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German Pages 352 Year 2014
Kathrin Hahn Alter, Migration und Soziale Arbeit
Theorie Bilden | Band 23
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag der erziehungswissenschaftlichen Fachbereiche der Universität Hamburg.
Kathrin Hahn
Alter, Migration und Soziale Arbeit Zur Bedeutung von Ethnizität in Beratungsgesprächen der Altenhilfe
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Inhalt
Danksagung | 9 1
Einleitung | 11
T EIL I T HEORETISCHE B ETRACHTUNGEN IM K ONTEXT VON A LTER , M IGRATION UND S OZIALER A RBEIT 2
Wissensbestände über alte Migrantinnen und Migranten | 23
2.1 2.2 2.3 2.4
Demographische Merkmale alter Migrant/-innen | 25 Chronologie des Forschungs- und Praxisgebietes | 28 Alte Migrant/-innen im Strukturwandel des Alters | 36 Ethnizität in Forschungen über alte Migrant/-innen | 58
Alter und Migration im sozialpädagogischen Diskurs | 69 Interkulturelle Öffnung versus ethnienspezifische soziale Dienste? | 71 3.2 Soziale Beratung im Kontext von Alter und Migration | 78 3.2.1 Beratung in der Altenhilfe | 81 3.2.2 Beratung und Migration | 88 3.3 Forschungsanforderungen an die Soziale Arbeit im Kontext von Alter, Migration und Beratung | 102 3
3.1
4
Theoretische Zugänge zu Ethnizität und Kultur | 107
4.1 Ethnizität und Kultur in essentialistischen Ansätzen | 108 4.2 Ethnizität als sozial konstruierte Wirklichkeit | 118 4.2.1 Ethnizität als Differenzierungskategorie in modernen Gesellschaften | 129 4.2.2 Kritik am sozialkonstruktivistischen Ethnizitätsbegriff | 132 4.3 Kultur als Deutungs- und Bewältigungspraxis des alltäglichen Lebens | 134
4.4 Ethnizität als gesellschaftlich relevante, interaktiv geltend gemachte Differenzierungskategorie | 138
T EIL II E MPIRISCHE E RFORSCHUNG VON ETHNISCHEN D IFFERENZIERUNGEN IN B ERATUNGSGESPRÄCHEN DER A LTENHILFE 5
Rekonstruktive Zugänge zu ethnischen Differenzierungen – methodologische Verortung und Forschungsdesign | 143
5.1
Das Erkenntnisinteresse und seine ethnomethodologische Einbettung | 145 5.2 Rekonstruktion des Forschungsvorgehens | 148 5.2.1 Eingrenzung des Untersuchungsfeldes und Erhebungsverfahren | 149 5.2.2 Feldphase: Kontaktaufnahme zu den Institutionen und Datenerhebung | 152 5.2.3 Überblick über das Datenmaterial | 159 5.2.4 Schritte der Datenauswertung | 162
6 6.1
Ethnische Differenzierungen in der Beratung alter Migrantinnen und Migranten | 175
Die Belastung des Beziehungsaufbaus zwischen Berater und Ratsuchenden durch ethnische Differenzierungen (Typ I) | 182 6.1.1 Ethnische Differenzierungen als Mittel zum Aufbau einer Beratungsbeziehung zwischen Berater und Ratsuchenden | 182 6.1.2 Der Rekurs auf ethnische Zugehörigkeit zwischen Gesprächsbeteiligten gleicher Herkunft | 205 6.1.3 Fazit Typ I: Ethnische Differenzierungen belasten den Aufbau einer Beratungsbeziehung zwischen Berater und Ratsuchenden | 217 6.2 Die Erosion des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchenden im Kontext ethnischer Differenzierungen (Typ II) | 218 6.2.1 Kommunikationsstörungen im Beratungsablauf aufgrund von sprachlicher Differenz | 220 6.2.2 Gespräche über Ratsuchende – der Ausschluss alter Migrant/-innen vom Beratungsgeschehen | 228 6.2.3 Der Teilausschluss des Beraters von der Kommunikation | 241 6.2.4 Fazit Typ II: Sprachliche Differenz wirkt erodierend auf das Komplementärverhältnis von Berater und Ratsuchenden ein | 251
6.3 Die Begründung eines institutionellen Hilfebedarfs unter Bezugnahme auf ethnische Differenz (Typ III) | 254 6.3.1 Der ›ethnischen Differenz‹ gerecht werden? – Ethnisierungen seitens der Berater/-innen | 255 6.3.2 Der Wunsch nach Anerkennung herkunftsbezogener Differenz – Ethnisierungen seitens Ratsuchender | 266 6.3.3 Fazit Typ III: Ethnische Differenzierungen begründen einen institutionellen Hilfebedarf | 277 6.4 Die Zurückweisung von institutionellen Hilfen unter Bezugnahme auf ethnische Differenz (Typ IV) | 279 6.4.1 Das Geltendmachen ethnischer Differenz als Kostenfaktor für öffentliche Leistungsträger | 280 6.4.2 Ethnische Bezugnahmen im Kontext der Zurückweisung institutioneller Hilfen durch Ratsuchende | 291 6.4.3 Fazit Typ IV: Ethnische Differenzierungen führen zur Zurückweisung von institutionellen Hilfen | 296
7
Ethnische Differenzierungen – Strategie oder Störfaktor in der Beratung? Abschließende Überlegungen | 299
Literatur | 315 Anhang | 345 A.1 Übersicht über die Ratsuchenden | 345 A.2 Transkriptionskonventionen | 349
A
Danksagung
Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Ursula Neumann, die mich zu dieser Arbeit ermutigt und ihren Entstehungsprozess mit großer Offenheit und hilfreichen Kommentaren betreut hat. Wichtige Anregungen verdanke ich ebenfalls Prof. Dr. Hans-Christoph Koller, der die Arbeit nicht nur auf außerordentlich motivierende Weise begleitet hat, sondern mir auch ein für qualitatives Forschen unerlässliches differenzierendes und eigene Interpretationen immer wieder hinterfragendes Denken nahe gebracht hat. Danken möchte ich auch: Prof. Ingrid Kurz, durch die mein Interesse an der Migrationsthematik geweckt wurde; Prof. Dr. Harald Ansen, der als kritischer Diskussionspartner für mich unverzichtbar war; Corinna Richter, die mir insbesondere in der Endphase ihre Zeit und ihr Wissen so selbstverständlich und freundschaftlich zur Verfügung gestellt hat sowie Prof. Mary Schmoecker, die mir in unseren Forschungsprojekten an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg stets Freiräume gewährte, um mich auf diese Arbeit zu konzentrieren. Ganz besonders herzlich danken möchte ich jedoch meinen Eltern und meiner Schwester.
1 Einleitung
Unter der Bezeichnung »kultursensible Altenhilfe« hat sich in den letzten Jahren in der sozialen Altenhilfe und Pflege ein berufspraktischer Diskurs etabliert, der sich mit der Versorgungssituation alter eingewanderter Menschen befasst. So wurde im Jahr 2006 das »Forum für eine kultursensible Altenhilfe«1 gegründet, in dem sich unter anderem alle größeren Wohlfahrtsverbände Deutschlands zusammengeschlossen haben. Zwar heißt es in der Präambel des gleich lautenden Memorandums, das von einem dem Forum vorangehenden Arbeitskreis im Jahr 2002 erstmals veröffentlicht und im Rahmen einer zweijährigen bundesweiten Kampagne verbreitet wurde, dass das zentrale Ziel vertreten werde, »allen in Deutschland lebenden alten Menschen unabhängig von ihrer sozialen, ethnischen und kulturellen Herkunft den Zugang zu den Institutionen der Altenhilfe zu ermöglichen und dort ein kultursensibles fachliches Handeln sicherzustellen« (Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2009: 3). Die Aktivitäten, die mit dem Fachdiskurs um »kultursensible Altenhilfe« in Verbindung stehen, richten sich inhaltlich jedoch fast ausnahmslos auf die Zielgruppe der alten Migrant/-innen. So fährt die Präambel des Memorandums auch in diesem Sinne fort und konkretisiert, dass es um die Verwirklichung der »gleichberechtigte[n] Teilhabe älterer Migrantinnen und Migranten« gehe und das Memorandum dazu beitragen solle, »dass ältere Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur Zugang zu den Institutionen der Altenhilfe« (ebd.: 4; Hervorhebungen: K.H.) erhielten. Nun ist gegen diese Zielsetzung allein wenig einzuwenden. Im Gegenteil: Mit stetig steigenden Zahlen älterer Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik Deutschland wächst auch ihre gesellschaftliche Relevanz und die sozialpolitische Verantwortung dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber.2 Die mit dieser demographischen Entwicklung einhergehende zunehmende Bedeutung migrationsbezogener Themen in den
1 | Vgl. www.kultursensible-altenhilfe.de 2 | Auf die Datenlage wird in Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit ausführlich Bezug genommen.
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Institutionen des Altenhilfesystems stellt Soziale Arbeit und Pflege3 vor die Frage, inwiefern ihre bisherigen Handlungskonzepte in diesem Kontext tragen. Ein anderer Aspekt jedoch bedarf in diesem Zusammenhang der näheren Betrachtung und soll deshalb hier beleuchtet werden: Indem sich dieser Fachdiskurs unter der Programmatik der Kultursensibilität vorrangig mit alten Menschen befasst, die über einen Migrationshintergrund verfügen, entsteht der Eindruck, Kultursensibilität sei eine Anforderung, die vornehmlich im Umgang mit Migrant/-innen von Relevanz sei. Es scheint, als führe die Beschäftigung mit alten Migrant/-innen, von der der Fachdiskurs seinen Ausgangspunkt nahm, unweigerlich zu einer Auseinandersetzung mit Kultur, einer Kategorie, die selten innerhalb der Altenhilfe in Bezug auf ihr – nicht migriertes – Klientel herangezogen wird. Auch transportiert eine solche Verknüpfung von Kultur und Migration ein Kulturverständnis, das sich primär mit der Herkunft bzw. dem Herkunftsland einer Person zu verbinden scheint. So werden alte Migrant/-innen im Fachdiskurs einerseits zwar als eine Bevölkerungsgruppe präsentiert, die mit »ähnlichen Erfahrungen und kritischen Lebensereignissen im Alter konfrontiert [werde] wie die einheimischen Älteren« (Olbermann 2008: 137). Sie würden sich andererseits jedoch neben ihrer biographischen Migrationserfahrung vor allem in (herkunfts-)kultureller Hinsicht, nämlich durch ihre »jeweiligen kulturellen Orientierungen«, die auch »die Lebenslage im Alter in besonderer Weise prägen« (ebd.: 138), von ihren ›einheimischen‹ Altersgenossen unterscheiden. Türkische oder russische Alte benötigten demnach also andere Versorgungszuschnitte als deutsche Alte. Sie werden daher zum Gegenstand einer spezifischen berufspraktischen und zunehmend auch sozialwissenschaftlichen Fachdebatte. Ethnisch-kulturelle Differenzlinien – so scheint es – verlaufen quer durch die Altenbevölkerung und kennzeichneten aus Sicht der Professionellen im Altenhilfesystem den Adressatenkreis der alten Menschen. In der Interkulturellen Pädagogik – auch in der Sozialen Arbeit – wird seit der Kritik am interkulturellen Paradigma Anfang der 1990er Jahre die »Tragfähigkeit der Kategorien ›Ethnizität‹ und ›Kultur‹« (Hamburger 1999a) in (sozial-)pädagogischen Situationen indessen hinterfragt und zum Teil radikal verworfen (vgl. Radtke 1995). So wird betont, dass eine ethnische Verengung des Kulturbegriffes dazu tendiere, Individuen auf ein stereotypes Verständnis von Herkunftskulturen zu reduzieren und festzulegen. Darüber hinaus führe die Betonung ethnisch-kultureller Differenzen zu deren Zementierung und rufe diese teilweise überhaupt erst hervor. Es bestünde die Gefahr, dass Ethnizität und Kultur einseitig als Erklärungsmuster sozialer Probleme herhielten, soziostrukturelle Dimensionen, vor allem soziale Ungleichheit und Diskriminie3 | In der vorliegenden Untersuchung steht die Soziale Arbeit im Vordergrund. Da in der sozialen Altenhilfe jedoch pflegerische Fragen oftmals dominieren, werden hin und wieder auch Aspekte der pflegerischen Versorgung alter Migrant/-innen aufgegriffen.
1 E INLEITUNG
rungserfahrungen, daher vernachlässigt würden. Eine solche Kulturalisierung (sozial-)pädagogischer Praxissituationen stelle jedoch eine Simplifizierung vielschichtiger Lebens- und Problemlagen dar, die den Blick auf die individuellen Besonderheiten eines jeden Falles tendenziell verliere. Vertreter/-innen dieser Kritik wenden sich gegen eine Essentialisierung von Ethnizität und Kultur und berufen sich auf Begriffsverständnisse, die ihren dynamischen, offenen Charakter hervorheben. Ethnizität und Kultur existierten demnach nicht an sich, quasi naturgegeben, sondern würden in sozialen Praxen, durch das Handeln der Akteure und durch die von ihnen vorgenommenen Selbst- und Fremdzuschreibungen hervorgebracht und reproduziert. Es handele sich daher um interaktive, stets veränderliche, kontextgebundene Differenzierungskategorien. Vor dem Hintergrund dieser – hier einleitend nur sehr verkürzt wiedergegebenen – fachwissenschaftlichen Diskussion um den Gebrauch und die Erklärungskraft ethnisch-kultureller Deutungs- und Beschreibungsmuster stellt sich bezüglich der Rede von kultursensibler Altenhilfe eine Reihe ergänzender Fragen: Unter welchen Voraussetzungen erweist es sich als weiterführend, den Kulturbegriff ins Zentrum einer Debatte um die soziale und pflegerische Versorgung alter Menschen mit Migrationshintergrund zu stellen? Sind die im Hinblick auf die Altenhilfe entscheidenden Unterschiede zwischen eingewanderten und nicht eingewanderten Alten tatsächlich im ›Kulturellen‹ zu suchen? Inwiefern sind alte Migrant/-innen – noch – »Kulturträger« (vgl. kritisch Schröer/ Schweppe 2008) einer Kultur des Herkunftslandes, aus dem sie vor zum Teil über dreißig Jahren nach Deutschland einwanderten? Ist die Frage nach der Relevanz kultureller Orientierungen im Hinblick auf die Lebens- und Problemlagen im Alter von Migrant/-innen nicht letztlich eine, die zunächst empirisch zu ermitteln wäre, da ihre Beantwortung ansonsten auf ungeprüften, pauschalisierenden Vorannahmen basieren würde? Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie setzt an diesen Fragen an. Meine anfängliche Vermutung und Motivation für die vertiefte Beschäftigung mit diesem Thema war, dass sich diese kritischen Fragen an den Diskurs vor allem deshalb stellten, weil die Fachdebatte im Wesentlichen berufspraktisch argumentiert, bislang jedoch kaum theoretische Fundierung erfuhr.4 Dadurch verfügen unter anderem Begriffe wie Kultur und Ethnizität noch nicht über die hinreichende Kontur, um sie in Versorgungskonzepte und Handlungsempfehlungen unmittelbar einfließen zu lassen. Ihnen fehlt es an Trennschärfe, und zwar vor allem aus einer fachtheoretischen, d.h. für den vorliegenden Kontext sozialarbeitsbezogenen, Perspektive. Zwar haben Forschungen an der Schnittstelle von sozialer Gerontologie und Migration in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, hier überwiegen jedoch Studien zur Erfassung der Lebens- und 4 | Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Olbermann (2008: 146), eine Akteurin des »Forums für eine kultursensible Altenhilfe«.
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Versorgungssituation alter Migrant/-innen. Eine systematische Analyse der Publikationen über alte Migrant/-innen in der Sozialen Arbeit seit den 1980er Jahren unter dem Blickwinkel ihrer expliziten und impliziten Thematisierung ›ethnisch-kultureller Differenz‹ bestätigte, dass es sich als lohnenswert erweisen würde, meine Anfangsvermutung hinsichtlich eines Mangels an handlungsbezogenem theoretischen Wissen in ein Forschungsvorhaben zu transferieren.5 Genauere Erkenntnisse zu der noch offenen Frage, wie sich Praxissituationen in der Sozialen Arbeit mit alten Migrant/-innen gestalten und welchen Stellenwert ethnische Differenzierungen darin einnehmen, erscheinen mir instruktiv und sogar notwendig zu sein, um die Frage danach zu beantworten, wie und ob überhaupt professionell auf Ethnizität bzw. einen ethnisch reduzierten Kulturbegriff Bezug genommen werden sollte. Die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich dieser Thematik widmen, kommen zudem zu recht unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen. Ansätze, die die Herkunftskultur der Migrant/-innen hervorheben, stehen neben Ansätzen, die einer solchen Hervorhebung distanziert gegenüber stehen. Der Großteil der Publikationen ist tendenziell der ersten Position zuzuordnen. Alte Migrant/-innen unterschieden sich von Alten ohne Migrationshintergrund demnach vor allem in ihren anderen Einstellungen zum Altwerden und zur Versorgung im Alter, anderen Krankheitsverständnissen, religiösen Einstellungen, Werten und Normen. Ethnizität wird dabei als eine für alte Migrant/-innen bedeutsame Kategorie eingeschätzt, deren Stellenwert im Alter zunehme. Einerseits stelle die ethnische Zugehörigkeit eine Ressource zur Alltagsbewältigung dar, denn das Eingebundensein in ethnische Netzwerke fördere Selbsthilfemöglichkeiten und gewährleiste soziale Anerkennung im Alter, andererseits sei Ethnizität Teil einer ›doppelten Benachteiligung‹, die in Wechselwirkung mit der sozialen Kategorie Alter zu spezifischen Problemlagen und sozialen Benachteiligungen führe. Gefordert wird zwar, dass sich das Altenhilfesystem insgesamt auf diese Bevölkerungsgruppe und ihre spezifischen Bedarfslagen im Zuge einer ›interkulturellen Öffnung‹ einstellen müsse, jedoch wird auch davon ausgegangen, dass eine ›ethnienspezifische‹ Angebotsstruktur ebenso notwendig sei, wie die Aneignung herkunftskulturellen Wissens auf Seiten der Fachkräfte. Kritische Ansätze führen dagegen ins Feld, dass alte Migrant/-innen in dieser Sichtweise tendenziell undifferenziert und klischeehaft dargestellt würden. Dies könne zu einer unrealistischen Einschätzung ihrer Lebenssituation führen. Vor einem unreflektierten Gebrauch homogenisierender ethnisch-kultureller Zuschreibungen wird daher gewarnt. Dieser täusche über Gemeinsamkeiten zur alten Bevölkerung ohne Migrationshintergrund hinweg.
5 | Die Ergebnisse aus der Analyse der Publikationen sind vor allem in die Kapitel 2 und 3.1 eingeflossen.
1 E INLEITUNG
Unterbelichtet geblieben ist bislang jedoch noch weitgehend, dass Ethnizität nicht allein vom Subjekt her und in Bezug auf es – wenn auch als ein im Laufe eines Lebens in seiner Bedeutung veränderliches Zugehörigkeitsmerkmal – zu denken ist. Es handelt sich hier gleichfalls um eine relationale Kategorie, die als Gegenstand und Resultat interaktiver Zuschreibungspraxen auch das Verhältnis und die Umgangsweisen zwischen Sozialarbeiter/-innen und alten Migrant/-innen gestaltet und insofern institutionelle Hilfeprozesse mit beeinflusst. Es fehlen Forschungsansätze, die nicht alte Migrant/-innen allein zum Forschungsgegenstand machen, sondern das Geschehen in den Institutionen, in denen Professionelle und alte Migrant/-innen interagieren, die sich also aus einer handlungsbezogenen Perspektive heraus mit Ethnizitätskonstruktionen und ihren Wirkungsweisen in der sozialen Altenhilfe befassen. Hierauf zielt das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie. Um dieses Vorhaben zu bearbeiten, wurde die Forschungsfrage auf eine zentrale Handlungsmethode im Arbeitsfeld der Altenhilfe, der Sozialen Beratung, zugespitzt und auf Konstellationen beschränkt, in denen Sozialarbeiter/-innen ohne Migrationshintergrund und alte Migrant/-innen in so genannten Regeldiensten der Altenhilfe, d.h. nicht im Rahmen von speziellen Angeboten der Migrationssozialarbeit, aufeinander treffen.6 Ziel der Untersuchung ist es, Antworten auf die Frage zu gewinnen, wie sich Beratungssituationen in solchen Konstellationen gestalten und in welcher Weise ethnische Differenzierungen dabei Geltung erlangen. Insbesondere der empirische Teil dieser Studie wird dabei von den folgenden Fragen geleitet: • In welchen situativen und inhaltlich-thematischen Kontexten werden ethnische Differenzierungen – sofern auf sie Bezug genommen wird – relevant? • Von welchen an der Beratung beteiligten Personen werden sie geltend gemacht? • Wie werden sie ins Beratungsgeschehen eingebracht? • In welcher Weise nehmen sie Einfluss auf das Beratungsgeschehen? Neu an dieser Forschungsperspektive auf das Feld der Altenhilfe ist ihre Ausrichtung auf die Rekonstruktion der Handlungspraktiken von Berater/-innen und Ratsuchenden unter besonderer Berücksichtigung von Prozessen der Herstellung ethnischer Differenz. Dabei sollen Sozialarbeiter/-innen und die Adressat/-innen ihres Handelns nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern gleichermaßen in den Blick gerückt werden. Dieser empirische Zugang erfordert ein methodisches Vorgehen, das nicht die Rede über sozialarbeiterische Praxis, wie sie z.B. durch Interviews hätte generiert werden können, ins Zentrum stellt, 6 | Zur Begründung und Erläuterung dieser Eingrenzung des Untersuchungsfeldes vgl. Kapitel 5.2.1.
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sondern die Interaktionen selbst. Das der Studie zugrunde liegende Datenmaterial besteht aus 20 ›authentischen‹ Beratungsgesprächen aus Institutionen der Altenhilfe, die durch Tonbandaufnahmen mitgeschnitten wurden. Da nicht danach gefragt werden soll, worin ›ethnische Spezifika‹ alter Migrant/-innen liegen, wie es gelegentlich in Publikationen der Fall ist, wurde von einer Eingrenzung auf alte Migrant/-innen bestimmter Herkunftsländer abgesehen. Die Auswertung der Beratungsgespräche orientiert sich an dem von Bohnsack (2007a) im Rahmen der dokumentarischen Methode vorgeschlagenen rekonstruktiven Verfahren. Auf der Basis der dadurch gewonnenen Interpretationen wird in der vorliegenden Studie eine Typologie von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen in der Beratung entwickelt.
Überblick über die Studie Die Bearbeitung der Forschungsfragen erfolgt in einem theoretischen und in einem empirischen Zugang. In einer ersten – theoretischen – Betrachtung wird das Forschungsfeld an der Schnittstelle von Alter, Migration und Sozialer Arbeit abgesteckt und für die im zweiten Teil sich anschließende empirisch-rekonstruktive Erforschung von Beratungsgesprächen in der Altenhilfe zugänglich gemacht. Im Zentrum steht zunächst die Bevölkerungsgruppe alter Migrant/-innen. Dabei stellt sich die Frage, welcher Personenkreis hiermit gemeint ist. Der Terminus beinhaltet zwei nicht ohne weiteres für sich sprechende Bezeichnungen. Sowohl die Frage, wer als Migrant/-in anzusprechen ist, als auch die Frage danach, ab wann eine Person als alt gilt, können und werden unterschiedlich beantwortet. Alltagsverständnisse konkurrieren hier nicht selten mit einer Reihe von wissenschaftlichen Definitionen. Deshalb ist eine nähere Bestimmung für den Kontext dieser Arbeit unumgänglich. Mit der Bezeichnung Migrant/-in soll zum Ausdruck gebracht werden, dass hier explizit Menschen im Fokus stehen, die biographisch über eine persönliche Migrationserfahrung aus einem anderen Herkunftsland nach Deutschland verfügen. Migration wird dabei in Anlehnung an Treibel (2003: 21) verstanden als »der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen«. Dieser recht weit gefasste Migrationsbegriff wird in dieser Studie auf so genannte transnationale Migrationen eingegrenzt, d.h. Wanderungen, die über Staatsgrenzen hinweg nach Deutschland erfolgen. Er schließt sehr heterogene Migrationsbedingungen ein, wie unter anderem »erwerbs-, familienbedingte, politische oder biographisch bedingte Wanderungsmotive« (ebd.), Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsstatus und Staatsangehörigkeit. Wenngleich im Fokus dieser Arbeit Migrant/-innen im hohen Lebensalter stehen, wird keine Eingrenzung auf bestimmte Altersgruppen vorgenommen. Alter ist eine facettenreiche, je nach eingenommener Perspektive und Situation höchst unterschiedlich bestimmte relationale Kategorie. Während das kalen-
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darische Alter auf die Lebensjahre eines Menschen bezogen wird, fokussiert ein biologischer Altersbegriff auf die organische Konstitution, ein psychischintellektueller Altersbegriff auf seelisch-geistige Funktionen und das soziale Alter auf gesellschaftliche Rollenzuweisungen und Verhaltenserwartungen (vgl. Clemens 2001: 489).7 Im Alltagsverständnis gilt ein Mensch meist mit dem – altersbedingten – Austritt aus der Erwerbstätigkeit als alt. Dieses an sozialrechtlichen Kriterien orientierte Alter korrespondiert jedoch selten mit den subjektiven Einschätzungen oder mit der körperlichen und geistigen Verfassung eines Menschen. Altern ist ein komplexer biographischer Prozess, der von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren, darunter physiologische, psychische, materielle, kulturelle und soziale Lebensbedingungen eines Menschen, beeinflusst wird und dementsprechend individuell verläuft. Nach Thieme (2008: 36) orientiert sich die Alternsforschung in ihrer Bestimmung alter Menschen an jenen, »die sich im Verhältnis zur beobachteten statistisch errechneten durchschnittlichen Lebenserwartung in einem fortgeschrittenen Alter und deutlich jenseits der statistischen Lebensmitte befinden«. Statistiken zur Altenbevölkerung setzen in der Regel bei der Altersgruppe der 60- oder 65-Jährigen an, mitunter auch bereits bei den 55- oder 50-Jährigen. In Studien zur Lebenssituation alter Migrant/-innen wird sehr häufig betont, dass diese aufgrund ihrer sozialen Lebensbedingungen bereits in früheren Lebensjahren als Menschen ohne Migrationshintergrund altern. Mit dieser Aussage soll darauf hingewiesen werden, dass hier für das Altern typische Begleiterscheinungen, wie der Renteneintritt und gesundheitliche Einschränkungen, vor allem chronische Erkrankungen, bereits sehr viel früher und gehäuft festzustellen seien. Nach einer näheren demographischen Analyse alter Migrant/-innen und einer Nachzeichnung des eingangs thematisierten Fachdiskurses um Alter und Migration seit seiner Entstehung Ende der 1980er Jahre, werden im zweiten Kapitel die soziostrukturellen und die migrationsgeschichtlichen Wissensbestände über alte Migrant/-innen vertieft. Unter Bezugnahme auf das von Tews (1993) formulierte Konzept vom Altersstrukturwandel werden alte Migrant/-innen anhand der fünf Strukturmerkmale der »Verjüngung« des Alters, der »Entberuflichung«, der »Feminisierung«, der »Singularisierung« und der »Hochaltrigkeit« sowie ihrer Ergänzung um ein, m.E. bedeutsames sechstes Strukturmerkmal, der transnationalen Mobilität, näher bezeichnet.8 Dabei sind zum einen im Vergleich zur älteren Bevölkerung ohne Migrationshintergrund strukturell ähnliche Veränderungsprozesse erkennbar. Zum anderen wird eine soziostrukturelle Schlechterstellung älterer Migrant/-innen sichtbar, insbesondere in materieller und in gesundheitlicher Hinsicht, die auf ein Altern unter erschwerten, sozial prekären Lebensbedingungen schließen lässt. Die Wissensbestände über sozia7 | Vgl. auch Gerling/Naegele (2005: 30). 8 | Die hier nur benannten Strukturmerkmale werden in Kapitel 2.3 genauer erläutert.
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le Lebenslagen alter Migrant/-innen werden ergänzt durch eine vor dem Hintergrund der Forschungsfrage besonders interessierende Analyse ausgewählter relevanter Forschungsarbeiten zum Stellenwert von Ethnizität im Alter bei Migrant/-innen. Sie gehen davon aus – wenngleich in zum Teil recht unterschiedlicher Weise –, dass ethnisch-kulturelle Zugehörigkeiten von Migrant/-innen ebenfalls Einfluss auf Alternsprozesse nehmen würden. Es stellt sich die Frage, wie Soziale Arbeit auf das Altern von Migrant/-innen bislang theoretisch-konzeptionell und handlungsmethodisch reagiert hat. Im dritten Kapitel werden die Beiträge der Sozialen Arbeit zur Versorgung alter Migrant/-innen vor allem unter der Perspektive des Stellenwertes von Ethnizität und Kultur beleuchtet. Dabei stehen zunächst versorgungsstrukturelle Überlegungen im Vordergrund. Hier verläuft der Diskurs entlang der beiden programmatischen Linien »interkulturelle Öffnung der Regeldienste« versus Etablierung »ethnienspezifischer Angebote« für Migrant/-innen im Alter. Handlungsmethodisch steht die Soziale Beratung im Zentrum der vorliegenden Studie. Sie wird begrifflich näher charakterisiert und anschließend mit Blick auf die beiden Handlungsfelder der Altenhilfe und der Migrantenberatung konkretisiert. Erkenntnisleitende Fragestellung dabei ist, inwiefern die in den jeweiligen Arbeitsgebieten vorherrschenden Paradigmen und Leitbilder auf Ethnizität und Kultur Bezug nehmen und welche Umgangsweisen sie mit migrationsbedingter Pluralität anbieten. Auf der Basis der so skizzierten Forschungslage zu Alter, Migration und Sozialer Beratung können Forschungsanforderungen für dieses Handlungsfeld formuliert und daraus die erkenntnisleitende Fragestellung dieser Studie begründet und präzisiert werden (Kapitel 3.3). Die empirische Erforschung des Stellenwertes und der Wirkungsweisen von Ethnizitätskonstruktionen in der Beratung kann indes nur vor dem Hintergrund einer theoretischen Klärung des Ethnizitätsbegriffes erfolgen. Eine vermeintlich voraussetzungslose Annäherung an das empirische Feld würde Gefahr laufen, implizite Annahmen in den Forschungsgegenstand hineinzulegen. Ziel des vierten Kapitels ist es deshalb, das dieser Studie zugrunde liegende Begriffsverständnis von Ethnizität, insbesondere von ihrer Genese und ihrer Funktion, zu explizieren und theoretisch zu begründen. Hierzu werden mit der – nach wie vor verbreiteten – essentialistischen Position und dem diese Position kritisierenden sozialkonstruktivistisch orientierten Ethnisierungsansatz zwei Hauptstränge innerhalb der Ethnizitätsforschung diskutiert. Dabei werden auch die Begriffe Ethnizität und Kultur definitorisch voneinander abgegrenzt. Ethnizität wird schließlich beschrieben als eine gesellschaftlich relevante, interaktiv geltend gemachte Differenzierungskategorie, die auf Prozessen der Selbstund der Fremdzuschreibung von Akteuren basiert. Nach einer methodologischen Verortung des Erkenntnisinteresses in der Ethnomethodologie und der Rekonstruktion des Forschungsvorgehens im fünften Kapitel, bei der auf die Eingrenzung der Forschungsfrage und des -gegen-
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standes sowie auf die Schritte der Datenerhebung und der Datenauswertung unter Verwendung der dokumentarischen Methode nach Bohnsack eingegangen wird, erfolgt im sechsten Kapitel die Präsentation der aus den Beratungsgesprächen generierten Typologie. Die entwickelte Typologie ethnischer Differenzierungen und ihrer Wirkungsweisen in der Beratung alter Migrant/-innen stellt den Kern der vorliegenden Studie dar. Anhand von vier unterscheidbaren Typen wird gezeigt, inwiefern es sich bei Ethnisierungen um Vorgänge von grundlegender Relevanz in Praxissituationen handelt, die sowohl auf der Ebene der Beziehung der Beratungsbeteiligten zueinander als auch auf der Inhaltsebene auf komplexe Weise Einfluss nehmen. Die vier Typen, die an dieser Stelle zunächst nur knapp umrissen werden, werden im sechsten Kapitel ausführlich beschrieben und anhand von zitierten Textpassagen aus den Beratungen illustriert. Es wird sich zum einen zeigen, dass ethnische Differenzierungen auf der Ebene der Beziehung zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden hinderlich wirken, da sie den Aufbau einer tragfähigen Beratungsbeziehung belasten (Typ I). Zum anderen lösen ethnische Differenzierungen, soweit eine Beratungsbeziehung zustande kommt, deren Erosion aus (Typ II). Das heißt, dass das einer Beratung zugrunde liegende komplementäre Rollenverhältnis von Berater und Ratsuchendem brüchig wird, da einer der Beteiligten an der Ausübung seiner Gesprächsrolle gehindert ist. In diesen Fällen kann nur schwerlich überhaupt von Beratungen die Rede sein. Dies ist vor allem in Situationen der Fall, in denen sprachliche Verständigungsschwierigkeiten der Beteiligten zum Tragen kommen. Auf der inhaltlichen Ebene von Beratung zeigt sich, dass ethnische Differenzierungen sowohl bei der Begründung eines Hilfebedarfs und bei der Gewährung von institutionellen Hilfeleistungen eine Rolle spielen (Typ III) als auch im Kontext der Zurückweisung institutioneller Hilfen (Typ IV). Die Untersuchung schließt mit zusammenfassenden Bemerkungen zu den zentralen Erkenntnissen im siebten Kapitel und einem Ausblick, der weitere Forschungsziele für das hier betrachtete Feld Sozialer Arbeit empfiehlt.9
9 | In der vorliegenden Arbeit markieren Anführungszeichen wörtliche Zitate bzw. aus Fachdiskursen zitierte Termini. Halbe Anführungszeichen signalisieren Distanz der Verfasserin zu den in halben Anführungszeichen gesetzten Begriffen oder Aussagen bzw. zu der Semantik, die von zitierten Autor/-innen mit diesen Begriffen oder Aussagen verbunden wird.
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Teil I Theoretische Betrachtungen im Kontext von Alter, Migration und Sozialer Arbeit
2 Wissensbestände über alte Migrantinnen und Migranten
Eine Forschungsarbeit über alte Migrant/-innen zu verfassen, ohne diese Bevölkerungsgruppe präziser zu bestimmen, hieße, ihre beträchtliche Heterogenität außer Acht zu lassen. Bei dem Vorhaben der näheren Beschreibung dieser Heterogenität – der demographischen und soziostrukturellen Merkmale, der Migrationsgeschichten, der Versorgungslage von Migrant/-innen im Alter – ergibt sich allerdings die Schwierigkeit eines äußerst lückenhaften und empirisch nicht durchgängig verlässlichen Wissensbestandes. Dass die Datenlage nicht nur ungenügend, sondern auch kaum repräsentativ ist, wird seit einigen Jahren bemängelt und kritisch reflektiert (vgl. BMFSFJ 2006; E. Hoffmann 2006 und 2003; Zeman 2005; Dietzel-Papakyriakou 2005; Özcan/Seifert 2004; Adolph 2001). Dem ungeachtet schließen sich die Datenlücken nur zögerlich, ihre systematische Bearbeitung steht noch immer aus. Dies erstaunt angesichts des Umfangs an Studien, Berichten und Expertisen zur Lebens- und Bedarfslage alter Migrant/-innen, die seit Anfang der 1990er Jahre angefertigt wurden, und bedarf einer kurzen Erläuterung. Bereits die zur Verfügung stehenden statistischen Rahmendaten sind in Bezug auf alte Migrant/-innen nur begrenzt aussagefähig. In den amtlichen Statistiken, wie der Bevölkerungsfortschreibung, dem Ausländerzentralregister und der Zu- und Fortzugsstatistik, mangelt es vor allem an einer hinreichenden Differenziertheit der Daten und zwar in dreierlei Hinsicht: • Die Ausrichtung an dem Konzept der ›Staatsangehörigkeit‹ führt dazu, dass nur zu einem Teil der alten Migrant/-innen, den ausländischen Staatsangehörigen, überhaupt Befunde vorliegen. Angaben zu Eingebürgerten und (Spät-) Aussiedlern sind nur begrenzt vorhanden. Sie werden daher in den Publikationen oft auch nicht mitberücksichtigt. Der Mikrozensus 2005 hat erstmals dieses Konzept geändert und Daten zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund erfasst. Er liefert damit die bislang einzige, sehr viel umfassendere und vor allem detaillierte Informationsbasis, die nach wie vor neueren Berechnun-
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gen zur demographischen und soziostrukturellen Situation alter Migrant/-innen zugrunde liegt (vgl. Menning/E. Hoffmann 2009). Vergleiche mit den bisherigen Statistiken sind jedoch nur sehr bedingt möglich. Analysen über Entwicklungen und Veränderungen innerhalb der alten Bevölkerung mit Migrationshintergrund sind mit diesem neuen statistischen Erhebungsinstrument deshalb erst zukünftig möglich. • In dem verfügbaren Datenmaterial fehlt der durchgängige Altersgruppenbezug, so dass oftmals keine gesonderten Angaben über die ältere Bevölkerung vorliegen. Dort, wo eine Altersgruppendifferenzierung angeboten wird, ist der Kohortenumfang zudem nicht immer einheitlich festgesetzt. Dadurch wird die Vergleichbarkeit verschiedener Datenquellen erheblich erschwert. • Da es sich mit 1,46 % bei der alten Bevölkerung mit Migrationshintergrund um einen derzeit sehr kleinen Bevölkerungsanteil handelt, sind die Fallzahlgrenzen für verallgemeinerungsfähige Aussagen schnell erreicht. Dies betrifft insbesondere alte Migrant/-innen in Ostdeutschland, hochaltrige Migrant/-innen sowie quantitativ kleinere Staatsangehörigkeitsgruppen. Um eine hinreichende Datengrundlage zu erhalten, werden Altersgrenzen teilweise nach unten verschoben oder Alterskohorten grob zusammengefasst. Auch dies erschwert die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Datenquellen. Die in Bezug auf die amtliche Statistik geschilderte unbefriedigende Datenlage wird durch die Ergebnisse der seit den 1990er Jahren erschienenen qualitativen und regional ausgerichteten quantitativen empirischen Studien nur bedingt korrigiert. Die zum Teil sehr geringen Fallzahlen, die nicht immer transparente methodische Vorgehensweise, die Heterogenität der Forschungsanliegen sowie die Fokussierung auf einige ausgewählte Staatsangehörigkeitsgruppen, und zwar vor allem auf diejenigen, die im Zuge der Arbeitskräfteanwerbung Mitte der 1950er Jahre bis zum Anwerbestopp 1973 nach Deutschland einwanderten, sprechen gegen die Vergleichbarkeit und Verallgemeinerbarkeit der Befunde. Am häufigsten ist bisher die Gruppe der türkischen Staatsangehörigen untersucht worden. Laut fünftem Altenbericht der Bundesregierung bezögen sich über 90 % der wissenschaftlichen Publikationen in diesem Gebiet auf diese Gruppe, während über andere Migrantengruppen kaum Informationen vorlägen (vgl. BMFSFJ 2006: 232). Zeman (2005: 6ff.) bewertet in seiner umfassenden Expertise für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2005 die Datengrundlage für eine Analyse der Lebenslage und der Versorgungssituation alter Migrant/-innen unter anderem aus diesen Gründen als schlecht (vgl. auch Özcan/Seifert 2004). Diese Einschränkungen berücksichtigend werden im Folgenden nach einer kurzen demographischen Bestandsaufnahme (Kapitel 2.1) und einer zusammenfassenden Übersicht über die Entstehung des Forschungs- und Praxisgebietes zu ›Alter und Migration‹ (Kapitel 2.2) die soziostrukturellen und
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migrationsgeschichtlichen Wissensbestände über alte Migrant/-innen in ihren beobachtbaren Tendenzen interpretiert (Kapitel 2.3). Dabei wird auch der besondere Stellenwert von Ethnizität in ausgewählten Forschungen über alte Migrant/-innen herausgearbeitet, da er im Rahmen der hier bearbeiteten Forschungsfrage von besonderem Interesse ist (Kapitel 2.4).
2.1 D EMOGR APHISCHE M ERKMALE ALTER M IGR ANT/- INNEN Den Ergebnissen des Mikrozensus 2005 zufolge lebten in Deutschland im Jahr 2005 15,3 Millionen Personen mit Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Nach Definition des Statistischen Bundesamtes umfasst die Bevölkerung mit Migrationshintergrund »alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.« (Ebd.: 6)
Von diesem Personenkreis sind rund 1,2 Millionen 65 Jahre und älter.1 Das entspricht einem Anteil von 7,8 %. Damit liegt der Anteil der alten Menschen mit Migrationshintergrund gegenwärtig noch deutlich unterhalb des Anteils derselben Altersgruppe innerhalb der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, der im Jahr 2005 21,8 % betrug. Prognosen zufolge wird die Zahl der alten Migrant/-innen zukünftig kontinuierlich ansteigen. Erste Hinweise auf diesen Trend deuten sich schon bei Betrachtung der nachrückenden Alterskohorte der 45- bis unter 65-Jährigen an. Ihr Anteil an der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beträgt 21,1 % und unterscheidet sich nur noch geringfügig von dem derselben Alterskohorte innerhalb der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, der bei 27,2 % liegt. Vorausberechnungen in Bezug auf die ausländischen Staatsbürger/-innen konstatieren, dass es sich bereits heute um die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe handelt, deren Zahl der über 60-Jährigen sich von 624.054 im Jahr 2000 auf 1,3 Millionen im Jahr 2010 mehr als verdoppeln und im Jahr 2030 bei ungefähr 2,8 Millionen liegen wird (vgl. BMFSFJ 2000a: 117f.).2 1 | Bei den im Folgenden aufgeführten Zahlen zur älteren Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die – sofern nicht anders angegeben – auf Daten des Mikrozensus basieren, handelt es sich um eigene Berechnungen. 2 | Prognosen in Bezug auf diese Bevölkerungsgruppe sind allerdings aufgrund sehr schlecht vorhersehbarer Fluktuationen durch Zu- und Fortzüge besonders unsicher (vgl. Zeman 2005: 6).
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Ein differenzierter Blick auf die Zusammensetzung der alten Bevölkerung mit Migrationshintergrund zeigt, dass Personen ohne deutschen Pass mit 36,4 % nur knapp über ein Drittel ausmachen. Bei 42 % handelt es sich um als (Spät-)Aussiedler Eingewanderte, also um so genannte Statusdeutsche nach Artikel 116 GG. Sie bilden damit anteilig die größte Gruppe. 21,6 % der 65-Jährigen und Älteren haben sich im Laufe ihres Aufenthaltes in Deutschland einbürgern lassen (vgl. Statistisches Bundesamt 2007). Von der Bevölkerungsgruppe der (Spät-)Aussiedler sind über 500.000 Personen (12,5 %) im Rentenalter. Nur knapp 6,5 % aller Eingebürgerten sowie 6 % der ausländischen Staatsbürger/-innen haben dieses Alter bereits erreicht. Verglichen mit den 21,8 % Älterer ohne Migrationshintergrund handelt es sich um quantitativ kleine Bevölkerungsgruppen. Altersstrukturell betrachtet ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund verhältnismäßig jung. Sofern es sich nicht um (Spät-)Aussiedler handelt, lassen sich mit dem Mikrozensus 2005 die derzeitigen bzw. die früheren Staatsangehörigkeiten der alten Migrant/-innen bestimmen. Alte Menschen aus der Russischen Föderation sind mit rund 117.800 die größte Gruppe, gefolgt von Älteren mit türkischem Migrationshintergrund (103.400), polnischem Migrationshintergrund (72.700) sowie von Älteren aus Rumänien (67.600), Italien (52.100), Griechenland (34.600), Kroatien (20.700) und Serbien und Montenegro (19.400). Insgesamt überwiegt der Anteil der Europäer/-innen (63,2 %). Von den europäischen Migrant/-innen stammt fast die Hälfte (46,7 %) aus der Europäischen Union.3 Sie sind – sofern sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen – europarechtlich privilegiert. Die Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004), die das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern regelt, ist insbesondere für die Migrant/-innen bedeutsam, die im Alter zwischen EU-Ländern pendeln wollen. Ähnliches gilt für türkische Staatsangehörige, die über das Assoziationsrecht EWG/Türkei aufenthaltsrechtliche Vorteile besitzen. Die insgesamt 25 alten Migrant/-innen, die an der vorliegenden empirischen Untersuchung in den Beratungsinstitutionen der Altenhilfe beteiligt sind, stammen aus den Ländern Türkei (acht Ratsuchende), Russland (fünf Ratsuchende), Ukraine (drei Ratsuchende), Afghanistan (vier Ratsuchende), ehemaliges Jugoslawien (drei Ratsuchende) sowie jeweils ein Ratsuchender bzw. eine Ratsuchende aus Algerien und dem Iran.4 Der Mikrozensus 2005 führt nur die Länder gesondert auf, von denen derzeitige bzw. ehemalige Staatsangehörige besonders häufig vertreten sind. Deshalb können nicht zu allen Migrationshintergründen, die im empirischen Teil dieser Arbeit vorkommen, genaue statistische Angaben gemacht werden. Migrant/-innen mit einem afghanischen 3 | Zum Zeitpunkt der Erhebung des Mikrozensus handelte es sich hierbei um die EU25, d.h. ohne Rumänien und Bulgarien. 4 | Nähere Angaben zu den Ratsuchenden und zu ihrer Auswahl erfolgen in Kapitel 5.
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und einem iranischen Migrationshintergrund werden innerhalb der Ländergruppe »Naher und mittlerer Osten« zusammengefasst. Es handelt sich in Deutschland um insgesamt 23.300 Personen im Alter von 65 und mehr Jahren. Auch über Migrant/-innen mit algerischem Hintergrund lassen sich keine genauen Zahlen anführen. Alte Migrant/-innen weisen größtenteils sehr lange Aufenthaltszeiten auf. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer innerhalb der Altersgruppe ab 65 beträgt 31,4 Jahre. Mit 38 % lebt über ein Drittel (421.200 Menschen) bereits seit mindestens 40 Jahren in Deutschland. Bei diesen Personen handelt es sich mehrheitlich um Migrant/-innen aus den ehemaligen Anwerbeländern, die im Zuge der Arbeitskräfteanwerbung zwischen 1955 und 1973 sowie des damit verbundenen Familiennachzugs ab Mitte der 1970er Jahre einwanderten. Zuwanderungen danach erfolgten im Rahmen der EU-Freizügigkeit, von der insbesondere Italiener und Griechen Gebrauch machten. Der Zuzug von Familienangehörigen von bereits in Deutschland lebenden Migrant/-innen spielte vor allem bei Personen aus der Türkei eine Rolle. In den 1990er Jahren überwog die Einwanderung von Asylsuchenden und Flüchtlingen aus Bürgerkriegsregionen wie dem ehemaligen Jugoslawien sowie von (Spät-)Aussiedlern und jüdischen Kontingentflüchtlingen aus Osteuropa. Ihre Aufenthaltszeiten sind im Durchschnitt kürzer als die der Migrant/-innen aus den ehemaligen Anwerbeländern. Insgesamt sind lediglich 5,4 % der Älteren mit Migrationshintergrund vor weniger als sechs Jahren gekommen. Das Durchschnittsalter bei der Einreise betrug 41,6 Jahre, wobei hervorzuheben ist, dass 12 % der Älteren mit Migrationshintergrund (132.700 Personen) zu diesem Zeitpunkt bereits 65 Jahre oder älter waren. Hierbei handelt es sich in erster Linie um (Spät-)Aussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge, teilweise auch um Ältere, die von ihren in Deutschland lebenden Kindern aufgrund eines Hilfe- oder Pflegebedarfs versorgt werden (vgl. BMFSFJ 2000a). Trotz sehr langer Aufenthaltszeiten und der Erfüllung der einbürgerungsrechtlichen Voraussetzungen lassen sich viele ältere ausländische Staatsangehörige nicht einbürgern. Aus den Statistiken geht hervor, dass sich vor allem Jüngere für eine Einbürgerung entscheiden (vgl. BMFSFJ 2006: 231). Nach Erhebungen des Sozio-oekonomischen Panels lag die Bereitschaft der älteren Ausländer/-innen, einen Einbürgerungsantrag zu stellen, bei unter 1 % (vgl. Özcan/Seifert 2004: 32). 65,1 % der ab 65-Jährigen hingegen wollten ganz sicher nicht die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen. Die Gründe hierfür werden vor allem in dem erforderlichen Nachweis deutscher Sprachkenntnisse gesehen sowie in der Notwendigkeit, die Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes aufzugeben (ebd.). Beide Bedingungen können für ältere Migrant/-innen hohe Hürden darstellen.
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2.2 C HRONOLOGIE DES F ORSCHUNGS - UND P R A XISGEBIE TES 5 Die ersten Publikationen über alte Migrant/-innen erschienen Ende der 1980er Jahre (vgl. Niedersächsisches Sozialministerium 1990; Dill 1989; Dietzel-Papakyriakou 1988; Hummel 1988; Baklan 1988). Sie waren motiviert von der Zunahme altersspezifischer Beratungsthemen in den Migrantensozialdiensten und bezogen sich ausschließlich auf die Arbeitsmigrant/-innen, die zirka dreißig Jahre nach ihrer Anwerbung langsam ins Rentenalter kamen. In der Folge wurden zahlreiche Bestandsanalysen in Auftrag gegeben, die sich zunächst vor allem mit der Lebenssituation und dem Versorgungsbedarf älterer Arbeitsmigrant/-innen beschäftigten. Von ihnen sind in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Forschungsgebietes insbesondere die erste größere Studie vom Zentrum für Türkeistudien (1993), die Expertise zum ersten Altenbericht der Bundesregierung (Dietzel-Papakyriakou 1993a), die Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (Schuleri-Hartje 1994) sowie die Publikation von Zoll (1997) hervorzuheben. Ab Mitte der 1990er Jahre lagen die Ergebnisse umfassender empirischer Studien mit regionalem Bezug vor (vgl. BAGS 1998; Landeshauptstadt München 1997; Holz u.a. 1996; BMAS 1995). Sie stellten für einzelne Regionen und Städte der Bundesrepublik detaillierte und zum Teil repräsentative Einschätzungen der Lebenslage alter Migrant/-innen ausgewählter Staatsangehörigkeiten zur Verfügung, lieferten erste Erkenntnisse über deren Beziehungen zum institutionellen Hilfesystem sowie über den professionellen Erfahrungsstand innerhalb der Migrations- und Altenarbeit im Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe. Obwohl diese Studien aufgrund ihrer sehr heterogenen methodischen Herangehensweisen nur bedingt miteinander vergleichbar sind, ziehen sie im Kern einige übereinstimmende zentrale Schlussfolgerungen. Alte Migrant/-innen haben danach durch ihre Migrationsgeschichte und ihre Situation in der Migration sowohl zusätzliche als auch spezifische 5 | Auf die Gefahren chronologischer Darstellungen hat Krüger-Potratz im Zusammenhang mit dem Forschungsgebiet der interkulturellen Bildung hingewiesen (2005: 43ff.). Die Chronologie – so Krüger-Potratz – verleite zu einer Einteilung des Forschungsfeldes in Phasen mit je vorherrschenden Denk- und Handlungsmustern. Eine solche Perspektive suggeriere einen linear fortschreitenden Entwicklungsprozess in Richtung Verbesserung und verdecke das Nebeneinander verschiedener alter und neuer Ansätze. Ihre Einwände lassen sich auf den Forschungsbereich, um den es hier geht, übertragen. Trotz aller Differenziertheit der Forschungslage zu alten Migrant/-innen ist sie für die Identifizierung von Phasen noch nicht ausreichend entwickelt, vor allem auf theoretischer Ebene. Eine Phaseneinteilung ist insofern hier nicht beabsichtigt. Es ist zudem nicht auszuschließen, dass viele der frühen Sichtweisen nach wie vor anzutreffen sind und nicht etwa aufgegeben wurden. Die folgende Nachzeichnung hat allein die Absicht einer Bestandsaufnahme zur Absteckung des Feldes.
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Probleme, aus denen sich eine besondere Bedarfslage ableitet. Die Besonderheit wird zum einen mit dem unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergrund in Verbindung gebracht, der bei dieser Bevölkerungsgruppe stets mit zu berücksichtigen sei. Sie begründet sich zum anderen aus den spezifischen Lebenslagen, die überdurchschnittlich von sozialen Benachteiligungen in den Bereichen Einkommen und Vermögen, Wohnen, Gesundheit und Bildung geprägt sind. Es besteht ein erhöhtes Armutsrisiko im Alter. Deutsche Sprachkenntnisse sind eher als gering einzuschätzen. Soziale Netze beschränken sich im Wesentlichen auf Verwandtschaft bzw. auf Personen der eigenen Herkunft. Erkennbar wird des Weiteren, dass sich der aufgrund ihrer prekären Lebenslagen vermutete hohe Versorgungsbedarf alter Migrant/-innen nicht im Grad der Inanspruchnahme der institutionellen Altenhilfe widerspiegelt und somit von einer Diskrepanz zwischen Bedarf und Nutzungsverhalten ausgegangen wird. Auf Seiten der Professionellen bestehen so gut wie keine Kenntnisse über die Situation alter Migrant/-innen. Der Personenkreis wird mehrheitlich noch nicht als Adressatengruppe wahrgenommen. Abgesehen von den Abschlussberichten der empirischen Studien und einigen wenigen Monographien, von denen im Weiteren noch die Rede sein wird, beschränkten sich die wissenschaftlichen Publikationen in der Zeit bis Mitte der 1990er Jahre auf einzelne Beiträge in Sammelbänden und Fachzeitschriften. In ihnen zeichneten sich drei spezifische Diskurse ab: • Der Begriff des ›Fremden‹ wurde in verschiedenen Varianten sehr häufig gebraucht. Mit Formulierungen wie »Älter werden in der Fremde« (Naegele/ Olbermann/Gerling 1997) bzw. »Alt werden in der Fremde« (BAGS 1998), »Fremdsein, Altwerden und was dann?« (Holz u.a. 1996) oder »Altern in fremden Umwelten« (Brandenburg 1994) sollte die Annahme zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um eine Bevölkerungsgruppe handele, die sich von den einheimischen Älteren kulturell unterschieden und mit »Sprache, Kultur und Glaube woanders zuhause« (Bischoff 1996) seien. Trotz langer Aufenthaltszeiten sei Deutschland nicht zu ihrer Heimat geworden. Sie seien auch aus der Perspektive des Einwanderungslandes ›fremd geblieben‹ und galten als »die anderen Alten« (Habermann 1995; Dietzel-Papakyriakou 1990a). Erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde parallel öfter von Deutschland als ihrer ›zweiten Heimat‹ gesprochen, so z.B. im Buchtitel von Wölk (1997) »Luftwurzeln in der zweiten Heimat. Alte Migranten in der Bundesrepublik Deutschland« oder im Fachbeitrag »Altern in der zweiten Heimat« von Busche-Baumann/Mane/Tan (1999). • Eng verbunden mit dem Diskurs um das ›Altern in der Fremde‹ war der Diskurs um ›Ethnizität als Ressource‹. Insbesondere durch die bedeutendste, nach wie vor viel zitierte Publikation dieser Zeit von Dietzel-Papakyriakou aus dem Jahr 1993 mit dem Titel »Altern in der Migration. Die Arbeitsmigranten
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vor dem Dilemma zurückkehren oder bleiben« wurde der Begriff der Ethnizität bzw. des Ethnischen aus US-amerikanischen Forschungen über das ›ethnische Alter‹ in die deutsche Fachdebatte eingeführt. Ethnizität galt fortan als eine im Alter bei Migrant/-innen an Bedeutung gewinnende Kategorie, die wesentlich zur Bewältigung problematischer Lebenssituationen beitrage und von daher im Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe Beachtung finden müsse (vgl. Kapitel 2.4). • Der Diskurs um die Frage ›Zurückkehren oder Bleiben‹ thematisierte, ob Migrant/-innen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, d.h. dem Wegfall des ursprünglichen Migrationszwecks bei Arbeitsmigrant/-innen, überhaupt in Deutschland blieben oder aber in ihre Herkunftsländer zurückkehrten und welche Motive für die eine oder für die andere Lebensplanung sprächen (vgl. u.a. Schulte 1993; Dietzel-Papakyriakou 1990a). Dass das Bleiben nach 30 bis 40 Jahren Aufenthalt in Deutschland nicht unhinterfragt angenommen wurde, weder seitens der Angehörigen des Einwanderungslandes noch seitens der Migrant/-innen selbst, ist dem Konzept der Anwerbung auf Zeit geschuldet, wie es im Rotationsprinzip zum Ausdruck kam. Es führte nicht selten zur so genannten Rückkehrillusion, der immer wieder aufgeschobenen Verwirklichung des Rückkehrwunsches (vgl. Pagenstecher 1996). Die Fachbeiträge dieser Zeit zielten darauf, das faktische Bleiben eines Großteils der alten Migrant/-innen in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und die oft als »vergessene Bevölkerungsgruppe« (Schweppe 1994) Bezeichneten aus ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit zu holen. Alle drei Diskurse bestimmen noch gegenwärtig die Fachdiskussion. Allerdings wurden sie mittlerweile durch kritische Publikationen erweitert, ergänzt oder in Frage gestellt (siehe unten). Zum Teil ließen sie sich auch empirisch widerlegen. Vor allem die Tatsache des Bleibens wird gegenwärtig mit größerer Selbstverständlichkeit betrachtet.6 Auf der Basis der Ergebnisse der frühen Forschungsprojekte und wissenschaftlichen Beiträge wurden in den 1990ern erste Empfehlungen für die Arbeit mit alten Migrant/-innen formuliert (u.a. BAGS 1998; NDV 1998; Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 1996; Holz u.a. 1996; BMAS 1995). Dabei kristallisierte sich die zentrale Forderung heraus, dass sich die Altenhilfe konzeptionell und personell auf diese Zielgruppe in naher Zukunft einzustellen habe und dass ethnienspezifische Angebote das vorhandene Versorgungssystem ergänzen müssten. Wissenschaftlich begleitete Modellprojekte 6 | Statt vom ›Zurückkehren oder Bleiben‹ zu sprechen, finden sich zunehmend Formulierungen, wie »gekommen und geblieben« (Richter 2003) oder »Angeworben, Hiergeblieben, Altgeworden« (afw-Arbeitszentrum Fort- und Weiterbildung Elisabethenstift Darmstadt 1998).
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wurden initiiert, die erste konzeptionelle Handlungsansätze erprobten. Insbesondere die Ergebnisse des vom damaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung geförderten Modellprojektes zur »Entwicklung von Konzepten und Handlungsstrategien für die Versorgung älterwerdender und älterer Ausländer« (BMAS 1995) sowie des Projektes »Ethnischer Schwerpunkt Altenhilfe« des DRK-Landesverbandes Nordrhein e.V., das das erste Konzept einer stationären Altenhilfeinstitution für Migrant/-innen entwickelte (vgl. Hielen 1998a, 1998b und 1996), prägten den Diskurs. Zwei weitere bedeutende Modellprojekte dieser Zeit, die vom ehemaligen Bundesministerium für Familie und Senioren gefördert wurden, waren das Projekt »¡Adentro! Spanisch sprechende Seniorinnen und Senioren mischen sich ein« (Deutsches Rotes Kreuz 2000 und BMFSFJ 2000b), bei dem die Initiierung und Förderung von Netzwerken sowie die Interessenvertretung im Vordergrund standen, und das Projekt »Deutsche und Ausländer gemeinsam: Aktiv im Alter« (BMFSFJ 2000b), das vor allem den Aufbau von Bildungsarbeit fokussierte. Parallel erhielt die Thematik Einzug in die Pflegewissenschaft. Unter Begrifflichkeiten, wie »kulturangepaßte Pflege« (Habermann 1995), »interkulturelle Altenpflege« (afw-Arbeitszentrum Fort- und Weiterbildung Elisabethenstift Darmstadt 1998), »transkulturelle Pflege« (Domenig 2001) oder »kultursensible Altenpflege« (Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege 2002), wurden Empfehlungen für die Pflege von Migrant/-innen erarbeitet. Nicht immer wurden die Begriffe theoretisch eindeutig geklärt und voneinander abgegrenzt. Thematisch rankten viele Ansätze um die Notwendigkeit der Erlangung von ›kulturbezogenem Wissen‹, vor allem im Umgang mit muslimischen Patient/-innen, und um die Erarbeitung ›kulturspezifischer Pflegepraktiken‹. Ausgangspunkt war das Konzept der transkulturellen Pflege, das die US-Amerikanerin Leininger (1998) erstmals in den 1960er Jahren entwickelte. Kritik an Konzepten ›transkultureller Pflege‹, insbesondere an ihrer klischeehaften Sicht auf Individuen, wurde in patientenorientierten Ansätzen formuliert, die der Biographie und den aktuellen Lebensumständen der zu Pflegenden Priorität einräumten.7 Stellvertretend für viele Projekte mit Bezug zur pflegerischen Versorgung alter Migrant/-innen seien das EU-geförderte NOW-Projekt (vgl. afw-Arbeitszentrum Fort- und Weiterbildung Elisabethenstift Darmstadt 1998), das Projekt »Alt werden in der Fremde« des Berliner Caritasverbandes (vgl. Esen 2003; Ullrich 2002) sowie das Modellprojekt »Interkulturelle Öffnung der Diakonie-Stationen in Berlin« (vgl. Koch/Bischof 2005) erwähnt. Interkulturelle bzw. transkulturelle Kompetenz wurden zu Schlagwörtern innerhalb der Qualitätsentwicklungsdebatte der Altenpflege (vgl. Domenig 2007; Frewer/Jäger 2001; Dietrich 2001). Sie galten als neuer Qualitätsstandard, der Eingang in die pflegerische Versorgung finden müsse (vgl. Zeman 2004). Im Rahmen der 7 | Vgl. zu dieser Kritik Esen (2002); auch Zeman (2004) und Bäurle (2004).
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Neuregelung der Altenpflegeausbildung wurde die Thematik Alter und Migration in den Curricula verankert (vgl. Kuratorium Deutsche Altershilfe 2002).8 Es erschienen Handreichungen für die Praxis. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die Handreichung vom Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenpflege (2002), denn sie entstand in Kooperation von Vertretern aller größeren Wohlfahrtsverbände, kleinerer Träger und des Kuratorium Deutsche Altershilfe. Eine Handreichung speziell für den Umgang mit Muslimen wurde z.B. von Ilkilic (2006) erarbeitet. Zudem erhielt die Qualifizierung von Migrant/-innen für Altenpflegeberufe einen herausgehobenen Stellenwert. Qualifizierungsmodelle im Bereich der Ausbildung sowie Nachqualifizierungen von Hilfskräften ohne staatliche Anerkennung wurden gefördert (vgl. Aslan/Reindel 2002). Dabei ging es nicht allein um die Erhöhung des Anteils von Migrant/-innen in der Pflege, um diese für Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund und für den Aufbau multikultureller Pflegeteams einzusetzen. Auch der Fachkräftemangel in der Altenpflege, der auf diese Weise ausgeglichen werden sollte, spielte eine Rolle (vgl. Busse 2003).9 Neben ersten Initiativen zur Öffnung bestehender stationärer und ambulanter Pflegeinstitutionen für Migrant/-innen haben sich in der ambulanten Versorgung so genannte trans- bzw. multikulturelle Pflegedienste gegründet (vgl. stellvertretend für viele Jenrich 1996). Sie werben mit einem Konzept, das unter anderem über ihre Personalpolitik Pflege in vielen Sprachen und in multikulturellen Teams ermöglicht und damit Pflegebedürftige unterschiedlicher Herkunftsländer ansprechen will. Sie sind von Pflegediensten zu unterscheiden, die sich gezielt auf spezifische Migrantengruppen, wie z.B. russischsprachige, ausgerichtet haben. Eine systematische Erforschung der Entwicklungen im ambulanten Pflegesektor fehlt bisher. Das Schließen dieser Forschungslücke scheint jedoch notwendig, denn das Feld droht immer unübersichtlicher zu werden und bietet den Pflegebedürftigen kaum noch die erforderliche Transparenz. Die pflegerische Versorgung als eines der zentralen Themen der Altenhilfe ist aus der Perspektive der Sozialen Arbeit vor allem in sozialberaterischer und organisatorischer, nicht in pflegekonzeptioneller Hinsicht relevant. Auf der Ebene der Sozialen Arbeit verband sich das Forschungsfeld um alte Migrant/-innen Mitte der 1990er Jahre mit dem Diskurs um die interkulturelle Öffnung sozialer Dienste (vgl. Kapitel 3.1). Eine Öffnung der Altenhilfe für 8 | Vgl. auch K. Geiger (2005) sowie Friebe/Zalucki (2003). 9 | Davon unabhängig wird seit einiger Zeit eine Kontroverse um Pflegekräfte aus dem Ausland geführt, die über ausländische Pflegedienste oder als Selbstständige auf dem ambulanten Pflegemarkt ihre Leistungen anbieten und als unliebsame Konkurrenz angesehen werden (vgl. Rüßler 2007). Daneben nimmt auch die Thematik der irregulären Beschäftigung von Migrant/-innen für die Pflege in Privathaushalten einen immer größeren Stellenwert innerhalb der Fachdiskussion ein (vgl. Kondratowitz 2005).
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Migrant/-innen ist bisher allerdings nicht erreicht worden, obwohl gerade in diesem Bereich sehr intensiv und engagiert auf empirisch ermittelte Bedarfe reagiert wurde (vgl. Hielen 2005: 7). Viele der frühen konzeptionellen Ansätze und Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgungslage alter Migrant/-innen sind in Modellprojekten weiterentwickelt worden. Dabei sind vor allem die EU-Projekte »Active Ageing of Migrant Elders across Europe« (Laufzeit 20072009)10 und »Entwicklung innovativer Konzepte zur sozialen Integration älterer Migranten/innen« (Laufzeit 2001-2003; vgl. Olbermann 2003a) herauszuheben sowie Modellprojekte, die mit der Umsetzung von Handlungsstrategien begannen (vgl. MGSFF NRW 2004; Baric-Büdel 2003 und 2002; Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2001). Weitere Studien ab 2000 reicherten den Wissensstand über die Lebens- und Bedarfslagen weiter an (vgl. Hubert/Althammer/Korucu-Rieger 2009; Paß 2006; Gesundheitsamt Bremen 2004; Zeman 2002; Gögercin 2002; Hafezi 2001). Das Forschungsgebiet differenzierte sich aus, lieferte vertieftes Wissen über türkische Männer (vgl. Spohn 2002) und allein stehende Migrantinnen (vgl. Matthäi 2004), bezog nun auch spezielle Lebenslagen, wie Arbeitslosigkeit im Alter (vgl. Paz Martinez 2009), Demenz (vgl. Raven/Huismann 2000, 1999), Tod und Sterben (vgl. Tan 1998) mit ein, und wurde erweitert um empirische Erkenntnisse zur Situation und zur Versorgung von (Spät-)Aussiedlern (vgl. Baric-Büdel/Müller-Wille/Born 2007; Dronia 2002). Durch die von 2002 bis 2010 bei Aktion Courage e.V. existierende Informations- und Kontaktstelle IKoM, die eine umfassende Datenbank über Publikationen und Projekte führte, und das seit 2006 bestehende bundesweite »Forum für eine kultursensible Altenhilfe«, dem eine zweijährige »Kampagne für eine kultursensible Altenhilfe« und die Veröffentlichung eines gleich lautenden Memorandums vorausging (vgl. Deutsches Rotes Kreuz 2008, 2005), ist der Grad der Vernetzung der Expert/-innen im Bereich Alter und Migration, die Bündelung von Wissen und die Bemühung, den Fachdiskurs auf eine breite öffentliche Basis zu stellen, in kaum einem Bereich der interkulturellen Sozialen Arbeit ähnlich hoch wie in diesem. Das hohe Problembewusstsein und die damit verbundenen Aktivitäten scheinen allerdings Teil eines Spezialdiskurses zu bleiben, der nur vereinzelt die Praxis der Altenarbeit erreicht (vgl. Kaewnetara/Uske 2001: 151ff.). Bisher ist es allenfalls gelungen, Praktiker/-innen der Migrationssozialarbeit von der Relevanz der Thematik zu überzeugen, in den Regeldiensten der Altenhilfe bestehen nach wie vor Informationsdefizite und Widerstände gegenüber konzeptionellen Veränderungen. Die Theorieentwicklung im Forschungsgebiet Alter und Migration vollzog sich nicht in einem ähnlichen Tempo wie die Aktivitäten im Feld der Praxis. Die Arbeiten zur interkulturellen Öffnung und zur interkulturellen Kompetenz 10 | Vgl. www.aamee.eu
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bleiben auf einer handlungskonzeptionellen und zum Teil rein programmatischen Ebene. Eine handlungsbezogene Theorie der Sozialen Arbeit unter dem Blickwinkel von Migration steht noch aus (vgl. Böhnisch/W. Schröer/Thiersch 2005: 209f.). Bei dem Gros der umfänglicheren wissenschaftlichen Publikationen handelt es sich um Projektberichte und Dissertationsschriften, die zumeist nicht genuin sozialpädagogische Perspektiven einnehmen. Explizit Bezug auf Aspekte der Sozialen Arbeit mit alten Migrant/-innen nehmen vor allem die Arbeiten von Paß (2006), Olbermann (2003b), Hafezi (2001), Vahsen u.a. (2001) sowie Vahsen (2000a). In den Veröffentlichungen seit 2000 zeigen sich zunehmend kritische Betrachtungsweisen. Ihnen zufolge sei die Fachdiskussion geprägt von stark vereinfachten, stereotypen Bildern von alten Migrant/-innen und ihren Herkunftskulturen sowie einer oft unrealistischen Einschätzung ihrer Lebenssituation im Einwanderungsland (vgl. Zeman 2003; Kaewnetara/Uske 2001; Adolph 2001; auch Saake 1997). Die Kritik richtet sich gegen zwei vorherrschende Sichtweisen auf alte Migrant/-innen: Die überwiegend defizitorientierte Perspektive, die deren Lebenssituation extrem problembelastet darstellt, erkenne Ressourcen, z.B. Selbsthilfepotenziale, im Umfeld der alten Migrant/-innen nicht hinreichend an. Daneben existierten übersteigert positive Altersbilder. Harmonisierende Vorstellungen über die familiären Unterstützungsnetze, die die Versorgung im Alter problemlos abdecken würden, führten in der Praxis der Altenhilfe zu Standpunkten, die die Notwendigkeit interkultureller Öffnungsmaßnahmen einstweilen zurückwiesen. Zu einer differenzierten Einschätzung des Stellenwertes familiärer und sozialer Netzwerke haben vor allem Olbermann (2003b) und Dietzel-Papakyriakou/Olbermann (1996a) beigetragen (vgl. Kapitel 2.3). Zeitgleich mit dem Erscheinen des dritten Altenberichtes der Bundesregierung im Jahr 2001 ist innerhalb der Fachdebatte eine Ergänzung der bis dahin dominierenden Defizitorientierung zu verzeichnen. Die Herausstellung von Leistungen und Potenzialen dieser Bevölkerungsgruppe rückte in den Vordergrund (vgl. BMFSFJ 2001; Dietzel-Papakyriakou 2005). Auch wurde stärker auf Versäumnisse der Politik hingewiesen. So hebt etwa Zeman (2007) mit Bezug auf K.J. Bade die Relevanz von Strategien »nachholender Integration« für die erste, jetzt alt gewordene Migrantengeneration hervor. Vereinzelt wurde in der Fachliteratur der Gebrauch von Kultur und Ethnizität im Zusammenhang mit alten Migrant/-innen kritisch betrachtet (vgl. Dornheim 2004; Herberhold 2002; Vahsen 2000a). Eine hohe, gleichsam prägende Bedeutung ethnisch-kultureller Aspekte könne bei Migrant/-innen im Alter nicht per se vorausgesetzt werden. Vielmehr handele es sich bei dieser Annahme um eine Zuschreibung, die die Konstruktion vermeintlich homogener Gruppen entlang ethnischer Kriterien befördere und existierende Gemeinsamkeiten mit der alten Bevölkerung ohne Migrationshintergrund durch die Betonung von Differenzen in den Hintergrund treten ließe (vgl. Kapitel 2.4).
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Gegen eine solche Sichtweise wendet sich auch der fünfte Altenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2006. Er weist undifferenzierte und klischeehafte Darstellungen von Migrant/-innen ausdrücklich zurück und hebt ihre Heterogenität hervor. Zu Beginn des Kapitels »Migration und Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft« konstatieren die Autoren: »Ein wichtiges Ziel der folgenden Analysen ist es daher, immer wieder auf die Notwendigkeit einer differenzierten Wahrnehmung von Migration hinzuweisen. Die Migrantenbevölkerung ist in sich sehr heterogen. […] Die Heterogenität ergibt sich nicht nur durch die jeweilige soziale Schichtzugehörigkeit, sondern auch aus vielfältigen, je nach Migrantengruppe möglichen Kombinationen von Merkmalen. Darunter fallen etwa die nationale, ethnische, religiöse Zugehörigkeit, die Aufenthaltsdauer, aber auch der gruppenspezifische Migrationsstatus.« (BMFSFJ 2006: 227)
Bereits die Unterscheidung von ›deutscher‹ und ›Migranten-Bevölkerung‹ zu Analysezwecken sei eine stark vereinfachte Komplexitätsreduktion und polarisiere, denn sie täusche darüber hinweg, »dass Migranten häufig mehr Gemeinsamkeiten mit Deutschen ähnlicher sozialer Lage haben, als mit Angehörigen der eigenen Nationalität, die aber einer anderen sozialen Schicht angehören« (ebd.: 254). Wenn nun im Folgenden unter Rückgriff auf soziostrukturelle und migrationsbezogene Wissensbestände über alte Migrant/-innen deren Lebenssituation eingeschätzt wird, ist dieser Hinweis bei der Interpretation der Aussagen stets im Blick zu behalten. Der fünfte Altenbericht erweist sich dabei insbesondere deshalb als ertragreich, da er die existierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über alte Migrant/-innen bündelt und bewertet. Seine Ausführungen basieren auf drei Expertisen, die in einer interdisziplinär zusammengesetzten Sachverständigenkommission erstellt und abgestimmt wurden.11 Für das Thema ›alte Migrant/-innen‹ ist die Altenberichterstattung insgesamt auch insofern von Belang, als dass diese Bevölkerungsgruppe dort von Anbeginn an Berücksichtigung fand und zwar mit wachsender Aufmerksamkeit.12 Der erste Altenbericht von 1993 wurde im Jahr 1989 ungefähr zeitgleich mit dem Aufkommen der Fachdiskussion um alte Migrant/-innen in Auftrag gegeben. Die damalige Expertise von Dietzel-Papakyriakou gilt als eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema in Deutschland überhaupt. Es bedarf der Betrachtung zweier grundlegender Dimensionen, um die Lebenssituation alter Migrant/-innen in ihren Hauptzügen erkennbar zu machen 11 | Özcan/Seifert (2004), T. Bauer/Loeffelholz/Schmidt (2004) und Korporal/Dangel (2004); zusammen publiziert in Deutsches Zentrum für Altersfragen (2006). 12 | Der vierte Altenbericht mit dem Schwerpunktthema Hochaltrigkeit stellt eine Ausnahme dar, denn er geht aufgrund ihres quantitativ sehr geringen Anteils an der Bevölkerung nicht explizit auf hochaltrige Migrant/-innen ein.
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und daraus die für die professionelle Entwicklung der Sozialen Arbeit notwendigen Impulse zu erhalten. Zum einen ist danach zu fragen, welche soziostrukturellen Rahmenbedingungen das Leben von Migrant/-innen gekennzeichnet und ihr Altern mit beeinflusst haben (Kapitel 2.3). Zum anderen stehen die Begriffe Kultur und Ethnizität in ihrer Relevanz im Alter zur Diskussion (Kapitel 2.4). Welchen Stellenwert nehmen herkunftsbezogene und kulturelle Faktoren im Kontext von Alterungsprozessen ein? Beide Dimensionen verweisen auf zentrale Herausforderungen für die Soziale Arbeit mit alten Migrant/-innen. Sowohl die Entwicklung einer »sozial- und migrationspolitischen Reflexivität« (W. Schröer 2005), die soziale Benachteiligungen aufgrund des Status als ›Migrant‹ aufdeckt und zu möglichst gleichberechtigter sozialer Teilhabe alter Migrant/-innen beiträgt, als auch der Ausbau ›interkultureller Handlungsfähigkeit‹, die der Heterogenität von Lebensformen im Alter gerecht wird, sind aus Sicht der Profession von Bedeutung. Der Blick wird zunächst auf die strukturelle Seite der Lebenssituation geworfen.
2.3 A LTE M IGR ANT/- INNEN IM S TRUK TURWANDEL DES A LTERS In demographischer Hinsicht ist Deutschland von einem »dreifachen Altern« gekennzeichnet, das mittlerweile auch die Migrantenbevölkerung erreicht hat. Demnach nimmt die absolute Zahl älterer Menschen ebenso zu wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Hinzu kommt ein starker Anstieg der hochaltrigen Menschen über 80 Jahre (vgl. Naegele 2006: 8). Die zentralen Ursachen für diesen Trend liegen zum einen im Anstieg der Lebenserwartung und der damit einhergehenden Veränderung der Sterbeverhältnisse, und zum anderen in der niedrigen Fertilität, d.h. der durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau (vgl. Thieme 2008: 66). Diese als demographischer Wandel bezeichnete Entwicklung ist Teil eines grundlegenden sozialen Wandels, der bereits mit dem Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft seinen Anfang nahm und sich mit zunehmender gesellschaftlicher Modernisierung fortsetzt. Veränderungen der Produktionsweisen und des Arbeitsmarktes, Technisierung, medizinische Entwicklungen, Individualisierung von Lebensstilen, Pluralisierung von Lebensverläufen, Struktur- und Funktionswandel der Familie sind einige der zentralen Entwicklungsstränge, die auch Einfluss nehmen auf die strukturellen Rahmenbedingungen des Alterns. Die quantitative demographische Entwicklung wird begleitet von qualitativen Veränderungen des Alters auf soziostruktureller Ebene. Ein Kernaspekt dabei ist die Ausweitung der Lebensphase Alter und mit ihr einhergehend eine zunehmende Differenzierung der Altenbevölkerung (vgl. Tews 1993: 16). Je nach Kontext gelten heute schon 45-Jährige als alt, so in einigen Branchen des Arbeitsmarktes, gleichzeitig nimmt die Zahl der über 100-Jährigen stetig zu.
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Die Lebensphase Alter kann insofern individuell eine Zeitspanne von über 50 Jahren umfassen. Der heute 60-Jährige hat durchschnittlich eine weitere Lebenserwartung von zirka 25 Jahren (vgl. Lehr 2005: 3). Während noch bis Ende der 1960er Jahre ein Trend zur Standardisierung von Lebensläufen zu beobachten war, der mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben beim Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze von 65 Jahren einen sozialstaatlich festgelegten Beginn der Lebensphase Alter markierte, hat sich heute die Bedeutung des chronologischen Alters relativiert. Die so genannte Dreiteilung des Lebenslaufs, orientiert an der Erwerbsarbeitsphase im Zentrum, der eine Bildungsphase vorausgeht und eine Ruhestandsphase nachfolgt, hat sich aufgeweicht, Übergänge sind fließend geworden und können nicht mehr allein an berufliche Arbeit geknüpft werden (vgl. Schroeter 2000: 87ff.).13 Vor dem Hintergrund dieser Ausweitungs- und Differenzierungsprozesse könne – so Tews bereits 1993 – nicht mehr seriös von »den Alten« gesprochen werden (vgl. ders.: 16). Dass dies auch auf Migrant/-innen zutrifft, wird allerdings nur selten in Publikationen explizit vertreten. Beispiele hierfür sind der bereits erwähnte fünfte Altenbericht der Bundesregierung (vgl. BMFSFJ 2006: 227ff.), sowie Vahsen (2000b: 11), der auf die biographische Komponente des Alterns verweist und betont, dass »[d]ie Lebensverläufe der Migranten […] viel differenzierter als bisher angenommen« seien. Altern ist – selbstverständlich auch bei Migrant/-innen – ein individueller Prozess, da er sich aus dem Zusammenwirken vieler interdependenter Faktoren bestimmt. Biographische, physiologische, psychische, soziale, kulturelle und ökonomische Lebensbedingungen eines jeden Menschen sind hier unter anderem prägend. Die alte Migrantenbevölkerung in ihrer Differenziertheit darzustellen ist aufgrund der damit verbundenen Komplexität deshalb sicher nicht möglich. Es lassen sich jedoch die für den gesamtgesellschaftlichen Alterungsprozess erkannten Entwicklungsstränge beschreiben und im Hinblick auf die Lebenssituation alter Migrant/-innen neu bewerten. Ende der 1980er Jahre wurden diese Entwicklungsstränge in der These vom »Strukturwandel des Alters« vor allem von Tews (1993) formuliert. Mit den Trends der »Verjüngung des Alters«, der »Entberuflichung«, der »Feminisierung«, der »Singularisierung« sowie der »Hochaltrigkeit«, die im Weiteren näher erläutert werden, hebt er fünf Merkmale heraus, die seines Erachtens besonders geeignet sind, die Strukturveränderungen innerhalb der alten Bevölkerung auf deskriptiver Ebene 13 | Kohli (1985) prägte hierfür den Terminus der »Institutionalisierung des Lebenslaufs«, der aufgrund komplexer sozioökonomischer und demographischer Entwicklungen in den letzten Jahren einer zunehmenden Destandardisierung ausgesetzt sei. Bommes (2000) weist nach, dass Migrantenbiographien ohnehin selten den wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen zum Aufbau eines »Normallebenslaufes« entsprechen. Abweichungen und ihre sozialen Konsequenzen sind insofern bei Migrant/-innen im hohen Maße zu erwarten.
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zu erfassen. Trotz früher Kritik an Tews’ Ansatz wird die These vom Strukturwandel des Alters nach wie vor rezipiert (vgl. Thieme 2008: 233ff.). Die unter anderem von Clemens (1993) formulierte Kritik bezog sich in erster Linie auf Tews’ fehlenden Rückbezug auf ökonomische und politische Rahmenbedingungen, die Vernachlässigung der subjektiven, biographischen Seite des Alterns sowie die ungenügende Differenzierung von Lebenslagen. Tews gelang es jedoch, die soziostrukturelle Dimension der Lebenslage Alter hervorzuheben und einen deskriptiven Rahmen zu schaffen, der sich zur Nachzeichnung und Analyse zentraler struktureller Wandlungsprozesse innerhalb der alten Bevölkerung eignet und in seinem Bezug auf Migrant/-innen instruktiv ist. Obwohl der Entwurf des Konzeptes ungefähr zeitgleich mit dem Aufkommen der Fachdiskussion um die Lebenssituation alter Migrant/-innen erfolgte, wurden diese darin kaum berücksichtigt. Zu Beginn der 1990er Jahre hätte ein ähnlicher Strukturwandel wie bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund allerdings auch weniger deutlich nachgewiesen werden können. Erst seit einigen Jahren wird davon ausgegangen, dass sich die Migrantenbevölkerung in einem Strukturwandel des Alters befinde. Immer öfter stellen Publikationen Ähnlichkeiten zu der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund in vielen zentralen Dimensionen der Lebenslage fest (vgl. BMFSFJ 2006; Vahsen 2000b). Eine besonders oft erwähnte soziostrukturelle Angleichung bezieht sich auf das generative Verhalten. Erosionstendenzen vormals intakter, stabiler Mehrgenerationenbeziehungen prägten zunehmend Migrantenfamilien, die sich ähnlich wie die Familienformen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund weiter pluralisierten (vgl. BMFSFJ 1998: 95ff.). Der fünfte Altenbericht interpretiert diese und andere Angleichungsprozesse als Indikatoren für stattgefundene Integration (vgl. BMFSFJ 2006: 230). Integration wird hier verstanden als »soziokulturelle, schichtbezogene Angleichung zur einheimischen Bevölkerung«, die »in unterschiedlicher Weise und Intensität von einer Migrantengeneration und Nationalitätengruppe zur anderen« stattfinde. Folgt man dieser These von der langsamen Angleichung der alten Migrantenbevölkerung an die soziodemographischen Strukturen des Einwanderungslandes und stellt sie in Verbindung mit dem Prozess der Differenzierung des Alters, der grundsätzlich individuell-biographische Betrachtungen zur Erklärung der Alterssituation erforderlich macht, dann stellt sich die – aus sozialpädagogischer Perspektive relevante – Frage nach der Spezifik der Lebenssituation von Migrant/-innen im Alter. Inwiefern ist vor diesem Hintergrund eine Sonderbehandlung in extra geschaffenen ›ethnienspezifischen‹ Angeboten notwendig? Kenntnisse über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Lebenslagen sind insofern für die Soziale Arbeit eine wichtige Wissensgrundlage, mit deren Hilfe konzeptionelle Rückschlüsse gezogen werden können. Anhand der fünf Trends des Altersstrukturwandels lässt sich der bisherige Wissensstand systematisch rekapitulieren. Sie werden im Folgenden um einen sechsten Trend,
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der mit ›transnationaler Mobilität‹ umschrieben werden soll, erweitert, da die insgesamt wachsenden grenzüberschreitenden Mobilitätspotenziale alter Menschen für Migrant/-innen von herausgehobener Bedeutung sind.14
Verjüngung des Alters Von einer Verjüngung des Alters spricht Tews (1993: 23ff.) in dreierlei Hinsicht. Er unterscheidet positive, negative und neutrale Verjüngungseffekte. Im Hinblick auf ihre körperliche und geistige Verfassung und ihre Selbsteinschätzung sind die Älteren heute im Vergleich zu ihrer Vorgängergeneration durchschnittlich »jünger«. Zwar steigt mit wachsendem Alter nach wie vor das Krankheitsrisiko, behandlungsbedürftige Krankheiten treten jedoch im Durchschnitt in späteren Lebensjahren auf (vgl. Thieme 2008: 185f.). Unabhängig vom so genannten Jugendkult, der die ältere Generation in normativer Hinsicht zunehmend erfasst und sich in jugendlichen Wertorientierungen, Kleidung und Verhaltensweisen äußert (ebd.: 235), sind die Älteren auch gesundheitlich vitaler, leistungsfähiger und länger selbstständig. Gleichzeitig werden sie oftmals bereits früher mit der Zuschreibung ›alt‹ konfrontiert und zwar insbesondere im Berufsleben. Schon über 40-Jährige gelten als ältere Arbeitnehmer/-innen, sie werden seltener in berufliche Qualifizierungsmaßnahmen eingebunden und ein immer größerer Teil muss noch vor dem Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters aus dem Berufsleben scheiden. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter erfolgt in diesem Fall in einer Phase des Lebens, in der die Betroffenen sich selbst subjektiv noch nicht den Älteren zurechnen. Die nachberufliche Phase und ihre aktive Gestaltung gewinnen insgesamt an Bedeutung. In neutraler Hinsicht sieht Tews einen Verjüngungseffekt in dem früheren Abschluss der Kindererziehungsphase, der dazu führt, dass sich vor allem Frauen, die wegen der Erziehung von Kindern aus dem Beruf ausgeschieden sind, früher mit der Sinngebung der ihnen verbleibenden Lebenszeit auseinander setzen müssen. Alte Arbeitsmigrant/-innen sind vor allem von den negativen Verjüngungseffekten betroffen. Der Trend zur frühen Entberuflichung ist bei ihnen überdurchschnittlich ausgeprägt (siehe unten). Er steht unter anderem im Zusammenhang mit ihrer objektiven und subjektiv empfundenen Gesundheitslage, die deutlich schlechter ist als die der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund in der jeweils selben Altersgruppe. Jeder zweite Arbeitsmigrant ab 65 Jahre beurteilt seinen Gesundheitszustand persönlich als weniger gut bzw. als schlecht 14 | Aufgrund der bereits geschilderten Datenlücken beziehen sich die folgenden Ausführungen mehrheitlich auf alte ausländische Migrant/-innen aus den ehemaligen Anwerbeländern, die in den vorliegenden Studien mit der deutschen Bevölkerung verglichen werden. Da sich die Situation von (Spät-)Aussiedlern und von politischen Flüchtlingen allerdings erheblich von derjenigen der Arbeitsmigrant/-innen unterscheiden kann, werden Angaben zu diesen Migrantengruppen nach Möglichkeit ergänzt.
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(vgl. Özcan/Seifert 2004: 25f.). In der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen zeigt sich mit 38,6 % ebenfalls ein hoher, im Untersuchungszeitraum, den Özcan/ Seifert zugrunde legen (1997 bis 2002), sogar gestiegener Anteil gesundheitlich unzufriedener Arbeitsmigrant/-innen. Auch die allgemeine Lebenszufriedenheit ist bei ihnen niedriger als bei Deutschen (ebd.: 26f.). Sie nahm im selben Zeitraum weiter ab. Auch objektiv zeigt sich eine besondere Betroffenheit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. So waren ältere ausländische Arbeitnehmer/-innen in den Jahren 1997 und 2002 wesentlich häufiger und länger krankheitsbedingt arbeitsunfähig (ebd.: 24f.). Arztkonsultationen kommen überdurchschnittlich häufig vor (vgl. BMFSFJ 2006: 244). Die 40- bis 50-Jährigen weisen zudem eine höhere krankheitsbedingte Frühverrentungsquote auf. Das Krankheitsspektrum alter Arbeitsmigrant/-innen zeigt deutliche Unterschiede zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Sie leiden häufiger an Krankheiten des Muskel- und Skelettsystems und der Verdauungs- und Atmungsorgane (vgl. Zeman 2005: 36). Auch bei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Hypertonus sowie Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen ist eine stärkere Belastung nachgewiesen worden (vgl. Korporal/Dangel 2004). Daneben werden häufig psychische Erkrankungen diagnostiziert, die zu Somatisierungen geführt haben. Insgesamt sind Arbeitsmigrant/-innen vergleichsweise früher von chronisch-degenerativen Erkrankungen betroffen und haben ein höheres Multimorbiditätsrisiko (vgl. BMFSFJ 2001: 75f.). In der Fachliteratur geht man mehrheitlich davon aus, dass migrationsgeschichtlich bedingte Faktoren auf den Gesundheitszustand der Arbeitsmigrant/-innen erkennbar Einfluss nehmen. Der »healthy migrant«-Effekt, der aufgrund der selektiven Anwerbung gesundheitlich robuster Arbeitskräfte nachgewiesen werden konnte, ist nicht mehr feststellbar. Durch ihren mehrheitlichen Einsatz in der industriellen Massenfertigung und in körperlich belastenden Tätigkeitsbereichen waren Arbeitsmigrant/-innen besonders hohen gesundheitlichen Risiken am Arbeitsplatz ausgesetzt, darunter z.B. Schicht- und Akkordarbeit, Lärm und Chemikalien (ebd.). Zusätzliche belastende Faktoren ihrer Lebenssituation, wie geringes Einkommen, schlechte Wohnbedingungen, Arbeitslosigkeit, psychischer Stress aufgrund kritischer Lebensereignisse und Diskriminierungen, wirken sich potenziell schlecht auf den Gesundheitszustand aus. Auch das geringe formale Bildungsniveau der ehemals angeworbenen Arbeitskräfte ist von Bedeutung, und zwar vor allem dann, wenn es um das Erkennen von Gesundheitsgefährdungen, gesundheitsförderliche Verhaltensweisen und die Inanspruchnahme von präventiven Maßnahmen, wie Kontrolluntersuchungen und Impfungen, geht.15 Unabhängig vom Bildungsniveau 15 | Der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit ist empirisch belegt (vgl. BMFSFJ 2006: 111; sowie Kruse 2006). Bildungsstand, Morbidität und Mortalität
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erschweren überdies Zugangsbarrieren, vor allem Informationsdefizite, die Inanspruchnahme von Leistungen im Bereich Prävention und Rehabilitation (vgl. BMFSFJ 2006: 244). Eine positive Verjüngung des Alters ist bei Arbeitsmigrant/-innen demzufolge kaum erkennbar. Verjüngung findet allenfalls im Sinne des Auftretens alterstypischer gesundheitlicher Beeinträchtigungen in jüngeren Lebensjahren statt. Arbeitsmigrant/-innen altern insofern früher als Menschen ohne Migrationshintergrund. Für die Altenhilfeinstitutionen ist deshalb zu erwarten, dass sich in Bezug auf Arbeitsmigrant/-innen mehr kalendarisch jüngere Menschen mit bereits typischen Altersproblemen an sie wenden, als es bisher die Regel war. Diese Ratsuchenden sind oftmals durch komplexe gesundheitliche und psychische Beeinträchtigungen bei der Gestaltung ihres alltäglichen Lebens eingeschränkt. Um Versorgungslücken zu vermeiden, müssten altersspezifische Dienste, die eine untere Altersgrenze für die Inanspruchnahme ihrer Leistungen vorsehen, diese flexibel handhaben.
Entberuflichung Unter Entberuflichung fasst Tews (1993: 26ff.) den seit Ende der 1970er Jahre andauernden Trend zur Frühverrentung. Immer mehr ältere Arbeitnehmer/-innen können, auch wenn sie es wünschen, nicht bis zum Beginn der abschlagsfreien Altersrente erwerbstätig bleiben. Zudem erfolgt der Übergang in das Rentenalter häufig über eine Phase der Arbeitslosigkeit. Die Chancen der Reintegration älterer Arbeitssuchender in den Arbeitsmarkt sind gering, Frühverrentung erweist sich oftmals als ein Instrument der Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit. Es ist zu erwarten, dass die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ohne Arbeitsmarkt integrierende Maßnahmen zu einer weiteren Steigerung der Arbeitslosenquote der Älteren führen wird (vgl. BMFSFJ 2006: 58). Nicht auszuschließen ist, dass dadurch das Risiko der Altersarmut zunimmt (vgl. IAB 2007). Die Entberuflichung des Alters stellt sich – insbesondere für Migrant/-innen – als Kernproblematik des Altersstrukturwandels heraus. Die Partizipation am Erwerbsleben ist von ihrer Bedeutung her nach wie vor gesellschaftlich zentral. Der ›Normallebenslauf‹ gruppiert sich um Erwerbsarbeit herum und bestimmt den gesellschaftlich anerkannten Beginn der Lebensphase Alter. Ein vorzeitiges, unfreiwilliges Ausscheiden, von dem ältere Migrant/-innen überproportional betroffen sind, führt dementsprechend zu gesellschaftlichen Anerkennungsverlusten und zu Irritationen des Selbstwertgefühls. Für Arbeitsmigrant/-inbedingen sich. Aus statistischer Sicht steigt mit der Höhe des Bildungsstandes die Lebenserwartung einer Person. Zudem kann über Bildung die Eigenverantwortung gegenüber der eigenen Gesundheit und die Kooperation im Behandlungsprozess einer Krankheit erheblich gesteigert werden.
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nen, deren Migrationsprojekt ursprünglich an Erwerbsarbeit gekoppelt war, bedeutet Entberuflichung den Wegfall ihres Migrationsgrundes. Die Phase des Übergangs in den Ruhestand löst bei vielen eine persönliche Lebensbilanzierung aus, die vor allem um die Frage kreist, ob der Migrationszweck, d.h. das Erreichen eines gewissen materiellen Standards, erfüllt werden konnte. Dabei werden oftmals neue Mobilitätsgedanken in Gang gesetzt und eine mögliche Rückkehr ins Herkunftsland erwogen (siehe unten). Die Statistiken belegen, dass diese Lebensbilanz in vielen Fällen eher negativ ausfallen dürfte, denn die Einkommenssituation erweist sich als verhältnismäßig ungünstig. Das verfügbare Einkommen alter Migrant/-innen liegt um ein Fünftel unter dem der Deutschen, das der Alten mit türkischem Migrationshintergrund sogar nur bei 58 % (vgl. BMFSFJ 2006: 234). Da Migrant/-innen türkischer Herkunft häufiger in größeren Haushalten leben, zeigen sich die Einkommensunterschiede besonders deutlich beim Vergleich des Haushaltsnettoeinkommens pro Kopf. Dieses beträgt in ›türkischen‹ Haushalten mit einer Bezugsperson ab 65 Jahre 593 Euro gegenüber 1101 Euro in ›deutschen‹ Haushalten. Nach Ergebnissen des Sozio-oekonomischen Panels ist die eigene Zufriedenheit mit dem Einkommen bei der ausländischen Bevölkerung gering, sie hat sich sogar verschlechtert (vgl. Özcan/Seifert 2004: 15f.). Die durchschnittlich niedrigen Renten der Arbeitsmigrant/-innen begründen sich unter anderem in ihren kürzeren und brüchigeren Erwerbsbiographien. Alten Migrant/-innen aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien fehlen im Schnitt dreizehn rentenversicherte Jahre gegenüber deutschen Rentner/-innen (vgl. Mika/Tucci 2006). Ihr späterer Eintritt ins Sozialversicherungssystem, ihre überproportionale Betroffenheit von Arbeitslosigkeit sowie ihr geringes Einkommen als un- und angelernte Arbeitskräfte wirken sich auf die Rentenhöhe negativ aus. Allerdings zeigen sich bezüglich des Rentenbezugs auch positive Trends. Der Bezug von öffentlichen Renten hat zugenommen. Bei türkischen Migrant/-innen ist der Anteil der Rentenbezieher/-innen ab 65 Jahre von 64,5 % (1997) auf 79,4 % (2002) angestiegen (vgl. Özcan/Seifert 2004: 18). Die Rente wird zunehmend zur wichtigsten Einnahmequelle im Alter, der Bezug öffentlicher Transferleistungen geht zurück. Ihre Einbindung in das System der Alterssicherung hat sich insofern verbessert. Dessen ungeachtet trifft Migrant/-innen häufiger der Ausschluss aus dem Erwerbsleben. Die Generation der angeworbenen Arbeitsmigrant/-innen hat die Folgen der technologischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt besonders zu spüren bekommen. Ihr vermehrter Einsatz in den Wirtschaftsbereichen, die vom Arbeitsplatzabbau betroffen sind, z.B. in der verarbeitenden Industrie und dem Baugewerbe, sowie ihre geringe formale Qualifikation wirken sich negativ auf ihre Beschäftigungssituation aus (vgl. BMFSFJ 2006: 238). Im Jahr 2007 lag die Erwerbslosenquote der 55- bis 64-jährigen Personen mit Migrationshintergrund bei 10,1 % gegenüber 5,1 % bei den gleichaltrigen Personen ohne
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Migrationshintergrund (vgl. Menning/E. Hoffmann 2009: 17). Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit ist bei ihnen ebenfalls höher. Auch die Erwerbsbeteiligung entwickelt sich für einige Migrantengruppen rückläufig. Hier sind wieder Migrant/-innen türkischer Herkunft besonders betroffen. Die Erwerbstätigenquote der Personen mit Migrationshintergrund im Alter von 55 bis 64 Jahren betrug 2007 45,8 % gegenüber 51,8 % bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund im gleichen Alter (ebd.). Zu beobachten ist, dass Migrant/-innen im Rentenalter eine etwas höhere Erwerbsbeteiligung als Deutsche im Rentenalter aufweisen. Dieser Befund könnte auf die Notwendigkeit des Hinzuverdienens im Alter schließen. Nach wie vor sind Migrant/-innen zu einem hohen Anteil auf öffentliche Transferleistungen, wie Arbeitslosengeld, Grundsicherung oder Wohngeld, angewiesen. Dem fünften Altenbericht (2006: 241) zufolge lag der Anteil der Bezieher/-innen bei Migrant/-innen aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Altersgruppe ab 65 Jahre bei über 23 %. Das Armutsrisiko von Menschen mit Migrationshintergrund liegt deutlich über demjenigen der Gesamtbevölkerung. Nach Angaben von Menning/E. Hoffmann (2009: 22) beträgt das Armutsrisiko von Personen mit Migrationshintergrund ab 65 Jahre 27,1 %. Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt das Armutsrisiko in derselben Altersgruppe hingegen bei 9,7 %. In der Anwerbephase von Arbeitskräften waren berufliche Qualifikationen nicht erforderlich. Dass sich Arbeitsmigrant/-innen der ersten Generation wenig beruflich weiterbilden konnten, liegt vor allem daran, dass ihnen keine entsprechenden Bildungsangebote unterbreitet wurden. Ihre geringe Beteiligung an betrieblich organisierten Weiterbildungsmaßnahmen weist darauf hin, dass sie nicht vorrangig gefördert wurden (vgl. BMFSFJ 2006: 243). Dadurch stabilisierten sich die durch die Arbeitskräfteanwerbung ausgelösten Unterschichtungsvorgänge (vgl. Heckmann 1992: 92). Arbeitsmigrant/-innen blieben zeit ihres Berufslebens auf den untersten Positionen des Arbeitsmarktes, wohingegen einem Teil der einheimischen Arbeitskräfte der Aufstieg gelang. Am prekärsten bildet sich die Situation bei Migrant/-innen türkischer Herkunft ab. 84,6 % der über 65-Jährigen besaß im Jahr 2002 keine berufliche Ausbildung, 56,9 % verfügte nicht einmal über einen schulischen Bildungsabschluss (vgl. Özcan/Seifert 2004: 9ff.). Eng verbunden mit diesen Ergebnissen sind die oftmals sehr geringen deutschen Sprachkenntnisse der ersten Generation aus den Anwerbeländern, für die keine geeigneten Deutschkurse vorgehalten wurden.16 Zudem ist Analphabetismus ein relevantes Thema innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe. Im 16 | Nach Selbsteinschätzung halten im Jahr 2002 47,6 % der über 65-jährigen Migrant/-innen aus ehemaligen Anwerbeländern ihre Deutschkenntnisse für schlecht bzw. sehr schlecht (vgl. Özcan/Seifert 2004: 34). Gegenüber 1997 ist diese Selbsteinschätzung sogar um zirka das Doppelte gestiegen (24,9 %).
