Jahre an ein produktiver Arbeiter werden.62

Es ist symptomatisch, dass Interventionen des Gesetzgebers dort beginnen, wo die tradierte Ordnung in den Städten instabil zu werden droht. Das Kind oder der Jugendliche als Miternährer der Familie war ein wichtiger Aspekt, den die Gesetzgebung dabei zu beachten hatte, in der Landwirtschaft und im Handwerk wurde er weiter respektiert. Keinesfalls wurde die Kinderarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchweg negativ betrachtet. Sie musste sich vor allem einem höheren Ziel, der Durchsetzung der Schulpflicht, unterordnen. Die Vorschriften zur Fabrikschutzgesetzgebung wurden in der Praxis oft nur unzureichend durchgesetzt. Der Gesetzgeber versuchte es zunächst mit Berichtspflichten und sanktionierte Verstöße vor allem finanziell. Erst im wiederholten Fall kam es dann auch zu strafrecht-

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So bestimmte § 6 des »Regulativs über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken«, dass christliche Arbeiter, welche noch nicht zur heiligen Kommunion angenommen sind, in denjenigen Stunden, welche ihr ordentlicher Seelsorger für ihren Katechumenen- und Konfirmanden-Unterricht bestimmt hat, nicht in den genannten Anstalten beschäftigt werden dürfen, abgedruckt in: Gesetzsammlung für die KöniglichPreußischen Staaten 1839, S. 156–158. Vgl. dazu Arno Herzig, »Kinderarbeit in Deutschland in Manufaktur und ProtoFabrik (1750–1850)«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 23 (1983), S. 311–375, hier S. 370ff. Zitiert nach Speitkamp, Jugend, S. 100.

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lichen Folgen. Entsprechend negativ werden diese frühen Vorschriften bisweilen heute beurteilt. Gleichwohl etablierten sie ein Niveau, hinter das man nicht mehr zurückfallen und dessen Einhaltung eingefordert werden konnte. Nicht von ungefähr kommt es gerade in den Ländern, die eine frühe Fabrikschutzgesetzgebung erlassen hatten, schon bald zu weitergehenden Gesetzen.63 In meinem zweiten Beispiel möchte ich mich dem eigentlichen Strafrecht widmen. Hierbei ist zwischen der Gesetzgebung zur Strafmündigkeitsgrenze und der Etablierung eines eigenen Jugendstrafrechts zu unterscheiden. Im Vormärz finden sich nur vereinzelte wissenschaftliche Beiträge zu einem eigenen Jugendstrafrecht. Sie konzentrierten sich in erster Linie auf die Art und Weise des Strafvollzugs. Vor allem im Rahmen der breiten Debatte über das Gefängniswesen erschienen erste Beiträge über die Notwendigkeit eigener Jugendgefängnisse. So verfasste der spätere Ökonomieverwalter des Stuttgarter Waisenhauses Emil Riecke 1841 eine kleine Schrift mit dem Titel Ueber Strafanstalten für jugendliche Verbrecher64, in der er aber feststellen musste: »Die jugendlichen Verbrecher wurden bis jetzt kaum einer besonderen Aufmerksamkeit in den Gefängnissen gewürdigt.« Vor allem eine räumliche Trennung erachtete der Autor aber als dringend geboten, wofür er zwei Gründe anführte. Zum einen sei nur so »das böse Beispiel – die schädliche Einwirkung der erwachsenen Verbrecher« auf die Jugend zu vermeiden. Vor allem aber begingen Jugendliche ihre Straftaten aus »Muthwillen, Leichtsinn, Unverstand, Schwäche«. Deshalb seien diese anders als Erwachsene nicht nur zu bestrafen, sondern auch zu erziehen: »Jugendliche Verbrecher dagegen werden gestraft und erzogen; denn es sind Unmündige, in Beziehung auf sittliche Pflege Waisen des Staates.«65 Junge Straftäter als Waisen des Staates – auch hier findet sich der Gedanke einer spezifischen Adressierung der Jugendlichen durch den Staat. Zu einer ersten Initiative zu einem Jugendgerichtsgesetz sollte es erst 1879 kommen und auch dieser Versuch erreichte bekanntlich keine Gesetzeskraft.66 Erst mehr oder weniger informelle »Grundsätze, welche bei dem Vollzuge gerichtlich anerkannter Freiheitsstrafen bis

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Zu der Kritik aus sozialgeschichtlicher und ihrer Bewertung aus rechtshistorischer Sicht vgl. Ruppert, »Neues ›Jugendrecht‹«, S. 55–75. Emil Riecke, Ueber Strafanstalten für jugendliche Verbrecher, mit vorausgeschickter kritischer Übersicht der gegenwärtig bestehenden Strafanstalten-Systeme im Allgemeinen, Heilbronn 1841. Riecke, Strafanstalten, S. 60f. Wilhelm Bleidt, »Junge Gefangene«, in: Erwin Bumke (Hrsg.), Deutsches Gefängniswesen. Ein Handbuch, Berlin 1928, S. 363–383.