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Rentenalter haben mangelnde deutsche Sprachkenntnisse in mehrfacher Hinsicht Konsequenzen, z.B. bezüglich der Qualität der Versorgung im Alter. Die Kontaktaufnahme und die Verständigung mit Ärzten, Krankenhäusern, Pflegediensten oder Behörden werden erschwert. Alte Migrant/-innen sind oft abhängig von den Deutschkenntnissen ihrer Kinder. Der Aufbau intensiver sozialer Beziehungen zu Gleichaltrigen deutscher Herkunft ist kaum möglich. Das hat zur Folge, dass sich Migrant/-innen im Alter mehrheitlich in einem sozialen Umfeld bewegen, in dem sie ihre Herkunftssprache sprechen können (ebd.: 35). Bei Migrant/-innen, die in späteren Lebensjahren einwandern, ist die Migration selbst oft der ›Auslöser‹ ihrer Entberuflichung. Das kann schon für Migrant/-innen ab 40 Jahre der Fall sein.17 Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend bei Spätaussiedlern, die nach 1990 einwanderten, und bei jüdischen Kontingentflüchtlingen. Für sie ist die Entwertung ihrer beruflichen Qualifikationen durch die Migration eines der Hauptthemen. Die Berufsstruktur beider Einwanderergruppen charakterisiert sich durch einen hohen Anteil an Akademiker/-innen vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Studien zur Sozialstruktur jüdischer Einwanderer aus Osteuropa bestätigen, dass sich ihr überdurchschnittlich hohes Qualifikationsniveau deutlich von demjenigen der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund abhebt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005; Gruber 1999; Schoeps/Jasper/Vogt 1999). Dies gelte insbesondere bei den über 40-Jährigen. In der Altersgruppe der über 60-Jährigen liegt der Anteil der Wissenschaftler/-innen sogar bei 55 % (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2005: 27). Die Nichtanerkennung oder Herabstufung ihrer im Herkunftsland erworbenen Berufsabschlüsse erschwert die Aufnahme einer ihrem Bildungsstand adäquaten beruflichen Tätigkeit. Trotz Fördermaßnahmen in Form von Deutschkursen und Anpassungsqualifikationen, die Spätaussiedlern gewährt werden, müssen diese, wenn sie überhaupt Arbeit finden, meist einen sozialen Abstieg in Kauf nehmen. Nicht alle Migrant/-innen haben damit vor ihrer Ankunft in Deutschland gerechnet, zumal eines der Hauptmotive der Migration die Hoffnung auf eine bessere ökonomische Perspektive darstellte.18 Der erlebte 17 | So fand eine Dortmunder Studie in Bezug auf Ingenieure aus Osteuropa heraus, dass deren Chance auf Anstellung fast nur für die unter 40-jährigen, berufserfahrenen Männer galt (vgl. Gruber 1999: 268). 18 | Nach einer Studie von Schoeps/Jasper/Vogt (1999) gilt dies zunehmend auch für jüdische Einwanderer. Politische Motive, vor allem Antisemitismus und Angst vor Bürgerkriegen, nehmen in ihrer Bedeutung ab (ebd.: 51). Die Migrationsmotive von (Spät-) Aussiedlern werden bei Wierling (2004) beschrieben. Auch bei ihnen nimmt die Bedeutung der deutschen Volkszugehörigkeit als Motiv gegenüber ökonomischen Beweggründen ab (vgl. Noack 2008: 135).
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Statusverlust führt nicht selten zu psychischen Belastungen und resignativem Rückzug (vgl. Schoeps/Jasper/Vogt 1999: 66). Nach Daten der Bundesagentur für Arbeit liegt die Arbeitslosigkeit von Spätaussiedlern in der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen im Jahr 2007 mit 33,8 % um zirka 13 % über derjenigen der Migrant/-innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007: 73). Positiver bewerten lässt sich die ökonomische Lage von (Spät-)Aussiedlern, die bereits im Rentenalter eingewandert sind. Aufgrund der pauschalen Anerkennung von Rentenversicherungsjahren im Herkunftsland und dem durchschnittlich besseren Ausbildungsniveau liegen ihre Renten im Schnitt höher als bei den Arbeitsmigrant/-innen, wenngleich sie noch um 6 % unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegen (vgl. Mika/Tucci 2006). Deutsche Sprachkenntnisse sind auch bei Einwanderern aus Osteuropa als eher gering einzuschätzen. Zwar kann gerade die ältere Generation der (Spät-) Aussiedler häufig deutsch sprechen. Hierbei handelt es sich jedoch meist ausschließlich um mündliche Kenntnisse, die zudem einen altdeutschen Dialekt aufweisen, der in Deutschland kaum zur erfolgreichen Kommunikation reicht. Ab den 1990er Jahren nahm der Anteil der Einwanderer mit Deutschkenntnissen trotz Nachweispflicht im Herkunftsland deutlich ab. Die veränderte Zusammensetzung der Einwanderergruppe, die nun überwiegend aus russischen Familienangehörigen bestand, ist dafür mit ausschlaggebend (vgl. I. Bauer/Giesche 2004: 8). Für Migrant/-innen aus Nicht-EU-Staaten, insbesondere für die als Asylsuchende Eingereisten, wird ein hohes Altersarmutsrisiko prognostiziert. Dieses ergibt sich in erster Linie aus ihrem nicht gleichrangigen Arbeitsmarktzugang. Aufgrund der rechtlichen Bestimmung, dass ein Arbeitsplatz erst dann von ihnen beansprucht werden kann, wenn sich kein ähnlich qualifizierter Deutscher oder EU-Bürger findet, sind sie beim Erwerb von Rentenanwartschaften deutlich benachteiligt. Die 2007 in Kraft getretenen Erleichterungen des Arbeitsmarktzugangs, vor allem für Geduldete, verweisen bisher nicht auf deutliche Verbesserungen (vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007: 166f.). Der Umgang mit den Folgen der Entberuflichung, die sich vor allem in materiell prekären Lebenslagen niederschlägt, muss eines der zentralen Themen in der Beratung alter Migrant/-innen sein, da diese ganz entscheidend die Lebensgestaltungsmöglichkeiten im Alter prägen. Daneben werden auch Bewältigungshilfen bei biographischen Übergängen – von der Erwerbsarbeit in Phasen der Arbeitslosigkeit und in den Ruhestand – relevant. Mobilität im Alter, d.h. die Lebensoptionen des Zurückkehrens ins Herkunftsland oder des Pendelns zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland, stellt sich dabei als eine spezifische Thematik für die Institutionen der Altenhilfe heraus (siehe unten).
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Feminisierung Alter sei – so die These von der Feminisierung – in struktureller Hinsicht weiblich (vgl. Tews 1993: 28ff). Trotz Angleichungstendenzen ist das Geschlechterverhältnis der älteren Bevölkerung nach wie vor unausgeglichen. Die längere Lebenserwartung von Frauen um durchschnittlich 5,5 Jahre und die noch heute spürbaren Folgen des Zweiten Weltkriegs sind dabei hauptsächlich ausschlaggebend. Ungefähr drei Fünftel der über 60-Jährigen und sogar drei Viertel der über 80-Jährigen sind heute Frauen (vgl. Naegele 2006: 12). Diese demographische Struktur wirkt sich auch in qualitativer Hinsicht aus. Tews verweist auf eine Reihe von Folgen (vgl. Tews 1993: 29). Frauen seien weit häufiger von Verwitwung betroffen, könnten dementsprechend seltener auf Hilfen des Ehepartners bauen und seien stärker auf familiäre und nachbarschaftliche Kontakte angewiesen. Tews geht von einer »kumulativen Benachteiligung« von Frauen aus (ebd.). Bedingt durch die für die heutige Generation der Älteren noch deutlich wirksame geschlechtsspezifische familiäre Rollenteilung (vgl. Schroeter 2000: 97) befänden sie sich statistisch häufig in prekären Lebenssituationen. Aufgrund ihrer vergleichsweise niedrigen Renten seien sie stärker von Altersarmut betroffen als Männer und angesichts des großen Anteils Alleinlebender im Bedarfsfall abhängiger von institutionellen Hilfen. Für die Bevölkerung mit Migrationshintergrund lässt sich keine ähnlich deutliche strukturelle Feminisierung feststellen, wie für die deutsche Gesellschaft insgesamt. Die Zahlen des Mikrozensus 2005 verweisen auf Unterschiede innerhalb der Älteren mit Migrationshintergrund. Während bei (Spät-)Aussiedlern ab 65 Jahre der Frauenanteil (59 %) sogar leicht über dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung insgesamt (58,2 %) liegt, überwiegt bei Migrant/-innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit deutlich die Zahl der Männer. Bei den über 65-Jährigen beträgt ihr Anteil 57 %. Die ehemalige Anwerbepolitik der Bundesrepublik, die sich primär auf junge Männer konzentrierte, drückt sich hierin aus. Viele dieser Männer blieben trotz Familiennachzugsmöglichkeiten bis ins Alter ledig. Allerdings wird sich das Geschlechterverhältnis perspektivisch angleichen. Schon in der Altersgruppe der 45- bis 65-Jährigen liegt der Männeranteil nur noch bei 51,7 %. Frühere Forschungen zeichneten ein vorrangig defizitäres Bild von alten Migrantinnen. Sie seien in extremer Weise armuts- und marginalisierungsgefährdet sowie gesundheitlich stark beeinträchtigt. Verwitwete würden dabei hauptsächlich betroffen sein (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1993b: 68). Neuere Studien, vor allem die von Matthäi (2004), konnten diese Befunde nur zum Teil bestätigen. Matthäi zufolge sei »das Klischee der älteren ›hilf- und sprachlosen Migrantin‹« zu revidieren (ebd.: 216). Armutsrisiken verteilten sich nicht gleich. Geschiedene Frauen seien erheblich stärker gefährdet als Verwitwete, die zum Teil auf zwar geringe, aber doppelte Rentenbezüge zurückgreifen könnten. Gleichwohl sei jede dritte Migrantin auf öffentliche Transferleistungen ange-
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wiesen. Im Gegensatz zur deutschen Bevölkerung läge hier jedoch kein primär weibliches Problem im Alter vor. Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Bezug von Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsleistungen zeigten sich kaum. Dies könne unter anderem auf die geringeren Alleinstehendenzahlen und die häufige familiäre Unterstützung zurückgeführt werden (vgl. T. Bauer/Loeffelholz/ Schmidt 2004). Der Gesundheitszustand alter Migrantinnen sei allerdings deutlich schlechter (vgl. Matthäi 2006a und 2004: 136ff.). Multimorbidität, psychosomatische und psychische Beeinträchtigungen führten zu einem frühen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und zu einem erhöhten Pflege- und Betreuungsbedarf in verhältnismäßig jungen Lebensjahren. Ihre Kenntnisse über Angebote der Altenhilfe seien indes gering (dies. 2004: 218). Die soziale Einbindung älterer allein stehender Migrantinnen sei Matthäi (2006b) zufolge differenziert zu betrachten. Ihre sozialen Kontakte orientierten sich weder ausschließlich an Personen des eigenen Herkunftslandes, noch sei ihre Lebenslage von extremer Isolation gekennzeichnet. Auch laut Vahsen (2000a) sei die Lebenssituation der von ihm untersuchten älteren türkischen Migrantinnen nicht einseitig defizitär zu beurteilen. Nach Selbsteinschätzung falle die Bilanz des eigenen Lebens trotz materieller, gesundheitlicher und sozialer Erschwernisse oftmals positiv aus. Sowohl (Spät-)Aussiedlerinnen als auch jüdische Einwanderinnen aus Osteuropa sind mehrheitlich im Familienverbund migriert. Dass daraus eine sehr gute familiäre Eingebundenheit auch im Alter bei Unterstützungsbedarf abzuleiten sei, ist nicht zwingend zu folgern. Die Familien sehen sich in der Migration einer harten Belastungsprobe ausgesetzt. Ihre prekäre berufliche und soziale Situation, oft von Anerkennungsverlusten geprägt, sowie die Auseinandersetzung mit einem anderen Wertesystem in der deutschen Gesellschaft führen zu Spannungen zwischen den Generationen (siehe unten) und auch zwischen Ehepartnern. In ihrer Studie über jüdische Einwanderer konnten Schoeps/Jasper/Vogt (1999: 89) einen Zusammenhang zwischen Aufenthaltsdauer und dem Anstieg der Scheidungsquote feststellen. Die Initiative für die Scheidung ginge dabei mehrheitlich von den Frauen aus. Die Bedeutung, die dieser Befund für die finanzielle Absicherung älterer Frauen hat, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. In Bezug auf (Spät-)Aussiedlerinnen bzw. russische Ehefrauen von Spätaussiedlern beschreibt Wierling (2004: 204f.) die Tendenz, im Einwanderungsland abhängiger von ihren Ehemännern zu werden, da sie trotz eines gleich hohen Bildungsniveaus schwerer einen Arbeitsplatz finden, und zwar vor allem dann, wenn sie in Ingenieursberufen qualifiziert sind. Für Frauen bedeutet diese Situation gleichzeitig eine soziale Rückstufung, da in Russland ihre eigene Berufstätigkeit selbstverständlich war. Die nur eingeschränkt beobachtbare strukturelle Feminisierung des Alters bei der Migrantenbevölkerung verweist die Altenhilfe auf mindestens zwei Themen. Sie hat sich mit allein stehenden Migrantinnen und deren gesellschaft-
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licher Einbindung ebenso auseinanderzusetzen wie mit der Situation lediger und geschiedener Männer. Die Frage nach der Qualität von Familiennetzen als Hilfs- und Unterstützungspotenziale im Alter muss gestellt werden. Grundsätzlich ist ein Trend zur Singularisierung auch bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beobachtbar, wenn auch gegenwärtig noch auf niedrigerem Niveau. Dieser wirkt sich auf die Versorgungssituation im Alter sowohl bei Männern als auch bei Frauen aus und verändert den Stellenwert von Institutionen der Altenhilfe.
Singularisierung Der Anteil allein lebender Älterer steigt kontinuierlich (vgl. Tews 1993: 30). Während sich die Zahl der älteren Menschen von 1950 bis 1995 um 170 % erhöht habe, sei im gleichen Zeitraum die Zahl der Einpersonenhaushalte um 340 % gestiegen (vgl. Clemens 2001: 501). Sowohl Männer als auch Frauen werden von dieser Entwicklung erfasst, Frauen allerdings mit 85 % der über 65-Jährigen noch deutlich öfter. Mehrgenerationenhaushalte sind heute zur Ausnahme geworden. Neue gemeinschaftliche Wohnformen, wie Mehrgenerationenprojekte und Altenwohngemeinschaften, fallen quantitativ bisher nicht ins Gewicht, werden sich jedoch zukünftig verbreiten (vgl. Naegele 2006: 12). Obgleich es sich in der Mehrheit der Fälle um eine durch Verwitwung oder Scheidung erzwungene Singularisierung handelt, gewinnt auch die freiwillige, selbst gewählte Form des Alleinlebens – »Singularisierung als Lebensstil« – an Bedeutung (vgl. Tews 1993: 31). Für die Lebensqualität im Alter folgt daraus, dass der Bedarf an verlässlichen sozialen Kontakten im nahen Umfeld wächst. Deren Funktion besteht nicht ausschließlich darin, das hohe Risiko der Isolation und Vereinsamung Alleinstehender zu vermeiden, sondern auch darin, Hilfs- und Unterstützungspotenziale bei Bedarf anzubieten. Alleinleben bedeutet indes nicht zwangsläufig Alleinsein. Veränderte Familienstrukturen führten – so Schroeter (2000: 95) – keineswegs zur Entsolidarisierung. Derzeit stellt die familiäre Unterstützung faktisch die Hauptversorgungsform im Alter, auch bei Pflegebedürftigkeit, dar. Zirka drei Viertel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, über die Hälfte von ihnen durch Familienangehörige (vgl. BMFSFJ 2002: 193). Prognosen gehen jedoch mittelfristig von einem Rückgang der familiären Pflegepotenziale aus (vgl. Blinkert/Klie 2005). Schrumpfende familiäre Netze und die wachsende Berufstätigkeit von Töchtern, die in der Regel die Hilfen übernehmen, sind dabei ausschlaggebend. So genannte soziale Konvois im außerfamiliären Bereich, d.h. Netzwerke, die über familiäre Bindungen hinausreichen und den älteren Menschen durch das Leben begleiten, nehmen deshalb an Bedeutung zu (vgl. Opaschowski 2005). Generationenübergreifende Beziehungen im Bereich von Nachbarschaft und Bürgerengagement spielen dabei eine besondere Rolle, da sich der eigene
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Freundeskreis mit wachsendem Alter in der Regel reduziert (vgl. hierzu auch Dörner 2007). In Bezug auf Migrant/-innen hält sich hartnäckig die Auffassung, dass deren familiäre Netze weit intakter seien als die der deutschen Bevölkerung. Institutionelle Hilfen für Ältere seien deshalb meist gar nicht erforderlich (vgl. kritisch Kaewnetara/Uske 2001: 152). Weitgehend unbeachtet bleibt, dass auch bei ihnen ein Trend zur Singularisierung erkennbar ist. Zum Zeitpunkt der Erhebung des Mikrozensus 2005 (vgl. Statistisches Bundesamt 2007) sind 34,5 % der über 65-Jährigen mit Migrationshintergrund allein stehend. Dieser Anteil liegt nur geringfügig unter dem der Älteren ohne Migrationshintergrund, der bei 36,5 % liegt. Etwas größere Unterschiede zeigen sich bei Betrachtung des Anteils derer, die auch alleine leben. Dies ist bei einem Drittel der Älteren ohne Migrationshintergrund gegenüber 28,5 % der Älteren mit Migrationshintergrund der Fall. Ältere mit ausländischer Staatsangehörigkeit leben zu 24,3 % allein. Sie sind statistisch betrachtet seltener ledig und auch seltener verwitwet. Die Untersuchungen von Olbermann (2003b) und Dietzel-Papakyriakou/Olbermann (1996) zeigen hinsichtlich der Beschaffenheit der sozialen Netzwerke und ihrer Unterstützungspotenziale weite Übereinstimmungen mit denen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Ältere Migrant/-innen seien zwar in relativ umfangreiche soziale Netze eingebunden, diese setzten sich jedoch überwiegend aus außerfamiliären Geselligkeitskontakten zusammen (vgl. Olbermann 2003b: 243). Geht es um praktische Hilfen im Alltag und um emotionale Unterstützung, reduziert sich dieses Netzwerk auf einige wenige verlässliche Bezugspersonen. Wie auch bei der deutschen Bevölkerung spielt hierbei die Kernfamilie die herausragende Rolle. Laut fünftem Altenbericht gebe es trotz häufig geäußerter gegenteiliger Annahmen keine Hinweise darauf, dass die intergenerative Solidarität in den Migrantenfamilien brüchig werde (vgl. BMFSFJ 2006: 248; siehe auch Dietzel-Papakyriakou 2005). Die Familienkohäsion werde vielmehr durch den gegenseitigen Austausch von sozialen Unterstützungsleistungen gestärkt. Neben den Hilfen, die alte Migrant/-innen seitens ihrer Kinder erhalten, tragen sie selbst durch die Übernahme zentraler Funktionen, vor allem in der Kinderbetreuung und in der Haushaltsführung, erheblich zur Entlastung des Familienlebens bei. Zu vermuten ist jedoch, dass aus ähnlichen Gründen wie in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund die familiären Unterstützungspotenziale für ältere Migrant/-innen längerfristig schrumpfen werden. Da diese Unterstützungspotenziale schon heute auf nur wenige Personen begrenzt bleiben und die Inanspruchnahme entlastender Hilfen durch professionelle Dienste aufgrund von Nutzungsbarrieren sehr gering ist, wird von einem hohen
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Überlastungsrisiko bei pflegenden Angehörigen in Migrantenfamilien ausgegangen (vgl. Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 1996a: 40).19 Soziale Konvois im außerfamiliären Bereich konstituieren sich bei alten Migrant/-innen vornehmlich aus Personen des eigenen Herkunftslandes. Dies ist keine Besonderheit gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Lebenswelttheoretisch betrachtet spielen hierbei die in ähnlichen Milieus geteilten Hintergrundannahmen und Deutungsmuster, die Fraglosigkeit des Alltags, eine ausschlaggebende Rolle (vgl. Schütz/Luckmann 2003). Eine Besonderheit besteht jedoch darin, dass sich ein Teil des sozialen Netzwerkes von Migrant/-innen über transnationale Räume hinweg erstreckt und aus verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zum Herkunftsland besteht (vgl. Pries 2008). Für Migrant/-innen stellen so genannte ethnische Netzwerke im Einwanderungsland Orte dar, an denen migrationsbezogene Erfahrungen ausgetauscht, soziale Anerkennung und Wertschätzung erfahren werden kann. Insbesondere für Migrant/-innen der ersten Generation, die oft nur über begrenzte Deutschkenntnisse verfügen, bietet ein kulturell und sozial homogenes Umfeld mehr Möglichkeiten, symmetrische Beziehungen aufzubauen (vgl. Olbermann 2003b: 244). Die selbstorganisierten Migrantenvereine nehmen in diesem Zusammenhang eine herausgehobene Stellung ein. Sie werden mehrheitlich von älteren Männern frequentiert, die dort die Möglichkeit haben, ihre Herkunftssprache zu sprechen, sozialen und religiösen Gewohnheiten nachzugehen (vgl. BMFSFJ 2006: 250). Migrantenvereine haben sich mit den Arbeitsmigranten der ersten Generation zu einem wichtigen Baustein der offenen Altenarbeit entwickelt. Es sind Treffpunkte, an denen sich Migranten im Rentenalter freiwillig engagieren. Dieses Engagement erklärt sich aus der Migrationsgeschichte, denn die Migrantenvereine galten in der Zeit vor der Familienzusammenführung für viele als eine Art Familienersatz (ebd.: 249). Die Männerdominanz in diesen Vereinen steht in einem deutlichen Kontrast zu der Frauendominanz in den offenen Altenhilfeangeboten, die von den Älteren ohne Migrationshintergrund besucht werden. Entsprechend den in der Netzwerkforschung ermittelten vielfachen Formen der Unterstützung durch soziale Netzwerke20 erfüllen migrantische Selbstorganisationen für alte Menschen potenziell Aufgaben auf unterschiedlichen Ebenen des Alltags. Sie bieten neben Geselligkeit und herkunftssprachiger Kommunikation kleinere Unterstützungsleistungen, Informationsaustausch und Alltagsberatung. Laut fünftem Altenbericht sei das Solidaritäts- und Selbst19 | Zu den Nutzungsbarrieren, die älteren Migrant/-innen den Zugang zu sozialen Diensten erschweren, vgl. Kapitel 3.1. 20 | Nestmann (2005) unterscheidet die folgenden zentralen Formen der Unterstützung durch soziale Netzwerke: emotionale und kognitive Unterstützung, informativberatende Hilfen sowie finanziellen Beistand.
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hilfepotenzial in den so genannten ethnischen Netzwerken mitunter beachtlich (ebd.). Sie haben überdies eine Brückenfunktion zu formellen Hilfeangeboten. In diesem Zusammenhang kann sich die Homogenität der Netzwerke allerdings auch negativ auswirken. Denn sie führt dazu, dass die Brücken in andere Netzwerke, z.B. der Erhalt von Kontakten zu ehemaligen Arbeitskolleg/-innen, der Aufbau von Beziehungen zur Nachbarschaft oder die Nutzung der Regelinstitutionen der Altenhilfe, nicht gelingen. Je heterogener ein Milieu beschaffen ist, desto leichter entstehen Zugänge zu weiteren Netzwerken, die wiederum gerade für Singles im Alter von Nutzen sein können. Für (Spät-)Aussiedler und jüdische Einwanderer, die im Alter nach Deutschland einreisen, ist die Kernfamilie der einzige verlässliche Bezugspunkt. Sie haben oftmals Schwierigkeiten, sich außerhalb der Familie zu orientieren und neue soziale Beziehungen aufzubauen (vgl. Dronia 2002: 52). Die anfangs enge Familienbindung verliert aus unterschiedlichen Gründen in vielen Familien an Stabilität. Während sich die ältere Generation weiter, teilweise sogar stärker auf Kultur und Bräuche des Herkunftslandes konzentriert, erfährt die jüngere Generation unter anderem durch ihre Partizipation am Arbeitsmarkt oder in der Schule schneller und intensivere Sozialisationsprozesse in das Wertesystem der Einwanderungsgesellschaft (vgl. Wierling 2004). Es entsteht eine Abhängigkeit der Älteren von den Kindern und Enkelkindern. Diese übernehmen mitunter schon in sehr jungen Jahren die Außenvertretung ihrer Familie. Während einige Familien durch diese Situation enger zusammenwachsen, kommt es in anderen Familien zu generativen Spaltungen. Trotz zahlreicher selbstorganisierter Vereine, die für russischsprachige Migrant/-innen in Deutschland existieren, verfügen die Älteren meist nur über geringe soziale Kontakte (vgl. Schoeps/Jasper/Vogt 1999: 92). Für jüdische Einwanderer wird oft die jüdische Gemeinde zur einzigen Anlaufstelle. Die jüdischen Gemeinden haben insbesondere durch die älteren Einwanderer einen sehr großen Zuwachs erfahren. Der Studie von Schoeps/Jasper/Vogt zufolge sei das Judentum jedoch für die Mehrheit der Älteren weitgehend fremd. Die Gemeinde fungiere primär als informelle soziale Beratungs- und Kontaktstelle (ebd.: 122). In der Beratung der Altenhilfe ist der Trend zur Singularisierung bei alten Migrant/-innen ebenso wie ihre existierenden familiären und außerfamiliären Unterstützungspotenziale ausgewogen mit einzubeziehen. Aufgrund der Pluralisierung von Lebensformen auch innerhalb der Migrantenbevölkerung ist im Einzelfall genau zu prüfen, an welchen Stellen diese Potenziale stabilisiert und ausgebaut werden können. Pauschal von ihrer Funktionsfähigkeit auszugehen, erweist sich im Beratungsprozess als nicht ertragreich. Dabei stellt sich die Herausforderung der engeren Kooperation zwischen der institutionellen Altenhilfe und den migrantischen Selbstorganisationen. Alten Migrant/-innen muss der Zugang zu Netzwerken außerhalb ihrer Herkunftsgruppen bei Bedarf erleichtert werden.
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Hochaltrigkeit Der Trend zur Hochaltrigkeit trifft auf die Migrantenbevölkerung bisher am wenigsten zu. Im vierten Altenbericht der Bundesregierung wird der Beginn des hohen Alters auf den Altersabschnitt zwischen dem 80. und dem 85. Lebensjahr festgelegt (vgl. BMFSFJ 2002: 54).21 1,9 % der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund haben laut Mikrozensus 2005 mindestens das 85. Lebensjahr erreicht. Betrachtet man die Bevölkerung mit Migrationshintergrund, so liegt der Anteil bei lediglich 0,4 %. Bei der ausländischen Bevölkerung beträgt er sogar nur 0,2 %, das entspricht 10.100 Personen.22 Die Wahrscheinlichkeit, ein hohes Alter zu erreichen, ist allerdings gesamtgesellschaftlich gestiegen, so dass von einem Anwachsen dieses Personenkreises in allen Bevölkerungsgruppen langfristig ausgegangen werden kann (vgl. Tews 1993: 32). Häufig potenzieren sich mit wachsendem Alter dessen negative Seiten. Singularisierung durch Verwitwung und schrumpfenden Freundeskreis nimmt zu, körperliche und geistige Einschränkungen, vor allem in Form von chronischen Erkrankungen, Multimorbidität und Demenz, werden häufiger, Abschied, Tod und Trauer sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensende rücken thematisch in den Vordergrund. Jedoch zeigt gerade die durchschnittlich schlechte Gesundheitssituation von alten Migrant/-innen unter 80 Jahren, dass das kalendarische Alter wenig aussagt über das Wohlbefinden alter Menschen. Die negativen Prozesse des Alterns können bereits früh einsetzen. Gleichzeitig ist Hochaltrigkeit nicht zwangsläufig mit den oben genannten Entwicklungen verbunden. Unstrittig ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, im hohen Alter pflegebedürftig zu werden oder an einer Demenz zu erkranken (vgl. BMFSFJ 2002: 54). Der fachliche Kenntnisstand über die Situation und die Versorgung pflegebedürftiger und demenziell erkrankter Migrant/-innen ist als unzureichend, teilweise sogar als problematisch zu beurteilen. Eine der wenigen migrationsspezifischen Auswertungen der Pflegegutachten nach Sozialgesetzbuch XII des Gesundheitsamtes Bremen (2007) zeigt, dass immerhin ein Drittel aller Antragsteller im Analysezeitraum Migrant/-innen waren, die Hälfte von ihnen aus russischsprachigen Herkunftsländern. Sie beantragen mehrheitlich Pflege21 | An dieser Stelle des vierten Altenberichts werden verschiedene Definitionen des uneindeutigen Begriffs »Hochaltrigkeit« gegenübergestellt und darauf hingewiesen, dass aufgrund der Individualität von Alterungsprozessen jegliche zeitliche Bestimmung des Beginns der Lebensphase dem Grunde nach fraglich sei und hier ausschließlich pragmatischen Zwecken folge. 22 | Dieser derzeit geringe Anteil an Hochaltrigen mit Migrationshintergrund ist in erster Linie migrationsgeschichtlich bedingt. Die im Alter von 20 bis 30 Jahren angeworbenen Arbeitskräfte, die in den 1960er und 1970er Jahren einwanderten, erreichen erst in einigen Jahren die ›Hochaltrigkeit‹.
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geldleistungen, da Hilfen im familiären Umkreis übernommen werden. Die Durchführung häuslicher Pflege wird allerdings maßgeblich durch die Wohnsituation der Pflegebedürftigen beeinflusst. Die vergleichsweise schlechte Qualität der Wohnungen alter Migrant/-innen (vgl. Özcan/Seifert 2004: 21ff.; sowie Olbermann 2007) kann sich hier nachteilig auswirken. Mangelhaft ausgestattete, nicht altengerechte Wohnungen, vor allem im sanitären Bereich, schränken die Selbstständigkeit im Alter früher als nötig ein und erschweren die häusliche Versorgung. In der Arzt-Patienten-Interaktion bei Pflegebegutachtungen durch die Medizinischen Dienste der Krankenkassen wurden Kommunikationsprobleme festgestellt (vgl. Gesundheitsamt Bremen 2007: 24ff.). Sprachliche und kulturelle Verständigungsdefizite führten nicht selten zu rechtlichen Nachteilen für die Antragsteller und zu gutachterlichen Fehleinschätzungen. So finde sich in den untersuchten Bremer Akten zum einen »eine gewisse Ratlosigkeit der Gutachter angesichts unvertrauter Verhaltensweisen und Einstellungen der Probanden« (ebd.: 27). Zum anderen wird die medizinische Anamnese aufgrund ungenügender Deutschkenntnisse der Patient/-innen teilweise nicht zu Ende geführt (ebd.: 28). Eingesetzten Dolmetschern mangele es häufig an medizinischer Qualifikation. Nicht selten werden Familienangehörige herangezogen oder ein Leistungsanbieter ambulanter Pflege. Letzteres sei aufgrund fehlender Neutralität grundsätzlich als unzulässig anzusehen, entspricht jedoch alltäglicher Praxis. Bei der Diagnose von Altersdemenzen ergeben sich ähnliche Begutachtungsprobleme. Die existierenden sprachlastigen Testverfahren erweisen sich – laut Nationalem Integrationsplan (Die Bundesregierung 2007: 100) – für die Begutachtung von Migrant/-innen als ungeeignet. Die wenigen Forschungen zu demenziell erkrankten Migrant/-innen (vgl. Huismann/Raven/A. Geiger 2000) verweisen darauf, dass diese Alterserkrankung und ihr Verlauf in weiten Teilen der Migrantenbevölkerung unbekannt sind. Dies führt zu verzerrten Vorstellungen über die Ursachen von Demenzen. Schamgefühle hindern Angehörige zudem daran, Hilfe von Außen hinzuzuziehen. Oftmals fehlen adäquate Informations- und Beratungsangebote für Migrant/-innen. Die hohen psychischen und körperlichen Belastungen, die mit der Versorgung demenziell erkrankter Angehöriger im engen Familienkreis verbunden sind, werden derzeit meist allein getragen. Für die Beratung der Altenhilfe ist zu beachten, dass – trotz der derzeit geringen Anzahl hochbetagter Migrant/-innen – Altersproblematiken, die typischerweise mit dem hohen Alter assoziiert werden, dennoch bereits Themen sind. Sie treten bei Migrant/-innen durchschnittlich früher auf. Insbesondere in extremen Versorgungssituationen, wie der Betreuung Demenzkranker durch Angehörige, besteht eine Aufgabe der Altenhilfe darin, familiäre Helfer/-innen zu stützen und ihnen Entlastungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auch
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wird die Bedeutung stationärer Angebote für Migrant/-innen voraussichtlich steigen.
Transnationale Mobilität Aus der Perspektive der alten Migrant/-innen lässt sich den Tews’schen fünf Merkmalen des Altersstrukturwandels ein sechster Trend hinzufügen, der hier mit dem Begriff der ›transnationalen Mobilität‹ umschrieben werden soll. Dieser Trend wird in seiner Bedeutung erst durch die Migrantenbevölkerung sichtbar, wenngleich er mittlerweile auch für die ältere Bevölkerung ohne Migrationshintergrund erkannt wurde. Bereits im dritten Altenbericht der Bundesregierung wird konstatiert: »Insgesamt kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass die Älteren von heute wesentlich mobiler geworden sind, speziell wenn es um die Überwindung von großen Entfernungen geht.« (BMFSFJ 2001: 257)
Nicht nur in Bezug auf ihre Reisebereitschaft ließe sich diese Feststellung treffen, sondern auch bezüglich längerfristiger Verlagerungen ihres Lebensmittelpunktes über Staatsgrenzen hinweg (ebd.: 253). So genannte Ruhestands-Migrationen haben seit den 1980er Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen (vgl. BMFSFJ 2006: 252). Das Wohnen an mehreren Orten im Wechsel, meist aus klimatischen Gründen, ist zu einer Option der Lebensplanung im Alter geworden, die sich allerdings von derjenigen der Migrant/-innen unterscheidet, die ebenfalls das Pendeln zwischen Herkunftsregion im Ausland und Wohnort in Deutschland für sich in Betracht ziehen.23 Beide Phänomene unterstreichen zwar den Trend zur Mobilitätsbereitschaft alter Menschen und weisen insbesondere in der Nutzung von Vorteilen zweier Regionen durch die pendelnden Älteren – z.B. das Klima in der einen und die Gesundheitsversorgung in der anderen Region – Gemeinsamkeiten auf. Sie können jedoch nur bedingt miteinander gleichgesetzt werden. Migrant/-innen haben migrationsgeschichtlich andere Beweggründe. Sie verbinden auch nach langer Aufenthaltsdauer in Deutschland zum Teil intensive Beziehungen mit dem Herkunftsland (ebd.: 252). Verwandtschaftliche Kontakte, kulturelle Bindungen, erworbene Immobilien oder auch klimatische Gründe motivieren Migrant/-innen im Alter zu längeren Aufenthalten von teilweise über sechs Monaten im Jahr. Pendeln ist für viele deshalb zur favorisierten Option geworden, da es ihnen – so Krumme 23 | Das quantitative Ausmaß der Pendelmigrationen lässt sich statistisch für beide Bevölkerungsgruppen nicht zuverlässig bestimmen, da eine offizielle Anmeldung beider Wohnsitze oftmals nicht erfolgt (vgl. BMFSFJ 2006: 252). In Bezug auf deutsche Rentner/-innen gehen Schätzungen von zirka einer halben Millionen Ruhestands-Migrant/-innen allein in Spanien aus.
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(2003) – die »Nutzung lokal gebundener Ressourcen« beider Länder ermöglicht. Die bereits beschriebenen Vorteile, die das Herkunftsland bietet, können durch die sozialen und materiellen Ressourcen des Einwanderungslandes ergänzt werden. Zu letzteren gehören vor allem die familiären Bindungen zu Kindern und Enkelkindern, die bessere soziale Sicherung, die gesundheitliche Versorgung und die vertrauten sozialen Verhältnisse. Neben weiteren Aspekten, wie die mit einer endgültigen Rückkehr verbundenen ausländer- und sozialrechtlichen Nachteile bei Nicht-Europäer/-innen sowie die Befürchtung von Reintegrationsproblemen ins Herkunftsland, handelt es sich um gewichtige Bleibegründe, die dazu führen, dass eine definitive Rückkehr nur von einem sehr kleinen Teil ernsthaft in Betracht gezogen wird. Nach Erhebungen des Sozio-oekonomischen Panels beabsichtigt mehr als die Hälfte der über 64-Jährigen, für immer in Deutschland zu bleiben (vgl. Özcan/Seifert 2004: 31). Da die Migration bei Arbeitsmigrant/-innen ursprünglich sowohl politisch als auch subjektiv temporär angelegt war, ist die Rückkehr dennoch für viele eine sehr ernstzunehmende Frage, die oft nicht definitiv beantwortet wird. In vielen Fällen ist der Rückkehrwunsch zwar vorhanden, jedoch äußert er sich selten in konkreten Rückkehrabsichten (vgl. Meyer 2002: 73).24 Die Aufrechterhaltung von Rückkehrgedanken trotz immer wahrscheinlicher werdender dauerhafter Niederlassung erweist sich vielmehr als sozialpsychologisch funktional. Pagenstecher (1996: 167ff.) führt in diesem Zusammenhang drei mögliche Funktionskomplexe an. Rückkehrorientierung sei demnach erstens eine Abwehrstrategie, die sowohl auf Ausgrenzungserfahrungen als auch auf Existenzunsicherheiten im Einwanderungsland reagiere. Sie stabilisiere zweitens Loyalitätsbekundungen zur eigenen Herkunftsgruppe und zum Herkunftsland. Mit dem Festhalten an der Rückkehr signalisierten Migrant/-innen ihren Zugehörigkeitswunsch und richteten sich gegen eine vollständige »Assimilation an Deutschland« (ebd.: 169). Auch Erwartungen von Verwandten im Herkunftsland können in diesem Zusammenhang bedeutsam sein. Drittens diene die Rückkehrorientierung der individuellen Sinnstiftung und der Sicherung biographischer Kontinuität. Sie aufzugeben wäre – so Pagenstecher – auch ein Aufgeben der mit der Migration verbundenen Ziele, auf die mit aller Kraft hingearbeitet wurde. Die potenzielle Möglichkeit der Rückkehr kann eine ›mentale‹ Ressource sein, die bei der Bewältigung von Krisen und Konfliktsituationen im Alter unterstützend wirkt. Fraglich wird sie allerdings dann, wenn sie im Alltag handlungsleitend wird und zu einer dauerhaft provisorischen Lebensplanung führt.
24 | Pagenstecher (1996) zufolge habe die faktische Niederlassung der ersten Generation von Arbeitsmigrant/-innen bereits Mitte der 1960er Jahre begonnen und sei seit Mitte der 1980er Jahre weitgehend abgeschlossen. So steigerte auch die Rückkehrförderungspolitik der Bundesrepublik 1983/84 die Rückkehrbereitschaft kaum.
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Die Nichtrealisierung von geäußerten Rückkehrabsichten ist insofern weder eine naive Vorstellung, wie sie in dem Begriff der ›Rückkehrillusion‹ oft zum Ausdruck gebracht wird, noch ein Anzeichen gescheiterter Integration. Sie erweist sich vielmehr als sinnvolle strategische Metapher zur Bewältigung der Migrationssituation und sie begleitender innerer Widersprüche und Dilemmata (ebd.: 174).25 Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Einstellungen alter Migrant/-innen zur Frage der Rückkehr sehr individuell und vor allem im Zeitverlauf wandelbar sind. Das Pendeln erlaubt indes, so lange es individuell möglich ist, die Beantwortung der Rückkehrfrage unentschieden zu lassen (vgl. Özcan/ Seifert 2004: 37). Es wirkt sich zudem positiv auf die Lebensqualität und -zufriedenheit alter Migrant/-innen aus, denn es gilt als »Ausdruck von Autonomie und Mobilitätskompetenz« (vgl. Krumme 2003: 8). Allerdings sind Pendelmöglichkeiten an Rahmenbedingungen gebunden, die über individuelle Aspekte wie Finanzen und gesundheitliche Mobilität hinausreichen. Einschränkungen des Krankenversicherungsschutzes und das Erlöschen von Aufenthaltsrechten bestimmen zu einem nicht unerheblichen Maß über die Realisierung. Anders gelagert ist die Mobilitätsbereitschaft unter alten (Spät-)Aussiedlern. Ihr Migrationsprojekt ist in der Regel von Anfang an auf Dauer angelegt. Ihnen geht es oftmals darum »eine Zukunft für die zweite Lebenshälfte« (Wierling 2004: 205) in Deutschland aufzubauen und ihren Kindern bessere Lebensperspektiven zu ermöglichen. Bisweilen fungieren Ältere, denen nach dem Bundesvertriebenengesetz deutsche Volkszugehörigkeit zugesprochen wird (§6 BVFG), für ihre russische Familie auch als Eintrittskarte nach Deutschland, ohne selbst den Migrationswunsch entwickelt zu haben. Biographisch ist das Leben vieler (Spät-)Aussiedler der älteren Generation aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion durch zwangsweise erfahrene Migrationen bestimmt (vgl. Wierling 2004). Aufgrund ihrer deutschen Abstammung waren sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von Umsiedlungen und Zwangsverschleppungen betroffen. Das Sprechen der deutschen Sprache war verboten. Während der »Kommandantur« von 1945 bis 1955 galten für sie extreme räumliche Einschränkungen. Sie durften ihren Wohnort nicht verlassen und hatten sich regelmäßig bei Behörden zu melden. Das so genannte Kriegsfolgenschicksal prägt noch heute die Älteren zum Teil auf traumatische Weise. Dass sie nach ihrer Einreise in Deutschland zunächst dem Wohnortzuweisungsgesetz unterliegen, das die freie Wohnortwahl für die Dauer von drei Jahren reglementiert, besitzt vor dem geschichtlichen Hintergrund dieser Bevölkerungsgruppe eine gewisse Ironie. Enttäuschungen nach einiger Zeit des Aufenthalts in Deutschland, die mit dem in Kauf zu nehmenden sozialen Abstieg oder mit anhaltenden Fremdheitsgefühlen verbunden sein können, führen auch bei (Spät-)Aussiedlern zu
25 | Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Schulte (1993).
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Rückkehrgedanken. Diese werden allerdings nur in wenigen Fällen umgesetzt (vgl. Wierling 2004: 209). Grenzüberschreitende Mobilität älterer Menschen ist bislang kein Thema der Altenhilfe. Es ist zu erwarten, dass in der Beratung alter Migrant/-innen Fragen, die mit dem Pendeln zwischen Einwanderungs- und Herkunftsland verbunden sind – und zwar vor allem sozialrechtliche – an Relevanz zunehmen werden. Alte Migrant/-innen schaffen und gestalten durch Pendelmigrationen zudem »transnationale Sozialräume« (Pries 2008), die zu neuen Formen sozialer Netzwerkbildung führen. Die funktionale Bedeutung dieser grenzüberschreitenden Beziehungen wird bisher wenig berücksichtigt. Es empfiehlt sich für die Altenhilfe, diesen Themen gegenüber Sensibilität zu entwickeln und die für Migrant/-innen notwendigen Bedingungen zu stützen, die ihnen eine individuelle Lebensplanung gewährleisten.
Fazit Beim Versuch einer Gesamteinschätzung der Lebenssituation alter Migrant/-innen werden zwei Linien erkennbar. Im Vergleich zu den Alten ohne Migrationshintergrund sind einerseits Ähnlichkeiten feststellbar, unter anderem im Hinblick auf eine zunehmende Differenzierung und in Teilen Verbesserung ihrer Lebenslage. Hier ist vor allem die zunehmende Integration von Migrant/-innen in das Rentensystem zu erwähnen. Andererseits zeigt sich nach wie vor eine deutliche sozialstrukturelle Schlechterstellung dieser Bevölkerungsgruppe insbesondere im materiellen und im gesundheitlichen Bereich. Mit Blick auf die einzelnen Trends des Altersstrukturwandels lässt sich im Ergebnis schließen, dass die prekären sozialen Bedingungen den größten Einfluss auf die Lebensqualität alter Migrant/-innen ausüben dürften. Soziale Benachteiligungen sind nicht erst im oder durch das Alter entstanden, sondern sie erweisen sich als Kontinuum über die Lebensjahre in der Migration hinweg. Formale und faktische Ungleichstellung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen während des mittleren Lebensalters wirken bis ins hohe Alter fort und können sich dann unter Umständen zuspitzen (vgl. Clemens 2001: 501). In strukturtheoretischer Lesart folgt daraus, dass weder das individuelle Handeln alter Migrant/-innen allein, noch ›ethnisch-kulturelle Differenzen‹ als Erklärung hinreichen. Der sozial- und migrationspolitische Rahmen im Einwanderungsland sowie kollektiv erfahrene migrationsspezifische Umstände, unter denen Arbeitsmigrant/-innen, (Spät-)Aussiedler und Asylsuchende nach Deutschland kamen, begleiteten ihre Biographie, entschieden über subjektive Handlungsspielräume und erklären ihre Lebenslage im Alter. Ihr Leben im Einwanderungsland war und ist gekennzeichnet durch Erfahrungen »institutioneller Diskriminierung« (Gomolla 2006), die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt begrenzten, berufliche Aufstiegschancen reduzierten, die Wohnungssuche beeinflussten und – verbunden mit dem Ausländerstatus – auch politische Mitbestimmung sowie
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Aufenthaltsrechte einschränkten.26 Diskriminierungen auf individueller Ebene in Form von Vorurteilen im Alltag treten oftmals hinzu. Auch sind negative Erfahrungen im Herkunftsland, die meist zum Motiv der Migration wurden, wie ökonomische Perspektivlosigkeit, Verfolgung, Vertreibung, Antisemitismus und damit einhergehende Traumata, im Alter noch präsent. Mit diesen Erfahrungen möglichenfalls in Verbindung stehende Kompetenzen dürfen bei aller Belastung nicht außer Acht gelassen werden. Die ersten Arbeitsmigrant/-innen waren eine »Generation der Pioniere« (Zaptçıoğlu 2003), die zu den mutigsten, mobilsten und flexibelsten ihrer Altersgruppe gehörten. Mit dem Entschluss zur Migration, der Bewältigung der Migrationserfahrung und dem Eingewöhnen in eine neue Gesellschaftsform gehen Stärken einher, die oftmals kaum sichtbar und gewürdigt werden. Soziale Arbeit hat auch hierauf ein Augenmerk zu legen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten so zu fördern, dass sich Stärken zu Kompetenzen entwickeln und zur Lebensgestaltung im Alter eingesetzt werden können. Wenngleich gezeigt werden konnte, dass neben sozialstrukturell erzeugten Benachteiligungen auch migrationsgeschichtliche Aspekte mit der heutigen Lebenssituation alter Migrant/-innen verknüpft sind, so deutet wenig darauf hin, dass ethnische Zugehörigkeit bzw. ethnisch-kulturelle Faktoren auf eine Weise Einfluss nehmen, die die Einschätzung von Lebens- und Problemlagen alter Migrant/-innen als ethnienspezifisch rechtfertigen würde. Vielmehr war ihr Status als Migrant/-in die Legitimationsgrundlage dafür, ihnen einen gesellschaftlichen Platz zuzuweisen, der im Alter zu einer besonders ausgeprägten sozialen Problembetroffenheit führen kann. Ein großer Teil der Publikationen bezieht sich dennoch explizit auf die ›Ethnizität‹ von Migrant/-innen im Alter und stellt sie auf unterschiedliche Weise in den Vordergrund ihrer Überlegungen. Was darunter verstanden und welche Rolle dem ›Ethnischen‹ in diesem Zusammenhang zugewiesen wird, ist im Folgenden das Thema.
2.4 E THNIZITÄT IN F ORSCHUNGEN ÜBER ALTE M IGR ANT/- INNEN Wie bereits erwähnt, liegt ein Schwerpunkt der Publikationen auf der Deskription der Lebens- und Bedarfslage alter Migrant/-innen. Die Arbeit von Maria Dietzel-Papakyriakou aus dem Jahr 1993 ist die erste umfängliche und bisher fast die einzige geblieben, die gerontologische und migrationsbezogene Theorieansätze zu kombinieren versucht und so auch zu theoriegeleiteten Erkennt26 | Von »institutioneller Diskriminierung« spricht Gomolla (2006: 98) dann, wenn das informelle und/oder formelle Handeln in gesellschaftlichen Institutionen so gestaltet ist, dass die Chancen auf Teilhabe für die Gesellschaftsmitglieder ungleich verteilt sind.
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nissen über das Altern von Migrant/-innen gelangt. Ihre Grundgedanken wurden seitdem in der Fachdiskussion viel beachtet und rezipiert (vgl. BMFSFJ 2006; Özcan/Seifert 2004; Naegele/Olbermann/Gerling 1997).27 Sie nehmen bis heute Einfluss auf Empfehlungen zur Gestaltung der Versorgung alter Migrant/-innen. Im folgenden Abschnitt werden drei ihrer zentralen Thesen näher dargelegt, da diese Aufschluss über den Stellenwert, den Dietzel-Papakyriakou Ethnizität im Alter zuweist, liefern. Sie werden ergänzt durch Befunde, zu denen Vahsen (2000a) in seinen Studien gelangt. Diese bestätigen Dietzel-Papakyriakous Thesen nur zum Teil und modifizieren sie an relevanten Stellen. In Anlehnung an US-amerikanische Forschungen über das »ethnische Alter« beschreibt Dietzel-Papakyriakou (1993b) Ethnizität erstens als Teil einer »double jeopardy«, die in Wechselwirkung mit der sozialen Kategorie »Alter« zur Kumulation von Benachteiligungen führe. Es sei zweitens ein »ethnischer Rückzug« von Migrant/-innen nach ihrer Berentung zu beobachten, der mit einem »Wiederaufleben von Ethnizität im Alter« verbunden sei. Drittens geht sie von positiven Auswirkungen der ethnischen Zugehörigkeit, d.h. von »Ethnizität als einer Ressource« für das Altern, aus. Dietzel-Papakyriakou hat diese Thesen an einer Teilgruppe alter Migrant/-innen, den rückkehrorientiert und in »ethnischer Insulation« lebenden Arbeitsmigrant/-innen, entfaltet (ebd.: 3). In späteren Publikationen weicht sie allerdings ebenso wie viele Autor/-innen, die sich auf sie beziehen, von dieser Eingrenzung ab. In einem gemeinsamen Aufsatz mit Olbermann von 1996 spricht sie allgemein von den »ausländischen alten Menschen«, die »wegen ihres minoritären und von der einheimischen Bevölkerung abweichenden besonderen ethnisch-kulturellen Profils auf besondere Versorgungsmodelle angewiesen sind« (Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 1996b: 83). Auch »bei den sogenannten integrierten älteren Migrantinnen und Migranten« (ebd.: 84) sei der Rückgriff auf die eigene Kultur in Belastungs- und Krisensituationen von großer Bedeutung.28 Dietzel-Papakyriakou geht von einem spezifischen »Alternsstil« bei Migrant/-innen aus. Für diese Spezifik führt sie zwei Begründungszusammenhänge an. Zum einen sei der Alternsprozess von Migrant/-innen nicht losgelöst von der Migration als Lebenserfahrung zu betrachten. Bewältigungsmuster, die sich im Laufe der Migrationsbiographie entwickelt hätten, kämen zum Einsatz (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1993b: 148). Dabei versteht sie Migration als Kontinuum, »in dem sich die verschiedenen Lebensphasen – also auch das Alter – zueinan27 | Kritisch bezieht sich vor allem Spohn (2002: 86ff.) auf Dietzel-Papakyriakou (vgl. auch Saake 1997). 28 | Ähnlich bereits in einem Aufsatz von 1990: »Aber selbst bei ›integrierten‹ Migranten, die Kontakte zur einheimischen Gesellschaft unterhalten, ist eine Reaktivierung von Ethnizität im Alter als Hinwendung zur ›ethnischen‹ Vergangenheit möglich« (Dietzel-Papakyriakou 1990b: 348).
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der aufbauend und prozessual beziehen« (ebd.: 73). Diese Definition umfasst mehr als nur den Zeitpunkt der räumlichen Wanderung. Die einmal vollzogene Migration begleite die migrierten Individuen ein Leben lang. Zum anderen seien Arbeitsmigrant/-innen, ihre Sinnwelten und ihr Altern, nicht ohne die Berücksichtigung der Sozialisationsprozesse in der »ethnischen Insulation« zu verstehen (ebd.: 147). »Ethnische Insulation« bezeichne – so Dietzel-Papakyriakou – die weitgehende Konzentration der Migrant/-innen auf innerethnische Interaktionen und sei gleichzusetzen mit dem Begriff der »ethnischen Kolonie« (ebd.: 77).29 Der Prozess der »ethnischen Insulation« weise Analogien zum so genannten »insularity«-Ansatz auf, der in den 1960er und 1970er Jahren innerhalb der Gerontologie diskutiert wurde (ebd.: 120). Demzufolge würden alte Menschen als Reaktion auf gesellschaftliche Ablehnung und Stigmatisierung den sozialen Kontakt zu Gleichaltrigen vorziehen und auf diese Weise ein altersspezifisches Gruppenbewusstsein ausbilden.30 Räumliche Nähe, wie sie in »ethnischen Kolonien« oftmals gegeben sei, unterstütze »ethnische Insulation«, sei jedoch nicht zwingende Voraussetzung. Diese beiden Aspekte, die Dietzel-Papakyriakou als prägend für das Altern von Arbeitsmigrant/-innen betrachtet, hingen ihr zufolge zusammen. Denn die Spezifik der Migration als temporäres Projekt, das auf Rückkehr ausgerichtet war, sowie die lebenslange Beibehaltung der anfänglichen Orientierung an der eigenen ethnischen Gruppe unmittelbar nach der Migration – z.B. in den Wohnheimen – bedingten eine »Interaktionsökonomie«, die darauf abzielte, keine Kräfte für soziale Kontakte außerhalb der ethnischen Gruppe aufzuwenden, die nicht für die direkte Erreichung des Migrationsziels notwendig waren (ebd.: 111). Darüber hinaus erfüllten – so Dietzel-Papakyriakou – die meisten Arbeitsmigrant/-innen nicht die Voraussetzungen für den Aufbau interethnischer Beziehungen, vor allem aufgrund unzureichender deutscher Sprachkenntnisse. Abwertungs- und Stereotypisierungserfahrungen führten zudem dazu, dass Interaktionen mit einheimischen Deutschen oft als negativ erlebt wurden und nicht selten scheiterten. Als eine Konsequenz dieser Situation sieht Dietzel-Papakyriakou in Anlehnung an Esser die Herausbildung »ethnischer Kolonien«, die sich zur Hauptbezugseinheit der Arbeitsmigrant/-innen entwickelten. Anders als Esser geht sie von einem Zusammenhang zwischen Rückkehrorientierung und »ethnischer Koloniebildung« aus. Rückkehrorientierte Migrant/-innen stellten ihres Erachtens den inneren Kern »ethnischer Kolonien« dar. 29 | Migrationstheoretisch lehnt sich Dietzel-Papakyriakou unter anderem an Publikationen Hartmut Essers der 1980er Jahre an, in denen dieser die Bezeichnung »ethnische Kolonie« gebraucht. Alternativ findet sich in der Migrationsforschung heute zumeist der Terminus der (Migranten-)Community. 30 | Dieses Konzept gehört aktuell nicht mehr zu den diskutierten Ansätzen der Gero ntologie.
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Erklärungsansätze, die die Entstehung »ethnischer Kolonien« monokausal als Reaktion auf die »Integrationsbarrieren« der Aufnahmegesellschaft begriffen, seien insofern verkürzt (ebd.: 91). Nicht alle Migrant/-innen der ersten Generation hätten überhaupt nach interethnischen Kontakten gesucht. Mit Bezug auf G.H. Mead beschreibt Dietzel-Papakyriakou Ethnizität als Bestandteil der sozialen Identität. Ethnizität im Alter sei das Resultat der biographischen Entwicklung einer Person und wandle sich »diachronisch sowohl im Lebensverlauf von einer Lebensphase zur anderen als auch in der alltäglichen Interaktion, von einer Situation zur anderen« (ebd.: 18). Es handele sich insofern um eine dynamische Kategorie, die Ergebnis sozialer Interaktionen sei. Inhaltlich bestimmt sie den Begriff nur sehr vage. So heißt es an einer Stelle: »In Krisensituationen, wie sie im Alter vorkommen und die Reorganisation der Person erfordern, wird auf die kumulierte Erfahrung und den Wissensfundus, auf Bewältigungsstrategien und Verhaltensmuster zurückgegriffen, die einer Person – hier unter Ethnizität subsummiert – zur Verfügung stehen.« (Ebd.: 19)
An anderer Stelle spricht sie vom »ethnischen Fundus«, der »in den religiösen Systemen und Weltauffassungen jeweils spezifische Leitmotive und Bewältigungsstrategien« bereithalte (ebd.: 5). Diese Begriffsdefinition dient Dietzel-Papakyriakou als Erklärungsrahmen für die sich wandelnde Bedeutung von Ethnizität im Alter. Dabei fällt auf, dass sie recht vorbehaltlos mit dem Begriff des ›Ethnischen‹ umgeht. So spricht sie beispielsweise durchgängig von alten Migrant/-innen als den »ethnischen Alten« bzw. vom »ethnischen Alter«, ohne einen erklärenden Hinweis dazu zu geben, mit welcher Begründung Migrant/-innen Ethnizität zuzuweisen sei, Älteren ohne Migrationshintergrund hingegen nicht. Zudem trennt sie in ihren Ausführungen nicht immer klar zwischen Aspekten, die sie auf die Migration als Lebensereignis bezieht und Aspekten, die sie im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe betrachtet. Trotz des Gewichts, das Dietzel-Papakyriakou auf den Ethnizitätsbegriff legt, lässt sie soziostrukturelle Aspekte, die in Verbindung mit den Ausschlussmechanismen der Aufnahmegesellschaft stehen, keineswegs außer Acht. In der ersten der drei zu erläuternden Thesen stehen sie im Vordergrund. Ihr zufolge könne die ethnische Zugehörigkeit in Kombination mit der Kategorie Alter in eine ›doppelte Diskriminierung‹ münden. Nach dem Ansatz der »double jeopardy« kumuliere Ethnizität mit den Benachteiligungen im Alter, die sich z.B. in Altersstigmatisierungen, physischen oder psychischen Einschränkungen äußerten. Dadurch entstünden zusammen mit weiteren Merkmalen, wie Geschlecht und soziale Schicht, »mehrfache Benachteiligungen«, die zu einer Verfestigung sozialer Ungleichheit führten (ebd.: 15). Ethnizität sei insofern als Stigma bzw. als Belastung im Alter zu begreifen (vgl. auch dies. 1990b: 350). Auf die sozialen Benachteiligungen älterer Menschen mit Migrationshinter-
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grund wurde im vorangehenden Abschnitt eingegangen. Dabei ergab sich, dass ethnische Faktoren nicht per se, sondern vor allem deshalb Benachteiligungen hervorriefen, weil sie von der Einwanderungsgesellschaft als Legitimationskriterien ungleicher gesellschaftlicher Zugangschancen herangezogen werden. An exponierter Stelle in Dietzel-Papakyriakous Ausführungen steht die These vom »ethnischen Rückzug im Alter«. Ausgelöst durch die Berentung und den damit verbundenen Wegfall sozialer Kontakte am Arbeitsplatz, konzentrierten sich Migrant/-innen in ihrem Alltag und in ihrem Lebensstil vornehmlich auf die eigene ethnische Gruppe. »Ethnische Insulation«, die bereits teilweise bestand, vervollständige sich. Angesichts bereits erwähnter Hürden, interethnische Kontakte aufzubauen und aufrechtzuerhalten, stellten innerethnische Bezüge eine Alternative dar, die soziale Eingebundenheit im Alter sichere. So betrachtet erscheint »ethnischer Rückzug« nicht in jedem Fall als freie Wahl des Einzelnen, sondern entspringt einer Notwendigkeit. Dietzel-Papakyriakou macht allerdings zwei andere Argumente stark. Der Disengagementthese folgend sei Alter eine Lebensphase, in der sich aufgrund physischer und psychischer Abbauerscheinungen der soziale Interaktionsradius verenge, soziale Beziehungen nähmen quantitativ ab, der alte Mensch beschäftige sich stärker mit sich selbst (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1993b: 74).31 Vergangenheitsorientierung, das Bedürfnis nach Vertrautem und nach biographischer Kontinuität seien grundlegende Charakteristika der Lebensphase Alter. Identitätsanteile, die auf frühe Phasen der Sozialisation zurückgehen, rückten in den Vordergrund. Demzufolge komme es bei alten Migrant/-innen der ersten Generation zu einer »Reaktivierung von Ethnizität«. Die Bedeutung herkunftskultureller Symbole und Einstellungen sowie der Herkunftssprache wachse. Anknüpfungsmuster für die Auseinandersetzung mit dem Alternsprozess, Vorstellungen vom und Erwartungen an das Alter speisten sich aus diesem Wissensvorrat (ebd.: 14). Für alte Migrant/-innen gehörten hierzu auch die sozialen und altersbezogenen Normen der eigenen ethnischen Gruppe (ebd.: 123). Die Orientierung an ihnen sichere im Alter soziale Eingebundenheit, die für die Aufrechterhaltung eines stabilen Selbstwertgefühls bedeutsam sei. Die funktionale Komponente »ethnischen Rückzugs« wird hierbei deutlich. »Ethnische Kolonien« böten die für die soziale Anerkennung im Alter notwendigen Bezugspersonen (ebd.: 97ff.). Arbeitsmigrant/-innen kämen – so Dietzel-Papakyriakou (ebd.: 26) – primär aus »weniger industrialisierten Her31 | Die Disengagementthese gehört neben der Aktivitäts- und der Kontinuitätsthese zu den drei klassischen gerontologischen Ansätzen, die sich mit dem Wechselverhältnis von Alter und Gesellschaft beschäftigen und sich dabei an der Frage nach erfolgreichem bzw. befriedigendem Alter orientieren. Auch wenn die in den 1960er Jahren entstandenen Konzepte mittlerweile theoretisch kaum noch bedeutsam sind, basieren viele der aktuellen Ansätze auf diesen Vorläufern (vgl. Clemens 2001: 495).
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kunftsgesellschaften«, in denen der soziale Status alter Menschen in der Regel höher sei als in den modernen Gesellschaften, in die sie migrierten. Im Zuge der Migration könne es zu einem Wandel dieses Status kommen. Alte Migrant/-innen verlören an sozialem Prestige, wenn ihr Wissen und ihre Erfahrungen von den nachfolgenden Generationen im Einwanderungsland nicht mehr gefragt seien. Allerdings betreffe Dietzel-Papakyriakou zufolge dies weniger die in »ethnischen Kolonien« eingebundenen Migrant/-innen. Hier seien vielmehr Anzeichen eines »ethnic revival« erkennbar, demzufolge sich nachkommende Generationen auf die Herkunftskultur der Eltern und Großeltern rückbesinnten (ebd.: 36f.). In diesem Fall komme es zu Statusgewinnen für alte Migrant/-innen. Als Träger »ethnischen« und historischen Wissens werde ihnen Respekt entgegengebracht. Durch die Übernahme neuer positiver Rollenbilder nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben hätte der »ethnische Rückzug« daher kompensatorische Funktion. Die »Reaktivierung von Ethnizität« beinhalte die Möglichkeit, aktive soziale Rollen bis ins hohe Alter hinein zu halten. Schon in diesem letzten Aspekt deuten sich positive Auswirkungen des Eingebundenseins in ein ethnisches Netz an. Mit ihrer These von »Ethnizität als Ressource« geht Dietzel-Papakyriakou allerdings noch einen Schritt weiter. Abgesehen von konkreten Selbsthilfepotenzialen in »ethnischen Kolonien« seien eine Reihe weiterer immaterieller Ressourcen anzunehmen, die auf den Erhalt und die Förderung von im Lebensverlauf erworbenen Kompetenzen zielten (ebd.: 125). Migrant/-innen hätten im Zuge ihrer Migration spezifische Kompetenzen entwickelt. Diese ergäben sich aus den migrationsbezogenen Erfahrungen, dem Neuanfang im Einwanderungsland und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit neuartigen Lebensbedingungen. Hierzu gehörten auch die Bewältigung belastender, kritischer Situationen, Einschränkungen und Benachteiligungen. Die dabei ausgebildeten Fähigkeiten seien ein wichtiges Fundament für die Anpassungsleistung an die Lebensphase Alter und die Bewältigung der damit verbundenen potenziellen kritischen Lebensereignisse (ebd.: 127). Die Migrationserfahrung fördere – so Dietzel-Papakyriakou – die Überzeugung, sein Leben gestalten zu können, d.h. sich selbst als kompetent zu erfahren. Damit diese Kompetenzen auch als solche erhalten blieben und nutzbar gemacht werden könnten, bedürfe es eines sozialen Kontextes, der die Leistungen und Migrationserfolge anerkennt und durch positive Bewertungsprozesse stabilisiert. Diese Voraussetzung sei in erster Linie in »ethnischen Kolonien« gegeben. Den Thesen Dietzel-Papakyriakous folgend käme ein Herausreißen alter Migrant/-innen aus ihren ethnischen Netzwerken unterm Strich einer Gefährdung ihrer Lebens- und Sinnbezüge im Alter gleich und bedeute einen Bruch in ihrer biographischen Kontinuität.32 32 | An diesen Gedanken anknüpfend befürwortet Dietzel-Papakyriakou ethnisch-kulturell ausgerichtete Versorgungsmodelle für Migrant/-innen im Alter (vgl. Kapitel 3.1).
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Dietzel-Papakyriakous Thesen werden teilweise durch empirische Befunde, z.B. der Netzwerkforschung (vgl. Olbermann 2003b), gestützt. Allerdings ist es m.E. nicht nachvollziehbar, wieso sie in ihren Ausführungen den Begriff der Ethnizität semantisch so stark macht. Sie selbst weist darauf hin, dass dem Vorgang des »ethnischen Rückzugs« und der Bedeutung von Bezugspersonen der eigenen Herkunft für die Stabilisierung des Selbstwertgefühls im Alter gerontologische Theorieansätze zugrunde liegen, die in Bezug auf die Lebensphase Alter allgemein formuliert wurden. In diesem Zusammenhang ließe sich auch auf Schütz verweisen, der zeigt, inwiefern geteilte Sinnwelten und eine weitgehende Kongruenz der Relevanzstrukturen von Individuen für den Aufbau von sozialen Beziehungen förderlich sind (vgl. Schütz/Luckmann 2003). Die Orientierung an Personen aus einem möglichst homogenen, vertrauten Milieu ist daher nicht typisch für Migrant/-innen. Es bleibt insofern unklar, worin Dietzel-Papakyriakou den Erkenntnisgewinn durch die Bezugnahme auf Ethnizität in ihren Thesen sieht.33 Bei näherer Betrachtung handelt es sich keineswegs um Spezifika im Prozess des Alterns. Ihre Ausführungen tendieren m.E. dazu, alte Migrant/-innen als ›ethnische Alte‹ von alten Menschen ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden, anstatt sie in ein umfassendes gesellschaftliches Altersbild zu integrieren, das die Individualität alter Menschen herausstellt. Von einer solchen Perspektive ausgehend ließen sich spezifische, nämlich an der je konkreten Lebenswelt orientierte, auch migrationsgeschichtlich bedingte Versorgungsbedarfe alter Migrant/-innen gleichermaßen begründen. Die Publikationen von Vahsen (2000a, 2000b) sowie Vahsen u.a. (2001) weisen in diese Richtung. Ihr ergänzender theoretischer Gewinn besteht vor allem darin, Dietzel-Papakyriakous Thesen, auf die dort explizit Bezug genommen wird, zu differenzieren und dadurch auf eine Weise zu relativieren, die der Pluralisierung von Lebensverläufen alter Migrant/-innen gerecht wird (vgl. ders. 2000b: 11). Ausgehend von der Unterscheidung zwischen sozial definierten Zugehörigkeiten einerseits und deren subjektiven Wahrnehmungen und Deutungen durch die Migrant/-innen andererseits, wendet Vahsen sich gegen pauschalisierende Annahmen über diese Bevölkerungsgruppe. Anstatt deren Lebenserfahrungen und -vorstellungen vorzuzeichnen, müssten diese vielmehr nachgezeichnet werden. Nur so werde die Binnendifferenzierung der Migrantenbevölkerung überhaupt sichtbar. Vahsen argumentiert – empirisch begründet – gegen eine statische Perspektive auf die Lebensstile von Migran33 | Eine »Ethnisierung von Theorien« in Bezug auf alte Migrant/-innen sei, Hafezi (2001: 161) zufolge, wenig instruktiv. So konnte er in seiner vergleichenden Studie zur Lebens- und Bedarfslage alter Deutscher, Griechen, Türken und Spanier nachweisen, dass mit Blick auf das Altwerden unabhängig von der ethnischen Herkunft Gemeinsamkeiten überwiegen. Eine Verengung des Diskurses entlang ethnischer Kriterien sei seines Erachtens nicht lösungsorientiert.
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t/-innen. Sie unterlägen permanenten Veränderungsprozessen im Laufe einer Biographie und variierten auch im Alter. Seine Darlegungen basieren auf der Rekonstruktion der Lebensprojekte von elf Arbeitsmigrantinnen.34 Diese dokumentieren, dass die Auffassung, alte Migrant/-innen seien zurückgeblieben, segregiert und ethnisch fixiert, unhaltbar ist (ebd.: 118). Auch müsse die Opferstatusthese, d.h. die einseitige Herausstellung von Deprivationserfahrungen, Ausgrenzungs- und Entfremdungsmechanismen, problematisiert und um die Selbstgestaltungsanteile alter Migrant/-innen ergänzt werden. Migrant/-innen erwiesen sich in vielfacher Hinsicht als Gestalter/-innen und Akteur/-innen eines subjektiv als sinnvoll erlebten Lebens. Seine empirischen Analysen bestätigen zwar die »double jeopardy«-These, die er in seinen Ausführungen als »Prozess der doppelten Marginalisierung« umschreibt (ebd.: 42f.). Diese sei jedoch nur eine, wenn auch sehr gewichtige, stets präsente Achse der Biographie alter Migrant/-innen (ebd.: 46). Auf einer zweiten Achse ließe sich die These einer subjektiv positiven Migrationsbilanz und eines in der Selbstwahrnehmung als sinnvoll erlebten Lebens herausstellen, in der Lebensleistungen und -erfolge sowie Lebensoptimismus zum Ausdruck kämen (ebd.: 45ff.). Dies widerspricht Dietzel-Papakyriakous Aussagen nicht, da auch sie optimistische Deutungen des Migrationsprojektes und die im Laufe des Lebens erworbenen Kompetenzen von Migrant/-innen im Alter herausstellt. Allerdings bindet sie die Entfaltung dieser positiven biographischen Achse eng an das Eingebundensein in eine »ethnische Kolonie«. Dadurch erscheint sie in gewisser Hinsicht fragil. Denn bei Nichtvorhandensein einer solchen ethnischen Eingebundenheit wird die Erlangung von sozialer Anerkennung und Stabilität im Alter für Migrant/-innen in Frage gestellt. Von einer solchen Engführung der Relevanz von Ethnizität im Alter löst sich Vahsen. Zwar unterstreicht auch er die hohe Bedeutung der Herkunftskultur für einen Teil der Migrant/-innen und sieht die These vom »ethnischen Rückzug« keineswegs grundsätzlich widerlegt. Allerdings sei sie nicht durchgängig nachweisbar und insofern zu relativieren (ebd.: 22). »Migrantinnen, gleich ob sich ihre Perspektiven auf eine Rückkehr richten, auf ein Bleiben oder Pendeln, definieren sich in ihrem Verhältnis zu den Kulturen nicht einheitlich. Im Prozess der sich ausformenden Transkulturalität, des partiellen Einlebens in unsere Gesellschaft, werden unterschiedliche Orientierungsmuster der sozio-kulturellen Lagerung propagiert, auf die Herkunftsgesellschaft bezogen und auf die Gastkultur. Dies ist ein Indikator für das subjektive Ausbalancieren der eigenen kulturell-ethnischen 34 | Hierbei handelt es sich um die Vorstudie zu einem umfänglichen Forschungsprojekt »Altern in fremden Kulturen. Pädagogische Handlungsansätze und soziale Interventionen«, das in vier europäischen Ländern durchgeführt wurde und die Befunde der Vorstudie im Wesentlichen bestätigt (vgl. Vahsen u.a. 2001).
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Zuordnung, jenseits gesellschaftlicher Zuschreibungen und Verortungen der Migrantinnen.« (Ebd.: 21)
Diese Passage enthält zwei Aussagen, die im Hinblick auf den Stellenwert von Ethnizität aufschlussreich sind. Zum einen scheint die Bedeutung von Ethnizität nicht festgelegt; ethnische Zugehörigkeiten sind zwar prägend, aber nicht determinierend. Ihre subjektive Bedeutung ist wandel- und gestaltbar. Ethnizität – so Vahsen an einer anderen Stelle – »ist ein soziales Konstrukt, sowohl das ›Fremde‹ als auch das ›Vertraute‹, die ›Heimat‹ werden zugeschrieben und konstruiert« (ebd. 40). Zum anderen sieht Vahsen Doppelorientierungen, die sich sowohl auf die Herkunfts- als auch auf die »Mehrheitsethnie« (ebd.: 41) bezögen.35 Er betrachtet diese Doppelorientierungen als osmotische Prozesse, die keineswegs mit Identitätsverlusten bzw. -irritationen einhergingen (ebd.: 93): »Subjektive Zugehörigkeitserfahrungen müssen sich nicht nur auf eine Ethnie oder ein soziales und kulturelles Lebensumfeld beziehen: Es sind auch bistabile soziale und kulturelle Verhältnissetzungen denkbar und möglich, die aus einer Ambivalenz im Sinne von Zerrissenheit eine Doppelwertigkeit, eine verdoppelte Zugehörigkeit werden lässt.« (Ebd.: 47)
Ähnlich argumentiert auch Zeman (2002: 8f.), der zusätzlich darauf hinweist, dass »doppelte Zugehörigkeit« gesellschaftlicher Akzeptanz bedürfe. Es könne ansonsten zu Ausschlüssen sowohl von Seiten der Einwanderungs- als auch von Seiten der Herkunftsgesellschaft kommen.36 Vahsen entwirft in seinen Ausführungen ein Verständnis von Ethnizität, das sich durch seine Offenheit, Flexibilität und subjektive Gestaltbarkeit auszeichnet. Die Relevanz von Ethnizität kann in einer solchen Perspektive nur am einzelnen Individuum und der subjektiven Deutung seiner Lebenssituation und seiner Lebensvorstellungen geprüft, anstatt im Voraus angenommen oder gar vorgeschrieben zu werden. Fruchtbar für das Verstehen von Alternsprozessen bei Migrant/-innen und ihres Verhältnisses zu ethnischen Zugehörigkeiten erweist sich insofern eine Herangehensweise, die sich um das bereits erwähnte Nachzeichnen subjektiver Sichtweisen unvoreingenommen bemüht. Da bislang ausschließlich Forschungen rezipiert wurden, die sich auf Arbeitsmigrant/-innen meist mit türkischem Migrationshintergrund beziehen, soll trotz dürftiger Forschungslage nicht unerwähnt bleiben, dass der Stellenwert von Ethnizität bei (Spät-)Aussiedlern Besonderheiten aufweisen kann. 35 | Anders als Dietzel-Papakyriakou verwendet Vahsen den Begriff der Ethnie nicht ausschließlich in Bezug auf Migrant/-innen. 36 | So könne ein Individuum beispielsweise in Deutschland als Türke, in der Türkei als »Deutschländer« angesehen und zum Fremden gemacht werden (vgl. Zeman 2002: 8f.).
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Diese lassen sich unter anderem schon aus den Kriterien ableiten, die ihre Migration nach Deutschland rechtlich begründen. Die Frage nach ethnischen Zugehörigkeiten wird hierbei zu einem expliziten Thema. So wurde bzw. wird die ältere Generation der (Spät-)Aussiedler biographisch in mindestens drei Kontexten auf ihre ethnische Zugehörigkeit als ›Deutsche‹ verwiesen. Einige von ihnen verbrachten vor dem Zweiten Weltkrieg einen Teil ihres Lebens in deutschen Siedlungsgebieten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. Dort bewegten sie sich fast ausschließlich in ›ethnisch homogenen‹ Milieus. Sie wurden unabhängig von ihrem Selbstverständnis als ›Deutsche‹ auch vom sowjetischen Staat – insbesondere in der Folge des Krieges – auf ihre ›deutsche Herkunft‹ reduziert und diskriminiert. Die »deutsche Volkszugehörigkeit« (Art. 116 GG) ist es schließlich, die ihre Migration nach Deutschland rechtlich legitimiert und für diesen Zweck plausibel nachgewiesen werden muss. Für diejenigen (Spät-)Aussiedler, die sich als ›deutsch‹ empfinden, stelle, so Wierling (2004: 201), die Migration nach Deutschland gleichsam eine Rückkehr in die Heimat dar. Dabei kann es im Verlauf ihres Aufenthaltes zu zwei Arten von Diskrepanzen zu diesem Selbstverständnis kommen. Zum einen führt die Erfahrung eines anderen Werte- und Normensystems in der deutschen Gesellschaft bei vielen zu der Selbsteinschätzung, ›doch‹ ›Russe‹ bzw. ›Russin‹ zu sein, was nicht selten mit enttäuschten Erwartungen an das Leben als ›Deutsche in Deutschland‹ einhergeht. Zum anderen kann die Selbstzuschreibung ›deutsch‹, trotz rechtlicher Bestätigung in Form des deutschen Passes, oftmals nicht gegen die Fremdzuschreibung ›russisch‹ seitens der deutschen Gesellschaft durchgesetzt werden. Selbst- und Fremdbild klaffen insofern auseinander. Nach Wierling (ebd.: 207) existierten darüber hinaus auch intergenerative Diskrepanzen, wenn sich Eltern und Großeltern als ›Deutsche‹, Enkelkinder sich jedoch als ›Russen‹ verstünden. Neben diesen »Extrempositionen« zwischen deutscher und russischer Zugehörigkeit lägen Doppelorientierungen vor, die sich im Verlauf des Aufenthaltes in Deutschland ausbalancierten. Die hier aufgeführten Varianten, Zugehörigkeit subjektiv zu deuten, weisen auf die Dynamik ethnischer Verortungen und bestärken insofern die Ausführungen Vahsens. Allerdings stehen diese Selbstverortungen gesellschaftlichen Fremdzuweisungen gegenüber, die in nicht unerheblicher Weise Einfluss nehmen. In diesem Kapitel wurden anhand der derzeit zur Verfügung stehenden publizierten Wissensbestände die Lebenslagen alter Migrant/-innen analysiert. Es zeigte sich, dass Migrant/-innen – soziostrukturell betrachtet – unter erschwerten sozialen, v.a. materiellen und gesundheitlichen, Lebensbedingungen altern. Neben der soziostrukturellen Dimension beziehen Publikationen auch ethnisch-kulturelle Faktoren als relevante Größe im Alternsprozess von Migrant/-innen ein. Es bleibt zu klären, welche Schlussfolgerungen Soziale Arbeit aus diesen Befunden zieht. Im Weiteren wird daher der Blick auf alte Migrant/-innen um die Beiträge der Sozialen Arbeit ergänzt. Zentral dabei sind
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die Sicht der Disziplin auf den Bedarf alter Migrant/-innen an institutioneller Unterstützung und die vorherrschenden Auffassungen über die Gestaltung von Versorgung, hier hauptsächlich von Beratungsangeboten. Insbesondere wird berücksichtigt, welche Relevanz ›Ethnizität‹ im Umgang mit Migrant/-innen als Adressatengruppe zugewiesen wird.
3 Alter und Migration im sozialpädagogischen Diskurs
Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer und Hans Thiersch beklagen in ihrer 2005 erschienenen gemeinsamen Publikation, dass die Soziale Arbeit die Migration ›auf sich habe zukommen lassen‹. Sie habe lediglich versucht, »ihr im Kontext sozialstaatlicher Vorgaben in ihrem institutionellen Gefüge gerecht zu werden« (dies. 2005: 210). Anstatt systematisch von einer Sozialen Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft auszugehen, habe sie Migration stets als Sonderproblem behandelt und sich damit in der historischen Tradition eines kulturell homogenen Nationenverständnisses Deutschlands bewegt. Dieses reaktive, den gegebenen sozial- und migrationspolitischen Rahmen mehr oder minder akzeptierende Verhalten der Disziplin, ist entsprechend auch im Diskurs um Alter und Migration erkennbar. So sind es nicht aktiv gestaltende, gesellschaftsund sozialarbeitstheoretisch gestützte Handlungsentwürfe, die die Debatte charakterisieren, sondern Reaktionen auf erste Migrant/-innen, die die sozialen Institutionen – meist der Migrationssozialarbeit – mit altersspezifischen Problemkonstellationen konfrontierten. Dass in der Folge aufgrund der prognostizierten demographischen Zunahme alter Migrant/-innen und des damit verbundenen potenziell steigenden Unterstützungsbedarfs vornehmlich mit versorgungspraktischen Überlegungen geantwortet wurde, ist zunächst nachvollziehbar. Dabei jedoch geriet der übergeordnete Theoriebezug meist in Vergessenheit. Böhnisch/W. Schröer/Thiersch vertreten die Auffassung, dass die Sozialpädagogik die mit Migrationsfragen verbundenen Herausforderungen indes nicht länger von sich weisen könne und »eine handlungsbezogene und gesellschaftlich rückgebundene sozialpädagogische Theorie der Migration« (ebd.: 215) auszubilden habe.1 Hierbei seien auch eigenständige professionsbezogene Antworten auf die sozial- und migrationspolitischen Vorgaben der Einwande1 | Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen auch Cyrus/Treichler (2004: 20f.), die die größte H Hrausforderung für die Soziale Arbeit darin sehen, insgesamt »ein einwanderungsinstitutionelles Selbstverständnis zu entwickeln.«
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rungsgesellschaft zur Diskussion zu stellen, da diese die Lebenslage von Migrant/-innen im Alter – so zeigte auch Kapitel 2.3 – entscheidend mitbestimmten (vgl. W. Schröer 2005). Auch Albert Scherr (2002) hat sich diesbezüglich kritisch geäußert. Er verweist auf die paradoxe Situation, dass »die staatlich-politischen [sic!] mit verursachten Benachteiligungen und Probleme« (ebd.: 188) von Migrant/-innen die Leistungen der Sozialen Arbeit für diese Bevölkerungsgruppe überhaupt erst erforderlich werden ließen. Insofern profitiere die Migrationssozialarbeit von »einer Politik der Diskriminierung sowie der unterlassenen Integrationsmaßnahmen« (ebd.: 189). Diehm/Radtke (1999), die eine ähnliche, weit radikalere Position vertreten, werfen der Sozialen Arbeit sogar vor, sich neue Aufgabenfelder und neue Klientengruppen erschlossen zu haben (ebd.: 67f.). Sie unterstellen der Profession damit einen aktiven Beitrag an der ›Klientelisierung‹ von Migrant/-innen. Über die Zuschreibung und Problematisierung von Differenz legitimiere sie Zuständigkeit und begründe sozialpädagogische Interventionen. Auch im Fachdiskurs um alte Migrant/-innen ist diese Kritik formuliert worden (vgl. Saake 1997; Hamburger 1996). An ihm lässt sich besonders anschaulich nachzeichnen, wie über die Behauptung ›spezifischer Problemlagen‹, meist kulturell oder ethnisch mitbegründet, das Interesse an der ›neuen Zielgruppe‹ gewachsen ist (vgl. Kapitel 2.2). Obgleich Scherr der Sozialen Arbeit relevante Beiträge zur Verbesserung der Lebenssituation von Migrant/-innen zugesteht, kommt auch er zu der Einschätzung, dass sie ein »paternalistisches Hilfeverständnis« entwickelt habe. Dieses komme vor allem in der Wahrnehmung von Migrant/-innen als problembelastete, defizitäre, betreuungs- und unterstützungsbedürftige Adressat/-innen sozialarbeiterischer Hilfen zum Ausdruck. Laut Scherr bestünde die bereits erwähnte Abhängigkeit der Sozialen Arbeit von staatlichen Vorgaben nicht allein in rechtlich-finanzieller Hinsicht, sondern habe auch ihr Selbstverständnis gelenkt. Eine Umorientierung der Sozialen Arbeit im Sinne eines »Abschieds vom Paternalismus« hält er insofern für fachlich unumgänglich (vgl. Scherr 2002). Reaktives Verhalten, Theoriedefizite und Paternalismus sind keine geringen Vorwürfe, mit denen die Soziale Arbeit aus den eigenen Reihen konfrontiert wird. Kritische Entgegnungen auf vorhandene Ansätze waren in der Vergangenheit gerade jedoch der Motor, der dem Diskurs um Migration und Soziale Arbeit immer wieder zu neuen Impulsen verhalf und konzeptionelle Weiterführungen ermöglichte. Ein ähnlich weit fortgeschrittenes eigenes Fachgebiet wie die Erziehungswissenschaft mit der Interkulturellen Pädagogik kann die Soziale Arbeit zwar nicht vorweisen, es zeichnen sich jedoch seit Ende der 1990er Jahre zunehmend Tendenzen einer akademischen Etablierung von Fragen zum Verhältnis von Migration und Sozialer Arbeit unter der Bezeichnung »interkulturelle Soziale Arbeit« ab (vgl. Cyrus/Treichler 2004:
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19).2 Inwiefern die hier angedeutete Kritik und die mit ihr verbundenen theoretisch-konzeptionellen Standpunkte im Themengebiet dieser Arbeit, d.h. der Beratung alter Migrant/-innen, wieder zu finden sind, rückt nun ins Zentrum der Überlegungen. Im vorherigen Kapitel ist bereits beschrieben worden, dass der Fachdiskurs sowohl von soziostrukturellen als auch von ethnisch-kulturellen Argumentationslinien getragen wird. Auf diese beiden Ebenen richtet sich auch die sozialarbeiterische Aufmerksamkeit im Umgang mit alten Migrant/-innen bzw. mit Migrant/-innen überhaupt. Im Kern laufen die fachlichen Debatten darüber auf die Frage der Thematisierung bzw. Nicht-Thematisierung der Kategorien Kultur und Ethnizität hinaus, die auf unterschiedliche Weise konzeptionell versucht wird zu beantworten. Eine Nachzeichnung der Diskussionsverläufe zur Ausrichtung der Versorgungsstrukturen (Kapitel 3.1) und zum handlungsmethodischen Umgang mit der ›neuen Zielgruppe‹ in der Beratung der Altenhilfe und der Migrationssozialarbeit (Kapitel 3.2) führt schließlich zur Präzisierung und Begründung des Forschungsanliegens, das im empirischen Teil dieser Untersuchung bearbeitet wird (Kapitel 3.3).
3.1 I NTERKULTURELLE Ö FFNUNG
VERSUS E THNIENSPEZIFISCHE SOZIALE
D IENSTE ?
Die Fachdebatte um alte Migrant/-innen geht grundsätzlich von einem Reformbedarf vorhandener Versorgungssysteme aus und begründet dieses Erfordernis anhand folgender Feststellungen: Der »double jeopardy«-These gemäß wird zwar ein ähnlicher, aber auch ein größerer Hilfebedarf als bei Älteren ohne Migrationshintergrund angenommen (vgl. exemplarisch Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 1995: 5). Dabei würden migrantenspezifische Besonderheiten eine Rolle spielen, die einerseits aus dem rechtlichen Status als »Ausländer« resultieren könnten, andererseits im Zusammenhang mit ethnisch-kulturellen Faktoren stünden. Beides müsse in den Unterstützungsangeboten berücksichtigt werden. Erkennbar sei außerdem eine Diskrepanz zwi2 | Eppenstein/Kiesel (2008) legen eine umfassende Darstellung der Entwicklungsgeschichte »interkultureller Orientierung« in der Sozialen Arbeit vor. Zur Entstehung der Interkulturellen Pädagogik in der Erziehungswissenschaft, ihrer Forschungsfelder und Forschungsthemen vgl. Nieke (2008), Auernheimer (2007), Gogolin/Krüger-Potratz (2006), Nohl (2006), Krüger-Potratz (2005), Mecheril (2004b) sowie Diehm/Radtke (1999); es bestehen in weiten Bereichen inhaltliche Überschneidungen zur Sozialen Arbeit, worauf zum Teil auch von den Autor/-innen Bezug genommen wird; insbesondere Auernheimer (2006, 2005), Mecheril (2004b, 2002) und auch Diehm/Radtke (1999) treffen Überlegungen zu Teilbereichen der Sozialen Arbeit, allerdings aus vornehmlich pädagogischer Perspektive.
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schen vermutetem Bedarf und dem Nutzungsverhalten alter Migrant/-innen. Dieses Missverhältnis wird mit dem Vorhandensein von Zugangsbarrieren in Verbindung gebracht und müsse minimiert werden. Als Grundvoraussetzung für eine Neuausrichtung wird die zielgruppenbezogene Kooperation und Vernetzung der beiden involvierten Arbeitsfelder der Migrationssozialarbeit und der Altenhilfe gesehen. Das für die Versorgung alter Migrant/-innen erforderliche Handlungswissen teile sich zwischen diesen beiden Feldern auf und müsse vor allem deshalb zusammengeführt werden, damit Hilfesuchende nicht – wie Zeman (2005: 78) formuliert – »zwischen die Stühle« unterschiedlicher Ressorts gerieten und mit einer Sozialarbeit »zweiter Klasse« (Gaitanides 1998: 58) vorlieb nehmen müssten, die ihren Problemlagen fachlich und strukturell nicht gerecht werde. Um Unter- oder Fehlversorgung zu vermeiden, seien auch Selbstorganisationen der Migrant/-innen in die Prozesse der Reformierung sozialer Dienste zu integrieren. In größeren Migrantengruppen hätten sich, nicht zuletzt aufgrund von Zugangsbarrieren zu Institutionen der Einwanderungsgesellschaft, informelle soziale Versorgungsstrukturen herausgebildet, die in ihrem Stellenwert für die Unterstützung alter Migrant/-innen gewürdigt und entsprechend gestärkt werden müssten (vgl. BMFSFJ 2006: 255).3 In konzeptioneller Hinsicht bewegt sich die Fachdebatte zwischen zwei unterschiedlichen Strategien, die beide von der Relevanz ethnisch-kultureller Faktoren in der Versorgung ausgehen, jedoch auf unterschiedliche Weise. So existieren Positionen, die sich für die prinzipielle interkulturelle Öffnung des Regelsystems der Altenhilfe stark machen, neben solchen, die die Schaffung ethnienspezifischer Angebote für alte Migrant/-innen befürworten. Beide Positionen werden im Weiteren näher betrachtet. Abweichend von anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, z.B. der Kinder- und Jugendhilfe, die zwar nicht ausschließlich, jedoch primär, auf eine Öffnung der Regeldienste zielen, wird in Bezug auf die erste Migrantengeneration meist für ein konsequentes »Sowohl-als-auch« plädiert. Mit dem Regelsystem der Altenhilfe sind hier die Angebote in den klassischen Bereichen der offenen, ambulanten, teilstationären und stationären Altenarbeit angesprochen, die von ihrem Anspruch her allen älteren Menschen offen stehen.4 Altenhilfe bewegt sich im Schnittfeld zwischen Sozial- und Gesundheitswesen und ist insofern kein ausschließlich sozialarbeiterisches Feld. Unterschiedliche Berufsgruppen aus den Bereichen Soziales, Medizin, Pflege und Betreuung müssen eng miteinander kooperieren, um die oftmals komplexen Problemlagen älterer Menschen fachgerecht zu koordinieren. Sie stehen zum Teil jedoch auch in einem konkurrierenden Verhältnis zu3 | Zur Herausbildung von Selbstorganisationen als zweiten Pol neben der institutionellen Beratung vgl. Hamburger (2006) und (1999b). 4 | Zur Definition dieser einzelnen Arbeitsfelder siehe Schweppe (2005a) sowie ausführlich die Altenberichte der Bundesregierung, insbesondere BMFSFJ (2001).
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einander. Dieses kann sowohl die Definition von Zuständigkeiten betreffen, als auch die fachlichen Einschätzungen des Hilfe- und Unterstützungsbedarfs (vgl. hierzu auch Kapitel 3.2.1). Häufig stehen dabei kommerzielle Interessen im Vordergrund. Die Notwendigkeit der »interkulturellen Öffnung« wird für jeden dieser Bereiche formuliert. Stefan Gaitanides gilt derzeit als einer der Hauptvertreter dieses Paradigmas innerhalb der Sozialen Arbeit. Seine Forschungen haben wesentlich dazu beigetragen, den Wissensstand über die Versorgungssituation von Migrant/-innen in sozialen Institutionen zu vertiefen und die fachliche Forderung nach »interkultureller Öffnung« zu begründen (vgl. ders. 2007, 2003, 2001a, 1999, 1998).5 Dabei bilden zwei grundlegende Feststellungen die Ausgangsbasis seiner Argumentation: die zunehmende fachliche Überforderung der Migrationsdienste, die in ihrem generalistischen Zuschnitt nicht mehr Schritt halten können mit den sich immer weiter spezialisierenden Anliegen ihrer Ratsuchenden, z.B. in Bezug auf Rentenangelegenheiten, und die gleichzeitige Unterrepräsentanz von Migrant/-innen in den präventiv ausgerichteten sozialen Diensten des Regelsystems.6 Angebote der Migrationssozialarbeit blieben nicht zuletzt aufgrund von Nutzungsbarrieren anderer Angebote, zentrale und meist auch einzige Anlaufstelle für Migrant/-innen. Gaitanides’ Untersuchungen (2006, 2001a, 1999, 1996) stellen Zugangsprobleme zum Regelversorgungssystem auf drei Ebenen heraus. Auf Seiten der Migrant/-innen seien vor allem Informationsdefizite über das Vorhandensein oder über das Zuständigkeitsprofil sozialer Angebote, Verunsicherung hinsichtlich sprachlicher und interkultureller Verständigungsmöglichkeiten sowie fehlendes Vertrauen zu ›deutschem‹ Personal ausschlaggebend. Strukturelle Barrieren von Angeboten, die oftmals nicht an die Lebenswelt belasteter Migrantenfamilien anknüpften, wie Nutzungsgebühren, Nachfrageorientierung bzw. Komm-Strukturen oder religiöse Trägerschaft, könnten hinzutreten. Auch hätten ›deutsche‹ Sozialarbeiter/-innen Zugangsschwierigkeiten zum Adressatenkreis mit Migrationshintergrund. Diese umfassten unter anderem Be5 | Als weitere Vertreter sind vor allem Hinz-Rommel (2000, 1996, 1994), SimonHohm (2004, 2002) sowie Handschuck (2009) und Handschuck/H. Schröer (2002, 2001, 2000, 1997) hervorzuheben. Die Publikation von Barwig/Hinz-Rommel aus dem Jahr 1995 gilt als Auftakt der Diskussion um Standards zur »interkulturellen Öffnung«; wegweisend waren auch die bereits 1994 veröffentlichten »Empfehlungen zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste« der damaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer. 6 | Gleiches gelte nicht für eingreifende und kontrollierende Dienste der Sozialen Arbeit, wie Frauenhäuser oder Jugendgerichtshilfe. Hier seien Migrant/-innen sogar überproportional anzutreffen. Gaitanides (2006: 225) deutet diesen Zustand unter anderem als Versagen vorsorgender Maßnahmen.
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rührungsängste und Irritationen aufgrund von fehlenden Kenntnissen über die Zielgruppe, Furcht vor Mehrbelastungen durch ein scheinbar besonders ›schwieriges‹ Klientel sowie ausgrenzende, ethnozentrische Einstellungen und Verhaltensweisen. Peter Zeman (2005, 2002), der sich im Rahmen der Altenhilfe mit Zugangsproblemen beschäftigt, bemerkt, dass bei ›deutschen‹ Älteren zum Teil ähnliche Barrieren bei der Inanspruchnahme von Angeboten festzustellen seien (vgl. ders. 2002: 18). Er sieht Zusammenhänge zu den Schwierigkeiten, das Altwerden ins Selbstbild zu integrieren. Dabei spielten Scham, die eigene Hilfebedürftigkeit nach außen zuzugeben oder diese vor sich selbst einzugestehen, Befürchtungen vor institutioneller Kontrolle und Einmischung in die Privatsphäre oder die nicht für attraktiv befundenen Angebotszuschnitte eine Rolle. Vor allem Angebote der offenen Altenarbeit tendieren überdies zu »Cliquenbildungen« und sind von außen schwer zugänglich. Interkulturelle Öffnung käme – so Zeman – allen Nutzer/-innen zugute. Eine besondere Zugangsbarriere zwischen alten Migrant/-innen und der Altenhilfe liege ihm zufolge aber in dem beidseitigen fehlenden Bewusstsein über die institutionelle Zuständigkeit (ebd.: 19). Sie habe dazu geführt, dass bislang kaum Berührungspunkte zustande kämen. Weder in der Sozialen Arbeit generell noch im Fachdiskurs der Altenhilfe für Migrant/-innen wird die seit Beginn der 1990er Jahre diskutierte »interkulturelle Öffnung« als adäquater Weg und als wichtiger, notwendiger Schritt zur Gestaltung von Versorgungsstrukturen in einer Einwanderungsgesellschaft in Zweifel gezogen. Nicht immer allerdings ist aus der Debatte eine hinreichende Transparenz bezüglich des begrifflichen Verständnisses, der übergeordneten Zielsetzung und der Reichweite dieser Forderung herauszulesen (vgl. dazu Simon-Hohm 2004). Vielmehr zeigt sich ein höchst uneinheitlicher, inflationärer Gebrauch dieses Schlagworts, der mitverantwortlich dafür sein mag, dass ›interkulturell geöffnete‹ soziale Dienste bislang noch »fachliche Visionen« (Gaitanides 2006: 225) geblieben sind. Dies gilt im Besonderen für die Altenhilfe, die sich Modernisierungserfordernissen und damit verbundenen strukturellen Veränderungen gegenüber grundsätzlich – nicht nur in Bezug auf die Zielgruppe der Migrant/-innen – als schwerfällig und zögerlich erwiesen hat (vgl. hierzu auch Kapitel 3.2.1). Im Kern geht es bei der Forderung nach »interkultureller Öffnung« der Altenhilfe um die Verbesserung der Bedingungen, unter denen formal bestehende Zugangsrechte alter Menschen zu Institutionen des Regelbereichs unabhängig von sozialer, ethnischer, religiöser und kultureller Herkunft auch realisiert werden können (vgl. Zeman 2002: 10). »Die Pluralität unserer Gesellschaft«, so wird es in dem für den Altenbereich aufgestellten »Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe« formuliert, »muss sich auch in ihren Diensten und sozialen Einrichtungen widerspiegeln« (vgl. Forum für eine kultursensible Altenhilfe 2009: 3). Vom Anspruch her bezieht »interkulturelle Öffnung« dem-
3 A LTER UND M IGRATION IM SOZIALPÄDAGOGISCHEN D ISKURS
zufolge alle alten Menschen mit ein, in den näheren Ausführungen zu Zielen und Maßnahmen wird allerdings ein deutlicher und meist alleiniger Bezug zu Migrant/-innen hergestellt. Um sie geht es primär, wenn von »kultursensibler Altenhilfe« die Rede ist. Im Vordergrund der diskutierten Umsetzungsstrategien stehen Organisations- und Personalentwicklungsmaßnahmen, wie z.B. die Verankerung der interkulturellen Perspektive im Leitbild der Institution, ihre Berücksichtigung in der Öffentlichkeitsarbeit, die Entwicklung niedrigschwelliger Angebotsstrukturen, in denen Interkulturalität nach außen sichtbar wird, z.B. durch mehrsprachiges Informationsmaterial, die Beschäftigung von Migrant/-innen, den Aufbau multikultureller Teams, Fort- und Weiterbildungen sowie die enge Kooperation mit Migrantendiensten und mit Multiplikatoren der Migrantencommunities (vgl. Eppenstein/Kiesel 2008; Gaitanides 2006; Simon-Hohm 2004; Jungk 2001). Strukturelle Maßnahmen führen allein noch nicht zur »interkulturellen Öffnung« einer Institution. Wie Zeman (2002: 12) unterstreicht, entscheide letztlich die »interkulturelle Akzeptanz« auf Seiten aller Beteiligten, d.h. der älteren Migrant/-innen, des Personals und der »deutschen Stammklientel«, über das Gelingen der Öffnung. Um diese zu fördern sei »interkulturelle Kompetenz« notwendig. Ohne den Erwerb dieser Kompetenz durch die Mitarbeiter/-innen sei »interkulturelle Öffnung« nicht möglich. Auch mit diesem Terminus kursiert in der Debatte ein Schlagwort, das mittlerweile durch eine Vielzahl von Definitionen gekennzeichnet ist und dadurch an Präzision eingebüßt hat.7 Gaitanides (2006: 223) zufolge hätten sich Sozialarbeiter/-innen auf zwei rein analytisch voneinander zu trennenden Ebenen zu qualifizieren. Interkulturelle kognitive Kompetenz umfasse Kenntnisse zu den Themenkomplexen Migration, Migrantengruppen, Herkunftsgesellschaften der Migrant/-innen, Herkunftssprachen, rechtliche, politische und soziale Lebensbedingungen im Einwanderungsland, Erscheinungsformen und Ursachen von Vorurteilen und Rassismus. Interkulturelle Handlungskompetenz beinhalte die ›klassischen‹ sozialen (Teil-)Kompetenzen Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und kommunikative Kompetenz, die in professionellen Begegnungen mit Menschen anderer kultureller und sozialer Herkunft von großer Relevanz seien. Selbstreflexion, die auf die Überprüfung nicht hinterfragter Wahrnehmungsweisen und Deutungsmuster abziele, werde dabei insgesamt Vorrang vor dem Erwerb kulturellen Wissens eingeräumt (vgl. ders. 2003: 47f.). ›Interkulturell kompetente‹ Mitarbeiter/-innen als Mitglieder multikultureller Teams hätten 7 | Begriffsbestimmungen werden z.B. vorgelegt von Zacharaki/Eppenstein/Krummacher (2009), Eppenstein/Kiesel (2008), Freise (2007), Auernheimer (2009, 2005, 2002), Gaitanides (2006, 2003), Handschuck/Klawe (2004), Castro Varela (2002), Leenen/Groß/Grosch (2002), Leiprecht (2002), Simon-Hohm (2002) sowie Hinz-Rommel (1994).