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zu weiterer gemeinsamer Regelung zur Anwendung kommen«,67 auf die sich die deutschen Länder 1897 einigten, bestimmten dann, wie mit jugendlichen Straftätern im Strafvollzug umgegangen werden kann. Unter anderem war die Schaffung eigener Jugendabteilungen in den Gefängnissen fakultativ vorgesehen. Bedeutsamer für die Entwicklung einer rechtlich geschützten Lebensphase Jugend im Vormärz waren die Diskussionen des materiellen Strafrechts insbesondere zur Altersgrenze der Strafmündigkeit. Die Rezeption pädagogischer Konzepte führte aber zu reger Diskussion um die richtige Grenze der absoluten Strafmündigkeit. Das Bairische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1813 regelte dann explizit, dass Kinder vor dem Erreichen des achten Lebensjahrs nicht bestraft werden konnten. Das Gesetz schob so die römisch- und gemeinrechtliche Altersgrenze ein Jahr hinaus. Das oldenburgische Strafrecht von 1814 orientierte sich an der bayrischen Regelung und führte ebenfalls die Altersgrenze von acht Jahren ein. Die nach 1840 erlassenen Strafgesetzbücher68 setzten diese Altersgrenze dann fast einhellig auf zwölf Jahre hinauf, das an den englischen Verhältnissen orientierte Braunschweig führte sogar erstmals die heute noch geltende Strafmündigkeitsgrenze von vierzehn Jahren ein.69 Zeitgenössische Strafrechtler debattierten engagiert über die Frage, wann die Einsichtsfähigkeit Jugendlicher medizinisch festzustellen sei und ob sie etwa auf dem Land später eintrete als in der Stadt. Die Tendenz zur Ausweitung einer völlig straffreien Kindheit sollte dann das gesamte 19. Jahrhundert hindurch fortgesetzt werden.70 Zur entscheidenden Wende in der Behandlung jugendlicher Delinquenten kam es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ab diesem Zeitpunkt begann man in Deutschland wie in vielen europäischen Ländern,71 die Aspekte der besonderen entwicklungsspezifischen Bedürf-

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Abgedruckt in: Werner Schubert / Jürgen Regge / Peter Rieb / Werner Schmid (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, Berlin 1999, S. 109ff. Vgl. hierzu etwa die Strafgesetzbücher von Sachsen-Altenburg 1841, Art. 66; Großherzogtum Hessen 1841, Art. 37; Hannover 1840, Art. 83; Herzogtum Baden 1845, § 78; Thüringen 1855, Art. 61. Alle diese Gesetze sind abgedruckt bei Melchior Stenglein, Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, 3 Bände, München 1858. So § 30 des Criminalgesetzbuches für das Herzogthum Braunschweig vom 10. Juli 1840. 1843 wurde dieses auch das Strafgesetzbuch für das Fürstentum LippeDetmold, abgedruckt in: Stenglein, Sammlung, Bd. 1, S. 26 (jedes einzelne Gesetz ist neu nummeriert, es ist das letzte in diesem Band abgedruckte Gesetz). Übersicht bei Lange, Behandlung Jugendlicher, S. 105ff. Zu Russland vgl. etwa die im Rahmen der Selbständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe Lebensalter und Recht erschienene Arbeit von Tatjana Mill, Zur Erziehung verurteilt. Zur Entwicklung des Jugendstrafrechts im zaristischen Russland, erscheint Frankfurt a. M. 2009; zu Belgien vgl. Marie-Sylvie Dupont-Bouchat, De la prison à

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nisse der Jugend nach Erziehung, Förderung und Fürsorge in die Gesetzgebung und kriminalpolitische Überlegungen einzubeziehen. Zunehmend etablierte auch der Gesetzgeber pädagogische Überlegungen und den Präventionsgedanken im deutschen Jugendstrafrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Insofern hob er jugendliche Delinquenten von allen übrigen Straftätern, für die der Vergeltungsgrundsatz nach wie vor absolute Gültigkeit hatte, ab.72 Zwar behielt der Vergeltungsgrundsatz auch im Bezug auf Minderjährige immer eine gewisse Relevanz, wurde aber zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Dieser Prozess erfasste alle Teilbereiche des Strafrechts und bezog sich grundsätzlich auf die Minderjährigen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden diese zunehmend stärker aus dem allgemeinen Strafensystem und Strafvollzug ausgegliedert und der erzieherischen Behandlung unterstellt. Es fand eine Ausdifferenzierung in das eigentliche Jugendstrafrecht, die Zwangs- und Fürsorgeerziehung statt und auch darin traf der Gesetzgeber geschlechtsspezifische Unterscheidungen.73 Ziel war es, die als Gefahr für den sozialen Frieden betrachtete Jugend in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren.

5. Schluss Während neue Rechtsgebiete wie das Schulrecht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Jugend als eigene Lebensphase erst rechtlich abgrenzten, wurde die Jugend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt als soziale Gruppe wahrgenommen. Dabei gerieten eher deviante und delinquente Jugendliche in den Blick. Diese galt es durch gesetzgeberische Maßnahmen und eine ausgeweitete Jugendfürsorge wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, ein Anliegen, das insbesondere in Zeiten nachlassender Fertilität und längerer Lebenserwartung bedeutsam wurde. Nicht angesprochen wurde die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt in rechtlichen Diskursen thematisierte politische Jugend. Mit den Änderungen des Wahlrechts und dem zunehmenden Wegfall zahlreicher Wahlrechtsbeschränkungen wie dem Mindesteinkommen, der Steuerpflichtigkeit und der Trennung in zwei Kammern wurde das Alter und bis 1918 auch das Geschlecht zur einzig verbleibenden Hürde

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l’école: Les pénitenciers pours enfants en Belgique au XIXe siècle (1840–1914), Kortrijk-Heule 1996. Vgl. hierzu Fritsch, Reformbewegung. Vgl. zur Adressierung weiblicher Jugendlicher Schmidt, Gefährdete Mädchen.

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bei der Teilnahme an Wahlen. Auch dies führte zu einem erneuten Wandel in der rechtlichen Betrachtung der Jugend.74 Die Konjunktur jugendrechtlicher Debatten im Nationalsozialismus und auch später in der DDR legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab.

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Vgl. hierzu Peter Behrendt, »Jugendliche als Gefahr oder Triebkraft des Politischen? Zum Streit um den politischen Status von Jugendlichen in der Frankfurter und Weimarer Nationalversammlung«, in: Christoph Gusy / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 2005, S. 79–111, hier S. 82–92.

Zu den Autorinnen und Autoren DOROTHEE ELM VON DER OSTEN studierte Klassische Philologie und Geschichte in Berlin, Princeton, Oxford (Master of Studies) und Freiburg i.Br. Sie wurde 2000 in Freiburg mit einer Arbeit zur Darstellung und Konzeption der Göttin Venus in den Argonautica des Valerius Flaccus promoviert. Die Studienstiftung des deutschen Volkes förderte das Studium und die Promotion. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms Römische Reichs- und Provinzialreligion an der Universität Erfurt. Sie ist seit 2004 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Latinistik an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Im Juli 2007 wurde sie Kollegiatin im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Ihr Habilitationsprojekt untersucht die Inszenierung von Religion und religiöser Kompetenz in Schriften des 2. Jhs. n. Chr. THORSTEN FITZON studierte Germanistik und Geschichte in Heidelberg, Bern (DAAD), Freiburg i.Br. und Leipzig. 2002 wurde er mit einer Studie zur Rezeption Pompejis in der deutschen Reiseliteratur und Dichtung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg promoviert. Von 2001 bis 2004 war er wissenschaftlicher Referent für die Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn und Berlin, wo er das Hauptstadtbüro und das ›Studienkolleg zu Berlin‹ aufbaute. Seit 2004 arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg) und verfasst eine Habilitationsschrift zur Figuration des hohen Alters in der deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. Er ist Sprecher des Schwerpunktes Religiöse und poetische Konstruktion der Lebensalter im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Antikerezeption und der literarischen Anthropologie. THERESE FUHRER studierte Musik am Konservatorium für Musik in Bern sowie Klassische Philologie und Alte Geschichte an den Universitäten Bern und Basel, Irvine und Pittsburgh (USA), Freiburg i.Br., Oxford und Mainz. Sie wurde 1989 in Bern promoviert, 1995 habilitierte sie sich ebenfalls in Bern. 1996–1997 war sie ord. Professorin für Klassische Philologie/Latinistik an der Universität Trier, 1997–2004 an