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eine Brückenfunktion zu den unterschiedlichen Nutzergruppen einer Einrichtung, um auch sie in den »interkulturellen Öffnungsprozess« einzubinden (vgl. Zeman 2002: 12). Fraglich bleibt, ob und inwiefern punktuelle Fortbildungen »interkulturelle Kompetenz« über moralische Appelle hinaus zu vermitteln in der Lage sind und zu nachhaltiger Verhaltens- und Einstellungsänderung führen können.8 Das Paradigma der »interkulturellen Öffnung« wird in der Sozialen Arbeit tendenziell abgelöst von Diversity-Ansätzen, die mit ihren Gestaltungsvorschlägen weitreichender sind.9 Sie heben explizit auf das breite Spektrum gesellschaftlicher Vielfalt ab, ohne die Ziele »interkultureller Öffnung« dabei auszuklammern (vgl. H. Schröer 2009, 2006). Diversity-Konzepten im Rahmen von Institutionen geht es im Wesentlichen darum, Unterschiede in allen ihren Facetten anzuerkennen, wertzuschätzen und zu fördern. Da sie dabei in der Regel auch auf ihr Nutzbarmachen abheben, geraten sie nicht selten in die Kritik der Vermarktung von Vielfalt. Vor dem Hintergrund von Diversity-Ansätzen oder Maßnahmen zur »interkulturellen Öffnung« stehen spezielle Dienste für Migrant/-innen perspektivisch zur Disposition. Bei erreichter Öffnung der Regelversorgung verlören diese ihre Legitimation. Ihre Abschaffung wird von Fachexpert/-innen allerdings nicht vertreten (vgl. Gaitanides 2001b; Simon-Hohm 2004). Migrationsdienste gelten auch zukünftig als unverzichtbare fachliche Ergänzung. Auch bezüglich der Sicherstellung der Versorgung alter Migrant/-innen wird von einem Teil der Fachexpert/-innen gefordert, zusätzliche Angebote zu schaffen, die »den jeweiligen nationalitäten- bzw. kulturspezifischen Bedingungen Rechnung tragen« (BMAS 1995: 413). Einer solchen, auf einzelne ethnische Herkunftsgruppen zugeschnittenen Versorgung kann durch den Aufbau neuer Sonderdienste außerhalb des Regelsystems entsprochen werden. Beispiele für diese Variante wären ›ethnisch ausgerichtete‹ Begegnungsstätten, wie sie von Migrationsdiensten oder in Selbstorganisation bereits initiiert wurden, und ambulante Pflegedienste, die sich auf ein konkretes Herkunftsklientel spezialisieren. Eine andere Variante ist die Schaffung von spezifischen ›Versorgungs8 | Auf eine ausführliche kritische Diskussion des Begriffspaares der »interkulturellen Kompetenz« sowie des häufig in diesem Zusammenhang ebenso gebrauchten Begriffspaares des »interkulturellen Lernens« wird hier verzichtet und auf die bereits genannten Publikationen sowie auf Mecheril (2002) und Hamburger (2006) verwiesen. Im Rahmen dieser Arbeit genügt der Hinweis, dass sowohl die »interkulturelle Öffnung« als auch der Erwerb »interkultureller Kompetenzen« Programmatiken sind, die bisher weder breit umgesetzt wurden, noch etwas über den faktischen Stellenwert von Ethnizität und Kultur in Praxissituationen aussagen. 9 | Im erziehungswissenschaftlichen Kontext gelten Diversity-Ansätze als Möglichkeit der Weiterentwicklung Interkultureller Pädagogik (vgl. Hormel/Scherr 2005: 205ff.).
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räumen‹ innerhalb der bestehenden Altenhilfeinstitutionen, etwa Stationen für ältere Muslime in Pflegeheimen (vgl. hierzu Hielen 1998a, 1996). Diese Forderung nach »kulturspezifischen Inseln« (Zeman 2005: 81) ist der These vom »ethnischen Rückzug« und dem damit einhergehenden »Wiederaufleben von Ethnizität« im Alter auf besonders konsequente Weise verpflichtet (vgl. Kapitel 2.4). Die Programmatik der »interkulturellen Öffnung« widerspricht dieser These nicht. Schon im Terminus ›interkulturell‹ wird die Relevanz der oft herkunftskulturell gedachten Kategorie Kultur im Rahmen von institutioneller Versorgung dokumentiert und »kultursensibles Handeln« gefordert. Allerdings wird hier ›interkulturellem‹ Dialog gleichermaßen Raum gegeben. Die Vertreter/-innen ethnienspezifischer Versorgungsmodelle lehnen die Öffnung der Regeleinrichtungen der Altenhilfe für Migrant/-innen keineswegs grundsätzlich ab. Diese wird jedoch vorrangig durch das Argument gestützt, dass eine nationalitäten- bzw. ethnienspezifische Angebotsstruktur flächendeckend kaum realisierbar sei. Insbesondere kleinere Migrantengruppen könnten dabei nicht adäquat berücksichtigt werden und seien insofern strukturell benachteiligt (vgl. Dietzel-Papakyriakou/Olbermann 1996b: 84f.). Vor allem im teilstationären und im stationären Bereich seien derzeit kaum Quantitäten potenzieller Nutzer/-innen erreichbar, die ethnienspezifische Konzepte durchführbar machten (vgl. Hielen 1998b: 49). Hielen zufolge müsse die Forderung nach »interkultureller Öffnung« der Altenhilfe differenziert betrachtet werden. Dort, wo ethnienspezifische Angebote existierten, bedürfe es keiner »interkulturellen Öffnung«. Die Vermeidung von »›Zwangsintegration‹ im Alter« (ebd.) wird in diesem Zusammenhang als ein weiteres Argument für die Etablierung spezieller Angebote ins Feld geführt. Eine ›ethnisch ausgerichtete‹ Versorgungsstruktur trage »der gesellschaftlichen Realität der faktischen Nichtintegration Rechnung« (vgl. ders. 2005: 8). Hielen weist auch darauf hin, dass nationalitäten- und religionsspezifische Einrichtungen letztlich die Wahlmöglichkeiten erweiterten, sein Alter nach bestimmten Vorstellungen und Lebensauffassungen zu gestalten. Sie erweitern insofern das Angebotsspektrum. Zeman (2005: 81) dagegen sieht in der Errichtung eines exklusiven Systems die Gefahr der »kulturalistischen Festschreibung auf ethnische Unterschiede – also eher Segregation als Integration – möglicherweise unter Vernachlässigung sozialer Unterschiede«. Es spräche einiges dafür, beide konzeptionellen Strategien zu verfolgen. Dafür plädieren letztlich auch Hielen (2005) und Zeman (2005). Es handele sich nicht um Alternativen, sondern um komplementäre Angebote. Dem ist m.E. unter der Prämisse zuzustimmen, dass Migrant/-innen nicht pauschal auf die Inanspruchnahme bestimmter – ethnienspezifischer – Dienste verwiesen, sondern ihre subjektiven Entscheidungsmöglichkeiten gefördert würden. Nur ein faktisch hinreichend flexibles Versorgungssystem wird dem individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf alter Menschen gerecht. Eine flexible Umgangs-
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weise mit ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten im Rahmen von Versorgung wird nicht nur auf struktureller Ebene erörtert. Auch auf der Ebene des Handelns wird die Art und Weise des Einbezugs dieser Kategorien diskutiert. Im Weiteren rücken daher die Handlungsansätze und -methoden der Sozialen Arbeit, vorrangig die Soziale Beratung, ins Zentrum. Immer öfter wird im fachwissenschaftlichen Diskurs eben jene angedeutete Flexibilität hinsichtlich der Berücksichtigung ethnisch-kultureller Differenzierungen gefordert (vgl. Hamburger 2006; Mecheril 2004a). Nur so könne eine fallbezogene, kontextspezifische Bezugnahme gewährleistet werden, die Überbetonungen ethnischkultureller Differenzierungen ebenso vermeidet, wie deren Negierung dort, wo sie für Adressat/-innen der Sozialen Arbeit von Relevanz sind. Doch wie kann eine solche Umgangsweise zwischen Sozialarbeiter/-innen und Migrant/-innen in der Beratung praktisch gestaltet werden? Und inwieweit tragen vorhandene Beratungsansätze einem solchen Anspruch bereits Rechnung?
3.2 S OZIALE B ER ATUNG IM K ONTE X T VON A LTER UND M IGR ATION Ähnlich wie in der Diskussion um die Ausrichtung der Versorgungsstruktur für alte Migrant/-innen zeigen sich auch in den Konzepten sozialarbeiterischen Handelns unterschiedliche, zum Teil konträr zueinander verlaufende Ansichten über den Einbezug ethnisch-kultureller Faktoren. Die Frage nach der Relevanz bzw., wie Franz Hamburger im Titel eines Aufsatzes von 1999 grundlegender formuliert, nach der »Tragfähigkeit der Kategorien ›Ethnizität‹ und ›Kultur‹« im (sozial-)pädagogischen Kontext ist eine seit der Kritik am interkulturellen Paradigma Anfang der 1990er Jahre immer wiederkehrende, bisher scheinbar nicht hinreichend geklärte. Denn durch den Fachdiskurs wurde seitdem darauf hingewiesen, dass sowohl der Einbezug ethnisch-kultureller Gesichtspunkte als auch ihr Nicht-Einbezug die Handlungsfähigkeit in der Sozialen Arbeit auf eine Weise beeinflussen kann, die den Adressat/-innen und ihren Lebenswelten nicht gerecht wird. Anhand von Beratungsansätzen in der Sozialen Arbeit sollen im Folgenden die zentralen erkennbaren konzeptionellen Paradigmen der Debatte herausgestellt und in den Rahmen der gewählten Forschungsperspektive dieser Arbeit eingeordnet werden. Dabei sind aus dem breiten Spektrum beraterischer Hilfen zwei Arbeitsgebiete zu betrachten, die jeweils eigenen Beratungstraditionen folgen. Migrantenberatung und Beratung in der Altenhilfe weisen bislang kaum konzeptionell erwähnenswerte Querverbindungen auf, Kooperationen bestehen allenfalls einzelfallbezogen. Während in der Beratung der Altenhilfe bislang kaum auf Migrant/-innen als Zielgruppe explizit eingegangen wird, gehen von der Migrationssozialarbeit immer wieder
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konzeptionelle Impulse aus, die sich auch auf die Gestaltung der Beratung des Regelsystems beziehen. Doch vorerst gilt es, den Beratungsbegriff selbst in seiner spezifisch sozialarbeiterischen Ausrichtung näher zu charakterisieren. Die beraterischen Hilfen in der Sozialen Arbeit werden unter dem Begriff der Sozialen Beratung zusammengefasst. Sie ist eine der wichtigsten Handlungsmethoden. Sickendiek/ Engel/Nestmann (2002), deren Begriffsverständnis breite Rezeption innerhalb der Sozialen Arbeit erfährt, definieren Beratung als »eine Interaktion zwischen zumindest zwei Beteiligten, bei der die beratende(n) Person(en) die Ratsuchende(n) – mit Einsatz von kommunikativen Mitteln – dabei unterstützen, in bezug auf eine Frage oder auf ein Problem mehr Wissen, Orientierung oder Lösungskompetenz zu gewinnen.« (Ebd.: 13)
Dieser allgemeinen Bestimmung zufolge handelt es sich um einen interaktiven und kommunikativen Prozess, bei dem zum einen die Beratungsfähigkeit der Ratsuchenden notwendige Voraussetzung ist (ebd.: 42)10 und zum anderen die Gestaltung der Beratungsbeziehung einen zentralen Stellenwert einnimmt. Diese gilt als wichtigste Dimension einer Beratung überhaupt, da sie im erheblichen Maße über den Erfolg eines Beratungsprozesses mitentscheidet (ebd.: 129ff.). Im Kontext der Beratung von Migrant/-innen verdient unter anderem die kommunikative Dimension besondere Beachtung insoweit Berater und Ratsuchende nicht über dieselben kommunikativen Möglichkeiten in einer Sprache verfügen und gegebenenfalls vermittelt über dolmetschende Personen kommunizieren. Diese Konstellation wirkt sich auf die Beratungsbeziehung aus und damit auch auf das Gelingen einer Beratung. Die für die Soziale Arbeit charakteristische Orientierung in der Beratung besteht nun darin, die Komplexität von Problemlagen einzufangen, indem sie deren individuelle, soziale und gesellschaftsstrukturelle Anteile gleichermaßen beachtet und dabei die alltägliche Lebenswelt der Ratsuchenden zum zentralen Bezug ihres Handelns erklärt. Soziale Beratung ist – so Sickendiek/Engel/Nestmann (ebd.: 17) – eine Hilfe in Problemfeldern, »die sich auf Schwierigkeiten von Individuen oder Gruppen in und mit ihrer sozialen Umwelt beziehen. Unter sozialer Umwelt sind sowohl nähere soziale Kontexte wie Familie, Verwandtschaft, berufliche und schulische Umwelt oder Freundeskreise zu verstehen wie auch übergreifende, z.T. nur noch vermittelt erlebte gesellschaftliche Be-
10 | Die Beratungsfähigkeit eines bzw. einer Ratsuchenden kann im Rahmen der Altenhilfe unter anderem dann prekär sein, wenn eine fortgeschrittene Demenz oder eine schwere (geronto-)psychiatrische Erkrankung vorliegt.
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dingungen. Soziale Beratung bezieht sich zudem auf die materiellen, rechtlichen und institutionellen Strukturen der sozialen Umwelt.«
Im Hinblick auf die Deutung der Beratungsprobleme ist danach entscheidend, dass diese zum einen als in der Lebenswelt auftretende und insofern alltagsnah zu behandelnde befunden werden und dass sie zum anderen nicht allein als Schwierigkeiten einzelner Individuen gelten. In der Sozialen Beratung wird vielmehr vom Scheitern einer Problembearbeitung ausgegangen, wenn nicht der soziale und gesellschaftliche Bedingungskontext des Problems eingebunden werden (ebd.: 83). Mit Verweis auf Thiersch, der den Lebenswelt-Begriff zur theorie- und praxisleitenden Maxime in der Sozialen Arbeit entwickelte11, sprechen Sickendiek/Engel/Nestmann auch von »lebensweltorientierter Beratung« (ebd.: 18). Lebenswelt ist dabei »jener Ausschnitt der Wirklichkeit, der unmittelbar erlebt und unter Beteiligung des Subjekts fortwährend neu in Aushandlung mit der sozialen Umwelt konstruiert wird« (Nestmann/Sickendiek 2005: 147). Diese »erfahrene Wirklichkeit« nehme Einfluss auf Wahrnehmung, Sinngebung und Handeln der Menschen und bestimme auch über ihre Bedürfnisse. Von ihrer konzeptionellen Ausrichtung her verfolgt Soziale Beratung als Handlungsmethode demnach das Ziel, (alltags-)kulturelle und strukturelle Komponenten von Beratungsproblemen zu integrieren, worauf in diesem Kapitel im Zusammenhang mit der Beratung von Migrant/-innen noch einzugehen sein wird. Ein weiteres zentrales Kennzeichen Sozialer Beratung liegt in ihrem Bestreben nach Achtung der Autonomie der Ratsuchenden. Denn neben dem Leisten konkreter Hilfen, wie der Erschließung von sozialrechtlichen Ansprüchen oder der Organisation sozialer Dienste, zielt Soziale Beratung auch auf die Befähigung ihrer Ratsuchenden, Probleme selbstverantwortlich zu bewältigen (ebd.: 140). Überlegungen Mollenhauers aufgreifend weist Ansen (2006: 20ff.) darauf hin, dass jede Soziale Beratung insofern immer auch eine pädagogische Dimension habe. Der Berater unterstütze die Ratsuchenden durch das Gespräch darin, in eine kritische Distanz zu ihren Problemen zu treten und diese auf eine Weise zu reflektieren, die ihnen den Blick auf eigenständige Bewältigungsmöglichkeiten eröffnet. Im Idealfall basiert Soziale Beratung auf Freiwilligkeit. Allerdings läuft sie in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit mit Kontroll- und Gewährleistungsfunktionen einher (vgl. Sickendiek/Engel/Nestmann 2002: 42). Eine Koppelung pädagogischer und Sozialleistungen bewilligender Aufgaben, wie sie z.B. in der behördlichen Altenberatung einiger Kommunen vorgesehen ist, geht in der Regel zu Lasten des Beratungsauftrages (siehe hierzu Kapitel 3.2.1).
11 | Zum Lebensweltbegriff in der Sozialen Arbeit vgl. Thiersch (2009) sowie Grunwald/Thiersch (2008).
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Angesichts des Umfangs und der Heterogenität möglicher Problemfelder hat sich innerhalb der Sozialen Arbeit ein ausdifferenziertes System beraterischer Angebote entwickelt, das in der Regel einer themenbezogenen Spezialisierung folgt, z.B. Erziehungsberatung, Trennungs- und Scheidungsberatung, Schuldnerberatung oder Suchtberatung. Diese Aufsplitterung beraterischer Hilfen gefährdet potenziell die Berücksichtigung der Komplexität von Problemlagen und kann dazu führen, dass Ratsuchende zu Klient/-innen mehrerer Beratungsstellen werden. Das Migranten- und das Altenberatungssystem sind zunächst nicht themen-, sondern zielgruppenorientiert. In ihrer Binnenstruktur zeigen sie diesbezüglich jedoch Unterschiede. Während die Altenhilfe neben allgemeinen Beratungsstellen auch über ein spezialisiertes problembezogenes Beratungssystem verfügt, z.B. Wohnberatung, Pflegeberatung, Beratung Demenzkranker und ihrer Angehörigen, folgt das System der Migrantenberatung einer anderen Logik. Der Rechtsstatus der Ratsuchenden sowie ihre ethnischkulturelle Zugehörigkeit können hier maßgebend sein. Doch zunächst soll ein Blick auf die Beratung alter Menschen dieses Feld für den Kontext der vorliegenden Arbeit näher charakterisieren.
3.2.1 Beratung in der Altenhilfe In allen Arbeitsfeldern der Altenhilfe, d.h. des offenen, ambulanten, teilstationären und stationären Bereichs, findet Beratung durch Soziale Arbeit zumindest als Teil der jeweiligen Hilfen statt. Sie steht üblicherweise an entscheidenden Stellen der Versorgung alter Menschen, so z.B. bei erstmaliger Inanspruchnahme institutioneller Leistungen, bei Weitervermittlungen an soziale oder pflegerische Dienste und bei deren Koordinierung (vgl. Karl 2007: 284). Ihr kann insofern eine für die Ratsuchenden entscheidende, den Versorgungsprozess wesentlich mit beeinflussende, steuernde Funktion zugeschrieben werden. Neben den beraterischen Hilfen in Institutionen, wie dem Krankenhaus oder dem Altenheim, und in den bereits erwähnten thematisch spezialisierten Angeboten sind die eigenständigen allgemeinen Altenberatungen in ausgewiesenen Beratungsstellen und in Beratungssprechstunden von Altenbegegnungsstätten von großer Bedeutung. Sie zeichnen sich durch ihren generalistischen Charakter aus und beraten in allen das Alter betreffenden sozialen, psychischen und materiellen Problemlagen. Ein zentrales Unterscheidungskriterium der Angebote ist die Gestaltung des Zugangs zum alten Menschen. Dabei sehen Beratungen mit so genannter Komm-Struktur, z.B. im Rahmen von Behörden, besonders hohe Zugangsvoraussetzungen für die Ratsuchenden vor. Sie agieren ausschließlich auf Anfragen hin und überlassen insofern die Initiative der Inanspruchnahme dem alten Menschen selbst oder nehmen den Kontakt nur dann zu ihm auf, wenn sein soziales Umfeld ihnen dies anzeigt. Beratungen mit so genannter Bring-Struktur hingegen sind gemeinde- bzw. stadtteilnah ausgerichtet und be-
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mühen sich aktiv um die Kontaktaufnahme zu alten Menschen. Ihre Intention ist, präventiv zu wirken und auch mobilitätseingeschränkte und isoliert lebende Personen zu erreichen. Von beachtlicher Relevanz im Arbeitsfeld der Altenhilfe sind, insbesondere für die letztgenannten Personenkreise, überdies Berater/-innen, die ihre Ratsuchenden in deren unmittelbarem Lebensumfeld aufsuchen, etwa in Form von Hausbesuchen. Auch Beratungen mit ›Komm-Struktur‹ sehen dies teilweise vor, wenn ein inhaltlicher Anlass es erfordert. Im empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung stehen diese allgemeinen sozialen Beratungsangebote für alte Menschen im Zentrum des Forschungsinteresses und zwar sowohl im institutionellen Kontext von Altenbegegnungsstätten als auch im Rahmen von Hausbesuchen durch behördliche Altenberater/-innen (siehe Kapitel 5). Gesetzliche Grundlage der Beratung für alte Menschen ist § 71 des Zwölften Sozialgesetzbuches (SGB XII). Altenhilfe wird dort als eine Pflichtaufgabe der Kommunen verankert mit dem Ziel, »Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit zu erhalten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen.« (§ 71 Abs.1 SGB XII)
Zur Umsetzung dieser Zielvorgabe ist in Absatz 2 ein Leistungskatalog präventiver und rehabilitativer Maßnahmen vorgegeben, der die Förderung gesellschaftlichen Engagements, Hilfen zum Wohnen und zur Inanspruchnahme altersgerechter Dienste, Leistungen in den Bereichen Kultur, Bildung und Geselligkeit sowie die Stützung bestehender sozialer Netze anspricht. Dabei bilden die persönliche Beratung und Unterstützung den Schwerpunkt der Hilfen. Hervorzuheben ist, dass Altenhilfe einkommens- und vermögensunabhängig allen alten Menschen bei Bedarf gewährt wird (siehe § 71 Abs.4 SGB XII). § 71 SGB XII weist insofern über die sonstigen Leistungen für Ältere nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch, wie die Grundsicherung im Alter (§ § 41-46) und die Hilfe zur Pflege (§ § 61-66), hinaus. Eine Altersgrenze sowie weitere nähere Bestimmungen der Umsetzung sieht das Gesetz nicht vor und überlässt dies den Kommunen. In der Regel richtet sich die Hilfe an Menschen ab dem 60. Lebensjahr. Obwohl die Vorhaltung einer Altenhilfe-Infrastruktur seit Einführung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahr 1962 – dort im Rahmen des fast wortgleichen § 75 – eine Pflicht der Kommunen im Rahmen der Daseinsvorsorge12 12 | Die kommunale Daseinsvorsorge umfasst die Sicherstellung der Grundversorgung aller Bürgerinnen und Bürger, darunter die Gewährleistung von gemeinwohlorientierten Einrichtungen im Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Kulturwesen, sowie die Wahrung größtmöglicher Zugangsgerechtigkeit zu diesen Diensten (vgl. Olk 2007). Sie gilt als ein Aspekt des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) und wird durch das grund-
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darstellt, sind die Gestaltungsspielräume so breit, dass die Altenhilfe nicht nur bundesweit unterschiedlich umgesetzt, sondern zum Teil sogar aus fiskalischen Beweggründen heraus prekär wird (vgl. BMFSFJ 2001: 238). Die Kommunen realisieren die Beratung im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen der Altenhilfe entweder durch behördliche Beratungsstellen selbst, z.B. in so genannten »Leitstellen Älterwerden«, oder durch die Beauftragung anderer Träger. Altenberatung wird infolgedessen von einem breiten Spektrum an öffentlichen, freigemeinnützigen, kirchlichen, privatgewerblichen und zivilgesellschaftlichen Anbietern getragen. Da in dieser Arbeit der Fokus auf der Frage der Gestaltung von Beratung liegt, genauer auf den Umgangsweisen zwischen Berater/-innen und Rat suchenden alten Migrant/-innen, ist es ertragreich, die vorherrschenden Paradigmen sozialer Altenarbeit einzubeziehen, durch die Altenberatung beeinflusst wird. Das altenpolitische Leitbild »ambulant vor stationär« ist in diesem Zusammenhang grundlegend. Ihm zufolge hat das oberste Ziel aller Hilfen darin zu bestehen, den Ratsuchenden ein weitgehend selbstständiges Leben im Alter im eigenen Wohnraum zu ermöglichen respektive stationäre Versorgung zu vermeiden oder zu verzögern (vgl. Schweppe 2005a: 336; sowie BMFSFJ 2001: 267f.). Diesem Leitbild liegen finanzielle Erwägungen zugrunde, es entspricht jedoch auch dem Wunsch der Mehrheit der Älteren. Seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 ist eine deutliche Verschiebung vom Sozial- zum Gesundheitswesen im Feld der Altenhilfe zu konstatieren, die bis in die soziale Altenberatung thematisch hineinwirkt. Gründend auf einem primär medizinisch ausgerichteten Pflegebegriff des Pflegeversicherungsgesetzes (siehe § 14 SGB XI), dominiert insgesamt ein medizinisch-somatisches Paradigma, das Leistungen der Sozialen Arbeit sowohl hinsichtlich ihrer finanziellen Grundlage als auch inhaltlich zur Disposition stellt (vgl. Schweppe 2005a: 338; sowie Hoppe 2005: 58f.). Soziale Arbeit gerät dadurch unter Druck, ihr konzeptionelles Profil im Feld der Altenhilfe zu klären, will sie nicht durch medizinisch-pflegerische Berufsgruppen ersetzt werden. Eine primär medizinische Auslegung des altenpolitischen Leitbildes »ambulant vor stationär« greift indes zu kurz. Beratung, die sich auf die Information und Aufklärung über pflegerische Leistungen sowie deren Organisation begrenzt, fängt die Komplexität der Faktoren nicht ein, die Selbständigkeit im eigenen Wohnumfeld fördern oder begrenzen. Einer medizinisch-pflegerisch verengten Altenhilfe wird es schwerlich gelingen, die Eigenkräfte des alten Menschen langfristig dahingehend zu stärken, gesetzlich verankerte Gestaltungsrecht der Kommunen in allen »Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft« (siehe Art. 28 Abs. 2 GG) geschützt. Kommunen verfügen allerdings über eine subsidiäre Gewährleistungsverantwortung, d.h. sie sind nicht verpflichtet, öffentliche Aufgaben primär in eigener Zuständigkeit zu verwirklichen. Der Begriff der Daseinsvorsorge geht zurück auf Forsthoff (1938).
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dass er autonom, aber nicht isoliert in der Umgebung seiner Wahl leben kann. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Alter nicht allein unter Bedürftigkeits- und drohenden Abhängigkeitsaspekten zu denken ist, sondern als eigenständige, zu gestaltende Lebensphase. Der dritte Altenbericht der Bundesregierung benennt in seinem Verständnis von sozialer Altenarbeit Leitlinien, die anschlussfähig sind an grundlegende sozialarbeiterische Orientierungen, wie sie bereits eingangs im Zusammenhang mit dem Beratungsbegriff von Sickendiek/Engel/Nestmann Erwähnung fanden: »Eine moderne soziale Altenarbeit muss sich am Anspruch und an den Rechten älterer Menschen auf Selbstbestimmung orientieren und sie offensiv vertreten (Autonomieorientierung). Sie knüpft an das an, was für alte Menschen sinnvoll sowie handlungsrelevant ist (Lebensweltorientierung).« (BMFSFJ 2001: 238)
Die drei vorherrschenden Leitbilder der sozialen Altenarbeit, die im Fachdiskurs um das Verhältnis der Sozialen Arbeit zum Alter identifiziert werden (vgl. Schweppe 2005a; Zeman 1996; auch BMFSFJ 2001), berücksichtigen die hier angedeuteten Perspektiven der Achtung von Autonomie und Selbstbestimmung sowie der Lebensweltorientierung unterschiedlich und laufen ihnen zum Teil sogar zuwider. Sie setzen jeweils eine Normalität des Alters als gegeben voraus und tendieren dazu, auf den Prozess des Altwerdens diesbezüglich einzuwirken. Dies trifft vor allem auf die historisch älteren, aber nach wie vor in der praktischen Altenarbeit anzutreffenden Leitbilder des »betreuten Alters« der 1960/70er Jahre und des »aktiven Seniors« der 1970/80er Jahre zu. Das Leitbild des zu »gestaltenden Alters« der 1990er Jahre hingegen entspricht der Definition des dritten Altenberichtes am ehesten. Im Leitbild des »betreuten Alters«, das vom Alter als einer Lebensphase des körperlichen, geistigen und seelischen Verfalls ausgeht, wird Altenarbeit als ein den älteren Menschen umsorgendes und unterhaltendes Angebot konzipiert. Es ist noch heute präsent in traditionellen Altenbegegnungsstätten und Altenclubs, in denen sich das Programm auf geselliges Kaffeetrinken und Diavorträge reduziert, sowie in Beratungsverständnissen, die vornehmlich auf Hilfe, Betreuung und Versorgung ausgerichtet sind. Dem entgegen steht das Leitbild des »aktiven Seniors«, das von dem Gedanken getragen wird, durch kontinuierliche Aktivität Rückzugs- und Abbauerscheinungen alter Menschen entgegen wirken zu können. »Aktivierung« wird zur Maxime erhoben, der ältere Mensch dementsprechend zur Mitwirkung an Freizeitbetätigungen motiviert. Ihm wird dabei allerdings eine altershomogene Nische zugewiesen, in der mit speziellen altersspezifischen Veranstaltungszuschnitten auf scheinbare Bedürfnisse alter Menschen reagiert wird. Die Kritik an diesen beiden Leitbildern (vgl. Zeman 1996: 42ff.; sowie Schweppe 2005a: 333) richtet sich gegen die inhaltliche Stan-
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dardisierung von Angeboten. Selbstverwirklichung und Produktivität im Alter blieben gänzlich außen vor. Auch sei die normierende Sicht auf die Lebensphase Alter nicht mehr zeitgemäß. Die Pluralität von Lebensstilen und Lebensvorstellungen alter Menschen werde nicht berücksichtigt. Seit den 1990er Jahren wird im Fachdiskurs um Alter und Soziale Arbeit davon ausgegangen, dass die allgemein zu konstatierenden gesellschaftlichen Pluralisierungsprozesse auch eine Entstandardisierung der Lebensphase Alter bewirkt hätten. Die daraus resultierende Vielfalt an Lebensformen im Alter müsse in den Angeboten aufgegriffen und sichtbar werden (vgl. Schweppe 2005a: 334). Für die Altenberatung bedeutet dies, keine ›typischen‹ Lebensentwürfe bei ihren Ratsuchenden vorab erwarten zu können, sondern auf heterogene Beratungsbedarfe flexibel zu reagieren (vgl. hierzu Karl 2007: 282). Aus diesem Zusammenhang heraus wurde ein Leitbild entwickelt, das Schweppe (2005a: 334) mit dem zu »gestaltenden Alter« umschreibt und das die bewusste, selbstreflexible Gestaltung dieser Lebensphase ins Zentrum rückt.13 Ausgehend von der Individualisierungsthese, in der die Freisetzung des Einzelnen aus vorgezeichneten, kollektiv verbindlichen Lebensmustern beschrieben und auf das damit in Verbindung stehende ambivalente Verhältnis von neuen Handlungschancen und Freiheiten einerseits sowie neuen Risiken und Zwängen andererseits hingewiesen wurde, schlussfolgert Schweppe, dass »Alter eine gestaltbare und gestaltungsnotwendig gewordenen [sic!] Lebensphase ist und durch eigenes Handeln, ohne den Rückgriff auf gemeinsam geteilte Lebensformen hergestellt werden muss.« (Ebd.)
Soziale Arbeit, die sich dem Leitbild des zu »gestaltenden Alters« verpflichtet fühlt, habe ihren Auftrag in der Unterstützung alter Menschen bei der Bewältigung dieser gestiegenen Gestaltungsanforderungen im Alter zu sehen. Ihr Ziel bestehe darin, ein möglichst eigenverantwortlich gestaltetes Alter und die Findung eines subjektiv als befriedigend und sinnvoll erlebten Lebensentwurfs zu ermöglichen und zu fördern. Auch dieses Leitbild ist nicht ganz frei von Normierungen. So weist Zeman (1996: 47) darauf hin, dass die Voraussetzungen und Chancen zur Realisierung dieser »neuen Option des Alter(n)s« sozial ungleich verteilt seien. Soziale Arbeit habe dies in Betracht zu ziehen und mit den Ratsuchenden situativ angemessene, von ihrer Lebensrealität ausgehende Vorstellungen und Ziele des Alterns zu entwickeln. Der Biographiebezug spielt in diesem Leitbild eine herausgehobene Rolle (vgl. Schweppe 2005a: 334, sowie 1996). So gelte es, biographische Diskontinuitätserfahrungen, die in der Lebensphase Alter aufgrund der Häufung kritischer Lebensereignisse potenziell 13 | Zum Teil wird auch vom »produktiven Alter« oder vom »neuen Alter« gesprochen (vgl. Zeman 1996: 43f.). Die Definitionen weisen jeweils leichte Unterschiede auf.
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oft vorkommen, durch reflexive Bearbeitung und Reinterpretation der Lebensgeschichte zu vermeiden oder zu bewältigen (vgl. dies. 2005a: 336). Soziale Altenarbeit sei in diesem Sinne als Förderin »biographischer Anschlussfähigkeit« (ebd.: 344) bei sich verändernden Lebensverhältnissen zu verstehen. Schweppe (ebd.: 343) verweist auf zwei strukturelle Probleme sozialer Altenarbeit, die sowohl in der beruflichen Praxis als auch auf der Ebene von Empirie und Theorieentwicklung angesiedelt seien. Sie gelte es zu beheben, will die Soziale Arbeit nicht dauerhaft in eine Randposition innerhalb der Altenhilfe geraten. Die zwei sich bedingenden »Versäumnisse«, die sie sieht, sind auch in Bezug auf die Weiterentwicklung der Versorgung für alte Migrant/-innen bedeutsam. So wird erstens der praktischen Altenhilfe vorgeworfen, sich nur zögerlich Modernisierungserfordernissen zu stellen (vgl. auch Zeman 2005: 78). Noch immer orientiere sie sich vornehmlich an nicht mehr zeitgemäßen, fürsorglich orientierten Leitbildern. Es fehle an einer hinreichenden Ausdifferenzierung der Angebote, um der Pluralisierung des Alters gerecht zu werden (vgl. Schweppe 2005a: 343). Eine mangelhafte Berücksichtigung von Pluralität ist jedoch wenig lebensweltorientiert und kann dazu führen, dass alte Menschen den Normalvorstellungen und Maßstäben von Institutionen untergeordnet werden. Am Beispiel des Umgangs mit Migrant/-innen in sozialen Institutionen ist diese Praktik als »Diskriminierung durch Gleichbehandlung« oft beschrieben worden (z.B. Kalpaka 1998; Barth 1998). Dem Gleichbehandlungsanspruch folgend werden existierende Selbstverständlichkeiten in den Einrichtungen der Altenhilfe nicht in Frage gestellt und daraufhin überprüft, inwiefern sie den Vorstellungen sich verändernder Adressatenkreise entsprechen. Eine solche Haltung kommt der Leugnung der faktischen Bedeutung von Differenz gleich, wie sie im so genannten colour blind approach formuliert wurde (vgl. Auernheimer 1992). Die Gleichbehandlung strukturell und kulturell Ungleicher missachte die Wirkungsmacht von Differenz sowie die gegebenenfalls vorliegenden spezifischen Bedarfe von Adressat/-innen und führe insofern zur Verfestigung von Diskriminierung. Die Berufung auf Gleichbehandlung folgt in der Regel einem vermeintlich universalistischen Anspruch im Hinblick auf die institutionellen Handlungskonzepte und -methoden. Die Altenhilfe basiert dies betreffend auf der Vorstellung, ihr Klientel sei homogen deutsch. Abweichungen hiervon stellen für sie zunächst ein Problem dar, das spezifische Lösungen erfordere. Die Vorstellung vom und die Ausrichtung ihrer Angebote am ›homogen deutschen Alter‹ kann als ein weiteres vorherrschendes Altersbild in der sozialen Altenarbeit formuliert werden. Die verstärkte Berücksichtigung von Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb des Fachdiskurses verweist einerseits zwar auf ein Bewusstsein von der zunehmenden Pluralisierung der Altenbevölkerung, andererseits wird durch die Art und Weise, wie von alten Migrant/-innen die Rede ist (vgl. Kapitel 2.2), tendenziell eine ›erneute‹ Homogenität konstruiert, die entlang ethnischer Kri-
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terien erfolgt und die diese Pluralität des Alters nicht innerhalb der Migrantenbevölkerung wahrnimmt. Mit einiger Vorsicht vor pauschalisierenden Schlussfolgerungen ließe sich diagnostizieren, dass neben das Altersbild des ›homogen deutschen Alters‹, das als in sich überaus heterogen betrachtet wird, nun die Vorstellung vom ›ethnischen alten Migranten‹ rückt, der sich in einem weitgehend homogenen ›ethnischen Umfeld‹ bewege. Diese Annahme kann sich handlungspraktisch in einer dem erwähnten colour blind approach gegenteiligen Haltung, einer übermäßigen, dem Individuum kaum gerecht werdenden Betonung ›ethnisch-kultureller Differenz‹ äußern. Auf die Implikationen dieser Haltung in (sozial-)pädagogischen Situationen wird im Folgenden im Zusammenhang mit den Paradigmen der Migrationssozialarbeit näher eingegangen. Vorerst soll das zweite von Schweppe konstatierte Strukturproblem sozialer Altenarbeit benannt werden. Sie beklagt einen Mangel an »sozialpädagogischer Expertise« innerhalb des Arbeitsfeldes der Altenhilfe und sieht diesen begründet in der Randstellung der Altenarbeit innerhalb einer historisch vornehmlich jugendorientierten Sozialen Arbeit (vgl. Schweppe 2005b: 39). Es fehle an einem wissenschaftlich fundierten fachlichen Selbstverständnis. Weder hätten die Diskurse um Theoriebildung in der Sozialen Arbeit bislang Alter entsprechend einbezogen, noch existierten nennenswerte empirische Forschungen zu altersbezogenen Fragestellungen, die grundständig sozialpädagogisch ausgerichtet seien. Dabei sei – so Schweppe (ebd.: 42) – die »kritische und selbstkritische Überprüfung der bisherigen, oft noch stark in traditionellen Altersbildern verhafteten, schablonisierten sozialpädagogischen Dienste und bisheriger Professionalisierungsmuster« dringend geboten. Diese Einschätzung deutet auf die Relevanz praxisnaher Forschung. Hier bestehen Forschungslücken, die entsprechend auch für den in dieser Studie fokussierten Ausschnitt aus dem Arbeitsgebiet der Altenhilfe, der Versorgungssituation alter Migrant/-innen, vorliegen. Beim Blick auf die Beratung in der Altenhilfe und die Leitbilder sozialer Altenarbeit ließ sich feststellen, dass die durch den Forschungsstand zu alten Migrant/-innen bekannten Fakten und vertretenen Forderungen (vgl. Kapitel 2 und Kapitel 3.1) bislang kaum Eingang gefunden haben.14 Die Migrationssozialarbeit sowie der migrationsbezogene Fachdiskurs in Sozialarbeit und Pädagogik bieten diesbezüglich weiterführende Perspektiven. Ihre Reaktionen auf und Umgangsweisen mit migrationsbedingter Pluralität sind deshalb nun das Thema.
14 | Kaewnetara/Uske (2001) verweisen auf eine Diskrepanz zwischen dem Fachdiskurs um Alter und Migration und der praktischen Altenarbeit.
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3.2.2 Beratung und Migration In kaum einem anderen Feld der Sozialen Arbeit zeigen sich die für die Profession gemeinhin bekannten Verschränkungen mit staatlich-politischen Vorgaben15 so klar wie in der Migrationssozialarbeit. Ihre Struktur und ihre inhaltliche Ausrichtung hängen eng mit der Einwanderungsgeschichte Deutschlands und den damit verbundenen Politiken zusammen. Die Orientierung am Rechtsstatus ihrer Adressat/-innen, die synchron mit dem jeweiligen Anstieg der Zuzugszahlen zur Ausbildung eigenständiger Hilfesysteme für Arbeitsmigrant/-innen und ihre Familienangehörigen, (Spät-)Aussiedler und Flüchtlinge führte, ist dafür ein Beleg.16 Im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen die aus der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit seit der Zeit der Arbeitskräfteanwerbung resultierenden zentralen konzeptionellen Denkrichtungen. Sie dokumentieren zum Teil die Funktionalisierung durch Ausländerpolitik, zum Teil jedoch auch den Versuch, sich von dieser Abhängigkeit zu emanzipieren. Die in der Literatur der Interkulturellen Pädagogik und der interkulturellen Sozialen Arbeit vielfach grob unterschiedenen drei Paradigmen der »Ausländerpädagogik«, der »klassischen interkulturellen Pädagogik« sowie der »kritischen Reflexion der interkulturellen Pädagogik« und ihren Weiterentwicklungen17, haben auch Beratungsansätze im Kontext von Migration beeinflusst. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen in ihrer Art und Weise auf migrationsbedingte gesellschaftliche Pluralität sozialarbeiterisch zu reagieren und dabei Ethnizität und Kultur zu thematisieren. Obgleich sie größtenteils aus der Kritik auf jeweils zeitlich vorangehende Ansätze heraus entstanden sind, ist keine dieser Richtungen dabei gänzlich überwunden worden, so dass von einer Gleichzeitigkeit der Prinzipien im Feld der Migrantenberatung ausgegangen wird (vgl. Mecheril 2004a: 371). Wie Mecheril (ebd.) vermutet, bezögen sich Beratungspraxen zudem nicht konsequent auf eines, sondern situativ auf unterschiedliche Paradigmen.
15 | Hierbei handelt es sich vor allem um den gesetzlich definierten Auftrag und die Abhängigkeit von staatlichen Finanzierungen. 16 | Nachzeichnungen der Entwicklung der Sozialen Arbeit im Kontext von Migration verweisen ausführlich auf diese dichte Verzahnung (vgl. Eppenstein/Kiesel 2008; Hamburger 2006; auch Cyrus/Treichler 2004). 17 | Diese Aufteilung folgt Nohl (2006), der unter »klassische interkulturelle Pädagogik« die frühen Ansätze der 1980er Jahre fasst, nicht jedoch ihre späteren Weiterentwicklungen. Ähnliche Systematisierungen finden sich bei Nieke (2008), Krüger-Potratz (2005) und Diehm/Radtke (1999). Die Autor/-innen unterscheiden sich zwar zum Teil in ihren Unterteilungen und ihren Einschätzungen der Diskurse, verweisen jedoch insgesamt auf diese groben Richtungen, mitunter in kritischer Hinsicht.
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Die »Ausländersozialberatung«, später als »Migrationsberatung« bezeichnet, wird vor allem in ihrer frühen Ausrichtung der 1960er und 1970er Jahre mit dem ausländerpädagogischen Paradigma in Verbindung gebracht. Ihre konzeptionellen Anfänge waren von drei in diesem Zusammenhang relevanten Grundzügen geprägt. Diese können als die Traditionslinien herausgestellt werden, innerhalb derer sich die heutige Migrationsberatung sowohl in ihren Kontinuitäten als auch in ihren kritischen Abgrenzungen von diesen Traditionslinien konstituiert hat. In Bezug auf ihren Adressatenkreis orientierte sie sich lange Zeit an ethnisch-nationalen Kriterien. Besonders deutlich wird dieser Grundzug in der bis 1999 geltenden Aufteilung der Zuständigkeit unter den Wohlfahrtsverbänden als Träger aus dem Jahr 1962. Diese richtete sich nach der Nationalität der Migrant/-innen und der damit verbundenen vermuteten religiösen Konfession derart, dass z.B. ›katholische‹ Spanier vom Caritas und ›christlich-orthodoxe‹ Griechen von der Diakonie beraten wurden (vgl. Hamburger 2002: 425). Diese Bestimmung legte Rat suchende Migrant/-innen je nach Herkunft pauschal auf die Sozialberatung eines bestimmten Wohlfahrtsverbandes fest und hat aus Tradition heraus auch nach ihrer formalen Aufhebung meist praktisch Bestand. Zweitens galt der Grundsatz »Landsleute beraten Landsleute« (Barth 2001: 203). Unter der Annahme, dass Herkunftssprache und ›kulturelle Nähe‹ als Kriterien gelingender Beratung genügten, wurden so genannte Sozialberater bzw. Sozialbetreuer eingesetzt, deren Qualifikationsmerkmale zunächst allein darin bestanden, derselben Nationalität anzugehören wie die Ratsuchenden sowie über gute Deutschkenntnisse zu verfügen. Trotz (Nach-)Qualifizierungen zum »staatlich geprüften Sozialberater« und der vermehrten Einstellung von Sozialarbeiter/-innen mit Migrationshintergrund in den 1980er Jahren schlägt sich dieses fachliche Defizit bis heute auf das Image der Migrationsberatung innerhalb der Sozialen Arbeit nieder. Nicht selten wird den Berater/-innen mangelnde professionelle Distanz unterstellt (vgl. Gaitanides 2001b: 55).18 Das Prinzip der Zuständigkeit von Berater/-innen mit Migrationshintergrund für Ratsuchende mit Migrationshintergrund, meist ungeachtet dessen, ob die gleiche Herkunft vorliegt oder nicht, reproduziert sich oft in Beratungsstellen des Regelsystems, die sich ›interkulturell öffnen‹ wollen. In einem solchen Verständnis, das qualifizierte Sozialarbeiter/-innen auf ein nicht-fachliches Kriterium ›Migrationshintergrund‹ reduziert und ihnen dadurch einen Sonderstatus innerhalb von Teams zuweist, finden sich ausländerpädagogische Kontinuitäten.
18 | Vgl. hierzu kritisch schon Thränhardt (1983), der vor allem auf das fehlende klare Berufsbild sowie auf die Berater-Klient-Konstellation Bezug nimmt; diese sei nicht von beruflichen Standards, sondern oft von »persönlich gefärbten Abhängigkeitsverhältnissen« (ebd.: 64) gezeichnet gewesen.
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Das dritte Charakteristikum betrifft die fehlende inhaltliche Profilierung der »Ausländersozialberatung« zum Teil bis heute. Die Sozialberater hatten vor allem in der Anfangszeit einen Beratungsauftrag zu erfüllen, der vom Aufgabenspektrum her nicht umgrenzt war und in eine diffuse Allzuständigkeit mündete.19 Vom Ansatz her war die frühe Ausländerberatung jedoch nicht auf Integration in die deutsche Gesellschaft angelegt (vgl. Wagner 2007).20 Die Beratung konzentrierte sich in der Praxis auf Orientierungshilfen im Alltag, ausländer- und sozialrechtliche Fragen, Dolmetschertätigkeiten, z.B. im Kontakt mit Behörden, sowie Rückkehrberatung. Zwar weitete sich das inhaltliche Spektrum mit den Veränderungen der Migrantenbevölkerung durch Familiennachzug um Themen wie Erziehung, Schule, berufliche Bildung und Gesundheit aus, die konzeptionelle Linie blieb aber bis zu den 1990er Jahren im Wesentlichen dieselbe. Es ging vorrangig um die Überwindung von Anpassungsschwierigkeiten an die deutsche Gesellschaft und den Erhalt der ›Rückkehrfähigkeit‹ ins Herkunftsland. Mit der politischen Anerkennung dauerhafter Einwanderung orientierte sich die Migrationsberatung neu. Die Zusammenführung von Ausländer- und Spätaussiedlerberatung zu einer Migrationserstberatung nach den Vorgaben des Zuwanderungsgesetzes von 2005 dokumentiert allerdings erneut die Verzahnung von Migrationssozialarbeit und Politik (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 200ff.). Das inhaltliche Profil, das sich nun auf die gezielte Initiierung, Steuerung und Begleitung der Integration von Neuzuwanderern für die Dauer von maximal drei Jahren (vgl. BMI 2004: 9) zuspitzt, gefährdet das Beratungsangebot für bereits länger in Deutschland lebende Migrant/-innen.21 Diese werden stärker als bisher auf die Regeldienste verwiesen und sind dort auf faktische Zugangsmöglichkeiten angewiesen. Die Kritik an der »Ausländerberatung«, die bereits Anfang der 1980er Jahre geäußert wurde und aus der später die Forderung nach »interkultureller Öffnung« entstand, setzt an deren konzeptioneller Ausrichtung an.22 Die Ausländersozialarbeit sei einseitig auf Probleme fokussiert und deute diese ebenfalls einseitig als Defizite auf Seiten der ›Ausländer‹. Argumentiert würde mit dem 19 | Die schriftlichen Fixierungen von »Grundsätzen der Sozialberatung« in den Jahren 1984 und 1998 änderten daran in der Praxis wenig. 20 | Die Flüchtlingsberatung ist dies bis heute nicht. 21 | Dessen Finanzierung ist seitdem auf die alleinige Bereitstellung von Ländermitteln oder auf Eigenmittel der Träger angewiesen. Der Bund hat sich damit aus der vorherigen (Mit-)Finanzierung von Ausländer- und Spätaussiedlerberatung zurückgezogen (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005: 200). 22 | Einschlägige Publikationen mit Vertretern der frühen Kritik im Bereich der Sozialen Arbeit sind Hamburger u.a. (1983a) und Griese (1984).
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so genannten Modernisierungsrückstand, der es Migrant/-innen aus weniger entwickelten Gesellschaften erschwere, deutsche Gewohnheiten zu übernehmen. Diesem defizitorientierten Blick läge – so Mecheril (2004a: 372ff.) in seiner Zusammenfassung der Kritik – eine dominante Normalitätsvorstellung zugrunde, die allen denjenigen, die von dem darin implizierten Maßstab abwichen, einen Mangel zuschreibe, der durch den Einsatz pädagogischer Maßnahmen zu kompensieren sei. Ausländerpädagogisch orientierter Sozialarbeit wird unterstellt, auf diese Weise politisch erzeugte Probleme zu pädagogisieren und dadurch zu einer Stigmatisierung und Klientelisierung ihrer Adressat/-innen beizutragen. Sie habe sich von ausländerpolitischen Interessen instrumentalisieren lassen (vgl. Hamburger u.a. 1983b) und sei assimilatorischen Charakters. Mit der Etablierung des interkulturellen Paradigmas in Pädagogik und Sozialarbeit im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre gewannen zunehmend Ansätze der »interkulturellen Beratung« an Relevanz. Wie Mecheril (2007: 296) diagnostiziert, werden Beratungssituationen gemeinhin dann als »interkulturell« verstanden, wenn »eine professionelle Person, die Repräsentantin der kulturellen Mehrheit ist, es mit Klienten zu tun hat, die kulturellen Minderheiten angehören«. Es handele sich somit um Situationen angenommener kultureller Differenz, die sich durch die Anwesenheit so genannter Anderer, z.B. »Ausländer« oder »Migranten«, konstituierten. Mit »interkulturellen Beratungssituationen« werden spezifische differenzsensible Anforderungen an das Handeln und den Umgang mit den Ratsuchenden verbunden, die über herkömmliche professionelle Fähigkeiten hinausreichten. Diese kreisten – im Unterschied zur defizitorientierten ausländerpädagogischen Beratungsperspektive – um die Anerkennung dieser Differenzen als gleichwertige und gleichberechtigte, bereichernde Realitäten einer als multikulturell verstandenen Gesellschaft. Charakteristisch für diese Sichtweise ist insbesondere zweierlei. Zum einen richtet sich der Fokus nun nicht mehr ausschließlich auf den ›Ausländer‹ bzw. die ›Ausländerin‹, sondern auf die Beziehung, vornehmlich die Begegnung und den Dialog, zwischen Mehrheits- und Minderheitenangehörigen.23 Zum anderen richtet sich die Aufmerksamkeit auf kulturelle Differenzen und damit auf den Begriff der Kultur, der von da an als relevant in (sozial-)pädagogischen Settings, wie der Beratung, angesehen wird. Nun bemerkt Mecheril, »eine Gleichsetzung von Kulturdifferenzen mit nationalen oder ethnischen Differenzen« (ebd.). Denn obgleich im Zuge der Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik ein offener dynamisch-prozesshaft beschriebener Kulturbegriff, der nicht allein auf
23 | Vgl. zum interkulturellen Paradigma zusammenfassend Nohl (2006: 45ff.); Vertreter dieses Ansatzes sind z.B. Nieke (2008), Grosch/Groß/Leenen (2000) sowie in der Sozialen Arbeit Freise (2007).
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ethnisch oder national begründete Komponenten zu reduzieren sei24 , Einzug in den Fachdiskurs erhielt und sich dort auch weitgehend durchsetzte, gelingt es nach wie vor nur den wenigsten Ansätzen, konsequent den Blick zu weiten und sich von einer ethnischen Verengung zu lösen. Ausgehend von einem weiten Kulturbegriff ist jede Beratung als potenziell ›interkulturell‹ zu denken und zwar immer dann, wenn sie »sich mit Klienten befaßt, deren Werte, Wahrnehmungen der Realität und Lebensweisen unterschiedlich von denen des Beraters sind« (Nestmann 1999: 186). »Interkulturelle Beratung« ist daher unabhängig von Beteiligten mit Migrationshintergrund. So kann sich beispielsweise ein ›junger‹ Berater in der Altenhilfe schon unter Generationsgesichtspunkten in interkulturellen Situationen befinden.25 Hier wird bereits ein erster Kritikpunkt am interkulturellen Paradigma berührt. Die Kritiker (z.B. Hamburger 1999a; Radtke 1995) monieren allerdings nicht allein die ethnische Verengung des Kulturbegriffs, sondern überhaupt die Tatsache, Differenzen hervorzuheben bzw. Ratsuchende als kulturell different zu verstehen, auch wenn dies in einem ›positiv‹ gemeinten Sinn erfolge. Eine solche Betonung von Differenz würde diese nicht nur festigen, sondern teilweise überhaupt erst produzieren. Kultur – genauer ›die Kultur‹ der Klient/-innen – halte oftmals allzu schnell und vor allem einseitig als Erklärungsmuster in sozialarbeiterischen und pädagogischen Praxissituationen her. Diese Kulturalisierung, bei der es sich genau genommen um eine auf vermeintliche Herkunftskulturen bezogene Ethnisierung handele, stelle eine unzulässige Simplifizierung weit komplexerer Problemursachen dar (vgl. Kalpaka 2004). Es fehle am Bewusstsein für die soziostrukturelle Dimension von Problemlagen, vor allem für Fragen sozialer Ungleichheit und institutioneller Diskriminierung. Das Bestreben, kulturelle Differenzen als ›gleichwertig‹ zu behandeln, negiere ihre faktische gesellschaftliche Hierarchisierung und sei insofern eine Verschleierung von Machtunterschieden auch in sozialarbeiterischen Situationen.26 Zudem werde der Blick auf die individuellen Besonderheiten des Ein24 | Zum Beispiel in Anlehnung an die Cultural Studies (vgl. Hall 1999; Clarke u.a. 1981); zu den Begriffen Kultur und Ethnizität und ihrer Abgrenzung voneinander vgl. ausführlich Kapitel 4. 25 | Im empirischen Teil dieser Arbeit stehen hingegen Beratungskonstellationen im Zentrum, in denen ein Sozialarbeiter ohne Migrationshintergrund und Ratsuchende mit Migrationshintergrund interagieren. Diese Herangehensweise begründet sich aus der verfolgten Fragestellung, die Vorgängen der Ethnisierung in eben solchen Konstellationen nachgehen möchte (vgl. Kapitel 5). Ob es sich in den einzelnen Fällen um interkulturelle Beratungssituationen handelt, ist – Mecheril (2007) folgend – nicht von vornherein zu entscheiden, sondern würde auf einer Prüfung basieren, ob diese von den Beteiligten als ›interkulturell‹ thematisiert werden. 26 | Diese Kritik wird z.B. von Mecheril (2002: 22) aufgegriffen.
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zelfalles verunmöglicht (vgl. Hamburger 2006). »Interkulturell aufgeklärte« Pädagog/-innen agierten nicht selten am Individuum und seiner Lebenswelt vorbei, denn sie würden mit verfestigten herkunftskulturellen Vorverständnissen an Ratsuchende herantreten und dabei die zunehmende »Differenzierung der Migration« (ders. 2008), die sich in der Pluralisierung von Lebensformen und -bedingungen der Migrantenbevölkerung zeige, verkennen. Die Auseinandersetzung zwischen strukturtheoretischen und kulturtheoretischen Positionen, wie sie etwa zwischen Radtke (1995) und Auernheimer (1996) in den 1990er Jahren geführt wurde, markiert die Extrempole der Kontroverse um Interkulturalität in der Pädagogik.27 Sie mündete in unterschiedliche Denkentwürfe, die die kulturelle und die strukturelle Dimension als komplementär begreifen. Für die Soziale Arbeit und für die Erläuterung und Begründung der Forschungsfrage, die hier behandelt wird, sind die Überlegungen Hamburgers (2009, 2006, 1999b), Nestmanns (1999) und Mecherils (2007, 2004a, 2002) ertragreich, die letzten beiden insbesondere in ihren Konkretisierungen für die Methode der Beratung. Franz Hamburgers Ansatz der »reflexiven Interkulturalität« ist der Versuch einer solchen konsequenten Verbindung von Kultur und Struktur. So betont er in einem Aufsatz von 2006, dass es ihm trotz aller Kritik an interkulturellen Ansätzen nicht um eine »Anti-Interkulturalität« (ebd.: 185) gehe, die kulturelle Differenzen für gänzlich irrelevant erklärt, sondern um die Überwindung der Enge des interkulturellen Paradigmas. Reflexivität versteht er als Auseinandersetzung bzw. als »Selbst-Konfrontation« mit den nicht beabsichtigten Konsequenzen dieses Paradigmas. Hamburger erläutert seine Vorstellungen, die er begrifflich dem Konzept der »reflexiven Modernisierung« (Beck 1996) entlehnt,28 mit Bezug auf die Ebenen der Empirie und der Praxis Sozialer Arbeit. So plädiert er dafür, die Kritik am interkulturellen Paradigma zu fundieren, indem er fordert, »empirisch die Folgen und Wirkungen einer interkulturell orientierten Sozialen Arbeit zu untersuchen und dabei der These nachzugehen, dass die Institutionalisierung der interkulturellen Perspektive eine analytische Verengung vornimmt und kulturelle Iden-
27 | Zur ausführlichen Darlegung der beiden Positionen vgl. Hall (1999); zu Ansätzen Interkultureller Pädagogik vgl. die Zusammenstellung von Gogolin/Krüger-Potratz (2006: 109ff.). Strukturtheoretische Positionen, die ihren Blick auf Herrschaftsverhältnisse und die Mechanismen gesellschaftlicher Ungleichberechtigung richten und den Kulturbegriff gänzlich verwerfen, finden sich in der Sozialen Arbeit z.B. in antirassistischen Ansätzen. Diese haben allerdings im deutschsprachigen Raum kaum breite Resonanz erfahren (vgl. für Großbritannien Dominelli 1997). 28 | Zur inhaltlichen Herleitung vgl. Hamburger (2009: 127ff.).
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tifikationen in einem Maße verstärkt, dass neue Probleme entstehen und Konflikte verschärft werden.« (Ders. 1999b: 38)
Ihm geht es mit der Prüfung dieser These um zweierlei, und zwar zum einen um die Überwindung der Fixierungen auf nur eine Dimension sozialer Beziehungen, die die Individuen auf kulturelle Differenzen festlege und sie dadurch in ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit verfehle. Als Alternative sei Flexibilität gefordert, die die Mehrdimensionalität von Situationen berücksichtige. Zum anderen will Hamburger vor einer übermäßigen Thematisierung von Differenzen warnen, denn sie leiste der Ontologisierung ethnisch-kultureller Zuschreibungen Vorschub. Stattdessen müsse Sensibilität dafür entwickelt werden, Interkulturalität ausschließlich »dort, aber auch genau dort zu thematisieren, wo dies notwendig ist« (ebd.). Hamburger gibt allerdings kaum klärende Hinweise, woran eine solche Notwendigkeit zu erkennen wäre. Zu einer ähnlichen Einschätzung wie Hamburger kommt auch Albert Scherr (2002) in seinem Entwurf einer »pragmatischen Migrationssozialarbeit«.29 Er geht jedoch davon aus, dass ethnisch-kulturelle Unterschiede für eine Soziale Arbeit, die ihre Aufmerksamkeit auf die Ausstattung ihrer Adressat/-innen mit zentralen gesellschaftlichen Ressourcen bzw. auf die Zugangsmöglichkeiten zu diesen zu richten habe, zunächst irrelevant, und zwar im Sinne von »gleich-gültig«, seien. »Sie sind im Fall von Migranten und Einheimischen gleichermaßen nur dann von Interesse und Bedeutung, wenn sich Zusammenhänge mit dem Scheitern an den Bedingungen der Lebensführung in der modernen Gesellschaft nicht nur vermuten, sondern auf der Grundlage seriöser wissenschaftlicher Forschung nachweisen lassen.« (Ebd.: 193)
Scherr plädiert, wie Hamburger, für die wissenschaftliche Fundierung des Diskurses um Interkulturalität und Soziale Arbeit. Damit wendet er sich von einer ideologisch-programmatisch geprägten, von ungeprüften Annahmen getragenen Sozialen Arbeit im Kontext von Migration ab. Allerdings – und hierauf weisen beide hin – habe auch die Wissenschaft sich danach zu befragen, inwiefern sie Begrifflichkeiten und Argumentationsschemata der von ihr untersuchten Personen fraglos übernehme und zu empirischen Analysekategorien erhebe. Sie laufe ansonsten Gefahr, zur Reifizierung ethnisch-kultureller Zuschreibungen beizutragen, anstatt diese kritisch zu interpretieren (vgl. Hamburger 2009: 116ff.).30 Letzteres gelänge durch einen empirischen Perspektivwechsel von den ethnisch-kulturellen Differenzen selbst auf die Frage nach deren Ver29 | Diese stehe – so Scherr (2002: 195) – vor der Aufgabe »einer Selbstbegrenzung in Hinblick auf die überschießende Thematisierung kultureller Differenzen«. 30 | Zum Beitrag der Wissenschaften an der Konstruktion von Ethnizität und Kultur vgl. Bommes (1996), Bukow/Llaryora (1993) sowie Dittrich/Radtke (1990).
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wendung und auf die situativen Bedingungen ihrer Thematisierung. Ethnizität sei »Gegenstand und nicht Instrument der wissenschaftlichen Untersuchung« (ebd.: 125). Die Fähigkeit der bedachten Thematisierung kultureller Differenz stelle den Kern »reflexiver Interkulturalität« dar. Ihre Aneignung ist gleichzeitig die größte Herausforderung, mit der Hamburger professionell Handelnde konfrontiert. Sozialarbeiter/-innen müssten kompetent darin sein, »situativ relevante Kulturelemente« (ders. 2006: 185) zu erkennen und bearbeiten zu können. Dabei käme der Perspektive der Adressat/-innen eine herausgehobene Stellung zu, denn nur »[i]nsofern die Adressaten […] ihre Identität kulturell definieren und dies für die Bearbeitung ihrer Problematik relevant ist, soll auf dieses Bedürfnis angemessen eingegangen werden können.« (Ebd.)
Es gelte demnach zu respektieren, welche Bedeutung ein Migrant bzw. eine Migrantin selbst seinen bzw. ihren Zugehörigkeiten beimesse, andernfalls sei »keine Interaktion unter gleichberechtigten Personen, erst recht kein pädagogisches Verhältnis möglich« (ebd.: 187). Auch auf Beratungssituationen dürfte dies weitgehend zutreffen, allerdings mit dem ergänzenden Hinweis, dass von einer gleichberechtigten Beziehung zwischen Berater/-in und Ratsuchenden, auch unabhängig von ›kultureller Differenz‹ und den damit möglicherweise verbundenen Über- und Unterordnungsverhältnissen, schwerlich ausgegangen werden kann. Asymmetrien ergeben sich unter anderem bereits aus dem institutionellen Kontext beraterischen Handelns (vgl. hierzu die Einleitung zu Kapitel 6). Hamburger entwickelt seine Ausführungen zur »reflexiven Interkulturalität« an der Sozialen Arbeit im Allgemeinen. Es fehlen deshalb an manchen Stellen weiterführende Konkretisierungen, die sich z.B. auf einzelne Handlungsmethoden beziehen. Dadurch bleibt der Ansatz im Hinblick auf seine praktische Umsetzung recht vage und abstrakt. Mit Blick auf die Soziale Beratung ist zunächst festzustellen, dass ›interkulturelle‹ Beratungsforschung innerhalb der Sozialen Arbeit bislang keine Tradition hat. Die Bezeichnung »interkulturelle Beratung« wird zwar in der Praxis, vor allem in Fort- und Weiterbildungen, zunehmend angewendet, sie basiert jedoch in der Regel nicht auf einem theoretisch ausgearbeiteten Fundament. Bei vielen Ansätzen sind zudem Überschneidungen mit dem psychotherapeutischen Feld erkennbar, das sich weit intensiver mit interkulturellen Settings beschäftigt (vgl. Hegemann/Oestereich 2009; Schlippe/El Hachimi/Jürgens 2003; Hegemann/Lenk-Neumann 2002; Castro Varela u.a. 1998). Zur Darstellung eines sozialarbeiterisch ausgerichteten Denkansatzes kann auf Frank Nestmann zurückgegriffen werden, dessen Beratungsbegriff bereits eingangs zugrunde gelegt wurde. Nestmann, der sich seit den 1980er Jahren auch mit
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der Beratung von Migrant/-innen beschäftigt hat (vgl. Nestmann/Niepel 1993; Tiedt/Nestmann 1988), legt in einem Aufsatz von 1999 seine Auffassung von »interkultureller Beratung« vor. Diese ist insbesondere deshalb von Interesse, da sie – ähnlich wie Hamburgers Ansatz – von dem Anliegen getragen wird, die negativen Wirkungen des interkulturellen Paradigmas zu reflektieren, ohne auf den Kulturbegriff ganz zu verzichten. Anders als Hamburger räumt er allerdings Kultur eine exponierte Stellung im Beratungsgeschehen ein, während die strukturelle Ebene weitgehend unerwähnt bleibt. So postuliert Nestmann (1999: 190), »daß jede Beratung einen kulturellen Kontext hat und daß Beratungserfolge von der gekonnten Einbeziehung kultureller Überlegungen in einem Beratungsprozeß abhängig sind. Im Gegensatz dazu scheint eine Beratung, in der Kultur als irrelevant erachtet wird, nicht hilfreich.«
Die Annahme der Unumgehbarkeit von Kultur in der Beratung begründet Nestmann mit der Kulturgebundenheit der Individuen. Da diese kulturelle Wesen seien, müsse ihnen auch als solche begegnet werden. Erst die Berücksichtigung der kulturellen Dimension schaffe daher die Voraussetzung für ein besseres, möglichst tiefgehendes Verständnis der Ratsuchenden und ihrer Bedürfnisse, Ziele und Wünsche. Nestmann folgt einem weiten, nicht auf nationale oder ethnische Dimensionen beschränkten Kulturverständnis, das unter anderem darin erkennbar wird, Kultur als »stillen Teilnehmer« (ebd.: 186) an allen Beratungsprozessen zu begreifen und nicht nur an jenen mit Beteiligung von Migrant/-innen. Zugleich jedoch warnt Nestmann vor Stereotypisierungen und Kulturalisierungen seitens der Berater/-innen. »Eine große Gefahr für Klienten können […] ungeprüfte und unrealistische Erwartungen von BeraterInnen sein, die diese aufgrund ihrer eigenen Weltsichten […] vertreten« (ebd.: 187). Vielmehr gehe es um die »gekonnte Einbeziehung« von Kultur. Eine »kulturell aufeinander« abgestimmte Berater-Klient-Beziehung, wie sie z.B. im Grundsatz ›Landsleute beraten Landsleute‹ vertreten wird, lehnt Nestmann ab. Allgemeine Beratungskompetenzen, Empathie und kulturelle Sensibilität der Beratenden seien von weit größerer Bedeutung als die gleiche ethnische Zugehörigkeit. »Kulturelle Sensibilität« ist Nestmanns Pendant zur »reflexiven Interkulturalität« Hamburgers. Er definiert sie als »die Fähigkeit eines Beraters, ein angemessenes kulturelles Wahrnehmungsschema im Rahmen interkultureller Beratung anzunehmen, zu entwickeln und aktiv zu nutzen« (ebd.: 192). Dies beinhalte die Berücksichtigung der Individualität des Ratsuchenden, der nicht eine, sondern eine Vielzahl an kulturellen Gruppenzugehörigkeiten vorweise und diesen jeweils persönliche Bedeutungen beimesse. Insofern sei es im Prozess des Verstehens des Ratsuchenden in der Beratung wichtig,
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»die kulturellen Gruppen zu identifizieren, zu denen der Klient gehört, und dann den individuellen Rahmen und die persönlichen Muster zu entdecken, in der die Zugehörigkeit der Person zu diesen verschiedenen Gruppen ihre kulturellen Erfahrungen bestimmt.« (Ebd.: 191)
Daraus folge, dass jede Beratungsbeziehung von neuem daraufhin zu betrachten sei, inwieweit kulturelle Gesichtspunkte das thematisierte Problemverständnis prägten und zur Problembewältigung beitrügen. Dazu benötige der bzw. die Beratende neben der besonderen Aufmerksamkeit gegenüber kulturellen Faktoren auch die Fähigkeit, sich eine gewisse »Naivität im Vorverständnis« (ebd.) von kulturell unterschiedlichen Ratsuchenden zu erhalten. Nestmanns Überlegungen zur »interkulturellen Beratung« sind nicht allein aufgrund seiner Auslassung der strukturellen Seite und seiner nur marginalen Berücksichtigung der Wirkungsweisen von Kulturalisierungen an vielen Stellen ergänzungsbedürftig. Sie bleiben oft auf einer vagen, unkonkreten Ebene stehen, denn wie hat der bzw. die Beratende ein »angemessenes kulturelles Wahrnehmungsschema« einzunehmen? Wie wird in diesem Zusammenhang über die ›Angemessenheit‹ – ein Begriff, der auch bei Hamburger offen bleibt – entschieden? Wie kann es als Berater/-in gelingen, trotz fachlichen und erfahrungsbasierten Vorwissens ›naiv‹ zu sein? Sowohl Nestmanns als auch Hamburgers Überlegungen werfen weitere Fragen auf. Denn ungeklärt ist auch, ob nicht die von Hamburger geforderte Reflexion und Prüfung des eigenen Handelns professionell begründeter Anhaltspunkte bedarf und worin diese gegebenenfalls bestehen könnten. Beide Ansätze ergänzen sich indes in ihrem Plädoyer für eine situations- und fallbezogene reflexive Thematisierung von Kultur im sozialarbeiterischen Kontext, die den kulturellen Selbstverortungen der Ratsuchenden Vorrang einräumt. Dies sieht auch Paul Mecheril (2007, 2004a, 2002, 1998) nicht anders. Dessen Konzept einer »interkulturellen Dimension pädagogischer Beratung« stellt die bisherigen Gedanken jedoch weit konsequenter heraus und wird abschließend deshalb hier ergänzt, da es weitere Konkretisierungen auf die offen gebliebenen Fragen anbietet und dabei Hinweise liefert, die für die Forschungsfrage dieser Arbeit weiterführend sind. Mecherils Ansatz zeichnet sich vor allem dadurch aus, mit der Herausstellung der kulturellen Praktiken sowohl die Handlungsdimension von Kultur als auch den Ort interkulturellen Handelns sowie den mit diesem Ort verbundenen strukturellen Kontext, vor allem den der Ungleichheit und der Macht, ins Zentrum zu rücken. Zudem macht er auf die Grenzen professioneller Handlungsfähigkeit in einer Weise aufmerksam, die diese nicht einschränkt, sondern produktiv erweitert. Auch für ihn ist die Kulturalisierungskritik der Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Schon die in der Bezeichnung »interkulturelle Beratung« enthaltene Annahme der Interkulturalität einer Beratungssituation könne, so Mecheril (2004a: 376f.), nicht ohne weiteres fraglos vorab getroffen werden.
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Das Grundproblem sei, dass die dahinter liegende Absicht der Anerkennung kultureller Differenzen diese immer schon als existent voraussetze. Hierbei handele es sich jedoch um eine Festlegung des Anderen, die Kulturalisierungen tendenziell befördere. Eine Beratungssituation sei nicht ›an sich‹ interkulturell oder nicht interkulturell. Sie würde erst dazu, indem sie als solche verstanden werde. So gesehen verfüge eine Beratung dann über eine interkulturelle Dimension, wenn »die an der Beratungssituation beteiligten Akteure sich in einer für den Beratungsvorgang relevanten Weise unterschiedlichen kulturellen Unterscheidungspraxen zurechnen« (ders. 2007: 300). Interkulturalität sei demzufolge abhängig von den Perspektiven der Berater/-innen und der Ratsuchenden sowohl in Bezug auf die Beratungsbeziehung als auch in Bezug auf die Beratungsthemen und -inhalte. Sie ist insofern an den Beratungsvorgang selbst gebunden. Dieser sei zu allererst zu prüfen, bevor zu einer Einschätzung über die interkulturelle Dimension gelangt werde. Mit der Formulierung »interkulturelle Dimension von Beratung« (ders. 2004a: 377) beabsichtigt Mecheril, terminologisch klarer herauszustellen, dass diese Prüfung potenziell für jede Beratungskonstellation sinnvoll sein könne, und zwar unabhängig von der Anwesenheit »nicht-deutscher Ratsuchender«. Um seine Blickrichtung zu begründen und um darzulegen, wer unter welchen Fragestellungen Beratungssituationen zu prüfen habe, rückt Mecheril eine Dimension von Kultur in den Vordergrund, die oftmals außen vor bleibe.31 Kultur sei nicht allein als ein symbolisches Deutungssystem zu begreifen. Sie sei eine soziale Praxis, und zwar eine »Praxis der Unterscheidung, in der Bedeutungen als Unterschiede und Verhältnisse zwischen Menschen als Ungleichheiten (re-) produziert werden« (ders. 2007: 298). Damit meint Mecheril, dass die Muster des Handelns der Menschen als Muster der Differenz und Ungleichheit zu denken seien. Indem Menschen unterscheiden, konstituieren sie ihre Art zu leben. Kultur bringe dabei die Art und Weise zum Ausdruck, wie Menschengruppen unterscheiden (ebd.: 299). Differenzen seien deshalb keine naturgegebenen Phänomene, sondern würden in der alltäglichen Praxis hergestellt. Da jede Praxis der Unterscheidung eine machtvolle Praxis sei, versteht Mecheril Kultur auch als ein Phänomen der Macht.32 Aufgrund der ungleichen Verteilung materieller, sozialer, symbolischer und intellektueller Ressourcen seien Lebensformen von Menschengruppen durch partizipative Ungleichheit gekennzeichnet. 31 | Dies treffe – so Mecheril (2007: 298) – insbesondere auf essentialistische Kulturbegriffe zu, die die kulturelle Zugehörigkeit von Individuen als eine quasi natürliche, wesenhafte und unveränderliche Größe verstünden und sich auf deren symbolischen Gehalt konzentrierten (siehe Kapitel 4.1). 32 | Laut Mecheril (1998: 289) sei Macht »eine das Feld sozialer Realitäten konstituierende Kraft, die das ungleiche Verhältnis der Einflußnahme der sozialen Akteure aufeinander bewirkt und zum Ausdruck bringt«.
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Diese Ungleichheit sei konstitutiv für die Praxis des Unterscheidens und werde durch sie aufrechterhalten. Kultur sei – so Mecheril (ebd.) – auch eine Praxis der sozialen Imagination, und zwar insofern, als dass sie aus kollektiv erzeugten Traditionen, Mythen und Einbildungen bestehe, die sich außerhalb empirischer Erfahrbarkeit bewegten. Die Funktion dieser Imaginationen bestehe darin, die Komplexität von Lebensformen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht greifbar zu machen. Für das sozialarbeiterische Handeln bedeutsam sind vor allem Imaginationen in Bezug auf Personen. Mecheril spricht hiermit Bilder an, »in denen ein Gegenüber erzeugt, gedacht, definiert, festgeschrieben« (ders. 2007: 299) werde und die ihm Orte der Differenz und der Ungleichheit zuwiesen. Situationen können nach Mecheril dann als ›interkulturell‹ bezeichnet werden, wenn »unterschiedliche kollektive (Imaginations-)Praxen der Differenz und Ungleichheit miteinander in Kontakt kommen« (ebd.: 300). Durch seine Orientierung an den kulturellen Herstellungspraxen deutet Mecherils Verständnis von Kultur auf die Möglichkeit und gleichzeitig auf die Notwendigkeit, die interagierenden Personen und ihre Perspektiven sowie den Entstehungskontext und den Ort interkulturellen Handelns einer Analyse zu unterziehen. Nur auf diese Weise sind Aufschlüsse über die interkulturelle Dimension von Beratung zu generieren. Geprüft werden müsse deshalb primär – und hierin sieht Mecheril eine zentrale Aufgabe professionellen interkulturellen Handelns – der Gebrauch des Begriffes Kultur in einer Situation. Bei dieser von ihm so genannten (Selbst-)Beobachtungskompetenz (vgl. ders. 2002: 26) ginge es weniger um die Frage, ob kulturelle Unterschiede vorliegen, sondern darum, wer unter welchen Bedingungen und mit welchen Wirkungen kulturelle Differenzierungen benutze. Das Ziel dieser Beobachtung sei kein normatives, im Sinne eines richtigen oder problematischen Gebrauchs von Kultur, sondern die Einnahme einer reflexiven Haltung. Hier bezieht sich Mecheril explizit auf Hamburger. Es ginge darum, in Erfahrung zu bringen und in seinen (sozial-) pädagogischen Folgen abzuschätzen, welchen Sinn es für wen im Beratungsgeschehen mache, auf die Kulturkategorie zurückzugreifen. In einer »Heuristik einer reflexiven interkulturellen Beratungspraxis« (ders. 2004a: 378) führt Mecheril einige mögliche, die Reflexion leitende Fragen an, die Hamburgers weiter oben zitierten ›Wunsch‹ nach empirischer Prüfung der Thematisierung kultureller Differenz konkretisieren. So stellt Mecheril unter anderem die folgenden Fragen an Beratungssituationen: »Wer führt die ›Kultur‹-Perspektive ein? […] Wie wird ›Kultur‹ von welchem Akteur gebraucht: als Ursache des Problems, als Bedingung des Problems, als Konsequenz des Problems, als Ressource der Problemlösung…? Welche Erklärung wird mit der ›Kultur‹-Perspektive fokussiert? […] Gilt hinsichtlich des Erklärungsgehaltes der ›Kultur‹Perspektive ein Konsens? […] Wem schadet die ›Kultur‹-Perspektive, wem nützt sie? […] Welche Konsequenzen für professionelles Handeln resultieren aus dem fallspezi-
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fischen Gebrauch der ›Kultur‹-Perspektive? […] Welche weiteren zu ›Kultur‹ alternative Perspektiven zum Verständnis des Falles sind denkbar?« (Ebd.)
Interkulturelle Beratungssituationen werden, Mecheril zufolge, als solche erst im Beratungsgeschehen selbst hergestellt. Dieser Herstellungsprozess ist konsequenterweise nicht als einer zu denken, der zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen gelten kann, sondern er erstreckt sich über die gesamte Beratungsinteraktion. Er ist insofern offen bzw. permanent veränderbar. Was ergibt sich daraus für das professionelle Handeln und die von Mecheril aufgeführten beobachtenden und reflexiven Anforderungen? Eine »interkulturelle Kompetenz«, die von dem mehr oder weniger einfachen Erwerb instrumenteller Handlungsfähigkeiten ausgeht, müsste vor diesem Hintergrund zurückgewiesen werden. Rezeptologisch aufbereitetes, abrufbares Handlungswissen kann es im interkulturellen Kontext demnach nicht geben. Schon an eine Situation mit ›interkulturellem Wissen‹ heranzutreten, noch bevor entschieden ist, ob eine interkulturelle Dimension von Relevanz ist, ist mit Mecheril sogar skeptisch einzuschätzen und wird schließlich zur Kulturalisierungsgefahr. Ein solches ›Vor-Wissen‹ ist gleichzeitig jedoch unerlässlich, um überhaupt den Gebrauch von Kultur unterscheiden zu können. Mecheril (2002) setzt deshalb einem technologisch verkürzten Konzept von »interkultureller Kompetenz« eine »Kompetenzlosigkeitskompetenz« entgegen, die er definiert als ein »professionelles Handeln, das auf Beobachtungskompetenz für die von sozialen Akteuren zum Einsatz gebrachten Differenzkategorien gründet und das von einem Ineinandergreifen von Wissen und Nicht-Wissen, von Verstehen und Nicht-Verstehen hervorgebracht wird, ein Ineinandergreifen, in dem die Sensibilität für Verhältnisse der Dominanz und Differenz in einer handlungsvorbereitenden Weise möglich ist.« (Ebd.: 32)
Die Bezeichnung »Kompetenzlosigkeitskompetenz« beinhaltet eine Kritik am Kompetenz-Begriff, der die Möglichkeit des Erwerbs scheinbar notwendigen Wissens suggeriere. Mecheril geht es um Handlungsbereitschaften bzw. einen bestimmten »professionellen Habitus«, nämlich den »Hang zur Reflexivität und Reflexion«. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Grenzen von Wissen und auf die Grenzen des für den Beratungsprozess charakteristischen Bestrebens, den Anderen, hier den Ratsuchenden, zu verstehen (ebd.: 28ff.). Wissen sei eine machtförmige Praxis, denn die »Wissenden« definierten die soziale Wirklichkeit derjenigen, auf die sich dieses ›Wissen‹ bezieht, und legten diese darauf fest. Das vermeintliche Verstehen des Anderen durch ›Wissen über ihn‹ komme insofern seiner Bemächtigung gleich. Mecheril erinnert mit diesem Hinweis an die grundlegende Eigenheit hermeneutischer Prozesse, der zufolge ein Verstehen des Anderen nie ganz möglich sei. Jedes Verstehen beinhalte die Möglichkeit des Scheiterns. Es bleibe stets ein nicht überbrückba-
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rer Rest, der Nicht-Verstehen sei. Verstehen und Nicht-Verstehen, Wissen und Nicht-Wissen lägen insofern nahe beieinander. So definiert Mecheril Nicht-Wissen auch als ein »Wissen um die Grenzen des Wissens, seine Anwendbarkeit und um seine Eingebundenheit in Verhältnisse der Macht und Ungleichheit« (ebd.: 29). Der Ausgangspunkt professionellen Handelns liege für ihn in dem Ineinandergreifen von Wissen und Nicht-Wissen, von Verstehen und Nicht-Verstehen. Er spricht damit die Logik des hermeneutischen Zirkels an, der zufolge Verstehensvorgänge stets auf die wechselseitige Aufeinanderbezogenheit von Vorverständnis und dem zu Verstehenden angewiesen seien und sich daher in einer kreisförmigen bzw. – wie Klafki (1971/2001: 145) hervorhebt – in einer spiralförmigen Bewegung vollzögen. So betrachtet ließen sich Verstehensprobleme im interkulturellen Kontext – und zu dieser Einschätzung gelangt Koller (2003) – auch als eine spezifische Variante der generellen Problematik, die dem Verstehen als solchem innewohne, interpretieren. In einem hermeneutischen Sinne hätte sich die von Mecheril und von Hamburger für eine interkulturell orientierte Soziale Arbeit geforderte reflexive Prüfung des professionellen Handelns also in einer zirkulären bzw. spiralförmigen Bewegung zu vollziehen, bei der (Vor-)Wissen und die Spezifik des Einzelfalles wechselseitig aufeinander einwirken. Das (Vor-)Wissen sei fortwährend am Einzelfall zu prüfen, gegebenenfalls zu korrigieren und nähere sich diesem so allmählich an. Die Wahrscheinlichkeit des Gelingens von Verstehen hinge dabei von dem Bewusstsein über seine immanenten Grenzen und die Notwendigkeit des eigenen Scheiterns ab (vgl. Koller 2003: 530). Es käme insofern paradoxerweise darauf an, »den Abstand zwischen Subjekt und Objekt des Verstehens offen zu halten und so der Illusion zu entgehen, […] völlige Übereinstimmung herstellen und die Grenzen des Nicht-Verstehens überwinden zu können« (ebd.: 528). Gerade diese Anforderung ist es jedoch, die Sozialarbeiter/-innen in hohem Maße herausfordert. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird ersichtlich, dass im Kontext von Migration und Sozialer Arbeit weniger spezifische ›interkulturelle‹ Handlungskompetenzen respektive spezielle Umgangsweisen mit Migrant/-innen gefragt sind, sondern die anspruchsvolle Aufgabe besteht, eine konsequente hermeneutische Haltung in der sozialarbeiterischen Praxis einzunehmen. Diese ist im Besonderen in Situationen mit Beteiligung von Migrant/-innen angezeigt, da hier Kulturalisierungstendenzen dem Bestreben nach Verstehen des Anderen folgenreiche Hürden in den Weg stellen können.33
33 | Ähnlich beschreiben auch Eppenstein/Kiesel (2008: 148ff.) ›interkulturell kompetentes‹ Handeln als hermeneutischen Vorgang. Sie heben den dialogischen Charakter interkulturellen Verstehens hervor. Eine ›interkulturell kompetente‹ Praxis zeichne sich ihnen zufolge darin aus, dass die Beteiligten in einen gegenseitigen Verstehens-
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3.3 F ORSCHUNGSANFORDERUNGEN AN DIE S OZIALE A RBEIT IM K ONTE X T VON A LTER , M IGR ATION UND B ER ATUNG Die Reaktionsweisen der Sozialen Arbeit auf das Altern von Migrant/-innen – so konnte in diesem Kapitel festgestellt werden – sind auf einer berufspraktischen Ebene andere als auf theoretischer. Die sozialarbeiterische Praxis auf der einen Seite kann in ihrem Umgang mit Migrant/-innen kaum konzeptionelle Klarheit vorweisen. Sie changiert mehr oder weniger ungeprüft zwischen ›farbenblinden‹ Gleichbehandlungsansprüchen, ausländerpädagogischen und interkulturellen Prinzipien, wobei die jeweiligen zugrunde liegenden professionellen Kriterien – sofern vorhanden – meist implizit bleiben oder ideologisch-programmatischen Beweggründen folgen. Von Transparenz ist in diesem Zusammenhang deshalb wenig zu sprechen. Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive fehlt es an systematischen, explizit formulierten konzeptionellen Grundlagen im Handlungsfeld der migrationsbezogenen Sozialen Arbeit. Für den Bereich der Altenhilfe gilt dies aufgrund ihrer kurzen Tradition in der Versorgung alter Migrant/-innen in besonderer Weise. Empfehlungen, die auf eine Veränderung der Altenhilfepraxis zielen, sind hingegen vielfach formuliert worden. Durch die im Mainstream des Fachdiskurses diskutierten Themen, ob und wie die Regeldienste ›interkulturell‹ zu öffnen seien und inwiefern eine ›ethnienspezifische‹ ergänzende Struktur etabliert werden müsse, wird dokumentiert, dass die Kategorien Ethnizität und Kultur für relevant erachtet werden. Auf der anderen Seite existiert ein theoriegeleiteter – allerdings kaum auf die Praxis unmittelbar bezogener – Diskurs, der eben diese Annahme kritisch beurteilt und Hinweise für eine alternative Weiterentwicklung einer ›interkulturell orientierten‹ Sozialen Arbeit anbietet. Die Ansätze von Hamburger, Nestmann und Mecheril, auf die hier rekurriert wurde, stimmen darin überein, dass sie Reflexivität als Handlungsfähigkeit in interkulturellen Praxissituationen fordern. Nur eine konsequent situations- und fallspezifische Herangehensweise, die die Perspektive der Adressat/-innen vorrangig stützt bzw. diese zunächst überhaupt anerkennt und die sich von dem fraglosen, unreflektierten Umgang mit kulturellem Vorwissen löst, könne den Herausforderungen einer Sozialen Arbeit im Kontext von Migration gerecht werden und Kulturalisierungen umgehen. Diese Forderungen sind nicht neu. (Selbst-)Reflexivität, Situations- und Fallbezug gehören zu den grundlegenden Handlungsprinzipien Sozialer Arbeit. Es scheint jedoch, dass diese Prinzipien im Umgang mit Migrant/-innen einer besonderen Akzentuierung bedürfen, da sie ansonsten – nicht zuletzt aufgrund von Kulturalisierungen – in der Praxis wenig Beachtung finden. Hamburger und Mecheril plädieren für die wissenschaftliche Prüfung und Fundierung der und Verständigungsprozess träten. Interkulturelle Kompetenz könne demzufolge als »Dialogfähigkeit zur Erzeugung geteilter Bedeutungen« (ebd.: 150) verstanden werden.
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Praxis durch empirische Forschungen, die Ethnizität und Kultur zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen und vornehmlich sozialarbeiterisches Handeln selbst einer Analyse unterziehen. Von diesem Stand der Fachdiskussionen ausgehend lassen sich Forschungsanforderungen an die Soziale Arbeit im Kontext von Alter und Migration formulieren. Zeman (2005: 82ff.) hat in seiner Expertise für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf das Erfordernis hingewiesen, die Planung von Maßnahmen für alte Migrant/-innen auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Nun ist jedoch nicht allein die Datenlage zur Lebenssituation und zum Versorgungsbedarf alter Migrant/-innen zu fundieren, sondern auch der Kenntnisstand über die sozialarbeiterische Praxis im Umgang mit dieser Klientel. Mittels Praxisforschung könnte der Mangel an handlungsbezogenem Wissen behoben werden und weiterführende Erkenntnisse für die konzeptionellen Überlegungen generiert werden. Hierbei werden vor allem interaktionsorientierte Untersuchungen von Relevanz sein, die auch die Frage nach dem Gebrauch von Ethnizität und Kultur seitens der an der Versorgung von alten Migrant/-innen Beteiligten stellen. Das geringe Wissen über diese Kategorien im Rahmen von Sozialer Arbeit muss kompensiert werden. Sie als bedeutsame Differenzierungskategorien vorauszusetzen und unmittelbar in Handlungskonzepte zu übernehmen, stellt sich nicht als geeignete Lösung heraus. Das heißt, sowohl die Thesen Dietzel-Papakyriakous vom »Wiederaufleben von Ethnizität im Alter« und von »Ethnizität als Ressource« für das Altern als auch die These Vahsens von einer biographisch, kontextuell und situativ nicht gleich bleibenden subjektiv gestaltbaren Bedeutung ethnischer Verortungen (vgl. Kapitel 2.4) wären empirisch anhand der Praxis zu überprüfen, gegebenenfalls zu modifizieren und schließlich sozialarbeitspraktisch zu kontextualisieren. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie weist in diese Richtung. Gefragt werden, wie sich Beratungssituationen mit alten Migrant/-innen in den Regeldiensten der Altenhilfe gestalten und welchen Stellenwert dabei ethnische Faktoren einnehmen. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 dokumentierten Kenntnisse über die Lebenssituation alter Migrant/-innen, die die Annahme zulassen, dass beraterische Hilfen im Alter vorrangig aufgrund ökonomisch und gesundheitlich verursachter Problemlagen aufgesucht werden, gewinnen diese Fragen eine zusätzliche spezifische Note. Denn inwiefern wird Ethnizität in Beratungen dennoch Bedeutung beigemessen und welche Folgen hat dieser Bezug im Kontext des Beratungsgeschehens? Auf der Basis der bisherigen Ausführungen dürfte bereits deutlich geworden sein, dass mit dem Begriff der Ethnizität kein einfacher Begriff ins Zentrum dieser Arbeit gestellt wird. Gerade deshalb ist er hier jedoch zum Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses gewählt worden. Denn seine undurchsichtige, theoretisch und empirisch vernachlässigte Verwendung und Übernahme in die Soziale Arbeit ist dort nicht folgenlos. Der Versuch einer theoretisch und empi-
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risch gelenkten Herausarbeitung seiner Implikationen für sozialarbeiterisches Handeln ist insofern angezeigt und stellt m.E. die Voraussetzung jeglicher weiterer fachlicher Entwicklungen in diesem Bereich dar. Das Aufgreifen des Begriffes Ethnizität hat jedoch Konsequenzen hinsichtlich des methodologischen Zugangs zum Untersuchungsgegenstand. Denn auch der wissenschaftliche Gebrauch kann nicht folgenlos bleiben. Darauf verweisen sowohl Hamburger (2009: 116ff.) als auch eine Reihe weiterer Autoren, vor allem Dannenbeck/ Eßer/Lösch (1999), Bommes (1996), Radtke (1992) sowie Dittrich/Radtke (1990). Um nicht den in diesem Kapitel bereits mehrfach geschilderten Gefahren zu unterliegen, Ethnizität zu verdinglichen, sich an seiner Konstruktion durch den Forschungsprozess zu beteiligen oder gar im Forschungsfeld das zu entdecken, was selbst dort hineingelegt wurde, kurz, um Ethnisierungen zu vermeiden, sind im Vorwege der empirischen Untersuchung einige Überlegungen anzustellen. So wurde die Fragestellung explizit danach ausgerichtet, Ethnizität selbst als Differenzierungskategorie zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, und zwar an den Orten, an denen sie im professionellen Handlungskontext potenziell in Erscheinung tritt. Ethnizität wird dabei nicht als gegeben vorausgesetzt und von außen an das erhobene Material herangetragen, sondern als in dem untersuchten Ausschnitt aus der Praxis selbst geltend gemachte Kategorie in den Blick genommen. Durch einen bewusst offen gehaltenen Blick auf den Untersuchungsgegenstand, der allgemein nach der Gestaltung von Beratungssituationen fragt, werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, Nicht-Thematisierungen ›ethnischer Differenz‹ zu erfassen. Hamburgers Überlegungen zur Mehrdimensionalität von Situationen entsprechend bestätigte die empirische Analyse des hier vorliegenden Datenmaterials, dass auch Beratungen mehrdimensionale Prozesse sind, in denen Ethnizität eine mögliche, aber nicht die einzige Bezugskategorie der Beteiligten darstellt (vgl. Kapitel 5). Durch den Einbezug von Mehrdimensionalität können, so Hamburger, Ethnisierungsgefahren vermieden werden. Eine isolierte Analyse wäre demnach sowohl irreführend als auch schlicht nicht möglich. Dannenbeck (2002) und Dannenbeck/Eßer/Lösch (1999) haben in ihren empirischen Untersuchungen die wechselseitige Bedingtheit unterschiedlicher Zugehörigkeiten nachweisen können. Ethnizität sei demzufolge immer nur im Verhältnis zu anderen potenziellen Differenzierungen überhaupt denkbar. Die Entscheidung zur Bezugnahme auf Ethnizität erfolgt stets in Abgrenzung zu anderen möglichen Bezugnahmen, wie z.B. Alter oder Geschlecht, und lässt sich insofern nicht von diesen getrennt verstehen (vgl. Dannenbeck/Eßer/Lösch 1999: 237f.).34 Die komparative Analyse unterschiedlicher Bezugnahmen, auf die in Kapitel 5 methodisch genauer eingegangen werden wird, spielt bei der 34 | Leiprecht/Lutz (2006) unterscheiden 15 bipolare hierarchische Differenzlinien, die in ihren Kreuzungen und Verschränkungen – auch als »Intersektionalitäten« be-
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Datenauswertung deshalb eine bedeutsame Rolle dabei, Ethnisierungen als solche konturieren zu können. Schließlich muss bedacht werden, dass man sich dem Untersuchungsgegenstand nicht voraussetzungsfrei nähern kann. Die Nachvollziehbarkeit der theoretischen Vorannahmen, die auf den Forschungsprozess Einfluss nehmen, ist im Kontext qualitativer Verfahren von grundlegender Bedeutung. In der Ethnisierungsforschung werden diese Vorannahmen zu sensiblen Komponenten, die durchgehend mit einzubeziehen und zu reflektieren sind (vgl. Bommes 1996). Bevor deshalb die methodische Vorgehensweise und der Erhebungskontext der Daten im Detail dargelegt werden (vgl. Kapitel 5), ist zunächst der zugrunde liegende theoretische Rahmen, der bereits mit den soziostrukturellen und migrationsbezogenen Wissensbeständen über alte Migrant/-innen (Kapitel 2) und den berufspraktischen und konzeptionstheoretischen Reaktionen der Sozialen Arbeit (Kapitel 3) erschlossen wurde, durch eine Begriffsbestimmung der zentralen Kategorie Ethnizität unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Ethnizitätsforschung zu komplettieren. Andernfalls blieben die empirischen Betrachtungen hierüber beliebig. Dabei wird auch begründet, weshalb in der Arbeit einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Ethnizität und von Vorgängen der Ethnisierung gefolgt wird. Da der Kulturbegriff wesentlicher Bestandteil des Diskurses ist und dort nicht selten in einem ethnisch verengten Verständnis in Erscheinung tritt, sind diese beiden Kategorien für den Kontext dieser Arbeit begrifflich voneinander abzugrenzen. Auch diesbezüglich soll das folgende Kapitel mehr Klarheit verschaffen.
zeichnet – zu berücksichtigen seien; siehe auch Lutz/Wenning (2001); zum Zusammenspiel von Ethnizität und Geschlecht vgl. Weber (2003).
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4 Theoretische Zugänge zu Ethnizität und Kultur
Eindeutige theoretische Verständnisse von Ethnizität und Kultur existieren nicht. Die theoretischen Annäherungen im Folgenden, die vom Ethnizitätsbegriff aus unternommen werden, dokumentieren, dass es sich um Kategorien handelt, die auch innerhalb der Ethnizitätsforschung umstritten sind. Im gegenwärtigen Diskurs um die Theoriebildung zu Ethnizität haben sich zwei Hauptstränge herauskristallisiert, vor deren Hintergrund ethnische Phänomene beschrieben und erklärt werden. Während in der einen – essentialistischen – Richtung davon ausgegangen wird, es gebe so etwas wie einen ontologischen, objektiv bestimmbaren Kern von Ethnizität (Kapitel 4.1), betrachtet die andere – sozialkonstruktivistische – Richtung Ethnizität als dynamische, wandelbare Kategorie, die allein als Ergebnis sozialer Herstellungsprozesse Wirklichkeit werde (Kapitel 4.2). Sozialkonstruktivistische Betrachtungsweisen von Ethnizität, an die in der vorliegenden Studie angeknüpft wird, verstehen sich als Kritik an der essentialistischen Position, deren impliziten Determinismus sie ablehnen. Obgleich sie sich in der neueren Ethnizitätsforschung und in ihrer Adaption für die Erziehungswissenschaft durchgesetzt und vielfach weiterentwickelt haben, sind sie ebenfalls der Kritik ausgesetzt. Insbesondere ihre Tendenz, Ethnizität als ›pure‹ Konstruktion oder gar Erfindung mit primär ideologischfunktionalem Hintergrund erscheinen zu lassen, wird mit dem Argument ihrer faktischen Wirkungsmächtigkeit sowie ihrer stabilen, nur schwer dekonstruierbaren identifikatorischen Bedeutung für Individuen und Gruppen nicht durchgängig geteilt. Im Folgenden werden die Hauptlinien beider angesprochenen Richtungen nachgezeichnet sowie auf ihre kritischen Punkte verwiesen. Dabei wird auch darauf geblickt, wie Kultur jeweils ›gedacht‹ wird. Die verschiedenen Ansätze bedienen sich des Kulturbegriffes an zum Teil zentraler Stelle und binden ihn, ihren jeweiligen Prämissen entsprechend, in ihre Denkgebäude ein. Ein alternativer, im Rahmen der Cultural Studies entwickelter Kulturbegriff wird zeigen, dass seine enge Verbindung mit dem Ethnizitätsbegriff im Kontext von Migration eine begriffliche Verkürzung darstellt (Kapitel 4.3).
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Ziel des Kapitels ist es, zu einem theoretisch begründeten Begriff von Ethnizität – insbesondere von ihrer Genese und ihrer Funktion – zu gelangen, der ihn für die empirische Bearbeitung der Fragestellung dieser Studie zugänglich macht (Kapitel 4.4). Ein solches vorläufiges Verständnis ist m.E. unentbehrlich, um den Ausgangspunkt der Interpretationen des vorliegenden Datenmaterials zu klären. Diese begriffliche Basis, die auch davor schützen soll, implizite Annahmen ungewollt in die zu analysierenden Beratungsgespräche hineinzulegen, kann im Laufe des Forschungsprozesses für den Untersuchungsgegenstand der Beratung alter Migrant/-innen konkretisiert und differenziert, gegebenenfalls auch modifiziert werden.
4.1 E THNIZITÄT UND K ULTUR IN ESSENTIALISTISCHEN A NSÄT ZEN Ethnizitätskonzepte der so genannten essentialistischen Theorierichtung gehen von der grundlegenden Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit ›ethnischer Bindungen‹ aus. In ihrer Arbeit »Ethnizität und Macht: ethnische Differenzierung als Struktur und Prozess sozialer Schließung im Kapitalismus«, in der sich Astrid Lentz (1995) mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen der Ethnizitätsforschung auseinandersetzt, beschreibt sie den Essentialismus als eine Richtung, die Ethnizität als universelles Prinzip menschlicher sozialer Organisation versteht, das sich aus »dem sozialen Charakter menschlicher Existenz und der Identifikation mit anderen als unentbehrlichen Aspekt der persönlichen Identität« (Lentz 1995: 24) herleite. Dabei kennzeichne den Essentialismus, dass er ethnische Identifikation als die erste, grundlegende soziale Identifikation eines Menschen versteht und ihr Priorität vor allen anderen einräumt (vgl. auch Eckert 1998: 276). ›Ethnische Bindungen‹ seien demzufolge ganz besondere Gefühlsbindungen, die mit dem Hineingeborenwerden und dem Aufwachsen in einer bestimmten Sprache und in einer bestimmten kulturellen, religiösen Gemeinschaft einhergingen und die eine starke, unhintergehbare Gruppenloyalität begründeten. Da aus essentialistischer Perspektive ethnische Vergemeinschaftung ein mit der Natur des Menschen verknüpfter, ursprünglicher Vorgang sei, werden ethnische Gruppen verstanden als quasi-›natürliche‹ Gruppen, die über Zeit und Raum hinweg Bestand hätten und sich durch ihre relative Stabilität auszeichneten. Durch die Annahme, ethnische Zugehörigkeit sei vorherbestimmt, erhält sie etwas Unhinterfragbares. In dieser Vorstellung sind Individuen unentrinnbar an ›ihre‹ ethnische Gruppe gebunden. Ethnizität wird zu einer naturgegebenen persönlichen Grundeigenschaft. Deutlich wird dies insbesondere in soziobiologischen Ansätzen – verknüpft mit dem Namen Pierre L. van den Berghe (1981) –, die von einer genetischen Basis ethnischer Vergemeinschaftung ausgehen, ethnische Gruppen als genetisch-biologisch sich reproduzierende Einheiten verstehen und dementsprechend das Kriterium
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der Abstammung ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen. Ethnische Beziehungen werden hier zu Verwandtschaftsstrukturen, deren Mitglieder neben Kultur und Sprache auch die Gene teilen (vgl. hierzu Stender 2000: 67). Sozialanthropologisch orientierte Theoretiker, z.B. Clifford Geertz (1963), betonen hingegen den sozialintegrativen Faktor ›ethnischer Bindungen‹. Ethnische Gruppen hätten keinen natürlichen Ursprung, sondern seien Ausdruck soziokultureller Strukturen. Der hohe Identifikationsgrad und das starke Zusammengehörigkeitsgefühl, die das Individuum mit ›seiner‹ Ethnie verbinde, seien – so die Deutung dieser Theorierichtung von Dittrich/Lentz (1995: 27f.) – nicht biologisch zu erklären, sondern Folge der Internalisierung der kulturellen Ordnung. Geertz spricht in diesem Zusammenhang von primordialen Bindungen. Sie hätten zwar eine zentrale Bedeutung, jedoch weist er ihnen keinen zeit- und raumlosen Status zu: »The general strength of such primordial bonds, and the types of them that are important, differ from person to person, from society to society, and from time to time« (Geertz 1963: 109f.). Anders als die Soziobiologie begreift Geertz ethnische Vergemeinschaftung als einen historisch entstandenen und wandelbaren Prozess. Primordiale Bindungen würden sich laut Geertz notwendig ergeben aus territorialer Nähe, Abstammung, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, das Sprechen einer bestimmten Sprache und das Teilen besonderer sozialer Praktiken (vgl. ebd.: 109). Sie ließen sich beschreiben als eine Form der sozialen Integration von Gruppenmitgliedern. Folgt man Geertz – so interpretiert Stender (2000: 67) –, dann sei Primordialität etwas, das nur aus der Innenperspektive einer Gruppe her gedacht werden könne. Ethnische Gruppen seien nicht an sich primordial, sondern definierten sich über Faktoren, denen ihre Mitglieder Primordialität unterstellen.1 Die Antwort auf die Frage nach der Motivation ›ethnischer Bindung‹ bleibt allerdings in Geertz’ Aufsatz, in dem er sich mit der Primordialismus-These beschäftigt, mit dem Hinweis, sie erkläre sich aus sich selbst heraus, relativ unbestimmt und spekulativ: 1 | Ähnlich Eckert (1998: 275); Lentz (1995: 25) weist darauf hin, dass nicht alle essentialistischen Ansätze von der Primordialität ethnischer Gruppenbildung ausgingen. Auf diese inhaltliche Unterscheidung wird in der Fachliteratur allerdings nicht immer eingegangen. Während die Bezeichnungen ›essentialistisch‹ und ›primordialistisch‹ für die Charakterisierung der hier dargestellten Theorierichtung zum Teil synonym gebraucht werden (z.B. von Giordano 1997), verwenden einige Autoren ausschließlich den Begriff ›primordialistisch‹ bzw. ›primordial‹ (so z.B. Heckmann 1997; Rex 1990; Stender 2000). Die Wahl, im Rahmen dieser Arbeit von Essentialismus als übergeordneter Bezeichnung dieser Ansätze zu sprechen, ist in ihrem Grundgedanken begründet, von einem objektiv bestimmbaren, relativ stabilen ontologischen Kern – einer Essenz – von Ethnizität auszugehen. Dieser Aspekt steht insgesamt stärker im Vordergrund als die Primordialität und eint die verschiedenen Varianten.
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»These congruities of blood, speech, custom, and so on, are seen to have an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves. One is bound to one’s kinsman, one’s neighbour, one’s fellow believer, ipso facto; as the result not merely of personal affection, practical necessity, common interest, or incurrent obligation, but at least in great part by virtue of some unaccountable absolute import attributed to the very tie itself.« (Geertz 1963: 109; Hervorhebungen: K.H.)
›Primordiale Bindungen‹ hätten Geertz zufolge große Bedeutung für die soziale Praxis der Individuen und bestimmten in unausweichlicher Weise deren Handeln. Das, was nun aber das Handeln der Menschen konkret bestimme, wird ebenfalls nicht überzeugend hergeleitet: »But for virtually every person, in every society, at almost all times, some attachments seem to flow more from a sense of natural – some would say spiritual – affinity than from social interaction.« (Ebd.: 110)
Soziales Handeln scheint getrieben von einer geistigen Kraft, die aus nichts anderem als der ›ethnischen Bindung‹ selbst fließe und letztlich unerklärlich bleibe. Die Formulierung in der zitierten Passage verweist zudem darauf, dass auch Geertz von der Zwangsläufigkeit solcher Bindungen ausgeht. Nicht zuletzt aufgrund derartiger Mystifizierungen ethnischer Zugehörigkeit werde Lentz (1995: 25) zufolge in essentialistischen Ansätzen der affektive, nicht rationale, interessenlose Charakter ethnischer Gruppen hervorgehoben. Lentz sieht hier einen der Hauptkritikpunkte am Essentialismus. Dieser liege darin, dass der Essentialismus die identifikatorischen Aspekte von Ethnizität einseitig hervorhebe, die politisch-instrumentelle Seite, die Frage nach Macht und nach sozialen Ungleichheiten jedoch vernachlässige oder gar ausblende. So sei die Wirkungskraft von Ethnizität keineswegs mysteriös, sondern unter anderem von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägt. Auf die Kritik am Essentialismus wird zum Ende dieses Abschnitts noch zurückzukommen sein. Essentialisten gehen davon aus, dass ethnische Differenzierungen auf objektiv gegebene kulturelle Unterschiede zurückzuführen seien. Kultur, die sich z.B. in Sprache, Sitten, Werten und Mythen symbolisiere, wird zum entscheidenden Definitionskriterium – zur Essenz – ethnischer Gruppen. Zugehörigkeit bestimme sich demzufolge über die geteilte Kultur ihrer Mitglieder. Ansätze, die Kultur in den Mittelpunkt ›ethnischer Bindungen‹ stellen, betrachten Ethnizität als Bestandteil einer objektiv gegebenen Realität mit objektiv bestimmbaren Merkmalen, die – einmal erworben – sowohl extrem dauerhaft als auch äußerst stabil seien (vgl. hierzu Giordano 1997: 60). Ethnizität werde – so stellt Lentz (1995: 27) fest – verstanden als die »Summe kultureller Eigenschaften eines Individuums, die in einer kulturell geprägten ›Basispersönlichkeit‹ enthalten sind«. Der Mensch wird zu einem kulturdeterminierten Wesen; Kul-
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tur zu einer »unhinterfragbaren Grundsubstanz sozialen Handelns« (Dittrich/ Lentz 1995: 29). Um erfassen zu können, welche Bedeutung diese Annahmen für das menschliche Handeln haben, bedarf es einer genaueren Betrachtung des Kulturkonzeptes, auf dem der Essentialismus basiert, und der Konsequenzen, die sich daraus für das Individuum ergeben.2 Als Grundlage für essentialistische Vorstellungen von Kultur wird noch heute auf Johann Gottfried Herders so genannte Volksgeisttheorie verwiesen, mit der Herder Ende des 18. Jahrhunderts als einer der ersten den Versuch unternahm, Differenzen zwischen ›Völkern‹ mittels kulturwissenschaftlicher Kriterien zu beschreiben. Herder hat seine Gedanken hierzu vor allem in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784-1791) dargelegt.3 Ihm zufolge wohne jedem ›Volk‹ ein einzigartiger ›Geist‹ inne, der eine ganz eigene, ursprüngliche ›Volkskultur‹ hervorbringe.4 Die hieraus abgeleitete grundlegende Verschiedenheit der ›Völker‹ begründe deren ›natürliches‹ Bedürfnis, ›ihre‹ Kultur zu bewahren und zu entfalten. So wie jedes Wesen naturhaft-instinktiv nach Selbsterhaltung und Höherentwicklung strebe, so habe auch jedes ›Volk‹ ein Recht darauf. ›Volk‹ versteht Herder nicht als sozial entstandenes Kollektiv, sondern als lebendigen Organismus. Natur und Kultur verschwimmen bei ihm zu einer Einheit. Kultur sei, so Herder, eine Manifestation menschlicher Natur: »Die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit« (Herder 1784-1791/1966: 359f.). Laut Priester (2003: 84f.) gilt Herder als Verfechter des Partikularen. Durch seine Betonung von Differenz habe er sich dem universalistischen Denken der Aufklärung mit der Begründung widersetzt, Universalismus zerstöre Vielfalt und Partikularität.5 Herder sei zwar für das friedliche Zusammenleben der 2 | Der im Folgenden skizzierte Kulturbegriff wird allerdings nicht von Geertz vertreten. Dessen Verständnis von Kultur wird in Kapitel 4.3 aufgegriffen. 3 | Im Folgenden geht es nicht um eine systematische Darstellung der Herder’schen Theorie, wie er sie im Kontext seiner Zeit entwarf. Vielmehr sollen die Aspekte herausgestellt werden, die z.T. noch heute als Beleg essentialistischer Argumentationsweisen herangezogen werden. Hierbei wird auf Interpretationen Herders von Priester (2003), Lentz (1995), Dittrich (1991), Dittrich/Radtke (1990) sowie Brumlik (1990) rekurriert. 4 | Lentz (1995: 22) weist darauf hin, dass in der Sozialanthropologie die Begriffe ›Volk‹ und ›Ethnie‹ synonym verwendet werden. Das sozialanthropologische ›Ethnien‹Verständnis sei insbesondere aufgrund seiner zentralen Positionierung des Kulturbegriffs dem Herder’schen Volksbegriff sehr nah. 5 | Siehe hierzu auch Brumlik (1990: 179) und Dittrich/Radtke (1990: 21). Herders Argument wird nach wie vor sowohl von Verfechtern des Multikulturalismus (z.B. Taylor 1997) als auch von der Neuen Rechten, den so genannten Ethnopluralisten (z.B. Eichberg 1994), herangezogen, mit allerdings recht unterschiedlichen Absichten.
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›Völker‹ gewesen und habe die besondere Eigenart, den besonderen Wert eines jeden ›Volkes‹ anerkannt (vgl. z.B. Herder 1784-1791/1966: 439), dennoch sei er von einer naturgegebenen hierarchischen Rangabstufung der ›Völker‹ ausgegangen. Herder zufolge sei das Entwicklungsstadium, die kulturelle Reife, die ein ›Volk‹ erreichen könne, göttlich vorherbestimmt und höchst unterschiedlich. Insbesondere in ihrem Streben nach Selbstentfaltung stünden ›Völker‹ in Konkurrenz zueinander. Europa wird von Herder die Vorrangstellung vor ›Völkern‹ anderer Kontinente eingeräumt (vgl. ebd.: 551). Innerhalb Europas wiederum bekleide Deutschland einen außergewöhnlich hohen Rang (vgl. ebd.: 492f.). Herder gilt als einer der geistigen Wegbereiter des deutschen Nationalismus, dessen Charakteristik unter anderem darin bestand, ›Volk‹ als naturgegebene Einheit zu begreifen. Folgt man Herder – so Priester (2003: 92) – dann habe ein ›Volk‹ seine volle organische Entfaltung erreicht, wenn es sich zu einer ›Nation‹ entwickelt habe.6 Die in Herders Denken angelegte Naturalisierung von ›Völkern‹ rückte ihn in die Nähe rassistischer Ideologien. Lentz (1995: 22f.) stellt heraus, dass sein Volksbegriff, obgleich in Abgrenzung zum ›Rasse‹-Begriff entstanden, im Zuge des aufkommenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts mit diesem
6 | Der deutsche Nationalismus wird aufgrund seiner Überhöhung des Volkes als einer sprachlich-kulturellen, durch das Erbe der Geschichte verbundenen Schicksalsgemeinschaft auch als völkischer Nationalismus bezeichnet. Zentrale Kennzeichen dieser spezifischen Variante des Nationalismus sind unter anderem das Streben nach einer homogenen Einheit von ›Volk‹, ›Nation‹ und Staat und ihre Biologisierung durch die Idee der gemeinsamen Abstammung, die im deutschen Staatsbürgerschaftsrecht im »ius sanguinis« festgeschrieben wurde. Eine ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung des völkischen Selbstverständnisses der Deutschen gibt Lutz Hoffmann (1995, 1992); zum Begriff des »völkischen Nationalismus« vgl. Kellershohn (1998). Nicht zuletzt aus der Tradition dieses spezifischen, historisch gewachsenen deutschen Selbstverständnisses heraus lässt sich die lang jährige politische Leugnung der Bundesrepublik, ein Einwanderungsland zu sein, begründen (vgl. hierzu Bade/ Bommes 2000). Bis ins Jahr 2000 galt Abstammung, bis auf einige wenige Möglichkeiten der erleichterten Einbürgerung, als einziges Kriterium, das über (Staats-)Zugehörigkeit entschied. Erst nach kontroversen politischen Debatten wurde es durch Elemente des Geburtsortsprinzips ergänzt. Das Inkrafttreten des ersten deutschen Zuwanderungsgesetzes 2005 deutet neben der Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes zwar auf eine zunehmende Anerkennung der Einwanderungsrealität. Die zahlreichen öffentlichen Kontroversen und Hürden auf dem Weg dorthin verweisen jedoch darauf, dass Bestandteile völkisch-nationaler Ideologie nach wie vor wirksam sind (vgl. Schönwälder 2004).
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verschmolzen sei.7 Kulturelle Merkmale galten als biologisch bestimmte, vererbbare Eigenarten von Menschen. Mit der Tabuisierung des ›Rasse‹-Begriffs vor allem im deutschen Sprachraum nach 1945 sei es zu einer semantischen Verschiebung biologistischer Argumentationsweisen vom ›Rasse‹- zum Kulturbegriff gekommen. Unterschiede zwischen Menschengruppen würden nicht mehr ›rassisch‹-biologisch, sondern kulturell gerechtfertigt, Menschen fortan nicht mehr in ›Rassen‹, sondern in ›Kulturen‹ unterteilt.8 Balibar (1989) spricht von einem »neuen Rassismus«, der ein »Rassismus ohne Rassen« sei und sich dadurch auszeichne, dass »dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; […] der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf ›beschränkt‹, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten.« (Ebd.: 373)
Priester (2003: 289f.) weist allerdings darauf hin, dass die Rede von einem »neuen Rassismus« in die Irre führe, denn die Betonung kultureller Differenzen und die Hierarchisierung von Kulturen seien bereits seit Herder zu beobachten. Biologistische und kulturalistische Argumentationsweisen seien außerdem laut Priester in der rassistischen Ideologie stets miteinander einhergegangen. Für den Kontext dieser Studie ist nun die Frage von Bedeutung, auf welche Weise der Kulturbegriff in Bezug auf Migrant/-innen gebraucht wird und inwiefern dabei auch essentialistische Vorstellungen Eingang gefunden haben.
Der essentialistische Kulturbegriff im Diskurs um Migration Innerhalb der Interkulturellen Pädagogik ist insbesondere in den späten 1980ern und Anfang der 1990er Jahre die Verwendungsweise des Begriffes Kultur im Diskurs um Migration kritisiert worden. Hierauf ist bereits in Kapitel 3.2.2 eingegangen worden. An dieser Stelle werden die Hauptkritikpunkte mit Bezug auf Auernheimer (1992, 1989), Lutz (1992), Leiprecht (1998) sowie Czock (1988) vertiefend aufgegriffen. Denn – so die Kritiker – ›Kultur‹ und ›kulturelle Identität‹, die zu zentralen Differenzierungskategorien von Migrant/-innen in der deutschen Gesellschaft geworden seien, würden in Politik, Medien und Alltag, zum Teil auch in den Wissenschaften, auf einem essentialistischen Verständnis basieren, das kaum vom Ethnizitätsbegriff zu unterscheiden sei. Mi7 | Zum ›Rasse‹-Begriff, der hier nicht ausführlich behandelt werden kann, siehe Miles (1991, 1989). 8 | So weist die UNESCO-Deklaration zum ›Rasse‹-Begriff von 1950 ›Rasse‹ als wissenschaftlich unhaltbare Klassifizierung von Menschen zurück und spricht stattdessen von Unterschieden zwischen ›Kulturen‹ (vgl. UNESCO 1969: 30ff.).
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grant/-innen würden an ihrer Herkunft orientiert jeweils einheitlichen ›Kulturen‹ zugeordnet. An diese Zuordnung gebunden sei ein fest umrissenes Set an Eigenschaften und Verhaltensweisen, das Migrant/-innen unterstellt und von ihnen erwartet werde. Individuen würden auf diese Weise auf ein stereotypes Verständnis ihrer Herkunftskultur reduziert. Folge man dieser Sichtweise, so prägten einmal verinnerlichte kulturelle Muster ein Individuum lebenslang und könnten kaum verändert werden. Sein Denken und Handeln erscheine demnach ethnisch-kulturell determiniert. Leiprecht (1998: 7) benutzt in diesem Zusammenhang die Metapher von Menschen als »Marionetten am Draht ›ihrer‹ Kultur«. Mit Lutz (1992) ließe sich auch von Kultur als »Schicksal« sprechen.9 Das Kulturverständnis, mit dem in solchen Vorstellungen operiert wird, begreift Kultur als homogenes, nach außen klar abgrenzbares, statisches Gebilde. Veränderungen, Bewegungen, Unterschiede und Widersprüche innerhalb dieses Gebildes werden nicht wahrgenommen. Kultur wird auf das reduziert, was mit der ethnischen Zugehörigkeit eines Migranten in Verbindung gebracht wird. Die eigene (National-)Kultur jedoch – so stellt Lutz (ebd.: 46) fest – nehme die Mehrheitsgesellschaft weder einheitlich, homogen noch unveränderlich wahr, sondern facettenreich und wandlungsfähig. Das Heranziehen ethnischkultureller Unterschiede wird zum Mittel, um Anderssein und Fremdheit von Migrant/-innen zu markieren. Am Beispiel des Diskurses um alte Migrant/-innen im zweiten Kapitel konnte dieser Vorgang bereits verdeutlicht werden. Wird Kultur als in der ›Basispersönlichkeit‹ der Menschen angelegtes, zeitlich konstantes, fest gefügtes Gebilde verstanden, entstehen zwangsläufig Konflikte, wenn das kulturelle Umfeld eines Individuums, wie im Falle einer Migration, wechselt. Bestimmte Verhaltensweisen und Normen werden dysfunktional und stoßen sich an den neuen Lebensbedingungen (vgl. Auernheimer 1989: 383). Das Ursachenverständnis von Problemen Eingewanderter und ihrer Nachkommen ist oftmals von dieser Auffassung beeinflusst. Sie werden als Anpassungsschwierigkeiten gedeutet und zum ›Kulturkonflikt‹ erklärt (vgl. hierzu Czock 1988: 76). Eingewanderte stünden zwischen zwei ›Kulturen‹ und gerieten deshalb in Konflikte bzw. erlitten einen ›Kulturschock‹ einhergehend mit erheblichen Identitätsproblemen. Diese Kulturkonflikt-Annahme lässt Schwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten, z.B. Wohnungsprobleme, Arbeitslosigkeit, schlechtere Leistungen im Bildungssystem, Krankheit, Devianz, als ›kulturelle Fehlleistung‹ von Migrant/-innen erscheinen und blendet soziale und politische Verursachungsbedingungen aus.10 Wie in Kapitel 3 ver9 | Auernheimer (1992: 9f.) äußert sich hierzu ebenfalls kritisch: »In der Rede von der anderen ›Mentalität‹ verrät sich solch eine Denkweise. Die Menschen erscheinen als Geschöpfe und in gewisser Weise auch als Gefangene ihrer Kulturen«. 10 | Dittrich/Radtke (1990: 31) nennen unter anderem gesellschaftliche Benachteiligungen und Diskriminierung: »Nicht weil die ›Anderen‹ die Regeln nicht beherrschen,
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deutlicht wurde, kann ein solches Verständnis noch heute die Umgangsweisen von Pädagog/-innen und Sozialarbeiter/-innen mit Migrant/-innen beeinflussen. Besonders in den Blick gerät die zweite Einwanderergeneration, der gelegentlich eine regelrechte Zerrissenheit zwischen der Herkunftskultur ihrer Eltern und der Kultur des Einwanderungslandes unterstellt wird. Auch in Bezug auf alte Migrant/-innen wird von einer solchen Zerrissenheit gesprochen, z.B. in den Argumentationen zur so genannten Rückkehr-Illusion (vgl. Kapitel 2.3). Schon in den 1990er Jahren haben empirische Studien diese Auffassung widerlegt und herausgestellt, dass Migrant/-innen keineswegs die Kultur ihrer Herkunftsländer aus der Zeit vor der Migration im Einwanderungsland bewahren (vgl. z.B. Lutz 1992 und Schiffauer 1991). Ihre kulturelle Identität erfährt vielmehr eine Transformation, die sich an den Gegebenheiten des Einwanderungslandes orientiert und sich mit diesen Gegebenheiten weiterwandelt (vgl. hierzu Kapitel 4.3). Dessen ungeachtet halten sich essentialistische Orientierungen nach wie vor im öffentlichen Diskurs. Ein besonders populäres, in Politik und Medien viel zitiertes Beispiel hierfür sind die Auffassungen Samuel P. Huntingtons in dessen Publikation mit dem Titel »Kampf der Kulturen« (1998). Huntington teilt die Welt nicht in Ethnien oder Nationen, sondern in Kulturen, die sich in sieben bis acht übergeordnete »Kulturkreise« zusammenfassen ließen (vgl. ebd.: 49ff.).11 Er vertritt die These der Unvereinbarkeit mancher Kulturen und prophezeit ihren Aufeinanderprall. So lautet eine seiner Hauptaussagen: »Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt« (ebd.: 19). Dabei hebt er insbesondere Konflikte zwischen »Muslimen und Nichtmuslimen« hervor. So gerate »de[r] Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China« (ebd.). Huntington plädiert dafür, den »westlichen Kulturkreis« zu stärken und seine Vormachtstellung zu sichern. Dies könne nur über eine Trennung »der Kulturen« erreicht werden. »Das Überleben des Westens« hinge ihm zufolge deshalb davon ab, dass dieser »seine« Kultur »vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesellschaften« (ebd.: 20) schütze. Das bereits von Herder behauptete »völkische Streben nach Selbsterhaltung und Selbsterweiterung« taucht hier wieder auf. Die aktuell zu beobachtende Fokussierung ›kultureller Differenzen‹ auf religiöse Unterschiede, die sich in einer anwachsenden Islamfeindlichkeit äusondern weil man sie diese nicht lernen und sie nicht mitspielen lässt, geraten sie ins Abseits«. 11 | Die entscheidenden Elemente, die eine Kultur definierten, seien – so Huntington (1998: 52) – »Blut, Sprache, Religion und Lebensweise«, wobei die Religion das wichtigste Element darstelle.
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ßert, hat dazu geführt, dass ›Integrationsprobleme‹ und Konflikte nunmehr religiös interpretiert und als Werte-Differenzen ausgegeben werden. Dabei ist die Tendenz erkennbar, den Islam unter Generalverdacht zu stellen, nicht integrationswillig und nicht integrationsfähig zu sein (vgl. hierzu Hamburger 2009: 53ff.). Der Entwurf eines undifferenzierten, negativen Islam-Bildes, das den Islam pauschal als rückständig, patriarchalisch und gewalttätig darstellt, provoziert islamfeindliche Emotionen. So kann Heitmeyer in seiner Langzeitstudie »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« (2002-2012) zur Untersuchung von Einstellungen in der deutschen Bevölkerung gegenüber spezifischen gesellschaftlichen Gruppen vermerken, dass die Ablehnung von Muslimen bzw. des Islam bis 2006 kontinuierlich anstieg und seitdem stabil ist (vgl. Heitmeyer/Mansel 2008: 24).12
Kritik am Essentialismus Die zentralen Kritikpunkte an essentialistischen Auffassungen von Ethnizität und Kultur, die zum Teil bereits angedeutet wurden, werden im Folgenden noch einmal zusammenfassend herausgestellt. Die Hauptkritik an essentialistischen Theorien betrifft ihr statisches und deterministisches Verständnis ethnischer Zugehörigkeit. Dass Individuen qua Genetik oder qua kultureller Sozialisation unentrinnbar und unveränderlich ethnisch geprägt sind und sich ihr Handeln stets daran orientiert, dass Menschen demzufolge in ihrer ganzen Person auf eine ethnische Herkunftsgruppe festgelegt sind und ihre Identifikation mit dieser Gruppe Priorität vor allen anderen sozialen Identifikationen hat, ist in dieser Absolutheit nicht begründbar. So hätten Lentz (1995: 24) zufolge nicht alle Menschen gefühlsmäßige Bindungen an ihre ethnische Herkunft und würden dieser auch keine Bedeutung für ihr Handeln zuweisen. Elwert (1989a: 446) weist darauf hin, dass sich Teile der Menschheit nicht in Form von ethnischen Gruppen organisierten. Essentialistische Positionen verfolgen einen Biologismus, der Ethnizität zu einer naturgegebenen, vererbbaren Eigenschaft von Individuen macht und ethnische Gruppenbildung zum universellen Prinzip erhebt. Sie rücken dadurch in die Nähe rassistischer Ideologien. Der Begriff der ›Ethnie‹ läuft Gefahr, nicht mehr vom ›Rasse‹-Begriff unterschieden werden zu können (vgl. Lentz 1995: 23f.). Ethnizität ist – so die Kritiker – weder eine natürliche Tatsache, noch besitzt sie universellen Charakter. Vielmehr handelt es sich um ein historisch entstandenes und gewachsenes Phänomen (wovon im folgenden Abschnitt noch die Rede sein wird). 12 | Die im Rahmen dieser Studie durchgeführte repräsentative Befragung von 2007 ergab, dass 29 % der Befragten einer Reduzierung der Zuwanderung von Muslimen zustimmten. 39 % äußerten Fremdheitsgefühle im Kontakt mit Muslimen. 44 % gehen nicht davon aus, dass sich islamische und westeuropäische Wertvorstellungen miteinander vereinbaren ließen (vgl. Leibold/Kühnel 2008: 101).
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Eine Schwachstelle des Essentialismus liegt auch darin, Behauptungen, wie die von der hohen emotionalen Bindekraft und der nicht hintergehbaren Gruppensolidarität, nur unzureichend herzuleiten. Verweise, wie die von Geertz (1963: 110), auf eine letztlich spirituelle Kraft, die aus dem Ethnischen selbst hervorgehe, unterbinden weitere Erklärungen zur Genese und Funktion ethnischer Phänomene. Eine solche Auffassung neigt zudem zu einer Überhöhung alles ›Ethnischen‹ und legt Einstellungen nahe, die eigene ethnische Zugehörigkeit besonders hoch zu bewerten und sie zum Beurteilungsmaßstab anderer ethnischer Zugehörigkeiten zu machen. Essentialistische Ansätze beinhalten insofern eine Tendenz zum Ethnozentrismus, zur Bewertung und Hierarchisierung von ›Ethnien‹, und eignen sich als Anknüpfungspunkt für ideologisch motivierte Argumentationen, insbesondere solcher, die den Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft legitimieren. Kritisiert wird des Weiteren der dem Essentialismus zugrunde liegende ethnisch verkürzte Kulturbegriff, der zudem meist nur in Bezug auf Migrant/-innen, nicht jedoch in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft formuliert wird. Migrant/-innen relativ stabile, nach außen klar abgrenzbare Herkunftskulturen zuzuweisen, homogenisiert diese entlang ethnischer Kriterien und unterstellt ihnen Kulturdeterminiertheit. Individuen werden so zu Repräsentanten ›ihrer‹ ethnischen Gruppe und auf stereotype Vorstellungen von dieser ethnischen Gruppe reduziert. Essentialistische Denkrichtungen tendieren dazu, Pluralität innerhalb ethnischer Gruppen auszublenden, ›kulturelle Differenzen‹ als gegeben vorauszusetzen und ihr Aufeinandertreffen vorrangig als problematisch zu bewerten. Mit dem Kulturbegriff der Cultural Studies, der in Kapitel 4.3 beschrieben werden wird, kann ein Alternativkonzept vorgelegt werden, das diese Annahmen widerlegt. Ob essentialistische Ansätze nun ›wissenschaftlich getarnte‹ Ideologien sind, wie manche Kritiker behaupten, oder ob sie deshalb ›attraktiv‹ sind, weil sie – wie Heckmann (1997: 48) interpretiert – das Selbstverständnis ›ethnischer Gruppen‹ treffen, ist an dieser Stelle nicht abschließend zu beurteilen. Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Semantik von Ethnizität und von ethnischen Gruppen einem ständigen Wandel unterliegt. Die Verschmelzung der Begriffe ›Ethnie‹, ›Volk‹, ›Nation‹, ›Rasse‹, ›Kultur‹ und ›Religion‹ zu verschiedenen historischen Zeitpunkten deutet auf eine begriffliche Unschärfe und verweist – im Gegensatz zu den Behauptungen vieler essentialistischer Positionen, es gebe einen objektiv bestimmbaren, relativ stabilen Kern – auf die Wandelbarkeit des Verständnisses von ethnischen Gruppen und ihren konstituierenden Elementen. Dies gibt Anlass zur Vermutung, dass hier dem Wesen nach inhaltsleere Kategorien vorliegen, die nicht objektiv gegebene Realitäten beschreiben, sondern durch ihre subjektive, interessengeleitete und ideologisch beeinflusste Ausgestaltung belebt werden (vgl. L. Hoffmann 1991: 192). Weder die Terminologie noch die Inhalte sind offensichtlich das Entscheidende, sondern das, was diese Kategorien vermögen, nämlich Gruppen zu
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konstituieren und von anderen auf ähnliche Weise konstituierte Gruppen zu differenzieren. So ist es offenbar die Funktion ethnischer Gruppenbildung, die dazu führt, dass diese Kategorien im Laufe der Geschichte nicht verschwinden, sondern immer wieder Relevanz erhalten. Kritiker werfen essentialistischen Theoretikern vor, die funktionale Ebene ethnischer Vorgänge zu wenig oder gar nicht zu berücksichtigen (vgl. Dittrich/Lentz 1995: 26f.). Dieses ›Versäumnis‹ holen sozialkonstruktivistische Ansätze nach, indem sie die Fragen nach Genese, Struktur und Funktion ethnischer Gruppen explizit stellen. Aus der Kritik am Essentialismus entstanden, bezweifeln sie vor allem die unterstellte objektive Realität ethnischer Gruppen und richten sich gegen ihre Ontologisierung.
4.2 E THNIZITÄT ALS SOZIAL KONSTRUIERTE W IRKLICHKEIT Ethnizität basiert – so die sozialkonstruktivistische Perspektive – nicht auf naturgegebenen, sondern auf behaupteten Gemeinsamkeiten. Ethnische Gruppen sind nicht reale, objektiv gegebene, sondern imaginierte Gemeinschaften, die in sozialen Praxen, und zwar durch das Handeln von Akteuren und durch die von ihnen vorgenommenen Selbst- und Fremdbeschreibungen, hergestellt und reproduziert werden. Ethnische Gruppen sind daher Konstrukte. Anders als im Essentialismus rückt der Sozialkonstruktivismus nicht die Inhalte ethnischer Gruppen in den Mittelpunkt, sondern die Ursachen und Modi ihres Entstehens. Um diese Theorierichtung im Folgenden näher zu bezeichnen, wird auf die Publikationen einer Reihe von Autor/-innen rekurriert, die jeweils relevante Beiträge liefern. Zu den bedeutendsten zählen dabei Max Weber (1922/1980), in dessen Tradition sozialkonstruktivistische Ethnizitätskonzepte stehen, Barth (1969), Elwert (1989a, 1989b), Dittrich/Radtke (1990), Dittrich/Lentz (1995), Lentz (1995), Radtke (1996, 1992) sowie Bukow/Llaryora (1998).13 Die Annahme, dass ethnische Phänomene das Resultat von Konstruktionsprozessen sind, beinhaltet eine Reihe von Implikationen hinsichtlich ihrer Struktureigenschaften. Sozialkonstruktivistischem Denken zufolge zeichnen sich ethnische Phänomene durch ihre Dynamik und ihre Situationsgebundenheit aus. Das heißt, sie unterliegen permanentem Wandel und können nicht unabhängig von jeweils konkreten raum-zeitlichen Kontexten gedacht werden. Es handelt sich von daher keineswegs um primordiale Tatsachen, sondern um historische Erschei13 | Dass die im Folgenden angeführten Publikationen größtenteils Ende der 1980er und in den 1990er Jahren erschienen, liegt darin begründet, dass die Kategorie ›Ethnizität‹ zu dieser Zeit in den Sozialwissenschaften verstärkt (neu) diskutiert wurde. Dittrich/Radtke (1990: 21) sprechen in diesem Zusammenhang kritisch von einem »ethnic revival«. In Bezug auf das sozialkonstruktivistische Verständnis von Ethnizität sind einige dieser Publikationen grundlegend und nach wie vor instruktiv.
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nungen. Individuen, die im Essentialismus als ethnisch-kulturell determinierte Wesen – als »Marionetten« ihrer Herkunft – verstanden werden, treten hier als handelnde Akteure auf, die an den Prozessen der Herstellung und Aufrechterhaltung von Ethnizität mitwirken. Ihre ethnische Zugehörigkeit konstituiert sich erst in diesen Prozessen. Sie ist sowohl Ergebnis als auch Gegenstand sozialer Interaktionen und nicht etwas, das darüber hinaus – quasi an sich – existiert. Mit diesen Aussagen knüpfen Vertreter der Theorierichtung an die These Berger/Luckmanns (1999) an, der zufolge die gesellschaftliche Wirklichkeit sozial konstruiert sei, durch gesellschaftliches Handeln der Individuen, Sprache, Institutionen und Symbole zwar objektiviert werde, keineswegs jedoch ontologisch vorauszusetzen sei. Nun werden mit ethnischen Gruppen recht große Gruppen beschrieben, deren Mitglieder weder alle miteinander interagieren noch sich persönlich überhaupt ihrer gegenseitigen Existenz bewusst sind. Da stellt sich die Frage, wie es zu einer solchen Konstruktion kommen kann und woraus die Mitglieder das Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln.14 Geht man nicht davon aus, dass hier naturgegebene Einheiten vorliegen, so ist zu vermuten, dass es einen Anlass oder einen Zweck für ihre Konstruktion geben muss. Sozialkonstruktivisten sind deshalb besonders an der Frage nach der Funktion ethnischer Gruppenbildung interessiert, da sie die zentrale Erklärung ihres ›Auftauchens‹ liefere. Zu finden sei diese Funktion sehr häufig im Politischen, weshalb von Ethnizität auch als einer politisch-instrumentellen, interessengeleiteten Kategorie gesprochen wird (vgl. z.B. Dittrich/Radtke 1990: 28). Die nähere Betrachtung der konstituierenden Vorgänge und der charakteristischen Strukturmerkmale ethnischer Gruppen zeigt, dass Konstruktion und Funktion eng miteinander einhergehen. Hierzu hat bereits Max Weber einen zentralen Beitrag geliefert. Vertreter des Sozialkonstruktivismus berufen sich durchgängig auf sein 1922 erschienenes Werk »Wirtschaft und Gesellschaft«, in dem er sich in einer für seine Zeit progressiven, kritischen Weise mit »ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen« beschäftigt. Weber distanziert sich dort deutlich von naturalistischen Erklärungen ethnischer Phänomene. Diese entstünden vielmehr auf eine »künstliche« Art (ders. 1922/1980: 237), die er folgendermaßen beschreibt: »Wir wollen solche Menschengruppen, welche aufgrund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, […],
14 | Vgl. Lutz Hoffmann (1991: 195): »Das Individuum kann sich einem Volk zurechnen, ohne irgendeine gesellschaftliche Beziehung zu anderen Mitgliedern dieses Volkes zu besitzen.«
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›ethnische‹ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht.« (Ebd.)
Ausschlaggebend für die Konstitution ethnischer Gruppen sei nicht die Objektivität gemeinsamer Merkmale, sondern der subjektive Glaube daran. Das bedeutet, dass trotz starker Unterschiede Gemeinsamkeitsgefühle möglich sind. Gleichzeitig lässt sich daraus folgern, dass selbst dann, wenn tatsächlich vorhandene objektive Merkmale eine gemeinsame Abstammung begründen könnten, sich keine ethnischen Gruppen – gleichsam automatisch – herausbildeten. Hinzutreten müsse stets ein Bewusstsein der beteiligten Individuen über diese Gemeinsamkeit. Menschen müssten Merkmale subjektiv als gemeinsame Merkmale empfinden, daraus auf eine gemeinsame Abstammung schließen und diese außerdem »für die Propagierung von Vergemeinschaftungen« heranziehen, d.h. sich so verhalten oder so handeln, als ob sie aufgrund dieser vorgeblich geteilten Merkmale eine Gemeinschaft darstellten. Da aber für Weber Gemeinschaften von dem Vorhandensein »realen Gemeinschaftshandelns« abhingen, liege im Falle ethnischer Gemeinsamkeit, da sie auf einem Glauben beruhe, keine »Gemeinschaft« vor.15 Sie sei stattdessen »nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes Moment« (ebd.), und zwar insbesondere von politischer Vergemeinschaftung. Bezogen auf die Individuen heißt das, dass sie nicht zwingend über soziale Beziehungen miteinander verbunden sein müssen, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Ihre Mitgliedschaft basiere vielmehr auf einem Glauben bzw. einer Vorstellung von Gemeinsamkeit.16 Der »ethnische Gemeinsamkeitsglaube« ist einer der zentralen Grundgedanken sozialkonstruktivistischer Konzeptionen von Ethnizität. Besonders deutlich findet er sich wieder in Benedict Andersons häufig zitierter Terminologie der »imagined communities«, die er am Nationen-Begriff entwickelte und die zum Ausdruck bringen soll, dass »die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (Anderson 1988: 15). In Anknüpfung an dieses Merkmal verstehen Sozialkonstruktivisten ethnische Gruppen als Vorstellungen, Ideen oder auch Fiktionen.17 15 | Brumlik (1990: 188) weist in seiner Interpretation Webers darauf hin, dass ›echte‹ Gemeinschaft nur dann von geglaubter zu unterscheiden sei, wenn sie den faktischen Kontakt der Beteiligten voraussetze. 16 | An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Begriff des Glaubens nicht etwa so zu verstehen ist, dass sich ein Individuum, das nicht an die Gemeinsamkeit glaubt, der Mitgliedschaft entziehen könne. Weber geht auf diese Frage nicht explizit ein. Sie wird deshalb später noch einmal aufgegriffen. 17 | Der Ausdruck ›Fiktion‹ ist m.E. für den hier beschriebenen Sachverhalt missverständlich, denn er könnte suggerieren, es handele sich bei ethnischen Gruppen um
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Anlass für die Herausbildung eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens sieht Weber – wie in obiger Definition bereits angedeutet wird – in einem recht breiten Spektrum an Merkmalen bezüglich Habitus, Sitten, alltäglicher Lebensführung, Sprache, Religion, kollektiver Erinnerung an Wanderungen usw. (vgl. auch Weber 1922/1980: 238f.). Sie würden als Gemeinsamkeit in der Regel aber erst dann bedeutsam (gemacht), wenn sie mit der Erfahrung von Differenz und von »Andersgearteten«, d.h. Gruppen anderer Lebensgewohnheiten oder unterschiedlichem Äußeren, verbunden seien. Die Ursache dieser Differenzen sieht Weber nun jedoch keineswegs in der Natur, sondern er begründet sie als zufällig historisch entstanden (vgl. ebd.: 236). Sie würden unter anderem hervorgerufen »durch verschiedene ökonomische oder politische Existenzbedingungen, an die eine Menschengruppe sich anzupassen hat« (ebd.: 239). Insbesondere wenn im Zuge von Migrationen »an sehr heterogene Bedingungen angepaßte Menschengruppen in unmittelbare Nachbarschaft miteinander« (ebd.: 240) gerieten, könne ein Bewusstsein über ethnische Unterschiede befördert werden. Weber verweist hier explizit auf soziale Strukturgegensätze, die als Verursachungsmomente wirksam würden. Situativ geteilte Lebensbedingungen und daraus resultierende Ähnlichkeiten können also der Behauptung ethnischer Gemeinsamkeit Vorschub leisten und den Glauben daran für die Mitglieder plausibel erscheinen lassen.18 Eine konkretere inhaltliche Bestimmung dessen, worauf ethnischer Gemeinsamkeitsglaube basiert, hält Weber nicht für möglich (vgl. ebd.: 240). Aufgrund seines subjektiven Charakters und seiner häufigen Verbindung zu politisch motiviertem Handeln, entzöge sich das »Ethnische« jedem Versuch einer soziologischen Erfassung. Weber weist den Begriff deshalb auch als unwissenschaftlich zurück, »[d]enn er ist ein für jede wirklich exakte Untersuchung ganz unbrauchbarer Sammelname« (ebd.: 242). Die Bezeichnung »ethnisch« vereine höchst unterschiedliche Erscheinungen und verflüchtige sich bei jeder näheren begrifflichen Definition.19 Folgt man Weber, so rühre die Uneindeutigkeit von Begriffen, wie ethnische Gemeinschaft, Volk und Nation, aus ihrer Vieldeutigbloße Einbildungen bzw. Erfindungen, die gänzlich irreal seien. Dies könnte dazu führen, die Wirkungsmächtigkeit einmal konstruierter ethnischer Gemeinsamkeit und die daraus ableitbare reale Bedeutung von Ethnizität für Individuen in bestimmten Situationen zu übersehen oder zu unterschätzen. Höhne (2001: 210) unterscheidet – eher am Rande, aber m.E. zu Recht – Fiktionen von Konstruktionen. Letztere »bezeichnen den Prozess bzw. Modus der Herstellung sozialer Wirklichkeit«. Da der Sozialkonstruktivismus sowohl theoretisch als auch empirisch auf die Rekonstruktion dieser Prozesse und ihrer Wirkungsweisen abzielt, halte ich diesen Begriff für geeigneter. 18 | Siehe zu dieser Interpretation Hormel/Scherr (2003: 60f.). 19 | So würden sich beispielsweise die Begriffe ›ethnische Gemeinschaft‹ und ›Nation‹ laut Weber (1922/1980: 242) letztlich entsprechen.
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keit her (vgl. ebd.: 241), denn die Inhalte, auf die sich ethnischer Gemeinsamkeitsglaube jeweils stütze, könnten »aus sehr verschiedenen Quellen gespeist werden« (ebd.: 244). Der »Gemeinsamkeitsglaube« sei – so Weber – das einzige übereinstimmende Element aller spezifischen Ausprägungen. Sozialkonstruktivistische Ansätze unterscheiden aus ähnlichen Gründen wie Weber sie anführt sehr häufig nicht zwischen ›Ethnie‹, ›Volk‹ und ›Nation‹. Dabei gehen sie in der Regel jedoch nicht davon aus, dass hier Synonyme vorliegen, die ohne weiteres austauschbar wären. Ihre inhaltliche Abgrenzung voneinander sei allerdings unerheblich im Hinblick auf den Konstruktcharakter und deshalb nachrangig (vgl. z.B. Bielefeld 2001: 130f.).20 Es handele sich in allen Fällen um Konstruktionen, »imagined communities«, die der Integration großer Gruppen und ihrer gegenseitigen Differenzierung dienten. In der Fachliteratur wird eine Unterscheidung sogar zum Teil als kontraproduktiv zurückgewiesen, so z.B. von Lutz Hoffmann (1991), der sich in seinem Aufsatz über den Volksbegriff kritisch von den definitorischen Versuchen vieler Autor/-innen distanziert, da sie eher zu einer begrifflichen Verwirrung beigetragen hätten. Bemühungen, über theoretische Begriffsbestimmungen Objektivität herzustellen, scheiterten an dem bereits erwähnten subjektiven, interessenbezogenen und ideologischen Charakter der Begriffe, die allesamt politischen Zusammenhängen entstammten (vgl. ebd.: 192). Die Erklärung für ihre Unschärfe und Mehrdeutigkeit verortet Hoffmann auf der Ebene ihrer Funktion. Diese bestehe darin, Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit ›je nach Bedarf‹ variabel festlegen zu können. Dementsprechend sei die inhaltliche Gestaltung des Gemeinsamkeitsglaubens arbiträr (vgl. ebd.: 193). Hoffmann plädiert deshalb dafür, statt der konkreten Inhalte die Charaktereigenschaften dieser und vergleichbarer Begriffe zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen. Webers Konzeption von Ethnizität als eine soziale Kategorie, die aus konkreten gesellschaftlichen Bedingungen heraus entsteht und bei deren Herstellungsprozessen den Subjekten wesentliche Bedeutung zukommt, steht im Gegensatz zu essentialistischen Auffassungen, die im vorherigen Abschnitt vorgestellt wurden. Webers Überlegungen sind nun jedoch um einen bedeutsamen Aspekt zu erweitern. Er entwickelte seine Gedanken vornehmlich aus der Binnenperspektive ethnischer Gruppen und vernachlässigt dadurch die Sicht der Außenstehenden, der jedoch im Sozialkonstruktivismus ein zentraler Stellenwert beigemessen wird. So hat der Sozialanthropologe Fredrik Barth (1969), dessen Ansatz innerhalb der Ethnizitätsforschung als richtungweisend gilt, herausgearbeitet, dass bei der Entstehung ethnischer Gruppen Prozesse der
20 | Ähnlich Wallerstein (1992: 97); ein Vorschlag für eine systematische begriffliche Abgrenzung ist bei Heckmann (1992: 30ff.) nachzulesen.
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Selbst- und der Fremdzuschreibung untrennbar miteinander einhergingen.21 Er vertritt die These, dass sich ethnische Gruppen über ihre Grenzen und über das Bemühen um Aufrechterhaltung dieser Grenzen definierten. Unter ethnischen Gruppen versteht Barth »categories of ascription and identification by the actors themselves, and thus have the characteristic of organizing interaction between people« (ebd.: 10). Sie konstituieren sich ihm zufolge in Prozessen der Grenzziehung, die sich in zwei ausschließlich zu analytischen Zwecken unterscheidbaren Vorgängen vollziehen, und zwar die nach ›innen‹ weisende Selbstzuschreibung und Selbstidentifikation von Individuen als ethnische Gruppe, wozu auch die gruppeninterne gegenseitige Anerkennung der Mitglieder zu rechnen sei, und den nach ›außen‹ weisenden Prozess der Klassifikation ›Anderer‹. Neben diesen von der Gruppe selbst ausgehenden Vorgängen tritt als logische Folge ihres interaktiven Herstellungscharakters die Zuschreibung von ›außen‹ durch ›Andere‹ hinzu. Barth benennt dementsprechend »the characteristic of self-ascription and ascription by others« (ebd.: 13) als entscheidendes Kennzeichen ethnischer Gruppenbildung. Die Grenzmarkierung erfolge mittels kultureller Merkmale, die von den Akteuren als Abgrenzungs- und Differenzierungskriterien herangezogen würden. Dabei geht Barth – ähnlich wie Weber – nicht von der Objektivität dieser kulturellen Merkmale aus: »The features that are taken into account are not the sum of ›objective‹ differences, but only those, which the actors themselves regard as significant« (ebd.: 14). Weder sei anzunehmen, dass alle Mitglieder einer ethnischen Gruppe die sie konstituierenden ›kulturellen Gemeinsamkeiten‹ teilten, noch könnten bestimmte kulturelle Merkmale per se als bedeutungsvoll gelten. Ihnen werde vielmehr im Akt des sozialen Handelns Bedeutung zugeschrieben. Die kulturellen Merkmale, die dabei jeweils von den Akteuren zum Zweck der Grenzziehung betont werden, seien nicht vorauszusagen und könnten variieren. Das Teilen einer gemeinsamen Kultur betrachtet Barth dementsprechend »as an implication or result, rather than a primary and definitional characteristic of ethnic group organization« (ebd.: 11). Folgt man diesen Annahmen, dann wird Kultur selbst zur sozialen Konstruktion, zumindest sofern sie allein in einem ›ethnischen Sinn‹ gebraucht wird, wenn also davon ausgegangen wird, dass eine ethnische Gruppe Träger einer einheitlichen, unveränderlichen Kultur sei. So verstehen Vertreter des Sozialkonstruktivismus Kultur auch als soziale Kategorie, die dann hergestellt werde, wenn sie der Differenzierung und Kategorisierung diene (vgl. Höhne 2001: 210ff.). Kultur könne laut Höhne (ebd.) nur über vorab definierte Indikatoren erfahrbar werden. Dabei seien es 21 | Zwar verweist auch Weber auf die Bedeutung ›Anderer‹, wenn er von Vorgängen der Anziehung und der Abstoßung bzw. Ausgrenzung im Zuge der Bildung ethnischer Gruppen spricht (vgl. ders. 1922/1980: 235ff.). Er führt diesen Aspekt allerdings nicht näher aus.
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die Akteure, die diese Indikatoren im sozialen Handeln festlegten, indem sie spezifische Beschreibungen und Unterscheidungen vornähmen, andere hingegen ignorierten.22 Aus den bisherigen Überlegungen ist auf zwei zentrale Charaktereigenschaften von Zuschreibungsprozessen zu schließen (vgl. ebd.: 208f.). Zum einen zeigt sich, dass Vorgänge der ›Homogenisierung‹ und der ›Differenzierung‹ eng miteinander einhergehen, denn der Akt des Herausgreifens eines Merkmals als gruppenkonstituierendes Merkmal homogenisiert Differentes nach innen, da er Menschen zum Zweck der Vergemeinschaftung hinsichtlich dieses Merkmals unterschiedslos vereinheitlicht. Gleichzeitig bedarf es dafür der Heterogenisierung von Ähnlichkeiten zu Außenstehenden. Zum anderen erweisen sich ›Thematisierung‹ und ›Nichtthematisierung‹ als komplementäre Phänomene, denn die Zuschreibung einer Eigenschaft impliziert die Nichtzuschreibung respektive den Ausschluss anderer Eigenschaften. So kann z.B. die Bezeichnung ›deutsch‹ nur in Relation zu ›nicht-deutsch‹ überhaupt gedacht werden. Werden einer zuvor konstruierten Kategorie, z.B. ›schwarz‹, abwertende Merkmale zugeschrieben, transportiert dies indirekt die Aufwertung der komplementären Kategorie ›weiß‹. Zuschreibungsprozessen unterliegen in ihrer Funktion als Differenzmarkierung folglich dichotome Denkstrukturen, die in der bereits erwähnten wechselseitigen Bedingtheit von Selbst- und Fremdzuschreibung ihren Ausdruck finden. Barths Fokus auf Vorgänge des Grenzziehens, rückt den Aspekt des sozialen Handelns in den Blick. Ethnische Grenzen seien ihm zufolge soziale Grenzen bzw. in sozialen Prozessen konstruierte (vgl. Barth 1969: 15). Da sie das soziale Leben der Individuen – ihr Verhalten und ihre Beziehungen – kanalisierten, seien sie ein Organisationsprinzip von Gesellschaft. Begegnungen von Individuen unterschiedlicher ethnischer Gruppen führten nicht zu einer Reduzierung von Unterschieden, stattdessen erlangten ethnische Gruppen überhaupt erst durch diesen Kontakt ihre Kontur. Sie existierten nicht jenseits sozialer Interaktionen, denn ihr Fortbestehen sei angewiesen auf permanente Differenzmarkierung. So erklärt Barth die Beständigkeit ethnischer Gruppen – ungeachtet ihrer inhaltlichen Wandlungsfähigkeit – mit deren Bestreben nach Aufrechterhaltung ihrer Grenze: »The cultural features that signal the boundary may change, […] yet the fact of continuing dichotomization between members and outsiders allows us to specify the nature of continuity« (ebd.: 14). Dies erfordere allerdings eine Strukturierung der Interaktion, die den Fortbestand ›kultureller Differenzen‹ gewährleiste, und zwar insbesondere in ›interethnischen‹ Begegnungen. Die Verknüpfung von kulturellen Merkmalen mit Normen und Wertvorstellungen 22 | Ähnlich auch Barth (1969: 14): »some cultural features are used by the actors as signals and emblems of differences, others are ignored, and in some relationships radical differences are played down and denied.«
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und die innerethnische Sanktionierung von Abweichungen von diesen Maßstäben garantierten Barth zufolge zu einem erheblichen Anteil die Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen (vgl. ebd.: 18).23 Die Frage, warum einer ethnischen Gruppe an der Aufrechterhaltung ›ihrer‹ Grenzen gelegen ist, lässt sich nun aus dem bereits erwähnten instrumentellen Interesse heraus beantworten. Indem ›Andere‹ ausgeschlossen oder benachteiligt werden, kann eine ethnische Gruppe politische Macht und den Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Ressourcen, wie z.B. ökonomischen, für sich beanspruchen und vor Konkurrenz absichern. Ethnische Differenzierungen sind insofern als Mittel für soziale Schließung einsetzbar (vgl. Kößler/Schiel 1995: 10).24 Der durch Barths Hervorhebung des relationalen Charakters ethnischer Gruppenbildung möglich gewordene Blick auf die Art der Beziehung ethnischer Gruppen zueinander – insbesondere innerhalb einer Gesellschaft – verweist auf soziale Ungleichheitsbeziehungen und führt damit die Dimension der Macht in den Ethnizitätsdiskurs ein (vgl. hierzu Lentz 1995: 33). Da soziale Gruppen nicht immer über die gleichen Möglichkeiten verfügten, ihre Klassifikationen durchzusetzen bzw. die Zuschreibungen anderer zurückzuweisen, könnten ethnische Zuschreibungen als Machtinstrumente zur Herstellung sozialer Ungleichheit eingesetzt werden. Hierbei erhielten primär Fremdzuschreibungen analytische Bedeutung. Während die machtstärkere Gruppe vor allem über die Klassifikation ›Anderer‹ zu ›Fremden‹ ihre eigene Vormachtstellung legitimieren könne, sei es für die machtärmere Gruppe im Wesentlichen die Klassifikation durch die gesellschaftliche Mehrheit, die besonders starkes Gewicht erhält, da sie über gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten entscheide und – so Elwert (1989b: 9) – oftmals bei den als ethnische Minderheiten Klassifizierten ein ethnisches Gruppenbewusstsein überhaupt erst anstießen.25 Der Kritik Lars Heinemanns (2001: 117f.), instrumentelle Theorien ließen unerklärt, warum sich Menschen auch dann auf Ethnizität bezögen, wenn diese als Mittel zur Ausgrenzung und Unterdrückung gegen sie eingesetzt würde – sie also nicht mehr instrumentell bezüglich der Interessen dieser Gruppe sei –, könnte mit dem Hinweis auf die Dominanz der Klassifikation durch ›Andere‹ argumentativ begegnet werden. Auch kann die geteilte Erfahrung von Unterdrückung und Diskriminierung selbst zum verbindenden, die Vergemeinschaf23 | Zur Normativität ethnischer Konstruktionsprozesse vgl. Höhne (2001: 209); schon Weber (1922/1980: 239) ging auf diesen Aspekt ein. 24 | Hierauf wird im folgenden Abschnitt noch näher eingegangen. 25 | Vgl. auch Elwert (1989b: 36): »Die Selbstzuschreibung von kollektiver Identität ist kein Akt des freien Willens. Sie reagiert in Abwehr, Distanzierung, Anlehnung oder Übernahme auf Fremdzuschreibungen.« Ähnlich sehen dies Bukow/Llaryora (1998), die Selbstethnisierungen als Reaktion auf diskriminierende Fremdzuschreibungen analysieren.
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tung fördernden Ausgangspunkt werden (ebd.: 121), zumindest sofern die von ethnisierender Diskriminierung Betroffenen die Diskriminierung als solche empfinden und als gemeinsam geteiltes ›Schicksal‹ erleben. Ein weiterer Aspekt, der mit diesem zuletzt genannten Gesichtspunkt in Verbindung steht, soll im Folgenden in den Vordergrund rücken, denn Ethnizität wird neben der bereits beschriebenen machtpolitisch-instrumentellen, eine zweite – auf der Ebene der Subjekte angesiedelte – identifikatorische Funktion zugeschrieben, die bislang noch wenig Beachtung fand. Die Ausführungen von Lentz (1995) und Dittrich/Lentz (1995) liefern hierzu relevante theoretische Ergänzungen. Sie führen Barths Überlegungen weiter, da sie die Bedeutung ethnischer Grenzziehungsprozesse für das Individuum genauer herausarbeiten. Anknüpfend an den bereits erwähnten Stellenwert ethnischer Differenzierungen als soziales Organisationsprinzip, von dem Barth ausging, begreift Lentz (1995: 40ff.) Ethnizität als spezifisches gesellschaftliches Ordnungsmodell auf der Ebene des Symbolischen. Zwar betont auch sie die soziale Konstruiertheit ethnischer Gruppen, gleichwohl weist sie ihnen auf subjektiver Ebene Realitätscharakter zu, denn sie könnten sowohl für die Selbstbeschreibung und Selbstverortung als auch für die soziale Praxis eines Individuums bedeutungsvoll sein: »Als soziale Kategorie ist Ethnizität Teil der symbolischen Ordnung, ein spezifisches Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema, das als Element des Habitus von den Individuen internalisiert wird. Zusammen mit den für diesen Habitus charakteristischen anderen sozialen Kategorien konstituiert dieses Schema ein Feld möglicher sozialer Identifikationen, ein Repertoire für die Selbstdefinition und Selbstverortung im sozialen Raum.« (Ebd.: 41)
Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe werde ebenso wie die Zugehörigkeit zu anderen sozialen Kategorien, in die ein Individuum gesellschaftlich eingeordnet sei, wie z.B. Geschlecht und sozialer Status, im Zuge der Sozialisation erfahren. Die Identifikation mit diesen sozialen Zugehörigkeiten und die Internalisierung der damit verbundenen Normen und Werte spiele eine existentiell bedeutsame Rolle hinsichtlich der »Ausbildung und Stabilisierung subjektiver Identität« (ebd.). Zwar sei das »Feld möglicher sozialer Identifikationen« durch das Hineingeborenwerden in gewisser Weise abgesteckt, dennoch wirke das Individuum aktiv und kreativ auf den Prozess der Sozialisation, verstanden als lebenslange »Auseinandersetzung des Individuums mit den objektiven und symbolischen Bedingungen seiner sozialen Existenz«, ein, und zwar vor allem hinsichtlich der Ausgestaltung dieses umgrenzten Feldes (vgl. ebd.: 42). Da ein Individuum nie nur einer sozialen Kategorie angehöre, stelle auch die ethnische Zugehörigkeit lediglich eine Identifikationsmöglichkeit neben anderen dar. So wie diese zur Selbstbeschreibung herangezogen und sozial handlungsorientie-
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rend werden könne, so könne sie gleichermaßen nur ein latent vorhandenes – aber unter bestimmten Bedingungen abruffähiges – Potenzial sein. Da es sich um einen internalisierten Bestandteil der Identität handele, sei es zwar möglich, sich zu seiner eigenen ethnischen Zugehörigkeit individuell zu verhalten, sie prinzipiell oder situativ für bedeutungslos zu erklären, jedoch würde es einem Individuum kaum gelingen, sich ganz von ihr zu lösen (vgl. hierzu Kößler/ Schiel 1995: 3). Ethnizität folge nicht dem freien Willen des Einzelnen und auch ihre jeweilige Bedeutung sei nicht gänzlich durch pure Willensentscheidung zu regeln. Denn vor dem Hintergrund ihres bereits erörterten interaktiven Herstellungscharakters werde auch die Bedeutung von Ethnizität erst im Prozess des sozialen Handelns durch Selbst- und Fremdzuweisungen seitens der Akteure ausgehandelt.26 Dabei könne es Situationen geben, in denen Ethnizität keinerlei Bedeutung zukommt, da andere Bezüge, wie z.B. Alter, Geschlecht, materielle Lage oder Beruf, im Vordergrund stehen (vgl. hierzu Heckmann 1997: 53). Ob die Interagierenden Ethnizität Bedeutung beimessen und ihr Handeln danach ausrichten, indem sie z.B. Situationen oder Handlungen unter ethnischen Vorzeichen betrachten, werde auch von der Relevanz mitbestimmt, die ethnischer Zugehörigkeit gesellschaftsstrukturell zugewiesen wird (vgl. Lentz 1995: 42). Wenn die ethnische Zugehörigkeit ein Kriterium ist, das darauf Einfluss nimmt, welche Positionen ein Individuum innerhalb der Gesellschaft einnehmen kann, wird sie zu einer existentiell bedeutsamen Kategorie. Sie ist in diesem Fall besonders den Individuen gegenwärtig, denen sie zur Zugangsbarriere wird, und zwar auch dann, wenn sie ›ihrer‹ ethnischen Gruppe kaum Bedeutung beimessen. Die enge Verknüpfung des individuellen Stellenwertes von Ethnizität mit den Existenzbedingungen einer Gruppe wird von Anthias (1992) beschrieben. Ihr zufolge sei Ethnizität »mehr als nur eine Frage der ethnischen Identität […] Ethnizität begreift in sich die Teilhabe an den gesellschaftlichen Bedingungen einer Gruppe, die in einem bestimmten Verhältnis zur gesellschaftlichen Allokation von Ressourcen steht« (ebd.: 94). Lentz (1995: 42) bemerkt, dass die Individuen mit ›ihrer‹ ethnischen Zugehörigkeit auch deren gesellschaftliche Bedeutung internalisieren würden. Daraus folgt, dass die gesellschaftliche Abwertung bzw. mangelnde Anerkennung einer ethnischen Gruppe in die Identität der Angehörigen ebenso aufgenommen wird, wie umgekehrt Privilegierung und Dominanz seitens der Angehörigen der machtstärkeren Gruppe. Dem vor allem mit Bezug auf Lentz (1995) beschriebenen Verständnis von Ethnizität folgend, lässt sich zusammenfassen, dass die Bedeutung von Ethnizität je nach Situation, gesellschaftsstrukturellem Kontext der Situation und ihrer jeweiligen Deutung durch die an der Situation Beteiligten variiert. Vor diesem 26 | Auf eine mögliche Dominanz von Fremdzuweisungen wurde bereits verwiesen. Diese wird auch auf der Ebene der Interaktion Einzelner wirksam.
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Hintergrund scheint es wenig plausibel, die im zweiten Kapitel erläuterte, im Diskurs um Alter und Migration nach wie vor vertretene These, Ethnizität habe besondere Bedeutung für Migrant/-innen im Alter bzw. ihre Bedeutung nehme im Alter zu, pauschal anzunehmen. Ob Ethnizität für Individuen handlungsorientierend sei, könne nicht per se vorausgesetzt werden: »Da sich die Klassifikationsschemata der Individuen entsprechend ihrer objektiven Bedingungen unterscheiden, kann auch für die Definition ethnischer Grenzen angenommen werden, daß Segmente der ausgrenzenden (wie auch der ausgegrenzten) Gruppe unterschiedliche Vorstellungen in bezug auf den ethnisch ›anderen‹ entwickeln, bzw. die Differenzierungen unterschiedliche Handlungsrelevanz besitzen.« (Ebd.: 46)
Zudem hebt Lentz (ebd.: 182ff.) hervor, dass Ethnizität für die Individuen nicht nur eine identifikatorische Funktion habe, sondern gleichfalls strategisch zum Einsatz komme. Sie unterscheidet daher zwei Auslöser, die zu ethnisch orientiertem Handeln führten. Zum einen sei dafür die Identifizierung des Handelnden mit den Normen und Werten ›seiner‹ ethnischen Gruppe verantwortlich. Ein »ethnisch strukturierte[r] Habitus« – wie Lentz die Internalisierung dieser Normen und Werte umschreibt – erzeuge »unreflektiert und unintendiert Praktiken« (ebd.: 182). Der Ausschluss und die Ausgrenzung von Menschen aufgrund von Ethnizität stelle sich deshalb »zu einem wesentlichen Teil hinter dem Rücken der ausschließenden und ausgeschlossenen Akteure her« (ebd.), da sie unbewusst vollzogen würden. Lentz fügt allerdings hinzu, dass diese Erklärung nicht ausreiche und sich häufig mit dem strategisch motivierten Einsatz ethnischer Orientierungen verbinde. Hierbei sei von einem reflektierten, bewussten Einsatz auszugehen. Ähnlich wie auf gesellschaftsstruktureller Ebene sei Ethnizität auch für die Individuen ein Mittel zur Ressourcenaneignung. Ihr strategischer Einsatz könne, so Lentz, ausschließlich aus funktionalem Antrieb erfolgen. So kann die eigene ethnische Zugehörigkeit je nach intendierter Wirkung ignoriert, gemieden, geleugnet oder besonders herausgestellt bzw. bewusst mobilisiert werden, sofern dies der Person möglich ist.27 Lentz plädiert dafür, »die sozialen Akteure ›ernst‹ zu nehmen« (ebd.: 190). Anstatt ihnen irrationales Verhalten vorzuwerfen, wenn sie Handlungen ethnisierten, müssten ihrer Meinung nach die »sozialen und symbolischen Strukturen, innerhalb derer ethni27 | Dies gelingt umso leichter, je besser Merkmale, über die ethnische Zugehörigkeit zugeschrieben wird, zu kaschieren sind. Handelt es sich um nicht veränderbare und/oder äußerlich sichtbare Merkmale bzw. ist dem Gegenüber die ethnische Zugehörigkeit bekannt, verliert die Person diese Möglichkeit; vgl. hierzu die von Goffman (1975) beschriebenen Techniken des Stigmamanagement, die in diesem Kontext aufschlussreich sind.
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sche Schließungsstrategien subjektiven und objektiven ›Sinn‹ machen« (ebd.), ins Blickfeld rücken.28 Offen bleibt bei ihr allerdings, wie Ethnisierungen, gerade weil sie soziale Ungleichheiten begründen, dekonstruiert werden können.
4.2.1 Ethnizität als Differenzierungskategorie in modernen Gesellschaften Die von Lentz beschriebene Aneignung von Ethnizität im Zuge der Sozialisation setzt voraus, dass das ethnische Ordnungsprinzip zu den vom Individuum vorgefundenen gesellschaftlichen Identifikationsangeboten zählt. Dieses sei laut Lentz (ebd.: 45) in den sozialen Beziehungen und Institutionen der Gesellschaft verankert. Ihr zufolge könne sich keine symbolische Ordnung dauerhaft aufrechterhalten, wenn sie nicht eine solche sozialstrukturelle Verankerung vorweise. Es stellt sich nun allerdings die Frage, wie und warum Ethnizität zum Ordnungsprinzip von Gesellschaften geworden ist. Bezieht man hierzu modernisierungstheoretische Überlegungen mit ein, wird erkennbar, dass es sich keineswegs um ein ideologisches Konstrukt handelt, das zur Durchsetzung politischer Interessen gewissermaßen aus dem Nichts heraus erfunden wurde, sondern um ein historisch bedingtes Phänomen aus der Zeit der aufkommenden Industrialisierung.29 Aufgrund ihres Vermögens, große Gruppen zu vereinheitlichen und Gegensätze, wie dem von Kapital und Arbeit, zu integrieren, trugen ethnische und nationale Konzeptionen wesentlich dazu bei, den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt im Übergang von vormodernen zu modernen, funktional differenzierten Gesellschaften sicherzustellen (vgl. Nassehi 1990: 266ff.). Nationale bzw. ethnische Identifikationen boten den aus kollektiven – insbesondere religiösen – Bezügen freigesetzten Individuen eine neue Form des Wir-Gefühls auf ihrer Suche nach gesellschaftlicher Verortung. Gleichzeitig lieferten die mit der Modernisierung einhergehenden technologischen und strukturellen Veränderungen überhaupt erst die Voraussetzung für die Herausbildung eines Gemeinsamkeitsglaubens auf ethnisch-nationaler Basis. Die Ausweitung von Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten führte zu neuen Formen der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Der Austausch zwischen Menschen, die 28 | Vgl. hierzu die in Kapitel 3.2.2 dargestellten Ausführungen Mecherils; auch er fragt im Zusammenhang mit der Prüfung des Gebrauchs von Kultur in Beratungen nach dem damit verbundenen Sinn für die Akteure. 29 | Entgegen der Selbstwahrnehmung ethnischer Gruppen, zeitlose, überhistorische Gebilde zu sein, handelt es sich also um vergleichsweise neue, moderne Erscheinungen (vgl. Anderson 1988: 14); zur Konstruktion von Vergangenheit und Tradition im Kontext ethnischer Vergemeinschaftung vgl. Wallerstein (1992: 96f.) und Kößler/ Schiel (1996).
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ihre gegenseitige Existenz vorher nie bewusst wahrnahmen, wurde möglich.30 Anderson (1988: 44ff.) hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Sprache hervor, und zwar vor allem die über den Buchdruck möglich gewordene Verbreitung von Schriftsprache und deren spätere Vereinheitlichung in Nationalsprachen, die durch die Einführung eines nationalstaatlich geregelten Schulsystems vorangebracht werden konnte. Das Aufkommen ethnisch-nationalen Denkens und die Entstehung moderner Gesellschaften seien ursächlich miteinander verknüpft.31 Zwar sei Ethnizität in den einzelnen sich funktional ausdifferenzierenden Teilbereichen der Gesellschaft keine explizite Bedeutung zugekommen, sie habe jedoch die Funktion gehabt, die gesamtgesellschaftliche Integration auf einer ethnisch-nationalen Basis zu gewährleisten. Diese gesellschaftsintegrative Bedeutung ethnisch-nationaler Kategorien habe laut Nassehi (1990: 276) in fortgeschrittenen Industriegesellschaften abgenommen. Die zunehmende Pluralisierung individueller Identitätsbezüge habe zur Folge, dass Ethnizität nur noch eine kontingente Bindekraft unter anderen darstelle.32 Im Hinblick auf die Funktionssysteme und Organisationen der Gesellschaft, z.B. in Wirtschaft, Politik, Erziehung und Gesundheit, sei Ethnizität belanglos und verstoße sogar gegen zentrale Prinzipien, auf denen die Gesellschaftsordnung aufbaue, wie dem Leistungsprinzip (vgl. Bukow/Llaryora 1998: 134f.).33 Individuen erscheinen in erster Linie als Träger von Funktionsrollen und werden hinsichtlich ihrer Kompetenzen und Qualifikationen für die Ausfüllung dieser Rollen begutachtet. So sei Radtke (1992: 92) zufolge »[d]ie Berechtigung der Erwartung, daß sich der Kellner wie ein Kellner und der Arzt wie ein Arzt verhält, […] so groß, daß die Tatsache, daß er Merkmale eines anderen Geschlechts, einer anderen Religion oder Region oder einer anderen ethnischen Gruppe hat, im Regelfall übersehen werden kann.«
30 | Zu den historischen Entstehungsbedingungen nationalen und ethnischen Denkens vgl. neben Anderson auch Gellner (1995). 31 | Vgl. die unterschiedlichen Positionen hierzu von Esser (1988), Kreckel (1989) und Nassehi (1990). An dieser Stelle wird der Argumentation Nassehis gefolgt, der ethnische und nationale Semantiken als in der Gesellschaftsstruktur der Moderne grundsätzlich angelegte Erscheinungen versteht. Diese seien sogar deren notwendige Voraussetzung und Mittel der Inklusion. Abweichend davon behauptet Esser den kategorialen Widerspruch zwischen ethnischer Vergesellschaftung und funktionaler Differenzierung. 32 | Ähnlich Hormel/Scherr (2003: 50). 33 | Zur ausführlichen Begründung und Herleitung der konstitutiven Belanglosigkeit ethnischer Differenzierungen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften siehe auch Bukow/Llaryora (1998: 52ff.).
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Allerdings ließe sich das, was für den Bereich der Öffentlichkeit gelte, so nicht auf die Sphäre des Privaten übertragen. Dem privaten Bereich käme in funktional differenzierten Gesellschaften sogar ein besonderer Stellenwert hinsichtlich der individuellen Ausgestaltung des Alltagslebens zu. Zugehörigkeiten ethnischer, religiöser und soziokultureller Art gewännen hier gerade vor dem Hintergrund ihrer öffentlichen »Gleichgültigkeit« (ebd.) persönliche Relevanz. Bukow/Llaryora (1998: 204ff.) gehen davon aus, dass fortgeschrittene Industriegesellschaften nicht nur in der Lage seien, Pluralisierung von Lebensformen in hohem Maße zu verkraften, ihr Fortbestand sei vielmehr von der Zulassung lebensweltlicher Differenzen abhängig.34 Sie weisen in diesem Zusammenhang ebenso auf die problematischen Seiten und Ambivalenzen dieser Trennung der Gesellschaft in zwei Sphären hin, insbesondere auf die damit verbundene Tendenz zur radikalen Privatisierung, die soziale Solidarität gefährde und die den Rückzug der Gesellschaftsmitglieder aus gesamtgesellschaftlichen Prozessen bedeuten könne. Werde nun in der öffentlichen Sphäre dennoch zurückgegriffen auf ethnische Beschreibungs- und Interpretationsmuster, so sei dies unter anderem als Reaktion auf eine als bedrohlich wahrgenommene Zuwanderung zu deuten. Bukow/Llaryora interpretieren die gesellschaftliche Relevanz ethnischer Differenzierungen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften daher als eine ›im Nachhinein‹ bewusst (re)formulierte, die sich an bestimmte und zwar politische oder ökonomische Gründe knüpfe (vgl. ebd.: 68).35 Sie stellen dabei den Begriff der Ethnisierung ins Zentrum ihrer Überlegungen. In Anlehnung an die Labeling-Theorie verstehen sie unter Ethnisierung einen von außen angestoßenen Vorgang der Soziogenese ethnischer Minderheiten, der zunächst das herstelle, was später zur Unterscheidung herangezogen werde: »Gemeint ist, wie ein Wanderer seiner für selbstverständlich gehaltenen Gesellschaftlichkeit enthoben und in eine Minorität eingeordnet wird, und dabei in eine Dynamik des Ein- und Ausgrenzens sowie der ethnischen Fremd- und Selbstidentifikation gerät.« (Ebd.: 95)
Mit dieser Definition fokussieren Bukow/Llaryora zunächst Fremdzuweisungen. Erst im Zuge von Ablehnungs- und Ausgrenzungserfahrungen übernäh34 | An anderer Stelle argumentiert Bukow (2000: 168), dass Pluralismus sogar ein Indiz für gesellschaftliche Entwicklung und Entfaltung sei. Die gegenläufige Tendenz des Infragestellens dieser Realität zugunsten nationaler Homogenitätsprogrammatiken hingegen sei als Stagnation zu deuten. 35 | Vgl. hierzu auch Bukow (2000: 167): »In dem Maß, in dem kulturelle bis ethnische Spezifika konstitutiv belanglos werden, erhalten sie diskursive Bedeutung im Sinne der Bereitstellung von Argumenten für die Aushandlung politischer Entscheidungen.«
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men die Eingewanderten die ihnen zugeschriebenen Merkmale und es komme zu einer so genannten »ethnic redefinition« (ebd.: 98). Die Aufwertung der Vergangenheit, der verwandtschaftlichen und herkunftsgesellschaftlichen Bezüge, böte sich als Reaktion auf diese ›negativen‹ Erfahrungen an. Ethnisierungen werden von Bukow/Llaryora (ebd.: 27) als »politischer Vorgang« beschrieben, für den es innerhalb der Gesellschaft eine »soziale Bereitschaft« gebe. Die »Politik der Ethnisierung« manifestiere sich sowohl auf struktureller Ebene als auch im »alltäglichen Bereich« (vgl. hierzu ebd.: 141ff.). Strukturell äußere sie sich vor allem in Form von rechtlicher Ungleichstellung, z.B. in der Vorenthaltung zentraler Bürgerrechte und in eingeschränkten Möglichkeiten zur politischen Partizipation. Mit dem »alltäglichen Bereich« sprechen Bukow/Llaryora darauf an, dass die »Politik der Ethnisierung« innerhalb der Bevölkerung auf eine Disposition zur Ausgrenzung und Hierarchisierung ›Anderer‹ treffe. Sie werde nur aufgrund (latent) vorhandener – historisch vermittelter und qua Sozialisation internalisierter – Deutungsmuster möglich und verfüge gleichzeitig über das Potenzial, diese zu stimulieren. Insbesondere in sozialen Konkurrenzsituationen würde die Bereitschaft zur Ethnisierung offen zu Tage treten und zu einer »Strategie im direkten Blick auf die sozialen Nachbarn« (ebd.: 180) werden. Eine Folge sei die wechselseitige Etikettierung der Gesellschaftsmitglieder unter Rückgriff auf ethnische Unterscheidungen. Laut Bukow/Llaryora sei Ethnisierung allerdings keine selbstverständliche, sondern lediglich eine »mögliche Konsequenz« fortgeschrittener Industriegesellschaften, die erst dann eintrete, wenn die entsprechende Bereitschaft dafür bestehe, sie argumentativ verfügbar, d.h. Teil des Alltagswissens sei und politisch gewollt werde (vgl. ebd.: 210).
4.2.2 Kritik am sozialkonstruktivistischen Ethnizitätsbegriff In den bisherigen Ausführungen wurde erkennbar, dass unterschiedliche theoretische Ansätze existieren, die von der sozialen Konstruiertheit und Wandelbarkeit ethnischer Phänomene ausgehen und sich gegen den Essentialismus wenden. Sie heben jeweils bestimmte Aspekte hervor, lassen andere unberücksichtigt. So waren unter den hier erwähnten Betrachtungsweisen solche, die die funktionale Dimension ethnischen Grenzziehens in den Mittelpunkt stellen, Ansätze, die die identifikatorische Ebene ethnischer Zugehörigkeit in ihrer Bedeutung für das Individuum darlegen sowie Konzeptionen, die Ethnisierungen als politisch-ideologisch initiierte Vorgänge der Fremd- und Selbstzuweisung in Migrationsgesellschaften beleuchten. Kritiker an sozialkonstruktivistisch beeinflussten Verständnissen von Ethnizität lehnen oftmals nicht die Sichtweise als Ganze ab, sondern beziehen sich auf einzelne Schwachstellen. Die Kritik richtet sich im Wesentlichen gegen zwei Behauptungen. So bestehe bei einigen Spielarten dieser Theorierichtung die Tendenz, ethnische Gruppen gänzlich als imaginierte, fiktive Gebilde zu begreifen. Das verleite zu dem ›Missverständ-
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nis‹, sie seien Erfindungen, die man schlicht fabrizieren könne, z.B. aus ideologischen Interessen heraus. Diese Kritik wird insbesondere von Veit Michael Bader (2001) vorgetragen und auch von Friedrich Heckmann (1997) vertreten. Nicht alle Autor/-innen teilen zudem die Auffassung, Ethnizität sei eine inhaltsleere Kategorie. Sozialkonstruktivisten verstehen die Inhalte als austauschbar; jede Form der inhaltlichen Betrachtung rücke in die Nähe der Essentialisierung, weshalb allein der Blick auf die Genese und die Funktion ethnischer Erscheinungen als aufschlussreich gewertet wird. Kritik an diesen Überlegungen wird vor allem von Lars Heinemann (2001) angebracht. Gegen beide Behauptungen spricht eine Reihe von Argumenten. Einer der gewichtigsten Hinweise ist dabei der auf die Wirkungsmächtigkeit ethnischer Konstruktionen. Diese dürfe nicht aus dem Blick verloren und schon gar nicht bagatellisiert werden. Denn sie sei alles andere als irreal. Soziale Konstruktionen – so in einer treffenden Formulierung von Leiprecht/Lutz (2006: 223) – »greifen nachhaltig und wirksam in gesellschaftliche Prozesse und soziale Beziehungen ein, haben strukturelle, institutionelle, rechtliche und politische Folgen und können in Praxisformen und Lebensweisen zu scheinbar materiellen und selbstverständlich erscheinenden Gegebenheiten gerinnen.«
Eine differenzierte Betrachtung des ›fiktiven‹ Charakters ethnischer Gruppen kann hier weiterführend sein. So mag zwar der Gedanke, eine Gemeinschaft darzustellen, imaginiert sein. Die Merkmale, auf denen diese Konstruktion aufbaut, sind jedoch unabhängig davon, ob sie von allen Mitgliedern geteilt werden oder nicht, keine reinen Fiktionen. Zumindest trifft dies nicht auf alle konstituierenden Merkmale zu. Insbesondere dieser Zusammenhang macht die Konstruktionen in vielen Fällen plausibel. Am Beispiel Sprache ist deshalb in Betracht zu ziehen, dass zwar Nationalsprachen und monolinguale Vorstellungen ethnischer Gruppen als Konstruktionen bezeichnet werden können. Gleichzeitig sind sprachliche Unterschiede real erfahrbare und gesellschaftlich relevante Faktoren. So sind etwa Bildungschancen und der Zugang zum Arbeitsmarkt wesentlich vom Sprechen der innerhalb einer Gesellschaft vorherrschenden Sprache abhängig. Deshalb – so Heinemann (2001) – mache es sogar Sinn, sich mit der Wirkungsmacht konkreter Inhalte ethnischer Konstruktionen auseinanderzusetzen. Auch wenn diese wandelbar seien, so hätten sie eine jeweils konkrete gesellschaftliche Rolle und diese gelte es zu analysieren. Zudem mögen Inhalte zwar wandelbar und veränderlich sein, aber sie sind nicht beliebig. Denn es sind immer wieder bestimmte Merkmale, behauptete Gemeinsamkeiten, um die sich ethnische Gruppenbildung rankt, wie z.B. Sprache, Religion, Herkunft. Sie machen letztlich das Spezifische ethnischer Grenzziehungen gegenüber anderen sozialen Gruppenbildungen aus. Insofern sind die Inhalte keineswegs willkürlich wähl- und austauschbar. Heckmann (1997: 51) verweist im Gegenteil
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auf die Beharrlichkeit und Stabilität einmal konstruierter ethnischer Phänomene. Da diese emotional aufgeladen würden und oftmals mit Solidargefühlen einhergingen, käme die Erweckung des Eindrucks, es handele sich um Imaginationen, einer Verharmlosung gleich. Die vorgetragenen Kritikpunkte sind wichtige Hinweise, die den sozialkonstruktivistischen Ansatz nicht grundlegend in Frage stellen, sondern um relevante Aspekte ergänzen. Im Weiteren geht es nun darum, den Kulturbegriff näher zu klären und herauszustellen, inwiefern er sich vom Ethnizitätsbegriff absetzt und eine ganz eigene, weiter gefasste Beschreibungskategorie darstellt.
4.3 K ULTUR ALS D EUTUNGS - UND B E WÄLTIGUNGSPR A XIS DES ALLTÄGLICHEN L EBENS Kultur ist ein vielfach definierter, recht unterschiedlich interpretierbarer Begriff. Sein inflationärer, diffuser Alltagsgebrauch in den verschiedensten Kontexten, macht ihn dehnbar und unpräzise. Die damit verbundene Gefahr einer ideologisierten Ausdeutung zeigt, dass es vor allem in Migrationsdiskursen unumgänglich ist, zu explizieren, was für ein Kulturverständnis zugrunde liegt. Der Kulturbegriff, der im Folgenden dargestellt wird, fand Mitte der 1980er Jahre als kritische Reaktion auf die in Kapitel 4.1 beschriebene Kulturkonflikt-Hypothese Eingang in die Interkulturelle Pädagogik und ist dort inzwischen hinsichtlich seiner zentralen Aussagen weithin Konsens. Er basiert auf einer besonders häufig zitierten Definition der Cultural Studies nach Clarke u.a. (1981) und bezieht sich auf Alltagskulturen.36 Mit ihm gelang es, die Fragwürdigkeit eines ›geschlossenen‹, statischen Kulturkonzeptes zu verdeutlichen und bisherige Annahmen über kulturelle Differenz und kulturelle Identität einer Kritik zu unterziehen und zu modifizieren. Kultur im Sinne der Cultural Studies bezeichnet »jene Ebene, auf der gesellschaftliche Gruppen selbständige Lebensformen entwickeln und ihren sozialen und materiellen Lebenserfahrungen Ausdrucksform verleihen. Kultur ist die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten.« (Ebd.: 40; Hervorhebung im Original)
Dabei ist Kultur nicht allein ›Ausdrucksform‹ gesellschaftlichen Lebens, sondern hat darüber hinaus sinnstiftenden Charakter, denn »›Kultur‹ ist die Pra36 | Einen Überblick über die Entwicklung der Cultural Studies und ihres Kulturverständnisses liefern Hall (1999) und Lutter/Reisenleitner (1998). Die Definition von Kultur ist auch innerhalb der Cultural Studies nicht unumstritten. So verweist Hall auf die Komplexität des Begriffs, die es erschwere, ihn definitorisch festschreiben zu wollen.
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xis, welche das Gruppenleben in sinnvoller Form realisiert und objektiviert« (ebd.: 41; Hervorhebung: K.H.). Kultur umfasst den Prozess, in dem Menschen ihrem Tun, ihren Lebensverhältnissen Sinn und Bedeutung zuweisen und sie beschreibt die über den instrumentellen Charakter hinausweisende symbolische Verwendungsweise von Dingen im Alltag. Kulturelle Praxis ist insofern die symbolische Komponente gesellschaftlichen Daseins.37 Interessant an dieser Definition ist, dass sie die Funktion von Kultur, ihre lebenspraktische Relevanz für die Menschen, besonders hervorhebt. Kulturelle Symbole dienen der Deutung des gesellschaftlichen Lebens. Sie sind Mittel der Verständigung und der Selbstdarstellung der Individuen. Der symbolische Charakter von Kultur hat orientierende und identitätsstiftende Funktion.38 Kultur kann dementsprechend umschrieben werden als das Repertoire an Kommunikations- und Repräsentationsmitteln, mit dessen Hilfe Individuen sich und ihr Handeln orientieren. Folgt man der Definition von Clarke u.a., so präzisieren sie: »Die ›Kultur‹ einer Gruppe oder Klasse umfaßt die besondere und distinkte Lebensweise dieser Gruppe oder Klasse, die Bedeutungen, Werte und Ideen, wie sie in den Institutionen, in den gesellschaftlichen Beziehungen, in Glaubenssystemen, in Sitten und Bräuchen, im Gebrauch der Objekte und im materiellen Leben verkörpert sind. Kultur ist die besondere Gestalt, in der dieses Material und diese gesellschaftliche Organisation des Lebens Ausdruck findet. Eine Kultur enthält die ›Landkarten der Bedeutung‹, welche die Dinge für ihre Mitglieder verstehbar machen. […] Kultur ist die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und geformt sind; aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden.« (Ebd.: 41)
Dieses Kulturverständnis liefert Anhaltspunkte für die Widerlegung der These von der Abgeschlossenheit und Unveränderlichkeit von Kulturen. Zum einen verweist die Definition auf einen Zusammenhang von Kultur und sozialen Lebenserfahrungen. Das heißt, Kultur ist stets eingebunden in die gesellschaftlichen Strukturen und Lebensverhältnisse, in denen eine Gruppe lebt. Die wechselseitige Durchdringung von kulturellen Praktiken und strukturellen Bedingungen legt nahe, davon auszugehen, dass mit dem Wandel dieser Strukturen, z.B. einer veränderten sozioökonomischen Situation, es auch zu kulturel37 | Diesem Aspekt ähnlich definiert auch Geertz (1994) den Kulturbegriff. Ihm zufolge bezeichnet Kultur »ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln« (ebd.: 46). 38 | Vgl. auch Auernheimer (2007: 74), einer der Hauptrezipienten dieses Kulturbegriffs innerhalb der Interkulturellen Pädagogik.
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len Transformationen kommt. Die Menschen sind gezwungen, sich mit neuen Lebensbedingungen auseinanderzusetzen und werden im Zuge dessen neue Ausdrucksformen entwickeln. Dabei greifen sie auf die vorhandenen kulturellen Muster und Praktiken zurück und arbeiten diese so um, dass sie mit der veränderten Lebenssituation kompatibel sind und funktionsfähig bleiben. Czock (1988: 76) spricht in diesem Zusammenhang von Kultur als Bewältigungsleistung. Kulturelle Praktiken sind das Repertoire oder – wie Clarke u.a. (1981: 42) es bezeichnen – das »historische Reservoir« des Deutens und des Bearbeitens aktueller Lebenserfahrungen. Dieses historische Reservoir wird im Wechselverhältnis mit den sich wandelnden Lebensbedingungen ständig verändert, ergänzt, in Frage gestellt, aktualisiert, so dass ein neues und sich permanent erneuerndes Orientierungssystem entsteht.39 Kultur ist folglich ein adaptionsfähiges Gebilde, ein sich stets in Bewegung befindlicher Prozess. Hierbei handelt es sich in der Regel nicht um bewusst initiierte Vorgänge, sondern um sich allmählich vollziehende Veränderungen im Tun und Handeln der Menschen. Da in einer Gesellschaft nie nur ein kulturelles System existiert (vgl. ebd.: 43), spielt dabei der Kontakt mit anderen Kulturen eine Rolle. Elemente dieser Kulturen können im Prozess der Transformation Aufnahme finden in bestehende kulturelle Muster einer Gruppe und dort in eine Synthese gebracht werden. Aufgrund des Ungleichheitsverhältnisses, in dem Kulturen innerhalb einer Gesellschaft zueinander stehen, – Clarke u.a. (ebd.: 42f.) stellen heraus, dass es in der Regel eine herrschende Gruppe gebe, die auch über kulturelle Dominanz verfüge – verlaufen diese Prozesse nicht konfliktfrei. Die Interaktion wird zu einer umstrittenen Verhandlung um kulturelle Hegemonie. Bezieht man die Ausführungen der Cultural Studies auf die Situation von Migrantengruppen, bedeutet die Weiterentwicklung kultureller Praktiken folglich die Veränderung herkunftskultureller Muster unter den Bedingungen der Migration. In Auseinandersetzung mit diesen Bedingungen entstehen auf der Basis ›herkömmlicher‹ kultureller Muster und Erfahrungen, kultureller Elemente der Einwanderungsgesellschaft und der aktuellen Lebenssituation neue kulturelle Formen. Die Rede von Migrantenkulturen will diesem sich vollziehenden Wandel begrifflich Rechnung tragen (vgl. Auernheimer 1992: 13). Migrantenkulturen sind ebenso wie die dominanten Kulturen einer Gesellschaft dynamische, in sich heterogene Gebilde.40 Aufgrund ihres gesellschaftlichen Minderheitenstatus müssen Migrantengruppen ihre Kultur(en) in einem 39 | »So bilden die bestehenden kulturellen Muster eine Art historisches Reservoir – ein vorab konstituiertes ›Feld der Möglichkeiten‹ –, das die Gruppen aufgreifen, transformieren und weiterentwickeln.« (Clarke u.a. 1981: 42) 40 | Auernheimer (1992: 12) weist auch darauf hin, dass der Prozess der Wandlung kultureller Bedeutungen im Zuge der Schaffung eines neuen Orientierungssystems innerhalb von Migrantengruppen nicht konfliktfrei verläuft.
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machtstrukturierten Raum aus einer untergeordneten Position heraus entwickeln. Die dabei entstehenden kulturellen Formen sind deshalb häufig auch ein Produkt der Abgrenzung, des Widerstandes bzw. der Selbstbehauptung gegenüber der hegemonialen Kultur (vgl. Lutz 1992: 56ff.). Elemente herkunftskultureller Praktiken und Muster aus der Zeit vor der Migration können dabei neue, besonders herausgehobene Bedeutung erhalten. Die lebenspraktische Relevanz, die kulturelle Elemente der Herkunftsgesellschaft in einer Situation erhalten, in der die ethnische Herkunft über soziale Verortung und Chancen vertikaler Mobilität entscheidet und im Kontext von Ausgrenzung und Diskriminierung geltend gemacht wird, beeinflusst entscheidend den Prozess der kulturellen Transformation. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für die Annahme der Transformationsfähigkeit von Kulturen geht aus dem bereits zitierten Satz hervor, Kultur sei »die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und geformt sind; aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden« (Clarke u.a. 1981: 41). An dieser Stelle wird der aktive Part der Individuen an der (Re)produktion von Kultur unterstrichen und auf die Mehrdeutigkeit kultureller Ausdrucksmuster verwiesen. Verantwortlich für diese sei – so Auernheimer (2007: 74) – das Symbolische am Kulturellen, das per se mehrdeutig sei und dadurch Raum lasse für verschiedene Interpretationsweisen. Individuen werden nicht nur beeinflusst durch kulturelle Muster, sie beeinflussen diese auch selbst. Sie sind es, die bei der Bewältigung sozioökonomischer Veränderungen aktiv den Bestand an kulturellen Bedeutungsmustern auslegen und erneuern: »Männer und Frauen werden […] durch Gesellschaft, Kultur und Geschichte geformt und formen sich selbst. […] Jede Gruppe macht irgendetwas aus ihren Ausgangsbedingungen, und durch dieses ›Machen‹, durch diese Praxis wird Kultur reproduziert und vermittelt.« (Clarke u.a. 1981: 42)
Die in essentialistischen Ansätzen häufig vertretene These von der Existenz einer kulturellen ›Basispersönlichkeit‹, die die Individuen lebenslang präge, ist vor diesem Hintergrund nicht anzunehmen. Individuen sind nicht vollständig in ihrem Denken und Handeln durch ihre Kultur determiniert. Dennoch sind sie diesbezüglich auch nicht völlig frei: »Aber diese Praxis findet nur in dem gegebenen Feld der Möglichkeiten und Zwänge statt […] Kultur verkörpert also die Lebensbahn der Gruppe durch die Geschichte: stets unter Bedingungen und mit ›Rohmaterialien‹, die nicht alle von ihr selbst gemacht sein können.« (Ebd.)
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Individuen haben jedoch die Möglichkeit, sich – auch kritisch – mit den Praktiken und Erfahrungen der kulturellen Gruppen, denen sie ›angehören‹ auseinanderzusetzen und sie auf verschiedene Weisen zu deuten. Dadurch stehen sie jeweils in einem individuellen Verhältnis zu ›ihrer‹ Kultur bzw. ›ihren‹ Kulturen (vgl. Leiprecht 1998: 7). Kulturelle Identität kann Czock (1988: 78) zufolge verstanden werden als der lebenslange Prozess, »die ›Landkarten der Bedeutung‹ und das mitgebrachte kulturelle Material den aktuellen Lebensbedingungen gemäß zu transformieren«. Folgt man dem Konzept der Cultural Studies, so ist Kultur als prinzipiell veränderliches, adaptionsfähiges, sich permanent in Bewegung befindliches offenes, in sich heterogenes Gebilde zu verstehen. Kultur ist ein Anpassungsprozess an äußere Lebensumstände und die spezifische Praxis einer Gruppe, diese zu deuten. Individuen sind keine passiven ›Kulturträger‹, sondern an diesen Prozessen aktiv gestaltend beteiligt. Kultur auf ethnische oder nationale Kultur zu reduzieren, hieße, die Existenz einer Vielzahl an kulturellen Lebensweisen innerhalb einer Gesellschaft auszublenden. Die aktive Aneignung und Transformation bestehender kultureller Muster ist ein für alle Individuen einer Gesellschaft gleichermaßen bedeutsamer Vorgang, der für die soziale Verortung und Orientierung unumgänglich ist. Die Erfahrung unterschiedlicher kultureller Sichtweisen und Bedeutungen ist dabei etwas Alltägliches, das kaum noch bewusst wahrgenommen wird. In Bezug auf Migrant/-innen allerdings wird dies oftmals als außergewöhnlich und problematisch dargestellt. Aufgrund der Tendenz, den Kulturbegriff in Migrationsdiskursen ideologisch zu überformen und ursächlich im Sozialen verortete Probleme zu kulturalisieren, stehen einige Autor/-innen seiner Verwendung prinzipiell reserviert gegenüber (so z.B. Radtke 1995). Die Rede von ›Kultur‹ verschleiere ihnen zufolge gesellschaftliche Benachteiligungen und Diskriminierungen.
4.4 E THNIZITÄT ALS GESELLSCHAF TLICH RELE VANTE , INTER AK TIV GELTEND GEMACHTE D IFFERENZIERUNGSK ATEGORIE Die Diskussion der unterschiedlichen Begriffsentwürfe von Ethnizität und Kultur in diesem Kapitel zielte darauf, Klarheit in ein diffuses, semantisch brisantes theoretisches Feld zu bringen, das zu den terminologischen Voraussetzungen der Migrationsforschung zählt und auch für die migrationsbezogene Soziale Arbeit von unmittelbarer Relevanz ist. Dabei ist deutlich geworden, dass Ethnizität und Kultur keine Synonyme darstellen, wenngleich es an einigen Stellen zu begrifflichen Überschneidungen kommen kann. Im Rahmen dieser Studie wird die Kategorie Ethnizität im Zusammenhang mit Beratungssituationen empirisch betrachtet. Dafür ist es, wie im folgenden Kapitel verdeutlicht werden wird, unter methodischen Gesichtspunkten angezeigt, die Uneindeutigkeit die-
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ser Kategorie, das Spektrum ihrer Verwendungsweisen und deren Implikationen darzulegen und so für die Analyse des Materials zugänglich zu machen. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Begriffsdefinition, zu der hier vorläufig tendiert wird, zu explizieren, denn sie ist das Vorverständnis, das der Interpretation des Untersuchungsgegenstandes zugrunde liegt, an diesem geprüft und modifiziert werden wird. Dem Vorhaben, die sozialarbeiterische Praxis am Beispiel der Beratung alter Migrant/-innen einer empirischen Analyse zu unterziehen, liegt ein sozialkonstruktivistischer Ethnizitätsbegriff zugrunde. Ethnizität wird verstanden als eine gesellschaftlich relevante Differenzierungskategorie, die in sozialen Praxen durch das Handeln der Akteure und durch die von ihnen vorgenommenen Selbst- und Fremdzuweisungen aufgegriffen und geltend gemacht wird. Konstitutiv für Ethnizität sind insofern soziale Interaktionen in ihrer Wechselwirkung mit dem gesellschaftsstrukturellen Rahmen, in dem sie stattfinden. Im Hinblick auf die Herstellung und Aufrechterhaltung ethnischer Unterscheidungen kommt den Interaktionsbeteiligten ein zentraler Stellenwert zu. Die Thematisierung herkunftsbezogener Aspekte respektive ihre Nicht-Thematisierung sind nicht vorhersehbar, sondern abhängig von den potenziell verfügbaren Differenzierungskategorien der Beteiligten in Bezug auf sich selbst sowie in Bezug auf ihre Interaktionspartner. Sie hängen auch von deren Entscheidungen bzw. Intentionen sich auf diese zu berufen, der je konkreten Situation sowie dem institutionellen, rechtlichen, sozialen und politischen Kontext dieser Situation ab. Mit einer sozialkonstruktivistischen Perspektive auf Ethnizität wird es möglich, die Modalitäten ihres Entstehens, ihre Funktion und ihre Wirkungsweisen herauszustellen und so den Stellenwert ethnischer Differenzierungen im Kontext von Beratung zu rekonstruieren. Dieses Erkenntnisinteresse legt ein methodisches Vorgehen nahe, das die Interaktionen selbst einer analytischen Betrachtung unterzieht. Authentische Beratungsgespräche als Forschungsgegenstand haben den Vorteil, Ethnisierungen als prozesshafte, dynamische Vorgänge im jeweiligen Kontext ihres Entstehens zu dokumentieren. Eine Entkontextualisierung ist mit dem hier vertretenen Verständnis von Ethnizität nicht denkbar. Die ›Risiken‹, die damit verbunden sind, Ethnizität in wissenschaftlichen Forschungen besondere Beachtung zu schenken, z.B. ihre Reifizierung durch die Forscherin (vgl. Kapitel 3.3), lösen sich auch mit diesem methodischen Zugang nicht auf. Um Ethnisierungen im Forschungsverlauf zu vermeiden, sind diese ›Risiken‹ zu kalkulieren und zu reflektieren. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die genaue Rekonstruktion des Forschungsvorgehens, die sich nun anschließt.