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Zu den Autorinnen und Autoren

der Universität Zürich, 2004–2008 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, seit 2008 an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der antiken Philosophie, der christlichen Spätantike (insbesondere Augustin) und der lateinischen Dichtung. ANNETTE GEROK-REITER studierte Neuere deutsche Literatur, Ältere deutsche Literatur und Sprache und Philosophie in Tübingen und Basel. 1992 erfolgte ihre Promotion mit einer Arbeit über Rilkes Sonette an Orpheus. Von 1992 bis 1994 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Tübingen, erhielt dann ein Habilitationsstipendium der DFG, anschließend ein Postgraduiertenstipendium des Tübinger Graduiertenkollegs Ars und Scientia im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Von 2002 bis 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mainz. 2004 habilitierte sie sich mit der Arbeit Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelalterlicher Epik. 2005 erhielt sie den Preis für besonders qualifizierte Nachwuchswissenschaftlerinnen der Universität Mainz und arbeitete 2006–2007 auf einer von der Thyssen-Stiftung geförderten Projektstelle. Im WS 2007/08 war sie Gastprofessorin an der FU Berlin, seit 2008 ist sie dort Professorin. MIRIAM HALLER studierte Germanistik, Pädagogik, Geschichte und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, der Universidad Nacional del Comahue (Argentinien) und der Universität zu Köln. 2001 wurde sie mit der Arbeit Fest der Zeichen. Schreibweisen des Festes im modernen Drama in Köln promoviert. Sie ist Geschäftsführerin des Arbeitsbereichs Gasthörer- und Seniorenstudium und stellvertretende Leiterin des Centrum für Alternsstudien/Center for Aging Studies der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Alternsforschung. Sie ist Gründungsmitglied der Kulturwissenschaftlichen Forschungsgruppe Demographischer Wandel (kfdw) und arbeitet an einer Habilitation zur Performativität des Alterns in Diskursen der (Post-)Moderne. Darüber hinaus hat sie zahlreiche Aufsätze zum Altersdiskurs in der zeitgenössischen Literatur verfasst. STEFANIE KNÖLL studierte Kunstgeschichte, deutsche und englische Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie an der Oxford Brookes University. 2002 wurde sie an der University of Sussex mit einer Arbeit über nordeuropäische Professorengrabmäler promoviert. Nach einem wissenschaftlichen Volontariat am Museum für Sepulkralkultur Kassel (2002–2004) arbeitete sie als wissenschaft-

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liche Mitarbeiterin am Stadtmuseum Tübingen und am Seminar für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2007 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig und betreut als Kustodin die Graphiksammlung Mensch und Tod. THOMAS KÜPPER studierte Germanistik und Philosophie in Bochum. Mit der Arbeit Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 1750 bis 1850 wurde er dort 2001 promoviert. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt. Neben literarischen und kulturellen Konstruktionen des Alter(n)s gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten die Geschichte des ›Kitsch‹-Begriffs und die Edition von Walter Benjamins Rundfunkarbeiten. Zuletzt erschien der Essay »Filmreif. Altersdarstellungen im Kino« in dem Ausstellungskatalog Die Kunst des Alterns. Zurzeit ist er Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und Mitherausgeber von Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur. ANDREAS KUNZ-LÜBCKE studierte Evangelische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Naumburg und Rabbinische Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem. 1996 wurde er in Leipzig promoviert; 2001 habilitierte er sich dort mit der Arbeit Die Frauen und der König David. Studien zur Figuration von Frauen in den Daviderzählungen. Anschließend forschte er im Rahmen des DFG-Projekts Das Kind in Israel in alttestamentlicher Zeit. Derzeit ist er apl. Professor an der Universität Leipzig und Dozent für Altes Testament am Missionsseminar Hermannsburg. KATHRIN LIESS studierte Evangelische Theologie und Germanistik in Kiel und Heidelberg. Von 1996 bis 1999 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Tübingen im DFG-Projekt zur poetischen Satzsyntax im Alten Testament. Seit 1999 ist sie wissenschaftliche Assistentin im Fach Altes Testament an der Evang.-theol. Fakultät Tübingen. 2003 wurde sie mit der Arbeit Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen promoviert, die mit dem Promotionspreis der Universität Tübingen ausgezeichnet wurde. Sie arbeitet an einer Habilitationsschrift über Herrschererwartungen im Jesajabuch und ist seit Juli 2007 Kollegiatin im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Zu den Autorinnen und Autoren