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Teil II Empirische Erforschung von ethnischen Differenzierungen in Beratungsgesprächen der Altenhilfe
5 Rekonstruktive Zugänge zu ethnischen Differenzierungen – methodologische Verortung und Forschungsdesign
Ziel dieser Studie ist es – wie bereits an verschiedenen Stellen formuliert wurde (vgl. Kapitel 3.3 und Kapitel 4.4) –, handlungspraktische Erkenntnisse über ethnische Differenzierungen und ihren Stellenwert in der Sozialen Arbeit mit alten Migrant/-innen zu generieren. Der Fokus dabei liegt auf der Sozialen Beratung in diesem Feld. Hiermit wird eine zentrale Handlungsmethode der Sozialen Arbeit gewählt, die in der Altenhilfe von großer praktischer Relevanz ist (vgl. Kapitel 3.2.1). Sie eignet sich auch in forschungsmethodischer Hinsicht gut, da es sich bei einem Beratungsgespräch um eine Form der Interaktion zwischen professionellen Sozialarbeiter/-innen und alten Migrant/-innen handelt, die sich durch besondere Nähe auszeichnet und gemeinsam kommunikativ gestaltet werden muss. In einem solchen Arrangement lassen sich die Handlungspraktiken der Beteiligten erkennen und unmittelbar erfassen. Im Folgenden wird dargelegt, wie das Erkenntnisinteresse forschungsmethodisch umgesetzt wurde. Dabei stehen zwei für qualitative Forschung grundlegende Anforderungen an das Verfahren im Zentrum meiner Überlegungen. Der explorative Charakter dieser Studie sowie die mit der Erforschung von Ethnisierungsvorgängen verbundene Gefahr unerwünschter Nebenfolgen, nämlich als Forscherin Ethnisierungen zu entdecken, die im Forschungsverlauf selbst hineinprojiziert werden, sprechen erstens für ein Vorgehen, das sich durch möglichst große Offenheit gegenüber dem Gegenstand auszeichnet und ohne Hypothesenbildungen im Vorhinein auskommt. Erkenntnisse sollen auf der Basis der zu untersuchenden sozialen Praxis induktiv entwickelt werden. Besondere Bedeutung erhält dabei zweitens eine reflexive Grundhaltung im Forschungsprozess (vgl. Flick 2007: 29) in dem Sinne, dass die Beziehung zum Gegenstand als eine ›dialogische‹ Beziehung aufgefasst wird und diese Einstellung den gesamten Prozess der Erkenntnisgewinnung beeinflusst. Für
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die Bearbeitung der Forschungsfrage wurde demnach ein rekonstruktives Verfahren gewählt, das den beiden von Hoffmann-Riem (1980: 343) beschriebenen Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation folgt. Die Einnahme einer rekonstruktiven Einstellung im Forschungsprozess hat Bohnsack (2007a: 20ff.) zufolge zweifache Relevanz. So wird Forschung zum einen verstanden als Rekonstruktionsaufgabe jener Konstrukte von Wirklichkeit, die die erforschten Akteure in ihren Handlungen hervorbringen. Dem zugrunde liegt die Annahme der sozialen Konstruiertheit gesellschaftlicher Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1999). Diese vollziehe sich in interaktiven Prozessen und basiere auf habitualisierten, in der Regel nicht bewusst gesteuerten Praktiken und Regeln sozialen Handelns. Rekonstruktive Forschung strebt den verstehenden Nachvollzug dieses so genannten impliziten Wissens an (vgl. Meuser 2003: 141). Voraussetzung ist ein möglichst offenes Verfahren, das die impliziten Wissensbestände und Relevanzsysteme der Akteure zur Entfaltung bringt. Mit Bezug auf Alfred Schütz werden die im Forschungsprozess generierten Konstruktionen als Konstruktionen zweiten Grades beschrieben, denn sie stellen Konstruktionen der alltagsweltlichen Konstruktionen der Erforschten dar (vgl. Bohnsack 2007a: 23f.). Zum anderen erhält die selbstreflexive Durchdringung des gesamten Forschungsprozesses einen hohen Stellenwert (ebd.: 24ff.). Damit gemeint ist der Anspruch, dieselbe rekonstruktive Haltung, die gegenüber den Handlungspraktiken der Erforschten eingenommen wird, gleichermaßen auf die eigene Forschungspraxis anzuwenden. Es geht daher um die »Rekonstruktion der Rekonstruktion«, und zwar sowohl auf methodologischer Ebene – der Ebene der erkenntnistheoretischen Perspektive –, als auch auf forschungspraktischer Ebene. Dabei spielt insbesondere die Reflexion des Vorwissens der Forscherin in seiner Einfluss nehmenden Weise eine bedeutsame Rolle. Dieses Vorwissen ist zugleich Quelle der bereits erwähnten unerwünschten Nebenfolgen und – Grundgedanken der Hermeneutik folgend – unabdingbare Voraussetzung für Verstehensleistungen. Es sei, so Bohnsack (ebd.: 192ff.), jedoch möglich, die sich daraus ergebende und prinzipiell nicht aufhebbare »Standortgebundenheit« der Interpretationen methodisch kontrolliert einzubringen.1 Mit der komparativen Analyse liefert die zur Dateninterpretation eingesetzte dokumentarische Methode ein Instrument für diese methodische Kontrolle. Im Auswertungsprozess werden Vergleichshorizonte für die Identifizierung und Interpretation ethnischer Differenzierungen systematisch herangezogen, die nicht allein dem eigenen Vorwissen entspringen, sondern im Material begründet und insofern empirisch fundiert sind (vgl. Kapitel 5.2.4). Zu Beginn des Forschungsprozesses stand ferner die Überlegung, ethnische Differenzierungen möglichst unmittelbar ›einfangen‹ zu wollen, d.h. die 1 | Den Begriff der »Standortgebundenheit« verwendet Bohnsack (2007a: 173ff.) in Anlehnung an K. Mannheim.
5 R EKONSTRUK TIVE Z UGÄNGE ZU ETHNISCHEN D IFFERENZIERUNGEN
Handlungspraktiken der Akteure selbst einer Analyse zu unterziehen. Dieses Interesse kann insbesondere mittels einer interaktionsanalytischen Untersuchung authentischer Beratungsgespräche verfolgt werden.2 Im Folgenden werden die erkenntnisleitenden Forschungsfragen präzisiert und in eine an ethnomethodologischen Prämissen orientierte Forschungsperspektive eingebettet (Kapitel 5.1). Anschließend wird das Forschungsvorgehen im Einzelnen rekonstruiert (Kapitel 5.2). Die vorliegende Studie basiert auf einer dokumentarischen Interpretation von 20 auf Tonband aufgezeichneten ›authentischen‹ Beratungsgesprächen in Institutionen der Altenhilfe. Sie zielt auf die Generierung von Typen der Bezugnahme auf ethnische Differenz in der Beratung und auf die Formulierung erster Hypothesen über ihre Wirkungsweisen in diesem Feld.
5.1 D AS E RKENNTNISINTERESSE
UND SEINE E THNOME THODOLOGISCHE
E INBE T TUNG
Wie gestalten sich Beratungssituationen mit alten Migrant/-innen in den Regeldiensten der Altenhilfe und welchen Stellenwert nehmen dabei ethnische Differenzierungen ein? Für diese Fragestellung gilt es, empirische Antworten zu gewinnen. Dabei werden vor allem die folgenden Fragen aufgegriffen und an das Datenmaterial gerichtet: • Werden im Verlauf der Beratung (überhaupt) ethnische Differenzierungen relevant? • In welchem situativen, inhaltlich-thematischen Kontext werden sie relevant? • Von wem, d.h. von welchen an der Beratung beteiligten Personen – z.B. Berater/-in, Ratsuchende, Angehörige der Ratsuchenden, Dolmetscher/-in, Pflegedienstmitarbeiter/-in – wird ethnische Differenz geltend gemacht? • Wie und mit welchem Zweck werden Ethnisierungen ins Beratungsgeschehen eingebracht (Frage nach der Funktion ethnischer Differenzierungen)? • In welcher Weise nehmen Ethnisierungen Einfluss auf das Beratungsgeschehen (Frage nach der Wirkung ethnischer Differenzierungen)? Wenngleich diese Fragen dem Erkenntnisinteresse entsprechend primär darauf ausgerichtet sind, den Fokus auf ethnische Differenzierungen zu lenken, gilt 2 | Auch ein Forschungsansatz, der Beteiligte an Beratungsgesprächen zu diesen befragt, also »Gespräche über Gespräche« (Lalouschek/Menz 2002: 49) analysiert, kann sinnvoll sein, vor allem dann, wenn die Sicht der Subjekte in den Vordergrund gestellt bzw. ergänzend in die Untersuchung mit einbezogen werden soll. Dies war jedoch von Beginn an nicht im Fokus dieser Studie.
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das Prinzip der Offenheit, das hier auch bedeutet, dem Forschungsgegenstand gegenüber stets die Möglichkeit einzuräumen, keine ethnischen Bezugnahmen aufzuweisen. Die Herleitung und Begründung der Forschungsfragen aus dem aktuellen Stand der Fachdebatte um alte Migrant/-innen und der Diskussion um ›Interkulturalität‹ in der Sozialen Arbeit erfolgten bereits im zweiten und im dritten Kapitel.3 Ihre Ausrichtung auf die Beschreibung und Interpretation von Prozessen der Herstellung ethnischer Differenz ist für das Feld der Altenhilfe neu.4 Vorrangiges Ziel ist nicht etwa, in Erfahrung zu bringen, was von den Beratungsbeteiligten unter Ethnizität in einem semantischen Sinne verstanden wird, wenngleich auch dies im Zuge der Interpretationen eine Rolle spielen wird. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion der Handlungspraktiken der Erforschten sowie des »modus operandi« ethnischer Differenzierungen. Bohnsack (2007a: 58) spricht in Anlehnung an Mannheim von der Einnahme einer genetischen Analyseeinstellung. Mit dieser Perspektive lässt sich ethnische Differenz – einem sozialkonstruktivistischen Begriffsverständnis gemäß – als Resultat in sich verschränkter, einander bedingender interaktiver Selbstund Fremdzuweisung erfassen (vgl. Kapitel 4.2). Im Unterschied zu einer Beratungsforschung, die ihr Interesse vorrangig auf die Berater/-innen und deren Handeln richtet, rücken hier alle Beteiligten gleichermaßen ins Zentrum. Ethnomethodologischen Grundannahmen folgend bekleiden alle an einer Beratungssituation Mitwirkenden eine aktiv gestaltende Rolle, denn sie treten in jedem Moment der Interaktion als Konstrukteure und Interpreten des Geschehens auf. Soziale Wirklichkeit wird als »Vollzugswirklichkeit« (Bergmann 2000: 122) verstanden. Ihre Herstellung ist ein interaktiver Vorgang und untrennbar mit diesem verknüpft. »Gesellschaftliche Tatbestände erhalten ihren Wirklichkeitscharakter ausschließlich über die zwischen den Menschen ablaufende Interaktion« (ebd.). Garfinkel (1967: VII) beschreibt soziale Wirklichkeit als »an ongoing accomplishment of the concerted activities of daily life«. Sie ist als ein fortwährender, situativ gebundener, nicht außerhalb sozialer Interaktionen denkbarer Prozess aufzufassen, der sich in den Handlungen der Akteure vollzieht. Eine besondere Bedeutung erhält dabei der Kontext eines Geschehens. Er ist der Bezugspunkt für das Handeln der Interagierenden, gleichzeitig 3 | Siehe vor allem Kapitel 3.3, in dem Forschungsdesiderate benannt und daraus die Fragestellung dieser Studie abgeleitet wurden. 4 | Die Erforschung des Herstellungscharakters ethnischer Differenz ist allerdings nicht neu (vgl. exemplarisch Dannenbeck 2002; Dannenbeck/Eßer/Lösch 1999); auch interaktionsanalytische Befunde hierzu, vor allem aus dem schulischen Kontext, liegen vor (vgl. Weber 2003; Dirim 1998; Gogolin/Neumann 1997). Ebenso sind Beratungen in der Sozialen Arbeit vereinzelt Gegenstand von Forschungsarbeiten. Einen Überblick über gesprächsanalytische Studien in der Beratungsforschung liefert Grothe (2008: 44ff.), die selbst psychosoziale Beratungen im interkulturellen Kontext untersucht.
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sind die Interagierenden diejenigen, die jenen Kontext durch ihre spezifischen Handlungspraktiken in der Interaktion konstituieren. Flick (2007: 88) beschreibt dieses sich einander bedingende Verhältnis von Handlung und Kontext – am Beispiel von Beratungsgesprächen – folgendermaßen: »Erst die Redebeiträge der Beteiligten gestalten das Gespräch ›Zug um Zug‹ als Beratung, nicht etwa eine Vorab-Definition. Andererseits wird der institutionelle Kontext ebenfalls durch die Beiträge der Gesprächspartner in das Gespräch transportiert und darin hergestellt. Erst spezifische Handlungsweisen von Berater und Klient machen ein Gespräch zur Beratung.«
Wie dies geschieht ist beobachtbar. Die Techniken, die Verfahrensweisen, die je spezifischen Darstellungsformen, mit denen Akteure ihren Handlungen Sinn verleihen und sie erkennbar und nachvollziehbar machen, dokumentieren sich im Handeln selbst, in so genannten empirisch rekonstruierbaren »accounts« (vgl. Bergmann 2000: 125).5 Äußerungen bzw. sprachliche Handlungen zeichnen sich durch ihre Vagheit und Bedeutungsoffenheit aus. Sie sind indexikal, d.h. sie bedürfen der Interpretation und erschließen sich ausschließlich kontextgebunden. Es besteht daher ein reflexives Verhältnis zwischen dem Sinn einer Äußerung und ihrem Kontext (ebd.: 126). Die Indexikalität sprachlicher Handlungen macht Kommunikation störanfällig und zerbrechlich. Je nachdem inwieweit Berater/-innen und Ratsuchende einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund teilen, treten mehr oder weniger überwindbare Probleme des Fremdverstehens auf. Nach ethnomethodologischer Auffassung verweisen indexikale Äußerungen nicht allein auf den je konkreten Handlungskontext. Sie verweisen auch auf allgemeine, übersituative, z.B. milieuspezifische, Muster, die in die Handlungspraktiken der Akteure einfließen und an denen diese ihr Handeln orientieren. Mit Bezug auf Mannheims dokumentarische Methode macht Garfinkel (1973: 199) diesen Zusammenhang für den Forschungsprozess nutzbar, denn er ermögliche »die Behandlung einer Erscheinung als ›das Dokument von‹, als ›Hinweis auf‹, als etwas, das anstelle und im Namen des vorausgesetzten zugrundeliegenden Musters steht«. Die zirkelhafte bzw. reflexive Verbindung zwischen empirischem Dokument und allgemeinem Muster6 kann für die Dateninter5 | Dieser Gedanke geht zurück auf Garfinkel, der annimmt, »that the activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with member’s procedures for making those settings ›account-able‹« (ders. 1967: 1). Unter ›accountable‹ versteht Garfinkel »observable-and-reportable, i.e. available to members as situated practices of looking-and-telling« (ebd.). 6 | »Jede der beiden Seiten wird benutzt, um die je andere auszuarbeiten.« (Garfinkel 1973: 199)
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pretation auf dem Weg zur Generierung von Typen fruchtbar gemacht werden (vgl. Kapitel 5.2.4). Der auf Harvey Sacks (1995) zurückgeführte Forschungsansatz der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, der im deutschsprachigen Raum insbesondere von Bergmann (1994, 1987, 1981) rezipiert und primär in der soziolinguistisch ausgerichteten konversationsanalytischen Gesprächsforschung (vgl. Deppermann 2008) angewendet und weiterentwickelt wird, gibt konsequenterweise authentischem Datenmaterial, d.h. der Analyse ›natürlicher‹ Kommunikation, den Vorzug. Aus diesem Grunde erweisen sich Verfahren der Datenerhebung und -aufbereitung, die im Rahmen dieser Forschungsansätze entwickelt wurden, für die vorliegende Studie als ertragreich (vgl. Kapitel 5.2). Anders als in konversationsanalytischen Forschungen erfordert das hier verfolgte Erkenntnisinteresse allerdings einen interpretativen Zugang zum Material, der sich nicht methodisch auf die Herausarbeitung formaler Ordnungsprinzipien in Beratungsgesprächen beschränkt, sondern semantische Gehalte berücksichtigt.7 Wie noch dargelegt werden wird, erweist sich in dieser Hinsicht die dokumentarische Methode der Interpretation nach Bohnsack (2007a) als instruktiv. Die vorliegende Studie – so lässt sich ihr Erkenntnisgewinn beschreiben – liefert eine Deskription und Analyse beraterischer Interaktion im Hinblick auf das Geltendmachen ethnischer Differenz. Damit wird ein bislang unerforschtes Feld zunächst erschlossen und die in diesem Feld stattfindenden Vorgänge erstmals begrifflich gefasst. Indem sowohl die Modi ethnischer Differenzsetzungen als auch ihre Wirkungen erhellt werden, kann die interaktive Bedeutung ethnischer Bezugnahmen hervorgehoben und in den Kontext des Beratungsgeschehens gestellt werden. Dadurch wird es möglich, Erkenntnisse über die konkrete Verortung von Ethnisierungen im sozialpädagogischen Handeln am Beispiel der Beratung in der Altenhilfe in eine Typologie zu fassen und daraus erste Hypothesen über ihre Wirkungsweisen abzuleiten. Die Befunde liefern somit eine Basis, um migrationsbezogene Soziale Arbeit handlungsorientiert und ethnisierungstheoretisch weiter zu fundieren.
5.2 R EKONSTRUK TION DES F ORSCHUNGSVORGEHENS Die Rekonstruktion der eigenen Vorgehensweise ist eine sehr zentrale Komponente rekonstruktiver Forschung im Hinblick auf Transparenz und Nachvoll7 | Die ethnomethodologische Konversationsanalyse zielt auf die formalen Methoden und Verfahren, mit denen Interaktionen organisiert bzw. Gespräche strukturiert werden. Ihre Beschränkung auf diese formalen Aspekte bei Vernachlässigung von Gesprächsinhalten und von Kontextwissen wird oft als Kritikpunkt an diesem Forschungsansatz formuliert (vgl. Flick 2007: 427f.; sowie Deppermann 2000).
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ziehbarkeit des Forschungsprozesses. Aus diesem Grunde werden im Folgenden die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes und die Erhebungsverfahren, d.h. die Tonbandaufnahmen und die ergänzend eingesetzten Begleitfragebögen, erläutert (Kapitel 5.2.1), die Institutionen und die mitwirkenden Berater/-innen kurz porträtiert sowie die Kontaktaufnahme und die Datenerhebung beschrieben (Kapitel 5.2.2). Nach einer übersichtsartigen Präsentation des Datenmaterials und der beteiligten Ratsuchenden (Kapitel 5.2.3) werden schließlich die Schritte der Datenauswertung skizziert (vgl. Kapitel 5.2.4).
5.2.1 Eingrenzung des Untersuchungsfeldes und Erhebungsverfahren Das Interesse dieser Studie richtet sich auf die Regeldienste des Altenhilfesystems. Mit der Eingrenzung auf diesen Ausschnitt aus der Versorgungslandschaft für alte Migrant/-innen ist beabsichtigt, die Angebote zu untersuchen, die von ihrem Selbstverständnis her allen Menschen im Alter offen stehen und zudem im Fokus der Fachdebatte um »interkulturelle Öffnung sozialer Dienste« sind (vgl. Kapitel 3.1). Aus diesen Institutionen werden zwei von ihrem konzeptionellen Ansatz her unterschiedliche Arten von Angeboten berücksichtigt, und zwar behördliche Beratungsstellen, die unter anderem Geld- und Sachleistungen nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) gewähren und in diesem Rahmen auch Kontrollfunktionen ausüben sowie Beratungsstellen in freier Trägerschaft, die sich durch einen hohen Grad an Niedrigschwelligkeit auszeichnen.8 Es handelt sich hierbei um die zwei zentralen Beratungsmöglichkeiten außerhalb stationärer Einrichtungen für Menschen im Alter und ihre Angehörigen, die sich nicht thematisch spezialisiert haben, sondern die für alle das Alter betreffenden Fragen und Problemsituationen konsultiert werden können. An die Berater/-innen wurden vorab keine Kriterien angelegt außer jenem, dass es sich um professionelle Sozialarbeiter/-innen handeln sollte. Im Verlauf des Forschungsprozesses kristallisierte sich heraus, dass ausschließlich deutsche Berater/-innen einbezogen werden können, die über keinen Migrationshintergrund verfügen. Dies begründet sich darin, dass zum Zeitpunkt der Erhebung in der Großstadt, in der die Datenaufnahmen erfolgten, keine Berater/-innen mit Migrationshintergrund in den Beratungsstellen der Regeldienste tätig waren. Dieser Befund ist zunächst für die Bearbeitung der Forschungsfrage unerheblich, schloss allerdings einen möglichen Vergleich von Beratungen, die von Berater/-innen mit Migrationshintergrund und solchen ohne Migrationshintergrund durchgeführt werden, von vornherein aus.
8 | Nähere Angaben zu den Institutionen, die Teil dieser Studie sind, befinden sich im folgenden Abschnitt 5.2.2.
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Als Ratsuchende wurden ausschließlich Migrant/-innen berücksichtigt, d.h. Personen, die biographisch über eine persönliche Migrationserfahrung, und zwar von einem anderen Herkunftsland kommend nach Deutschland, verfügen. Von weiteren Festlegungen im Vorwege, etwa der Begrenzung der Untersuchung auf Migrant/-innen aus ausgewählten Herkunftsländern, wurde abgesehen.9 Mit dem Kriterium ›persönliche Migrationserfahrung‹ wurden keine Aussagen über die zum Teil sehr heterogenen Bedingungen der jeweiligen Migration und die damit jeweils verbundenen individuellen Bedeutungen vorab getroffen, gleichwohl ist eine Einflussnahme dieser Aspekte auf den Beratungsprozess nicht auszuschließen. Faktoren wie Herkunftsland, Herkunftssprachen, Migrationsmotive, Zeitpunkt der Migration, Aufenthaltsdauer und Aufenthaltsstatus in Deutschland sowie sonstige Angaben über soziale Lebensbedingungen sollten jedoch zunächst offen gelassen und erst in ihrer sich im Beratungsgeschehen manifestierenden Relevanz berücksichtigt werden. Wie bereits dargelegt, ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung die Frage nach den Herstellungsprozessen ethnischer Differenz. Inwiefern sich das Geltendmachen ethnischer Differenz an inhaltliche Faktoren, wie die eben genannten, bindet, blieb empirisch zu klären. Die Ratsuchenden wurden ferner nicht auf ein bestimmtes Lebensalter eingegrenzt. Zu dem Nutzerkreis der Altenhilfeberatungen, so zeigt die Datenerhebung, zählen auch Migrant/-innen unter 50 Jahre. Die Studie fokussiert Beratungsgespräche, nicht gesamte Beratungsprozesse, die oftmals organisierende, vermittelnde, koordinierende Aktivitäten der Berater/-innen vor und nach einem Beratungsgespräch umfassen oder aus mehreren Folgegesprächen bestehen können. Dem Erkenntnisinteresse gemäß stehen die konkreten Handlungspraktiken im Zentrum, und zwar so, wie sie sich in faceto-face-Interaktionen ereignen. Die Untersuchung der Beratungsinteraktion ist auf die verbale Kommunikation, die mittels Tonbandaufnahmen festgehalten wurde, begrenzt worden. Drei Gründe sprechen für diese Eingrenzung und die damit verbundene Möglichkeit, ein ›unauffälliges‹ – im Sinne von wenig in die Beratungssituation eingreifendes – Datenerhebungsverfahren zu wählen.
1. Die ›Authentizität‹ der Daten Der Vorteil, der mit der Analyse ›authentischer‹ sprachlicher Daten erzielt werden kann, nämlich die weitgehend unverfälschte, nicht durch subjektive Sichtweisen gefilterte Erfassung von Handlungspraktiken, soll nicht durch forschungstechnische Eingriffe mehr als nötig aufs Spiel gesetzt werden. Die wissenschaftliche Beobachtung ›authentischer‹ Kommunikation ist zweifelsohne ein Widerspruch in sich. Es gilt deshalb zumindest eine so weit wie möglich 9 | Davon auszugehen, dass z.B. ethnische Differenzierungen bei Migrant/-innen aus bestimmten Herkunftsländern oder mit bestimmten Migrationsanlässen eine Rolle spielen, wären Vorab-Hypothesen, die zu ethnisierenden Befunden führen würden.
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natürliche Atmosphäre beizubehalten, in der der Gewöhnungseffekt der Erforschten an die Aufnahmesituation nach relativ kurzer Zeit eintritt und Handlungsroutinen Platz macht (vgl. Lalouschek/Menz 2002: 49). Daher wurde von teilnehmenden Beobachtungen, die die Anwesenheit der Forscherin in dem ohnehin sehr intimen Setting einer Beratung erfordert hätten, und der Erhebung visueller Daten abgesehen. Da ein Großteil der Beratungen in den Wohnungen der Ratsuchenden stattfand, hätte letzteres einen hohen technischen Aufwand im Vorwege der Beratung mit sich gezogen.
2. Ethische Er wägungen Soziale Beratungen thematisieren kritische Lebenssituationen der Ratsuchenden, die oftmals mit einem Verlust an Autonomie und dem Bedarf an Hilfen durch Dritte verbunden sind. Die Privatsphäre der Beteiligten muss trotz der forscherischen Eingriffe gesichert bleiben. Auch für die Berater/-innen ist es nicht immer leicht, sich in die professionellen ›Karten‹ schauen zu lassen. Es handelt sich insofern um ein höchst sensibles Feld für empirische Forschungen. Während mit den Berater/-innen in ausführlichen Vorgesprächen das Verfahren besprochen werden konnte, war dies mit den Ratsuchenden nicht in einer ähnlichen Form möglich. Die Zusicherung des Datenschutzes spielte insofern eine sehr zentrale Rolle. Unter ethischen Gesichtspunkten ist es geboten, die Einwilligung von den Ratsuchenden im Vorwege schriftlich einzuholen. Dies erfolgte mittels kurzer, bei Bedarf in den Herkunftssprachen verfasster Informationen über die Ziele des Projektes, die Freiwilligkeit der Teilnahme, die Verfahren zur Sicherstellung der Anonymität und den vertraulichen Umgang mit den erhobenen Daten. In fast jedem Gespräch war die Forschung zu Beginn Thema. Der damit verbundene Eingriff in die Authentizität der Beratungsgespräche wurde aus Gründen der Ethik für unumgänglich gehalten. Da die Dokumentation visueller Eindrücke als ein erheblich weiter reichender Eingriff in die Privatsphäre erachtet wurde als die Aufnahme der Stimmen und der im Nachhinein durch Pseudonyme verschlüsselbaren Namen, wurde auch aus ethischen Gründen von z.B. Videoaufnahmen abgesehen.
3. Forschungspragmatische Er wägungen Schließlich waren auch pragmatische Überlegungen ausschlaggebend für den Verzicht auf die Erfassung non-verbaler Kommunikation. Sie hätte die Datenerhebung und -aufbereitung bedeutend aufwändiger gestaltet und sehr viel komplexere Transkriptionen erfordert. Im Rahmen dieser Arbeit hätten nur sehr kleine Gesprächsausschnitte überhaupt sinnvoll transkribiert werden können, nicht jedoch die Beratungsgespräche als Ganze (vgl. Deppermann 2008: 45). So war es letztlich eine Frage der Abwägung, ob und inwieweit der Einbezug non-verbaler Faktoren für die Interpretation von zusätzlichem Nutzen oder aber verzichtbar ist.
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Zentrale Zusatzinformationen, wie der Ort, an dem die Beratung stattfand, weitere anwesende Personen sowie gegebenenfalls Besonderheiten zu den Beteiligten und zur Beratungssituation, wurden mittels Begleitfragebögen, die die Berater/-innen ausfüllten, ergänzt. Die Begleitfragebögen dienten auch dazu, soziodemographische Angaben zu den beteiligten Personen zu erfassen. In Bezug auf die Ratsuchenden wurden die folgenden Informationen erhoben: Alter, Herkunftsland, Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, Sprachkenntnisse, Einreisejahr nach Deutschland, Schul- und Berufsbildung sowie berufliche Tätigkeit in Deutschland. In Bezug auf die Berater/-innen interessierten Alter, Herkunftsland, Sprachkenntnisse und Berufsausbildung. Von weiteren beteiligten Personen wurden Alter, Herkunftsland, Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, Sprachkenntnisse, Einreisejahr, Beruf, berufliche Tätigkeit, Beziehung zu den Ratsuchenden sowie bei dolmetschenden Personen die Angabe, ob es sich um ehrenamtliche oder professionelle Dolmetscher/-innen handelt, erfragt.
5.2.2 Feldphase: Kontaktaufnahme zu den Institutionen und Datenerhebung Die Daten wurden von Mai 2004 bis April 2005 in einer deutschen Großstadt erhoben, die im Gegensatz zu ländlichen oder kleinstädtischen Regionen über ein recht breites, stadtteilbezogenes und damit wohnortnahes Netz an Beratungsangeboten für Menschen im Alter verfügt. Von Relevanz für die Studie ist ferner, dass die Großstadt über eine Reihe von Pflegediensten verfügt, die sich auf Patient/-innen bestimmter Herkunftsländer spezialisiert haben. Die Kontaktaufnahme zum Feld erfolgte über die beratenden Institutionen. Hilfreich in Bezug auf ihre Auswahl war meine zur Datenerhebung zeitgleiche wissenschaftliche Mitarbeit in einem Forschungsprojekt zur systematischen Erfassung der Beratungsarbeit im Altenhilfesystem der Großstadt. Im Rahmen dieses Projektes wurde eine repräsentative Erhebung der Beratungsangebote mittels telefonischer Interviews durchgeführt. Dadurch waren mir die Einrichtungen, deren Aufgaben- und Tätigkeitsprofile bekannt. Auch die Mehrheit der Berater/-innen kannte mich durch ihre Teilnahme an dem Projekt. Dies erleichterte die Kontaktaufnahme. Um selbst nicht als ›Störfaktor‹ bei den Beratungsgesprächen zugegen zu sein, war vorgesehen, dass die Berater/-innen die Datenaufnahmen in Eigenregie durchführen. Diese Art der Datengewinnung beinhaltet zwei zentrale Probleme. Zum einen blieb es letztlich eine Entscheidung der Berater/-innen, welche ihrer Beratungstermine sie überhaupt für eine Aufnahme auswählten. Ob dabei subjektive Kriterien neben denen, die durch die Forschung vorgegeben waren, Einfluss nahmen, ist für mich nicht abschließend rekonstruierbar. Zum anderen könnte die Anfrage an die Ratsuchenden über die sie beratende Person aufgrund institutioneller Abhängigkeiten unter Umständen eine Druck-
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situation provoziert haben, die jene auch gegen ihren Willen teilnehmen ließ. Die für die Forschung zu überwindenden hohen institutionellen Hürden und das Fehlen eines alternativen Zugangs zu Rat suchenden alten Migrant/-innen machten diese Form der Datengewinnung jedoch zur einzig praktikablen. Nach Abschluss der Erhebungsphase und der Sichtung des Materials konnten die anfänglichen Bedenken zwar nicht ausgeräumt, jedoch gemildert werden. Es liegt ein breites Spektrum an zum Teil sehr unterschiedlich verlaufenden Beratungsgesprächen vor (siehe Kapitel 5.2.3). Zudem wurden die Sozialarbeiter/-innen der behördlichen Altenberatung, wie sie selbst berichteten, häufig mit Ablehnungen der Aufnahme durch die Ratsuchenden konfrontiert, die jene stets respektierten. In einigen Fällen scheiterte eine Aufnahme auch an der Einwilligung der beteiligten Pflegedienste. Dass es sich bei dem gewonnenen Datenmaterial nicht um eine repräsentative Stichprobe handelt, ist nachvollziehbar. Im Rahmen dieser explorativen Studie ist eine solche Repräsentativität auch nicht intendiert. Doch zunächst zurück zur Kontaktaufnahme, die im Folgenden institutionenbezogen nachgezeichnet wird.
Behördliche Altenberatung 12 der insgesamt 20 vorliegenden Beratungsgespräche stammen aus der behördlichen Altenberatung. Diese ist organisatorisch dem Sozialamt der Stadt angegliedert und beschäftigt zum Zeitpunkt der Datenerhebung insgesamt 36 Berater/-innen, die jeweils eigenständig für bestimmte Stadtregionen zuständig sind. Die drei Berater/-innen, die für die Mitwirkung gewonnen werden konnten, genannt Herr Dieckmann, Frau Carstens und Herr Behrens, arbeiten in Stadtregionen, die im Verhältnis zur Gesamtstadt über einen überdurchschnittlich hohen Migrant/-innenanteil verfügen.10 Dies schlägt sich in der Häufigkeit ihrer Kontakte zu alten Migrant/-innen nieder. Wie aus Gesprächen mit den Mitarbeiter/-innen der behördlichen Altenberatung insgesamt hervorgeht, ist der Anteil der Nutzer/-innen mit Migrationshintergrund im Erhebungszeitraum als eher gering einzuschätzen. Meist konnten keine genauen Angaben, etwa in Prozent, mitgeteilt werden. Es handelt sich vermutlich mehrheitlich um unter 5 % aller Ratsuchenden. In den drei berücksichtigten Stadtregionen hingegen ist der Anteil an Rat suchenden Migrant/-innen verhältnismäßig hoch. Frau Carstens steht mit ihrer Einschätzung, dass es sich bei ihren Ratsuchenden zu 25 % um Migrant/-innen handele, an der Spitze. Herrn Dieckmann zufolge seien es bei ihm 10-15 %, während Herr Behrens’ Schätzung bei 5-10 % liegt. Ein schriftliches konzeptionelles Profil der Tätigkeit der Sozialarbeiter/-innen in der behördlichen Altenberatung existiert nicht. Hinweise über die Ziele und Aufgaben ihrer Arbeit können daher verbindlich nur den Ausführungen 10 | Zugunsten der Anonymität wird im Folgenden auf genauere Angaben zu den Stadtregionen verzichtet.
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des § 71 SGB XII, ihrer gesetzlichen Grundlage, entnommen werden (vgl. Kapitel 3.2.1). Die behördliche Altenberatung versteht sich als wohnortnahe Ansprechpartnerin für die Bürger/-innen in allen das Alter betreffenden Fragen und vermittelt gegebenenfalls an andere Institutionen weiter. Das thematische Spektrum, zu dem die Altenberatung konsultiert wird, ist sehr umfassend. Es berührt insbesondere altersspezifische Problematiken und Krisen, z.B. aufgrund von chronischen Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit und sozialer Isolation. Sie berät zu sozialrechtlichen Fragen, vor allem zu Leistungsansprüchen, zur pflegerischen Versorgung, zu Heim- und Wohnungsangelegenheiten, zu Wohnformen im Alter, zu Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen. Wenngleich die Beratung alter Menschen, ihrer Angehörigen und von Personen des nahen Umfeldes des alten Menschen im Zentrum stehen, umfasst das Tätigkeitsprofil weitere Aufgaben. Die Sozialarbeiter/-innen bearbeiten Betreuungs-, Vermögens- und Nachlassangelegenheiten der Gerichte, erstellen Sozialberichte, Gutachten und psychosoziale Stellungnahmen, arbeiten bei der Koordination und Vernetzung der im Altenbereich tätigen regionalen Institutionen mit und betreiben stadtteilbezogen Öffentlichkeitsarbeit, indem sie die Bürger/-innen zu altersrelevanten Themen informieren.11 Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle eine weitere Aufgabe der Berater/-innen, da diese in den analysierten Beratungsgesprächen dominiert. Die Sozialarbeiter/-innen der behördlichen Altenberatung verfügen über eingeschränkte Bewilligungskompetenzen von Hilfen nach dem SGB XII. Sie bewilligen z.B. Anträge auf Hilfe zur Pflege nach § § 61ff. SGB XII und auf Hilfe zur Weiterführung des Haushalts nach § 70 SGB XII. Diese Kombination aus ›neutraler‹ Beratung und der Gewährung von Leistungen birgt in Bezug auf die Beratungsgestaltung sowohl Chancen als auch Schwierigkeiten. Von Vorteil ist, dass die Hilfen im Unterschied zu Hilfen, die durch Sachbearbeiter ›vom Schreibtisch aus‹ rein administrativ bewilligt werden, auf sozialpädagogischer Expertise basieren und mittels Hausbesuchen individuell und lebensweltnah zugeschnitten werden können. Allerdings geraten die Berater/-innen nicht selten in ein Dilemma zwischen Hilfe und Kontrolle, dem so genannten Doppelmandat der Sozialen Arbeit (vgl. Meinhold 2005: 518). Denn vor allem dann, wenn aufgrund der Finanzierbarkeit von Leistungen die behördliche Vorgabe darin besteht, Kosten möglichst gering zu halten, kann der Berater die Hilfen nicht immer in dem Umfang gewähren, wie er selbst sie im Einzelfall fachlich für angezeigt hält bzw. wie sie vom Ratsuchenden gewünscht werden. Die Handlungsspielräume, die den Berater/-innen bleiben, werden von diesen unterschiedlich genutzt. Sie verfügen insofern über eine ›Entscheidungsmacht‹, die 11 | Die Angaben wurden Stellenausschreibungen der Behörde entnommen, in denen das Aufgabengebiet der behördlichen Altenberatung umschrieben wurde, und gehen auf Gespräche mit den Berater/-innen zurück.
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den Aufbau einer Vertrauensbeziehung zwischen Ratsuchenden und Berater/-innen bedeutend belasten kann. Oftmals dominiert die Bewilligungsfunktion die Arbeit der Berater/-innen. Die Beratungen werden zu ›reinen‹ Gesprächen über den Bedarf und die Bewilligung von Leistungen. Eine solche Reduzierung des Beratungsspektrums ist kein Spezifikum der Beratung von Migrant/-innen, sondern eine grundsätzliche Tendenz. Um als Forscherin Zugang zur behördlichen Altenberatung zu erhalten, musste der offizielle Dienstweg eingehalten werden. Das Forschungsvorhaben wurde deshalb einem Teil der 36 Berater/-innen nach Absprache mit dem Vorgesetzten auf den regelmäßig in der Fachbehörde stattfindenden Fachbesprechungen vorgestellt. In telefonischen Anfragen wurden die Berater/-innen in den Tagen danach einzeln um Mitwirkung gebeten. Von 14 angefragten Berater/-innen sagten zunächst sieben ihre Teilnahme zu. Ablehnungen wurden mit hoher persönlicher Arbeitsbelastung oder der geringen Anzahl an Migrant/-innen unter den Ratsuchenden begründet. Ein weiterer Ablehnungsgrund deutet bereits auf eines der Ergebnisse dieser Studie. So käme es sowohl aufgrund von Sprachbarrieren als auch aufgrund der »Vormachtstellung« dolmetschender Pflegedienstleiter gar nicht zu Beratungen »im klassischen Sinne«. Vielmehr sei von »Verhandlungen« mit Pflegediensten zu sprechen, die durch ihr »taktisches Agieren« verhinderten, dass überhaupt ein Gespräch mit den Ratsuchenden zustande käme.12 Motive für die Mitwirkung sind vor allem das Interesse an der Weiterentwicklung der Versorgungssituation alter Migrant/-innen und an der Verbesserung eigener professioneller Handlungskompetenzen, denn der Kontakt zu Migrant/-innen sei nach Aussagen der Berater/-innen mit fachlichen und persönlichen Unsicherheiten verbunden. Zeigte sich ein Berater zur Mitwirkung bereit, wurde zunächst die Erlaubnis seines unmittelbaren Vorgesetzten in der jeweiligen Stadtregion eingeholt. Auf diesem Weg konnten schließlich drei Berater/-innen gewonnen werden, bei denen es faktisch auch zu Aufnahmen kam. Die Beratungssprache der Berater/-innen ist grundsätzlich Deutsch. Abgesehen von Englischkenntnissen verfügen sie über keine weiteren Fremdsprachenkenntnisse. Der 60-jährige Sozialarbeiter Herr Dieckmann hält die Beteiligung ›seiner‹ Stadtregion an der Studie aufgrund des hohen Anteils an alten Migrant/-innen für unverzichtbar. Er verbindet mit seiner Mitwirkung auch die Hoffnung, zu einer Verbesserung der Beratung von Migrant/-innen beitragen zu können. Herr Dieckmann beschäftigt sich seit Ende der 1990er Jahre mit der Situation alt werdender Migrant/-innen und informiert sich hierüber auf bundesweiten Fachtagungen. In seiner Stadtregion wird er von Migrantengruppen eingeladen, um 12 | Bei den in Anführungszeichen gesetzten Formulierungen handelt es sich um Zitate telefonischer Aussagen einer Beraterin. Ähnliche Argumente gegen eine Beteiligung an der Studie wurden von zwei weiteren Beraterinnen geäußert.
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über altersspezifische Themen, z.B. die Grundsicherung im Alter, zu informieren. Darüber hinaus hat er für ein stadtweites kostenloses russisch-deutsches Magazin einen darin zweisprachig erschienenen Artikel über die behördliche Altenberatung verfasst. Herr Dieckmann hält sich für erfahren im Umgang mit Migrant/-innen und kundig bezüglich ihrer allgemeinen Lebenssituation sowie ihrer Migrationsgeschichten. Neben seinen beruflichen Erfahrungen stellen für ihn auch frühere Urlaubsreisen, die er unter anderem nach Afghanistan unternommen hat, zentrale Quellen seines Wissens über Migrant/-innen und deren ›Lebensweise‹ dar. Die sieben Gespräche, die Herr Dieckmann aufnahm, bildeten ihm zufolge einen »guten Schnitt« seiner Beratungen. Die 49-jährige Sozialarbeiterin Frau Carstens hat andere Motive für ihre Mitwirkung. Sie äußert großes Misstrauen gegenüber den ›herkunftssprachigen Pflegediensten‹ (siehe unten), da sie nicht verstehen könne, was diese dolmetschten. Sie vermutet, dass sie taktisch im eigenen Interesse agierten bzw. in Absprache mit den Ratsuchenden, denen sie teilweise unterstellt, ungerechtfertigt an Hilfeleistungen gelangen zu wollen. Ihre Kritik an den Pflegediensten betrifft auch deren Abrechnungspraktiken. Sie würden teilweise nicht erbrachte Leistungen abrechnen. Zwar käme dies auch bei ›deutschen‹ Pflegediensten vor. Hier seien es jedoch lediglich einige wenige, während es sich bei den ›herkunftssprachigen Pflegediensten‹ um 80-90 % handele. Frau Carstens ist diesbezüglich verärgert. Sie fühlt sich zum Teil hilflos, zum Teil hintergangen. Sie erhofft sich durch ihre Beteiligung an der Studie dazu beizutragen, die Versorgungssituation in dieser Hinsicht zu verbessern. Die Durchführung der Aufnahmen beschreibt sie als sehr positiv. Insbesondere hebt sie den Begleitfragebogen (vgl. Kapitel 5.2.1) hervor, den sie als Einstieg in die Gespräche nutzte. Das Stellen der Fragen hätte ihr ermöglicht, einen persönlichen Zugang zu den Ratsuchenden zu gewinnen bevor sie auf die Sachebene der Beratung überging. Vier ihrer Aufnahmen wurden in die Datenanalyse einbezogen. Der 39-jährige Sozialarbeiter Herr Behrens äußert keine spezifischen Mitwirkungsmotive. Er habe in seiner Arbeit häufig Kontakt zu Migrant/-innen und betrachtet dies als Teil seines Alltagsgeschäfts. Er zeigt sich hinsichtlich der Forschung sehr kooperativ. Dennoch erwies sich die Datenerhebung für ihn als schwierig. Viele Pflegedienste und Ratsuchende, bei denen er anfragte, lehnten eine Beteiligung trotz ausführlicher Erklärungen seinerseits ab. Es konnte schließlich ein Beratungsgespräch von Herrn Behrens berücksichtigt werden. Mit ›herkunftssprachigen Pflegediensten‹ werden hier solche Pflegedienste bezeichnet, die sich sprachlich und konzeptionell auf die Pflege von Menschen aus bestimmten Herkunftsländern spezialisiert haben und Pflegepersonal mit dementsprechenden Kompetenzen vorhalten. Die Anwesenheit von Pflegediensten in den Beratungen der behördlichen Altenberatung ist, zumindest bei den Ratsuchenden, die bereits einen Pflegedienst in Anspruch nehmen, grundsätzlich und nicht nur bei Rat suchenden Migrant/-innen üblich. Im Idealfall
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findet ein fachlicher Austausch zwischen Berater/-in, Pflegedienst und älterem Menschen über dessen Situation statt. Die Besonderheit im Kontext der Beratung von Migrant/-innen ist allerdings, dass die Vertreter/-innen ›herkunftssprachiger Pflegedienste‹ häufig dolmetschende Funktionen übernehmen und somit zu wesentlichen Akteuren des Geschehens werden. Dies ist im vorliegenden Material bei sechs Beratungsgesprächen der Fall und wird im Zuge der Darstellung der Typologie noch von Relevanz sein. Die Beratungsgespräche kommen in der Regel durch Anfrage der Ratsuchenden, ihrer Angehörigen oder anderer Institutionen, vor allem von Pflegediensten, zustande. Zum Teil gehen die Gespräche auch auf die Initiative der Berater/-innen zurück, und zwar in Fällen, in denen der bewilligte Zeitraum einer Leistung, z.B. die nur vorübergehend zu gewährende Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, abläuft und über eine Weiterbewilligung entschieden werden muss. Die Beratungen finden nach vorheriger telefonischer Terminvereinbarung meist in Form von Hausbesuchen der Berater/-innen in den Wohnungen der Ratsuchenden statt.13 Dies war in allen Gesprächen, die in die Dateninterpretation einflossen, der Fall. Bereits bei der Terminvereinbarung informierten die Berater/-innen über die Untersuchung und baten Ratsuchende und Pflegedienste um Mitwirkung. Um einen persönlichen Eindruck von dem Geschehen zu gewinnen, hospitierte ich in zwei Beratungsgesprächen der behördlichen Altenberatung, die gleichzeitig aufgenommen wurden und auch in die Dateninterpretation einflossen.
Niedrigschwellige Altenberatung Bei den Beratungsstellen in freier Trägerschaft genügte eine einfache Anfrage, um sie für die Mitwirkung zu gewinnen. Zwei Einrichtungen wurden in die Untersuchung einbezogen, die beide im Rahmen ihres allgemeinen Beratungsangebotes eine spezielle Sprechzeit für Migrant/-innen vorhalten. Obwohl der Berater der einen Beratungsstelle, die sich in Trägerschaft einer Kirchengemeinde befindet, über einen Zeitraum von drei Monaten an der Erhebungsphase teilnahm, kam es zu keiner Aufnahme. Der Berater zog schließlich seine Mitwirkungsbereitschaft von sich aus zurück. Neben zeitlichen Gründen äußerte er auch Bedenken darüber, seine Beratungsarbeit »sezieren« zu lassen. Somit konnte nur eine Beratungsstelle berücksichtigt werden. Hierbei handelt es sich um eine Altentagesstätte in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, die neben ihrem Tagesstättenprogramm auch zweimal wöchentlich zwei Stunden Sozialberatung für Migrant/-innen anbietet.
13 | Die behördlichen Beratungsstellen bieten auch offene Sprechstunden in ihren Büros in der Behörde an. Diese nehmen allerdings einen quantitativ sehr viel geringeren Stellenwert im Beratungsalltag ein.
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Die Beraterin der Altentagesstätte, genannt Frau Karin Adam, ist gleichzeitig auch die Leiterin und einzige Professionelle in der Einrichtung. Die 50-jährige Deutsche ohne Migrationshintergrund, die neben Englisch über keine weiteren Fremdsprachenkenntnisse verfügt, wird in der Umsetzung ihrer Aufgaben von einer angelernten Mitarbeiterin und einigen Aushilfskräften unterstützt. Im Nachmittagsprogramm, das von Migrant/-innen und Menschen ohne Migrationshintergrund gleichermaßen besucht wird, finden die für Altentagesstätten typischen Begegnungs- und Kommunikationsangebote, wie gemeinsame Spiele, Ausflüge, Feste und themenbezogene Veranstaltungen, statt. Es existiert ein Mittagstisch, bei dem auch gegen einen geringen finanziellen Beitrag gespendete Lebensmittel verteilt werden. Die Altentagesstätte befindet sich in einem von Armut geprägten Stadtteil. Diese Lage beeinflusst die Beratungsarbeit, die am Vormittag in Form von offenen Sprechstunden angeboten wird.14 Frau Adam hat es in ihrer Beratung mehrheitlich mit sehr armen, zum Teil hoch verschuldeten Ratsuchenden zu tun, die oftmals unter psychischen Erkrankungen leiden. Die Migrant/-innen, die sich bei ihr beraten lassen, hätten, so Frau Adam, meist ein sehr niedriges Bildungsniveau, zum Teil handele es sich um Analphabeten. Die Ratsuchenden hätten kaum Zugang zu Informationen und könnten oft ihr Problem nicht explizit benennen. Für die Beratungsarbeit bedeute dies viel Geduld und eine gute Kenntnis der Lebenssituationen. Frau Adam bezeichnet ihre Beratungsarbeit als »Überlebenshilfe«, denn es gehe sehr oft um die Lösung existentieller Probleme. Zu den zentralen Beratungsthemen gehören Behördenangelegenheiten, vor allem beim Sozialamt, Renten- und Mietangelegenheiten, Versicherungen, Schulden, Pflege sowie die Anregung von Betreuungen. Bei der Sprechzeit für Migrant/-innen ist eine türkisch-deutschsprachige Dolmetscherin zugegen, jedoch nutzen nicht nur türkische Migrant/-innen die Beratungen. Die 41-jährige Honorarkraft Fatma15 ist keine professionelle Dolmetscherin. Fatma hat vor ihrer Migration aus der Türkei im Jahr 1994 Agrarökonomie studiert und absolviert zur Zeit der Datenerhebung ein Biologiestudium. Sie hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Von besonderer Bedeutung für die Arbeit dieser Altentagesstätte ist ihre Niedrigschwelligkeit (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2005: 173). Es handelt sich um alltagsnahe, d.h. an der Lebenswelt und den Alltagserfahrungen der Nutzer/-innen anknüpfende, auf Freiwilligkeit basierende, offen zugängliche Angebote. Die Beratungsgespräche kommen zustande, indem die Ratsuchenden die offene Beratungssprechzeit aufsuchen. Eine vorherige Terminvereinbarung ist nicht erforderlich. Die Beraterin informierte die Ratsuchenden hier 14 | Die Informationen über die Altentagesstätte und ihre Nutzer/-innen stammen aus Gesprächen mit Frau Adam und eigenen während Hospitationen gewonnenen Eindrücken. 15 | Es handelt sich um ein Pseudonym.
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insofern unmittelbar vor dem Beratungsgespräch über die Studie und die Tonbandaufnahmen. Das Besondere an dem Setting dieser Beratungen, nämlich dass sie aufgrund der örtlichen Gegebenheiten in dem einzigen zur Verfügung stehenden Raum stattfinden, d.h. unter Anwesenheit ›unbeteiligter‹ Personen, und zwar all derjenigen, die ebenfalls auf eine Beratung warten, erleichterte es, die Ratsuchenden für die Mitwirkung zu gewinnen. Da ihre Beratungen ohnehin in einer öffentlichen Atmosphäre abliefen, gab es keinerlei Einwände gegenüber den Aufnahmen.16 Im Rahmen meiner Hospitationen in der Altentagesstätte an zwei unterschiedlichen Tagen, nahm ich sowohl an einer Beratungssprechzeit für alte Migrant/-innen als auch am Tagesstättengeschehen teil. Dabei beobachtete ich, dass sich viele der Ratsuchenden untereinander kannten, da sie das Tagesstättenangebot offenbar regelmäßig besuchen, und sich mit der Beraterin duzten. Auffallend war, dass die Anwesenden nicht nur mithören konnten, worüber in einer Beratung gesprochen wurde, sondern gelegentlich eigene Tipps oder Kommentare einwarfen. Die Übergänge zwischen den Beratungen waren mitunter fließend. Teilweise vermischten sie sich sogar inhaltlich, denn Frau Adam erledigte bisweilen die Angelegenheiten mehrerer Ratsuchender parallel. Sie selbst begründet dieses Vorgehen mit der knappen Zeit, die ihr für die Beratungen zur Verfügung stünde. Sie will zudem die Ratsuchenden nicht zu lange warten lassen. Frau Adam nahm zwei ihrer Sprechzeiten à zwei Stunden auf Tonband auf. Alle acht Beratungsgespräche wurden in die Datenanalyse einbezogen.
5.2.3 Überblick über das Datenmaterial Wie bereits erwähnt wurde, umfasst das Datenmaterial 20 Beratungsgespräche, von denen zwölf aus der behördlichen Altenberatung und acht aus der Beratung der Altentagesstätte stammen. Im Hinblick auf die Ratsuchenden kann ein sehr breites Spektrum berücksichtigt werden. Es handelt sich um Personen, die aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Russland, der Ukraine, Afghanistan, dem Iran und Algerien eingewandert sind. Zum Teil leben sie bereits seit zirka 30 Jahren in Deutschland, zum Teil sind sie erst im Alter eingewandert. Sie wurden nicht explizit nach ihren Migrationsgeschichten befragt. Aus den Gesprächsinhalten lässt sich schließen, dass sich unter den Ratsuchenden ehemals angeworbene Arbeitsmigrant/-innen, im Rahmen des Familiennachzugs Eingewanderte, Bürgerkriegs- und politische Flüchtlinge, Spätaussiedler und jü16 | Dieses aus beratungsethischer Sicht bedenkenswürdige Setting, das keine anonyme und vertrauliche Behandlung der Beratungsinhalte garantiert, soll an dieser Stelle nicht vertiefend diskutiert werden. Entscheidend für den hier vorliegenden Zusammenhang ist, dass diese Offenheit der Institution allen Nutzer/-innen bekannt ist und dem Anschein nach akzeptiert wird.
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dische Kontingentflüchtlinge befinden. Einige besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit, einige nicht. In den zur Verfügung stehenden Informationen über die Ratsuchenden spiegeln sich zentrale Tendenzen des Strukturwandels des Alters wider (vgl. Kapitel 2.3). Da es sich hier nicht um eine repräsentative Stichprobe handelt, soll dies allerdings nur in groben Zügen Erwähnung finden. So beziehen die Ratsuchenden mehrheitlich sehr geringe Renten, ein Teil von ihnen ist vor der gesetzlichen Altersgrenze berentet worden und gesundheitlich mehrfach belastet. Die Ratsuchenden sind zwischen 46 und 78 Jahre alt. Hochaltrige sind nicht vertreten. Einige der alten Migrant/-innen leben allein und können nicht auf familiäre Unterstützung bauen. Es gibt Hinweise auf transnationale familiäre Netzwerke der Älteren. Von einigen Ratsuchenden wohnt ein Teil der Kinder im Herkunftsland oder in einem anderen europäischen Ausland. Auch transnationale Mobilität wird in Form von längeren Urlaubsaufenthalten im Herkunftsland in einem Fall thematisiert. Eine detaillierte Übersicht mit zentralen Informationen zu den einzelnen Ratsuchenden ist dem Anhang (A.1) zu entnehmen. Die Beratungsanlässe und die Beratungsinhalte berühren ausschließlich Problembereiche bzw. Fragen, die für Altenberatungen ›typisch‹ sind, d.h. die die sozioökonomische und die gesundheitsbezogene, Unterstützungsleistungen erfordernde Situation der Ratsuchenden betreffen. So geht es in den Beratungen der Altentagesstätte vorrangig um Hilfen beim Schriftverkehr mit Institutionen, wie Telefongesellschaften, Rententrägern, Krankenkassen und Vermietern, um Antragstellungen bei der Pflegekasse oder beim Sozialhilfeträger, um Wohnungssuche sowie um Probleme mit Vermietern und dem gesetzlichen Betreuer. Bei den behördlichen Altenberatungen dominieren, wie bereits erwähnt, die Antragstellungen bzw. Weiterbewilligungen von Hilfen nach dem SGB XII, vor allem von Hilfen im Haushalt durch einen Zivildienstleistenden oder eine Haushaltshilfe, Badehilfen und Fußpflege. Themen sind ebenfalls die Erstellung von Hilfeplänen bei Pflegebedürftigkeit, Hilfen beim Schriftverkehr z.B. mit dem Vermieter sowie die Klärung von Renovierungskosten. Zum Teil ergibt sich der Hilfebedarf der Ratsuchenden, etwa beim Schriftverkehr, aus ihren unzureichenden Deutschkenntnissen. Übersetzungshilfen sind hier erforderlich. Dabei handelt es sich jedoch nur bedingt um einen spezifischen Unterstützungsbedarf von Migrant/-innen, denn auch alte Menschen deutscher Muttersprache benötigen oftmals vergleichbare Übersetzungshilfen, um Behörden- bzw. Krankenkassenschreiben zu verstehen. Weitere zentrale Kontextinformationen zu den 20 Beratungsgesprächen sind der Abbildung 1 zu entnehmen. Zur einfachen Identifizierung der Gespräche werden diese im Weiteren jeweils nach dem – kursiv gesetzten – Pseudonym der Ratsuchenden benannt, z.B. Beratung Malik.
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Abbildung 1: Übersicht über die Beratungsgespräche
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5.2.4 Schritte der Datenauswertung Beim ersten Abhören der Tonbänder sind Abhörprotokolle erstellt worden. Die dabei identifizierten Personennamen, Institutionen und Ortsbezeichnungen aus der Großstadt, in der die Erhebung durchgeführt wurde, sowie alle deutschen Städte wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert.17 Nicht anonymisiert wurden hingegen alle anderen Städtenamen, von denen in den Beratungen die Rede ist. Zugunsten der inhaltlichen Nachvollziehbarkeit von Gesprächspassagen, etwa über die Herkunft der Ratsuchenden, musste hier von einer Anonymisierung abgesehen werden. Dabei wurde darauf geachtet, dass keine Rückschlüsse auf die jeweiligen Personen möglich sind. Nach Aussonderung der aus technischen Gründen unbrauchbaren Gesprächsaufnahmen lagen für die weitere Datenaufbereitung 20 Beratungsgespräche vor. Zusätzliche Aufnahmen sollten nur bei Bedarf erfolgen (siehe unten). Sodann wurde zu jedem Beratungsgespräch ein Gesprächsdeckblatt erstellt (vgl. Deppermann 2008: 32ff.). Dieses Deckblatt dokumentiert die wichtigsten Kontextinformationen des Gesprächs, soziodemographische Angaben zu den Personen, die mittels der im Abschnitt 5.2.1 erläuterten Begleitfragebögen erhoben wurden, sowie eventuelle Anmerkungen zur Gesprächssituation. Im Unterschied zum gängigen Verfahren in der Gesprächsanalyse (vgl. ebd.: 35ff.) wurden zu diesem Zeitpunkt noch keine Gesprächsausschnitte für die Analyse selektiert, sondern die Beratungsgespräche vollständig verschriftet. Die Transkription erfolgte in Anlehnung an das gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT (Selting u.a. 1998, zit.n. Deppermann 2008). Der Vorteil dieses – im Kontext sprachwissenschaftlicher Forschung entwickelten – Systems besteht darin, dem Untersuchungsanliegen gemäß unterschiedlich differenziert transkribieren zu können. Da keine linguistischen Interpretationen intendiert waren, genügte eine Beschränkung auf wenige zentrale Konventionen (vgl. Anhang A.2). Bei Bedarf bestand stets die Möglichkeit, auf die Originalaufnahmen zurückzugreifen und das erstellte Basistranskript um eine Verfeinerung ausgewählter Transkriptpassagen zu ergänzen. Die Zeilen des Transkripts wurden nummeriert, Sprecher mit einer Sigle bestehend aus zwei Großbuchstaben ihres Pseudonyms bezeichnet. Die Transkriptionen erfolgten in literarischer Umschrift unter durchgehender Verwendung von Kleinschreibung. Auf diese Weise soll der mündliche Charakter der Daten betont (vgl. Deppermann 2008: 42), Majuskel zudem für die Markierung 17 | Personennamen erhielten ein Pseudonym, Institutionen und Ortsbezeichnungen wurden durch einen Großbuchstaben fortlaufend von A-Z gekennzeichnet, z.B. Krankenkasse B, Bezirk C, Straße D. Telefonnummern, Postleitzahlen und ähnliche Personen identifizierende Ziffern wurden durch eine willkürlich gewählte Ziffernfolge ersetzt. Zusätzlich erhielt jedes Gespräch einen Erkennungscode.
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besonders akzentuierter Silben und Worte reserviert werden. Simultansprechen und der schnelle, unmittelbar auf einen Redebeitrag folgende Sprecherwechsel wurden jeweils durch ein Notationszeichen angezeigt. Sprechpausen wurden entsprechend ihrer Länge festgehalten. Kommentierende Bemerkungen und außersprachliche Handlungen, wie besonders lautes Sprechen oder Husten, sind in einfachen spitzen Klammern notiert worden, sprachbegleitende außersprachliche Handlungen, wie ›lachend‹ oder ›hustend‹, in doppelten spitzen Klammern. Fragende Betonungen wurden durch ein Fragezeichen am Ende angezeigt, ansonsten ist auf Satzzeichen verzichtet worden. Fremdsprachige Passagen, das sind in diesem Kontext alle Redebeiträge in einer anderen Sprache als Deutsch, wurden ebenfalls literarisch transkribiert und an der Standardorthographie der jeweiligen Sprache ausgerichtet. Es liegen Gespräche mit fremdsprachigen Passagen in Türkisch, Russisch, ›Serbokroatisch‹18, Farsi und Dari vor. Diese Passagen wurden von Transkribent/-innen verschriftet, die über Kenntnisse im Deutschen und in der jeweiligen Fremdsprache verfügen. Es handelt sich in allen Fällen um Personen, deren Muttersprache der transkribierten Sprache entspricht. Ihre Übersetzungen ins Deutsche, im Transkript fett markiert, erfolgten nicht interlinear, sondern frei und wurden den grammatischen Regeln des Deutschen angepasst. Trotz Überprüfung der Gesamttranskripte unter Hinzuziehung einer weiteren, in der jeweiligen Fremdsprache kompetenten Person, sind neben den grundsätzlich einzukalkulierenden ›Ungenauigkeiten‹, wie z.B. Abhörfehlern, auch Übersetzungsfehler nicht auszuschließen. Transkriptionen bilden nie das tatsächliche Geschehen detailgetreu ab. Sie sind stets selektiv und beinhalten bereits Interpretationsleistungen der Transkribent/-innen (vgl. ebd.: 41). Auch der Übersetzungsvorgang enthält interpretative Komponenten, die von der Forscherin nicht im Einzelnen selbst nachvollzogen werden können. Die Besprechung der Transkripte mit den jeweiligen Transkribent/-innen und die Diskussion ausgewählter, mehrdeutiger Passagen stellten einen Versuch dar, diesem ›Problem‹ zu begegnen. Schließlich wurde davon ausgegangen, dass die so erstellten Transkripte die für die Bearbeitung der Forschungsfrage wesentlichen Aussagen erfassen. Gleichwohl erwies es sich im Verlauf der Dateninterpretation gelegentlich als Nachteil, als Forscherin nicht selbst über Kenntnisse in den jeweils gesprochenen Sprachen zu verfügen, sondern auf Übersetzungen angewiesen zu sein. Die Bearbeitung des Materials in einem Team mit Betei18 | Beim Serbokroatischen handelt es sich um eine nicht mehr existierende Sprache, die bis Ende der 1980er Jahre im jugoslawischen Staat die offizielle gemeinsame Standardsprache der Serben, Kroaten, Bosnier und Montenegriner darstellte. Serbokroatisch wird heute jedoch zum Teil noch in der Emigration von – insbesondere älteren – Personen gesprochen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien immigrierten (vgl. Rehder 2002).
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ligung von Forscher/-innen, die die Herkunftssprachen der erforschten Personen sprechen, hätte die Interpretationen um wichtige Perspektiven ergänzt. Im Rahmen der für diese Forschungsarbeit zur Verfügung stehenden materiellen und zeitlichen Ressourcen war ein solches Verfahren allerdings nicht zu realisieren. Die Diskussion einzelner Gespräche in unterschiedlichen Forschungskolloquien stellte eine ertragreiche Alternative dar, durch die zusätzliche Anregungen gewonnen werden konnten. Die Datenanalyse erfolgte in Anlehnung an die von Bohnsack (2007a, 2003, 1997) im Rahmen der dokumentarischen Methode vorgeschlagenen Schritte der Interpretation. Wie bereits zu Beginn des Kapitels angedeutet, erscheint mir dieses rekonstruktive Verfahren aus unterschiedlichen Gründen als geeignet. Ursprünglich für die Auswertung von Gruppendiskussionen konzipiert, ist es von Bohnsack auch auf Gesprächsanalysen übertragen, im Kontext von Beratungsgesprächen bisher allerdings erst vereinzelt angewendet worden (vgl. ders. 2007a: 121ff.).19 Ausschlaggebend für die Wahl war, dass die dokumentarische Methode neben der Analyse formaler Aspekte der Gesprächsorganisation auch auf tiefer liegende semantische Gehalte zielt. Sie schlägt ein Verfahren vor, um Zugang zu dem handlungsleitenden Wissen der Akteure zu erlangen, das von Bohnsack in Anlehnung an Mannheim als »atheoretisches Wissen« bezeichnet wird (vgl. ders. 2003: 41). Damit sind jene, die Handlungspraxis strukturierenden Wissensbestände gemeint, die die Akteure selbst nicht explizieren, da sie sich auf einer routinierten, habitualisierten Ebene des Handelns bewegen und nicht den Status theoretisch-reflexiven Wissens einnehmen. Das zentrale Anliegen dokumentarischer Interpretation besteht darin, dieses implizite Wissen begrifflich zu explizieren. Methodologisch grundlegend dabei ist die Unterscheidung zweier Modi des Wissens (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007: 14). Während das kommunikative Wissen die generalisierte, gesellschaftliche Bedeutung von Äußerungen umfasst, bezieht sich das konjunktive Wissen auf die je konkrete und besondere, z.B. milieuspezifische, Bedeutung. Dieses Wissen verweist auf einen konjunktiven Erfahrungsraum und basiert auf gleichartigen Handlungspraktiken von Menschen. Dem konjunktiven Wissen gilt die besondere Aufmerksamkeit der dokumentarischen Methode. Anders als das kommunikative Wissen, das sich über den expliziten, wörtlichen, d.h. immanenten Sinngehalt von Äußerungen thematisch identifizieren lässt, erschließt sich das konjunktive Wissen nur über eine zweite Sinnebene, den dokumentarischen Sinngehalt. Dieser verweist auf eine der Handlungspraxis zugrunde liegende Orientierung, darauf, »wie ein Thema, d.h. in welchem Rahmen es behandelt wird« (ebd.: 15). Dokumentarisches Interpretieren zeichnet sich insofern dadurch aus, nicht allein nach dem ›Was‹, d.h. nach den Themen in einer 19 | Beispiele einer solchen Anwendung sind bei Grothe (2008) sowie Bohnsack (1983) nachzulesen.
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Beratung, zu fragen, sondern auch die Frage nach den Orientierungsrahmen der Beteiligten zu stellen, die Aufschluss darüber liefern, wie – nach welchem modus operandi – die Themen bearbeitet werden. Für den vorliegenden Kontext heißt das allerdings nicht, dass es um die Rekonstruktion kollektiv geteilter konjunktiver Erfahrungsräume der Beratungsteilnehmer/-innen geht. Diese sind in einem institutionellen Kontext, wie dem der Beratung, der sich durch eine asymmetrische Beziehung der Interagierenden auszeichnet, die außerdem oft unterschiedlichen sozialen Milieus entstammen, nicht zu erwarten. Von besonderem Interesse sind vielmehr die Orientierungsrahmen der einzelnen Beteiligten im Hinblick auf die Beratungssituation. Dabei bestimmen nicht selten Rahmeninkongruenzen, d.h. nicht miteinander vereinbare Orientierungsrahmen, die Interaktion (vgl. Bohnsack 2007a: 234). Auch zeigen sich mitunter Fremdrahmungen, z.B. wenn Berater/-innen ihre Orientierungsrahmen in Bezug auf Hilfeleistungen implizit als Maßstab auf die Ratsuchenden übertragen und diese somit in ihrem Relevanzsystem vereinnahmen. Ihre Rekonstruktion erweist sich als ein unerlässlicher und ertragreicher Schritt im Interpretationsprozess. Die Orientierungsrahmen der Beteiligten stellen einen wesentlichen Vergleichshorizont dar, um den Bedeutungen ethnischer Differenzierungen, vor allem ihren Funktionen und Wirkungen im Gespräch, auf die Spur zu kommen. So zeigt sich z.B., dass die Berater/-innen in der behördlichen Altenberatung das aus ihrem Aufgabenspektrum sich ergebende Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle unterschiedlich interpretieren. Sie orientieren ihre Rolle als Berater/-in und entsprechend ihr Handeln jeweils stärker an ihrem Hilfeauftrag oder an ihrem Kontrollauftrag. Wie im sechsten Kapitel zu sehen sein wird, beeinflusst dies auch die Art und Weise ihrer Bezugnahme auf ethnische Differenzierungen (vgl. Kapitel 6.3 und Kapitel 6.4). Als Einstieg in die Interpretationsarbeit wurde ein Fall, d.h. eines der Beratungsgespräche, ausgewählt, das dem ersten Eindruck nach als markant und im Hinblick auf die Fragestellung relevant erschien.20 Hierbei handelt es sich um die Beratung Stefanovic. In diesem Gespräch berät Herr Dieckmann das kroatische Ehepaar Stefanovic. Es geht um die Ermittlung des Hilfebedarfs der beiden und die Festlegung von Unterstützungsleistungen. Markant an diesem Gespräch erschien mir im Vorwege vor allem der Umgang der Beteiligten mit sprachlicher Differenz und damit einhergehenden Verständigungsschwierigkeiten, die den Beratungsprozess erheblich zu beeinflussen schienen. Im ersten Interpretationsschritt, der formulierenden Interpretation, werden der themati20 | Da die Interpretation vorrangig auf der Basis der Transkripte erfolgte, müsste eigentlich von Texten anstatt von Beratungsgesprächen die Rede sein. Wohl wissend, dass Transkripte nicht die Realität eins zu eins abbilden, wird im Folgenden dennoch bei dem Begriff des Beratungsgesprächs geblieben oder von – empirischen – Fällen gesprochen.
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sche Gehalt und die Struktur dieses Gespräches herausgestellt, indem Themenwechsel identifiziert sowie Ober- und Unterthemen kurz zusammenfassend formuliert werden (vgl. Bohnsack 2007a: 134f.). Dabei gilt es, zunächst auf der Ebene der immanenten Sinngehalte der Äußerungen zu verbleiben. Vermittels dieses thematischen Verlaufs kann ein Überblick über den Fall gewonnen werden, der zugleich Grundlage für die Auswahl der Passagen darstellt, die im Weiteren der reflektierenden Interpretation unterzogen werden sollen. Die Beratungsgespräche sollen nicht insgesamt einer detaillierten Analyse unterzogen, sondern Passagen nach ihrer »interaktiven Dichte« und ihrer thematischen Relevanz selektiert werden. Ausgangspunkt hierfür ist die Annahme, dass sich der dokumentarische Sinngehalt von Handlungspraktiken vor allem dann identifizieren lässt, wenn sich die Interaktion im Verhältnis zum sonstigen Gesprächsverlauf dramaturgisch und metaphorisch verdichtet. Bohnsack (ebd.: 138) spricht in diesem Zusammenhang von Fokussierungsmetaphern, auf die die analytische Aufmerksamkeit zu richten sei. In ihnen komme der Orientierungsrahmen besonders prägnant zum Ausdruck. Im Zuge der formulierenden Interpretation wurden daher Gesprächspassagen identifiziert, die eine solche Verdichtung vermuten ließen. Dabei war es unerheblich, ob diese Passagen ethnische Bezüge aufwiesen und somit im Hinblick auf die Forschungsfrage bereits unmittelbar relevant waren. Jeder Hinweis auf das Geltendmachen ethnischer Differenz wurde zusätzlich für die weitere Interpretation markiert. Einbezogen wurden dabei ausschließlich solche Passagen oder Äußerungen, in denen ethnische Differenzierungen offenkundig waren. Diesbezüglich galt es zu klären, wann einer Passage oder einer Äußerung dieser – gegebenenfalls vorläufige – Status zugewiesen werden kann. Unter ethnischen Bezugnahmen sollen hier solche Bezugnahmen oder Hinweise verstanden werden, mit denen die Gesprächsteilnehmer/-innen sich selbst oder einem anderen Gesprächsteilnehmer im Gespräch herkunftsbezogene Zugehörigkeiten oder Merkmale in einer Weise zuschreiben, durch die Differenz hergestellt und zum Thema wird. Dies waren unter anderem folgende Hinweise im Material, die näher beachtet wurden: • Thematisierungen der Migration oder des ›Migrant/-innenstatus‹, z.B. Bezüge zum Herkunftsland der Ratsuchenden, zur Aufenthaltsdauer oder zur Aufenthaltssituation in Deutschland • explizit herkunftsbezogen formulierte Äußerungen, wie z.B. »afghanisches Essen« • Bezugnahmen auf Deutschland bzw. ›Deutsch-Sein‹ in einem unterscheidenden Sinne zu ›Nicht-Deutsch-Sein‹ • sprachliche Differenz zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden
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Im Zweifelsfall galt eine Einschätzung über einen ethnischen Bezug als vorläufig und wurde im Zuge der Interpretation entweder bestätigt, modifiziert oder verworfen. Als thematisch relevant wurden weiterhin Passagen eingestuft, die thematisch auch in anderen Fällen vorkamen und insofern für einen Fallvergleich geeignet waren. Ein erkennbarer ethnischer Bezug war hier wiederum nicht ausschlaggebend. Schließlich wurden zusätzlich die Eingangspassagen der Gespräche einer näheren Analyse unterzogen. Im anschließenden Schritt der reflektierenden Interpretation geht es um die Rekonstruktion und die begriffliche Explikation der Orientierungsrahmen (ebd.: 135ff.). Zu diesem Zweck werden die zuvor identifizierten Passagen einer sequentiellen und einer komparativen Analyse unterzogen. Durch das sequenzanalytische Vorgehen wird der Prozesshaftigkeit der sich in der Interaktion entfaltenden Orientierungsrahmen Rechnung getragen. Denn erst wenn sich ein erkennbarer modus operandi über mindestens drei Sequenzen hinweg bestätigt, kann von einem sich abzeichnenden homologen Rahmen gesprochen werden (vgl. Nohl 2007: 265). Nohl (2008: 11) bezeichnet das dokumentarische Interpretieren auch als komparative Sequenzanalyse, denn der anhand einer Passage rekonstruierte homologe Rahmen wird mit thematisch ähnlichen Passagen verglichen und erhält erst hierdurch Kontur. Die komparative Analyse bedient sich dabei der Suche nach Gemeinsamkeiten und nach Kontrasten. Gerade die letzteren liefern eine prägnante Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund das Spezifische eines Orientierungsrahmens evident wird. Die reflektierende Interpretation ist insofern angewiesen auf den systematischen Einbezug von Vergleichshorizonten. Diese werden sowohl fallintern als auch fallübergreifend gesucht. Das Tertium Comparationis, das den Vergleich strukturierende Dritte, kann sowohl ein Thema sein, das in zwei Textabschnitten eines Falles bzw. in zwei unterschiedlichen Fällen behandelt wird, als auch ein Orientierungsrahmen, sofern sich ähnliche Orientierungsrahmen in mehr als einem Fall rekonstruieren lassen (vgl. ders. 2007: 258ff.).21 So wurden z.B. im ersten Fall, der Beratung Stefanovic, die thematischen Abschnitte ›Einsatz eines Zivis‹ (Z.610-875)22 und ›Bewilligung einer Fußpflege‹ (Z.876-1086) miteinander verglichen. In beiden thematisch zwar verschiedenen, jedoch vom Beratungsablauf her ähnlichen Passagen geht es um die Problemerfassung – Schwierigkeiten der Frau Stefanovic bei der Verrichtung einzelner häuslicher Tätigkeiten im ersten Abschnitt bzw. Probleme des Ehepaares bei der selbstständigen Pflege der Füße im zweiten Abschnitt – und um 21 | Das Tertium Comparationis entwickelt sich im Prozess des empirischen Vergleichens und ist insofern stets veränderbar. Es verweist bereits auf den Vorgang der Abstraktion, da es zwar an die Fälle gebunden ist, jedoch über sie hinausweist (vgl. Nohl 2007: 263). 22 | Zeilen im Transkript der Beratung Stefanovic.
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das jeweilige Organisieren von Unterstützungsleistungen. Im Zuge des Vergleichs konnten homologe Rahmen der Bearbeitung dieser Themen durch die Akteure identifiziert werden, wobei auch ethnische Differenzsetzungen eine Rolle spielten. Die Nutzung der Dolmetscherposition seitens des Herrn Stefanovic zur Durchsetzung eigener Interessen gegenüber seiner nicht deutsch sprechenden Ehefrau und gegenüber dem nicht die Herkunftssprache der Ratsuchenden sprechenden Berater ist dabei eines der sich dokumentierenden Handlungsmuster, das sich gleichförmig durch beide Passagen zieht und auf das Beratungsgeschehen Einfluss nimmt (vgl. hierzu Kapitel 6.2.3). Eine fallinterne Überprüfung anhand weiterer Passagen festigte diese Interpretation und ließ den Schluss zu, dies als eine Komponente des Orientierungsrahmens des Herrn Stefanovic einzuordnen.23 Zusätzlich wurden im Laufe des Fallvergleichs immer wieder Passagen anderer Fälle kontrastierend hinzugezogen. Bezüglich des hier geschilderten Beispiels waren das unter anderem • Passagen, in denen ähnliche Probleme erfasst und Hilfen organisiert werden, z.B. auch eine Fußpflege, wie in der Beratung Goldmann, • Passagen, in denen sich ebenfalls eine strategische Nutzung der Dolmetscherposition abzeichnet, z.B. seitens des Pflegedienstleiters in der Beratung Ahmadi und • Fälle, in denen sich keine bzw. kaum sprachliche Verständigungsschwierigkeiten zeigen, wie in der Beratung Öktem, die also im maximalen Kontrast zur Beratung Stefanovic zu stehen schienen. Mittels dieser und ähnlicher Vergleichshorizonte ließen sich vorläufige Interpretationen peu à peu verdichten. Während zu Beginn des Analyseprozesses insbesondere Vergleichshorizonte einflossen, die auf meinem Vorwissen als Forscherin beruhten, konnten diese allmählich durch empirische Vergleichshorizonte ersetzt werden (vgl. Nohl 2003: 101). Die Auswahl der Fälle, die in die Interpretation einbezogen wurden, erfolgte in Anlehnung an das von Glaser/Strauss (2008) im Rahmen der Grounded Theory entwickelte theoretische Sampling.24 Demnach entwickelt sich die Samplestruktur in enger Verbindung 23 | Dieses sowie die folgenden konkreten Beispiele dienen der Veranschaulichung meiner komparativen Vorgehensweise. Sie fangen allerdings die Komplexität der Fälle, der in ihnen rekonstruierten Dimensionen und Orientierungsrahmen in keiner Weise ein und bleiben insofern stark vereinfachend. Es soll hier lediglich eine Idee der Interpretationsschritte vermittelt werden; die Rekonstruktion des gesamten Auswertungsprozesses ist aufgrund seiner Komplexität ohnehin nicht im Einzelnen möglich. 24 | Mit dem theoretischen Sampling und der komparativen Analyse weist die dokumentarische Methode in zwei zentralen Verfahren Ähnlichkeiten zur Grounded Theory auf.
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mit dem Forschungsprozess schrittweise. Die Fallauswahl folgt den Strategien des minimalen und des maximalen Kontrasts, wobei sich die Kriterien hierfür sukzessive nach empirischen Gesichtspunkten strukturieren. So wurde der zweite Fall, die Beratung Ahmadi, maximal kontrastierend zur Beratung Stefanovic ausgewählt. Hier wird die allein lebende, aus Afghanistan eingewanderte Frau Ahmadi von der Beraterin Frau Carstens beraten. Bei Frau Ahmadi war bereits ein Pflegedienst tätig, bevor das Sozialamt über die Bewilligung von dessen Leistungen entschied. In dem Gespräch, bei dem der Farsi sprechende Pflegedienstleiter zugegen ist, geht es darum, die bereits erbrachten Leistungen des Pflegedienstes im Nachhinein zu finanzieren und den Umfang des Hilfebedarfs für die Zukunft festzulegen, wozu es allerdings in dem Gespräch nicht kommt. Diese Beratung unterscheidet sich vom ersten Fall sowohl hinsichtlich der Konstellation der Gesprächsbeteiligten als auch hinsichtlich des Anlasses und des Verlaufs. Die reflektierende Interpretation bestätigte den maximalen Kontrast vor allem bezüglich der Orientierungsrahmen der beiden Berater. Die Kontrollorientierung der Frau Carstens bildet einen Gegenhorizont zur Hilfeorientierung des Herrn Dieckmann. Gleichzeitig dokumentieren sich Homologien, denn der Pflegedienstleiter nutzt, ähnlich wie Herr Stefanovic, seine sich aus der Situation ergebende Rolle als Dolmetscher zur Durchsetzung eigener – hier institutioneller – Interessen, die sich nur partiell mit den Interessen der kaum Deutsch sprechenden Ratsuchenden decken (vgl. hierzu Kapitel 6.2.2). Es wurde im Anschluss ein Fall hinzugezogen, der minimal kontrastierend zur Beratung Ahmadi schien, um diese strategische Nutzung von Sprache weiter zu konturieren. In der Beratung Naderi liegt eine sehr ähnliche Beratungskonstellation vor: eine allein lebende, aus Afghanistan eingewanderte Ratsuchende, derselbe dolmetschende Pflegedienstleiter wie in der Beratung Ahmadi, allerdings ein anderer Berater und die zusätzliche Anwesenheit einer helfenden Nachbarin. Auch in diesem Gespräch geht es um die Festlegung des Hilfebedarfs der Ratsuchenden. Wieder erweist sich die strategische Nutzung der Dolmetscherposition seitens des Pflegedienstleiters als markant und den Beratungsverlauf massiv beeinflussend. Als vierter Fall wurde deshalb mit der Beratung Öktem ein Gespräch gewählt, das – die vorherigen Fälle maximal kontrastierend – keine gedolmetschten und auch keine fremdsprachigen Passagen aufweist. Im fortschreitenden Fallvergleich wurden nach und nach auch Beratungsgespräche aus der Altentagesstätte herangezogen. Die Einbeziehung weiterer Fälle sollte, dem Prinzip der theoretischen Sättigung folgend, dann abgeschlossen werden, wenn sich keine weiteren Dimensionen in Bezug auf die Gestaltung der Beratung und keine neuen Erkenntnisse über ethnische Differenzierungen ergeben. Hinsichtlich des mir vorliegenden Datenmaterials zeichnete sich diese Sättigung nach ungefähr 16 Gesprächen ab. Es brauchten insofern keine weiteren Gespräche erhoben werden. Um die Studie in einem überschaubaren Rahmen zu halten, musste allerdings auf eine
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mögliche weitergehende Variation der Fälle, z.B. durch den Einbezug anderer Beratungsinstitutionen sowie zusätzlicher Berater/-innen und Ratsuchender, verzichtet werden. Zur Absicherung meiner Interpretationsergebnisse wurden die verbleibenden vier Beratungsgespräche des Datenkorpus ebenfalls der Analyse unterzogen und im sich anschließenden Schritt der Bildung von Typen mitberücksichtigt. Im Analyseschritt der reflektierenden Interpretation geht es noch nicht um die Abstrahierung vom Einzelfall. Erst sollen die Fälle in ihrer jeweiligen Charakteristik, d.h. die Dimensionen und Faktoren, die für die Gestaltung der Beratung ausschlaggebend sind, rekonstruiert werden (vgl. Bohnsack 2007a: 139ff.). Der Fallvergleich hat zu diesem Zeitpunkt vornehmlich die Intention, hierbei mitzuwirken. Allerdings soll die Interpretation nicht bei dieser Fallspezifik stehen bleiben. Es ist nicht das Ziel, Typen von Beratungen zu generieren, sondern – dem Erkenntnisinteresse entsprechend – Typen der Bezugnahme auf ethnische Differenz und ihre Wirkungsweisen in den Beratungsgesprächen. Der Einzelfall ist daher nicht ›für sich‹ relevant, sondern gilt als Dokument für sich abzeichnende typische ethnische Bezugnahmen. Das Tertium Comparationis, das die Typenbildung leitet, sind ethnische Bezüge in ihrem Stellenwert im Beratungsgeschehen. So interessiert z.B. an sprachlicher Differenz nicht allein, dass sie geltend gemacht wird, sondern wie und mit welcher Wirkung. Diese Ausrichtung der Typen bedeutet, dass sich in einem Beratungsgespräch unterschiedliche ethnische Bezugnahmen und insofern auch mehrere Typen dokumentieren können und dass ein Typ in mehr als einem Beratungsgespräch zu verorten ist. Letzteres ist eine grundlegende Bedingung dafür, dass eine ethnische Bezugnahme potenziell zu einem Typ abstrahiert werden kann (vgl. Nohl 2008: 13). Auf dem Weg der Generierung von Typen geht es daher um eine schrittweise Abstrahierung vom Einzelfall, indem fallübergreifend nach Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Geltendmachens ethnischer Differenz Ausschau gehalten wird. Mit diesem Vorgang wurde bereits nach der reflektierenden Interpretation des fünften Falles begonnen. Mittels des Einbezugs immer weiterer Fälle und der allmählichen Anreicherung erster Abstraktionen erfolgte die Typenbildung prozesshaft im Forschungsverlauf.25 In einem ersten Abstraktionsschritt wurde zu diesem Zweck eine Synopse der in den jeweiligen Fällen rekonstruierten Dimensionen erstellt. Dabei entstand eine Liste von Kategorien und Faktoren, die im Hinblick auf die Gestaltung und den Verlauf der Beratungen Einfluss nehmen. Sie umfasst unter anderem in den Gesprächen geltend gemachte deskriptive Unterscheidungsmerkmale, wie Geschlecht, Bildungsstand, Gesundheitszustand und materielle Lage der Ratsuchenden, Faktoren, die sich auf der Ebene der Beziehungskon25 | Zur Typenbildung in der dokumentarischen Methode vgl. Nohl (2008), Bohnsack (2007b) sowie Nentwig-Gesemann (2007).
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stellation der Gesprächsbeteiligten bewegen, wie Über- und Unterlegenheitsdemonstrationen oder die Eltern-Kind-Beziehung in Beratungen, an denen Kinder der alten Migrant/-innen partizipieren. Auch wirken institutionelle Interessengegensätze, etwa zwischen Beratungsinstitution und Pflegedienst, mitunter in die Gesprächsverläufe hinein.26 Da diese Faktoren ausschließlich in ihrem Bezug auf ethnische Differenzierungen relevant sind, konnten sie in einem zweiten Abstraktionsschritt dementsprechend reduziert werden. In der Regel liegen Verknüpfungen zwischen Faktoren ohne ethnischen Bezug und ethnischen Differenzsetzungen vor, etwa wenn über sprachliche Differenz versucht wird, Machtpositionen zu sichern, wie im Falle der bereits erwähnten strategischen Nutzung von Dolmetscherpositionen zur Durchsetzung beratungsbezogener Interessen, oder wenn ein Berater seinen institutionellen Auftrag, Kosten zu senken, begründet und durchsetzt, indem er herkunftsbezogene spezifische Hilfen, wie ›afghanische Ärzte‹ oder ›afghanisches Essen‹, als ›kostenintensive Sonderbedarfe‹ interpretiert. Nachdem die rekonstruierten ethnischen Bezugnahmen in einer Matrix erfasst und nach fallübergreifenden Homologien gruppiert wurden, kristallisierten sich sukzessive vier typische Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen in der Beratung heraus, die schließlich zu vier Typen verdichtet werden konnten. Dem »Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit« (Bohnsack 2007b: 236) gemäß wurde anschließend herausgestellt, worin sich die empirischen Dokumente eines jeweiligen Typs voneinander unterscheiden. Ziel war, die Typen zu spezifizieren, indem das im Material enthaltene Spektrum sichtbar gemacht wurde. Im Zuge dessen erhielten auch die Fragen, von wem, auf welche Art und Weise und mit welcher Semantik ethnische Differenz geltend gemacht wird, besondere Aufmerksamkeit. Es konnten auf diese Weise weitere Untertypen formuliert und die gewonnenen Erkenntnisse präzisiert werden. Damit ist die Typenbildung auf einer sinngenetischen Ebene vollzogen worden, die darauf ausgerichtet ist, den jeweiligen modus operandi der Akteure im Hinblick auf ethnische Differenzsetzungen in der Sozialen Beratung herauszuarbeiten (vgl. ebd.: 233ff.). Bei dem hier angewendeten Verfahren der Typengenerierung muss eines berücksichtigt werden. Ethnische Differenzierungen manifestieren sich – so zeigt die Datenanalyse – in den Fällen in unterschiedlich dominanter und die Beratung unterschiedlich stark beeinflussender Weise. Durch das Aufbrechen 26 | Bei den hier genannten Aspekten handelt es sich um eine Auswahl der rekonstruierten Kategorien und Faktoren ohne unmittelbaren Bezug zu ethnischen Differenzierungen, die allerdings für sich genommen wenig aussagekräftig sind. Sie werden im Zuge der Ergebnisdarstellung im sechsten Kapitel in ihrem Zusammenwirken mit ethnischen Differenzsetzungen näher spezifiziert und sollen an dieser Stelle lediglich einen ersten Einblick liefern.
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der Fälle und die Fokussierung auf diese eine spezifische Dimension im Zuge der Typenbildung besteht die Tendenz, dies aus dem Blick zu verlieren. Andere zentrale Kategorien konnten zugunsten des Erkenntnisinteresses nur insoweit Beachtung finden, wie sie einen unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang zu ethnischen Differenzierungen aufwiesen. Es ist nicht beabsichtigt, den Eindruck entstehen zu lassen, ethnische Differenzsetzungen dominierten stets und durchgängig die Beratungen. Gleichwohl überrascht im Ergebnis die – oftmals auch sehr subtile – Präsenz ethnischer Differenzierungen in allen analysierten Fällen. Die systematische Herausarbeitung der Mehrdimensionalität der Beratungsgespräche, indem diese jeweils unter verschiedene Blickwinkel gestellt würden, und die Analyse der Verortung ethnischer Differenzierungen innerhalb dieser Mehrdimensionalität wären nächste ertragreiche Auswertungsschritte, die allerdings im Rahmen dieser Studie nicht zu realisieren waren. Im Sinne der dokumentarischen Methode würde sich mit der soziogenetischen Typenbildung eine zweite, weiterführende Ebene der Typisierung anschließen, die diese Mehrdimensionalität impliziert und darauf zielt, die soziale Genese des jeweiligen modus operandi der Akteure zu klären.27 Die ethnischen Bezugnahmen, die hier zu Typen entwickelt werden konnten, haben idealtypischen Charakter (vgl. Nentwig-Gesemann 2007: 280f.).28 Das heißt, es wurden zum Teil begriffliche Zuspitzungen bzw. Übersteigerungen vorgenommen, die so nicht in der untersuchten Wirklichkeit auftraten. Bei den im folgenden Kapitel zitierten Textpassagen aus den Transkripten handelt es sich um eine Auswahl solcher, die den jeweiligen Typus besonders prägnant dokumentieren. Häufig wird eine prototypische Situation aus einem der Fälle angeführt, zu der Varianten aus anderen Fällen ins Verhältnis gesetzt werden. Mit den Zitaten sollen die Erkenntnisse nachvollziehbar gemacht und empirisch belegt werden. Obgleich die Daten in zwei sehr verschiedenen Beratungsstellen erhoben wurden, münden die Ergebnisse nicht in eine Gegenüberstellung der Beratungen beider Institutionen. Trotz der äußerst unterschiedlichen Gesprächskontexte erlauben die Ähnlichkeiten im Hinblick auf den Stellenwert ethnischer Bezugnahmen deren Verortung innerhalb derselben Typologie. Auf Besonderheiten und vor allem auf Unterschiede wird im Zuge der Darlegung des Spektrums innerhalb der Typen verwiesen. Bevor die Interpretationsergebnisse im Folgenden dargestellt werden, muss auf die Grenzen der im Rahmen dieser Studie möglichen Typenbildung hingewiesen werden. Ihre Aussagekraft reduziert sich auf den vorab recht eng begrenzten Ausschnitt aus dem Versorgungssystem für alte Menschen und hat 27 | Zum Vorgang der soziogenetischen Typenbildung vgl. Bohnsack (2007b: 246ff.) sowie Nohl (2008: 97ff.). 28 | In dem hier angeführten Aufsatz bezieht Nentwig-Gesemann die Typenbildung der dokumentarischen Methode auf Max Webers Idealtypenbildung.
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auch hier nur für die spezifischen, durch mich als Forscherin angetroffenen Konstellationen Geltung. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang unter anderem, dass keine Berater/-innen mit Migrationshintergrund einbezogen und bewusst spezifische Angebote für alte Migrant/-innen seitens der Migrationssozialarbeit außen vorgelassen wurden. Zu bedenken ist weiterhin, dass lediglich eine niedrigschwellige Beratungsinstitution berücksichtigt werden konnte. Dass die Erkenntnisse aus dem Kontext der behördlichen Altenberatung partiell übertragbar sind auf den Kontext der niedrigschwelligen Beratung der Altentagesstätte spricht für erste Verallgemeinerungstendenzen und stärkt die Typen, bei denen das der Fall ist. Gleichzeitig schwächt es die Typen, bei denen das nicht der Fall ist. Die Variationsbreite der Kontexte müsste mindestens um die hier ›versäumten‹ Aspekte ergänzt werden, damit die als vorläufig zu bewertenden Typen dieser Studie fundiert und ihre Generalisierungsfähigkeit erhöht werden können.
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6 Ethnische Differenzierungen in der Beratung alter Migrantinnen und Migranten
Durch die im Folgenden zu erörternden Typen ethnischer Differenzierungen rücken Strukturmerkmale der Beratungspraxis ins Blickfeld, die über die im dritten Kapitel angeführte Begriffsbestimmung Sozialer Beratung hinausweisen. Der Rekurs auf ethnische Differenz durch die Beratungsteilnehmer/-innen ist eng mit diesen Strukturmerkmalen verbunden und wirkt zum Teil beträchtlich auf sie ein. Es ist somit unumgänglich, einige durch die Beratungsforschung beschriebenen charakteristischen Strukturaspekte von Beratung einführend aufzugreifen und mit der vorliegenden Typologie in Beziehung zu setzen. Im Zuge der Auswertung des Datenmaterials kristallisierte sich allmählich heraus, dass ethnische Differenzsetzungen sowohl auf der Ebene der Beziehung der Beratungsteilnehmer/-innen zueinander als auch auf der Ebene der inhaltlichen Gestaltung von Beratung wirksam werden. Innerhalb der Beratungsforschung ist unbestritten, dass diese beiden grundlegenden strukturellen Größen einer jeden Beratung interdependent sind. Zwar stehe mit der Lösung sozialer Probleme als zentralem Ziel beraterischen Handelns im Kontext der Sozialen Arbeit die Sachebene stets im Vordergrund. Die Beziehung zwischen Beratenden und Ratsuchenden gilt jedoch als ihr Fundament, das bedeutend über den Erfolg einer Beratung entscheidet (vgl. Ansen 2009; Engel 2008; Sanders 2007; Nestmann 2007; Sickendiek/Engel/Nestmann 2002: 129ff.). Von besonderer Relevanz sei insofern eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung, die die inhaltlichen Teile der Beratung trägt. In der Praxis müssen Beratungsbeziehung und Beratungsinhalte über den gesamten Beratungsprozess hinweg durch die Partizipierenden interaktiv gestaltet und – so zumindest der beratungstheoretisch formulierte Anspruch – gemeinschaftlich ausgehandelt werden (vgl. Dewe 2007: 132).1 Die Fachliteratur weist den Berater/-innen die zentrale Verantwortung hinsichtlich des Gestaltens und des Gelingens dieser Aufgabe zu. Sie formuliert 1 | Besonders deutlich wird der interaktive Aushandlungscharakter von Beziehung und Inhalt in der Beratung von Hitzler/Messmer (2008) beschrieben.
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Prinzipien und Rahmenbedingungen der Beratungsarbeit, die hierfür förderlich sind, und schlägt unterschiedliche allgemeine und arbeitsfeldspezifische Methoden vor. Ihr Anliegen besteht darin, Professionellen Handlungsorientierungen und -methoden, z.B. Techniken der Gesprächsführung und Verfahren der Deutung und Interpretation, an die Hand zu geben sowie Beratungshandeln theoretisch zu fundieren. Dabei bewegt sie sich notwendigerweise auf einer idealtypisch-normativen Ebene, die im Rahmen der von mir verfolgten Fragestellung nur bedingt relevant ist. Von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem vielfältigen methodischen Spektrum kann deshalb an dieser Stelle abgesehen werden.2 Ethnomethodologischen Überlegungen gemäß reicht es aus, auf die Aspekte einzugehen, die in der Beratungsinteraktion selbst relevant werden. Der Typologie dieser Studie liegt die Unterscheidung von Beziehung gestaltenden und inhaltsbezogenen Typen ethnischer Differenzierung zugrunde. Wenngleich zwischen diesen beiden Ebenen von Beratung Interdependenzen bestehen, ist eine solche Aufteilung zu analytischen Zwecken instruktiv. Betrachtet man zunächst den Beziehungsaspekt von Beratung genauer, so kennzeichnet diesen eine grundlegende Ambivalenz. Denn der Aufbau und die Aufrechterhaltung der bereits erwähnten vertrauensvollen Arbeitsbeziehung müssen in einem Kontext bewerkstelligt werden, der in mehrfacher Hinsicht als asymmetrisch zu bezeichnen ist. Dies bedarf einiger Erläuterung, da die ersten beiden typischen Bezugnahmen auf ethnische Differenz, die beschrieben werden, in diesem Zusammenhang manifest werden. Thiersch (2009: 134) spricht von Sozialer Beratung als »Kommunikation auf der Basis von Vertrauen«. Er hebt mit dieser Aussage hervor, dass es sich bei Beratungsvorgängen überwiegend um kommunikative Prozesse handelt.3 Auch Vertrauen – als deren Basis – müsse zu allererst kommunikativ hergestellt werden und sich im Beratungsverlauf bestätigen. Was aber zeichnet eine vertrauensvolle Beziehung in der Beratung aus? Nestmann (2007: 791) nennt diesbezüglich die von Carl Rogers in einem psychotherapeutischen Rahmen herausgestellten drei Merkmale Empathie, Wärme/Akzeptanz und Echtheit/Authentizität als grundlegend. Berater/-innen könnten Beziehungen gestalten, indem sie den Ratsuchenden in einer sensiblen Haltung, um Verstehen bemüht, wertschätzend, akzeptierend und respektvoll entgegenträten und mit ihnen in einer Weise umgingen, die Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Offen2 | Exemplarisch sei hier verwiesen auf die Publikationen von Sickendiek/Engel/Nestmann (2002), Belardi u.a. (2007), Ansen (2009, 2006) sowie auf die in den Sammelbänden Nestmann/Engel/Sickendiek (2007) und Nestmann/Engel (2002) erschienenen Aufsätze. Auf die Beratung von Menschen im Alter und von Migrant/-innen ist im dritten Kapitel näher eingegangen worden. 3 | Thiersch räumt ein, dass sich Beratung in der Praxis regelhaft mit konkreten Hilfen verbinde und insofern über reine Kommunikation hinausweise (siehe hierzu auch Ansen 2008: 59).
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heit und Transparenz signalisiere sowie an Zusammenarbeit orientiert sei. Sanders (2007: 801) beschreibt eine Beratungsbeziehung dann als hilfreich, wenn der Ratsuchende die beratende Person »als ihn unterstützend, aufbauend und in seinem Selbstwert positiv bestätigend« erfahre. Die Gestaltung der Beziehung geschieht nicht um ihrer selbst Willen. Sie sollte nur soweit betrieben werden, wie sie für die Erreichung des Beratungsziels förderlich ist, und keinesfalls den Beratungsprozess dominieren. Heiner (2007: 460) stellt die »Aufgabenorientierung« als ein grundlegendes Merkmal professionell gestalteter Beziehung heraus und grenzt sie unter anderem hierüber von privaten Beziehungen ab. Im Kontext der Sozialen Beratung ist daher auch von Arbeitsbeziehung die Rede. In ihr ist die Balance von Nähe und Distanz zu halten. Während ein zu großes Maß an Nähe den Ratsuchenden einengt und die Gefahr in sich birgt, dessen persönliche Grenzen zu überschreiten, kann ein Zuviel an Distanz als Gleichgültigkeit oder Unsensibilität des Beraters gewertet werden (vgl. hierzu Thiersch 2007). Der erste Typus, der die »Belastung des Beziehungsaufbaus zwischen Berater und Ratsuchenden durch ethnische Differenzierungen« beschreibt, wird zeigen, dass und inwiefern beim Kontaktaufbau zwischen den Beratungsteilnehmenden und der Gestaltung ihrer Beziehung zueinander ethnische Differenzierungen relevant werden (Kapitel 6.1). Es stellt sich heraus, dass Rekurse auf ethnische Differenz sowohl in einem förderlichen, unterstützenden Sinne als auch – und zwar vorwiegend – auf eine hinderliche Weise auf die Beratungsbeziehung einwirken (Kapitel 6.1.1). In diesem Zusammenhang ist ein zusätzlicher Einflussfaktor von Bedeutung. Denn während bislang von der klassischen Beratungsdyade, bestehend aus Berater und Ratsuchendem, ausgegangen wurde, liegen in den untersuchten Beratungsgesprächen oftmals triadische Beziehungskonstellationen vor. Dolmetschende Personen, wie Familienangehörige oder Pflegedienstleiter/-innen, sind mehrheitlich an den Beratungen beteiligt und nehmen Einfluss auf das Berater-Ratsuchenden-Verhältnis. Im Hinblick auf die Frage nach dem Stellenwert ethnischer Differenzierungen erweist sich als ausschlaggebend, ob es sich hierbei um Personen handelt, die auf die gleiche ethnische Zugehörigkeit wie die Ratsuchenden rekurrieren können und mit ihnen eine Herkunftssprache teilen. Zwischen diesen Gesprächsbeteiligten kann ethnische Zugehörigkeit zur Begründung von Nähe und Vertrauen geltend gemacht werden. Es entstehen dadurch parallel zur ›eigentlichen‹ Beratungsdyade eigene Beziehungsgefüge, die zumeist hinderlich auf die Berater-Ratsuchenden-Beziehung wirken und dazu beitragen, dass die Distanz zwischen beiden zunimmt (Kapitel 6.1.2). Das Verhältnis zwischen Berater und Ratsuchendem ist ein asymmetrisches. Dies ist nichts Ungewöhnliches, sondern bis zu einem gewissen Grad notwendige Bedingung, die eine Situation zu einer Beratungssituation macht. Dewe (2007: 132) bezeichnet Beratung als »problembezogene Weitergabe von Fachwissen durch ›Experten‹ an ›Laien‹«. Der Ratsuchende, der in einer Lebenssituation selbst nicht weiter weiß, ersucht hierzu die Expertise des Beraters und
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erwartet von ihm Hinweise oder Hilfen, die ihn von seiner ›Ratlosigkeit‹ entlasten. Der Berater seinerseits gibt sich als Fachkraft für die Bearbeitung des Problems zu erkennen und weist auf Grenzen und Möglichkeiten der Beratung hin. Da die Berater- und die Ratsuchendenrolle in dieser Hinsicht einander ergänzen, wird auch von einer Komplementärbeziehung gesprochen. Aus der Zuweisung des Expertenstatus an den Berater einerseits und dem Sich-Anvertrauen des Ratsuchenden in einer schwierigen Lebenssituation andererseits erwächst dem Berater Autorität. Er übernimmt in Bezug auf die Gestaltung des Hilfeprozesses die Verantwortung. Das komplementäre Rollenverhältnis zwischen Berater und Ratsuchendem kann in diesem Sinne als grundlegend asymmetrisch charakterisiert werden (vgl. Heiner 2007: 464). Asymmetrien in der Beratung beziehen sich auf das problemrelevante Wissen, auf die nötige Distanz zum lebenspraktischen Problem4 und auf die Problemlösungskompetenzen der Beteiligten. Auch spielen Asymmetrien eine Rolle, die sich aus der institutionellen Rahmung der Beratung und dem damit verbundenen Einfluss des Beraters, wie z.B. die Bewilligung oder die Verweigerung von Sozialleistungen, ergeben. Eine Reihe weiterer kontextbedingter Asymmetrien, z.B. basierend auf geschlechtsspezifischen Unterscheidungen oder Mehrheit-Minderheiten-Verhältnissen im Rahmen von Migration, sind darüber hinaus denkbar. Die in der Fachliteratur postulierten Grundprinzipien der Freiwilligkeit des Ratsuchenden, seiner Partizipation am Beratungsprozess und seiner Nicht-Bevormundung seitens des Beraters dienen unter anderem dazu, sicherzustellen, dass Asymmetrien nicht die Arbeitsbeziehung belasten und damit den Erfolg der Beratung gefährden (vgl. Thiersch 2009: 134).5 Soziale Beratung sei stets als »gemeinsame[r] Prozeß des Aushandelns« (ders.: 132) aufzufassen, der darauf ausgerichtet sei, Ungleichheiten zu kompensieren. Heiner (2007: 458ff.) spricht daher auch von einer »aufgabenorientierten partizipativen Beziehungsgestaltung«. Der Aufbau einer auf Vertrauen gründenden Arbeitsbeziehung und die gleichberechtigte Partizipation des Ratsuchenden zu jedem Zeitpunkt der Beratung ist in einem grundlegend asymmetrischen Beziehungsgefüge anspruchsvoll und nicht selten eine Gratwanderung. Dies verdeutlicht sich auf besondere Weise in Beratungsgesprächen, in denen sprachliche Differenz zwischen Beratenden und Ratsuchenden die unmittelbare Kommunikation einschränkt und Verständigungsschwierigkeiten überwunden werden müssen. Der zweite Typus mit der Bezeichnung »Die Erosion des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchenden im Kontext ethnischer Differenzierungen« wird zeigen, dass in Beratungssituationen, in denen die Beteiligten nicht über vergleichbare 4 | Gemeint ist die Nicht-Betroffenheit des Beraters angesichts der Betroffenheit des Ratsuchenden. 5 | Auf diese Grundprinzipien von Beratung gehen auch Engel (2008: 199) und Dewe (2007: 132f.) ein.
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Kommunikationsmöglichkeiten in einer Sprache verfügen, das Komplementärverhältnis, sofern es faktisch überhaupt zustande kommt, brüchig wird, da sowohl der Berater als auch der Ratsuchende an der Ausübung ihrer jeweiligen Gesprächsrolle gehindert sind (Kapitel 6.2). Insbesondere bei Anwesenheit dolmetschender Personen kommt es aufgrund ausbleibender oder verkürzter Übersetzungen zu einem Ausschluss einzelner Akteure von Teilen des Beratungsgeschehens. Von einem solchen Ausschluss können sowohl die Rat suchenden alten Migrant/-innen betroffen sein (Kapitel 6.2.2) als auch die Berater/-innen (Kapitel 6.2.3). Erodiert das komplementäre Rollenverhältnis, kann nicht mehr von Beratung im eigentlichen Sinne gesprochen werden, da die grundlegende Voraussetzung in Frage gestellt ist. Zudem vergrößert sich die Distanz zwischen Berater und Ratsuchendem, wodurch die Ausrichtung der Beratungsinhalte am individuellen Bedarf des alten Migranten gefährdet sein kann. Zwei Typen von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen werden in Bezug auf die Beratungsinhalte relevant. Die spezifischen Beratungsinhalte in der Altenhilfe wurden bereits im dritten und im fünften Kapitel erwähnt. Betrachtet man nun die Beratungsstruktur näher, so lassen sich drei inhaltliche Phasen unterscheiden. Thiersch (2009: 135) spricht von Sozialer Beratung als »in Phasen strukturierte Kommunikation«. Er unterscheidet die »Phasen des Wahrnehmens/ Erkennens, des Planens/Entwerfens und der Hilfe zur Realisierung« (ebd.). In der Phase des »Wahrnehmens/Erkennens« geht es um die Erfassung des Beratungsanlasses und um die Herausstellung und Interpretation des Problems vor dem Hintergrund der Lebenslage des Ratsuchenden. In der Phase des »Planens/Entwerfens« steht die Eruierung von Hilfemöglichkeiten im Zentrum. Es werden Ziele formuliert und Interventionen geplant. Die dritte Phase, die »Hilfe zur Realisierung«, ist der Umsetzung der Ziele in konkrete Interventionen gewidmet. Ansen (2008: 63ff.) unterscheidet zwei zentrale Interventionsformen in der Sozialen Beratung. Maßnahmen zur Existenzsicherung umfassen die meist stellvertretende Erschließung von Sozialleistungen für den Ratsuchenden und die Organisation von sozialen bzw. pflegerischen Diensten. Persönliche Hilfen, auch als pädagogische Interventionen bezeichnet, beziehen sich auf die Förderung individueller Kompetenzen des Ratsuchenden. Sie zielen darauf, seine subjektiven Bewältigungsmöglichkeiten im Hinblick auf Alltagsanforderungen zu verbessern. Dazu werden mit ihm gemeinsam persönliche Ressourcen und Selbsthilfepotenziale erschlossen. Die drei Phasen beschreiben eine Beratungschronologie. Gleichwohl erfolgt ihr Ablauf in der Praxis nicht immer linear. Zusätzliche Informationen können im Beratungsprozess zu Modifizierungen vorangehender Phasen führen. Ethnische Differenzsetzungen kommen in allen drei genannten inhaltlichen Phasen der Beratung vor. Bezüglich ihrer Wirkung auf den inhaltlichen Verlauf lassen sich zwei kontrastierende Modi identifizieren. Das Geltendmachen ethnischer Differenz kann sowohl zu einer Begründung von institutionellen Hilfen führen als auch deren Ablehnung bewirken. Im dritten Typus, der
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die »Begründung eines institutionellen Hilfebedarfs unter Bezugnahme auf ethnische Differenz« beschreibt, sind solche ethnischen Differenzierungen zusammengefasst, die im Zuge der Erfassung des Hilfebedarfs der Ratsuchenden und der Bewilligung von institutionellen Hilfen wirksam werden (Kapitel 6.3). Dabei wird sich zeigen, dass Berater/-innen im Hilfeprozess vor allem dann auf ethnische Differenzierungen zurückgreifen, wenn sie beabsichtigen, der von ihnen in Bezug auf den Ratsuchenden wahrgenommenen ›ethnischen Differenz‹ bei der Problemerfassung und der Hilfeplanung gerecht zu werden (Kapitel 6.3.1). Auch Ratsuchende selbst rekurrieren auf eine herkunftsbezogene Spezifik ihres Hilfebedarfs, und zwar dann, wenn sie diese in der Unterstützungsleistung berücksichtigt wissen wollen (Kapitel 6.3.2). Das professionelle Handeln der Berater/-innen findet nicht unabhängig von der jeweiligen Situation und ihren Rahmenbedingungen statt. Unterschiedliche Faktoren nehmen daher Einfluss auf die Gestaltung der Beratung, auf ihre Möglichkeiten und auf ihre Grenzen. Berater/-innen sind in diesem Zusammenhang oftmals gefordert, divergierenden Interessen gerecht zu werden. Sie agieren in einem Spannungsfeld zwischen den Anliegen und Wünschen ihrer Ratsuchenden, den Interessen von Angehörigen der Ratsuchenden, den Vorgaben der Institution, in deren Auftrag sie handeln, sowie ihren eigenen fachlichen Standards, vor deren Hintergrund sie bestimmte Hilfebedarfe für angezeigt halten. Für Sozialarbeiter/-innen bedeutet das Handeln in diesem Spannungsfeld vor allem, ihre Tätigkeit zwischen helfenden und kontrollierenden Handlungsaufträgen zu verorten und diese im Rahmen der zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume jeweils situativ auszubalancieren (vgl. Heiner 2007: 109ff.). Wie sich zeigen wird, erweist sich ›ethnische Differenz‹ als eine für die Berater/-innen ausschlaggebende Bezugsgröße im Zuge dieses Ausgleichs von Hilfe und Kontrolle. Der vierte Typus »Die Zurückweisung von institutionellen Hilfen unter Bezugnahme auf ethnische Differenz« gibt hierüber näheren Aufschluss (Kapitel 6.4). Berater/-innen, die sich auf ihren institutionellen Auftrag berufen, die Kosten von Hilfeleistungen, die über das Sozialamt zu finanzieren sind, möglichst gering zu halten, rekurrieren auf ethnische Differenz aus einer ökonomischen Perspektive heraus. Ein mit der Herkunft des Ratsuchenden verbundener Bedarf, wie z.B. Dolmetschhilfen, wird ›aus Kostengründen‹ zurückgewiesen (Kapitel 6.4.1). Diesem vierten Typus zugeordnet werden auch ethnische Bezugnahmen seitens Ratsuchender, die in eine ähnliche Richtung, nämlich der Zurückweisung institutioneller Hilfen, wirken. Der Beweggrund der alten Migrant/-innen, institutionelle Hilfen zurückzuweisen, ist gewiss ein anderer als derjenige der Berater/-innen. Ihre Ablehnungen dokumentieren den Wunsch nach Unabhängigkeit von institutioneller Versorgung und nach selbstbestimmter Gestaltung von Hilfen im Alltag (Kapitel 6.4.2). Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Typologie, die im Weiteren anhand von Textpassagen aus den Beratungsgesprächen des empirischen Materials dokumentiert und erläutert wird.
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Abbildung 2: Übersicht über die Typologie von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen in der Beratung alter Migrant/-innen
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6.1 D IE B EL ASTUNG DES B EZIEHUNGSAUFBAUS Z WISCHEN B ER ATER UND R ATSUCHENDEN DURCH E THNISCHE D IFFERENZIERUNGEN (T YP I) Thema des vorliegenden Abschnitts sind die unterschiedlichen Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen, die im Kontext des Kontaktaufbaus und der Gestaltung von Beziehungen zwischen den Gesprächsbeteiligten einer Beratung auftreten. Ethnische Differenz wird von den Akteuren zum Teil eigens zu diesem Zweck geltend gemacht. Ihre Wirkung im Gespräch entspricht jedoch nicht immer der Funktion, die ihr offenbar von den Akteuren zugewiesen wird. Zwei konträre Wirkungsweisen konnten diesbezüglich identifiziert werden. Zum einen stellen sich ethnische Differenzierungen in manchen Beratungssituationen zwar als ein Mittel heraus, mit dem die Beziehungsgestaltung zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden sowie diejenige zwischen Ratsuchenden und weiteren beteiligten Personen, wie Dolmetscher/-innen, positiv beeinflusst wird. Zum anderen sind ethnische Bezugnahmen in diesem Zusammenhang jedoch auch hinderlich, denn sie erschweren den Kontaktaufbau und die Aufrechterhaltung tragfähiger Berater-Ratsuchenden-Beziehungen über den gesamten Beratungsverlauf hinweg. Der erste Typus, der im Folgenden charakterisiert wird, bezieht sich auf diesen zweiten Modus von Wirkungsweisen, da dieser im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden im untersuchten Material überwiegt. ›Förderliche‹ Wirkungsweisen, die im vorliegenden Abschnitt anhand eines sehr anschaulichen Beispiels, der Beratung Goldmann, dokumentiert werden, stellen hier die Ausnahme dar. Um herauszustellen, in welchen Kontexten und inwiefern sich gerade diese ›hinderliche‹ Wirkungsweise ethnischer Differenzierungen bei der Beziehungsgestaltung als typisch erweist, ist es instruktiv zu unterscheiden, ob sich die ethnischen Bezugnahmen unmittelbar zwischen Beratenden und Ratsuchenden ereignen (Kapitel 6.1.1) oder ob es sich um Rekurse auf ethnische Zugehörigkeit zwischen Gesprächsbeteiligten gleicher Herkunft handelt (Kapitel 6.1.2).
6.1.1 Ethnische Differenzierungen als Mittel zum Aufbau einer Beratungsbeziehung zwischen Berater und Ratsuchenden Ethnische Differenzierungen werden sowohl von den Berater/-innen als auch von den Ratsuchenden im Zuge der Gestaltung ihrer Beziehung zueinander geltend gemacht. Die Herkunftssprache und das Herkunftsland der Ratsuchenden, der Stand ihrer Deutschkenntnisse sowie ihre Aufenthaltsdauer in Deutschland stehen dabei thematisch im Zentrum. Wie dem jeweiligen Handlungskontext dieser oder ähnlicher Bezugnahmen zu entnehmen ist, scheint derjenige Akteur, der sie geltend macht, ethnischen Differenzierungen den Stellenwert zuzuschrei-
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ben, einen Beitrag zum Aufbau einer tragfähigen Beratungsbeziehung zu leisten. Unter Zuhilfenahme ethnischer Differenzierungen wird versucht, Kontakt auf einer persönlichen Ebene jenseits der Beratungsinhalte herzustellen. Wie einleitend zu Kapitel 6 erwähnt wurde, ist die Gestaltung der Beratungsbeziehung kein einmaliger Vorgang, sondern ein Prozess, der sich über den gesamten Beratungsverlauf hinweg erstreckt. Dementsprechend haben auch ethnisierende Bezüge, die als Mittel hierfür eingesetzt werden, gesprächschronologisch in unterschiedlichen Phasen eine Bedeutung. Zu Beginn, noch vor der inhaltlichen Beratung, nutzen hauptsächlich Berater/-innen ethnische Differenzierungen, um einen persönlichen Zugang zum Ratsuchenden zu gewinnen, zu späteren Zeitpunkten des Gespräches unterstützen sie die unterschiedlichen inhaltlichen Beratungsphasen, etwa die Problemerfassung, und in der Abschlussphase dienen sie dazu, die Beratung zwanglos und entspannt zu beenden. Betrachtet man jedoch die Wirkung, die ethnische Differenzsetzungen dieser Art im Gespräch entfalten, so bedarf es einer differenzierteren Sicht auf das interaktive Geschehen. Denn, wie sich an den Beratungen Stefanovic, Naderi, Alimov und Kleeberg zeigen lässt, tragen sie durchaus nicht immer dazu bei, eine hilfreiche, d.h. der gemeinsamen Bearbeitung der Beratungsinhalte förderliche Arbeitsbeziehung zu begründen und über den gesamten Beratungsverlauf aufrechtzuerhalten. Typisch ist vielmehr, dass ethnische Differenzierungen den Beziehungsaufbau belasten. Meist dokumentiert sich eine Diskrepanz zwischen der erkennbaren Absicht der Akteure und ihrer Wirkung. Anhand von Gesprächsauszügen aus der Beratung Stefanovic wird deutlich, dass für dieses Missverhältnis hauptsächlich das dominante Auftreten des Beraters und sein herabsetzender Kommunikationsstil mit den Ratsuchenden verantwortlich sind. Die Beratung Stefanovic sowie Passagen aus den Beratungen Naderi und Kleeberg zeigen, inwiefern durch die ethnischen Differenzierungen des Beraters und die Art und Weise, in der sie erfolgen, Widerstände und Drucksituationen bei den Ratsuchenden provoziert werden. Auch können dolmetschende Personen durch ihre Übersetzungen den Aufbau der Berater-Ratsuchenden-Beziehung steuern und teilweise sogar verhindern. Die Beratung Alimov liefert hierfür ein Beispiel. Im Datenmaterial dokumentiert lediglich ein einziger Fall, die Beratung Goldmann, dass der Bezug auf ethnische Differenz uneingeschränkt als probates Mittel zum Beziehungsaufbau zwischen Berater und Ratsuchenden erachtet werden kann. Bemerkenswert an dieser hier ergänzend aufgeführten Beratung ist, wie die Gesprächsbeteiligten mittels des wiederholten Rückgriffs auf ethnische Differenzierungen eine nahezu symmetrische Beziehung herzustellen vermögen.
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Herabsetzende Kommunikationsweisen des Beraters mit den Ratsuchenden: Beratung Stefanovic In der Beratung Stefanovic manifestiert sich das angesprochene Missverhältnis zwischen Versuchen der Kontaktherstellung unter Zuhilfenahme ethnischer Differenzierungen, vor allem seitens des Beraters, und deren Wirkung auf besonders prägnante Weise. Bei diesem Gespräch aus der behördlichen Altenberatung, das der Berater Herr Dieckmann (DI)6 mit einem kroatischen Ehepaar, dem 69-jährigen Herrn Stefanovic (HS) und seiner 71-jährigen Frau (FS), führt, handelt es sich um einen Erstkontakt, der auf Anlass Herrn Stefanovic’ zustande kam. Das gegenseitige Kennen lernen nimmt daher am Gesprächsbeginn eine zentrale Stellung ein. Unterschiedliche Modi des Bezugs auf ethnische Differenz stellen für den Berater Anknüpfungspunkte dar, um einen persönlichen Zugang zu dem Rat suchenden Ehepaar zu erlangen, noch bevor er sich nach dessen Problemen erkundigt. In dem folgenden Auszug, mit dem das Beratungsgespräch beginnt, steht zunächst sprachliche Differenz thematisch im Mittelpunkt. [Stefanovic, Z.1-48]
6 | Bei den in Klammern gesetzten Großbuchstaben hinter den jeweiligen Namen der Beratungsteilnehmer/-innen handelt es sich um die diesen Personen zugeordneten Sprechersiglen im Transkript. In der Regel handelt es sich hierbei um die ersten beiden Buchstaben des Nachnamens der Person, etwa ›DI‹ für ›Herr Dieckmann‹; z.T. werden – um Verwechselungen mit anderen Gesprächsteilnehmer/-innen zu vermeiden – auch andere Zusammensetzungen der Siglen gewählt, z.B. ›HM‹ für ›Herr Hamedi‹. Ehepartner werden grundsätzlich mit einem H, für ›Herr‹ bzw. F für ›Frau‹ sowie dem ersten Buchstaben ihres Nachnamens identifiziert, z.B. ›HS‹ für ›Herr Stefanovic‹.
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Der Ratsuchende Herr Stefanovic führt in diesem Gespräch mit seiner Bemerkung, dass Verstehen in Deutsch schwer sei, eine herkunftsbezogene Unterscheidung, und zwar sprachliche Differenz zwischen sich und dem Berater, als Thema ein. Durch seine Äußerung signalisiert Herr Stefanovic dem Berater, dass er seine Deutschkenntnisse und möglicherweise auch die seiner Frau als unzureichend für die Kommunikation ansieht und mit Verständigungsschwierigkeiten zu rechnen ist. Der Ratsuchende offenbart hier gegenüber dem Berater insofern ein Defizit, nämlich Verstehensprobleme im Deutschen. Obgleich er dieses Eingeständnis wieder, zumindest teilweise, zurücknimmt, indem er versichert, »ja nicht alles aber kann sagen geht« (Z. 16), reagiert der Berater mit einem unmittelbaren Wechsel in die Herkunftssprache des Ehepaares (»dobro dobro«, Z.18). Er will damit – so lässt sich aufgrund des weiteren Verlaufs vermuten – nicht bzw. nicht in erster Linie seine Zweifel am Verstehensvermögen der Ratsuchenden ausdrücken. Vielmehr dient ihm die Herkunftssprache hier als Ansatzpunkt, um eine ›kommunikative Brücke‹ zu den Ratsuchenden – vermutlich insbesondere zu der Getränke einschenkenden Frau Stefanovic – zu bauen und die Kontaktherstellung fortzusetzen, nachdem er beide bereits in seiner Gesprächseröffnung mittels persönlicher Anrede in die Kommunikation einzubinden versuchte (Z.1-8). Seine Reaktion ist daher als eine Geste des Entgegenkommens zu werten, mit der er auch Verständnis für die anfänglich vom Ratsuchenden geäußerten Verstehensschwierigkeiten des Deutschen signa-
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lisiert. Gleichzeitig demonstriert der Berater an dieser Stelle eigene Sprachkompetenz in der Herkunftssprache der Stefanovic’, die den Ratsuchenden zu ermutigen scheint, sich ebenfalls auf ›Serbokroatisch‹7 zu äußern (»dobro je«, Z.20). Mit seiner Erkundigung nach der ›serbokroatischen‹ Bedeutung von »danke schön« und mit seinem Vorschlag des – in diesem Kontext unpassenden – Wortes »dobar« (Z.25), deckt er allerdings auf, nicht über umfangreiche ›Serbokroatischkenntnisse‹ zu verfügen. Durch die Frage lockert sich die Atmosphäre (»«, Z.37). Zudem wird Herr Stefanovic’ Position im Gespräch gestärkt, denn der Berater bekundet hier nicht nur Interesse am Erlernen einzelner Ausdrücke in der Herkunftssprache der Ratsuchenden. Ihm gelingt es durch seine Frage auch, die anfängliche defizitorientierte Selbstdarstellung des Ratsuchenden zu nivellieren und gewissermaßen ins Gegenteil zu kehren. Indem er diesen als Experten seiner Herkunftssprache anspricht, eröffnet er ihm die Möglichkeit, sich auf einem Gebiet zu präsentieren, das seine Fähigkeiten herausstellt und auf dem er einen Wissensvorsprung gegenüber dem Berater besitzt. Seine übersetzenden und erläuternden Antworten weisen Herrn Stefanovic als Person aus, die in den beiden Sprachen ›Serbokroatisch‹ und Deutsch fachkundig ist und von der der Berater insofern lernen kann. Die Vorgehensweise des Beraters könnte daher auch als eine auf den Ratsuchenden gerichtete ›gesichtswahrende‹ Strategie betrachtet werden, mit der er die ›sprachliche Asymmetrie‹ in der Beratung auszugleichen versucht. Er errichtet hier insofern für einen Moment eine symmetrische Beziehung, da er eine Situation entstehen lässt, die bei beiden sowohl Fähigkeiten als auch Wissenslücken auf der Ebene von Fremdsprachen aufzeigt. Was so aussieht, als könne es der Auftakt zu einer, für die Bearbeitung der Beratungsinhalte förderlichen Beziehung sein, gerät bereits in der unmittelbar sich anschließenden Gesprächssequenz ins Wanken. Grund hierfür ist der Umgang des Beraters mit der kurz zuvor thematisierten sprachlichen Differenz und den damit einhergehenden tatsächlichen bzw. zugeschriebenen Verstehensschwierigkeiten der Ratsuchenden. Herr Dieckmann führt seine Bemühungen um Kontaktaufbau auf die folgende Weise fort:
7 | Das Ehepaar Stefanovic stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien und ist kroatischer Herkunft. Die Sprache, die die Stefanovic’ sprechen setzt sich sowohl aus kroatischen als auch – und zwar überwiegend – aus serbischen Anteilen zusammen, weshalb im Folgenden von ›Serbokroatisch‹ die Rede ist (vgl. auch Kapitel 5, FN 18).
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[Stefanovic, Z.49-78]
Indem der Berater sich nach der Aufenthaltsdauer Frau Stefanovic’ in Großstadt A erkundigt, Näheres über die unterschiedlichen Migrationszeitpunkte der beiden Ratsuchenden wissen will und sich außerdem an der früheren beruflichen Tätigkeit des Herrn Stefanovic interessiert zeigt, rückt er das Gespräch nunmehr auf eine persönliche Ebene. Die Art und Weise, in der der Berater dies kommunikativ gestaltet, steht jedoch im Kontrast zu seinem verbal geäußerten Interesse an den Ratsuchenden. An zwei Punkten des Interaktionsgeschehens wird dies erkennbar. Zum einen an der lediglich indirekten kommunikativen Einbindung Frau Stefanovic’ und zum anderen an dem herabsetzenden, infantilisierenden Kommunikationsstil des Beraters mit Herrn Stefanovic. Herr Dieckmanns Frage, wie lange »die frau« in Großstadt A sei, die Herr Stefanovic als Frage nach ihrer Aufenthaltsdauer in Deutschland interpretiert und so offenkundig auch von dem Berater gemeint ist, stellt zwar einen Vorstoß seinerseits dar, die am vorangehenden Dialog kaum aktiv beteiligte Frau Stefanovic nun ›mit ins Boot zu holen‹. Er scheint hiermit allerdings weniger die Absicht zu verbinden, einen persönlichen Kontakt zu ihr herzustellen, da er die Frage nicht direkt an sie selbst richtet, sondern gleich an ihren Ehemann. Sprachliche Verständigung mit ihr hält er offenkundig nicht für aussichtsreich, denn er zeigt keinerlei Motivation, sie etwa mit Hilfe des übersetzenden Ehemannes persönlich anzusprechen. Auffallend ist, dass er nicht nur in der dritten Person von ihr, also über sie spricht, sondern sie zudem unpersönlich,
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ohne Verwendung eines Pronomens, als »die frau« bezeichnet und sie damit gewissermaßen zu einer neutralen Person degradiert. Er baut dadurch eher Distanz auf, als dass er sie verringert. Der Ausschluss Frau Stefanovic’ von der Kommunikation wird hier forciert durch das Verhalten ihres Mannes ihr gegenüber. Dieser unterlässt es, ihren ergänzenden Beitrag, sie sei im Jahr 1992 gekommen (Z.57), dem Berater ins Deutsche zu übersetzen. Auch übersetzt er ihr den deutschsprachigen Dialog zwischen ihm und dem Berater nicht ins ›Serbokroatische‹. Herr Stefanovic trägt auf diese Weise dazu bei, dass es zu keiner näheren Beziehung zwischen seiner Frau und dem Berater kommt. Der Kontaktaufbau zu Frau Stefanovic scheitert hier, sofern er vom Berater überhaupt intendiert ist, an der Aufrechterhaltung sprachlicher Differenz und am Entschluss des Beraters, nicht mit ihr, sondern über sie zu kommunizieren und sein Interesse auf den Ehemann zu richten. Während er diesen kurz zuvor noch als kompetent dargestellt hat, erfolgt in dieser Sequenz indes das Gegenteil. In Herrn Dieckmanns Sprechweise mit Herrn Stefanovic drückt sich Zweifel bezüglich des Gelingens von Verständigung aus. Durch seine grammatikalisch vereinfachten, selbst für gesprochenes Deutsch, das nicht zwangsläufig den Regeln der Schriftsprache folgt, hier als falsch zu charakterisierenden Formulierungen »sie kommen zusammen zusammen sie mit frau« (Z.61) und »wo arbeit?« (Z.67) scheint sich der Berater zu erhoffen, sich besser verständlich zu machen bzw. dem Ratsuchenden das Verstehen zu erleichtern. Gleichzeitig spricht er ihm durch dieses Gesprächsverhalten jedoch das Vermögen ab, Deutsch, so wie es üblicherweise von Muttersprachlern gesprochen wird, zu verstehen. Was hier vermutlich entgegenkommend, hilfreich, den Verständigungsprozess unterstützend gemeint ist, vielleicht sogar eine Form der Anpassung an das Sprechverhalten des Ratsuchenden bedeuten und insofern Nähe ausdrücken soll, ist im Kern abwertend, denn es unterstellt mögliche Defizite. Der Berater bringt hierdurch seine Überlegenheit gegenüber dem Ratsuchenden zum Ausdruck. Diese Überlegenheit demonstriert sich auch in Herrn Dieckmanns Kommentierung der Information, Herr Stefanovic sei bei einer renommierten Firma wie dem Automobilunternehmen B tätig gewesen. Seine Reaktion »hey hey hey gut« (Z.69f.) erscheint wie ein erstauntes oder überraschtes Lob, als habe der Berater dies dem Ratsuchenden nicht zugetraut. Bereits in dieser Passage zu Beginn der Beratung zeichnet sich die Tendenz des Beraters ab, mit den Ratsuchenden auf eine überhebliche, infantilisierende, d.h. seine Gesprächspartner nicht durchweg gleichwertig als Erwachsene anerkennende, und insofern missachtende Weise zu kommunizieren. Sie zeigt sich an späteren Stellen des Gespräches zum Teil weit drastischer und soll daher anhand eines weiteren Gesprächsauszugs aus der Phase der Hilfeplanung dokumentiert werden. In der entsprechenden Passage geht es um die Organisation der zuvor vereinbarten Hilfeleistung, nämlich des Einsatzes eines Zivildienstleistenden zur
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Unterstützung des Ehepaares im Haushalt. Herr Dieckmann erklärt Herrn Stefanovic hier, dass er seine Zivildienstleistenden (»junge leute«, Z.672) über die getroffene Vereinbarung informieren werde, damit diese das Ehepaar in ihren Dienstplan aufnehmen. An dieser Stelle des Gespräches deutet sich an, dass der Ratsuchende das kommunikative Verhalten des Beraters ihm gegenüber nicht ohne weiteres hinnimmt. Augenfällig ist jedoch auch, dass Herr Dieckmann insgesamt eine negative Erwartungshaltung hinsichtlich der Kommunikationsfähigkeit des Ratsuchenden hegt, und zwar weit über die Unterstellung eines defizitären Verstehensvermögens in der deutschen Sprache hinaus. [Stefanovic, Z.670-690]
Herrn Dieckmanns recht umständliche Erläuterung, wann er mit seinen Zivildienstleistenden sprechen werde, unterbricht der Ratsuchende, indem er kontert, er wisse welcher Wochentag sei (»=ja ich weiß ja«, Z.675). Er lässt sich hier kein Defizit unterstellen.8 Kurz darauf startet er einen Versuch, Herrn Dieckmanns Umschreibung »ich habe runder tisch in büro und ich spreche mit mit junge männer« (Z.677 und Z.679) mit dem Begriff ›Versammlung‹ auf den Punkt zu bringen. Dies gelingt ihm nicht auf Anhieb, da es sich um ein für Herrn Stefanovic schwieriges deutsches Wort handelt. Der Berater reagiert zunächst bestätigend und die Bemühung des Ratsuchenden, sich auf Deutsch auszudrücken, anerkennend. Er hilft ihm, indem er seinerseits das von Herrn Stefanovic angedeutete Wort vervollständigt (»ja richtig eine versammlung«, 8 | Auf ähnliche Weise reagiert der Ratsuchende in einer anderen Passage, in der er der Umschreibung des Beraters von ›Mineralwasser‹ auf drei verschiedene Weisen mit dem Ausspruch »egal ich kann verstehen« (Z.466) recht wirsch begegnet und damit verdeutlicht, dass der Berater ihn in seinem Verstehensvermögen unterschätzt hat.
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Z.684). In seiner Bemerkung »aber sie ähm sie ähm (--) sie denken gut mit und das ist sehr gut« (Z.686 und Z.688) drückt sich jedoch besonders deutlich die Überheblichkeit des Beraters und damit auch dessen Dominanz aus. Denn in diesem recht überdehnten Lob, in dem es nicht allein ums Verstehen in der deutschen Sprache, sondern ums ›Mitdenken‹ geht, schwingt das Gegenteil dessen mit, was der Berater hier semantisch hervorbringt. Er nimmt sich das Recht heraus, über das Denkvermögen seines Gesprächspartners im Gespräch zu urteilen. Seine Bemerkung impliziert, dass er Herrn Stefanovic diesbezüglich offensichtlich unterschätzt hat. Es stellt sich dabei auch die Frage, ob der Berater möglicherweise von geringen Deutschkenntnissen auf ein reduziertes Denkvermögen schließt, das sich ihm hier zu widerlegen scheint und deshalb von ihm als hervorhebenswert erachtet wird. Die Bemühung des Ratsuchenden, sich an dieser Stelle ins Gespräch einzubringen und sich in der deutschen Sprache mitzuteilen, wird durch die überhebliche Reaktion des Beraters geschmälert. Herr Dieckmann fährt auf ähnlich infantilisierende Weise mit seinen Erläuterungen fort, indem er – vermutlich um sich ›leicht verständlich‹ auszudrücken – das beabsichtigte Gespräch mit den Zivildienstleistenden Herrn Stefanovic gegenüber in direkter Rede antizipiert. Der vom Berater in dieser Beratung eingesetzte Kommunikationsstil lässt sich mit Hinnenkamp (1990) als »Foreigner Talk« bezeichnen. Hierbei handelt es sich um ein Gesprächsverhalten von deutschen Muttersprachlern mit Nicht-Muttersprachlern bzw. mit Migrant/-innen im Allgemeinen, unabhängig ihrer Deutschkenntnisse. Es ist, wie in den zitierten Passagen deutlich wird, vor allem durch vermeintliche Simplifizierungen in der Sprachstruktur gekennzeichnet, kann sich aber auch prosodisch durch lautes, sehr langsames oder betontes Sprechen äußern sowie zu unangemessenem Duzen führen. So fordert der Berater Frau Stefanovic etwa an einer Stelle des Gespräches auf, den Staubsauger zu bringen: »na nun hol mal hol mal hol mal frau frau stefanovic hol mal« (Z.1424). Auch übermäßiges Loben und Komplimente, die eine große Nähe zu Sprechweisen mit kleinen Kindern aufweisen, treten in diesem Zusammenhang auf. An der Beratung Stefanovic lässt sich zeigen, dass die Funktion dieses sprachlichen Handelns sehr häufig darin besteht, Nähe herzustellen, Kontakt zum Gesprächspartner aufzubauen und den sprachlichen Verständigungsprozess abzusichern. Es zeigt sich jedoch auch, dass es sich nicht um eine durchweg Erfolg versprechende Strategie handelt. Denn sie sendet gleichzeitig gegenläufige Signale, da sie mit einer negativen Erwartungshaltung dem Ratsuchenden gegenüber verbunden ist und diesen potenziell abwertet. Der Berater achtet den Ratsuchenden nicht als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe und vergrößert dadurch die Distanz zu ihm. Herr Dieckmann präsentiert sich insgesamt als dominant und überlegen. Er kann seine Dominanz unter anderem mittels ethnischer Differenzsetzungen, insbesondere der Betonung sprachlicher Differenz, durchsetzen und festigen.
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Das folgende Beispiel aus der Beratung Naderi zeigt ebenfalls, wie sich durch ethnische Bezugnahmen des Beraters die Distanz zur Ratsuchenden vergrößert und dies zur Folge hat, dass sich die Gesprächsatmosphäre anspannt. Es handelt sich daher um ein weiteres Dokument des ersten Typus, der »Belastung des Beziehungsaufbaus zwischen Berater und Ratsuchenden durch ethnische Differenzierungen«.
Ethnische Differenzierungen belasten die Gesprächsatmosphäre: Beratung Naderi In diesem Fall setzt sich die Ratsuchende weit vehementer als Herr Stefanovic gegen Defizitzuschreibungen zur Wehr. Das Gespräch findet zwischen dem Berater Herrn Dieckmann (DI), der 77-jährigen Frau Naderi (NA), dem Leiter des bei ihr tätigen Pflegedienstes Herrn Hamedi (HM) sowie der Nachbarin Frau Naderis namens Zahra (ZH) statt. Herr Hamedi und Zahra sind, wie die Ratsuchende auch, afghanischer Herkunft. Beide übersetzen ihr das Gespräch. Der Ausschnitt, der hier näher betrachtet werden soll, ereignet sich zum Ende der Beratung, nachdem alle inhaltlichen Anliegen besprochen wurden. Es schließt sich eine Unterhaltung an, die hauptsächlich vom Berater angestoßen wird und in der die Vergangenheit Frau Naderis in Afghanistan im Zentrum steht. Jedoch kommt es kaum zu einer persönlichen Unterhaltung zwischen dem Berater und der Ratsuchenden. Beide reden vielmehr aneinander vorbei, da die Perspektiven, die sie jeweils in dieser Unterhaltung einnehmen, kollidieren. Während Frau Naderi eine sehr emotionale, von ihrer Leidensgeschichte geprägte Facette in Bezug auf ihr Herkunftsland, aus dem sie fünf Jahre zuvor einwanderte, anspricht, scheint sich der Berater lediglich für schlichte Fakten aus dem Leben der Ratsuchenden zu interessieren. [Naderi, Z.710-734]
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Frau Naderi thematisiert ihr Herkunftsland Afghanistan aus einer emotionalen Perspektive heraus, indem sie das dort herrschende Leid anspricht. Es fällt auf, dass sie ihren Wunsch nach Frieden auf Deutschland (»hier«, Z.712), nicht etwa auf Afghanistan bezieht. Die Rede über ihr Herkunftsland – so bestätigt sich auch in der Folge des Gespräches – löst bei ihr sehr heftige, von Verlust gezeichnete Erinnerungen aus, die sie an dieser Stelle des Gespräches andeutet. Herrn Dieckmann wird diese Aussage Frau Naderis nicht übersetzt. Auch er spricht sie jedoch an dieser Stelle auf ihre Herkunft an. Er formuliert ein Interesse an dem Herkunftsort Frau Naderis. Wie im weiteren Verlauf deutlich wird, scheint dieses Interesse vorrangig ein geographisches zu sein (»wo ist buchara?«, Z.729 sowie »das war ja die sowjetunion damals nä?«, Z.733). Seine Nachfragen auf Frau Naderis Erläuterung zu ihrer und der Herkunft ihres Vaters, die ihm allerdings nur unvollständig übersetzt wird, beziehen sich weder auf sie persönlich, noch wendet er sich überhaupt erkennbar an sie. Die Passage setzt sich fort, indem Herr Dieckmann ein neues Thema anschneidet und zwar die Schulbildung Frau Naderis, an der er ebenfalls ein vorrangig informatives Interesse zu haben scheint. Er formuliert seine Frage in Form einer Feststellung, durch die Frau Naderi in eine Verteidigungssituation gerät: [Naderi, Z.735-806]
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Augenfällig an dieser Passage ist, dass Frau Naderi sich durch das sprachliche Handeln des Beraters aufgefordert fühlt, sich zu rechtfertigen, weshalb sie keine Schule besucht hat. Durch den feststellenden Charakter seiner Äußerung »sie haben keine schule besucht frau naderi« (Z.735) setzt er die Ratsuchende unter Begründungszwang. Sein Einspruch, es habe »aber immer große ähm ähm universitäten« (Z.746) gegeben, mit dem er die Erklärung Frau Naderis, die ihm übersetzt wird, sie habe deshalb keine Schule besucht, da es zu ihrer Zeit nicht viele Schulen gegeben habe, unglaubwürdig erscheinen lässt, spitzt diese Begründungsnotwendigkeit zu einem Rechtfertigungsdruck zu. Denn der Berater signalisiert ihr hier, dass er ihre Erklärung nicht als solche akzeptiert und dass er es obendrein besser zu wissen scheint als sie selbst. Dabei entwirft er einen verhältnismäßig starken Kontrast zwischen »keine Schulen« einerseits und »große Universitäten« andererseits. In einer Mischung aus Begründung, Rechtfertigung und Verteidigung führt Frau Naderi eine Reihe an Argumenten ins Feld, um sich gegen Herrn Dieckmanns Kommentare zur Wehr zu setzen. In ihrem Spektrum an Argumenten baut sie eine Steigerung auf von zunächst dem infrastrukturellen Grund, den sie vormals bereits nannte und auf dem sie hier beharrt, dass nämlich gute Schulen zu ihrer Zeit kaum vorhanden gewesen
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seien (Z.752f.), über Entschärfungsversuche des möglichen Eindrucks, sie würde über keinerlei Schulbildung verfügen, denn stattdessen hätten ihre Kinder studiert und auch sie habe immerhin drei Jahre lang gelernt (Z.757f.), bis zu dem familiären Grund der Kinderbetreuung, die ihr keine Zeit für Schulbesuche ließ (Z.745 und Z.763). Darüber hinaus relativiert sie auf sehr eindringliche Weise die Bedeutung von Schule an sich, indem sie kriegsbedingte, also nicht selbstverschuldete Schicksalsschläge anführt. So sei für sie als Opfer von Bomben und durch den Verlust zweier Söhne (»ich habe viele schlimme tage erlebt ein sohn von mir ist als märtyrer gefallen mein anderer sohn ist verschollen wie konnte ich zur schule gehen«, Z.775-777) kaum an Schulbesuche zu denken gewesen. Vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Leidensgeschichte stellt sie den Schulbesuch als unwichtig und belanglos, ja absurd dar. Aus ihrem sehr emotionalen Plädoyer heraus, in dem sie ihren fehlenden Schulbesuch sogar in Verbindung bringt mit dem Verlust ihrer Söhne, der sich allerdings zu einer Zeit ereignet haben dürfte, in der sie selbst bereits nicht mehr im schulpflichtigen Alter war, wird deutlich, dass ihr persönliches Schicksal für sie in den Vordergrund der Unterhaltung rückt. Dafür, dass Herr Dieckmann darauf an keiner Stelle eingeht, stattdessen auf seiner Frage nach dem Schulbesuch beharrt und nachhakt »ich meine jetzt als kind als mädchen als […] junge (-) frau« (Z.783) sind offensichtlich mehrere Faktoren mitverantwortlich. So ist sein Verhalten teilweise sicherlich den selektiven, d.h. wesentliche Aspekte auslassenden, ungenauen und stark vereinfachenden Übersetzungen des Pflegedienstleiters Herrn Hamedi geschuldet. Dieser übersetzt beispielsweise die eben zitierte gefühlsbetonte Aussage Frau Naderis über ihre Söhne eher lapidar mit »die söhne sind gefallen und wie könnte sie dann (-) lernen« (Z.778f.). Gleichwohl hätte der Berater an manchen Stellen eine umfangreichere Übersetzung einfordern können, was er allerdings nicht tut. Auch reagiert er nicht direkt auf die Aspekte, die er erfährt. Offenbar liegt es an dieser Stelle nicht in seinem Interesse, über die persönlichen Erfahrungen Frau Naderis zu sprechen. Die Betrachtung dieser Passage aus der Beratung Naderi zeigt, dass der Bezug auf ethnische Differenz, hier die Thematisierung des Lebens der Ratsuchenden im Herkunftsland, mit der Intention, über die Beratungsinhalte hinweg Konversation zu betreiben, eine negative Atmosphäre produziert und keinen gelösten, sondern einen eher angespannten Beratungsabschluss bewirkt. Denn die Art und Weise, in der über das Thema gesprochen wird, setzen die Rat suchende Migrantin unter Rechtfertigungsdruck, rufen Gegenwehr hervor und führen zudem dazu, ihre mit diesem Herkunftsland verbundene Leidensgeschichte in Erinnerung zu rufen. Ausschlaggebend für das ›Aneinandervorbeireden‹ von Berater und Ratsuchender ist hier, dass der Berater kein ernsthaftes Interesse an seiner Gesprächspartnerin zeigt, denn er scheint wenig motiviert, auf die Ratsuchende und die für sie relevanten Themen einzugehen. Zudem erweisen sich die Übersetzungen des Pflegedienstleiters und der Nachbarin nicht als förderlich. Dass die
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dolmetschende Person den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Berater und Ratsuchenden erschweren kann, verdeutlicht auch die folgende Passage.
Die dolmetschende Person als ›Beziehungsverhinderer‹: Beratung Alimov In der Beratung Alimov spielt die dolmetschende Pflegedienstleiterin Frau Bauer (BR) die ausschlaggebende Rolle bezüglich des Gelingens des Kontaktaufbaus zwischen dem Berater Herrn Dieckmann (DI) und dem Ratsuchenden Herrn Alimov (AL). Herr Alimov, fünf Monate vor dem Beratungsgespräch aus Russland eingewandert, verfügt über nur wenige Deutschkenntnisse. Die Übersetzungsleistungen von Frau Bauer, die ebenfalls aus Russland stammt, stellen daher das fundamentale Bindeglied im Kommunikationsprozess zwischen Herrn Dieckmann und ihm dar. In der folgenden Passage, die sich im ersten Drittel des Beratungsgespräches ereignet, versucht der Berater eine Unterhaltung mit dem bislang kaum ins Gespräch involvierten Ratsuchenden zu initiieren und unterbricht zu diesem Zweck die Bearbeitung der Beratungsinhalte. [Alimov, Z.153-169]
Mit seiner Äußerung »sie sind jetzt hier in deutschland willkommen« (Z.153f.), mit der der Berater seine Unterhaltung einleitet, akzentuiert er eine herkunftsbezogene Unterscheidung zwischen sich und dem Ratsuchenden. Seine gewählte Formulierung – der Berater, als Angehöriger der deutschen Mehrheitsgesellschaft, begreift sich hier als in der Position stehend, ihn, den Migranten Herrn Alimov, in Deutschland willkommen zu heißen – scheint für ihn eine wohlwollend gemeinte Weise zu sein, dem erst vor kurzem eingewanderten Herrn Alimov zu signalisieren, er sei – zumindest aus Sicht des Beraters – in Deutschland gern gesehen. Durch die Alternativen, die der Berater dem Ratsuchenden in seiner Frage nach dessen Herkunft anbietet, will er diesem angesichts vermuteter Verstehensschwierigkeiten offenbar das Antworten er-
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leichtern. Die Pflegedienstleiterin reduziert Herrn Dieckmanns bemüht entgegenkommend formulierte Frage jedoch auf die deutlich zweckorientierte Übersetzung »откуда вы приехали?« (deutsch: wo kommen sie her?, Z.157f.). Der Berater will offensichtlich mit Herrn Alimov über dessen Herkunftsstadt ins Gespräch kommen (»ACH ja ja schön […] hat sich auch viel getan in der letzten zeit nicht?«, Z.160f.). Doch von diesem Interesse erfährt der Ratsuchende nicht viel. Abermals übersetzt Frau Bauer lediglich den Sachverhalt der Äußerung und lässt jegliche Ausschmückungen beiseite. An anderen Stellen des Gespräches – wie in der folgenden Passage – nimmt sie sich sogar das Recht heraus, einige Fragen des Beraters gar nicht an Herrn Alimov zu übermitteln, sondern stellvertretend für ihn zu antworten. [Alimov, Z.133-137]
Herr Dieckmann gibt sich hier mit der Auskunft der Pflegedienstleitung zufrieden. Er beharrt nicht darauf, dass Herr Alimov ihm selbst antwortet. Auch Herr Alimov ist in dieser Passage, wie in dem Beratungsgespräch insgesamt, kommunikativ sehr passiv. Er überlässt der Pflegedienstleiterin die Gesprächsführung und fordert seinerseits keine Übersetzungen des deutschsprachigen Dialogs zwischen ihr und dem Berater ein. Für den Berater entsteht insgesamt eine ambivalente Kommunikationssituation. An wen soll er sich wenden? Die Verständigung mit der Pflegedienstleiterin ist einerseits sehr viel einfacher, funktioniert schneller und ohne Verstehensschwierigkeiten. Da diese ohnehin die Gesprächsführung für Herrn Alimov übernommen hat, liegt es zudem nahe, in erster Linie mit ihr zu sprechen. Andererseits hat Herr Dieckmann den Anspruch, den Ratsuchenden ins Gespräch einzubinden und mit ihm direkt zu kommunizieren. Die Entscheidung des Beraters, die Ambivalenz zu lösen, indem er seine Versuche der direkten Anrede Herrn Alimovs zugunsten der Kommunikation mit der Pflegedienstleiterin aufgibt, zeigt sich kurze Zeit später, als es um das Lernen des Umgangs mit deutschem Geld geht. [Alimov, Z. 318-344]
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In dieser Passage zeigt Herr Dieckmann anhand einer Erzählung, dass ihm die berichteten Erfahrungen einer anderen Russin zu einem Sichtwechsel verholfen hätten. Die Anfangshürden von neu Eingewanderten, die nur über wenige Deutschkenntnisse verfügen und mit dem »system hier« (Z.341) noch nicht ausreichend vertraut sind, scheinen ihm dadurch nachvollziehbar (»siehste DAS sind die schwierigkeiten«, Z.335). Seine humorvoll vorgebrachte, von Empathie und Verständnis getragene Erzählung wird für Herrn Alimov allerdings nicht transparent. Die zum Ausdruck gebrachte Anteilnahme erreicht den Ratsuchenden nicht; sie ist nicht einmal an ihn adressiert. Maßgeblich für die hier vorliegende Kommunikation über statt mit dem Ratsuchenden ist jetzt nicht mehr allein die fehlende Übersetzung Frau Bauers. Der Berater ist zunächst nicht eindeutig in der Wahl seines Gesprächsadressaten. Zwar setzt er zu einem Gespräch mit der Pflegedienstleitung über Herrn Alimov an (»er muss viel hier lernen«, Z.318), scheint jedoch kurz in Erwägung zu ziehen, ein Gespräch mit ihm zu führen (»nicht herr äh«, Z.318), bricht diesen Versuch dann allerdings ab. Seine Ausführungen sind nun nicht mehr an Herrn Alimov gerichtet. Was nützt die empathische Haltung des Beraters im Hinblick auf die Herstellung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung, wenn der Ratsuchende hiervon keine Kenntnis erhält? Sie trägt sicherlich nicht dazu bei, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, in der der Ratsuchende einen um Verstehen bemühten, ihn wertschätzenden Berater erlebt. Immerhin kann diese Haltung des Beraters aber den Beratungsverlauf insofern positiv unterstützen, da sie sein Handeln vermutlich leitet und sich auf die Bearbeitung der Probleme förderlich auswirkt. In dieser Beratung präsentiert sich Herr Dieckmann betont hilfeorientiert, allerdings – so wird sich an späterer Stelle noch zeigen – gerät dabei die individuelle Ausrichtung der Hilfen bisweilen ins Hintertreffen (vgl. hierzu Kapitel 6.3.1). Anhand der Passagen aus der Beratung Alimov dokumentiert sich, wie schwierig und auch wie fragil der Kontaktaufbau in Beratungssituationen ist, in
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denen die unmittelbare Kommunikation zwischen Berater und Ratsuchenden nicht gesichert und eine dolmetschende Person dazwischen geschaltet ist. Ist diese Person wie im vorliegenden Fall keine professionelle Dolmetscherin, so ist sie möglicherweise schon aus diesem Grund nicht für systematische Übersetzungsleistungen geeignet. Zu rechnen ist obendrein damit, dass diese Person, wenn sie nicht zum Zweck des Dolmetschens an dem Gespräch beteiligt ist, eigene Interessen verfolgt, weil sie wie hier Vertreterin eines privat-gewerblichen Pflegedienstes ist. Sie ist deshalb unter Umständen nicht auf ›Smalltalk‹ eingestellt, sondern will vorrangig ihrem sachlichen Anliegen nachgehen und nicht mehr als zwingend nötig dolmetschen. Es scheint, als müssten Berater und Ratsuchender, sofern sie am Kontaktaufbau interessiert sind, beide erheblich höheres Engagement aufbringen und sehr viel beharrlicher Übersetzungsleistungen einfordern, als es in dieser Beratung der Fall ist. Das folgende Beispiel, die Beratung Goldmann, in der sprachliche Verständigungsschwierigkeiten nicht ähnlich vordergründig sind, ist streng genommen kein Dokument für den in diesem Abschnitt darzustellenden Typus der »Belastung des Beziehungsaufbaus zwischen Berater und Ratsuchenden durch ethnische Differenzierungen«. Es trägt jedoch als Gegenhorizont ganz wesentlich zu dessen Konturierung bei. Die ethnischen Differenzierungen, die hier im Kontext der Beziehungsgestaltung vorgenommen werden, unterstützen den Aufbau eines sehr engen Berater-Ratsuchenden-Verhältnisses, so dass trotz des asymmetrischen Rahmens der Beratung von einer symmetrischen Beziehungskonstellation gesprochen werden kann. Das Gespräch stellt diesbezüglich einen Sonderfall gegenüber den bislang angeführten Dokumenten dar, der vor allem aufgrund der Präsenz ethnischer Differenzierungen bei der Beziehungsgestaltung zwischen Berater und Ratsuchenden aufschlussreich ist.
Die Herstellung einer symmetrischen Beziehung zwischen Berater und Ratsuchenden: Beratung Goldmann Das Gespräch führt Herr Dieckmann (DI) mit der zirka drei Jahre zuvor aus der Ukraine eingewanderten 75-jährigen Frau Goldmann (FG) und ihrem 73-jährigen Ehemann (HG). Aus einer früheren Beratung sind Berater und Ratsuchende einander bereits bekannt. Anlass des Gespräches ist die Überprüfung des bisherigen Hilfebedarfs des Ehepaares. Die Leiterin des Pflegedienstes, der bei den Goldmanns tätig ist, Frau Hoffmann (HO), ist ebenfalls zugegen. Sie hat einen polnischen Migrationshintergrund. Das Gespräch wird auf Deutsch geführt. Frau Goldmann verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse; es kommt daher kaum zu sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten. Bei diesem Beratungsgespräch lohnt ein Blick auf die Gesamtstruktur, denn es zeichnet sich durch eine Besonderheit gegenüber allen anderen Gesprächen des Materials aus. Die Beziehung, die sich hier vor allem zwischen dem Berater und Frau Goldmann entwickelt, geht über die Herstellung einer
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tragfähigen Arbeitsbeziehung weit hinaus. Über die Hälfte der ca. 42-minütigen Gesprächsdauer wird mit Unterhaltungen jenseits der Beratungsinhalte zugebracht und diese gestalten sich vornehmlich auf der Grundlage ethnischer Differenzierungen. Im Vordergrund dabei stehen thematisch das Herkunftsland des Ehepaares, auch im Vergleich zu Deutschland, sowie dessen Deutschkenntnisse. Diese beiden Themen ziehen sich durch das gesamte Gespräch. Insbesondere Frau Goldmann beruft sich immer wieder auf herkunftsbezogene Unterscheidungen. Kern des Gespräches und auch von der Gesprächsstruktur im Zentrum stehend ist die Erzählung der Ehefrau über das Berufsleben des Ehepaares als Geschichtslehrer in der Ukraine. Diese Passage nimmt über ein Drittel des Gespräches ein. Die ›eigentlichen‹ Beratungsinhalte werden sowohl gesprächsstrukturell als auch von ihrem inhaltlichen Stellenwert her zu einem Randthema. Sie umfassen weit weniger als die Hälfte der Gesprächszeit. Um die Entwicklung dieses Gespräches zu dokumentieren, sollen einige Passagen näher betrachtet werden, in denen sich der Einsatz von Ethnisierungen sehr ausgeprägt zeigt. Auftakt der eben erwähnten längeren Erzählpassage über das Berufsleben des Ehepaares ist die Thematisierung der eigenen Deutschkenntnisse seitens der Ratsuchenden. Sie stellt sich diesbezüglich selbstbewusst dar. [Goldmann, Z.501-515]
Indem Frau Goldmann betont, sie lese immer deutsche Bücher, scheint sie sich bezüglich ihrer Deutschkenntnisse ein wenig profilieren zu wollen. An einer anderen, dieser vorangehenden Stelle spricht sie sogar davon, »deutsche dicke bücher« (Z.316f.) zu lesen. Es hat den Anschein, als wolle sie mit dieser Bemerkung ein Kompliment ihrer Gesprächspartner erwirken. So zumindest fasst es offenbar der Berater auf, denn er reagiert mit einem sehr überschwänglichen und mit Nachdruck vorgebrachten Lob ihres Deutschlernprozesses. Herr Dieckmann verknüpft das Deutschlernen mit der Frage nach ihrem Beruf. Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem erfolgreichen Erlernen der deutschen Sprache und dem akademischen Beruf des Ehepaares.
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[Goldmann, Z.583-600]
In der »wunderbare[n] vorbildung« also liege laut Herrn Dieckmann der Grund für das schnelle Erlernen eines »gute[n] deutsch«. Sein ohnehin bereits sehr ausgeprägtes Lob Frau Goldmann gegenüber intensiviert der Berater hier noch zusätzlich, indem er einen Vergleich Frau Goldmanns mit Migrant/-innen aus der Türkei aufstellt. Herr Dieckmann bedient sich einer verallgemeinernden Aussage über türkische Migrant/-innen als negativen Gegenhorizont, um die ›ukrainische‹ Migrantin aufzuwerten. Zwar vergleicht er hier nicht – zumindest nicht explizit – Türken und Ukrainer, denn sein Argument zuvor bezog sich auf den Bildungsstand des Ehepaares, nicht etwa auf dessen Herkunft. Dennoch baut sein Vergleich auf einer Verknüpfung von Bildung und ethnischer Herkunft auf. Er unterstellt einem bestimmten Teil türkischer Migrant/-innen, und zwar jenen, die »aus einem kleinen dorf« in der Türkei stammen und seit dreißig Jahren in Deutschland leben, also bedeutend länger als die Goldmanns, die vor zirka drei Jahren kamen, nicht über eine entsprechende Vorbildung zu verfügen, um auch nach sehr langem Aufenthalt Deutsch gelernt zu haben. Während Frau Goldmanns gute Vorbildung Herrn Dieckmann zufolge ihr »gutes deutsch« begründe, scheint ihm im Umkehrschluss eine mögliche mangelnde Vorbildung der von ihm angesprochenen türkischen Migrant/-innen allerdings kein plausibler Grund für deren vermeintlich fehlenden Deutschkenntnisse zu sein. Stattdessen wertet er deren angebliches Nichtlernen massiv ab. Dazu setzt er eine Übertreibung ein, denn er kontrastiert eine extrem lange Aufenthaltsdauer von 30 Jahren mit dem Fehlen jeglicher Deutschkenntnisse (»KEIN EINziges Wort«, Z.589). Frau Goldmann spitzt die ethnisierende Argumentation des Beraters weiter zu. Zum einen stimmt sie seiner Wertung in Bezug auf türkische Migrant/-innen durch ihren Kommentar, dass »das« eine Schande sei, zu (Z.592). Zum
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anderen bringt sie ein neues Argument ins Spiel. Sie sieht ihre Erfolge im Deutschlernen nicht etwa in ihrer Vorbildung, sondern in persönlichen Eigenschaften begründet. So seien es ihre »REgung« (Z.586), ihre Emotionalität und schließlich ihr Fleiß, die sie so weit brachten. Mit ihrem Appell, man müsse fleißig sein (Z.593), spricht sie, wenngleich nur indirekt, den türkischen Migrant/-innen, von denen hier die Rede ist, ab, dies zu sein. Sie trägt so dazu bei, sich selbst aufzuwerten sowie die vom Berater stigmatisierten türkischen Migrant/-innen abzuwerten. Herr Dieckmann folgt Frau Goldmanns zusätzlichem Argument und nutzt es für eine weitere Schmeichelei: »ja ja sicher ja ja ja und das das sind sie ganz besonders« (Z.594f. und Z.597). Aus ethnisierungstheoretischer Perspektive könnte man sagen, dass sich hier die Reziprozität der Beziehung zwischen Berater und Ratsuchender ganz entscheidend mittels einer Funktionalisierung von Ethnizität konstituiert und festigt. Die Bezugnahme auf Migrant/-innen aus der Türkei wird zum Zweck der Aufwertung der Ratsuchenden eingesetzt und ist Anlass, Einklang untereinander zu demonstrieren. Das Eingreifen der Pflegedienstleitung ist in diesem Zusammenhang wenig erfolgreich. Ihre vehemente Zurückweisung der geäußerten ethnischen Pauschalisierung und ihr Plädoyer für eine ›rationale‹ Erklärung, denn die Goldmanns hätten als Lehrer ihr »gehirn also ihr ganzes leben sozusagen trainiert« (Z.598f.), werden kaum registriert. Die hier angesprochene Bereitschaft alter Migrant/-innen, Deutsch zu lernen und ihre Verknüpfung mit deren Bildungsstand erweist sich als ein wiederkehrendes Thema im Kontext der Beziehungsgestaltung. Nicht immer jedoch ist diese Verknüpfung mit einem Lob seitens der Berater/-innen verknüpft und nimmt dadurch auf positive Weise Einfluss auf das Berater-Ratsuchenden-Verhältnis. Sie kann auch mit einer hohen Erwartungshaltung einhergehen und dann die Beziehung belasten. Eine besonders drastische Aussage der Beraterin Frau Carstens (CA) aus der Beratung Bujanov bringt diese Tendenz auf den Punkt: [Bujanov, Z.567-569]
Nicht ganz so deutlich zeigt sich diese Haltung der Beraterin in der Beratung Kleeberg. Als Frau Carstens in diesem Gespräch auf ihre Frage nach der Ausbildung der aus Russland stammenden 73-jährigen Ratsuchenden Frau Kleeberg (KL) hin erfährt, dass diese ein Fremdspracheninstitut besucht und dort spanisch und französisch studiert habe, schätzt sie deren Erfolgsaussichten bezüglich des Deutschlernens positiv ein:
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[Kleeberg, Z.66-73]
Frau Carstens Einschätzung des Lernvermögens von Frau Kleeberg scheint hier vorrangig ermutigend zu verstehen zu sein. In dieser Ermutigung schwingt zugleich eine hohe Erwartungshaltung mit. Erwartet werden können von Frau Kleeberg aufgrund ihrer Sprachlerngewohnheit zukünftig gute Deutschkenntnisse. An Frau Kleebergs Reaktion »man muss lernen« wird erkennbar, dass auch sie das Deutschlernen mit Erwartungen verbindet. Erwartet werden kann von ihr die Lernbereitschaft. Diese begreift sie sogar als Verpflichtung. Beachtenswert in diesem Kontext ist ergänzend eine Passage zum Ende der Beratung, in der Frau Kleeberg Grenzen ihres Deutschlernens einräumt: [Kleeberg, Z.389-399]
Frau Kleeberg bringt an dieser Stelle zum Ausdruck, dass sie aufgrund ihres Alters an sich selbst keine allzu großen Erwartungen hinsichtlich Deutschlernerfolgen anlegt. Diese Bemerkung lässt Frau Carstens nicht unkommentiert. Es ist nicht auszuschließen, dass in ihrem Bezug auf ihr eigenes Alter und eigene Anstrengungen »neues« aufzunehmen abermals die beiden Komponenten Ermutigung und Erwartungshaltung enthalten sind. Einerseits signalisiert sie Frau Kleeberg mit ihrer Äußerung, dass man nie zu alt zum Lernen sei und sich, auch wenn es ein wenig länger dauere, nicht entmutigen lassen sollte. Möglich ist andererseits jedoch auch, dass sie Frau Kleebergs Kommentar als Ausrede interpretiert und diese nicht gelten lässt. Demnach sei Alter keine Entschuldigung. Auch von älteren Menschen könne erwartet werden, »neues« aufzunehmen und zu lernen. In der Beratung Goldmann ist die Reaktionsweise des Beraters in Bezug auf das Deutschlernen der Ratsuchenden eine eindeutig lobende und nicht mit Er-
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wartungshaltungen verbunden. Allerdings zeigt sich die Ratsuchende hier auch ungebrochen motiviert, an ihren Deutschkenntnissen zu arbeiten. Die Symmetrie der Beziehung zwischen Herrn Dieckmann und Frau Goldmann stellt sich über das bisher erwähnte hinaus noch durch weitere, auf ethnischen Differenzierungen beruhende Handlungsweisen her. Beide beziehen auch das Einwanderungsland Deutschland thematisch in ihre Unterhaltung mit ein: [Goldmann, Z.675-689]
In dieser Passage wählt Frau Goldmann als Reaktion auf Herrn Dieckmanns vermutlich rhetorische Frage »aber frau goldmann hier ist das gut oder nicht gut« (Z.675) eine sehr ausgeprägte Form des Ausdrucks von Zufriedenheit und Dankbarkeit gegenüber Deutschland. Dabei distanziert sie sich sogar von ihren eigenen »leuten«, mit Ausnahme ihres Ehemannes, den sie hier humorvoll als »jungen mann« bezeichnet (Z.680). Sie spricht vor allem von denjenigen, die sich schlecht über Deutschland äußern, was schon aus Gründen der Dankbarkeit diesem Land gegenüber für sie nicht tragbar zu sein scheint (»ich bin sehr äh böse«, Z.683). Im weiteren Verlauf der Unterhaltung, in der die Ratsuchende über die früheren beengten Wohnverhältnisse ihrer Eltern in der Ukraine berichtet, zieht Herr Dieckmann einen Vergleich zur Wohnsituation der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und versucht auf diesem Weg, der Ratsuchenden sein Verständnis bezüglich der von ihr angesprochenen ärmlichen Verhältnisse zu signalisieren. Dabei geht er auch auf seine eigene Familie ein. [Goldmann, Z.717-733]
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Der Analogieschluss, den der Berater hier zwischen den Wohnverhältnissen in der Ukraine und in Deutschland zieht, wäre beratungsmethodisch als grenzwertig zu bezeichnen, da er die Ratsuchende nicht in der von ihr zuvor zum Ausdruck gebrachten eigenen familiären Lage entsprechend würdigt. Mittels des Entgegenhaltens einer eigenen Erzählung bagatellisiert er diese stattdessen. Ein solcher Ebenenwechsel des Beraters von der Lebenswelt der Ratsuchenden zur eigenen ist insofern im Hinblick auf die Tragfähigkeit der Beziehung eine Gratwanderung. Hier jedoch scheint sich das Verhalten des Beraters nicht negativ auszuwirken. Der Berater hebt Gemeinsamkeiten hervor, und zwar sowohl auf einer allgemeinen Ebene zwischen den Angehörigen beider Länder (»es ist verständlich für deutsche«, Z.719) als auch auf einer persönlichen Ebene zwischen Frau Goldmanns und seiner Wohnsituation in der Kindheit. Die Symmetrie der Beziehung drückt sich vor allem darin aus, dass der Berater sich als gleichrangig im Einbringen der Themen betrachtet und dabei auch private Aspekte ins Feld führt. Ins Auge sticht seine infantile Ausdrucksweise »mein papa und meine mama« (Z.732), mit der er – sich in seine Kindheit hineinversetzend – gleichsam die Erwachsenenebene verlässt. Die unterschiedlichen Rollen der beiden im Hinblick auf den Rahmen des Gespräches, Berater einerseits und Ratsuchende andererseits, sind nicht mehr erkennbar. Entgegen des in der Beratungstheorie beschriebenen Postulats, Beziehungsgestaltung auf das Maß zu reduzieren, das für die Erreichung der Beratungsziele notwendig ist (vgl. einleitend zu Kapitel 6), gehen die Unterhaltungen, die in dieser Beratung geführt werden, weit darüber hinaus. Die zitierten Passagen zeigen, dass der Aufbau einer förderlichen, sogar partiell symmetrischen Beziehung zwischen Berater und Ratsuchender vor allem deshalb gelingt, weil die Kommunikation in der deutschen Sprache ohne Verständigungsschwierigkeiten möglich ist und beide sich respektvoll und aneinander interessiert begegnen. Der Berater präsentiert sich hier, anders als in der Beratung Stefanovic, nicht als dominant und herabsetzend. Im Gegensatz zu seiner Verhaltensweise in der Beratung Naderi zeigt er sich zudem aufrichtig interessiert an dem Leben der Ratsuchenden in ihrem Herkunftsland und geht auf ihre Erzählungen zumeist inhaltlich ein. Er äußert Lob und Komplimente auf Augenhöhe, nicht überheblich oder infantilisierend, wenngleich in übertriebener Intensität. Die Ratsuchende wiederum ist im Gegensatz zu den Ratsuchenden der vorher betrachteten Passagen in einer
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privilegierten Position, da sie über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt und davon auch Gebrauch macht, um selbstbewusst das Rederecht einzufordern. Eine Besonderheit hier ist ferner, dass die Berufungen auf herkunftsbezogene Differenz mehrheitlich von ihr ausgehen. Sie ist diesbezüglich die Akteurin, die die Thematisierung ihrer Herkunft und damit verbundener Faktoren steuert. Mit den bisher dargestellten Gesprächspassagen werden zwei Wirkungsweisen ethnischer Bezugnahmen auf der Beziehungsebene von Beratung erkennbar. Ethnische Differenzsetzungen stellen sich zum einen als ein Mittel heraus, das – wie in der Beratung Goldmann – die Beziehung positiv zu beeinflussen scheint und ihre Gestaltung insofern unterstützt. Zum anderen erweisen sie sich diesbezüglich auch als hinderlich, da sie – wie in den Beratungen Stefanovic und Naderi – den Beziehungsaufbau stören oder sogar vereiteln. Gerade Letzteres stellt sich insgesamt als typisch auf der Ebene der Berater-Ratsuchenden-Beziehung heraus. Um diesen Typus von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen näher zu charakterisieren, ist es von einiger Relevanz, Beratungskonstellationen einzubeziehen, in denen neben Berater und Ratsuchenden weitere Personen, wie Pflegedienstmitarbeiter/-innen oder Dolmetscher/-innen, partizipieren, die mit dem Ratsuchenden eine Herkunftssprache teilen. Die Beratung Alimov zeigte bereits, dass auch diese Konstellationen hinderlich auf die Berater-Ratsuchenden-Beziehung wirken können. Die folgenden Dokumente sollen darüber differenzierteren Aufschluss liefern.
6.1.2 Der Rekurs auf ethnische Zugehörigkeit zwischen Gesprächsbeteiligten gleicher Herkunft Aus ethnisierungstheoretischer Sicht erstaunt es kaum, dass der Bezug auf ethnische Differenz, genauer auf eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit, zwischen Beratungsteilnehmer/-innen gleicher Herkunft auf deren Beziehungsgestaltung anders, und zwar in der Regel förderlicher, wirkt als zwischen Beteiligten, die nicht die Herkunft teilen. Der Aufbau einer Beziehung muss hier nicht vor dem Hintergrund von Selbst- und Fremdzuschreibungen bewerkstelligt werden, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Ethnische Bezugnahmen bewegen sich stattdessen vielmehr in einem Kontext von Selbstidentifikationen und Selbstzuschreibungen der Akteure (vgl. Kapitel 4.2). Auch scheint es wenig zu überraschen, dass in der Herkunftssprache, insbesondere für die Ratsuchenden, für die es sich hierbei durchweg um ihre Muttersprache handelt, vertraute Kommunikation eher möglich ist, als in der später erlernten deutschen Sprache, und dass insofern leichter eine enge Beziehung entstehen kann. In den Beratungen, in denen neben Deutsch auch in der Herkunftssprache kommuniziert wird, lässt sich erkennen, dass die jeweilige Sprache eine unterschiedliche Rolle im Gespräch einnimmt. Deutsch ist die Beratungssprache. Sie ist deshalb primär mit der Ebene der Inhalte verknüpft.
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In Deutsch werden die Beratungsinhalte meist sachlich und informationsorientiert verhandelt. Wohingegen sich die Herkunftssprache als die Sprache herausstellt, in der die Inhalte auch interpretiert, bewertet, kommentiert werden und in der die Kommunikation ungezwungener, umgangssprachlicher – mithin vertrauter – abläuft sowie private Themen jenseits der beratungsrelevanten Aspekte angesprochen werden. Gespräche in der Herkunftssprache enthalten daher Elemente von Alltagskommunikation. Neben der Vertrautheit der Herkunftssprache erleichtert auch das Evozieren des gemeinsamen Herkunftslandes, vor allem in Form eines positiven Gegenhorizontes zu Deutschland, die Herstellung von Nähe und von Beziehungen, in denen der Ratsuchende mehr Verständnis für seine Situation als vom Berater und Loyalität erwartet bzw. in denen das Vertrauen in Parteilichkeit größer ist. Auffallend im Hinblick auf die Beratungsinteraktion ist, dass das Vertrauen der Ratsuchenden in die beteiligten Personen gleicher Herkunft, auch wenn sie nicht in einem Verwandtschaftsverhältnis zu ihnen stehen, oftmals sogar so weit reicht, dass jene diesen Personen die Kommunikation mit dem Berater mehr oder weniger ganz überlassen und ihnen damit die Regelung der eigenen Belange anvertrauen. Sie geben dadurch einen Teil ihrer Selbstbestimmung in Bezug auf das in der Beratung besprochene persönliche Problem und dessen Lösung ab. Vor allem in behördlichen Altenberatungen, an denen Pflegedienstmitarbeiter/-innen partizipieren, ist dies beobachtbar. Gerade in diesen Konstellationen muss allerdings in Betracht gezogen werden, dass die Abgabe der Gesprächsführung durch Ratsuchende nicht allein Ausdruck von Vertrauen sein muss. Weitere Komponenten, vor allem Abhängigkeiten, treten hinzu und können weit ausschlaggebender sein. Geringe Deutschkenntnisse und eine aus dem Pflegeverhältnis heraus resultierende institutionelle Abhängigkeit versetzen die Ratsuchenden gegebenenfalls in eine Zwangssituation, in der für sie der Eindruck entsteht, über keine Alternative zu verfügen. Auch kann die der Pflegedienstleitung zugewiesene Fachlichkeit in Bezug auf pflegerische Fragen entscheidend sein, da diese möglicherweise als Vorteil für die Regelung der eigenen Belange im Beratungsgespräch erachtet wird. Die subjektiven Sichtweisen der Ratsuchenden sind im Rahmen der Studie nicht erfasst worden. Ihr oftmals passives kommunikatives Verhalten in Beratungskonstellationen dieser Art erschwert zudem, ihre Beziehung zu den Pflegedienstmitarbeiter/-innen im Einzelnen zu rekonstruieren. Obwohl in dem zur Verfügung stehenden Material keine Hinweise auf mangelndes Vertrauen zu erkennen sind, ist aus den eben genannten Gründen m.E. aber Zurückhaltung geboten im Hinblick auf die Einschätzung einer Ratsuchenden-Pflegedienstmitarbeiter-Beziehung als vertrauensvoll. Greifbarer ist das Geltendmachen geteilter ethnischer Zugehörigkeit im Kontext von Beziehungsgestaltung in Beratungsgesprächen der Altentagesstätte. Auf ihnen soll im Weiteren daher der Fokus liegen. Hier ist es die Dolmetscherin, also eine Vertreterin der Beratungsinstitution selbst, mit der Ratsuchende Ver-
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trauensbeziehungen eingehen. Das ist vor allem aus dem Grund bemerkenswert, weil sich dadurch die Position der Dolmetscherin im Gespräch verändert. Sie ist nicht mehr nur Sprachmittlerin; sie wird zur Vertrauensperson. Weisen Beratungsteilnehmer/-innen einer gemeinsamen ethnischen Zugehörigkeit interaktiv Bedeutung zu, so handelt es sich – mit Fredrik Barth (1969) gesprochen – um »Grenzziehungen«, die den Berater, der diese ethnische Zugehörigkeit nicht teilt, partiell vom Geschehen ausschließen. In den im Rahmen dieser Studie untersuchten Fällen, in denen die Berater/-innen nicht die Herkunftssprache der Ratsuchenden sprechen, bleibt jenen eine Ebene der Gesamtsituation verschlossen. Es bilden sich Beziehungen jenseits des Berater-Ratsuchenden-Verhältnisses, in denen die Ratsuchenden zwar eine Person gewinnen, der sie sich anvertrauen mögen. Diese Beziehungen können jedoch ihr Verhältnis zum Berater bzw. zur Beraterin belasten und den Beratungsverlauf zum Teil erheblich beeinträchtigen. Letzteres manifestiert sich vor allem dann, wenn sich die Beraterin, wie in der im Folgenden dargestellten Beratung Demirel, ausgeschlossen fühlt und sie den Eindruck gewinnt, ihr würden beratungsrelevante Informationen vorenthalten werden. Darüber hinaus zeigen die Beratungen Malik und Kolat, inwiefern ethnische Bezugnahmen, etwa zum Herkunftsland, die auf Türkisch geführten Unterhaltungen jenseits der Beratungsinhalte strukturieren.
Die Dolmetscherin als Verbündete: Beratung Demirel Die Beratung Demirel ist ein Dokument dafür, wie sich eine vertraute Umgangsweise zwischen der aus der Türkei stammenden Ratsuchenden Frau Demirel (DE) und der Dolmetscherin Fatma (FM) entwickelt und festigt. Anlass und zentrales Thema dieser Beratung ist die Bitte Frau Demirels an die Beraterin Frau Adam (AD), ihr bei der Suche nach einer kleineren Wohnung behilflich zu sein. Die vertrauensvolle Beziehung, die zwischen der Ratsuchenden und der Dolmetscherin entsteht, konstituiert sich vor allem über die türkische Sprache als das sie verbindende Element, das gegenseitige Verständigung erleichtert und das sie von der Beraterin, die dieser Sprache nicht mächtig ist, unterscheidet. Die Beziehung zwischen beiden festigt sich auch dadurch, dass die sprachliche Differenz zur Beraterin der Ratsuchenden ermöglicht, die Dolmetscherin bezüglich einiger beratungsrelevanter Informationen, die die Beraterin nicht erfahren soll, ins Vertrauen zu ziehen und diesbezüglich erfolgreich ihre Loyalität einzufordern. Bereits zu Beginn der Beratung deutet sich an, dass Frau Demirel und Fatma im Türkischen auf einer humorvollen Ebene Einklang demonstrieren, dem sich die Beraterin nicht ohne weiteres anschließen kann und offenbar auch nicht will. In der zitierten Passage reagiert Frau Demirel auf Frau Adams Erkundigung nach ihrem gesundheitlichen Befinden mit einer auf Türkisch vorgebrachten scherzhaften Bemerkung:
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[Demirel, Z.3104-3119]
Die Tatsache, dass Frau Demirel vom Deutschen ins Türkische wechselt, grenzt Frau Adam aus. Die Ratsuchende tut dies allem Anschein nach aber nicht in dieser Absicht. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie trotz Anwesenheit einer Dolmetscherin Deutsch spricht – soweit es ihr möglich ist –, um mit Frau Adam direkt zu kommunizieren. Sie gerät hier jedoch offensichtlich an ihre sprachlichen Grenzen im Deutschen und kann den beabsichtigten scherzhaften Vergleich der ärztlichen Behandlung mit einem Staubsauger besser auf Türkisch zum Ausdruck bringen. Auffallend ist an dieser Passage, dass Fatma und Frau Demirel eine ›sprachliche Einheit‹ bilden, denn sie ergänzen sich gegenseitig darin, die Beraterin zu informieren. Durch Fatmas Konkretisierung der Erkrankung Frau Demirels (»blasenentzündung«, Z.3106) wird dies besonders ersichtlich. Fatma kann zudem Frau Demirel trotz deren Sprachenwechsel ohne Umstände verstehen und unmittelbar auf die scherzhafte Bemerkung reagieren. Vor Lachen ist es beiden kaum möglich, Frau Adam auf ihr Nachfragen hin über den Grund ihres Lachens aufzuklären. Diese kontrastiert den Scherz mit dem Hinweis auf den Ernst der Lage (»oh das ist aber kein gutes zeichen«, Z.3119) und versachlicht dadurch die gelockerte Atmosphäre. Sie unterstreicht, dass es sich aus ihrer Sicht nicht um ein Thema handelt, mit dem zu spaßen ist. An einer anderen Stelle des Gespräches, wenig später, bringt sie ihren Unmut gegenüber ihren scherzenden Gesprächspartnerinnen explizit zum Ausdruck. In dieser Passage erkundigt sich die Beraterin danach, mit wie vielen Personen Frau Demirel derzeit in ihrer Wohnung zusammenlebt. [Demirel, Z.3224-3240]
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Fatma ergänzt hier Frau Demirels Information über die Erkrankung ihres Mannes mit einer Mutmaßung über dessen Lebensdauer. Das Verhältnis zwischen beiden ist offensichtlich so tragfähig, dass es einer drastischen Bemerkung dieser Art standhält. Frau Demirels Lachen bestätigt, dass der Scherz Fatmas ihr Verhältnis nicht belastet (Z.3231). Allein gegenüber der Beraterin, die sich dem Lachen nicht anschließt und stattdessen entsetzt reagiert, scheint Fatma sich zu einer Entschärfung verpflichtet zu fühlen. Sie versucht, ihre Aussage mittels einer Generalisierung, »alle werden sterben« (Z.3234), zu relativieren. Frau Adam hält den Scherzen der beiden Türkinnen eine ausgeprägte Sachorientierung entgegen (»jetzt mal ernsthaft gesprochen makabere witze beiseite«, Z.3239). Sie verweist auch in der Folge des Gespräches immer wieder auf die Ernsthaftigkeit der Situation und fordert beharrlich, zum Teil verärgert, Antworten ein auf Fragen, die sie für beratungsrelevant hält. Das Verhalten der Beraterin gründet unter anderem auf detaillierten Kenntnissen aus früheren Beratungsgesprächen über Frau Demirels schwierige Ehe. Die Frage nach dem Verhältnis Frau Demirels zu ihrem Mann stellt sich als Kernproblem dieses Gespräches heraus, das schließlich zu einem ›Aneinandervorbeireden‹ der Beteiligten führt, da die Ratsuchende diesbezüglich keine Transparenz herstellt. [Demirel, Z.3285-3313]
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Zwei konträre Vermutungen stehen hier im Raum. Während die Beraterin vermutet, Frau Demirel beabsichtige, ihren Mann zu verlassen, nimmt diese an, dass er in die Türkei gehen werde. Weder in dieser Passage noch in der Folge des Gespräches kommt es diesbezüglich zu einer Aufklärung. Denn Fatma auf der einen Seite geht auf den Hinweis Frau Demirels nicht näher ein und übersetzt ihn auch nicht für die Beraterin. Frau Demirel auf der anderen Seite hält sich an dieser Stelle vage, macht auch Fatma gegenüber lediglich Andeutungen und bringt das Thema ›Ehemann‹ zu einem Abschluss, indem sie auf Türkisch versichert, einen kranken Mann nicht zu verlassen und das Gespräch auf ihre hohe Miete lenkt. Die Übersetzung für die Beraterin reduziert sich auf diesen letzten Aspekt. Frau Adam scheint jedoch zu bemerken, dass Frau Demirel der Frage nach ihrem Mann ausweicht und gibt sich deshalb nicht zufrieden (»ja aber das ist jetzt keine antwort«, Z.3312f.). Während Frau Demirel im Weiteren Fatma mit zusätzlichen Informationen über ihren Ehemann ins Vertrauen zieht, die auch erklären könnten, weshalb sie eine neue Wohnung sucht, bleibt die Beraterin uninformiert. Die Ratsuchende konkretisiert auf Türkisch: [Demirel, Z.3354-3361]
Die Information, der Mann habe sich seinerseits eine Wohnung gemietet, steht im Kontrast zu Frau Adams Äußerung in dem vorangehenden Zitat, Frau Demirel könne ihren Mann ja nicht »alleine irgendwie obdachlos lassen« (Z.3290). An einer anderen Stelle bemerkt die Beraterin zudem, der Mann sei, wenn er so schwer krank sei, »ja gar nicht in der lage sich dann selber ne wohnung zu suchen« (Z.3326 und Z.3328). Frau Demirels Ausführungen klingen nun so, als ob nicht Frau Demirel ihn, sondern ihr Mann sie verlassen habe bzw. dies beabsichtige. Die Ratsuchende könnte die Unterstellung, die die Beraterin ihr scheinbar zu Unrecht macht, nämlich einen kranken Mann verlassen zu wollen, schnell auflösen, indem sie diese Information durch Fatma überset-
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zen ließe. Sie will dieses Thema hier ganz offensichtlich jedoch nicht zu einem Beratungsthema machen. Stattdessen zeigt sie der Dolmetscherin unmissverständlich an, dass es sich hierbei um vertrauliche Informationen zwischen ihnen beiden handelt, von denen die Beraterin nichts wissen soll: [Demirel, Z.3528-3533]
Frau Demirel appelliert an dieser Stelle explizit an die Loyalität der Dolmetscherin (»sag es jetzt nicht«) und macht sie durch ihre Einweihung in vertrauliche Informationen zu ihrer Verbündeten. Sie signalisiert ihr dadurch, dass sie ihr das dafür erforderliche Vertrauen entgegenbringt und weiß offenbar, dass sie sich ihrer Diskretion sicher sein kann. Fatma kommt der Bitte der Ratsuchenden bereits vor dieser expliziten Aufforderung nach. Sie zeigt sich ihr gegenüber während des gesamten Gespräches loyal, indem sie ihre Dolmetschfunktion strategisch einsetzt und die Informationen, die sie an die Beraterin weitergibt, im Sinne der Ratsuchenden selektiert. [Demirel, Z.3400-3406]
Fatma übersetzt der Beraterin hier sehr akzentuiert, indem sie scheinbar wörtlich wiedergibt (»sie hat gesagt nein ich möchte…«), was Frau Demirel selbst so dezidiert an keiner Stelle des Gespräches formuliert hat. Dabei fällt ihre Wortkorrektur »meint sagt sie« ins Auge. Denkbar ist, dass sie beabsichtigt, durch die Verwendung des Verbs ›sagen‹ dem Inhalt mehr Nachdruck zu verleihen, als es durch das schwächere ›meint sie‹ der Fall wäre. Vor dem Hintergrund des Gesamtkontextes könnte man – in einem metaphorischen Sinne – zudem schließen, dass Fatma hier zum Ausdruck bringt, Frau Demirel würde unter Umständen das, was sie sagt, nicht auch so meinen. Die Beratung Demirel dokumentiert, dass offenbar eine gemeinsame Herkunft, insbesondere jedoch das Sprechen einer Herkunftssprache, im Hinblick auf die Vertraulichkeit von Beratungsteilnehmer/-innen untereinander mehr
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zu wiegen scheint als die Dauer der Bekanntschaft und ein damit verbundenes Mehr an Wissen über die Person. So bemerkt Frau Adam an einer Stelle des Gespräches: »ich frage deswegen fatma weil ich frau demirel schon lange kenne ich weiß dass sie große probleme hat mit ihrem mann« (Z.3246f. und Z.3249). Dass Frau Adam Frau Demirel scheinbar sehr viel länger kennt und über ihre familiäre Situation weit besser informiert ist als Fatma, hat auf die Beziehungskonstellation jedoch keinen förderlichen Einfluss. Einfluss nehmen vielmehr die sprachlichen Differenzierungen sowie der damit einhergehende Ausschluss der Beraterin, und zwar auf eine das Berater-Ratsuchenden-Verhältnis belastenden Weise. Auch die Beratungen Malik und Kolat zeigen, dass die gemeinsame Herkunft von Beratungsteilnehmer/-innen als das ›Sie-Verbindende‹ geltend gemacht wird und Unterhaltungen in der Herkunftssprache thematisch bestimmt. Vor allem die Dolmetscherin nutzt einen Herkunftsbezug, um mit den Ratsuchenden bei Gelegenheit von den Beratungsinhalten zu ›privaten‹ Themen zu wechseln und dabei von der Herkunftssprache Gebrauch zu machen. Die Übergänge sind oftmals fließend. Dabei ist das Herkunftsland im Unterschied zu Deutschland in der Regel positiv konnotiert.
Die Türkei als positiver Gegenhorizont zu Deutschland: Beratungen Malik und Kolat Ähnlich wie in der Beratung zuvor benötigt auch der Ende 50-jährige Herr Malik (MA) für sein Beratungsgespräch bei Frau Adam Fatma als Dolmetscherin. Bei den zitierten Passagen handelt es sich um Auszüge aus einem längeren Dialog auf Türkisch zwischen ihm und Fatma, der stattfindet, während die Beraterin stellvertretend für Herrn Malik ein Schreiben an dessen Telefongesellschaft verfasst. In diesem Dialog geht es zunächst um die Fortsetzung der Beratungsinhalte. Fatma wechselt dann jedoch recht unvermittelt zu familiären Themen über: [Malik, Z.496-515]
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Fatma eröffnet eine informelle Unterhaltung mit dem Ratsuchenden, indem sie einen Bezug zum gemeinsamen Herkunftsland herstellt. Kurz zuvor erfuhr sie, dass Herr Maliks Tochter demnächst heiraten wird. Das, was sie an dem Schwiegersohn nun näher zu interessieren scheint, ist, ob er zum Zweck der Heirat aus der Türkei gekommen sei (Z.503f.). Fatma erfährt in dem sich anschließenden Gespräch, dass nicht nur der Schwiegersohn, sondern auch alle Kinder von Herrn Malik, bis auf einen älteren Sohn, in Deutschland leben. Dieser ältere Sohn, der sich dazu entschloss, in die Türkei zurückzugehen, rückt ins Zentrum der Unterhaltung: [Malik, Z.556-614]
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Die Lebenssituation des älteren Sohnes wird von Herrn Malik sehr positiv dargestellt, indem er dessen beruflichen Erfolg besonders hervorhebt. In seinen Ausführungen klingt an, dass die berufliche Etablierung des Sohnes als selbstständiger Übersetzer mit dessen Entschluss verbunden ist, in die Türkei zu gehen. Nachdem er zehn bis fünfzehn Jahre »hier« gewesen sei, sei er nun »dort« und habe »seine Arbeit« (vgl. Z.576-582). Während Herr Malik die Situation seines Sohnes in der Türkei vor allem unter Bezugnahme auf dessen »geschäfte« als »gut« bewertet (Z.603), begreift Fatma ihre Einschätzung, »dann ist seine situation gut« (Z.600), insgesamt weit reichender. Generalisierend stuft sie die Türkei »natürlich« als »besser« ein (Z.611f.) und löst das Gespräch damit von der Begrenzung auf das Thema »Arbeit«. Mit ihrer Darstellung der Türkei als positiven Gegenhorizont zu Deutschland bekräftigt sie nicht nur den Entschluss des Sohnes, in die Türkei gegangen zu sein. Ihr Kommentar impliziert zugleich eine persönliche Wertung, die auf ihre eigene Herkunft aus der Türkei und ihr Leben in Deutschland verweist, und damit auf etwas, das sie mit Herrn Malik verbindet. In der Beratung des zirka 50-jährigen Herrn Kolat (KO) nutzt Fatma ebenfalls einen Bezug zur Türkei, um eine sich bietende Gelegenheit zu informeller Unterhaltung zu ergreifen. Hier fällt zudem auf, dass sie zu diesem Zweck sogar extra ins Türkische wechselt, denn aufgrund von Herrn Kolats guten Deutschkenntnissen sind Fatmas Übersetzungen in diesem Beratungsgespräch nicht erforderlich. Zum Kontext der im Folgenden zitierten Passagen ist zu erwähnen, dass der Ratsuchende Herr Kolat psychotisch erkrankt ist und unter gesetzlicher Betreuung steht. Seinem Betreuer, einem Anwalt, sind offenbar die Regelung finanzieller Angelegenheiten und das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen worden. Herr Kolat möchte einen längeren Urlaub in der Türkei verbringen, den der Betreuer ihm in der Vergangenheit jedoch verwehrt hatte, da die regelmäßige Einnahme erforderlicher Medikamente durch Herrn Kolat dort nicht sichergestellt war. Mit Hilfe der Beraterin Frau Adam unternimmt Herr Kolat nun einen erneuten Versuch, diesen Urlaub zu realisieren.
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[Kolat, Z.3103-3118]
Nachdem Frau Adam durch ihren Hinweis, sie hole die Post, eine Unterbrechung der Beratung ankündigt, wechselt die Dolmetscherin sowohl die Sprache vom Deutschen ins Türkische, als auch die Ebene von den ›formalen‹ Beratungsinhalten zu einem privaten Thema. Die Frage nach dem Besitz eines Hauses in der Türkei ist für sie der Einstieg in eine kleine Unterhaltung mit dem Ratsuchenden, die auch anhält, als die Beraterin bereits wieder zurückgekehrt ist: [Kolat, Z.3137-3175]
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Auf Fatmas Frage hin, ob »er«, der Betreuer, ihm jetzt die Erlaubnis geben werde, in die Türkei zu fahren (Z.3154), nachdem ihm dies laut Herrn Kolat drei Jahre lang untersagt worden sei, reagiert der Ratsuchende mit einer sarkastischen, aber scherzhaft gemeinten Antwort, aus der deutlich wird, dass er sich eine Verweigerung nicht gefallen lassen werde (»wenn er mir nicht gibt werde ich ihn abstechen«, Z.3156f.). Ähnlich wie in der Beratung Demirel entsteht durch diese auf Türkisch geäußerte Bemerkung eine Ausschlusssituation der Beraterin. Frau Adam kann nicht erkennen, weshalb die beiden Türken lachen und ist auf eine Nachfrage angewiesen. Sie scheint sich ausgeschlossen zu fühlen (»witze die ich nicht verstehe«, Z.3159) und bezieht das Türkischsprechen sogar auf sich selbst. Durch ihren expliziten Hinweis, es ginge »wahrscheinlich« genau darum (Z.3161), dass sie die Witze nicht »verstehe«, konfrontiert sie die beiden mit deren ausschließendem Handeln. In ihrer Äußerung schwingt die Unterstellung mit, extra Türkisch gesprochen zu haben, um sie nicht zu involvieren. Nicht zu wissen, worüber gelacht wird, ist für sie offenbar eine schwer auszuhaltende Situation. Allerdings lehnt Frau Adam hier, nachdem ihr übersetzt wurde, den sarkastischen Humor des Ratsuchenden anders als in der Beratung Demirel nicht ab. Der Ausschluss der Beraterin von der Kommunikation aufgrund der auf Türkisch geführten Unterhaltung bleibt in diesem Fall auf diese Sequenz beschränkt und führt weder zu einer Belastung des Berater-Ratsuchenden-Verhältnisses noch zu einer Beeinträchtigung des Beratungsverlaufs. Es handelt sich hier allerdings auch um die einzige türkischsprachige Passage in dem Gespräch. Sprachliche Differenz spielt darüber hinaus keine Rolle. Die Beratungen Demirel, Malik und Kolat zeigen, dass das Sprechen in der Herkunftssprache die Gesprächsatmosphäre durch Humor und durch das Führen informeller Unterhaltungen zu lockern vermag und für kurze Momente Unterbrechungen von den Beratungsinhalten bewirkt. In allen drei Beispielen erweisen sich die türkischsprachigen Dialoge als Gelegenheiten, in denen private, familiäre Themen Raum erhalten und in denen vertrauter kommuniziert werden kann. Zugleich führen diese ›Gelegenheiten‹, wie an der Beratung Demirel deutlich wurde, unter Umständen zu einer Belastung des Berater-Ratsuchenden-Verhältnisses und können insofern als Dokument für diesen Typus gelten. In den Beratungen Malik und Kolat wirken die Herkunftsbezüge zwar nicht hinderlich, sie nehmen jedoch auch nicht in einem förderlichen Sinne Einfluss auf die Beziehungsgestaltung zur Beraterin. Es handelt sich vielmehr um ›Parallelereignisse‹. Die Unternehmungen der Dolmetscherin, Kontakt zu den Ratsuchenden
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aufzubauen und eine vertrauliche Atmosphäre zu gestalten, beziehen die Beraterin nicht mit ein. In keinem der angeführten Gespräche übersetzt Fatma Frau Adam vollständig und involviert sie in die informellen Unterhaltungen. Nachdem bereits im vorangehenden Abschnitt festgestellt wurde, dass sprachliche Verständigungsschwierigkeiten ein erschwerender Faktor beim Aufbau tragfähiger, vertrauensvoller Beratungsbeziehungen sind (vgl. Kapitel 6.1.1), kann nunmehr ergänzt werden, dass scheinbar auch der Einsatz dolmetschender Personen seitens der Beratungsinstitution diese Schwierigkeiten nicht unmittelbar ausräumt.
6.1.3 Fazit Typ I: Ethnische Differenzierungen belasten den Aufbau einer Beratungsbeziehung zwischen Berater und Ratsuchenden Die übergreifende Gemeinsamkeit, das Tertium Comparationis, der ethnischen Differenzierungen, die in den bisherigen Ausführungen im Zentrum standen, liegt auf der Ebene ihrer Funktion innerhalb des interaktiven Geschehens. Es handelt sich um ethnische Differenzsetzungen, die im Kontext der Beziehungsgestaltung der Beratungsteilnehmer/-innen zueinander vorgenommen werden bzw. in diesem Rahmen eine Rolle spielen. Sie haben weitgehend keinen unmittelbaren Bezug zu den Beratungsinhalten, sondern strukturieren informelle Unterhaltungen. Erkennbar wurde, dass ethnische Differenzierungen eine einflussreiche Größe beim Kontaktaufbau zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden darstellen und auf das je spezifische Verhältnis von Nähe und Distanz einwirken. Sie prägen zum Teil bedeutend den Prozess der Herstellung und Aufrechterhaltung der Beratungsbeziehung. Zwei kontrastierende Wirkungsweisen wurden evident. Zum einen stellen sich Bezugnahmen auf ethnische Differenz als ein förderliches Mittel heraus, das Beziehungen positiv zu beeinflussen scheint und ihre Gestaltung insofern unterstützt. Zum anderen erweisen sie sich diesbezüglich als hinderlich, da sie den Beziehungsaufbau stören oder sogar vereiteln. Die Wirkungsweise, die sich schließlich jeweils in den Beratungsgesprächen dokumentiert, ist bedingt durch drei Faktoren. Sie hängt davon ab, wer, d.h. welcher der Akteure, ethnische Differenz geltend macht, wie der Rezipient den ethnischen Bezug aufgreift und inwiefern die sprachliche Verständigung in der Beratungssprache Deutsch zwischen Berater/-in und Ratsuchenden möglich ist. • Als eindeutig förderlich erweisen sich ethnische Bezugnahmen nur, wenn ihr Initiator die Ratsuchende selbst ist, wie in der Beratung Goldmann, oder wenn sie sich zwischen Akteuren gleicher Herkunft ereignen. Letzteres dokumentieren die Beratungen Demirel, Malik und Kolat. Ihre Wirkung hängt also davon ab, ob Selbstidentifikationen primär im Vordergrund stehen oder ob Fremdzuweisungen, z.B. durch die Berater/-innen, maßgeblich sind. Je eher sie in Form von Fremdzuweisungen geltend gemacht werden, desto weniger
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stellen sie sich als probates Mittel heraus, um eine tragfähige Beziehung aufzubauen bzw. zu halten. • Spiegeln sich in den ethnischen Differenzierungen Herabsetzung und Dominanz wider, wie in den Beratungen Stefanovic und Naderi, oder schließen sie offenkundig einen der Beteiligten partiell vom Geschehen aus, wie z.B. die Ehefrau in der Beratung Stefanovic und die Beraterin in der Beratung Demirel, dann belasten sie die Berater-Ratsuchenden-Beziehung. Sie können sogar zu einer Vergrößerung von Distanz führen, da sie Widerstände oder Drucksituationen provozieren. • Je direkter die Kommunikation zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden ist, d.h. ohne sprachliche Verständigungsschwierigkeiten und ohne dolmetschende Person verläuft, desto eher wirken ethnische Bezugnahmen förderlich oder sind zumindest nicht hinderlich bzw. belastend. Die Beratungen Goldmann und Kolat liefern dafür Dokumente. Umgekehrt zeigen die Beratungen Stefanovic und Naderi: Je größer die sprachlichen Barrieren zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden sind, desto prekärer sind die Versuche, über ethnische Differenzierungen Kontakt herzustellen und Beziehung zu gestalten. Die Anwesenheit dolmetschender Personen – so verdeutlichen die Beratungen Alimov und Demirel – ändert daran wenig. Resümierend lässt sich festhalten: Die Wirkungsweise ethnischer Differenzierungen im Rahmen von Kontaktaufbau und Beziehungsgestaltung ist kontingent. Da sich deutlich zeigt, dass förderliche Wirkungen eher die Ausnahme darstellen, die hinderlichen, belastenden Wirkungsweisen jedoch überwiegen, kann mit dem vorliegenden Material lediglich die letztere Variante als ›typisch‹ bezeichnet werden. Ethnisierungen belasten die Beziehung zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden. Sie unterstützen nicht den Aufbau tragfähiger Beratungsbeziehungen. Im Extremfall können sie sogar zu ›Beziehungsverhinderern‹ werden. Ihr Einsatz zum Zweck der Beziehungsgestaltung – wie es teilweise durch die Akteure geschieht – kann zumindest nicht voraussetzungslos als hilfreiches Mittel betrachtet werden.
6.2 D IE E ROSION DES KOMPLEMENTÄREN R OLLENVERHÄLTNISSES VON B ER ATER UND R ATSUCHENDEN IM K ONTE X T E THNISCHER D IFFERENZIERUNGEN (T YP II) Der zweite Typus ist – so könnte man sagen – eine zugespitzte Variante der soeben beschriebenen hinderlichen Wirkung ethnischer Differenzierungen im Rahmen von Beziehungsgestaltung. Auch hier geht es darum, dass keine Balance von Nähe und Distanz zwischen Berater/-in und Ratsuchenden entsteht, sondern die Distanz sich vergrößert. Die im Folgenden zu beschreibende Wir-
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kungsweise ist jedoch weit reichender und kann daher als eigenständiger Typ konturiert werden. Denn ethnische Differenzierungen führen nicht allein dazu, den Aufbau hilfreicher Beratungsbeziehungen zu erschweren, sie greifen wesentlich massiver in die grundlegende Konstellation einer Beratung ein, und zwar in einer Weise, die das komplementäre Verhältnis von Berater/-in und Ratsuchenden, sofern ein solches überhaupt faktisch zustande kommt, irritiert, unter Umständen sogar brüchig werden lässt. Damit ist gemeint, dass die Akteure jeweils daran gehindert sein können, ihre Gesprächsrolle als Berater/-in bzw. als Ratsuchende wahrzunehmen. Im Zentrum dieses Typus steht sprachliche Differenz, die sich daraus ergibt, dass Berater/-innen und Ratsuchende nicht über dieselben kommunikativen Möglichkeiten in einer Sprache verfügen.9 Da die Berater/-innen den Herkunftssprachen der Ratsuchenden nicht mächtig sind, sind die Interaktionspartner unabhängig von den Deutschkenntnissen der Ratsuchenden darauf angewiesen, das Beratungsgespräch auf Deutsch zu führen oder aber eine dolmetschende Person zwischenzuschalten. Die unmittelbare Kommunikation zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden ist insofern eingeschränkt und in hohem Maße störanfällig (Kapitel 6.2.1). Der Verständigungsprozess ist der ständigen Gefahr des zumindest partiellen Scheiterns ausgesetzt. Dadurch kann das gesamte Beratungsgeschehen prekär werden. Der Typus umfasst jedoch auch Wirkungsweisen, die über einzelne, interaktiv mehr oder weniger korrigierbare kommunikative Störungen der Beratung hinausreichen. Es geht um Handlungsweisen der Akteure, die zu einem Ausschluss einzelner Beteiligter vom Geschehen führen. Von einem solchen Ausschluss kann sowohl der Ratsuchende als auch der Berater betroffen sein. Er entsteht primär dadurch, dass der betreffenden Person, z.B. aufgrund ausbleibender Übersetzungen, die Möglichkeit beschnitten wird, sich aktiv an der Kommunikation zu beteiligen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass das Sprechen von Beratung in solchen Fällen nur noch eingeschränkt möglich ist. Die grundlegende Konstellation, die beratungstheoretisch als konstitutiv für eine Beratungssituation gilt, liegt nicht mehr vor. Zutreffender wäre es, z.B. von Verhandlungen über alte Migrant/-innen zu sprechen, wenn diese nicht partizipieren (können) oder sogar vom Beratungsgeschehen isoliert werden. In solchen Situationen treten alte Migrant/-innen faktisch nicht mehr als Ratsuchende, allenfalls als Beratungsgegenstand, in Erscheinung (Kapitel 6.2.2). Sind es die Berater/-innen, 9 | Mit der Bezeichnung ›sprachliche Differenz‹ soll allgemein zum Ausdruck gebracht werden, dass Berater/-innen und Ratsuchende unterschiedlicher sprachlicher Herkunft sind und dieses in der Interaktion relevant wird. Dadurch soll vermieden werden, allein von ›ungenügenden‹ Deutschkenntnissen auf Seiten der Ratsuchenden zu sprechen und damit der impliziten Norm, Deutsch gleich Beratungssprache, die mindestens den Gesprächen zugrunde liegt, in denen seitens der beratenden Institution keine Dolmetscher/-innen oder herkunftssprachigen Berater/-innen bereit gestellt werden, zu folgen.