SANDRA LINDEN studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Aachen, Köln und Tübingen, Studium und Promotion wurden von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Die Dissertation trägt den Titel Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtenstein und wurde 2002 abgeschlossen. Von 2001 bis 2002 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Universität Tübingen tätig. 2003 erhielt sie ein Post-doc-Stipendium im Graduiertenkolleg Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Seit 2004 arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin bei Prof. Dr. Christoph Huber (Universität Tübingen). Ihr Habilitationsprojekt untersucht die spezifische Aussageform des Exkurses in volkssprachigen Romanen des Mittelalters. Seit Juli 2007 ist sie Kollegiatin im WIN-Kolleg der Heidelberger Akademie. STEFAN RUPPERT studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Politik in Frankfurt a.M. Die Promotion zum Thema Kirchenrecht und Kulturkampf wurde 2002 mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet. Von 2001 bis 2003 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Prof. Dr. Dr. Udo di Fabio am Bundesverfassungsgericht. Seit 2003 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt. Seit 2005 ist er dort Leiter der Selbständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe Lebensalter und Recht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen darüber hinaus auf dem Gebiet der Geschichte des Kirchenrechts, der Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts und der juristischen Zeitgeschichte. FLORIAN STEGER studierte Humanmedizin, Klassische Philologie und Geschichte in Würzburg und München. Er wurde an der Universität Bochum mit einer Arbeit zur antiken Medizingeschichte promoviert und erhielt 2003 den Bayerischen Habilitationsförderpreis. 2008 erhielt er die venia legendi für Geschichte und Ethik der Medizin, seitdem ist er Privatdozent an der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Er wurde durch zahlreiche Stipendien im In- und Ausland gefördert: Studienstiftung des deutschen Volkes, DAAD, DFG, Alfried Krupp Stiftung Greifswald, Wellcome Trust London. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Budapest, Jerusalem, London und Tel Aviv. Er ist Gruppenanalytiker (DAGG) und vertritt zurzeit eine Professur am Institut für Geschichte der Medizin der LMU München. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Antiken Medizin und ihrer Rezeption, dem Verhältnis von Literatur und Medizin, der Geschichte, Theorie und Ethik der Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Klinischen Ethik.

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Register (Die kursiv gesetzten Seitenzahlen verweisen auf einen Eintrag in den Anmerkungen)

Adorno, Theodor W. 247 Der wilde Alexander (Meister Alexander) Erdbeerlied 119 Alexanderroman 119 Altzenbach, Gerhard 184 Der Tod mit den zehn Lebensaltern 194 Amman, Jost Kunstbüchlein 182f. Ammianus Marcellinus 111 Anacreontea 59 Anakreon 19, 29 Anthologia Graeca 62 Anthologia Palatina 49 Anthonisz, Cornelis 169 Apoll 84, 90f., 96 Apollonios von Tyana 78, 79, 82, 95 Apuleius von Madaura 71, 73, 76, 83, 86–93, 95–99 Pro se de magia 14, 71, 73, 86, 87, 88 Florida 90f., 96 Archilochos 51 Ariès, Philippe 113–118, 119, 131f., 134 Aristophanes Ecclesiazusae 56 Aristoteles 14, 87, 95, 101, 104–106, 176, 235 De caelo 106 Ethica Nicomachea 106 Historia animalium 59, 87 Parva naturalia 105 Politica 106, 250 Problemata 106 Rhetorica 106

Topica 5, 6, 8, 10, 75, 106, 194 Arndt, Ernst Moritz Frühling im Alter 16, 214f. Arnold, Klaus 116 Artemidor Onirocriticon libri 132 Asklepios 78f. Athenaeus Dipnosophistarum libri 96 Augustinus 117, 132 Augustus 110 Bake, Kristina 183 Barthélemy de Glanville Grand Propriétaire de toutes choses, très utile et profitable pour tenir le corps en santé 114 Barthes, Roland 13, 232 Baudry, Jean-Louis 226 Becker, Rudolph Zacharias 207 Beckett, Samuel Endspiel 247 Begley, Louis Schmidt 237 Schmidts Bewährung 237 Beham, Hans Sebald Der Tod und die drei nackten Weiber 178f. Bibel 17, 252, 260, 267, 268 Genesis (Gen) 5,21–24: 46f. 7,3: 266 19,31f.: 266 25,22: 263f. Exodus (Ex) 21,22f.: 259, 260, 261f. Leviticus (Lev)