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die von der – herkunftssprachigen – Kommunikation ausgeschlossen werden, handelt es sich oftmals um Absprachen zwischen Gesprächsbeteiligten gleicher Herkunft oder um Formen von Alltagsberatung, wenn nämlich die dolmetschende Person über ›reine‹ Dolmetschtätigkeiten hinaus eigenmächtig in das professionelle Handeln der Berater/-innen ohne deren Kenntnis eingreift (Kapitel 6.2.3). In diesen Gesprächssequenzen verlieren Berater/-innen zumindest zeitweilig den Einfluss auf das Beratungsgeschehen. Bevor diese beiden angedeuteten Wirkungsweisen ausgeführt werden, ist zunächst näher darauf einzugehen, wie sich Kommunikationsstörungen in den Beratungen manifestieren, denn schon sie wirken auf das komplementäre Rollenverhältnis ein.
6.2.1 Kommunikationsstörungen im Beratungsablauf aufgrund von sprachlicher Differenz Wie eingangs zu Kapitel 6 beschrieben, zeichnet sich eine Beratung durch die Komplementarität von Berater und Ratsuchendem aus. Um vom Vorliegen einer Beratungssituation sprechen zu können, muss sich also ein Beziehungsgefüge konstituiert haben, in dem die Gesprächspartner ihre jeweilige Gesprächsrolle wahrnehmen, d.h. der Berater diejenige des Experten, der Probleme unter Rückgriff auf sein professionelles Wissen gemeinsam mit dem Ratsuchenden bearbeitet und der alte Migrant diejenige des Ratsuchenden, der sich mit seinem Problem, auf das er eine Lösung erhofft, einbringen kann und der am Lösungsprozess aktiv mitwirkt. Die Übernahme und die Ausübung von Gesprächsrollen sind jedoch Erschwernissen ausgesetzt, wenn es zu sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten kommt. Kommunikative Irritationen oder Störungen aufgrund von sprachlicher Differenz sind ein sehr dominantes Phänomen im untersuchten Datenmaterial und kommen in nahezu allen Gesprächen vor. Bezeichnet werden hiermit Beeinträchtigungen oder Verzögerungen des inhaltlichen Gesprächsablaufs, vor allem aufgrund von Verstehensproblemen und Missverständnissen, die als solche von den Akteuren angezeigt und behandelt werden. Dies geschieht im Wesentlichen über metakommunikative Äußerungen, wie z.B. die explizite Aussage »ich habe nicht verstanden« oder über Maßnahmen der Verständigungssicherung, wie Nachfragen, Reformulierungen, inhaltliche Wiederholungen, Paraphrasierungen. Auch der so genannte Foreigner Talk kann darunter subsumiert werden (vgl. Kapitel 6.1.1). Verstehen muss permanent ausgehandelt und abgesichert werden. Obwohl Kommunikationsstörungen dieser Art meist zumindest scheinbar behoben werden können, wirken sie insgesamt erschwerend auf die Realisierung der Beratungsziele ein. Im Folgenden liegt der Fokus nicht vorrangig auf einer detaillierten Untersuchung kommunikativer Verständigungsprobleme und des Umgangs der Ak-
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teure damit.10 Vielmehr geht es darum zu beschreiben, dass und wie die Akteure durch diese Irritationen in der Ausübung ihrer jeweiligen Gesprächsrolle beeinflusst werden. Stellvertretend für viele Gespräche liefern hier die Beratungen Petri und Malik einige instruktive Gesprächspassagen, die die Wirkungen sprachlicher Differenz in diesem Kontext illustrieren sollen. In der Beratung Petri aus der behördlichen Altenberatung, in der Frau Carstens (CA) das sieben Jahre zuvor aus Russland immigrierte Ehepaar Petri berät, geht es um die Weiterbewilligung einer Haushaltshilfe. Zu diesem Zweck erhebt die Beraterin den aktuellen Hilfebedarf des Ehepaares. Ein Beispiel dafür, inwiefern sprachliche Differenz zur Beraterin die Ratsuchende in der Ausübung ihrer Gesprächsrolle einschränkt, zeigt sich in der Phase der Problemdarstellung. Frau Petri (FP) will der Beraterin auf Deutsch mitteilen, dass ihr Mann (HP) unter Schwindelgefühlen leidet und ihr deshalb nicht im Haushalt helfen kann. [Petri, Z.281-330]
10 | Es wäre eine eigene vertiefende Betrachtung wert, den Fragestellungen systematisch nachzugehen, welche Kommunikationsstörungen auftreten, welche Strategien der Reparatur von den Akteuren mit welchem Erfolg eingesetzt werden und wie sich Dolmetschinteraktionen im Einzelnen gestalten. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass auch allgemeine Verständigungsschwierigkeiten jenseits sprachlicher Differenz eine Rolle spielen können. Kommunikationen sind grundsätzlich störanfällig. Diese Aspekte werden lediglich dort berücksichtigt, wo sie im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie von Relevanz sind. Der hier gewählte Blickwinkel machte eine Eingrenzung auf Irritationen im Kontext sprachlicher Differenz bzw. unter expliziter Bezugnahme auf ethnische Differenzierungen notwendig.
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Die Ratsuchende ist hier in der Schilderung des Problems beeinträchtigt, da sie mit der Beschreibung des Zustandes ihres Mannes an ihre Vokabelgrenzen im Deutschen gerät. Es kommt zu einer recht umfänglichen zeitlichen Verzögerung des Beratungsablaufs, erkennbar an den häufigen, sehr langen Gesprächspausen, die Herr Petri zum Teil mittels humorvoller Kommentare über seine Frau zu überbrücken versucht (Z.296 und Z.312). In diesen humorvollen Äußerungen und an seinem wiederholten Lachen drückt sich auch aus, dass ihm diese Situation offenbar unangenehm ist und dass er versucht, sie zu entspannen. Auch Frau Petri hält es für angezeigt, die durch sie verursachte Verzögerung des Beratungsverlaufs zu entschuldigen (Z.291, Z.308 und Z.310). Dennoch scheint es ihr wichtig zu sein, ein aus ihrer Sicht möglichst treffendes deutsches Wort für die Schwindelgefühle des Mannes zu finden. Der anfängliche Begriffsvorschlag der Beraterin »es dreht sich?« (Z.283), den auch Herr Petri aufgreift (»dreht sich sie sagt«, Z.289), wird von der Ratsuchenden erst am Ende dieses zitierten Gesprächsauszugs, nach einer doppelten Absicherung – der Nachfrage auf Russisch bei ihrem Mann, dessen Antwort Frau Petri scheinbar nicht zufrieden stellt, und dem zusätzlichen Nachschlagen im Wörterbuch – ratifiziert. Es kommt damit zu einer Reparatur der Störung, denn Frau Petri geht schließlich davon aus, sich ausreichend verständlich gemacht zu haben (»dreht sich ja dreht sich«, Z.323; »dreht sich ja«, Z.325). Eine spätere Passage dokumentiert, dass auch die Beraterin aufgrund von sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten bei der Ausübung ihrer Beraterrolle an Grenzen stößt. In der folgenden Gesprächssequenz, in der es um die Festlegung der Unterstützungsleistungen für das Ehepaar geht, wird sie damit konfrontiert, dass ihre Ausführungen zu Inhalt und Stundenumfang einer Haushaltshilfe nicht verstanden werden.
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[Petri, Z.547-564]
Frau Petri unterbricht die Beraterin, indem sie explizit eine Störung anmeldet. Sie kann die Beraterin »nicht ganz verstehen«. Dass diese erneute Verständigungsunsicherheit, ähnlich wie bereits in der zuvor zitierten Passage, dem Ehepaar abermals unangenehm zu sein scheint, manifestiert sich hier in der Entschuldigung der Ehefrau (Z.553), einer wiederum humorvollen Anmerkung des Ehemannes (Z.558) und dem Lachen beider. In der Reaktion der Beraterin auf Frau Petris Störungsanzeige schwingt Irritation mit. Zwar schlägt sie zwei Alternativen der Problembehebung vor (»langsamer reden oder weniger«, Z.554f.), sie scheint sich jedoch nicht sicher zu sein, wie genau sie sich besser verständlich machen könnte (»vielleicht«, Z.554). Durch ihre Korrektur des zuerst formulierten »wir« in »ich« drückt sie zudem aus, dass sie sich die Verantwortung, Verstehen herbeizuführen, zuschreibt. Herrn Petris Kommentar, Frau Carstens möge doch »besser russisch« sprechen, kann allerdings als Akt gedeutet werden, die ›Selbstkritik‹ der Beraterin abzumildern. Nicht sie allein trägt die Verantwortung für die Unterbrechung des Beratungsablaufs, weil sie vielleicht zu schnell und zu viel geredet hat oder weil sie etwa kein Russisch spricht, sondern die hier implizit angesprochenen Deutschkenntnisse des Ehepaares reichen nicht, um der Beraterin folgen zu können. Insofern kann Herrn Petris ironische Bemerkung ebenso als Reparaturversuch dieser Störung gedeutet werden wie der konstruktive Vorschlag seiner Frau, die eine der Alternativen der Beraterin aufgreift. Für sie wäre eine mögliche Lösung, wenn Frau Carstens langsamer sprechen würde. Wenngleich keine expliziten Anhaltspunkte darauf deuten, so ist auch denkbar, dass das Ehepaar die Beraterin sprachlich sehr wohl verstanden hat, jedoch mit dem, was sie inhaltlich sagt, dem zeitlichen Umfang der Hilfeleistung, nicht einverstanden ist. Auf eine solche Lesart deuten zumindest andere Passagen dieser Beratung. Frau Carstens geht auf Herrn Petris Bemerkung zwar ein, indem sie eingestehen muss, über keine Russischkenntnisse zu verfügen. Sie schließt sich hier jedoch nicht dem Lachen des Ehepaa-
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res an. Ob in ihrer Reaktion, sie kenne lediglich »nastrowje« (Z.560), mit der sie klischeehaft ein zum vorliegenden Kontext zusammenhangloses russisches Wort hervorbringt, Verärgerung, Provokation oder dergleichen mitklingt, ist nicht abschließend zu beurteilen. Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten können die Berater/-innen in ihrer Gesprächsführung verunsichern. Dies zeigt z.B. die folgende Passage, in der es um den Fußbodenbelag des Badezimmers geht: [Petri, Z.781-794]
In der Regel sind in Sequenzen, in denen sprachliche Verständigungsschwierigkeiten entstehen, beide Seiten zugleich in der Ausübung ihrer Gesprächsrollen beeinträchtigt. Denn weder die Berater/-innen noch die Ratsuchenden können sich sicher sein, ob und wie sie sich ihrem Gegenüber verständlich machen können bzw. inwieweit sie ihn verstehen. Auch in der soeben zitierten Passage dokumentiert sich diese Hürde. Frau Carstens verfügt nur über ein begrenztes Repertoire an Möglichkeiten, Verständigungsprobleme zu minimieren und auch die können irgendwann ausgeschöpft sein (»es is es ist doch so«, Z.789). Sie kann sich wie im obigen Beispiel an die Problemsituation der Ratsuchenden durch das Abfragen verschiedener inhaltlicher Vorgaben herantasten, sie kann einzelne Äußerungen wiederholen und sie kann Alternativformulierungen offerieren. Insgesamt ist sie jedoch darauf angewiesen, dass sie schließlich irgendwann verstanden wird, ansonsten würde die Kommunikation zusammenbrechen. Die Beraterin würde die Kontrolle über den Gesprächsverlauf verlieren und könnte ihr zentrales professionelles Handlungsinstrument, die Gesprächsführung, nicht mehr zur Geltung bringen. Während sich hier, erkennbar an den Signalen der Ratsuchenden (z.B. »ja ja ja wellig JA wellig«, Z.790), die gegenseitige Verständigung wieder herzustellen scheint, zeigt sich in der folgenden Gesprächspassage aus der Altentagesstätte eben jener Verlust an Handlungsfähigkeit besonders drastisch. Die Passage ist dem Beginn einer Beratungssprechstunde von Frau Adam (AD) entnommen. Anwesend sind neben ihr die Ratsuchenden Herr Malik (MA), Herr Ersoy (ER) und Frau Yildirim (YI). Die
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Beraterin eröffnet das Gespräch mit Herrn Malik (siehe Kapitel 6.1.2), obwohl die Dolmetscherin Fatma, die sich hier verspätet, noch nicht eingetroffen ist. [Malik, Z.71-86]
Das Anliegen von Herrn Malik erschließt sich der Beraterin hier nicht unmittelbar aus dessen Äußerungen. Ihre Strategie, ohne ihn, durch Sichtung seiner Unterlagen, Klarheit zu erlangen, misslingt. Mit ihrer Schlussfolgerung »dann müssen wir eben auf fatma warten das müssen wir doch noch mal (-) besprechen« (Z.82f.) signalisiert sie dem Ratsuchenden, an ihre Grenze gelangt zu sein. Ohne die Dolmetscherin ist die Fortsetzung der Beratung, die Besprechung der eigentlichen Inhalte, nicht gewährleistet. Die dadurch entstandene Störung ›repariert‹ Frau Adam durch einen vorläufigen Abbruch der Kommunikation (»mhm ich hol mal meine unterlagen eben nä?«, Z.84f.). Kurz darauf startet sie jedoch einen erneuten Versuch, die Beratung durchzuführen. [Malik, Z.103-136]
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Die Angewiesenheit der Beraterin auf die Dolmetscherin zeigt sich in dieser Passage besonders ausgeprägt. Frau Adam wirkt nervös und angespannt: Sie wiederholt mehrfach die Notwendigkeit des Wartens auf Fatma (Z.105 und Z.132), äußert Ratlosigkeit über deren Fortbleiben (Z.103 und Z.134) und hält sogar Ausschau nach ihr (Z.107). Ohne die Dolmetscherin ist Frau Adam handlungsunfähig. Aufgrund der sprachlichen Differenz zu den Ratsuchenden verfügt sie momentan nicht über ihre Beratungskompetenz bzw. kann diese nicht zum Einsatz bringen. Sie befindet sich in einer misslichen Lage. Vor ihr sitzen Ratsuchende, die sie notgedrungen warten lassen muss. Sie entschließt sich dazu, die Beratung von Herrn Malik wieder aufzugreifen. Ihre Formulierung, er solle ihr »doch sonst einfach mal« (Z.110) sagen, was sein Anliegen sei, wirkt in diesem Kontext deplatziert, denn wie der Verlauf dieses zweiten Problemerhebungsversuches zeigt, stellt sich dies nicht eben als einfach heraus. Auch die wiederholten Erklärungsansätze des Ratsuchenden bleiben für sie unverständlich. Frau Adam versucht, sich dem Verstehen durch das Abfragen von Alternativen – Dauerauftrag oder Einzugsermächtigung – zu nähern, muss jedoch kapitulieren. Dies tut sie auf sehr direkte Art. Sie verbalisiert ihre Unsicherheit (»das kann ich so leider ich hab ich versteh das nicht ich bin mir jetzt nicht sicher was sie möchten«, Z.132-134) und bricht die Kommunikation mit Herrn Malik erneut ab. Ihre Strategie, die Störung aufzulösen, besteht dieses Mal darin, sich dem nächsten Ratsuchenden, Herrn Ersoy, zuzuwenden. Die Anspannung, unter der Frau Adam aufgrund des Fortbleibens der Dolmetscherin steht, zeichnet sich besonders deutlich vor dem Hintergrund der Reaktionen der Ratsuchenden ab. Denn diese nehmen die Situation eher entspannt auf und tauschen untereinander zum Teil auf Türkisch, zum Teil auf Deutsch rationale Erklärungen für Fatmas Wegbleiben aus: [Malik, Z.91f.]
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[Malik, Z.206-212]
[Malik, Z.216-219]
Hier sind es die Rat suchenden Männer, die durch ihre optimistisch eingestellten Erklärungen beruhigend auf die Beraterin einwirken. Ihre Äußerungen stehen im Kontrast zu Frau Adams eher pessimistischer Sicht (»ich weiß nicht ob die krank ist«, Z.206). Erst als das Ankommen der Dolmetscherin schließlich durch das Fenster zu beobachten ist, entspannt sich die Beraterin. Sie reagiert erleichtert: »DA ist sie ja ah sie läuft « (Z.233). Diese und die vorangehenden Passagen zeigen: Der Sprache vorübergehend nicht mächtig zu sein, versetzt Berater/-innen in eine irritierende und verunsichernde Lage. Sie können nicht bzw. nur begrenzt agieren. Sprachliche Ohnmacht und der damit verbundene Verlust ihres wichtigsten Handlungsinstrumentes als Berater, der Gesprächsführung, führen zu Kontrolleinbußen bezüglich des Beratungsgeschehens und können bis zur Beratungsunfähigkeit reichen. Die bislang zitierten Gesprächsauszüge dokumentieren, dass die durch sprachliche Differenz verursachten Kommunikationsstörungen vor allem deshalb Reparaturen unterzogen werden können, weil die Beteiligten sie thematisieren und behandeln. Sowohl Berater/-innen als auch Ratsuchende zeigen sich bemüht, den Verständigungsprozess aufrechtzuerhalten. Von einer Auflösung bzw. Erosion ihres Komplementärverhältnisses, von der in diesem Abschnitt als zweitem Typus von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen die Rede sein soll, kann in diesen Fällen nicht ausgegangen werden. Ein anderes Bild spiegeln jedoch die folgenden Beratungen wider. Maßnahmen der Verständigungssicherung spielen hier keine, allenfalls eine untergeordnete Rolle, da der kommunikative Ausschluss eines Beteiligten in Kauf genommen wird.
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6.2.2 Gespräche über Ratsuchende – der Ausschluss alter Migrant/-innen vom Beratungsgeschehen Zunächst soll dargelegt werden, inwiefern Berater/-innen auf eine Weise handeln, die die Partizipation der Ratsuchenden nicht vorsieht. Das Entscheidende in diesem Kontext ist, dass die alten Migrant/-innen nicht als Ratsuchende in Erscheinung treten und ihnen diese Möglichkeit – unabhängig ihres Wunsches zu partizipieren – auch nicht eröffnet wird. Als Gesprächsgegenstand nehmen sie interaktiv lediglich eine marginale Position ein. Daher liegen hier keine Beratungen der Personen vor, um die es in den Gesprächen inhaltlich geht. Problemerfassung und -bearbeitung sind selten an deren individuellem Bedarf orientiert. Der mangelnde Einbezug alter Menschen innerhalb von Altenberatungen ist vor allem bei Anwesenheit von Angehörigen, Ärzten oder Institutionen, wie Pflegediensten, keine Seltenheit und nicht per se auf Ethnisierungen zurückzuführen. Da dies vor dem Hintergrund der verfolgten Fragestellung zu berücksichtigen und zu unterscheiden ist, liegt das Augenmerk hier lediglich auf Situationen, in denen offensichtlich sprachliche Differenz zur Geltung kommt. Diese im Weiteren zu beschreibende typische ausgrenzende Wirkungsweise sprachlicher Differenz soll anhand von drei Beispielberatungen, der Beratung Öktem und den Beratungen Alimov und Ahmadi, dokumentiert werden, denn in ihnen manifestieren sich die beiden bedeutenden Varianten.
Entmündigung durch Nicht-Beteiligung: Beratung Öktem Interessant an der Beratung Öktem ist, dass Verstehensschwierigkeiten im Unterschied zu den Gesprächen, die im vorangehenden Abschnitt behandelt wurden, nicht auf der direkten Interaktionsebene zwischen den betreffenden Akteuren relevant werden, sondern auf einer Meta-Ebene, nämlich indem der Berater Herr Dieckmann und die Tochter des alten Migranten Frau Öktem über das Verstehensvermögen des anwesenden Vaters, jedoch ohne dessen Partizipation, sprechen. Diese Passagen sollen näher betrachtet werden, denn in ihnen wird sprachliche Differenz geltend gemacht und zu einer Begründungskategorie der mangelnden Beteiligung Herrn Öktems erhoben. Anlass des Hausbesuches von Herrn Dieckmann bei den Öktems ist der Zustand des 74-Jährigen nach einem Schlaganfall und aufgrund einer vermuteten demenziellen Erkrankung. Herr Öktem benötigt Unterstützungsleistungen, unter anderem durch eine Sozialstation, die es im Rahmen dieses Beratungsgespräches zu planen gilt. Der vor 28 Jahren aus der Türkei immigrierte Herr Öktem verfügt über nur geringe Deutschkenntnisse. Seine Tochter, eine 33-jährige Studentin, die mit ihrem Vater und ihrer Mutter zusammenlebt, ist in Deutschland aufgewachsen und zweisprachig. Herr Dieckmann (DI) und Frau Öktem (ÖT) beziehen den Vater (ÖV) trotz seiner Anwesenheit von Gesprächsbeginn an nicht in die Kommunikation mit ein, da sie ihm zunächst augenscheinlich das Vermögen zur
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Partizipation absprechen. Der Berater richtet sich anfangs lediglich ein einziges Mal persönlich an Herrn Öktem, allerdings nicht mit der Absicht, ihn inhaltlich einzubinden: [Öktem, Z.26-41]
In diesem kurzen Dialog zeichnet sich ab, dass Kommunikation mit Herrn Öktem, wenn auch schleppend und langsam, möglich ist. Er scheint die Fragen des Beraters sowohl zu verstehen als auch beantworten zu können. Dessen ungeachtet wendet sich der Berater, sobald es um den Einstieg in die Beratungsinhalte geht, an die Tochter. Dass Herr Öktem ihm bestätigt, er könne ihn ein »bisschen verstehen«, hat darauf keinen Einfluss. Herr Dieckmann und Frau Öktem besprechen in der Folge dieses Gesprächsauszuges unterschiedliche Themen, die sich primär um Herrn Öktems derzeitige Lage, die Erfassung seines aktuellen Krankheitszustands und die Planung von Hilfen drehen. Der Berater informiert sich über den alten Migranten ausschließlich durch die Tochter, die in sehr ausführlichen, auffallend emotionalen Erzählungen über Vorkommnisse berichtet, die sich im Kontext von punktuellen Orientierungsschwierigkeiten und Verwirrtheitszuständen Herrn Öktems ereignet hätten und mit denen die Tochter nur schwer zu Recht zu kommen scheint. Dabei wird Herrn Öktems Auffassungs- und Wahrnehmungsvermögen vor dem Hintergrund seiner Demenz besprochen und bewertet. Auch dies geschieht allein über Erzählungen der Tochter, also aus ihrer Perspektive. Die Perspektive des alten Migranten bleibt unbekannt. Das einzige, was der Berater von ihm selbst erfährt, ist, dass er sich als ein »bisschen krank« (Z.34) beschreibt. Herr Dieckmann verschafft sich kein eigenes, fachlich fundiertes Bild des Patienten; er verlässt sich auf die durch die Tochter vermittelten Informationen. Die folgende Passage ist aus dieser Phase der Eruierung des Zustandes des Vaters entnommen. Das Gespräch über Herrn Öktem entwickelt sich hier zu einer Beobachtung des alten Migranten.
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[Öktem, Z.900-917]
Der Berater vermutet hinter der Tatsache, dass Herr Öktem bisher »überhaupt kein wort gesagt« habe, eine krankheitsbedingte Wesensveränderung (»er war ja sicherlich mal sehr lebendig und sehr impulsiv«, Z.915f.), räumt jedoch auch sprachliche Differenz als Ursache ein (»das liegt sicherlich auch an (-) an meiner deutschen sprache«, Z.905). Diese ist für ihn hier jedoch nicht im Mittelpunkt (»aber meine eigentliche Frage ist«, Z.911). Ihm kommt es darauf an, von der Tochter die Bestätigung seiner Vermutung zu erhalten, dass – im Unterschied zu »früher« – beim Vater eine Veränderung in Folge der Demenz zu beobachten ist, die unter anderem als Grund seines Schweigens geltend gemacht werden kann. Herr Dieckmann thematisiert den bislang unterlassenen Einbezug des alten Migranten. Er erkennt, dass Herr Öktem, der – so die Unterstellung des Beraters – »aber nicht verSTEHN« (Z.910) könne, ausgeschlossen wird. Dem Berater scheint die Vernachlässigung seiner Pflicht, den alten Migranten partizipieren zu lassen, bewusst zu werden, wenn er sagt: »und irgendwie ist das ne ganz seltsame geschichte was wir ja auch da machen« (Z.906f.). Sein Einwurf fällt jedoch eher beiläufig, da seine »eigentliche frage« eine andere ist. Dementsprechend folgen auch keine Konsequenzen. Der Ausschluss von Herrn Öktem bleibt bestehen. Zudem sind die Deutungen des Beraters an dieser Stelle nicht ganz schlüssig. Denn Herrn Öktems Schweigen kann dann, wenn es »sicherlich auch« (Z.905) an sprachlichen Hürden liegt, nicht umstandslos als Anzeichen einer demenzbedingten Wesensveränderung gelten und auch nicht als Entlastung von der Pflicht, ihn am Gespräch zu beteiligen. Übersetzungen ins Türkische wären in diesem Fall von Nöten, um Herrn Öktem im Rahmen seiner Möglichkeiten handlungsfähig zu machen. Allenfalls dann, wenn die Folgen einer Demenz seine Zurückhaltung begründeten, würden auch Übersetzungen ins Türkische gegebenenfalls nur bedingt hilfreich sein und eine Beteiligung am Gespräch gewährleisten. Diese Lesart widerlegen der Berater und die Tochter in den folgenden Gesprächspassagen allerdings selbst. Denn Herr Dieck-
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mann geht nun vom zumindest zeitweiligen und damit potenziellen Verstehensvermögen des Vaters aus. Dies zeigt eine Passage, in der Herr Öktem eine hereinkommende Pflegerin der Sozialstation aus eigener Initiative mit »hallo« (Z.1038) begrüßt. [Öktem, Z.1054-1072]
Die Behauptung, der Vater könne nicht verstehen, wird hier revidiert. Es wird sogar in Frage gestellt, dass eine Demenz vorliegt (»dass er sich nicht GUT fühlt«, Z.1058; »dass es vielleicht doch an seinen […] nieren liegt«, Z.1059 und Z.1062). Obwohl Herr Dieckmann zu der Einschätzung gelangt, dass Herr Öktem »vollkommen wach« (Z.1067) gewesen sei, also im Gespräch – wenigstens zeitweilig – orientiert ist und situativ angemessen handelt, kommt es nicht zu einer Kommunikation mit ihm. Herr Dieckmann und Frau Öktem verhalten sich geradezu so, als stehe der Vater außerhalb des Interaktionsgeschehens, als wäre er praktisch nicht anwesend. Der Berater interpretiert dessen Verhalten. In der Weise, in der er dies tut, kommt zum Ausdruck, dass er von Herrn Öktem selbst Engagement erwartet. Er sei es, der, so Herr Dieckmann, »nicht viel anteil an unserm gespräch« nimmt (Z.1069f.). Von einer eigenen Verantwortung, den alten Migranten einzubeziehen, und von sprachlichen Hürden, die diesem die Partizipation erschweren, ist hier nicht mehr die Rede. Wenn der Berater, wie er hier behauptet, davon ausgeht, dass Herr Öktem »versucht so viel wie möglich mitzubekommen« (Z.1070 und Z.1072), dann läge es nahe, ihm diese Versuche zu erleichtern und ihn nicht mit seinen Verstehensbemühungen sich selbst zu überlassen. Es fällt insgesamt in diesem Gespräch auf, dass Herr Dieckmann und die Tochter das Nicht-Verstehen des Vaters nutzen, um über ihn zu sprechen und über ihn zu entscheiden, ihn gewissermaßen in Bezug auf die Regelung seiner persönlichen Belange zu bevormunden. Insofern ließe sich der hier vorliegende
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Ausschluss des alten Migranten als ein strategischer, mithin absichtlicher Ausschluss bewerten. Diese Strategie geht vor allem auf, weil beide faktisch sicher sind, dass Herr Öktem schon aufgrund seiner geringen Deutschkenntnisse der Kommunikation nicht folgen kann. Das erlaubt ihnen, Themen anzusprechen, an denen Herr Öktem nicht beteiligt werden soll: [Öktem, Z.515-517]
[Öktem, Z.492f.]
[Öktem, Z.780-792]
Herrn Öktem werden das Recht und die Fähigkeit abgesprochen, an der Regelung seiner eigenen Belange im Rahmen seiner Möglichkeiten mitzuwirken, obwohl noch nicht richterlich über seine gesetzliche Betreuung entschieden wurde. Es werden über ihn hinweg Entscheidungen gefällt, über die er, wie die folgende Passage zeigt, nicht einmal direkt informiert wird. [Öktem, Z.1340-1376]
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Diese Passage dokumentiert vor allem drei bereits benannte Aspekte. Erstens bestätigt die Tochter, wenn sie sagt »aber jetzt nicht von der sprache her« (Z.1346), dass ihr Vater aufgrund des Vorliegens von sprachlicher Differenz am Gespräch nicht aktiv mitwirken kann. Zweitens trägt sein fehlender Einbezug eindeutig die Tendenz zur Entmündigung, denn seine Informierung über die soeben getroffenen Entscheidungen erfolgt nicht unmittelbar. Er kann insofern dazu weder Stellung nehmen noch Rückfragen oder dergleichen anbringen. Stattdessen wird dieser Schritt von dem Berater aus dem Gespräch ausgelagert und zu einer Angelegenheit zwischen Vater und Tochter gemacht. In seiner Formulierung »wenn vadder jetzt fragt« (Z.1340) drückt sich zudem aus, dass der Berater es nicht einmal im Nachhinein zwingend für erforderlich hält, den Vater in Kenntnis zu setzen. Er hält es offenbar für angebrachter, die Tochter gewissermaßen anzuleiten, wie sie ihren Vater notfalls über das Gespräch informieren kann. Seine Aussage, er, der alte Migrant »mit seiner krankheit« (Z.1359), sei der Mittelpunkt und der »grund weswegen ich her kam« (Z.1360), hat sich nicht in seinem Handeln während des Gespräches widergespiegelt, sondern steht dazu im Kontrast. Frau Öktem zeigt wenig Zuversicht bezüglich des Gelingens einer Aufklärung des Vaters. Ihre Bemerkung, Vater sei »ja auch süß« (Z.1374), drückt zudem dessen Infantilisierung aus. Drittens zeigt sich erneut, dass die Verantwortung für die fehlende Partizipation des alten Migranten auf diesen selbst verschoben wird. Herr Dieckmann verstärkt seine Einschätzung, Herr Öktem würde verstehen, sogar noch, indem er nun davon ausgeht, der Vater habe nahezu alles verstanden, bis auf vielleicht »das ein und andere doch nicht ganz« (Z.1341 und Z.1344). Wenn er schon glaubt, »vadder kriegt sehr sehr viel mit (-) er kriegt mehr mit als man denkt« (Z.1344f.), dann hätte eine kommunikative Einbindung eigentlich nahe gelegen. Vor diesem Hintergrund
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scheint es, als möchte der Berater primär sich von der Verantwortung entbinden, Herrn Öktems Partizipation in diesem Gespräch nicht gefördert zu haben. Der alte Migrant, um dessen Belange es in dieser ›Beratung‹ geht, wird durch die anderen beiden Akteure vom Kommunikationsgeschehen ausgegrenzt. Er erhält nicht die Chance, an den Prozessen der Problemerhebung und des Treffens von Vereinbarungen zu partizipieren und diese mit zu beeinflussen. Es spricht sehr vieles dafür, dass sein Ausschluss vor allem in Verbindung mit sprachlicher Differenz steht, dadurch gewissermaßen möglich wird. Obwohl dem Berater offenbar bewusst ist, dass dieses ausgrenzende Vorgehen nicht korrekt ist, ändert er daran nichts. Das Nicht-Verstehen des Vaters wird hier gleichsam strategisch genutzt, um Entscheidungen zu treffen, die aus der Perspektive der Tochter als relevant oder wünschenswert erachtet werden. Die Entmündigung des alten Migranten scheint im Vordergrund seiner Nichtbeteiligung zu stehen. Von ihm Eigeninitiative zu erwarten, stellt eine Überforderung dar, da er sowohl krank ist, als auch über nur geringe Deutschkenntnisse verfügt. Etwas anders gelagert sind die folgenden Varianten des Ausschlusses alter Migrant/-innen. Nicht deren Entmündigung, sondern institutionelle Interessen rücken hier in den Vordergrund. Sie zeigen sich in Gesprächen, in denen neben dem Berater eine weitere Institution vertreten ist, die Interessen beim alten Migranten verfolgt, wie z.B. Pflegedienste. Die Partizipation des Ratsuchenden ist in diesen Fällen nicht gewährleistet, weil sich die Kommunikation primär zwischen den beiden Institutionsvertretern, Berater/-in und Pflegedienstmitarbeiter/-in, abspielt und diese über die Leistungen verhandeln. Der alte Migrant, der aufgrund seiner geringen Deutschkenntnisse dem deutschsprachigen Dialog nicht folgen kann, wird allenfalls einbezogen, wenn es um die Erfragung einzelner Informationen geht, übersetzt wird ihm jedoch kaum.
Institutionelle Verhandlungen über alte Migrant/-innen: Beratungen Alimov und Ahmadi Die Beratung von Herrn Alimov (AL), die bereits in Abschnitt 6.1.1 angeführt wurde, ist hierzu ein Beleg. Wie dort dargelegt werden konnte, bemüht sich der Berater Herr Dieckmann (DI) in diesem Gespräch zunächst darum, den Ratsuchenden zu involvieren. Es konnte gezeigt werden, dass die Pflegedienstleiterin Frau Bauer (BR) dies durch die Art und Weise ihrer Übersetzungen steuert und mehr oder weniger verhindert, so dass der Berater die Versuche der Partizipation des alten Migranten im Laufe des Gespräches aufgibt. Die Beratung entwickelt sich inhaltlich zu einer Absprache zwischen Herrn Dieckmann und Frau Bauer über die Herrn Alimov betreffenden Hilfeleistungen.
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[Alimov, Z.502-542]
* HWH = Hilfe zur Weiterführung des Haushalts; ** LK 23 = Leistungskomplex für ambulante Pflegeleistungen, hier »Große Grundpflege« (Anmerkungen: K.H.)
Hier liegt eine Besprechung zwischen zwei Professionellen vor, die sich über Hilfeart und -umfang bei einem Klienten einigen (»was wolln wir machen frau äh bauer«, Z.502). Herrn Dieckmann geht es nicht darum, die Unterstützungsleistungen mit Herrn Alimov selbst abzusprechen und mit dessen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Nicht Herr Alimov, der Empfänger der Hilfen, ist hier aufgefordert, sein »ok« zu geben. Dies erledigt die Pflegedienstleiterin gewissermaßen stellvertretend für ihn. Dem Berater kommt es auch ausschließlich auf ihre Zustimmung an. Vor ihr – nicht vor dem alten Migranten – argumentiert er für seinen Vorschlag (»ist das ok weil wie gesagt die wohnung ist ja […] leicht zu reinigen«, Z.508 und Z.510). Zudem trifft er Annahmen über Herrn Alimovs Wäscheumfang und dessen Bedürfnis nach Reinigung seiner Wohnung, die Frau Bauer
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mit Bezug auf das geschlechtsspezifische stereotype Argument, Herr Alimov sei ja »auch ein MANN« (Z.520), stützt. Vor allem zum Ende der zitierten Passage hin wird deutlich, dass sich das Gespräch zunehmend auf einer rein institutionellen Ebene bewegt. Mit Formulierungen wie »das ist also […] in dieser geschichte drin« (Z.523 und Z.525) und durch den Gebrauch von Fachjargon, der sich hier in der Kommunikation über Paragraphen und Abkürzungen manifestiert (Z.528537), entfernt sich das Gespräch von Herrn Alimov als individueller Person. Die Hilfen, die geleistet werden sollen, werden den gesetzlichen Grundlagen entsprechend kategorisiert und sprachlich verklausuliert. Zwar können Absprachen dieser Art zwischen Professionellen im Hinblick auf eine gemeinsame Verständigung über Umfang und Grenzen der Leistungen sinnvoll und notwendig sein. Jedoch fehlt in diesem Fall eine ergänzende Übersetzung der Ausführungen für Herrn Alimov ins Russische und in eine für ihn verständliche Begrifflichkeit. Seine Informierung über die Vereinbarungen erfolgt erst einige Zeit später, nach einer längeren Diskussion über Herrn Alimovs Grundsicherungsleistungen, und reduziert sich auf die Mitteilung »er hat zweimal wöchentlich je zwei stunden erlaubt plus hilfe beim baden« (Z.621f.), die ihm Frau Bauer auf Russisch gibt. Die Partizipation von Herrn Alimov an der ›Beratung‹ begrenzt sich auf einige sporadische Ansprachen und die Übersetzung des absolut Notwendigen ins Russische. Beide, sowohl Herr Dieckmann als auch Frau Bauer, wissen um die Angewiesenheit des alten Migranten auf die Übersetzungen der deutschsprachigen Kommunikation. Zudem präsentiert sich Herr Alimov selbst über die gesamte Interaktion hinweg als ausgesprochen zurückhaltend und kommunikativ passiv. Wenn er etwas beiträgt, dann nur auf direkte Ansprache hin und sehr leise. Dessen ungeachtet eröffnen ihm die Professionellen kaum Möglichkeiten, die seine Partizipation begünstigt hätten. Beide tragen durch ihr Handeln zum Ausschluss Herrn Alimovs von der Kommunikation bei: die Pflegedienstleiterin, indem sie ihre Dolmetschfunktion selektiv einsetzt und der Berater, indem er nicht beharrlich auf den Einbezug des alten Migranten besteht. Zwar haben Berater/-innen in Gesprächen, in denen sie auf dolmetschende Personen angewiesen sind, keinen gesicherten Einfluss darauf, was den Ratsuchenden übersetzt wird (vgl. dazu auch Kapitel 6.2.3). Es zeigt sich allerdings – nicht nur in dieser Beratung –, dass sie die Spielräume, die sie haben, das Gespräch dennoch stärker zu steuern, z.B. indem sie Übersetzungen vehement einfordern und indem sie immer wieder ihre Fragen direkt an die Ratsuchenden richten, nicht bzw. eher selten nutzen. Ähnlich wie in der Beratung Öktem ist sich der Berater auch hier der fehlenden Mitwirkung des alten Migranten bewusst. [Alimov, Z.799f.]
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In seiner Äußerung, »sie ham ja nur zugehört«, die dadurch, dass Herr Dieckmann die Lautstärke seiner Stimme senkt, weniger an Herrn Alimov selbst gerichtet ist, drückt der Berater sein Bewusstsein über das Versäumnis der Partizipation des Ratsuchenden vor Frau Bauer – oder vor dem Hintergrund der Forschung? – aus. Insofern merkt er hier einen Fehler seinerseits und möglicherweise auch der Pflegedienstleiterin implizit an. In seiner Formulierung, er habe nur zugehört, geht Herr Dieckmann allerdings explizit von dem alten Migranten selbst aus und weist ihm mindestens eine Mitverantwortung für die fehlende aktive Beteiligung an dem Gespräch zu. Abschließend soll auf die Beratung Ahmadi eingegangen werden, denn der Ausschluss der alten Migrantin erhält in diesem Gespräch eine andere Qualität. Ähnlich wie in der vorangehenden Beratung charakterisiert auch diese, dass die Beraterin und der Pflegedienstleiter über den Hilfebedarf der alten Migrantin verhandeln, ohne sie daran zu beteiligen. Ihre Marginalisierung vollzieht sich interessanterweise jedoch nicht allein auf einer interaktiven Ebene, sondern auch auf einer inhaltlichen, denn die Gesprächspartner entfernen sich peu à peu vom individuellen Fall Frau Ahmadi, indem sie ihre institutionellen Interessen in den Vordergrund stellen. Die Beraterin Frau Carstens (CA) führt den Hausbesuch bei der vor zehn Jahren aus Afghanistan immigrierten zirka 70-jährigen Frau Ahmadi (AI) durch, da diese gemeinsam mit ihrem Pflegedienst einen Antrag auf Hilfen im Haushalt und auf Unterstützung beim Baden gestellt hat. Frau Carstens will den angemeldeten Bedarf vor Ort überprüfen. Sie ist dazu auf die Übersetzungen des Pflegedienstleiters Herrn Hamedi (HM), ebenfalls afghanischer Herkunft, angewiesen. Die folgende etwas längere Passage, die den obigen Gesichtspunkt in zugespitzter Form verdeutlicht, ist der Phase der Problemerhebung entnommen. Der Pflegedienst, der sich auf dari- und farsisprachige Patient/-innen spezialisiert hat, wurde bei Frau Ahmadi bereits tätig, bevor das Sozialamt über die Bewilligung von Leistungen entschied. Nun geht es unter anderem darum, die bereits erbrachten Leistungen im Nachhinein zu finanzieren: [Ahmadi, Z.192-282]
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In dieser Passage prallen die zwei unterschiedlichen Orientierungsrahmen der Professionellen aufeinander. Während sich der Pflegedienstleiter am Versorgungsbedarf Frau Ahmadis orientiert und daraus die Notwendigkeit professioneller Hilfen durch seinen Pflegedienst ableitet (»sollen wir patienten ( ) unversorgt lassen«, Z.195; »pflegeaufwand«, Z.208; »weil sie alleine nicht in der lage sie hat massive k äh knochenschmerzen«, Z.224f.), steht für die Beraterin zunächst der Selbsthilfegedanke durch die Familie der alten Migrantin im Vordergrund (»sie ist ja nicht allein stehend«, Z.199; »aber sie hat familie in großstadt A«, Z.204). Diese Rahmeninkongruenz löst eine Konfrontation aus, durch die deutlich wird, dass es beiden nicht primär um Frau Ahmadi und deren individuellen Bedarf geht. Beide betrachten die Situation aus ihrer jeweiligen institutionellen Perspektive heraus und betonen primär ökonomische Gesichtspunkte. Die Beraterin tritt als Amtsautorität auf, die Herrn Hamedi bezüglich des Verfahrens belehren kann und von der dieser abhängig ist (»ohne bewilligung ist immer kritisch nä? müssen sie immer aufpassen erst warten bis ne bewilligung kommt«, Z.192 und Z.194; »bis ne bewilligung vom amt kommt«, Z.242). Wie an anderen Stellen des Gespräches explizit wird, verfolgt Frau Carstens in dieser Beratung vor allem ihren behördlichen Auftrag der Kontrolle (»leider bin ich ja hier um zu kontrollieren«, Z.527) und der Einsparung von Kosten (»ich muss halt gucken gibt es irgendwelche kostengünstigere lösungen«, Z.533 und Z.535). Hinzu kommt, dass sie, ohne bereits den Hilfebedarf Frau Ahmadis im Einzelnen erhoben zu haben, von einem eher geringen Hilfeumfang ausgeht, indem sie unterstellt, es brauche »hier« lediglich geputzt zu werden und das könne »mal nen monat« (Z.219) warten. Herr Hamedi hingegen vertritt seine Interessen als »freie[r] Unternehmer« (Z.263). Er betont das »risiko« (Z.235), das er durch die Vorleistung eingeht, und schiebt dem Amt – und damit Frau Carstens als dessen Vertreterin – die Verantwortung zu (z.B. Z.211). Durch seine wiederholte Äußerung, dass das »natürlich für uns sehr TRAgisch« sei (Z.259 und Z.213f.), verleiht er seiner Position besonderen Nachdruck. Dabei wird seine Profitorientierung deutlich. Er geht die Kontroverse mit der Beraterin nicht deshalb ein, weil er befürchtet, dass Frau Ahmadi ohne die Hilfen tatsächlich unversorgt bliebe, sondern weil seinem Pflegedienst ökonomische Nachteile drohen (vgl. z.B. »es ist nichts gewesen ne außer spesen«, Z.212f.; »so einfach kunden von uns abzuschlagen«, Z.233f.; »die angehörigen sagen ja wir suchen einen anderen pflegedienst«, Z.243f.; »wir müssen auch wissen ob wir unsere geld bekommen«, Z.255f.). Mit seiner Ethnisierung »äh wir sind dann auch selber afghanen nä« (Z.232) deutet er an, dass die Herkunft der Patientin für ihn ein Kriterium darstellt, gewissermaßen aus einer ethnienbezogenen Solidarität heraus, in Vorleistung zu gehen und sich zu Hilfe verpflichtet zu fühlen – jenseits von Ämterbewilligungen. Vor dem Hintergrund der eben zitierten Aussagen wirkt dieses Argument hier jedoch vorgeschoben. Afghanen sind sein Kapital. Er verdient mit dieser Zielgruppe sein Geld. Für ihn ist die ethnische Herkunft Frau Ahmadis daher lukrativ.
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Zugespitzt formuliert könnte insofern zusammengefasst werden: Es geht hier insgesamt vorrangig um Geld. Es handelt sich um ein Geschäftsgespräch, bei dem der Hilfebedarf Frau Ahmadis verhandelt und um dessen Kosten debattiert wird. Nicht irrelevant ist dabei ebenfalls, dass hier offenbar institutionelle Kontroversen auf dem Rücken der alten Migrantin ausgetragen werden. Die Auseinandersetzung der beiden Institutionsvertreter erscheint auch als ein Machtkampf darum, wer sich und die Interessen seiner Institution letztendlich durchsetzen kann. Im Zuge dessen verschiebt sich die Kommunikation auf eine grundsätzliche und allgemeine Ebene, die beide vom Einzelfall wegführt (z.B. Z.239f.: »also einfach nun mal zum vorgehen auch für zukünftige […] aufträge von angehörigen«). Frau Ahmadi, die der eigentliche Anlass des Gespräches ist, steht hier nur noch exemplarisch für andere, vergleichbare Fälle (vgl. Z.251-274). Ohnehin vom Geschehen isoliert, da ihr nicht übersetzt wird, verschwindet sie als individuelle Ratsuchende spätestens ab Zeile 230 auch inhaltlich aus dem Diskurs. An der häufigen Verwendung der Personalpronomen »wir«, gemeint ist der Pflegedienst, und »ich« durch Herrn Hamedi und Frau Carstens, zeigt sich zum einen ein Wechsel von der Kommunikation über Frau Ahmadi hin zu einer Beschäftigung der Professionellen mit sich selbst. Zum anderen wird, statt von Frau Ahmadi als Person zu sprechen, nunmehr auf pauschale, entindividualisierende Bezeichnungen, wie »jemanden« (Z.230), »afghanen« (Z.232), »kunden« (Z.234), »angehörigen« (z.B. Z.240), »diese leute« (Z.256), »sozialhilfeempfänger« (Z.256) sowie schließlich »diese frau« (Z.278) zurückgegriffen. Resümierend zeigt sich als ein erster Untertyp der in diesem Kapitel zu beschreibenden Wirkungsweise ethnischer Differenzierungen, der »Erosion des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchenden«, dass Ratsuchende durch das Handeln des Beraters oder anderer beteiligter Personen vom Beratungsgeschehen ausgeschlossen werden können. Dieser Ausschluss wird vor allem durch sprachliche Differenz und mit ihr einhergehenden Verstehens- und Verständigungshürden befördert. Die Marginalisierung der alten Migrant/-innen, so dokumentiert sich, steht im Kontext von Entmündigungen und/oder institutionellen Verhandlungen, die sogar den Charakter von Geschäftsgesprächen einnehmen können. In allen Fällen ist die Partizipation des alten Migranten, um dessen Belange es in dem jeweiligen Gespräch geht, nicht sichergestellt. Da er nicht die Rolle eines Ratsuchenden einnimmt bzw. nicht einnehmen kann, denn ihm werden die Bedingungen dafür nicht eröffnet, erodiert das Berater-Ratsuchenden-Verhältnis bzw. kommt es von Anfang an nicht zustande. Während im Fall Öktem ersatzweise von einer Angehörigenberatung gesprochen werden könnte, liegen in den Beratungen Alimov und Ahmadi letztlich Verhandlungen über alte Migrant/-innen vor. Die Folgen, die dies auf der Inhaltsebene der Beratung hat, lassen sich als Tendenz zur Entindividualisierung von Hilfen beschreiben. Damit gemeint ist die verkürzte, mehr oder weniger ganz ausbleibende oder ver-
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mittelt über Dritte erfolgende Erhebung der Problemsituation des alten Migranten sowie eine Hilfeplanung, die über ihn hinweg geschieht. In den Beratungen der Altentagesstätte konnte diese Wirkungsweise sprachlicher Differenz nicht rekonstruiert werden. Keiner der Ratsuchenden dort schien derart vom Geschehen ausgegrenzt zu sein, dass eine Erosion der Komplementarität von Berater und Ratsuchendem angenommen werden musste. Anders verhält es sich jedoch mit dem zweiten Untertyp in diesem Kontext. Dieser dokumentiert sich sowohl in den Beratungen der Altentagesstätte als auch in denen der Behörde und beschreibt den Ausschluss der beratenden Person.
6.2.3 Der Teilausschluss des Beraters von der Kommunikation Wie bereits im Zusammenhang mit dem ersten Typus, der »Belastung des Beziehungsaufbaus zwischen Berater und Ratsuchenden durch ethnische Differenzierungen«, deutlich wurde, kann der Berater in Gesprächen, in denen sprachliche Differenz wirksam wird, vom Geschehen zeitweilig abgeschnitten werden (vgl. Kapitel 6.1.2). Während dort der Fokus vor allem auf dem Aufbau von Vertrauensbeziehungen durch herkunftssprachige Kommunikation zwischen Gesprächsbeteiligten gleicher Herkunft lag, zeigen die folgenden Dokumente, dass diese Personen durch den damit einhergehenden Ausschluss des Beraters den Beratungsverlauf inhaltlich steuern können.11 Insbesondere durch das vorsätzliche Zurückhalten von beratungsrelevanten Informationen und die NichtBeteiligung des Beraters an Besprechungen in der Herkunftssprache entziehen sie diesem teilweise die Kontrolle über das Geschehen. Er verliert dadurch wissentlich oder unwissentlich an gestalterischem Einfluss. Sprachliche Differenz wird insofern hier auf eine Weise geltend gemacht, die den Berater in der Ausübung seiner Beraterrolle schwächt, zum Teil sogar maßgeblich behindert. Zwei zentrale Varianten können diesbezüglich unterschieden werden. Die Beratungen Stefanovic und Azimi zeigen, dass der Ausschluss des Beraters strategisch erfolgen kann, um eigene Interessen im Hinblick auf das Beratungsziel argumentativ besser durchzusetzen. An der Beratung Ersoy kann erläutert werden, inwiefern die Dolmetscherin in das professionelle Handeln der Beraterin ohne deren Kenntnis eingreift, indem sie in der Herkunftssprache Ratschläge erteilt. In beiden Varianten ist das Komplementärverhältnis von Berater und Ratsuchendem zumindest temporär gefährdet. Als eine Sondervariante wird abschließend auf die Beratung Bozkurt eingegangen, in der die Beraterin ihre Beraterrolle ausdrücklich der Dolmetscherin überträgt.
11 | Schon die in Kapitel 6.1.2 zitierten Passagen aus der Beratung Demirel weisen in diese Richtung.
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Strategischer Teilausschluss des Beraters: Beratungen Stefanovic und Azimi Die Beratung Stefanovic (vgl. Kapitel 6.1.1) ist ein besonders markantes Beispiel, das zeigt, wie der Berater Herr Dieckmann unmittelbar in der Durchführung der Beratung behindert wird. Der maßgebliche Akteur ist hierbei der Ratsuchende Herr Stefanovic, der die ihm zukommende Dolmetschrolle in der Kommunikation des Beraters mit der Ehefrau gezielt für die Durchsetzung seiner Interessen nutzt. Obwohl Herr Dieckmann (DI) sich relativ beharrlich für die Partizipation Frau Stefanovic’ einsetzt, erfährt er nichts von deren Bedenken bezüglich der Hilfen, die er dem Ehepaar anbietet und bleibt schließlich in dem Glauben, einvernehmliche Entscheidungen zu treffen. Schon sein erster Versuch, Frau Stefanovic (FS) direkt zu beraten, wird durch Herrn Stefanovic (HS) gebremst. [Stefanovic, Z.413-421]
Zunächst akzeptiert Herr Dieckmann das Eingreifen des Ehemannes, der hier stellvertretend für seine Frau antwortet und zudem die Übersetzerrolle für sich beansprucht, nicht (»nee lass mal«). Schließlich willigt er jedoch ein, nur vermittelt über den Ehemann mit Frau Stefanovic zu kommunizieren. Der Berater verliert an dieser Stelle die Kompetenz zur autonomen Gesprächsführung. Um Herrn Stefanovic’ Frau beraten zu können, scheint er sich in dessen Abhängigkeit begeben zu müssen. Da er keinen unmittelbaren Einfluss auf Übersetzungen ausüben kann, bedeutet der Entschluss, der hier getroffen wird, für ihn auch Kontrollverlust. Vermutlich geht er allerdings davon aus, dass Frau Stefanovic’ Partizipation mittels Übersetzung gewährleistet ist. In der sich anschließenden Erfassung des Hilfebedarfes bleibt eine solche Übersetzung allerdings aus, denn Herr Stefanovic behält sich vor, dem Berater selbst zu antworten. Herr Dieckmann muss vehement auf Übersetzung dringen. Erst nachdem er den Ehemann mehrmals explizit auffordert, »fragen sie mal ihre frau« (Z.428; Z.491; Z.493; Z.514 sowie Z.522), kommt dieser dem nach:
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[Stefanovic, Z.512-525]
Die Übersetzung des Ehemannes ist sehr stark verkürzt und entspricht nicht den vom Berater gestellten Fragen. Die Frage nach der von ihr benötigten Hilfe übermittelt er ihr gar nicht. Zudem reagiert Herr Stefanovic auf die Aufforderung des Beraters, die Ehefrau zu fragen, fast erstaunt (»ach sie möch«, Z.513) und erfüllt diese Anweisung sehr lapidar. Er scheint ihren Einbezug nicht für nötig zu halten. Die Beratung setzt sich auf ähnlich mühsame Weise fort. Um an Informationen von der Ehefrau persönlich zu gelangen, muss Herr Dieckmann insistieren und seine Aufforderung »fragen sie mal ihre frau« permanent wiederholen (Z.553; Z.559 und Z.643). Durch die sich daraus ergebenden kurzen ›serbokroatischsprachigen‹ Dialoge zwischen dem Ehepaar wird deutlich, dass Frau Stefanovic keine der angebotenen Hilfeleistungen möchte. So lehnt sie sowohl eine Haushaltshilfe (»ne treba«, deutsch: braucht nicht, Z.565f.) als auch einen Zivildienstleistenden (»šta će mi«, deutsch: was soll ich damit, Z.651f.) ab. Ihr Ehemann hingegen möchte die Hilfeleistungen in Anspruch nehmen. Er beeinflusst seine Frau dahingehend, bis sie sich fügt und – zumindest scheinbar – einem Zivildienstleistenden als Hilfe im Haushalt zustimmt: [Stefanovic, Z.643-670]
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Die Interessenkollision zwischen dem Ehepaar, die der Einwilligung Frau Stefanovic’ in den Zivildienstleistenden vorangeht, wird nicht für alle Beteiligten offen gelegt. Sie entzieht sich daher einer allgemeinen Verhandlungsmöglichkeit und somit auch einer einvernehmlichen Lösung. Als ›sprachmächtigste‹ Person in diesem Interaktionsgefüge gelingt es Herrn Stefanovic, die Kontroverse zu verdecken und sein eigenes Interesse erfolgreich gegenüber dem Berater zur Geltung zu bringen. Angewiesen auf dessen Übersetzungen, kann Herr Dieckmann nur von dem ausgehen, was ihm übermittelt wird. Er muss annehmen, so wie ihm Herr Stefanovic versichert, dass die Hilfe durch einen Zivildienstleistenden dem Interesse der Ehefrau entspricht und setzt daraufhin die Beratung mit der konkreten Planung des Einsatzes fort. Zwar befindet sich der Berater als Vertreter der bewilligenden Institution in einer den Ratsuchenden übergeordneten und in Bezug auf Entscheidungen mächtigen Position. Ohne seine Befürwortung würden Hilfen nicht bewilligt werden. Zumindest offiziell ist Herr Dieckmann insofern die Person mit dem am weitesten reichenden Einfluss, auch über die Beratungssituation hinaus. Dennoch werden ihm die Einflussmöglichkeiten im Laufe des Interaktionsgeschehens durch Herrn Stefanovic streitig gemacht. Bezogen auf die Beratungssituation selbst gelingt es diesem, an Gestaltungsmacht zu gewinnen. Die zitierten Gesprächspassagen zeigen Herrn Stefanovic als dominanten Akteur. Seine Dominanz, die er durch seinen Umgang mit sprachlicher Differenz herstellen und aufrechterhalten kann, äußert sich gegenüber seiner Ehefrau darin, ihren Standpunkt nicht gelten zu lassen. Sie manifestiert sich gegenüber dem Berater, als er dessen Aufforderung der Ehefrau zu übersetzen, nicht nachkommt. Sein dominantes Verhalten dokumentiert sich schließlich auch darin, dass er beiden Informationen vorenthält und Übersetzungen inhaltlich steuert. Die Dolmetscherposition, die Herr Stefanovic zwischen seiner Ehefrau und dem Berater bekleidet, ermöglicht ihm, strategisch im eigenen Sinne zu handeln. Frau Stefanovic ist es nicht möglich, als Ratsuchende aktiv in Erscheinung zu treten. Herrn Dieckmann wiederum gelingt es entgegen seiner Absicht nicht, ein Berater-Ratsuchenden-Verhältnis zu Frau Stefanovic aufzubauen. Es entzieht sich sogar seiner Kenntnis, dass ihm dies auch mit Hilfe der ›Übersetzungen‹ des Ehemannes nicht wirklich gelingt. Strategisches Handeln unter Zuhilfenahme von sprachlicher Differenz zeigt sich auch in der Beratung Azimi. Bei der Beratung der 65-jährigen Frau Azimi (AZ), die sieben Jahre zuvor aus dem Iran immigrierte, sind neben dem Bera-
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ter Herrn Dieckmann (DI) auch der Pflegedienstleiter Herr Hamedi (HM) und eine Farsi sprechende Pflegerin namens Mitra (MI) anwesend. Im Gesprächsverlauf wird deutlich, dass Frau Azimi, Herr Hamedi und die Pflegerin gemeinsam in dem Interesse agieren, möglichst umfängliche Hilfeleistungen für die alte Migrantin zu erzielen. Der Pflegedienstleiter, der in diesem Gespräch die dolmetschende Funktion übernimmt, ist dabei der einflussreichste ›Gesprächssteuerer‹. Er nutzt die fehlenden Farsi-Kenntnisse des Beraters, um mit der Ratsuchenden und der Pflegerin taktische Absprachen zu treffen. So muss er an mehreren Stellen des Gespräches verhindern, vor dem Berater widersprüchlich aufzutreten, da das gegebenenfalls das anvisierte Beratungsziel gefährden könnte. Ein Beispiel soll dies illustrieren. In der folgenden Passage betont Frau Azimi, dass sie über keine Familienangehörigen verfügt: [Azimi, Z.135-138]
Nachdem Frau Azimi kurz darauf von einem während des Beratungsgespräches entgegengenommenen Telefonanruf berichtet, kommt es zu folgender Anweisung des Pflegedienstleiters auf Farsi: [Azimi, Z.233-236]
Herr Hamedi will hier offensichtlich vermeiden, dass der Berater Kenntnis von dem Schwiegersohn erhält. Diese Information stände im Widerspruch zu der vorherigen Angabe der Ratsuchenden, sie habe keine Familie, und hätte gegebenenfalls zur Folge, dass der Berater nach Selbsthilfemöglichkeiten im familiären Umfeld forscht. Vor dem Hintergrund der Profitorientierung des Pflegedienstleiters, die sich in der Beratung Ahmadi deutlich zeigte (siehe Kapitel 6.2.2)12 , kann mit einiger Wahrscheinlichkeit auch für diese Beratung angenommen werden, dass dies nicht in Herrn Hamedis Interesse sein dürfte. Ähnlich wie in der Beratung Stefanovic wird der Berater hier durch das Vorenthalten zentraler Informationen in der Ausübung seiner Beratungstätigkeit gelenkt. Als ein weiteres Dokument in diesem Kontext können außerdem die 12 | Es handelt sich hierbei um dieselbe Person.
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in Kapitel 6.1.2 angeführten Passagen aus der Beratung Demirel gelten. Auch in jener Beratung werden der Beraterin seitens der Ratsuchenden und der Dolmetscherin relevante Sachverhalte bewusst verschwiegen. Wie gezeigt werden konnte, haben sie dort zur Folge, dass die Beraterin in ihrer Beratungsdurchführung maßgeblich irritiert wird.
Übernahme beraterischer Anteile durch die Dolmetscherin: Beratungen Ersoy und Bozkurt Anders gelagert ist der Teilausschluss der Beraterin vom Interaktionsgeschehen in den folgenden Beratungen aus der Altentagesstätte. Gespräche mit Beteiligung einer Dolmetscherin zeigen, dass diese mitunter von ihrer ›reinen‹ Dolmetschaufgabe abweicht und teils mit, teils ohne Wissen der Beraterin in den inhaltlichen Prozess der Beratung eingreift. Da die Dolmetscherin Fatma jedoch selbst keine professionelle Beraterin ist, kann hier nicht von einer Fortsetzung der Beratung durch Fatma, also ihrer Übernahme der Beraterrolle, gesprochen werden. Es handelt sich vielmehr um das Geben von Ratschlägen, wie es charakteristisch ist für so genannte Alltagsberatungen, d.h. um Hinweise oder Vorschläge, die in informellen Gesprächen des Ratsuchenden mit Personen seines nahen sozialen Umfeldes beinahe täglich vorkommen, nicht jedoch auf einer systematischen Problemerfassung des Ratgebers basieren (vgl. Belardi u.a. 2007: 36). Nicht immer wirken sie förderlich auf den Beratungsprozess ein. Oftmals sind sie sogar sachlich falsch und führen, statt zu hilfreichen Lösungen, zur Verwirrung des Ratsuchenden. Da sie meist in dessen Herkunftssprache erfolgen, kann die Beraterin nicht eingreifen. Sie hat keine Kontrolle über diese Ratschläge. In der Beratung Ersoy gefährden sie sogar den Erfolg des Beratungsprozesses. Das Datenmaterial der Beratung Ersoy umfasst zwei aufeinander folgende Gespräche im Abstand von drei Tagen. Anlass der Beratung des 1974 aus der Türkei immigrierten, zurzeit arbeitslosen 59-jährigen Ratsuchenden ist – aus Sicht der Beraterin Frau Adam (AD) – die Stellung eines Antrages auf Prozesskostenhilfe für Herrn Ersoys Frau, der von ihrem Arbeitgeber gekündigt wurde und die nun eine Kündigungsschutzklage anstrebt. Herr Ersoy (ER), ein Analphabet, hat allerdings zwei weitere Anliegen, die er vor Beginn der Beratung der Dolmetscherin Fatma (FM) auf Türkisch unterbreitet (vgl. Beratung Ersoy, Gespräch I, Z.638-830): Frau Ersoy, die sich derzeit im Krankenhaus befindet, bezieht Krankengeld. Da die letzte Krankengeldzahlung bislang nicht erfolgte, möchte Herr Ersoy nun zum einen wissen, in welchen Abständen er die für den Bezug des Krankengeldes erforderlichen Zahlscheine vom Arzt zu unterschreiben und bei der Krankenkasse einzureichen habe. Zum anderen sei die Sozialhilfe der Familie gekürzt worden und Herr Ersoy, der den Hintergrund dieser Kürzung nicht nachvollziehen kann, bittet um Klärung. Von beiden Anliegen erfährt die Beraterin Frau Adam im ersten Gespräch nichts, da Fatma die Fragen nicht an sie weiterleitet, sondern, im Falle der Zahlscheine, eigenmächtig agiert.
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Gemeinsam mit Herrn Ersoy beratschlagt sie auf der Basis eines Schreibens der Krankenkasse, wie mit den Zahlscheinen zu verfahren sei. Sie rät ihm daraufhin zwar, den von ihm mitgebrachten Zahlschein dem Arzt auszuhändigen, kann ihm jedoch keine Antwort auf die Frage nach den notwendigen Abständen der Einreichung der Zahlscheine bei der Krankenkasse geben und fordert ihn auf, dies bei der Krankenkasse selbst nachzufragen. Wie sich in der drei Tage später stattfindenden Folgeberatung herausstellt, hat Fatmas Ratschlag nicht zur Klärung beigetragen. Die Angelegenheit hat sich indessen verkompliziert, denn die Krankengeldzahlungen verzögern sich weiterhin. Herr Ersoy muss das Thema, ebenso wie die Frage nach seiner gekürzten Sozialhilfe, erneut einbringen. [Ersoy, Gespräch II, Z.191-197]
Dieses Mal übersetzt Fatma der Beraterin zwar: »karin er weiß nicht ob er äh krankengeld von seine frau bekommen hat« (Z.221f.). Allerdings informiert sie die Beraterin nicht darüber, dass dieses Problem bereits drei Tage zuvor zwischen ihr und dem Ratsuchenden besprochen wurde. Frau Adam erfährt davon mehr oder weniger beiläufig, als sie Herrn Ersoy nach einer telefonischen Rückfrage bei dessen Krankenkasse erläutert, wie er sich zu verhalten habe: [Ersoy, Gespräch II, Z.945-992]
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Die Beratung findet am 14. Mai statt (Anmerkung: K.H.)
Erst als es im Zuge der Erläuterungen Frau Adams zu deren leichter Verwirrung kommt (»ja wer hat es zugeschickt?«, Z.961; »ich hab den gar nicht gesehen«, Z.971), klärt sich auf, dass bereits ein Gespräch zwischen Fatma und Herrn Ersoy drei Tage zuvor über die Zahlscheine stattfand. Die Beraterin scheint das jedoch nicht als Eingriff in ihre Beratungstätigkeit zu werten (»mhm ah ja ok«, Z.974). Sie vertraut Fatma offensichtlich, die hier angibt, sie »wusste schon« (Z.973), was zu tun gewesen sei. Als sie auf Nachfrage hin erfährt, dass Herr Ersoy bereits einen neuen Zahlschein vorliegen hat, weist sie diesen an: »sowie der zahlschein ein neuer kommt müssen sie sofort zum arzt und ihn ausfüllen lassen und gleich abgeben ohne den bekommen sie kein geld« (Z.989f. und Z.992). In dem daraufhin einsetzenden türkischsprachigen Dialog übersetzt die Dolmetscherin Herrn Ersoy zwar, dass er den Zahlschein zum Arzt zu bringen habe, sie macht ihm jedoch nicht deutlich, dass dies laut Beraterin stets »sofort« nach Erhalt der Zahlscheine zu erledigen sei. Herr Ersoy bleibt deshalb nach wie vor ratlos. Seine Frage nach den Abständen der Einreichung ist noch immer nicht beantwortet. Fatma beantwortet diese Frage nun in Eigenregie, und zwar mit einem zur Erklärung der Beraterin gegenläufigen Ratschlag: [Ersoy, Gespräch II, Z.1055-1092]
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Die Dolmetscherin durchkreuzt hier zunächst die Anweisungen der Beraterin, wenn sie dem Ratsuchenden rät, »dann warte mit dem anderen etwas« (Z.1061). Anstatt Frau Adam in ihre Überlegungen zu involvieren, beschließen Fatma und Herr Ersoy eigenmächtig, wie am besten zu verfahren sei. Dabei spielt weniger fachliches Wissen eine Rolle, sondern Meinungen bzw. Annahmen darüber, was als vernünftig gelten kann (»man kann es den arzt schließlich nicht…«, Z.1061f.; »man kann es nicht jeden tag…«, Z.1064; »ja meiner meinung nach auch«, Z.1070). An dieser Stelle wechselt die professionelle Beratung im Beisein der Beraterin, aber ohne deren Kenntnis, in eine Form von Alltagsberatung über, die erster inhaltlich diametral gegenübersteht. Frau Adam kann den auf Türkisch getroffenen Abmachungen nicht folgen. Es handelt sich um einen Zufall, dass die Dolmetscherin ihren ›falschen‹ Ratschlag korrigieren kann. Dadurch, dass Frau Adam das Vorgehen, das sie bereits erläuterte, wiederholt und dabei explizit betont »sofort zum arzt und sofort abgeben« (Z.1082), kommt es zu einer Richtigstellung. Zwei Handlungsweisen der Dolmetscherin führen in dieser Beratung zu einer Behinderung der Beratungstätigkeit von Frau Adam. Zum einen torpediert sie mit ihren informellen Ratschlägen das professionelle Handeln der Beraterin. Zum anderen übersetzt sie nicht umfassend und zum Teil sogar falsch, so dass die von der Beraterin gegebenen Hinweise und Erklärungen den Ratsuchenden nicht erreichen. Als eine Sondervariante dieses Typs von Wirkungsweisen sprachlicher Differenz kann die Beratung Bozkurt betrachtet werden, denn in diesem Gespräch
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gibt die Beraterin ihre Beraterrolle ausdrücklich an die Dolmetscherin ab. Sie tut dies, da sie Fatma mehr Kompetenz zuschreibt, das Anliegen der Ratsuchenden zu klären, als sich selbst. Die 64-jährige Ratsuchende Frau Bozkurt bittet um Übersetzung ins Deutsche einer auf Türkisch verfassten Bescheinigung, aus der hervorgeht, dass der Bruder ihres Ehemannes verstorben ist. Ihr Ehemann, der ohne Stellung eines Urlaubsantrags bei seinem Arbeitgeber spontan zur Beerdigung seines Bruders in die Türkei reiste, muss diese Bescheinigung nun dem Arbeitgeber vorlegen. [Bozkurt, Z.1789-1808]
Frau Adam überträgt der Dolmetscherin hier aus zwei Beweggründen heraus die beraterische Aufgabe. Zum einen ist Fatma aufgrund ihrer Türkischkenntnisse sprachlich kompetent (vgl. z.B. »kannst du das übersetzen?«, Z.1789), zum anderen weist die Beraterin ihr auch die hier erforderlichen fachlichen Kenntnisse zu, nämlich Bescheid zu wissen über das notwendige Vorgehen im Falle von beglaubigten Übersetzungen (»dann erklär frau bozkurt das wo sie hingehen muss«, Z.1805). Sie selbst stößt bei dem Anliegen der Ratsuchenden an ihre fachlichen Grenzen (»da hab ich da das weiß ich nicht«, Z.1808). Fatma hingegen signalisiert ihr in Äußerungen wie »ich kann übersetzen aber wir können nicht stempeln« (Z.1792f.) und »es gibt auch in stadtteil A spezielle leute dafür« (Z.1803f.), dass sie das Gespräch fachlich übernehmen kann. Die Beraterin vergibt ihre Beraterrolle keineswegs leichtfertig an Fatma. Sie eruiert zuvor die Problemsituation und wägt – mit Fatma gemeinsam – Möglichkeiten und Grenzen der Beratung Frau Bozkurts ab (»die frage ist natürlich ob…«, Z.1796). Danach überlässt sie der Dolmetscherin jedoch das Gespräch und wendet sich einem anderen Ratsuchenden zu. Sie erkundigt sich bei jener erst wieder im Nachhinein: »du hast ihr das erklärt nä?« (Z.1924). Das Berater-
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Ratsuchenden-Verhältnis kommt in dieser Beratung demnach aufgrund einer bewussten Entscheidung der Beraterin nicht zustande und wird durch eine – voraussichtlich – effektivere Alternative ersetzt. Die in diesem Abschnitt angeführten Passagen haben – ausgenommen der Beratung Bozkurt – gemeinsam, dass in ihnen sprachliche Differenz von den Akteuren auf eine Weise genutzt wird, die in ihrer Wirkung den Berater bei der Ausübung seiner beraterischen Aufgaben behindert und teilweise schwächt. Insbesondere dessen Ausschluss von herkunftssprachigen Kommunikationssequenzen, in denen beratungsrelevante Informationen besprochen werden, ist für diese Wirkungsweise verantwortlich. Dabei konnte festgestellt werden, dass der Ausschluss des Beraters zum einen strategischen Beweggründen, vor allem der Durchsetzung von beratungsbezogenen Interessen, folgt (vgl. Beratungen Stefanovic und Azimi) und zum anderen im Zusammenhang mit der Übernahme beraterischer Anteile durch die Dolmetscherin steht (vgl. Beratung Ersoy). Die Kompetenz des Beraters zur autonomen Gesprächsführung wird zeitweilig eingeschränkt. Er erreicht mit seinem beraterischen Handeln – entgegen seiner Absicht – die Ratsuchenden nicht. Es kann deshalb von einer Störung des Berater-Ratsuchenden-Verhältnisses gesprochen werden, sofern dies überhaupt errichtet werden konnte. Das hat unterschiedliche Folgen auf der Inhaltsebene der Beratung. Eine erodierende Komplementärbeziehung durch Schwächung der Beraterrolle kann zu einer Entindividualisierung von Hilfen führen (vgl. etwa Frau Stefanovic in der Beratung Stefanovic), sie kann den Ratsuchenden in einem Zustand der Ratlosigkeit zurücklassen (vgl. Beratung Ersoy), sie kann aber auch die Erreichung des vom Ratsuchenden gesetzten Beratungszieles taktisch unterstützen (vgl. Beratung Azimi und Herrn Stefanovic in der Beratung Stefanovic).
6.2.4 Fazit Typ II: Sprachliche Differenz wirkt erodierend auf das Komplementär verhältnis von Berater und Ratsuchenden ein Die zweite typische Wirkungsweise ethnischer Differenzierungen auf der Beziehungsebene von Beratungen alter Migrant/-innen wurde in diesem Abschnitt beschrieben als »Erosion des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchenden«. Darunter wurden vornehmlich Umgangsweisen der Akteure mit sprachlicher Differenz gefasst, die einen der Beteiligten an der Wahrnehmung seiner Gesprächsrolle hindern und im Extremfall die Beratung als solche grundlegend in Frage stellen. Der Sprache des Gesprächspartners nicht bzw. nur in einem geringen Maße mächtig zu sein, erschwert sowohl dem Berater als auch dem Ratsuchenden die Gestaltung des Beratungsprozesses und führt dazu, dass die Partizipation einzelner Beteiligter an der Beratung nicht mehr unmittelbar gewährleistet ist. Für den Berater bedeutet sprachliche Differenz zum Ratsuchenden eine gewichtige Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit, denn die Gesprächsführung ist sein bedeutendstes professionelles Instrument.
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Er wird von dolmetschenden Personen abhängig und verliert die Kontrolle über Teile des Kommunikationsgeschehens. Der Ratsuchende wiederum kann seine Problemsicht, seine Interessen und seine Bedürfnisse in der Beratungssprache Deutsch nicht immer zur Geltung bringen. Dolmetschende Personen unterstützen zumindest dann, wenn es sich nicht um professionelle Dolmetscher/-innen handelt, sondern um Familienangehörige, Pflegedienstmitarbeiter/-innen oder ungelernte Dolmetscher/-innen, nicht notwendig die Herstellung und Aufrechterhaltung des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchenden. Vielfach tragen sie sogar zu dessen Störung bei. Es konnte gezeigt werden, dass die mit sprachlicher Differenz einhergehenden möglichen Verständigungsschwierigkeiten vor allem dann bewältigt werden können und die Kommunikation nicht grundlegend gefährden, wenn sie offen thematisiert werden und wenn sich die Gesprächspartner motiviert zeigen, den Verständigungsprozess aufrechtzuerhalten (vgl. Kapitel 6.2.1). Nicht immer ist das jedoch der Fall. Denn wie sich nachweisen ließ, wird sprachlicher Differenz von den Akteuren in der Beratung teilweise auch eine Funktion zugeschrieben. Sie dient den Beteiligten als Instrument, das sie mehr oder weniger gezielt nutzen, um eigene Sichtweisen und eigene Interessen zur Geltung zu bringen. In zwei unterscheidbaren Kontexten manifestiert sich eine solche Funktionalisierung sprachlicher Differenz. Der erste Kontext zeigt den Berater als zentralen Akteur. Er handelt auf eine Weise, die die Partizipation der alten Migrant/-innen nicht sicherstellt, oft nicht einmal vorsieht. Die Beratungen Öktem, Alimov und Ahmadi dokumentieren, dass die alten Migrant/-innen dann nicht mehr die direkten Adressat/-innen der beraterischen Handlungen sind, sondern zum unbeteiligten Beratungsgegenstand degradiert werden (vgl. Kapitel 6.2.2). Im zweiten Kontext treten meist dritte Personen, wie Dolmetscher/innen oder Pflegedienstmitarbeiter/-innen, als maßgebliche Akteure auf. Sie durchkreuzen die Beratungstätigkeit des Beraters und irritieren dadurch den Beratungsverlauf. Der Berater wird durch – von ihm nicht verstandene – sprachliche Handlungen in der Herkunftssprache vom Geschehen ausgeschlossen und in seinem Handeln geschwächt. Die Beratungen Stefanovic, Azimi und Ersoy liefern dafür unterschiedliche Beispiele (vgl. Kapitel 6.2.3). Die Erosion des Komplementärverhältnisses droht daher vor allem dann, wenn bei vorliegender sprachlicher Differenz keine Versuche unternommen werden, für alle Gesprächsbeteiligten gleichermaßen Transparenz bezüglich der geäußerten sprachlichen Handlungen herzustellen, sondern der Ausschluss der alten Migrant/-innen oder der Berater/-innen aufgrund von deren Nicht-Verstehen in Kauf genommen bzw. sogar bewusst gesteuert wird. Dabei zeichnen sich die folgenden zwei Zusammenhänge ab: • Sprachliche Differenz wirkt erodierend auf das Berater-Ratsuchenden-Verhältnis ein, wenn sie interessengeleitet eingesetzt und funktionalisiert wird.
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Dabei können – von Seiten des Beraters – Entmündigungsabsichten, wie im Falle des alten Migranten in der Beratung Öktem, oder institutionelle Verhandlungen über Hilfeleistungen, wie in den Beratungen Alimov und Ahmadi, eine Rolle spielen. Ausgehend von den Ratsuchenden scheinen vor allem strategische Gesichtspunkte im Vordergrund zu stehen. Sprachliche Differenz kann dabei behilflich sein, eigene Beratungsziele gegenüber dem Berater zu vertreten und durchzusetzen. Dies wurde an den Beratungen Stefanovic und Azimi erkennbar. • Die Erosion des komplementären Rollenverhältnisses droht auch dann, wenn sprachliche Differenz dazu führt, dass sich Gesprächsrollen verschieben. Das ist zum einen in den Beratungen Öktem, Alimov und Ahmadi der Fall, wenn nämlich nicht der alte Migrant, um dessen Anliegen und Probleme es geht, sondern Angehörige oder Vertreter von Institutionen zu Adressaten der ›Beratung‹ werden. Zum anderen geschieht dies, wenn eine dolmetschende Person durch Ratschläge in den Beratungsprozess der Beraterin inhaltlich eingreift, wie in der Beratung Ersoy, oder von der Beraterin die Beraterrolle übertragen bekommt, wie in der Beratung Bozkurt. Mit diesem Typus sind die zwei zentralen Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen auf der Beziehungsebene von Beratung herausgestellt worden: Die in Kapitel 6.1 beschriebene »Belastung des Beziehungsaufbaus zwischen Berater und Ratsuchenden« zum einen und die in diesem Abschnitt dargelegte »Erosion des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchenden« zum anderen. Beide üben Einfluss auf die Inhalts- bzw. Sachebene der Beratung aus. Als die wohl dominanteste Auswirkung konnte bisher die Tendenz zur Entindividualisierung von Hilfen herausgearbeitet werden. Problemerfassung und Hilfeplanung erfolgen oftmals nicht in individueller Absprache mit den alten Migrant/-innen; relevante Informationen werden nicht immer allen Beteiligten zugänglich gemacht. Daneben zeigen sich im Material weitere Bezugnahmen auf ethnische Differenz, die direkt auf der Sachebene der Beratung anzusiedeln sind. Im Zuge der Erfassung der Problemsituation alter Migrant/-innen und der Festlegung von Hilfen wird auch inhaltlich auf ethnische Differenzierungen zurückgegriffen. Wie dies im Einzelnen geschieht, ist nun das Thema. Auch hier lassen sich zwei Typen rekonstruieren, denn Ethnisierungen wirken auf zwei kontrastierende Weisen inhaltlich auf den Beratungsprozess ein. Sie können einerseits einen Hilfebedarf begründen (Kapitel 6.3), andererseits jedoch auch zur Zurückweisung von institutionellen Hilfeleistungen führen (Kapitel 6.4). Zunächst stehen ethnische Bezugnahmen im Vordergrund, die im Kontext der Begründung eines Hilfebedarfs und der Gewährung institutioneller Hilfen geltend gemacht werden.
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6.3 D IE B EGRÜNDUNG EINES INSTITUTIONELLEN H ILFEBEDARFS UNTER B E ZUGNAHME AUF E THNISCHE D IFFERENZ (T YP III) Ethnische Differenzierungen, die auf der Ebene der Beratungsinhalte wirksam werden und bei der Begründung von Hilfen Relevanz erhalten, kommen in allen inhaltlichen Phasen der Beratung vor, d.h. sowohl bei der Erfassung der Problemsituation als auch bei der Planung und Umsetzung von konkreten Hilfeleistungen. Schon der Beratungsanlass kann einen ethnischen Bezug aufweisen, und zwar primär einen Bezug auf sprachliche Differenz, wenn nämlich – aus Sicht der Ratsuchenden – ein Problem aufgrund von geringen Deutschkenntnissen nicht eigenständig gelöst werden kann: [Stefanovic, Z.1196f.]
[Petri, Z.151-156]
In diesen beiden Beispielen aus der behördlichen Altenberatung führen geringe Deutschkenntnisse zu einem Unterstützungsbedarf der Ratsuchenden, mit dem diese sich hier an den Berater bzw. die Beraterin wenden. Im ersten Zitat aus der Beratung Stefanovic geht es um ein Schreiben des Vermieters, das Herr Stefanovic nicht ohne Hilfe des Beraters bearbeiten kann. Im zweiten Beispiel aus der Beratung Petri handelt es sich um ein Telefonat mit dem Stadtteilpolizisten, das die Petris sich nicht zutrauen selbst zu führen. Auch in den Beratungen aus der Altentagesstätte kommt es sehr häufig vor, dass der Beratungsanlass, z.B. das Nicht-Verstehen von offiziellen Schreiben und daraus hervorgehenden Anforderungen, im Zusammenhang mit geringen Deutschkenntnissen steht. Oftmals verknüpft sich der Unterstützungsbedarf hier allerdings auch mit dem Analphabetismus der Ratsuchenden. Darüber hinaus dokumentieren die Beratungen, dass ethnische Differenz auf höchst unterschiedliche Weise, und bei weitem nicht allein in Bezug auf sprachliche Differenz, inhaltlich im Kontext der Begründung von Hilfen geltend gemacht wird und auf den Beratungsprozess wirkt. Unterschieden werden können dabei Varianten ethnischer Bezugnahmen seitens der Berater/-innen und ethnische Differenzsetzungen, die durch Ratsuchende bzw. durch Perso-
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nen, die deren Herkunft teilen, erfolgen. So wird in diesem Abschnitt zunächst gezeigt, dass Berater/-innen bei der Deutung der Problemsituation der Ratsuchenden sowie bei der Entscheidung über die Art der Hilfeleistungen ›ethnische Differenz‹ thematisieren, indem sie von herkunftsbezogenen Spezifika ausgehen und Versuche unternehmen, diesen im Hilfeprozess gerecht zu werden (Kapitel 6.3.1). Die Beratungen Naderi, Azimi, Öktem und Alimov werden dies im Folgenden veranschaulichen. Dabei wird auch deutlich werden, dass die Motivation des Beraters, der von ihm zur Sprache gebrachten Differenz gerecht zu werden, oftmals in unhinterfragte, dem individuellen Fall nicht immer entsprechende ethnische Zuschreibungen mündet, da sie auf verallgemeinerten herkunftskulturellen Vorverständnissen basiert. Die Berücksichtigung von ›ethnischer Differenz‹ entspricht hier insofern weniger einer am Einzelfall interessierten und ausgerichteten Beratung. Auch Ratsuchende und Gesprächsbeteiligte gleicher Herkunft wie die Ratsuchenden machen ethnische Differenz im Zusammenhang mit der Begründung eines Hilfebedarfs geltend (Kapitel 6.3.2). Meist steht der Bezug auf ethnische Differenz in solchen Fällen in Verbindung mit Vertrautem und mit Gewohnheiten, deren Berücksichtigung bei der Lösung des behandelten Problems von den alten Migrant/-innen angestrebt wird. Anhand der Beratungen Ahmadi, Kolat und Charef wird verdeutlicht, wie der Wunsch der Ratsuchenden nach Anerkennung herkunftsbezogener Differenz in den Beratungen eine Rolle spielt.
6.3.1 Der ›ethnischen Differenz‹ gerecht werden? – Ethnisierungen seitens der Berater/-innen Bei Betrachtung der ethnischen Differenzierungen, die von den Berater/-innen aus erfolgen und sich unmittelbar auf die Beratungsinhalte beziehen, sind zwei zentrale Varianten zu erkennen. Im Zentrum stehen zunächst ethnische Bezugnahmen, die sich an dem in der Beratungssituation durch die Berater/-innen erfassten individuellen Bedarf der Ratsuchenden orientieren und insofern den Beratungsprozess hilfreich zu unterstützen scheinen. Im Anschluss wird gezeigt, dass darüber hinaus auch Ethnisierungen vorgenommen werden, die auf stereotypen Vorannahmen basieren und an alte Migrant/-innen ungeprüft herangetragen werden.
Am individuellen Bedarf der Ratsuchenden orientierte ethnische Bezugnahmen: Beratungen Azimi, Öktem und Naderi Eine am Bedarf alter Migrant/-innen orientierte Berücksichtigung herkunftsbezogener Aspekte dokumentiert sich in den Beratungen vor allem, wenn es um helfende Personen, wie Ärzte oder Pfleger, geht. So greift z.B. der Berater Herr Dieckmann in der Beratung Azimi (vgl. Kapitel 6.2.3) den Hinweis des Pflegedienstleiters über die kaum Deutsch sprechende Ratsuchende »ja sie
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braucht hilfe und persisch sprechender pflegedienst« (Z.292f.) über den gesamten Beratungsprozess hinweg immer wieder selbstverständlich auf, wenn er fragt, »schwester mitra ist (-) persin?« (Z.297f.), sich später erkundigt, »ist der iranisch? der doktor ehtesabi« (Z.1185) und schließlich in seinem schriftlichen Bericht über die vereinbarten Hilfen festhält, »dann pflegedienst weil (-) persische sprache« (Z.1306). Im folgenden Beispiel aus der Beratung Öktem (vgl. Kapitel 6.2.2) geht es um einen möglichen Umzug des alten Migranten in eine nahe gelegene Seniorenwohnanlage. Der Berater Herr Dieckmann (DI) macht in diesem Zusammenhang dessen Tochter Frau Öktem (ÖT) darauf aufmerksam, dass ihr kaum über Deutschkenntnisse verfügender Vater auf türkische Personen in seinem Umkreis angewiesen sein werde. [Öktem, Z.706-734]
Der Berater gibt hier zu bedenken, dass Frau Öktems Vorstellung, ihr Vater habe in der Seniorenwohnanlage »beschäftigung« (Z. 706), von türkischen Mitbewohnern sowie türkischem Personal abhinge. Er scheint dabei insbesondere auf die geringen Deutschkenntnisse des Migranten, die zuvor im Gespräch thematisiert wurden, anzuspielen.13 In seinen Ausführungen wird erkennbar, dass er in vergleichbaren Situationen auf türkische Bezugspersonen im Heim – und 13 | Nicht eindeutig zu klären ist jedoch, ob sich Herr Dieckmanns Hinweis bezüglich der Relevanz türkischer Personen im Heim allein auf den sprachlichen Aspekt bezieht.
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zwar aus seiner Sicht erfolgreich – achtet (»aus diesem grunde konnt ich auch bisher gut helfen wenn jemand ins heim gekommen ist«, Z.723 und Z.726). Im Falle von Herrn Öktem jedoch wägt er die Bedeutung herkunftsspezifischer Hilfen gegenüber der vorliegenden individuellen Situation ab (»aber in diesem falle«, Z.727). Dabei misst er der Familie, genauer der Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen, offenkundig ein größeres Gewicht bei. Eine nahe gelegene Seniorenwohnanlage sei deshalb einem Heim, in dem bekanntermaßen türkisches Personal tätig ist (»pflegeheim B«, Z.721), vorzuziehen, weil sie häufige Kontakte zwischen Vater und Tochter besser, vor allem ohne großen zeitlichen Aufwand, gewährleiste. Auch in der Beratung Naderi (vgl. Kapitel 6.1.1) bedenkt der Berater Herr Dieckmann im Zuge der Hilfeplanung eine spezifische Ausrichtung der Hilfe: [Naderi, Z.227-235]
Der Berater betont, keine männlichen Pflegekräfte als Badehilfe bei der Ratsuchenden einsetzen zu lassen. Ohne sich direkt bei der alten Migrantin zu erkundigen, ob sie männliche Pflegekräfte ablehnen würde, nimmt er dies hier – offenbar vor dem Hintergrund, dass es sich um eine Kopftuch tragende muslimische Ratsuchende handelt – an und wird in dieser Annahme durch den Pflegedienstleiter Herrn Hamedi bestätigt (»nee«, Z.230). Mit seiner Vorgehensweise signalisiert er der Ratsuchenden, dass er über religionsbedingte Erfordernisse informiert ist (»das ist mir klar das darf gar nicht«, Z.231) und diese bei der Ausgestaltung der Hilfeleistungen sowohl respektiert als auch selbstverständlich zu berücksichtigen gedenkt (»es kommt natürlich kein mann«, Z.228f.). In seiner prompten Art der Thematisierung dieses Aspektes scheint sich auch zu dokumentieren, dass er mögliche Bedenken Frau Naderis gegenüber einer – aus seiner Perspektive hier erforderlichen – Badehilfe vorwegzunehmen und zu entkräften beabsichtigt. In den bislang angeführten Gesprächsausschnitten zeigt sich der Berater möglichen herkunfts- bzw. religionsbezogenen Spezifika gegenüber offen und behandelt ihren Einbezug in die Hilfeplanung als Selbstverständlichkeit. Es lässt sich für diese Beispiele mit einiger Gewissheit schließen, dass durch die Art und Weise der ethnischen Differenzierungen des Beraters der individuelle Bedarf der Ratsuchenden nicht missachtet wird. Dies ist in den Beratungen
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alter Migrant/-innen keineswegs die Regel und wird deshalb hier als hervorhebenswert erachtet. In den folgenden Passagen zeigt sich ein anderes Bild. Die ethnischen Differenzierungen, die der Berater hier vornimmt, orientieren sich kaum an der individuellen Situation der Ratsuchenden. Stereotype Vorstellungen treten in den Vordergrund.
Auf stereotypen Vor verständnissen über Ratsuchende basierende ethnische Bezugnahmen: Beratungen Alimov und Öktem Ein besonders prägnantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Beratung Alimov (vgl. auch Kapitel 6.1.1) zu entnehmen. Die Hilfe, die der Berater hier anbietet, leitet dieser primär aus stark vereinfachten, verallgemeinerten Annahmen über Migrant/-innen aus Russland ab, die er mehr oder weniger ungeprüft auf den Ratsuchenden überträgt. In dieser Beratung wird dem als jüdischen Kontingentflüchtling eingewanderten Ratsuchenden Herrn Alimov (AL) ein Kuraufenthalt in einer jüdischen Gemeinde nahe gelegt, die – so der Berater – dazu dienen soll, »in das jüdische leben wieder reinzukommen« (Z.651). Herr Dieckmann (DI) formuliert sein Angebot folgendermaßen: [Alimov, Z.170-173]
Herrn Dieckmanns Frage, die die Pflegedienstleiterin Frau Bauer (BR) dem Ratsuchenden übersetzen soll, liegt die Annahme zugrunde, dass Herr Alimov, weil sein rechtlicher Status als Migrant der eines jüdischen Kontingentflüchtlings ist, ein Interesse an der jüdischen Gemeinde haben könnte. In dem sich anschließenden Dialog zwischen Herrn Dieckmann und Frau Bauer über diese »kurzfreizeit«14 wird deutlich, dass es jenem mit der Unterstützungsleistung weniger um die Bewilligung einer Kur an sich geht. Er ermittelt an keiner Stelle der Beratung, ob Herr Alimov überhaupt eine Kur benötigt. Ihm geht es primär darum, Herrn Alimov ein Umfeld zu ermöglichen, in dem dieser ›seine‹ jüdische Tradition praktizieren kann. Dass für eine Kur ein ärztliches Attest erforderlich ist, wie Herr Dieckmann selbst erwähnt (»wir brauchen dazu ein ärztliches attest dass herr alimov […] ein aufenthalt in kurbad K möchte«, Z.187-190), und ein solches in der Regel auf einer medizinischen Indikation, nicht jedoch auf einer religiös-kulturellen Begründung basiert, scheint unbedeutend. Der Berater führt genauer aus: 14 | Der Begriff der »Kurzfreizeit«, den der Berater hier wählt, ist sachlich missverständlich. »Kurzfreizeiten« werden nicht durch ärztliche Atteste verschrieben. Es ist davon auszugehen, dass Herr Dieckmann von einem Kuraufenthalt spricht.
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[Alimov, Z.195-202]
Diese Ausführungen des Beraters veranlassen die Pflegedienstleiterin, sich bei Herrn Dieckmann zu erkundigen, ob die Mitgliedschaft Herrn Alimovs in der jüdischen Gemeinde Voraussetzung für einen solchen Kuraufenthalt sei. Die folgende – etwas längere – Passage, die sich daraufhin anschließt, eignet sich vor allem deshalb sehr gut als Dokument der in diesem Abschnitt zu erläuternden Variante ethnischer Differenzierungen, weil der Berater hier explizit darlegt, was ihn zu seinem Angebot der Hilfeleistung veranlasst hat. [Alimov, Z.222-296]
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Zu Beginn dieser Passage wird zum einen deutlich, dass die Pflegedienstleiterin, anders als der Berater, keine religiös-kulturellen Gesichtspunkte, sondern Aspekte, die auf die soziale Sicherung zielen, wie »wohnung« und »papierkram«, bislang ins Zentrum ihrer Hilfen stellte (Z.228-235). Zum anderen zeigt sich, dass das Angebot des Beraters auf stark vereinfachten Annahmen und Schlussfolgerungen in Bezug auf Herrn Alimov basiert. In Äußerungen wie »ja wenn seine wurzeln aber als kontingentflüchtling geh geh ich ja davon AUS […] dass seine wurzeln jüdisch sind« (Z.225 und Z.227) und »herr alimov wird mit sicherheit also ich nehme es an äh seine wurzeln im in der jüdischen gemeinde haben« (Z.256-258) manifestiert sich, dass seiner Entscheidung über die Hilfeleistung keine am individuellen Fall orientierte Problemerfassung voranging. Sie beruht stattdessen auf seinem Vorwissen. Dieses besteht in der generellen Annahme, dass Kontingentflüchtlinge nicht allein jüdische »wurzeln« vorwiesen, sondern zudem auch Wurzeln in der »jüdischen gemeinde« hätten, dass es sich mithin um praktizierende bzw. an Traditionen interessierte Juden handele. Von der Möglichkeit, diese Annahme am Einzelfall, hier Herrn Alimov, zu prüfen, macht der Berater keinen Gebrauch. Es spielt für ihn offenbar keine entscheidende Rolle, wie Herr Alimov selbst zu seinen jüdischen »wurzeln« steht. Der Berater bittet lediglich um Bestätigung des Rechtsstatus’ Kontingentflüchtling (Z.266f.), ein Bezug zur jüdischen Gemeinde scheint sich daraus für ihn abzuleiten. Dem Blick des Beraters auf Herrn Alimov liegt ein sehr schlichtes, undifferenziertes Bild von Migrant/-innen aus Russland zugrunde. So schließt er in seiner Ar-
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gumentation auch daraus, dass Herr Alimov, weil er angeblich kein »schwabendeutsch« (Z.284) könne, nicht als »spätaussiedler«, sondern »auf jeden fall […] wohl dann als kontingentflüchtling hier geführt« (Z.286f. und Z.289) werde. Herr Dieckmann macht in dieser Aussage demnach Herrn Alimovs Rechtsstatus als Kontingentflüchtling an sprachlichen Kriterien fest. Die Begründung des spezifischen Hilfebedarfs einer »kurzfreizeit«, um in das »jüdische leben wieder reinzukommen« basiert insgesamt also auf der folgenden Kette an Annahmen: kein Schwabendeutsch = Kontingentflüchtling, Kontingentflüchtling = jüdische Wurzeln, jüdische Wurzeln = interessiert an jüdischer Gemeinde und an jüdischen Traditionen. Hinzu kommt, dass der Berater von der Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen überzeugt zu sein scheint, denn sie leiten sich für ihn aus seinem Wissen über die geschichtlichen Hintergründe von Einwanderern aus Russland unmittelbar ab. Er fühlt sich zudem berufen, seine beiden aus Russland stammenden Gesprächspartner diesbezüglich zu belehren. Er klärt die Pflegedienstleiterin, indem er einen großen historischen Bogen spannt, über den Unterschied zwischen »DEUTSCHrussen« (Z.238) und Kontingentflüchtlingen auf und unterstellt Herrn Alimov, diesen Unterschied vielleicht nicht zu wissen (»dass sie herrn alimov mal fragen ob er als kontingentflüchtling oder na den unterschied WEIß«, Z.281-283). In dieser und in ähnlichen Formulierungen, wie »äh frau bauer es ist aber so« (Z.236) und »kontingentflüchtling heißt…« (Z.267), präsentiert sich der Berater als Experte, der sich mit seinem Wissen profiliert und wenig Interesse an den persönlichen Erfahrungen und Kenntnissen der beiden Migranten zeigt. Mit ihrer wiederholt geäußerten Bemerkung »ja es ist klar« (Z.265 sowie Z.280), die von Herrn Dieckmann kaum registriert zu werden scheint, zeigt Frau Bauer, dass ihr die Informationen vertraut sind. Herr Dieckmanns dominantes Vorgehen drückt sich insbesondere am Ende der Passage aus, als er beschließt, Herrn Alimov in die Kur zu schicken, ohne dessen Stellungnahme dazu einzuholen (»mit kurbad K das nehmen wir mal in angriff«, Z.294f.). Ob Herr Alimov tatsächlich zustimmt, bleibt in dieser Passage unklar, da er nicht beteiligt wird.15 Auch in der Beratung Öktem spielen Vorannahmen des Beraters über Migrant/-innen eine Rolle. Im folgenden Gesprächsausschnitt erkundigt sich Herr Dieckmann nach den Rückkehrabsichten des Ehepaares Öktem in die Türkei. Seine Frage nach der Aufenthaltsdauer von Herrn Öktem in Deutschland zu Beginn der Passage führt zunächst zu einem kleineren kommunikativen Missverständnis, da dessen Tochter Frau Öktem (ÖT) die Frage des Beraters anders deutet:
15 | Mit dieser Passage liegt insofern auch ein Dokument des zweiten Typus, der Erosion des Komplementärverhältnisses von Berater und Ratsuchenden, vor (vgl. Kapitel 6.2.2).