340 12,2: 268 Numeri (Num) 5,28: 266–268 12,12: 259 Deuteronomium (Dtn) 25,11: 260 28,53: 269f. 1. Könige (1Kön) 12,1–19: 37 Hiob (Hi) 1,21: 254, 260 3,11–16: 253f., 256, 258, 259 12,12f.20: 37 15,9f.: 35 19,9: 31 19,17: 269f. 21,7: 38 32,6–10: 36 Psalmen (Ps) 8,2f.: 32, 118, 272, 273, 275 22,10f.: 270f. 58,8f.: 257 71,9.20: 26f. 119,100: 38 139,15: 254 Proverbien (Prov) 4,1–9: 29f. 4,10: 30 16,31: 28–33 20,29: 29–32 22,5f.: 30 Kohelet (Koh) 1,4: 259 4,13: 38f. 5,14f.: 259 6,3–5: 258 8,10: 259 11,10: 23 Jesaja (Jes) 44,2: 271f. 44,24: 272 46,3f.: 26f.

Register

Jeremia (Jer) 20,17f.: 256f. Ezechiel (Ez) 16,44: 264 Hosea (Hos) 7,9: 24f. 12,4: 263f. 13,13: 263 Jesus Sirach (Sir) 6,18: 34 6,31: 34 6,34: 34 7,14LXX: 34 8,9: 34 25,2: 35 25,3–6: 32f. 25,4f.: 25 32,3: 34 42,8: 35 Weisheit (Weish) 2,10: 25 3,17: 41 4,7–20: 40–47 7,1–6: 264f. Bobbio, Norberto De senectute 108 Bocchi, Franchesco Eccellenza del San Giorgio di Donatello 80 Bogel, Frederic V. 77, 84 Bonaparte, Napoleon I. 287 Bonnet, Anne-Marie 175 Bornscheuer, Lothar 6, 9f., 75, 142, 192, 231f. Breu, Jörg der Jüngere 169 Brunner, Hellmut 21 Burns, Robert The Winter Of Life 203 Butler, Judith 229, 233, 241 Caesar, Gaius Julius 110 Campbell, Erin 180

341

Register

Carmina Burana 141 Carrington, Leonora 235, 239 Das Hörrohr 247 Catull 77, 97 Celsus Artes 106 Celtis, Konrad 189, 202, 216 Ad senectutem suam 200 Cervantes Saavedra, Miguel de Don Quijote 247 Chrétien de Troyes Yvain 119 Cicero 79 Cato maior de senectute 3, 55, 71–73, 79, 80, 89, 108 De inventione 7, 74 De legibus 72 De oratore 7, 74 De re publica 72, 110 In Tusculum 44f. Laelius de amicitia 72 Clemens von Alexandria Paidagogus 94f. Coetzee, John M. 244 Schande 237, 239 Slow man / Zeitlupe 229, 235, 237, 239, 243, 244, 246f. Tanner Lecture on Human Values 243 Copus, Wilhelm 201, 202 Curtius, Ernst 3–5, 8, 12, 142, 190, 192f., 222, 230, 231 Day, Doris 247 deMause, Lloyd 115 Demokrit 21, 55, 79 Demonax 79 Derrida, Jaques 230 Dio Chrysostomus Oratio 93 Diogenes 79, 81 Dürer, Albrecht 171, 175

Nackte Frau 175f. Die vier Hexen 178f. Eichendorff, Joseph Freiherr v. Das Alter 216, 217 Empedokles 82 Epiktet 94 Erasmus 189, 201f., 216 Erhart, Gregor 171f. Eyck, Jan van 175, 176, 180 Flaubert, Gustave Madame Bovary 247 Fleming, Paul 196, 199 Florus, 110f. Foucault, Michel 221f., 230f., 242f. Galen 14, 101 Corpus galenicum 104, 106 Definitiones medicae 109 De mar 106 De sanitate tuenda 107f. De simpl. medicament. temp. 107 De Temperamentis 106 De Theriaca ad Pisonem 107 Historia Philosophiae 105 Genazino, Wilhelm Die Liebesblödigkeit 237 Gennep, Arnold van Übergangsriten 229, 237 Giorgione La Vecchia 180 Glykon 78, 80 Gneisenau, Neidhardt von 287, 288 Göckenjan, Gerd 236 Goethe, Johann Wolfgang von 187 Götz, Johann Das Alter 203f. Gorgias 79 Gottfried von Straßburg Tristan 15, 113–136 Grien, Hans Baldung Die drei Lebensalter und der Tod 171

342 Die Lebensalter und der Tod 171 Die sieben Lebensalter des Weibes 171, 174 Grimm, Jacob und Wilhelm Deutsches Wörterbuch 204 Gryphius, Andreas Cardenio und Celinde 189 Guarinonius, Hippolytus Grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts 1 Guibert de Nogent De vita sua 177 Hätzlerin, Clara Augsburger Liederbuch der Clara Hätzlerin 168 Hallacker, Anja 142, 194 Hallfredarsaga 141 Hammer-Tugendhat, Daniela 175, 180 Hardenberg, Carl August von 277f. Harsdörffer, Georg Philipp 196, 198f. Hartmann von Aue Gregorius 119 Iwein 119 Haug, Walter 134 Haupt, Moritz 161 Heinrich von Morungen 15 Het ich tugende niht so vil von ir vernomen (MF 124,32) 137, 144– 147 Heinrich von Rugge 149 Heinrich von Veldeke Man seit al vür wâr (MF 62,11) 149 Herder, Johann Gottfried Des Lebens Winter. Nach Sarbievius 203f. Journal meiner Reise im Jahr 1769 193 Herodes 80

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Hesiod 110 Hippokrates Aphorismen 105, 109 Corpus Hippocraticum 14, 56, 101, 104–109, 188 De diaeta 107 De genitura 252 De humoribus 109 De morbis 107 De morbis mulierum 105 De natura hominis 105 De natura muliebri 105 De octimesi partu 104f. De victu 106, 109 Hirschfeld, Christian C. Lorenz Der Winter 212 Historia Augusta 111 Hofmannsthal, Hugo von Des alten Mannes Sehnsucht nach dem Sommer 217f. Homer Ilias 62, 68 Horaz 68, 108, 141 Ars Poetica 93 Carmina 14, 49, 50–53, 57, 60– 63, 66f., 203 Epistulae 50 Epodi 14 Saturae 51 Hrabanus Maurus De naturis rerum 166 Hults, Linda 179 Humboldt, Wilhelm von 286 Ibykos 205 Isidor von Sevilla Etymologiae 107, 118 Isokrates 79 Ith, Johann Amtlicher Bericht über die Pestalozzische Anstalt und die neue Lehrart derselben 287

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Jean Froissart Espinette amoureuse 134 Jean Paul 213f. Johannes Chrysostomus in Hebr. Homiliae 93 Judas 80, 120 Juvenal Saturae 49, 51, 72, 108 Keel, Othmar 22 Kleanthes 79 Klemens von Alexandria s. Clemens Knape, Joachim 10, 75 Kohli, Martin 284 Konrad von Altstetten Lied 3: 149 Konrad von Megenberg Buch der Natur 132 Kristeva, Julia 230 Kuhn, Hugo 143, 161 Laktanz Divinae Institutiones 110 Lessing, Doris Und wieder die Liebe 237 Lukian Alexandros 14, 71, 73, 76f., 84f., 97 Demonax 79 Philopseudes 82 Lukrez 110 Maaz, Wolfgang 115f. Maidburg, Franz 181 Mann, Thomas Theodor Storm 227 Die Betrogene 218 Maron, Monika Ach Glück 229, 235, 239, 246f. Endmoränen 17, 229, 235, 238, 239, 244, 246 Wie ich ein Buch nicht schreiben kann

343 und es trotzdem versuche 243, 245 Marsyas 90f., 96 Martial 49, 51, 52, 68, 81, 83 Martini, Fritz 224 Marx, Karl 295 Mauch, Daniel Nackte Alte 174 Maximian Elegiae 50, 56, 108 Maximus Taurinensis 97f. Medici, Cosimo de’ 180 Meister, Leonhard Der Greis im Frühling 189, 190, 211, 217 Melanchton, Philipp Elementa Rhetorices 8 Menander Fragment 553: 41 Mimnermos 62 Müller, Jan-Dirk 125 Müller, Wilhelm Gruß des Winters 205 Neeb, Johann 191 Neidhart 15, 152–157 Sommerlied 1: 157 Sommerlied 3: 157, 158, 163 Sommerlied 9: 157, 160, 162f. Sommerlied 17: 154, 158f., 163 Sommerlied 30: 149 Winterlied 30: 150, 152, 153 Nestroy, Johann Der alte Mann mit der jungen Frau, Posse mit Gesang in 4 Acten 105 Neuber, Wolfgang 230 Nietzsche, Friedrich Der Wanderer und sein Schatten 269. Die Lebensalter 188 Opitz, Martin Buch von der deutschen Poeterey 196– 199

344 Ovid Amores 50, 105, 110 Ars amatoria 50, 52 Metamorphosen 110, 207 Parmenides 95 Perelman, Chaim 8 Pestalozzi, Heinrich Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, ein Versuch den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten, in Briefen 278, 287f. Petrarca 111 Petron 51, 83 Pfau, Ludwig Der Alte 217 Philo von Alexandrien De Abrahamo 45 De migratione Abrahami 44f. Quis rerum divinarum heres sit 45 Philostrat Vita Apollonii 82 Pirandello, Luigi Sechs Personen suchen einen Autor 244 Platon Res publica 55 Plautus Asinaria 56 Cistellaria 56 Bacchides 56 Mercator 56 Stichus 56 Plinius d. Ältere Naturalis historiae 87 Plinius d. Jüngere Epistulae 43, 45, 95 Plutarch An seni res publica gerenda sit 73, 104 Moralia 44 Pörksen, Gunhild und Uwe 119–122, 125

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Polybios 110 Priapea 51, 52 Properz 49, 51, 52 Pseudo-Lukian Makrobioi 79 Ptahhotep Weisheitslehre 20f., 32 Pudentilla 86, 88–90, 98 Pythagoras 79, 82, 95 Quintilian Institutio Oratoria 7, 74 Reinmar der Alte Der lange suozer kumber mîn (MF 166,16) 138 Lâze ich mînen dienest sô (MF 171,32) 149 Ich hân hundert tûsent herze erlôst (MF 184,31) 155 Wol im, der nu vert verdarp! (MF 198,28) 139 Riecke, Emil 296 Robert de Lisle Psalter des Robert de Lisle 167 Romulus 111 Rost, Christoph 204 Der verliebte Alte 205 Roth, Philip Das sterbende Tier 237 Jedermann 237 Rückert, Friedrich Ewiger Frühling 16, 215f. Sappho 56, 203 Sarbiewski, Matthias Casimir Vitæe humanæ brevitatem benefactis extendendam esse 189, 202–204 Scaliger, Julius Caesar Poeticae libri septem 111 Schlosser, Christian Heinrich 187

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Schmidt-Biggemann, Wilhelm 142, 193–195, 213 Schrot, Martin Die zehn Alter der Welt 182 Stamm oder Gesellen Büchlein 183 Schubart, Christian Friedrich Frühlingslied eines Greisen 205– 207, 209–211 Schultz, James A. 117 Scipio Africanus 73, 110 Seneca d. Ältere 110 Seneca Ad Marciam de consolatione 43f. Epistulae morales ad Lucilium 44, 47, 55 Senf, Heinrich Chr. Lebrecht Frühlingslied eines Greises 205f., 210f. Servius In Vergilii Aeneidos commentarius 109 Shakespeare King Lear 106 Shorter, Edward 116 Solon 22, 71, 113 Sophokles Ödipus auf Kolonos 108 Soranus Gynäkologie 87 Stäudlin, Gotthold Friedrich Der blinde Greis. Im Frühling 205, 207–209 Storm, Theodor 227 Marthe und ihre Uhr 16, 221, 223f., 227 Immensee 16, 221, 225–227 Sueton De vita Caesarum 83 Synesios von Kyrene Lob der Kahlheit 82

Tacitus Dialogus 79 Theokrit 59 Thomasius, Christian Ausübung der Vernunftlehre 8 Titzmann, Michael 237 Toulmin, Stephen 8f. Tscherning, Andreas 196, 199 Tugendhafter Schreiber Lied 7: 152 Ulrich von Zatzikhoven Lanzelet 117, 119 Varro 109 Veit, Walter F. 194 Vergil Eclogae 56 Georgica 59 Walser, Martin Der Lebenslauf der Liebe 237 Ein liebender Mann 237 Walther von der Vogelweide Si wunderwol gemachet wîp (L. 53,25) 139 Minne diu hât einen site (L. 57,23) 148 Lange swîgen des hât ich gedâht (L. 72,31) 148 Warning, Rainer 241 Wengeler, Martin 231 Wiedemann, Conrad 231 Wieland, Christoph Martin Oberon 141 Wießner, Edmund 161 Wirnt von Gravenberg Wigalois 119 Wolfram von Eschenbach Parzival 117, 119, 120, 133 Wolfzettel, Friedrich 117

346 Xenokrates 79 Xenophilos 79 Zachariae, Just Frd. Wilhelm Der Greis und die junge Frau 205 Zenon von Elea 95 Zola, Emile Le docteur Pascal 107

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