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[Öktem, Z.358-405]
Zu Beginn dieser Passage werden die zwei unterschiedlichen Orientierungsrahmen des Beraters und der Tochter deutlich. Jener differenziert seine Gesprächspartner nach ihrer Herkunft. Er hat im Blick, dass es sich bei den Öktems um Migrant/-innen handelt und spricht daher die Aufenthaltsdauer des Vaters in Deutschland an, wobei er das missverständliche Wort »hier« gebraucht (Z.359). Frau Öktem fokussiert hingegen das akute Problem, um das es in der Beratung geht, nämlich den Zustand des Vaters nach seinem Krankenhausaufenthalt. Sie glaubt daher, der Berater beziehe seine Frage auf den Zeitraum seit dessen Krankenhausentlassung. Erst eine Präzisierung seitens des Beraters schafft Klarheit. Ferner prallt hier ein durch Literatur erworbenes und in Erfahrungen offenbar bestätigt gefundenes Vorwissen über alte Migrant/-innen
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auf die davon unter Umständen abweichende Realität des Einzelfalles. Der Berater scheint überzeugt zu sein, dass die Lebensplanung der Öktems seinem Bild entspricht (»die lebensplanung von (-) den eltern war ja sicherlich mal so wie ichs auch gelesen habe und eben erfahren habe«, Z.370f.). Auf diesem Bild beharrt er und stellt es über die persönlichen Erfahrungen Frau Öktems, wenn er auf ihre Ausführungen hin entgegnet »ja das ist die realität […] deshalb sag ich ja geplant war das sicherlich ich bleib drei jahre hier und dann geh ich wieder zurück und meist ähm ist das dann ganz anders gekommen« (Z.381, Z.383 und Z.385f.). Er unterstellt den Öktems hier, sowohl eine Migration auf Zeit beabsichtigt als auch ursprüngliche Rückkehrpläne nicht verwirklicht zu haben. In seinem Kommentar »nur festzustellen ist ja in jeden falle immer äh dass die planung anders war als dann das eigentliche leben« (Z.394, Z.396 und Z.398, Hervorhebungen: K.H.) wird zudem deutlich, dass für Herrn Dieckmann Abweichungen von dieser Erkenntnis nicht vorgesehen sind. Es scheint vielmehr, als suche er nach einer Bestätigung seines vorgefertigten Entwurfs. In den Beiträgen der Tochter spiegelt sich jedoch wider, dass dieser vorgefertigte Entwurf hier nicht oder nur eingeschränkt zutrifft. So widerspricht sie seinen Vorstellungen sehr entschieden mit den Äußerungen »nee das das könn die nee da das könn sie nicht mehr machen« (Z.375f.), »SIE könnte NIE mehr zurück« (Z.379) sowie »es kam auch NIE so in beTRACHT« (Z.402). Zudem reagiert sie amüsiert auf seine Vermutung, die Geburt der Kinder hätte vermeintliche Rückkehrabsichten durchkreuzt, mit der laut und lachend geäußerten Bemerkung »ja wir waren schon da« (Z.388). Diese Passage dokumentiert, inwiefern die besondere Herausstellung von herkunftsbezogener Differenz dahin führen kann, dem Einzelfall nur noch bedingt gerecht zu werden, ihn möglicherweise sogar aus dem Blick zu verlieren und nicht offen für Abweichungen von einem bereits bestehenden Bild zu sein. Sie zeigt, dass die Gefahr besteht, herkunftsbezogene Spezifika in eine Situation hineinzudeuten, in der sie allenfalls eine untergeordnete Position einnehmen. In eine ähnliche Richtung weist auch die folgende Passage aus der gleichen Beratung. Thematisch im Zentrum steht hier das Dilemma der Tochter, sich einerseits intensiv um ihren kranken Vater kümmern zu wollen. Dies habe andererseits jedoch bereits ein aufopferndes Maß erreicht und – wie sie selbst mehrfach im Gespräch erwähnt – zu einer Vernachlässigung ihres eigenen Lebens geführt. Nun sitze sie mit »über dreißig« noch zu Hause (vgl. Z.574) und könne ihr Studium nicht weiterführen. Mittlerweile sei ein Zustand psychischer Belastung und Überforderung erreicht. Der Berater bespricht mit ihr Entlastungsmöglichkeiten und versucht, durch Aussagen, wie »man braucht kein schlechtes gewissen zu haben« (Z.609 und Z.612) und »es ist IHR recht für sich zu denken sie MÜSSEN das sogar« (Z.627 und Z.629), sie darin zu bestärken, Distanz zu der belastenden Situation zu gewinnen. Das Gespräch weist an dieser Stelle eine sehr hohe interaktive Dichte auf und mündet schließlich in
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den folgenden Dialog, in dem Herr Dieckmann auch auf ›ethnische Differenz‹ zurückgreift: [Öktem, Z.655-690]
Herr Dieckmann bedient sich hier einer ethnischen Differenzierung, und zwar auf eine recht ungewöhnliche Weise. Er nimmt sie vor um festzustellen, dass sie für das vorliegende Problem nicht maßgeblich sei. Es scheint zunächst so, als würde er Frau Öktem unterstellen, sie selbst sehe ihr aufopferndes Handeln ihrem Vater gegenüber in einem herkunftskulturellen Zusammenhang. In der Folge wird jedoch deutlich, dass es sich hierbei um eine Interpretation seinerseits handelt, die er selbst als Problemursache einkalkuliert hat. Wie bereits in der vorangehenden Passage erkennbar wurde, ist ›ethnische Differenz‹ für Herrn Dieckmann ein relevantes Unterscheidungskriterium in diesem Beratungsgespräch, das seine Wahrnehmung und sein beraterisches Handeln leitet. In diesem Gesprächsausschnitt stellt er eine auf ethnisch-kulturellen Gesichtspunkten gründende Differenz zwischen sich und Frau Öktem explizit her, indem er einen Gegensatz aufstellt zwischen der »türkische[n] nationalität« (Z.675) bzw. »ihrem kulturkreis« (Z.672) einerseits und »uns« Deutschen
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andererseits (vgl. »bei uns«, Z.672 und Töchter »die deutsch sind«, Z.680). Dennoch erfasst er das vorliegende Problem, auch im Vergleich zu anderen von ihm beratenen »deutsch[en]« Töchtern, als eines im »eltern kind verhältnis« liegendes (Z.674-680). Herr Dieckmann bestätigt sich selbst in seinem Schluss, eine ethnisch-kulturelle Dimension hier ausschließen zu können, wenn er betont, »das ist für mich ganz wichtig dass ich sage also dieses problem ist ja nicht […] ne sache der kultur« (Z.682f.). Seine Überlegungen kommuniziert er auf eine Weise, mit der er Frau Öktem scheinbar zu entlasten beabsichtigt, obwohl diese selbst zu keinem Zeitpunkt einen herkunftskulturellen Zusammenhang in Betracht zog.16 Indem er ihr gegenüber beteuert, dass es sich bei ihr sowohl um ein »typisch[es]« als auch um ein »ordentliches und gesundes« Verhältnis zu ihrem Vater handele, und ihr versichert, auch ihr »kulturkreis« sehe für sie ein »recht auf nen eigenes leben« (Z.669) vor, will er ihr ein »schlechte[s] gewissen« (Z.689) nehmen. Seine Ausführungen enthalten Wertungen dessen, was er als den »kulturkreis« Frau Öktems bezeichnet. So unterstellt er die Möglichkeit, dieser »kulturkreis« könne Frau Öktem ein »recht auf nen eigenes leben« absprechen. Zudem impliziert seine Formulierung »das ist nicht typisch für […] türkische nationalität das ist typisch für […] ein ordentliches und gesundes eltern kind verhältnis« (Z.674-678), dass er ihr Verhalten, wäre es auf ihre türkische Nationalität zurückzuführen, nicht als »ordentliches und gesundes« Verhalten eingestuft hätte. Obgleich die ethnische Differenzierung in dieser Passage scheinbar mit der Absicht vorgenommen wird, sie zumindest für den vorliegenden Kontext zu verwerfen, wirkt sie gegenteilig. Dadurch, dass der Berater zunächst – ohne erkennbare inhaltliche Notwendigkeit – Unterschiede betont, um dann auf deren Basis Gemeinsamkeiten festzustellen, trägt er, obwohl er semantisch das Gegenteil proklamiert, zur Konstruktion und Festigung ethnischer Differenz bei. Die Gesprächspassagen in diesem Abschnitt verdeutlichen insgesamt, dass ethnische Differenzierungen auf unterschiedliche Weise inhaltlich im Zuge der Interpretation von Problemsituationen und der Begründung des Hilfebedarfs eingesetzt und wirksam werden. Dabei fällt auf, dass sich die Motivation des Beraters, der von ihm thematisierten ethnischen Differenz gerecht zu werden, nicht immer am Einzelfall orientiert. Die Berücksichtigung vermeintlicher herkunftsbezogener Spezifika ist bei aller möglichen guten Absicht wenig hilfreich, wenn keine Überprüfung an der individuellen Situation der alten Migrant/-innen stattfindet, sondern wenn ethnische Faktoren in Form von Generalisierungen und vorgefertigten Annahmen in die Beratung eingebracht und ohne erkennbare Bereitschaft zur Modifikation auf Ratsuchende übertragen werden. Der folgende Abschnitt zeigt, dass auch Ratsuchende im Beratungsprozess inhaltlich auf ihre 16 | Aus ihrer Perspektive basiert ihr Verhalten dem Vater gegenüber auf anderen Kriterien, wie sie z.B. in ihrer Aussage »dass er einem leid tut« (Z.658), deutlich werden.
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Herkunft verweisen. In diesen Fällen spielt der Wunsch nach Anerkennung herkunftsbezogener Differenz im Rahmen der Gewährung von Hilfen eine Rolle.
6.3.2 Der Wunsch nach Anerkennung herkunftsbezogener Differenz – Ethnisierungen seitens Ratsuchender Die im Folgenden aufgeführten ethnischen Bezugnahmen weichen nicht allein dadurch von den vorangehenden ab, dass es sich hier im Unterschied zu den bislang thematisierten Fremdzuweisungen seitens der Berater/-innen nun um Formen der Selbstzuweisung herkunftsbezogener Differenz durch Ratsuchende handelt. Auch die Kontexte der Bezugnahmen unterscheiden sich, denn sie erfolgen oftmals reaktiv auf Aussagen oder Handlungen Anderer. Ratsuchende machen ethnische Differenz zumeist erst dann geltend, wenn entweder der Berater den von ihnen gewünschten Herkunftsbezug bei der Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen nicht beachtet oder wenn die Gefahr besteht, dass eine andere in der Beratung angesprochene Institution, etwa die Pflegekasse oder der gesetzliche Betreuer, eine aus Sicht der Ratsuchenden erforderliche Hilfe nicht gewährt. Die Bezugnahmen auf die eigene Herkunft und damit verbundene Besonderheiten im Hilfebedarf stellen insofern Versuche der alten Migrant/-innen dar, Entscheidungen Anderer zu korrigieren bzw. Vorschläge der Berater/-innen zurückzuweisen. Zwei als typisch identifizierte Varianten sind in diesem Kontext zu unterscheiden. Zum einen dienen ethnische Differenzierungen der Begründung einer spezifisch ausgerichteten Art der Hilfe, z.B. herkunftssprachige Ärzte oder aus dem Herkunftsland gewohntes Essen. Anhand der Beratung Ahmadi kann dies gezeigt werden. Es schließen sich mit den Beratungen Charef und Kolat zwei Beispiele an, die zum anderen dokumentieren, inwiefern ethnische Differenzierungen von den Ratsuchenden auch als Argumentationsmittel eingesetzt werden, um generell einen Hilfebedarf zu begründen. In diesen Fällen nehmen die Ratsuchenden im Laufe der Beratung Ethnisierungen des zunächst nicht unter ethnischen Gesichtspunkten verhandelten Problems vor.
Der Wunsch nach herkunftsspezifisch ausgerichteten Hilfen: Beratung Ahmadi In den folgenden Auszügen aus der Beratung Ahmadi (vgl. auch Kapitel 6.2.2) unterbreitet die Beraterin Frau Carstens (CA) der Ratsuchenden Vorschläge für Unterstützungsleistungen, die die afghanische Herkunft Frau Ahmadis (AI) nicht berücksichtigen. Die Ratsuchende sieht sich dadurch veranlasst, auf die Bedeutung zu verweisen, die die herkunftsspezifische Ausrichtung der Hilfen für sie einnimmt. Ein erstes Dokument hierfür liefert die Gesprächspassage, in der sich Frau Carstens bei dem Pflegedienstleiter Herrn Hamedi (HM) nach der benötigten Unterstützung Frau Ahmadis beim Kochen erkundigt:
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[Ahmadi, Z.678-709]
*
Gemeint ist Frau Ahmadi; die Beraterin beschließt zu Beginn dieser Beratung, die Ratsuchende aus Gründen der Anonymität der Tonbandaufnahme lediglich mit Frau A, dem ersten Buchstaben ihres Nachnamens, anzusprechen (Anmerkung: K.H.).
Auf die herkunftsspezifische Ausrichtung der Unterstützung Frau Ahmadis beim Kochen macht hier bereits Herr Hamedi aufmerksam, wenn er in seinen Ausführungen erwähnt, dass seine Mitarbeiter/-innen für Frau Ahmadi zubereiten, »was wir afghanen essen« (Z.687). Ohne darauf Bezug zu nehmen, weist Frau Carstens wenig später allerdings auf einen Mahlzeitendienst als Alternative hin. Von besonderem Interesse ist nun die durch den Pflegedienstleiter vermutlich mitprovozierte Reaktion der Ratsuchenden auf diesen Hinweis der Beraterin, der ihr durch Herrn Hamedi mit der Formulierung »bei einer deutschen firma« (Z.701f.) übersetzt wird. Frau Ahmadi sieht offenbar durch ›deutsche‹ Mahlzeitendienste ihre Gewohnheiten nicht sichergestellt. Sie geht davon aus, dass ›deutsche‹ Mahlzeitendienste lediglich deutsches Essen anböten. Dieses Essen wiederum scheint Frau Ahmadi unbekannt zu sein (vgl. Z.704). Durch ihre Bemerkung »was kochen sie« (Z.707) scheint sie zudem ausdrücken zu wollen, dass sie deutschem Essen skeptisch gegenüber steht. Frau Ahmadi lehnt hier eine von der Beraterin vorgeschlagene Hilfeleistung ab, indem sie einen spezifischen Bedarf – nämlich afghanische Speisen – anmeldet. Dieser Bedarf beruht auf ihren Gewohnheiten und wird offenbar durch die Mit-
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arbeiter/-innen des Pflegedienstes bereits gedeckt. Bei ihrer Reaktion könnte daher auch eine Rolle spielen, dass die Ratsuchende die Unterstützung durch den ihr vertrauten Pflegedienst nicht verlieren möchte. In seiner Übersetzung für die Beraterin hebt Herr Hamedi diesen Aspekt der Gewohnheit besonders hervor (»ganzes leben«, Z.705) und deutet darauf, dass sich eine Umgewöhnung »in diesem alter« (Z.708) wohl als schwierig erweisen könnte. Eine vergleichbare Situation ereignet sich an anderer Stelle der Beratung, als es um die Ärzte geht, die Frau Ahmadi konsultiert. Hierbei handelt es sich um Farsi sprechende, afghanische Ärzte, deren Praxen sich in einem entfernt liegenden Stadtteil der Großstadt befinden. Da Frau Ahmadi aufgrund von Mobilitätseinschränkungen eine Begleitperson benötigt, drängt die Beraterin, um Kosten zu sparen, darauf, Ärzte in der näheren Umgebung zu wählen. [Ahmadi, Z.487-511]
Ähnlich wie bereits in der Passage zuvor lehnt Frau Ahmadi den Alternativvorschlag der Beraterin ab. Der Arzt in der näheren Umgebung ihres Wohnortes kommt für die alte Migrantin deshalb nicht in Frage, da es sich um einen deutschen Arzt handelt, mit dem sie aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse nicht kommunizieren kann. Übersetzungen seitens des sie begleitenden Pflegedienstes, wie die Beraterin vorschlägt, scheinen für Frau Ahmadi kein Ersatz zu sein. Sie führt als weiteres Argument ins Feld, dass sie sich bei ihrem Arzt ›auskenne‹ (vgl. Z.507). Das Vertraute, das sie hier anspricht, scheint sich einerseits auf die ›vertraute‹ Sprache zu beziehen, die sie mit dem afghanischen Arzt teilt. Andererseits spricht sie auch ein nicht per se auf ethnischen Gesichtspunkten basierendes Vertrauen zu ihrem Arzt an, den sie bereits seit längerem
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zu kennen scheint und täglich aufsucht und der zudem, laut Pflegedienstleiter, über ihre »anamnese« informiert sei. Wenig später betont Frau Ahmadi explizit: [Ahmadi, Z.550-553]
Ob die Begründungen, die Frau Ahmadi und der Pflegedienstleiter durch seine Übersetzungen anführen, ausreichen, um die von der alten Migrantin bevorzugten Unterstützungsleistungen zu erhalten, geht aus dem Beratungsgespräch nicht hervor. Frau Carstens legt sich in der Beratungssituation selbst nicht auf Art und Umfang der Hilfeleistungen fest. [Ahmadi, Z.714-717]
Auf die Beweggründe der Beraterin, sich hier nicht vor Ort zu entscheiden, wird in Kapitel 6.4.1 noch zurückzukommen sein. Sie hängen mit dem für Frau Carstens nicht ad hoc zu lösenden Dilemma zusammen, zwischen ihrem Hilfeauftrag als Beraterin, d.h. der Gewährung notwendiger Hilfen für die Ratsuchende, und ihrem institutionellen Kontrollauftrag, insbesondere der behördlichen Vorgabe, Kosten der Hilfen möglichst gering zu halten, einen Ausgleich zu finden. In diesem Abschnitt stehen jedoch zunächst die ethnischen Bezugnahmen im Vordergrund, die seitens der Ratsuchenden bei der Begründung von Hilfen vorgenommen werden. Diesbezüglich ist vorerst festzuhalten, dass der Rekurs auf ethnische Differenz in einem Zusammenhang mit der Begründung spezifisch ausgerichteter Hilfen steht, die den Gewohnheiten der Ratsuchenden entsprechen. In den zitierten Beispielen geht es dabei zum einen um einen Pflegedienst mit afghanischem Personal, das der Ratsuchenden ihr gewohntes Essen zubereiten kann, und zum anderen um eine durch diesen Pflegedienst geleistete Begleitung zu einem afghanischen Arzt ihres Vertrauens in eine entfernt liegende Arztpraxis. Die ethnische Differenzierung wird jeweils geltend gemacht in einem Moment, in dem die Ratsuchende die von ihr gewünschte Hilfeleistung durch Alternativen der Beraterin gefährdet sieht.
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Die Ethnisierung von Beratungsinhalten durch Ratsuchende: Beratungen Charef und Kolat Anders gelagert ist das folgende Beispiel aus der Beratung Charef, die in der Altentagesstätte stattfand. Die ethnische Differenzsetzung des Ratsuchenden dient hier nicht der Begründung einer spezifischen Hilfe. Sie wird herangezogen, um für das Vorliegen eines Hilfebedarfs überhaupt zu argumentieren, genauer, um einen in der Vergangenheit liegenden ärztlichen Fehler aufzuzeigen, der nun zu einer Nicht-Anerkennung eines Pflegebedarfs seitens der Pflegekasse führen könnte. Auch hier erfolgt der ethnische Bezug insofern als Reaktion auf Entscheidungen bzw. mögliche Entscheidungen Anderer, die über den Ratsuchenden getroffen werden. In der Beratung des 75-jährigen Herrn Charef steht die Frage der Finanzierung eines Pflegebettes im Zentrum. Die Pflegekasse des vor 30 Jahren aus Algerien Eingewanderten hat einen Antrag auf ein solches Bett in der Vergangenheit abgelehnt, da Herr Charef scheinbar nicht die Voraussetzungen für die Einstufung in eine Pflegestufe erfüllt hat. Herr Charef (CH) berichtet in dem Beratungsgespräch mit Frau Adam (AD), an dem auch seine Haushaltshilfe Frau Becker (BE), eine deutsche Mitarbeiterin eines ambulanten Pflegedienstes, beteiligt ist, über den kürzlichen Hausbesuch einer Ärztin des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) zur erneuten Begutachtung seiner Pflegebedürftigkeit. Er ist im Unterschied zu der Beraterin davon überzeugt, dieses Mal eine Einstufung zu erhalten und macht Frau Adam gegenüber deutlich, dass er eine anderweitige Entscheidung des MDK nicht akzeptieren und sogar rechtlich dagegen vorgehen würde (»wenn das nicht klappt […] oberlandgericht sozialgericht«, Z.2796 und Z.2800). In der folgenden Passage erläutert Frau Adam ihm, warum sie nicht glaubt, dass er die Voraussetzungen der Pflegeversicherung erfüllt. An dieser Stelle spitzt sich das Gespräch zu, da Herr Charef an Frau Adams Parteilichkeit ihm gegenüber zweifelt: [Charef, Z.2953-2989]
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Das Problem, das in dieser Sequenz deutlich wird, besteht offensichtlich darin, dass für Herrn Charef nicht nachvollziehbar ist, weshalb ihm als schwer krankem und schwer behindertem Menschen keine Leistungen der Pflegeversicherung zustehen sollten. In seiner Aufregung darüber zweifelt er die von ihm erwartete Loyalität der Beraterin an, allein weil diese ihm sachlich die Perspektive der Pflegeversicherung darzulegen versucht. Er fragt sie, ob sie »dagegen oder dafür« (Z.2965) sei, als wäre die Einstufung in eine Pflegestufe eine Frage des Standpunktes. An dieser Stelle greift er auch auf eine ethnische Differenzierung zurück. So hätte der von seiner Herkunft abweichende ethnische Hintergrund der Ärzte während eines früheren Krankenhausaufenthaltes bei ihm zu einer Fehldiagnose geführt. Er bezeichnet die in einem deutschen Krankenhaus durch deutsche Ärzte erstellten Befunde als »deutsche« Befunde (Z.2982) und die würden ihm zufolge seinem Krankheitszustand nicht gerecht. Die Ärzte, so Herr Charef, »habens nicht gemerkt« (Z.2984). Herr Charef spricht insofern deutschen Ärzten die Diagnosekompetenz bei algerischen Patienten ab. Frau Adam hingegen versucht, seiner Ethnisierung des Problems entgegenzuwirken, indem sie darauf hinweist, »herr charef aber darum gehts doch gar nicht ihre krankheiten stehen außer frage« (Z.2983 und Z.2986). Es spricht einiges dafür, dass die Ethnisierung, die Herr Charef hier erklärend einsetzt und die sich auf ein Ereignis in der Vergangenheit bezieht, für diesen nicht im Vordergrund seiner Argumentation steht, sondern zusätzlich herangezogen wird, um seinem Standpunkt, nämlich einen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung zu haben, mehr Gewicht zu verleihen. Das ausschlaggebende Argument für ihn ist seine derzeitige – wie er selbst sagt – Schwerbeschädigung, die seines Erachtens zu einer Pflegestufe führen müsse. So betrachtet wäre die Ethnisierung hier nur vorgeschoben bzw. strategisch platziert. In seinen Äußerungen drückt sich dessen ungeachtet Misstrauen gegenüber – deutschen – Institutionen, insbesondere gegenüber Krankenhäusern und der Pflegekasse, aus.
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[Charef, Z.3029-3037]
In der Beratung Kolat (vgl. auch Kapitel 6.1.2) wird auf eine ähnliche Weise auf Ethnisierungen zurückgegriffen. Hier ist es zunächst die Dolmetscherin Fatma (FM), die den in der Beratung behandelten Sachverhalt ethnisierend deutet und damit beabsichtigt, das Anliegen des Ratsuchenden zu unterstützen. Der Ratsuchende Herr Kolat (KO) möchte sechs Monate in seinem Herkunftsland Türkei verbringen, wo auch Verwandte von ihm leben. Er ist für dieses Vorhaben auf das Einverständnis seines gesetzlichen Betreuers, einen Anwalt, angewiesen, der ihm diesen Wunsch bislang allerdings verweigert hat. Wie die folgende Passage zeigt, liegt der Grund dafür nicht im Herkunftsland des Ratsuchenden – wie Fatma annimmt –, sondern hängt mit seiner Krankheit und seinem Umgang mit dieser Krankheit zusammen. Herr Kolat leidet unter einer Schizophrenie und ist auf starke Medikamente angewiesen. Er ist zudem, wie er an anderer Stelle des Gespräches von sich aus erwähnt, selbstmordgefährdet. Der verantwortliche Betreuer möchte deshalb – so berichtet die Beraterin Frau Adam (AD) von einem Telefonat mit dem Anwalt – zunächst sichergestellt wissen, dass Herr Kolat die erforderlichen Medikamente auch einnimmt und in der Türkei regelmäßig einen Arzt aufsucht. Eben dies muss jedoch in Zweifel gezogen werden, denn Herr Kolat deutet an, dass er dergleichen nicht beabsichtigt. [Kolat, Z.2954-2993]
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Durch ihre Aussage »es gibt ( ) alle medikamenten auch in der türk[ei]« (Z.2982) gibt Fatma zu erkennen, dass sie den vorangehenden Dialog zwischen der Beraterin und Herrn Kolat so deutet, als nähmen die Beteiligten an, die Türkei verfüge nicht über die für Herrn Kolat notwendigen Medikamente. Sie glaubt demnach, dass das Problem nicht beim Ratsuchenden selbst gesehen wird, sondern in einem angeblich ungenügenden medizinischen Versorgungssystem in der Türkei. Diese Annahme will sie mit Bezug auf einen »kollege[n] von uns« (Z.2983), also mittels persönlicher Erfahrungen aus dem eigenen Bekanntenkreis, widerlegen. Die Verortung des Problems in einer aus Fatmas Perspektive falschen, verkürzten Sicht auf das Herkunftsland des Ratsuchenden, wird von der Beraterin jedoch zurückgewiesen, indem diese Fatma erläutert: »das problem ist aber ein anderes« (Z.2986). Frau Adam steuert insofern einer Ethnisierung des Sachverhaltes entgegen. Dies wird auch deutlich als Fatma einen ähnlichen Kommentar in Bezug auf die Existenz von Psychiatrien in der Türkei äußert: [Kolat, Z.3031-3040]
Frau Adam betont, dass es »natürlich« in der Türkei Psychiatrien gebe und weist damit das möglicherweise unterstellte Vorurteil, dies sei nicht der Fall, zurück. Für sie handelt es sich bei der Frage, ob Herr Kolat die für ihn erforderlichen medizinischen Strukturen vorfindet, nicht um eine, die mit dem
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Land Türkei verknüpft ist. Eine Frage besteht aus ihrer Sicht allenfalls darin, ob es sich um eine ländliche oder um eine städtische Region handelt, in der Herr Kolat seinen Urlaub zu verbringen beabsichtigt. So ist für sie dieses Problem gelöst, als sie erfährt, dass Herr Kolat in eine türkische Großstadt fahren will: [Kolat, Z.3204-3207]
Von Herrn Kolat selbst ist das von Fatma eingebrachte möglicherweise von Anderen, etwa seinem Betreuer, vermutete Problem einer unzureichenden medizinischen Versorgung in der Türkei bislang offenbar nicht als potenzieller Hinderungsgrund für seinen geplanten Urlaub gesehen worden. Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit Türkeiaufenthalten und mit der dortigen Psychiatrie sieht er eher die Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern und kommt in seinem Vergleich deutscher und türkischer Psychiatrien zu der Einschätzung, dass beide »schlimm« seien (vgl. Z.3035). Allerdings übernimmt er an späterer Stelle des Gespräches die Argumentation Fatmas, offenbar um mögliche Bedenken, die sein Vorhaben vereiteln könnten, weiter zu entkräften: [Kolat, Z.3348-3357]
Mit Bezug auf seine persönlichen Erfahrungen versichert Herr Kolat »da gibt es immer medizinische versorgung überall« (Z.3351). Indem er zusätzlich mehrmals das »deutsche krankenhaus« anführt, signalisiert er zudem, dass er während seines Türkeiurlaubs nicht einmal auf das türkische Versorgungssystem angewiesen wäre. Auch dieser Hinweis kann als Argument gedeutet werden, das die Bedenken seines Betreuers auszuräumen versucht. Noch an einer anderen Stelle des Gespräches zeigt sich, dass hauptsächlich Fatma das inhaltliche Anliegen des Ratsuchenden, einen längeren Türkeiauf-
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enthalt realisieren zu wollen, in einem Zusammenhang mit dessen ethnischer Zugehörigkeit sieht. In der folgenden Passage schneidet sie weitere Argumente an, die ihrer Meinung nach für einen solchen Türkeiaufenthalt sprechen. [Kolat, Z.3177-3199]
Fatma befürwortet einen Türkeiaufenthalt, da ein solcher, wie sie aus eigener Erfahrung (»das gibt mir immer«) und von einem Bekannten (»jemanden«) weiß, dem Wohlbefinden gut tue. Die »sonne«, der Familien- bzw. »bekanntenkreis«, die »unterschiedliche atmosphäre« dort, seien dafür ausschlaggebend (Z.3180f.). Ihr zufolge »brauchen« sie, gemeint sind vermutlich Migrant/-innen aus der Türkei, dies sogar. Fatma stellt die Türkei hier als positiven Gegenhorizont zu Deutschland dar17, der sogar den Effekt haben könne, Medikamente obsolet werden zu lassen. Aus ihrer Erzählung über ihren Bekannten »mehmet« (Z.3195-3199) lässt sich schließen, dass sie einem Türkeiaufenthalt – zumindest bei Depressionen – eine heilende Wirkung zuschreibt bzw. dass sie sogar annimmt, Deutschland mache krank und regelmäßige Türkeiaufenthalte könnten dem entgegenwirken. So sei ihr Bekannter nach mehreren Jahren Abstand zu Deutschland in der Türkei wieder zu Wohlbefinden gelangt und habe dort sogar auf Medikamente verzichten können. Frau Adam pflichtet Fatmas Befürwortung eines Türkeiaufenthaltes bei, jedoch betont sie den mit einem Urlaub verbundenen »tapetenwechsel« und die möglicherweise »schönere umgebung«. Nicht die Türkei an sich, nicht einmal zwingend das Wiedersehen von Verwandtschaft sprächen aus ihrer Sicht für diesen Urlaub, sondern allgemein 17 | Vgl. hierzu auch den Gesprächsauszug aus der Beratung Malik in Kapitel 6.1.2, in dem Fatma die Türkei auf ähnliche Weise von Deutschland abgrenzt.
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die damit verbundene Abwechselung. Auch Herr Kolat stellt andere Aspekte als Fatma in den Vordergrund. Seine Motive für den Türkeiurlaub scheinen nicht ausschließlich und nicht vorrangig mit der Tatsache verbunden zu sein, dass es sich hierbei um sein Herkunftsland handelt. In der folgenden Passage betont er u.a. ökonomische Motive: [Kolat, Z.3300-3323]
Herr Kolats Äußerung, in der Türkei »auch besser« zu sein (Z.3300), weil er dort gut mit seinem Geld auskomme, steht im Kontrast zu Fatmas Standpunkt, ihm ginge es dort aufgrund der »unterschiedliche[n] atmosphäre« (Z.3320) besser. Herr Kolat teilt Fatmas Meinung, verbindet mit der Atmosphäre jedoch keine herkunftsspezifischen Aspekte, sondern »sommer«, »strand« und »zelten« (vgl. Z.3323). Wenig später fügt er außerdem hinzu: »ich hab die schnauze voll alles ich äh ich will ( ) weg einfach weg« (Z.3633f.). In dem Beratungsgespräch wird insgesamt deutlich, dass vor allem die Dolmetscherin Fatma ethnische Differenz als relevante Größe in Bezug auf die besprochenen Beratungsinhalte geltend macht. Auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen als Migrantin aus der Türkei signalisiert sie Verständnis für Herrn Kolats Wunsch, ins Herkunftsland zu reisen. Aus ihrer Sicht begründet die wohltuende Wirkung eines Aufenthaltes im Land der Herkunft sogar einen regelmäßigen Bedarf an solchen Aufenthalten. Deshalb sei auch Herrn Kolat dies zu ermöglichen. Für den Ratsuchenden selbst steht die eigene ethnische Herkunft nicht ähnlich deutlich im Zentrum. Er greift ethnische Differenzierungen allenfalls dann auf, wenn sie für die Realisierung seines Zieles förderlich sein könnten. Ähnlich wie bereits in der Beratung Charef scheint es sich auch bei seinen ethnischen Bezugnahmen insofern vornehmlich um ein Mittel zum Zweck zu handeln.
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6.3.3 Fazit Typ III: Ethnische Differenzierungen begründen einen institutionellen Hilfebedarf Im vorangehenden Abschnitt wurden ethnische Differenzierungen betrachtet, die in Verbindung mit der Erfassung von Problemsituationen und der Begründung von Hilfeleistungen erfolgen. Unterschieden werden können dabei Varianten, in denen Berater/-innen ethnische Differenz geltend machen, und Varianten, in denen Ratsuchende dies tun. Diese Unterscheidung ergibt sich aus den verschiedenen situativen Kontexten, in denen jeweils der eine oder der andere Gesprächsbeteiligte von Differenzierungen dieser Art Gebrauch macht. Bei den Berater/-innen spielt zumeist die Motivation eine Rolle, der von ihnen im Gespräch wahrgenommenen und thematisierten ›ethnischen Differenz‹ gerecht zu werden, indem sie sie als eine relevante Größe bei Problemerfassung und Hilfeplanung einbeziehen. Ratsuchende machen herkunftsbezogene Differenz in der Regel erst in Situationen geltend, in denen sie ihren Wunsch nach herkunftsspezifisch ausgerichteten Hilfen gefährdet sehen. Ihre ethnischen Differenzierungen lassen sich insofern als Reaktionen charakterisieren, die auch als Versuche der Zurückweisung von Vorschlägen Anderer, etwa des Beraters, gedeutet werden können. Auch wenn in diesem Abschnitt typische Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen herausgestellt werden konnten, die zu einer Begründung von – zum Teil spezifischen – institutionellen Hilfen führen, so folgt nicht unmittelbar, dass es sich dabei um Hilfen handelt, die sich am individuellen Bedarf der Ratsuchenden orientieren. Der hier beschriebene Typus umfasst diesbezüglich vielmehr drei unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Ausprägungen. So führen ethnische Differenzierungen erstens in einigen Fällen zwar zu einer am Individuum ausgerichteten und seinem Bedarf entsprechenden Hilfe. Ethnische Differenzierungen können zweitens aber auch Hilfeleistungen begründen, die eben nicht am Ratsuchenden und seiner individuellen Situation ausgerichtet sind. Oftmals handelt es sich lediglich um vermeintliche Einzelfallorientierungen der Berater/-innen, bei denen ethnisierende Annahmen und stereotype Vorstellungen das Handeln leiten. Schließlich zeigt sich – insbesondere in den Passagen aus den Beratungen Charef und Kolat – ein dritter Kontext. Die ethnischen Bezugnahmen, die die Ratsuchenden dort vornehmen, haben aller Wahrscheinlichkeit nach für diese vornehmlich situativ Relevanz, denn sie sind für die Begründung ihrer individuellen Anliegen innerhalb der Beratung funktional. Im Einzelnen lassen sich bezüglich der drei angesprochenen Varianten ethnischer Differenzierungen die folgenden Zusammenhänge erkennen: • Ethnische Differenzierungen bei der Begründung eines institutionellen Hilfebedarfes orientieren sich dann am alten Migranten und seiner individuellen Lebenssituation, wenn sie Vertrautes und Gewohntes, z.B. in Verbindung mit
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Sprache, Religion und Alltagsgewohnheiten, ins Zentrum stellen und achten. Bei der Klärung der Frage, was für den jeweiligen Ratsuchenden vertraut und gewohnt ist, sind nicht etwa ethnisierende Annahmen darüber der Ausgangspunkt, sondern die in der Beratungssituation erkennbaren, durch den Berater erfassten und im Idealfall vom Ratsuchenden selbst geäußerten Bedarfe. Während in den Beratungen Naderi, Azimi und zum Teil auch Öktem eine solche Erfassung und Berücksichtigung des individuellen Bedarfs durch den Berater weitgehend anzunehmen ist, bleibt es in der Beratung Ahmadi bei einer Bekundung des Wunsches nach herkunftsspezifisch ausgerichteten Hilfen seitens der Ratsuchenden. Gerade diese Beratung dokumentiert jedoch, dass Herkunftsbezüge in den Hilfeleistungen dazu beitragen können, Kontinuitäten im Hinblick auf Alltagsgewohnheiten – trotz des Verlustes an Selbstständigkeit im Alter – zu gewährleisten. • Ethnische Differenzierungen bei der Begründung eines institutionellen Hilfebedarfes orientieren sich nicht am Ratsuchenden und seinem individuellen Bedarf, wenn – wie in den Beratungen Alimov und Öktem – die Motivation des Beraters, ›herkunftsbezogene Besonderheiten‹ zu berücksichtigen, auf stark vereinfachten, verallgemeinerten Annahmen über Migrant/-innen basiert, diese auf die Ratsuchenden ungeprüft übertragen werden und kaum Bereitschaft besteht, Vorwissen am Einzelfall zu modifizieren. Auch übermäßige Betonungen einer vermeintlichen Relevanz ethnischer Herkunft sind in diesem Zusammenhang kontraproduktiv, denn sie führen dazu, eine Herkunftsspezifik in eine Situation hineinzudeuten, in der die Herkunft der Ratsuchenden allenfalls eine marginale Position einnimmt. • Ethnische Differenzierungen seitens der Ratsuchenden stehen auch dann, wenn sie sich unmittelbar auf die Beratungsinhalte zu beziehen scheinen, nicht notwendig im Vordergrund des individuellen Beratungsinteresses. Sie können vom Ratsuchenden lediglich als Argumentationsmittel eingesetzt werden, um das eigene Anliegen in der Beratung scheinbar wirkungsvoller zu begründen. Ethnische Differenzierungen werden also, wie in den Beratungen Charef und Kolat, auch als Mittel zum Zweck eingesetzt und dienen dann der Durchsetzung individueller Anliegen. Wenn auf der Inhaltsebene der Beratung ethnische Differenz geltend gemacht wird, so werden dadurch nicht allein Hilfen begründet bzw. institutionelle Hilfeleistungen gewährt. Auch das Gegenteil ist der Fall. Im folgenden Abschnitt stehen ethnische Differenzierungen im Zentrum, durch die Hilfeleistungen in Frage gestellt und zum Teil zurückgewiesen werden. Ein solcher Bezug auf ethnische Differenz kann sowohl vom Berater als auch von Ratsuchenden ausgehen.
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6.4 D IE Z URÜCK WEISUNG VON INSTITUTIONELLEN H ILFEN UNTER B EZUGNAHME AUF E THNISCHE D IFFERENZ (T YP IV) Bei ethnischen Differenzierungen, die zu einer Zurückweisung von Hilfen führen, geht es nicht primär um die Zurückweisung der in den Beratungen jeweils thematisierten Hilfebedarfe alter Migrant/-innen. Im Vordergrund stehen institutionelle Hilfeleistungen, die entweder der Berater nicht bewilligen möchte oder die den Ratsuchenden zwar angeboten, jedoch von ihnen abgelehnt werden. Mit institutionellen Hilfen werden im Folgenden Hilfen durch professionelle Dienste, wie Pflegedienste, bezeichnet, die vom Sozialleistungsträger, hier dem Sozialamt, zu finanzieren sind, da es sich bei den Ratsuchenden um Leistungsberechtigte von Grundsicherung im Alter nach SGB XII handelt. Über die Bewilligung der in den Beratungen besprochenen Leistungen entscheiden die Sozialarbeiter/-innen der behördlichen Altenberatung. Der Typus von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen, der hier beschrieben wird, spielt insofern auch nur in Beratungsgesprächen dieser Institution eine unmittelbare Rolle, nicht aber in denen der Altentagesstätte. Institutionellen Hilfen gegenüber stehen informelle Hilfen, d.h. ehrenamtliche, nachbarschaftliche oder familiäre Unterstützung, die in den Dokumenten dieses Typus als Alternativen zu institutionellen Leistungen ins Gespräch gebracht werden. Wie bereits angedeutet, umfasst der Typus der »Zurückweisung von institutionellen Hilfen unter Bezugnahme auf ethnische Differenz« zwei voneinander unterscheidbare Varianten. In der ersten Variante rekurrieren Berater/-innen auf ethnische Differenz, wenn es im Zuge der Hilfeplanung darum geht, im Widerspruch zueinander stehende Handlungsanforderungen, die an sie als Berater/-innen gestellt werden, zu einem Ausgleich zu führen. Ethnische Differenzierungen werden zu einem ausschlaggebenden Faktor im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle (Kapitel 6.4.1). Das heißt z.B., dass Berater/-innen, die ihre behördliche Kontrollfunktion in den Vordergrund ihrer professionellen Tätigkeit rücken, einen spezifischen Bedarf an Unterstützung, wie Dolmetschhilfen bei Arztbesuchen oder herkunftsspezifisch zubereitetes Essen, vorrangig unter finanziellen Gesichtspunkten betrachten. Sie zögern, diesen Hilfebedarf in ihrer Hilfeplanung zu berücksichtigen, da sie ihn als zu kostspielig einschätzen, und sie versuchen, ihn entweder zurückzuweisen oder über Alternativen abzudecken. Wie an der Beratung Ahmadi gezeigt werden kann, werden diese spezifischen Bedarfe der Ratsuchenden nicht als individuell notwendige Bedarfe behandelt, sondern als ›Sonderbedarfe‹, die ein Mehr an Kosten produzieren. Dabei spielt aus Sicht der Beraterin das Argument eine Rolle, dass ›ethnische Herkunft‹ keine Extraleistungen begründe, sondern alle Ratsuchenden gleich zu behandeln seien. An den Beratungen Kleeberg und Bujanov wird zu sehen sein, wie die Beraterin mit der ›ethnischen Herkunft‹ der Ratsuchenden gleichzeitig ein Potenzial verbindet, Kosten gering zu halten bzw. zu reduzieren. Sie verweist
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die Rat suchenden alten Migrant/-innen auf ›deren‹ ethnische Community, von der die Beraterin annimmt, sie erbringe Hilfen auf informellem Wege. In der zweiten Variante wird beschrieben, dass auch Ratsuchende die vom Berater angebotenen institutionellen Hilfen ablehnen (Kapitel 6.4.2). Wie an den Beratungen Tekinay und Goldmann gezeigt werden kann, dokumentieren diese Ablehnungen den Wunsch der alten Migrant/-innen, ihre Autonomie, vor allem ihre Unabhängigkeit von institutioneller Unterstützung, und ihre Selbstbestimmung über die Gestaltung von Hilfen im Alltag zu bewahren. In beiden genannten Fällen gelingt es den alten Migrant/-innen, insbesondere weil sie ihr Anliegen dem Berater gegenüber in der deutschen Sprache selbst argumentativ vertreten können, ihrer Sichtweise Geltung zu verschaffen und sie erfolgreich, auch gegen die Einschätzung des Beraters, durchzusetzen. Insofern handelt es sich hier um Beispiele, die Selbstbestimmung alter Migrant/-innen im Beratungsprozess dokumentieren. Sie stellen Gegenhorizonte zu den in diesem Kapitel zitierten Gesprächspassagen dar, in denen Ratsuchenden institutionelle Hilfen seitens der Berater/-innen oktroyiert werden, weil sie sprachlich vom Beratungsgeschehen marginalisiert sind (vgl. Kapitel 6.2.2) und/oder weil sie mit ethnischen Zuschreibungen bzw. verallgemeinerten (Vor-)Annahmen konfrontiert werden (vgl. Kapitel 6.3.1). Selbstbestimmung alter Migrant/-innen lässt sich im untersuchten Datenmaterial eher selten rekonstruieren. Dennoch soll sie hier Erwähnung finden, und zwar anhand von Beispielen, in denen auch auf ethnische Differenz rekurriert wird.
6.4.1 Das Geltendmachen ethnischer Differenz als Kostenfaktor für öffentliche Leistungsträger Ethnische Differenzierungen, die aus einer ökonomischen Perspektive heraus vorgenommen werden, sind – wie bereits eingangs erwähnt wurde – in erster Linie vor dem Hintergrund unterschiedlicher, konkurrierender Handlungsanforderungen der Berater/-innen einzuordnen. Sozialarbeiter/-innen bewegen sich bei der Erfüllung ihres Beratungsauftrages stets in einem Spannungsfeld zwischen den Wünschen und Interessen ihrer Ratsuchenden, dem aus ihrer Sicht fachlich angezeigten Hilfebedarf sowie den Vorgaben der Institution, in deren Auftrag sie tätig sind (vgl. Einleitung zu Kapitel 6). Letztere reichen vor allem in Form von gesetzlichen Rahmenbedingungen und finanziellen Restriktionen im Hinblick auf die Bewilligung von Leistungen ins beraterische Handeln hinein. Im Spannungsfeld dieser drei Handlungsanforderungen haben Berater/-innen zwischen helfenden und kontrollierenden Aufgaben einen Ausgleich herzustellen. Im Folgenden stehen nun Beratungsgespräche im Mittelpunkt, in denen Berater/-innen ihr Handeln tendenziell, zum Teil sogar vorrangig, an ihrem Kontrollauftrag orientieren. In Kapitel 6.3.1, das ethnische Differenzierungen im Kontext der Begründung und der Gewährung von Hilfen
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thematisierte, stand im Unterschied dazu Beraterhandeln im Vordergrund, in dem die bestehenden Handlungsspielräume innerhalb des Spannungsverhältnisses von Hilfe und Kontrolle zugunsten des Hilfeauftrages ausgelegt wurden. Dies wurde dort insbesondere an den Bemühungen des Beraters erkennbar, dem Hilfebedarf der Ratsuchenden im Zuge der Planung von Unterstützungsleistungen weitgehend gerecht zu werden. Auch Entscheidungen dieser Art stehen unter dem Einfluss institutioneller Vorgaben. So hat der Berater Herr Dieckmann, wenn er Frau Naderi eine Badehilfe bewilligt, diese Entscheidung vor der Behörde zu rechtfertigen. Auf diese Verpflichtung weist er in der folgenden Aussage hin, als er die für Frau Naderi bewilligten Hilfen zusammenfasst: [Naderi, Z.845-851]
Ein ähnlicher Hinweis auf institutionelle Vorgaben zeigt sich in der Beratung Goldmann (vgl. Kapitel 6.1.1), als Herr Dieckmann dort gegenüber dem Rat suchenden Ehepaar die Bewilligung einer Badehilfe auf die folgende Weise begründet: [Goldmann, Z.1294-1305]
An Herrn Dieckmanns Aussage wird erkennbar, dass er den Druck, den sein »amt« ihm macht, kreativ zu wenden weiß. Er löst das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe- und Kontrollauftrag, indem er kleinere Hilfen unter besonderer Herausstellung präventiver Effekte für Ratsuchende bewilligt, um, so seine Argumentation, weit höhere Kosten im Vorwege zu vermeiden. Dieses Vorgehen deutet auf Handlungsspielräume bei der Bewilligung von Leistungen und auf ein Beraterhandeln, das den Hilfeaspekt in den Vordergrund zu stellen weiß, ohne dabei institutionelle Vorgaben ganz außer Acht zu lassen.
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Anders deutet die Beraterin Frau Carstens ihren Handlungsauftrag. Sie erweist sich in den von ihr vorliegenden Beratungsgesprächen tendenziell als eine Beraterin, die die Ambivalenz von Handlungsanforderungen nicht ähnlich kreativ zu lösen weiß. Sie gerät oftmals in ein für sie scheinbar nur schwer aufzuhebendes Dilemma zwischen Hilfe und Kontrolle, das sie in der Beratungssituation mitunter entscheidungsunsicher macht. Dabei zeigt sie ein hohes Maß an Identifikation mit institutionellen Vorgaben, vor allem mit ihrer Kontrollfunktion, auf die sie sich bisweilen explizit beruft. Auslöser ihrer Entscheidungsunsicherheit ist vorwiegend ein in Verbindung mit der Herkunft der Ratsuchenden stehender Hilfebedarf, den sie mit ökonomischen Argumenten zurückzuweisen versucht. Die Beratung Kleeberg dokumentiert, wie Frau Carstens zwar diesen spezifischen Hilfebedarf, hier Dolmetschhilfen bei Ärzten und Institutionen, einzuplanen gedenkt, dabei jedoch akribisch genau den Leistungsumfang zu berechnen versucht. Besonders deutlich zeigt sich ihre Unsicherheit in der Beratung Bujanov. Dort schiebt sie die Entscheidung über die Hilfeleistungen auf. In beiden Beratungen scheitert zudem die Intention, informelle Hilfen durch die jüdische Gemeinde Kosten sparend einzubeziehen. Die Beratung Ahmadi zeigt schließlich, wie die Beraterin das Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle zu lösen versucht, indem sie ihren Kontrollauftrag ausdrücklich gegenüber der Ratsuchenden hervorhebt.
Ethnische Differenzierungen im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle: Beratungen Kleeberg und Bujanov Die Beratung Kleeberg (vgl. auch Kapitel 6.1.1) beinhaltet ein besonders anschauliches Dokument dafür, wie ethnische Differenz in der Beratung als ökonomischer Faktor geltend gemacht wird. Frau Carstens (CA) überprüft in dieser Beratung den Bedarf Frau Kleebergs (KL), einer 73-jährigen aus der Ukraine eingewanderten Jüdin, an Hilfen im Haushalt, um über deren Weiterbewilligung zu befinden. Frau Kleebergs elfjährige Enkelin Lena (LE) unterstützt das Gespräch der beiden gelegentlich mit Übersetzungen. Als Frau Carstens sich nach den Leistungen erkundigt, die der bei Frau Kleeberg tätige Pflegedienst gegenwärtig erbringt, und dabei erfährt, dass dieser auch für sie bei Krankenkasse und Ärzten dolmetscht, rückt die Beraterin Kostengesichtspunkte und mit ihnen auch die Frage nach Alternativen der Erbringung dieser Hilfe in den Mittelpunkt.
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[Kleeberg, Z.128-195]
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An Frau Carstens Äußerung, »dass […] der pflegedienst viel geld kostet« (Z.152 und Z.154), wird erkennbar, dass für sie die Übernahme von Dolmetschtätigkeiten durch einen Pflegedienst aus ökonomischen Gründen eigentlich nicht in Frage kommt. Mit ihrer Formulierung »wir gucken gerne wenn privat eine person helfen kann« (Z.154f.) macht sie der Ratsuchenden deutlich, dass Selbsthilfepotenziale nicht nur in ihrem Fall, sondern grundsätzlich Vorrang hätten (vgl. auch »wir müssen immer gucken dass wir auch andere möglichkeiten finden«, Z.177). Auffällig ist, dass die Beraterin zuerst, noch bevor sie auf Unterstützungsmöglichkeiten im familiären Umfeld Frau Kleebergs, wie die Enkelin, zurückgreift, auf die jüdische Gemeinde zu sprechen kommt. Da Frau Kleeberg über einen jüdischen Hintergrund verfügt und, wie sich herausstellt, durch die Teilnahme an einem Deutschkurs Kontakt zur jüdischen Gemeinde hat, sieht Frau Carstens diese als eine Möglichkeit der Selbsthilfe bei Dolmetschbedarf an (»und wenn sie kontakt haben (-) in der gemeinde (-) ob da nicht jemand für sie mal dolmetschen kann«, Z.155-157). Frau Kleeberg, die den Pflegedienst als Dolmetschhilfe offenbar behalten möchte (»die pflege geht mit mir«, Z.149), weist den Alternativvorschlag Frau Carstens’ zurück (»nein sie helfen mir nicht«, Z.159). Als die Beraterin dies nicht ohne weiteres akzeptiert (»haben sie schon mal gefragt«, Z.160) und wiederholt nachhakt, ob Frau Kleeberg ihren Kontakt zur jüdischen Gemeinde entsprechend aktivieren könne, reagiert Frau Kleeberg zögerlich. Sie spricht ihre Enkelin auf Russisch an (vgl. Z.162 und Z.167) und scheint einer Antwort auf Frau Carstens’ Frage auszuweichen. An ihrer Reaktion »ich weiß nicht […] es scheint mir dass […] gemeinde tut das nicht« (Z.188190) wird erkennbar, dass sie die Möglichkeit, Hilfe durch die jüdische Gemeinde in Anspruch zu nehmen, für sich ausschließt, obwohl sie offenbar bezüglich des Hilfeangebotes dort nicht sicher ist. Es scheint, als lägen Gründe vor, die für Frau Kleeberg gegen eine Bitte um Unterstützung bzw. eine Inanspruchnahme von Hilfen bei der jüdischen Gemeinde sprechen. Als die Beraterin merkt, dass die jüdische Gemeinde wohl keine Kosten sparende Alternative zum Pflegedienst darstellt, sucht sie »andere möglichkeiten« (Z.177). Dabei lässt sie ihr Anliegen zusätzlich durch die Enkelin auf Russisch übersetzen (»versuch bitte noch mal der oma zu sagen«, Z.174). Vermutlich will sie ausschließen, dass bei der Klärung dieser Frage Verständigungsschwierigkeiten im Wege stehen. Auch erklärt sie auf diese Weise der Ratsuchenden erneut ihre Beweggründe für die Suche nach Alternativen. Dabei beruft sie sich auf ihre institutionellen Vorgaben, die sie und ihre Kolleg/-innen zu einer solchen Suche verpflichteten (»wir müssen immer gucken«, Z.177). Die von Frau Carstens unterbreiteten Alternativvorschläge für Dolmetschhilfen – die Enkelin oder mögliche Bekanntschaften aus der jüdischen Gemeinde – führen nicht zum Erfolg. Sie zeigt sich schließlich bereit, entsprechende Leistungen durch den Pflegedienst im Hilfeumfang mit zu berücksichtigen:
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[Kleeberg, Z.233-261]
Frau Carstens erhebt den benötigten Umfang und die Art der Dolmetschhilfen. Nach einiger Überlegung berechnet sie den gesamten Hilfebedarf Frau Kleebergs und kommt im Ergebnis auf 2,5 Stunden wöchentlich, darunter eine Stunde für Dolmetschtätigkeiten (vgl. Z.288-294). Wenig später zweifelt sie diese Entscheidung allerdings noch einmal an: [Kleeberg, Z.321-337]
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An dieser Passage wird deutlich, inwiefern die Berücksichtigung von Dolmetschhilfen Frau Carstens in Entscheidungsschwierigkeiten versetzt (»bringt mich noch mal zum nachdenken«, Z.321f.). Ihre Rückfrage, ob der Pflegedienst Frau Kleeberg zur Krankenkasse begleite oder dort in ihrem Auftrag anrufe, könnte zwar bedeuten, dass sie ihre Suche nach Kosten reduzierenden Möglichkeiten noch nicht aufgegeben hat. Jedoch nimmt sie die Angabe der Ratsuchenden, sie werde begleitet, kommentarlos hin, obwohl es sich hierbei um eine zeitintensivere Hilfe handelt. In ihrer Aussage »ich versuch es so genau wie möglich hinzukriegen« (Z.335f.) dokumentiert sich ihr Dilemma, einerseits dem Hilfebedarf der Ratsuchenden zu entsprechen und andererseits die Kosten dafür in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Sie versucht, diesem Dilemma mittels akribischer Erfassung der individuellen Erfordernisse zu begegnen. Obwohl sie den festgesetzten Hilfeumfang »n bisschen viel« (Z.334f.) findet, entscheidet sie wenig später schließlich: »ok dann lass ich das mal so« (Z.367). Ein ähnliches Handeln der Beraterin manifestiert sich in der Beratung Bujanov, in der Frau Carstens mit einer vergleichbaren Situation konfrontiert wird. Hier geht es ebenfalls darum, dass der Pflegedienst, der durch die russischsprachige Leiterin Frau Bauer (BR) im Gespräch vertreten ist, dem drei Jahre zuvor aus Russland eingewanderten jüdischen Ehepaar Bujanov beim Schriftverkehr übersetzend zur Seite steht. Frau Carstens fragt zunächst allgemein nach bestehenden sozialen Kontakten des Ehepaares. Als sie erfährt, dass Herr Bujanov (HB) und seine Frau (FB) kaum über private Kontakte verfügen, spricht sie sie auf die jüdische Gemeinde an. [Bujanov, Z.397-441]
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Ähnlich wie in der Beratung Kleeberg sieht Frau Carstens auch hier in der jüdischen Gemeinde eine mögliche Alternative zum Pflegedienst bei Dolmetschbedarf. Auch hier greift ihre Vorstellung jedoch nicht, die Gemeinde würde jüdischen Migrant/-innen im Bedarfsfall helfen. Wenngleich in dieser Passage das Kostenargument von der Beraterin nicht explizit benannt wird, so ist zu vermuten, dass für ihr Vorgehen und schließlich für ihre Entscheidungsunsicherheit (»hm also äh bin noch nicht so sicher«, Z.440) auch ökonomische Faktoren ausschlaggebend sind. Sie trifft in dieser Beratung keine Entscheidung über den Umfang der zu bewilligenden Leistungen, stattdessen kündigt sie der Pflegedienstleiterin an: »ja ich möchte dann gerne morgen anrufen und sagen ähm wie ich mir das denke« (Z.484f.). Sowohl in dieser Beratung als auch in der zuvor zitierten zeigt sich, inwiefern das Interesse der Ratsuchenden, das in beiden Fällen darin besteht, über den Pflegedienst Dolmetschhilfen zu erhalten, mit der behördlichen Vorgabe kollidiert, institutionelle Leistungen nachrangig zu behandeln und zu allererst Selbsthilfepotenziale zu prüfen. Obwohl solche Potenziale im sozialen Umfeld der Ratsuchenden dem Anschein nach nicht zur Verfügung stehen, manifestieren sich im Handeln der Beraterin Entscheidungsunsicherheiten. Augenscheinlich sind ihr vor dem Hintergrund der Maßgabe, Kosten gering zu halten, ihre Handlungsspielräume bezüglich der Berücksichtigung von Dolmetschleistungen bei der Bewilligung von Hilfen nicht klar. In den folgenden Passagen aus der Beratung Ahmadi zeigt sich die Orientierung der Beraterin an den Sparvorgaben der Behörde sogar so ausgeprägt, dass sie den geäußerten Hilfebedarf der Ratsuchenden teilweise grundsätzlich in Frage stellt und die Bewilligung von Hilfeleistungen abzulehnen versucht. Hilfe- und Kontrollauftrag treten hier nicht als ein Spannungsfeld in Erscheinung, da die Kontrollorientierung der Beraterin deutlich im Vordergrund steht.
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Kontrollorientiertes Handeln der Beraterin: Beratung Ahmadi Instruktiv ist diesbezüglich vor allem die bereits zitierte Passage, in der es um die Arztbesuche Frau Ahmadis (AI) geht (vgl. Kapitel 6.3.2). Sie soll daher an dieser Stelle erneut mit Blick auf das Beraterhandeln aufgegriffen werden. In dieser Passage erkundigt sich Frau Carstens nach den Ärzten der Ratsuchenden. Sie erfährt über den dolmetschenden Pflegedienstleiter Herrn Hamedi (HM), dass sich die Hausarztpraxis in einem entfernt liegenden Stadtteil befindet und Frau Ahmadi eine Begleitung dorthin benötigt. Diese werde derzeit vom Pflegedienst übernommen. Der Beraterin ist diese Regelung, wie sie später erklärt, zu teuer. Sie spricht daher verschiedene Alternativen an. Da sie zumindest anfangs anzuerkennen scheint, dass Frau Ahmadi die entfernt liegende Arztpraxis aufsucht, weil es sich um einen Farsi sprechenden Arzt handelt (»und äh stadtteil E da müssen sie hin weil (-) der arzt äh farsi spricht oder?«, Z.422 und Z.425), beabsichtigt sie zunächst, an den Kosten für die Begleitung zu sparen. Sie erkundigt sich, warum Frau Ahmadi eine Begleitung zum Arzt benötigt. Auf Herrn Hamedis Begründung hin, sie habe »angst vor stürzen« (Z.468), wirft Frau Carstens die Alternative auf: »und was ist mit nem gehwagen so als stütze?« (Z.470). Diesem Vorschlag steht die Ratsuchende jedoch skeptisch gegenüber. Sie äußert Befürchtungen, nicht mit einem Gehwagen zurechtzukommen. Im folgenden Gesprächsauszug, in dem die Beraterin einen weiteren Alternativvorschlag unterbreitet, der wiederum auf Ablehnung stößt, spitzt sich das Gespräch zu. [Ahmadi, Z.487-535]
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Die Beraterin versucht nun, über den zeitlichen Umfang der Hilfe Kosten zu sparen. Ihrer Ansicht nach könne die alte Migrantin mit einer Begleitperson als Dolmetscherin ebenso gut einen »arzt in der NÄHE« (Z.490) konsultieren. Obwohl ihr auf diesen Vorschlag hin vermittelt wird, dass Frau Ahmadis Arztwahl nicht allein auf sprachlichen Beweggründen, sondern auch auf »vertrauen« basiere und der Arzt, bei dem sich die Ratsuchende nach Aussagen des Pflegedienstleiters bereits »seit langen« in Behandlung befinde, über Frau Ahmadis »anamnese« informiert sei, hält Frau Carstens aus Kostengründen einen Arztwechsel zu einem deutschen Arzt für zumutbar. Ökonomische Gesichtspunkte rangieren für die Beraterin demnach vor dem Vertrauen der Patientin zu ihrem Arzt und auch vor deren Möglichkeit, mit dem Arzt direkt, d.h. ohne Dolmetscher/-in, zu kommunizieren. Das sehr dezidierte Verhalten der Beraterin in dieser Passage könnte zudem als Reaktion auf die Ablehnung ihrer Alternativvorschläge und die nicht ganz schlüssige Argumentationsweise des Pflegedienstleiters dabei gelesen werden. Herr Hamedi führt in seinen Begründungen teilweise widersprüchliche Aussagen an. So deuten seine Formulierung »sie geht of sehr oft äh muss sie manchmal zum arzt gehen« (Z.513) und sein Argument, die Migrantin müsse bei Konsultation eines deutschen Arztes »immer wieder äh die leute von uns beanspruchen« (Z.514), das im Widerspruch zur zuvor betonten grundsätzlichen Notwendigkeit einer Arztbegleitung steht, nicht auf eine stringente und überzeugende Darstellung von Frau Ahmadis Bedarfslage. Bei der Beraterin, die diese Unklarheit unmittelbar aufgreift, scheint dieses Verhalten eine Abwehrhaltung zu provozieren. Sie lässt die angeführten Argumente nicht gelten (»gut aber«, Z.525) und es ist nicht auszuschließen, dass es ihr dabei auch um eine Frage des Prinzips geht. Als seien ihr die fachlichen Argumente ausgegangen, beruft sie sich schließlich auf ihre Amtsautorität. Mit ihrer Äußerung »ja aber äh leider bin ich ja hier um zu kontrollieren« (Z.527) macht sie deutlich, dass sie in dieser Situation über die Entscheidungsmacht verfügt. Dabei greift sie auch auf eine Generalisierung zurück (»und es ist äh schon der kostenaspekt immer
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WIEDER«, Z.527 und Z.529), mit der sie ihrem Standpunkt offenbar mehr Gewicht zu verleihen beabsichtigt und in der mitschwingt, dass es sich aus ihrer Sicht bei Fällen wie dem Frau Ahmadis nicht um Einzelfälle handele. Durch ihre Bemerkung »sonst müsst ich nicht kommen […] und ich muss halt gucken gibt es irgendwelche kostengünstigere lösungen« (Z.529, Z.531, Z.533 und Z.535) zeigt sie, dass sie ihre Rolle vorrangig als Kontrolleurin der Behörde versteht. Sie definiert Hausbesuche als Instrument, »kostengünstigere lösungen« zu finden, nicht etwa als Möglichkeit, sich einen Eindruck von der individuellen Bedarfslage der Ratsuchenden zu verschaffen. Dass Frau Carstens ebenfalls einen Hilfeauftrag und auch einen Beratungsauftrag hat, ist nicht erkennbar. Zudem lässt ihre Formulierung »kostengünstigere lösungen« den Eindruck entstehen, dass sie die Hilfebedarfe der Ratsuchenden primär als Kosten verursachende Probleme begreift und dass es gelte, nicht für die Hilfebedarfe selbst, sondern für die damit verbundenen Kosten, Lösungen zu finden. Eine ähnliche Reaktionsweise wiederholt sich in der Passage, in der es um die Unterstützung Frau Ahmadis beim Kochen geht (vgl. Kapitel 6.3.2). Auch in dieser Passage zweifelt Frau Carstens zunächst den Hilfebedarf der Ratsuchenden grundsätzlich an, wenn sie fragt: »und warum kann sie das nicht selber machen also? (--) ich denke mal also sie (sieht) so ganz a agil aus« (Z.691f.). Auch hier zeigt sich die Beraterin nicht einverstanden mit der Erbringung der nötigen Unterstützung beim Kochen durch den Pflegedienst, der Frau Ahmadi afghanisches Essen zubereitet. Sie bringt einen Mahlzeitendienst als Alternative ins Spiel: [Ahmadi, Z.697-699]
Frau Carstens rechtfertigt den Vorschlag eines Mahlzeitendienstes mit der Bemerkung, sie sage dies »anderen bürgern auch«. Sie macht damit unmissverständlich deutlich, keine Sonderwünsche gelten zu lassen, auch dann nicht, wenn dadurch Gewohnheiten, hier Essgewohnheiten, aufrechterhalten werden könnten. Die Beraterin nimmt ihren Standpunkt vermutlich auch aus Prinzip ein, denn inwiefern ein Mahlzeitendienst faktisch kostengünstiger wäre als die Unterstützung beim Kochen durch den ohnehin bei Frau Ahmadi tätigen Pflegedienst, wird nicht eruiert. Die Migrantin hat, so der Tenor von Frau Carstens’ Äußerung, kein Anrecht auf Sonderbehandlung. Vielmehr stehe für ihren Hilfebedarf eine pauschalisierte Leistung zur Verfügung (»wenn man nicht mehr selber kochen kann gibt es die möglichkeit …«). Sie macht durch ihre Aussage deutlich, dass sie das Prinzip, alle Ratsuchenden gleich zu behandeln, über die Berücksichtigung individueller Besonderheiten stellt.
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In den zitierten Passagen dieses Abschnitts sieht die Beraterin die Berücksichtigung von ›ethnischer Differenz‹ bei den zu bewilligenden Hilfen als im Widerspruch stehend zu ihrem behördlichen Auftrag, ökonomisch zu arbeiten. Ihre nur zögerliche, zum Teil sogar mangelnde Bereitschaft, einen spezifischen Unterstützungsbedarf zu berücksichtigen, wenn er mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, gefährdet insgesamt die individuelle Ausrichtung der Hilfeleistungen. Der Versuch der Zurückweisung von Hilfen und die Suche nach Kosten sparenden Alternativen dominieren den Beratungsverlauf. Während die Ratsuchenden in den eben angeführten Beratungen Kleeberg, Bujanov und Ahmadi vorrangig Fremdbestimmungen bei der Organisation ihrer Hilfen ausgesetzt sind und institutionelle Interessen den Beratungsverlauf tendenziell dominieren, rücken nun Beispiele in den Blick, in denen es alten Migrant/-innen gelingt, im Beratungsprozess selbstbestimmt zu agieren.
6.4.2 Ethnische Bezugnahmen im Kontext der Zurückweisung institutioneller Hilfen durch Ratsuchende In den folgenden beiden Gesprächspassagen weisen Ratsuchende ihrerseits institutionelle Hilfen zurück. Die Ratsuchende in der Beratung Tekinay lehnt die Unterstützung durch einen Pflegedienst mit Argumenten ab, die darauf hindeuten, dass sie durch diese Hilfe die Fortführung ihrer Alltagsgewohnheiten nicht gesichert sieht. Sie präferiert daher Hilfen aus dem engeren familiären Umfeld. Im zweiten, etwas ungewöhnlichen Dokument aus der Beratung Goldmann steht die ethnische Differenzsetzung der Ratsuchenden nicht in einem unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang mit der thematisierten Hilfe. Frau Goldmann beruft sich bei ihrer Zurückweisung einer durch den Berater angebotenen institutionellen Hilfe unter anderem auf ethnische Differenz, um ihrer Begründung der Zurückweisung ein zusätzliches Argument hinzuzufügen. Ihr Rekurs auf ethnische Differenz ist daher nicht als inhaltliches Argument zu werten, sondern als argumentative Strategie, die zeigt, inwiefern inhaltliche Anliegen, wie hier der Erhalt der Unabhängigkeit von professioneller Unterstützung, mit ethnischen Differenzierungen verknüpft werden, um sie gegenüber dem Berater durchzusetzen. Bei den im Folgenden angeführten Beispielen für die Zurückweisung institutioneller Hilfeangebote durch Ratsuchende handelt es sich um zwei auf ihre Weise einzigartige Fälle im Datenmaterial. Sie können daher nicht ohne weiteres als ›typisch‹ bezeichnet werden. Sie werden aber deshalb für beachtenswert gehalten, da sie Belege dafür darstellen, wie Selbstbestimmung alter Migrant/-innen im Beratungsprozess Raum erhält und wirksam wird.
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Der Bezug auf ethnische Differenz als inhaltliches Argument bei der Zurückweisung institutioneller Hilfen: Beratung Tekinay In der Beratung Tekinay steht das Anliegen der Ratsuchenden Frau Tekinay (TE), den bei ihr und ihrem Ehemann gegenwärtig im Haushalt tätigen Pflegedienst abzubestellen, im Zentrum. Die 61-jährige türkische Migrantin signalisiert dem Berater Herrn Behrens (BE), der den Hausbesuch durchführt, um über eine Weiterbewilligung dieser Hilfe zu entscheiden, dass hinter ihrem Wunsch vor allem Unzufriedenheit mit der Arbeit des Pflegedienstes steht. Nun habe sich ihre Tochter angeboten, die erforderliche Hilfe zu übernehmen. Die Kritik, die die Ratsuchende an den Pflegedienst heranträgt, setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen, die sie über das Gespräch verteilt andeutet. So beanstandet laut Frau Tekinay vor allem die Tochter den häufigen Mitarbeiterwechsel: »meine tochter sagt […] manchmal andere leute kommen verschiedene leute kommen« (Z.3f.). Auch sei der Pflegedienst keine zuverlässige Einkaufshilfe und habe, wie in dem folgenden Abschnitt ersichtlich wird, Gewohnheiten der Ratsuchenden bei der Erfüllung hauswirtschaftlicher Hilfen missachtet: [Tekinay, Z.133-141]
An Frau Tekinays Bemerkung, vor allem an ihrer Aussage »bei uns ist keine schuh«, wird deutlich, dass es ihr mit dem Kritikpunkt, die Pflegedienstmitarbeiter/-innen würden beim Staubsaugen Schuhe tragen, nicht allein um Sauberkeit geht, sondern um ein allgemeines Prinzip bzw. eine Gewohnheit der Tekinays, nämlich die Wohnung nicht mit Schuhen zu betreten. Bei den bislang genannten Gründen für die Unzufriedenheit mit dem Pflegedienst berief sich Frau Tekinay allerdings nicht auf ethnische Differenz als ausschlaggebenden Faktor. Als es jedoch ums Kochen geht, macht sie diese explizit geltend. [Tekinay, Z.343-362]
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* der Pflegedienst (Anmerkung: K.H.)
Frau Tekinays scherzhafter Ausspruch »kennst du türkische koch?« (Z.347) deutet auf ihre Gewohnheit hin, türkisches Essen zu sich zu nehmen. Indirekt schwingt die Kritik darin mit, dass der Pflegedienst dieser Gewohnheit nicht nachkommen kann (»er hat kochen kochen nie gemacht«, Z.354). Da Frau Tekinay wohl auch nicht vom Berater erwartet, ihr einen »türkische[n] koch« vermitteln zu können, stellt sie ihre Tochter hier als diejenige dar, die diesem Bedürfnis entsprechen kann. Auffällig an ihrer Formulierung ist, dass sie nicht etwa hervorhebt, sie bevorzuge von der Tochter zubereitetes Essen, sondern dass diese ihr, im Unterschied zum Pflegedienst, den Wunsch nach türkischem Essen realisieren könne. Insofern kann hier von einer ethnischen Selbstzuweisung im Kontext des Hilfebedarfes ausgegangen werden, die im Beratungsverlauf für die Zurückweisung einer institutionellen Hilfe wirkungsvoll eingesetzt wird. Zwar sind ethnische Differenzierungen in diesem Fall nicht allein ausschlaggebend für den Wunsch der Ratsuchenden, auf den Pflegedienst zu verzichten. Sie stellen jedoch eine Komponente in ihrem Begründungszusammenhang dar. Frau Tekinays Zurückweisung der wiederholt vom Berater angedeuteten Hilfeangebote (vgl. z.B. »brauchen sie […] hilfe beim waschen«, Z.358f.) ist zudem nicht allein mit ihrer Unzufriedenheit hinsichtlich der Arbeit des Pflegedienstes zu erklären. Mehrmals signalisiert sie, dass sie das Angebot der Tochter, sie zu unterstützen, hoch bewertet. Durch deren Hilfe würde Frau Tekinay von institutionellen Unterstützungsleistungen ganz unabhängig werden. [Tekinay, Z.67-80]
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Auf eine andere Weise beruft sich die Ratsuchende Frau Goldmann auf ethnische Differenz. Bei ihrer ethnischen Bezugnahme handelt es sich weniger um ein inhaltliches als um ein strategisches Argument im Kontext der Zurückweisung einer ihr angebotenen institutionellen Hilfe.
Der Bezug auf ethnische Differenz als strategisches Argument bei der Zurückweisung institutioneller Hilfen: Beratung Goldmann In der Passage aus der Beratung Goldmann, die in diesem Kontext relevant ist, weist Frau Goldmann (FG) eine vom Berater Herrn Dieckmann (DI) vorgeschlagene Badehilfe zurück. Kurz zuvor lehnt sie bereits das Angebot eines seniorengerechten Bettes ab, indem sie sich auf ihr Alter beruft: »das ist noch nicht die zeit noch fünfundsiebzig ja« (Z.1175). Mit 75 hält sich Frau Goldmann demnach für ein solches ›Hilfsmittel‹ für »noch« zu jung. Auf eine ähnliche Weise reagiert sie auf Herrn Dieckmanns Angebot, die Pflegerin ihres Mannes Herrn Goldmann (HG) könne auch sie beim Baden unterstützen. Im folgenden Gesprächsausschnitt versucht der Berater sie dennoch von einer Badehilfe zu überzeugen. [Goldmann, Z.1231-1284]
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Auch hier weist die Ratsuchende die Hilfe zunächst mit Bezug auf ihr Alter zurück. Durch ihre Aussage »bitte äh später nach […] fünfundsiebzig« (Z.1242) signalisiert sie, trotz »schwindel« und anderer »störungen« in ihrem Alter noch nicht von institutionellen Hilfen Gebrauch machen zu wollen. Stattdessen ziehe sie es vor, »sehr vorsichtig« (Z.1244f.) zu sein. Relevant für den vorliegenden Kontext ist nun ihr zusätzlich angeführtes Argument, keine Kosten verursachen zu wollen, das sie mit ihrer Bemerkung »sparen wir ein bisschen […] für deutschland« (Z.1252 und Z.1255) hervorbringt. Inwiefern es sich bei dieser Aussage um eine ethnische Differenzierung handelt, wird erst vor dem Hintergrund des Gesprächsverlaufes insgesamt plausibel. So durchzieht die Thematisierung von herkunftsbezogener Differenz zwischen dem ›deutschen‹ Berater und dem ›ukrainischen‹ Ehepaar über weite Strecken die Kommunikation und steht sehr häufig im Zentrum der Gesprächsinhalte (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 6.1.1). An zwei Stellen deutet Frau Goldmann an, wie sie als Migrantin aus der Ukraine über Deutschland denkt. Diese Äußerungen sind für die Einordnung ihrer Bemerkung in dieser Passage aufschlussreich. Zum einen betont sie: »ich bin sehr äh böse sehr BÖSE als JEmand sagt ein äh nicht gute wort in adresse deutschland wir sind ( ) hier und wir sind sehr dankbar« (Z.683, Z.685 und Z.688). Zum anderen erklärt sie dem Berater, als es um die Inanspruchnahme einer Fußpflege geht, dass es für sie in Deutschland zunächst ungewohnt gewesen sei, Hilfen finanziert zu bekommen und sie Schwierigkeiten gehabt habe, diese anzunehmen: [Goldmann, Z.1076-1079]
In Verbindung mit diesen Hinweisen liegt es nahe, ihre Aussage, »für deutschland« sparen zu wollen, als eine erneute Bezugnahme auf ethnische Differenz zu lesen. Sie lehnt die Badehilfe insofern auch als Migrantin ab, die
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ihre Zufriedenheit mit und ihre Dankbarkeit gegenüber Deutschland zum Ausdruck bringen will, indem sie dem öffentlichen Kostenträger eine Sparmöglichkeit anbietet. Mit dieser Einnahme der Perspektive der bewilligenden Institution bringt sie ein Argument hervor, von dem sie möglicherweise ausgeht, dass es sich um ein für den Berater überzeugendes Argument handelt, weniger jedoch um eines, das sie ernsthaft – zumindest nicht vorrangig – vertritt. Im Zentrum für sie steht die Wahrung ihrer Selbstständigkeit, die sie durch das Angebot des Beraters gefährdet sieht. Ihre Ablehnung der Hilfe drückt sie sehr deutlich gegenüber ihrem Ehemann aus, indem sie diesem auf Russisch sagt: »ich will das nicht nehmen« (Z.1277). Zwar entkräftet Herr Dieckmann ihr Argument, durch den Verzicht auf die Badehilfe für den Staat zu sparen. Gleichwohl gelingt es ihr insgesamt, ihren Standpunkt durchzusetzen. Beide in diesem Abschnitt angeführten Gespräche zeigen, wie Ratsuchende institutionelle Hilfen unter Bezugnahme auf ethnische Differenz zurückweisen und auf diese Weise ihrer Selbstbestimmung über die Inanspruchnahme professioneller Dienste Geltung verschaffen. Die ethnische Differenzsetzung fungiert dabei entweder als inhaltliches oder als strategisches Argument, das die Ablehnung der institutionellen Hilfe stützt.
6.4.3 Fazit Typ IV: Ethnische Differenzierungen führen zur Zurückweisung von institutionellen Hilfen Die ethnischen Differenzierungen, die in den vorangehenden beiden Abschnitten nachgezeichnet und zu einem Typus zusammengefasst wurden, wirken auf eine Weise, die zu einer Zurückweisung bzw. zu einer drohenden Zurückweisung institutioneller Hilfen führt. Diese Wirkungsweise eint die ansonsten recht unterschiedlichen, man könnte auch sagen, einander kontrastierenden Varianten. Denn einerseits wurden Berater/-innen betrachtet, die die Bewilligung von Hilfen, die Ratsuchende sich wünschen, ablehnen, andererseits ging es um Hilfeangebote, die von Berater/-innen unterbreitet, jedoch durch Ratsuchende zurückgewiesen werden. Es zeigt sich, dass Berater/-innen mit der Bewilligung von Hilfen zögern, wenn sie ein Missverhältnis zwischen den Wünschen der Ratsuchenden, den eigenen fachlichen Einschätzungen bezüglich des Hilfebedarfs und den institutionellen Vorgaben der Institution, in deren Auftrag sie handeln, auszubalancieren haben und diese Handlungsanforderung für sie nicht ohne Entscheidungsunsicherheiten zu bewältigen ist. Sie berufen sich in einer solchen Beratungssituation auf ethnische Differenz als einen Kostenfaktor, mit dem die Zurückweisung von institutionellen Hilfen begründet wird. Nicht selten dominieren dann ökonomische Gesichtspunkte den Beratungsverlauf und lassen den individuellen Hilfebedarf der Ratsuchenden zur Nebensache werden (vgl.
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Kapitel 6.4.1). Im Vergleich mit den Ergebnissen des dritten Typus, der »Begründung eines institutionellen Hilfebedarfs unter Bezugnahme auf ethnische Differenz« (vgl. Kapitel 6.3), der vornehmlich Berater/-innen herausstellt, die ihr Handeln an ihrem Hilfeauftrag orientieren, manifestiert sich im Rahmen des vierten Typus, der »Zurückweisung von institutionellen Hilfen unter Bezugnahme auf ethnische Differenz«, eine ausgeprägte Kontrollorientierung der Sozialarbeiter/-innen. Die Frage, wie ethnische Differenzierungen von der beratenden Person im Spannungsfeld helfender und kontrollierender Handlungsaufträge verortet werden, scheint daher von einiger Relevanz zu sein bezüglich der Entscheidung über die Bewilligung von herkunftsspezifisch ausgerichteten Hilfeleistungen: Berücksichtigen Berater/-innen einen Herkunftsbezug in der Hilfeplanung als individuell erforderlichen Bedarf ihrer Ratsuchenden oder sehen sie ihn als Kosten produzierenden Faktor? Im Hinblick auf den vierten Typus deutet sich an: Berater/-innen, die sich in ihrem Handeln vorrangig an ihrem Kontrollauftrag orientieren, tendieren dazu, einen seitens der Ratsuchenden geltend gemachten ethnischen Bezug in der Hilfeplanung zurückzuweisen bzw. dies zumindest zu versuchen. Das Handeln der Beraterin in der Beratung Ahmadi dokumentiert, dass die Bewilligung eines solchen – aus ihrer Sicht – ›Sonderbedarfs‹ im Kontext der Gleichbehandlung aller Ratsuchenden nicht für gerechtfertigt gehalten wird. Wie in den Beratungen Kleeberg und Bujanov zu erkennen ist, versucht die Beraterin auch, die ›ethnische Herkunft‹ der Ratsuchenden Kosten reduzierend einzubeziehen, indem sie auf Selbsthilfepotenziale in ethnischen Communities verweist. Des Weiteren zeigt sich, dass auch Ratsuchende institutionelle Hilfeangebote zurückweisen und damit ihrer Selbstbestimmung über die Inanspruchnahme von professionellen Diensten in der Beratung Ausdruck verleihen (vgl. Kapitel 6.4.2). Sie berufen sich auf ethnische Differenz entweder als inhaltliches Argument, denn sie sehen die Fortführung ihrer Lebensgewohnheiten durch die angebotenen Hilfen nicht gewährleistet, oder sie nutzen einen ethnischen Bezug als strategisches Argument, mit dessen Unterstützung sie ihren Wunsch nach Erhalt ihrer Selbstständigkeit und nach Unabhängigkeit von institutionellen Hilfen durchzusetzen hoffen. Wie sich insgesamt in den untersuchten Beratungsgesprächen dieser Studie abzeichnet, treten alte Migrant/-innen verhältnismäßig selten als gestaltende Akteure in Erscheinung. Oftmals werden sie – so zeigt vor allem Kapitel 6.2.2 – von der Beratungskommunikation ausgeschlossen und an den darin getroffenen Entscheidungen nicht beteiligt. Zudem dominieren – wie Kapitel 6.3.1 besonders hervorhebt – in einer Reihe von Gesprächen stereotype Wissensbestände über alte Migrant/-innen und führen zu Hilfeleistungen, die nicht immer dem individuellen Bedarf der Ratsuchenden entsprechen. Es stellt sich demnach die Frage, unter welchen Voraussetzungen Selbstbestimmung alter Migrant/-innen in den untersuchten Gesprächen Raum erhält und wirksam wird. Die Dokumente, die im Rahmen des vierten Typus angeführt werden, geben diesbezüglich wie folgt Aufschluss: Selbstbestimmtes
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Handeln alter Migrant/-innen zeigt sich vor allem, wenn die Ratsuchenden ihr Anliegen sprachlich, d.h. für den vorliegenden Kontext in der deutschen Sprache und ohne dolmetschende Person, selbst vertreten und gegebenenfalls auch gegen Überzeugungsversuche der Berater/-innen durchsetzen können. Sowohl Frau Tekinay als auch Frau Goldmann können dies. Sie treten beide selbstbewusst für ihre Interessen ein. Zusätzlich erweist es sich als förderlich, wenn die alten Migrant/-innen auf Berater/-innen stoßen, die die Ratsuchenden als Expert/-innen ihrer eigenen Bedarfslage anerkennen, d.h. deren Vorstellungen und Interessen sowie deren Wunsch nach Wahrung ihrer Selbstständigkeit im Alltag respektieren und in der Beratung zu entsprechen beabsichtigen.
7 Ethnische Differenzierungen – Strategie oder Störfaktor in der Beratung? Abschließende Überlegungen
Die vorliegende Studie gewährte Einblicke in die Praxis der Beratung in Institutionen der Altenhilfe. Betrachtet wurden Beratungsgespräche, die von Sozialarbeiter/-innen ohne Migrationshintergrund mit alten Migrant/-innen geführt wurden. Dabei wurden Handlungsorientierungen der Akteure und ihre Umgangsweisen miteinander unmittelbar erkennbar. Im Fokus der interaktionsanalytischen Betrachtung standen ethnische Differenzierungen, die die Beteiligten vornahmen und die sich im Beratungsgeschehen dokumentierten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse liefern für das Handlungsfeld der Altenberatung erste Antworten auf die empirisch bislang wenig beachtete Frage nach dem Stellenwert von ethnischen Differenzierungen in der praktischen Sozialen Arbeit und ermöglichen Aussagen über ihre Wirkungsweisen auf Beratungsprozesse. Die Rekonstruktionen der ›authentischen‹ Beratungsgespräche mündeten in eine Typologie von Modi ethnisierender Bezugnahmen und ihren Wirkungen, die erkennen lässt, dass es sich hierbei um Vorgänge von grundlegender Relevanz handelt. Ethnisierungen können sowohl auf der Inhaltsebene der Beratung als auch auf der Ebene der Beziehung der Beteiligten zueinander Bedeutung erhalten, und zwar in jeder Phase und zu jedem Zeitpunkt des Beratungsverlaufes. Es handelt sich um eine zentrale, von den Akteuren geltend gemachte Differenzierungskategorie in Beratungskonstellationen, wie sie hier untersucht wurden, mit erheblichem Einfluss auf die Struktur und die Gestaltung von Hilfeprozessen. Die Ergebnisse der Analysen sind bereits jeweils zum Ende der Darstellung der vier entwickelten Typen zusammenfassend präsentiert worden. Im Rahmen dieser abschließenden Bemerkungen soll daher eine Beschränkung auf die beachtenswertesten, in ihrer Wirkung auf die sozialarbeiterische Praxis besonders weit reichenden Aussagen genügen. Diese werden zum einen in der deutlich hervortretenden Funktionalität ethnischer Differenzsetzungen in der Beratung gesehen. Ethnisierende Bezugnahmen erfolgen zweckgerichtet und
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sind insofern instrumentellen Charakters. Zum anderen besticht ihr Einfluss auf der Ebene der Beziehung. Ethnische Differenzierungen tragen in einem erheblichen Maße dazu bei, ein spezifisches Beziehungsgefüge zwischen den Gesprächspartnern zu konstituieren und über den Beratungsverlauf hinweg zu reproduzieren. In diesem Kontext ist insbesondere die erodierende Wirkung ethnischer Differenzierungen auf das Rollenverhältnis von Berater und Ratsuchendem hervorzuheben. Vielfach führen sie dazu, dass die Beteiligten ihre Gesprächsrollen nicht wahrnehmen können. Die Voraussetzungen, die eine Situation zu einer Beratungssituation machen, werden prekär und die Charakterisierung dieser Gespräche als Beratungen ist – zumindest in einem beratungsmethodischen Sinne – in Zweifel zu ziehen. Diese zentralen Analyseergebnisse sollen im Folgenden rückblickend und mit Bezug auf die erkenntnisleitenden Konzepte von Ethnizität und Ethnisierungsvorgängen, die sich an sozialkonstruktivistischen Prämissen orientieren (vgl. Kapitel 4.2), reflektiert und in ihrer Relevanz für den Diskurs um Alter und Migration in der Sozialen Arbeit (vgl. Kapitel 2.4) herausgestellt werden. Schließlich soll auch darauf eingegangen werden, welche weiterführenden Forschungsziele sich für die Soziale Arbeit ableiten lassen.
Die identifikatorische und die strategische Funktion ethnisch orientierten Handelns in der Beratung Im Hinblick auf den Stellenwert des Konstruktes Ethnizität in der Beratung fällt auf, dass die Akteure ethnischen Differenzierungen im Rahmen der Gestaltung der Beratungsbeziehung und des Erreichens von Beratungszielen Funktionen zuschreiben. Ihr Geltendmachen erweist sich in diesem Kontext als strategisches Mittel. Dabei dokumentieren die untersuchten Beratungsgespräche deutlich, dass der instrumentelle Charakter ethnischer Differenzierungen einen erkennbar höheren Stellenwert und infolgedessen auch eine größere Wirkungsmächtigkeit hinsichtlich der Verläufe und der Resultate von Hilfeprozessen einnimmt als die ›persönliche‹ Bedeutung von Ethnizität für den einzelnen Ratsuchenden im Hinblick auf die in der Beratung behandelten Lebens- und Problemlagen im Alter – gleichwohl auch diese subjektive Bedeutung in den Gesprächen eine Rolle spielt. Mit diesem Ergebnis werden vorliegende Forschungen über alte Migrant/-innen, die sich mit der Relevanz von Ethnizität und Kultur befassen, um eine wichtige Perspektive ergänzt. Wie die Darstellung und Einschätzung des Fachdiskurses zu Alter und Migration im zweiten Kapitel sowie in Kapitel 3.1 zeigten, ist der Ethnizitätsbegriff bislang vornehmlich vom alten Migranten aus und in Bezug auf ihn, also auf der Ebene des Subjekts, diskutiert worden. Untersuchungen fragen primär danach, welche Bedeutung Ethnizität für Migrant/-innen im Alter hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Versorgungssysteme und die Versorgungskonzepte ableiten. Prominent innerhalb des Fachdiskurses um Alter und Migration sind nach wie vor die in den
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1990er Jahren aufgestellten Thesen Dietzel-Papakyriakous (vgl. Kapitel 2.4), denen zufolge von einer zunehmenden Bedeutung von Ethnizität im Alter bei Migrant/-innen ausgegangen werden müsse. Diese Bedeutungszunahme hinge erstens mit dem zu beobachtenden ›ethnischen Rückzug‹ von Migrant/-innen im Alter – gemeint ist die Einschränkung ihrer sozialen Kontakte auf Personen der gleichen Herkunft – zusammen. Zweitens sei von positiven Auswirkungen ethnischer Zugehörigkeit auf das Altern auszugehen. Ethnizität stelle eine Ressource im Alter dar, da durch das Eingebundensein in ein ethnisches Netz bzw. in eine ethnische Community biographische Kontinuität gewährleistet und soziale Anerkennung erfahren werde. Die hohe Bedeutung von Ethnizität im Alter resultiere schließlich drittens auch daraus, dass sie in Wechselwirkung mit weiteren sozialen Kategorien, wie Alter, Geschlecht und Sozialstatus, zu einer Kumulation von sozialen Benachteiligungen führen könne (»double jeopardy«), die erheblichen Einfluss auf die Lebensgestaltungsmöglichkeiten im Alter nähmen. Ergänzend wurde in der vorliegenden Studie auf Untersuchungen eingegangen, die die Aussagen Dietzel-Papakyriakous relativieren und einen differenzierteren Blick auf den Stellenwert von Ethnizität im Alter werfen. So betont Vahsen in seinen Publikationen die subjektiv höchst unterschiedliche, sich wandelnde Bedeutung ethnischer Zugehörigkeit. Die Relevanz von Ethnizität könne ihm zufolge nur am einzelnen Individuum und unter Berücksichtigung von dessen subjektiver Deutung seiner Lebenslage und seiner Lebensvorstellungen geprüft, anstatt im Voraus angenommen zu werden (vgl. Kapitel 2.4). Ethnizität wird in diesen Ansätzen zwar als eine dynamische, in ihrem Stellenwert für den Einzelnen veränderliche Kategorie beschrieben. Diese Struktureigenschaft des Konstruktes Ethnizität wird jedoch in erster Linie auf die Biographie bzw. auf die subjektive Lebensauffassung alter Migrant/-innen bezogen. Außer Acht gelassen wird, dass es sich nicht allein in diesem Sinne um eine wandelbare Kategorie handelt. Wie aus den Analysen der Beratungsgespräche hervorgeht, zeichnet sich die Bedeutung ›ethnischer Differenz‹ durch ihre Situationsgebundenheit aus. Sie wird jeweils in konkreten Interaktionen hergestellt. Aussagen über die Bedeutung von Ethnizität für die einzelnen Subjekte losgelöst vom jeweiligen Kontext, in dem von dieser Bedeutung die Rede ist, greifen daher zu kurz. So ist im Hinblick auf die Praxis der Sozialen Arbeit ein ergänzender Blick auf die ›eigenständige‹ Bedeutung des Konstruktes Ethnizität in Sozialarbeiter-Klient-Interaktionen von Nöten. Die vorliegende Typologie zeigt, dass Ethnizität eine soziale Differenzierungskategorie ist, die diese Interaktionen grundlegend strukturiert und durch das Ineinandergreifen von ethnischen Fremd- und Selbstzuweisungen der Akteure in Hilfeprozessen eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Das heißt, dass Ethnizität nicht ausschließlich als Kategorie zu diskutieren ist, die Migrant/-innen, je nach subjektiver Bedeutung mehr oder weniger, in Hilfeprozesse einbringen und die dort z.B. in Form von ethnienspezifischen Problemlagen und Hilfebedarfen zum Ausdruck
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kommt. Sie ist vielmehr als eine Kategorie aufzufassen, die mit den Prozessen der Problemerfassung und des Zustandekommens von Hilfen eng verwoben ist und die durch ihre Wirkungsweisen in diesen Prozessen für die Subjekte eine je spezifische Bedeutung erhält. Mit dem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Ethnizität als begrifflichem Referenzrahmen (vgl. Kapitel 4.2) und mit der in dieser Studie im Rahmen der dokumentarischen Methode eingenommenen »genetischen Analyseeinstellung« (Bohnsack 2007b) konnten die Modi der Herstellung und Relevanzsetzung ethnischer Differenz in der Beratung herausgestellt werden.1 Dadurch wird es möglich, ethnisierungstheoretische Überlegungen zur Funktionalität von Ethnizitätskonstruktionen anhand empirischer Befunde für Handlungssituationen in der Sozialen Arbeit zu konkretisieren und in ihren praktischen Konsequenzen einzuschätzen. Wie im vierten Kapitel ausgeführt wurde, unterscheidet Lentz (1995) mit der identifikatorischen und der strategischen Funktion von Ethnizität zwei Auslöser ethnisch orientierten Handelns. Im Hinblick auf ihren identifikatorischen Charakter beschreibt sie die soziale Kategorie Ethnizität als »Teil der symbolischen Ordnung, ein spezifisches Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema, das als Element des Habitus von den Individuen internalisiert wird. Zusammen mit den für diesen Habitus charakteristischen anderen sozialen Kategorien konstituiert dieses Schema ein Feld möglicher sozialer Identifikationen, ein Repertoire für die Selbstdefinition und Selbstverortung im sozialen Raum.« (Ebd.: 41)
In Beratungen zwischen Sozialarbeiter/-innen ohne Migrationshintergrund und alten Migrant/-innen ist Ethnizität als eine solche abrufbare Möglichkeit der sozialen Identifikation und Differenzmarkierung verfügbar und wird für die Akteure auch faktisch handlungsleitend. Die rekonstruierten Orientierungsrahmen der Gesprächsbeteiligten lassen erkennen, dass ihre Selbstdarstellung, ihre Sicht auf den Gesprächspartner sowie die Deutung der Beratungsinhalte nicht nur, aber auch von ethnischen Unterscheidungen getragen werden. Ethnische Differenzierungen als Selbstdarstellung und Selbstverortung manifestieren sich in den Beratungen z.B. dann, wenn Ratsuchende ihre Herkunft bzw. auf die Herkunft bezogene Gewohnheiten für bedeutungsvoll erklären und im Hilfeprozess berücksichtigt wissen wollen. In Form von Beschreibungen und Verortungen Anderer – und insofern als indirekte Selbstdefinition und Selbstverortung – treten ethnische Differenzierungen z.B. in Erscheinung, wenn Berater/-innen Problemsituationen oder Hilfebedarfe der Ratsuchenden ethnisch 1 | Genauer müsste es heißen »in Beratungsgesprächen zwischen Sozialarbeiter/-innen ohne Migrationshintergrund und alten Migrant/-innen«, denn nur über diese Konstellation können hier – empirisch fundierte – Aussagen getroffen werden.
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deuten und als solche ›spezifisch‹ erscheinen lassen. Damit sind nur zwei mögliche Dokumentationsmodi zur Illustration genannt. Während Ethnizität als internalisiertes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema laut Lentz (1995: 182) »unreflektiert und unintendiert Praktiken« erzeugen könne, so könne sie als potenziell verfügbares Repertoire auch reflektiert und bewusst zum Einsatz kommen. Lentz spricht in einem solchen Fall von einem strategischen Bezug auf ethnische Orientierungen. Losgelöst von ihrem identifikatorischen Stellenwert wird Ethnizität von den Individuen auch zweckgebunden geltend gemacht. In den untersuchten Beratungsgesprächen dominiert ein solcher strategisch eingesetzter, zweckmäßiger, interessengeleiteter Bezug auf ethnische Differenz. Verschiedene Varianten der Instrumentalisierung ›ethnischer Differenz‹ zeichnen sich ab: Ethnische Differenzierungen werden im Zuge des Kontaktaufbaus und der Herstellung und Aufrechterhaltung von Beratungsbeziehungen primär seitens der Berater/-innen eingesetzt (vgl. Kapitel 6.1.1). Dies geschieht mittels der Thematisierung und Betonung von Differenz, etwa dem ›anderen‹ Herkunftsland oder der ›anderen‹ Herkunftssprache der Ratsuchenden. Wenn Gesprächsbeteiligte gleicher Herkunft, z.B. Ratsuchende, dolmetschende Personen und Pflegedienstmitarbeiter/-innen, ›ihrer‹ ethnischen Zugehörigkeit in der Beratung Bedeutung zuweisen, so dient der Rekurs auf ›ethnische Differenz‹ in erster Linie der Markierung von Gemeinsamkeit (vgl. Kapitel 6.1.2). Dabei erweist sich sprachliche Differenz zum Berater, der die ethnische Zugehörigkeit nicht teilt, als entscheidendes Kriterium der Markierung von Gemeinsamkeit. Der Wechsel in die Herkunftssprache, die von den Berater/-innen nicht verstanden wird, hat neben dolmetschenden Absichten zwei weitere voneinander unterscheidbare Funktionen für die Gesprächsbeteiligten gleicher Herkunftssprache. Zum einen werden den jeweiligen Sprachen unterschiedliche Rollen im Gespräch zugewiesen. In der deutschen Sprache werden die Beratungsinhalte meist sachlich und informationsorientiert verhandelt, wohingegen in der Herkunftssprache die Inhalte auch interpretiert, bewertet, kommentiert werden und in der ungezwungener, vertrauter auch über familiäre Themen jenseits der beratungsrelevanten Aspekte kommuniziert wird. Zum anderen dient herkunftssprachige Kommunikation dazu, strategische Absprachen bezüglich des Beratungsvorgehens zu treffen. In Anlehnung an Dirims Untersuchung der Modalitäten sprachlicher Interaktion in einer Grundschulklasse (vgl. Dirim 1998) kann von zwei getrennten »Sprachräumen« innerhalb der Beratung gesprochen werden. Dirims Unterscheidung in eine »offizielle« und in eine »inoffizielle« Sphäre der Kommunikation (ebd.: 63) lässt sich auf die untersuchten Beratungsgespräche in modifizierter Form übertragen. Während die Kommunikation in der offiziellen, allen Beratungsteilnehmenden unmittelbar oder vermittelt über dolmetschende Personen zugänglichen Sphäre als vornehmlich fachlich-inhaltliche Kommunika-
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tion bezeichnet werden kann, überlagert sich diese in der inoffiziellen, dem Berater nicht zugänglichen Sphäre herkunftssprachiger Unterhaltungen oftmals mit Elementen von Alltagskommunikation. Die deutsche Sprache und die Herkunftssprache sind anders als in Dirims Untersuchung jeweils klar einer der Sphären zugeordnet. Zu einer Überschneidung der beiden Sprachräume kommt es – abgesehen von den unmittelbar gedolmetschten Passagen – verhältnismäßig selten. Die Übertragung ins Deutsche von herkunftssprachigen Äußerungen, die in der inoffiziellen Sphäre stattfinden, wird vor allem dann vermieden, wenn der Wechsel in die Herkunftssprache strategischen Beweggründen folgt und dem Berater Informationen vorenthalten werden sollen. Die Herkunftssprache fungiert in solchen Situationen als Instrument, Absprachen quasi hinter dem Rücken des Beraters zu treffen, um eigene Beratungsziele und -interessen ihm gegenüber vertreten und möglichst durchsetzen zu können (vgl. Kapitel 6.2.3). Auch über das Sprechen der deutschen Sprache kommt es zum Ausschluss von Gesprächsbeteiligten, in der Regel von Ratsuchenden, die auf Dolmetschhilfen angewiesen sind (vgl. Kapitel 6.2.2). Fehlende, unvollständige oder falsche herkunftssprachige Übersetzungen sind dafür ausschlaggebend. Die mangelhafte Partizipation alter Migrant/-innen an der Beratungskommunikation und an den darin getroffenen Entscheidungen über sie ist insofern als zweckmäßig zu bezeichnen, als dass sie anderen Beteiligten, wie Angehörigen, profitorientierten Pflegediensten oder dem Berater selbst, ermöglicht, eigene Interessen und Vorstellungen zu verfolgen. In der Regel verfügt die Person, die die Position des Dolmetschers innehat, über den größten situativen Einfluss. Ethnische Differenzierungen fungieren darüber hinaus auch inhaltlich als Argumentationsmittel. Insbesondere die in Kapitel 6.3 beschriebenen ethnischen Bezugnahmen bei der Begründung eines Hilfebedarfs und der Bewilligung von Hilfen sowie die in Kapitel 6.4 dargestellten Bezüge auf ethnische Differenz im Zusammenhang mit der Zurückweisung institutioneller Hilfeleistungen sind diesbezüglich hervorzuheben. Des Weiteren ließen sich Kontexte rekonstruieren, in denen ethnische Differenzierungen den Berater/-innen dazu dienen, Macht und Kontrolle über das Beratungsgeschehen auszuüben und diese in Situationen abzusichern, in denen Macht- und Kontrollverlust drohen. Was den Stellenwert ethnischer Differenzierungen in der Beratung anbetrifft, so ist demnach davon auszugehen, dass ethnisch orientiertes Handeln ein für die Akteure mit Sinn verbundenes Handeln darstellt, und zwar vor allem im Hinblick auf die Gestaltung des Beratungsgeschehens. Hervorhebenswert ist nun in Bezug auf ihre Wirkungsweisen, dass ethnische Differenzierungen zwar vereinzelt von Ratsuchenden vorteilhaft – im Sinne von die Durchsetzung ihrer Vorstellungen und Interessen unterstützend – eingesetzt werden können, meist jedoch zu ihrem Nachteil gereichen. Hierauf wird im Weiteren näher einzugehen sein. Verantwortlich dafür ist vor allem – so scheint es –, dass sich
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die Wirkungsmächtigkeit ethnischer Zuschreibungen ungleich auf die Akteure verteilt. Ethnisierungen als machtvolle Praktiken können zudem Beratungsprozesse verkomplizieren und im Extremfall grundlegend gefährden.
Werden alte Migrant/-innen in den Altenhilfeinstitutionen beraten? Gegenstand der vorliegenden Studie sind Beratungen als eine Handlungsmethode der Sozialen Arbeit. Jedoch stand nicht im Mittelpunkt der empirischen Analysen, z.B. im Sinne einer Evaluation zu prüfen, ob und inwiefern es sich bei den untersuchten Fällen um ›gelungene‹ Beratungen handelt. Dennoch entwickelte sich die Ausgangsfragestellung nach dem Stellenwert und den Modalitäten ethnischer Differenzierungen in der Beratung alter Migrant/-innen im Zuge der Rekonstruktionen und ihrer Verdichtung in einer Typologie sukzessive zu der Frage danach, ob überhaupt Beratungen in diesem Feld stattfinden und inwiefern die ethnischen Differenzierungen der Akteure zur Komplizierung bzw. sogar zur Verhinderung von Beratung beitragen. Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass die ›Idee‹ von Beratung, d.h. die Vorstellung davon, dass hier in beratungsmethodischer Hinsicht Beratungen vorliegen, für die untersuchten Konstellationen weitgehend in Zweifel zu ziehen ist. Indizien für das Nichtvorliegen bzw. für die Erosion von Beratungssituationen finden sich innerhalb der gesamten Typologie wieder. Es handelt sich daher nicht um einzelne Fälle, sondern um eine regelhaft auftretende, ›typische‹ Tendenz in Beratungskonstellationen, wie sie hier untersucht worden sind. Besonders prägnant zum Ausdruck kommt dies im zweiten Typus, der die Modalitäten der Erosion des komplementären Rollenverhältnisses von Berater und Ratsuchendem beschreibt und nachweist, inwiefern die Grundstruktur einer Beratungssituation im Kontext ethnischer Differenzierungen prekär wird (vgl. Kapitel 6.2). Was kennzeichnet eine Beratungssituation als Beratungssituation? Als notwendige Voraussetzung kann diesbezüglich gewiss die Komplementarität der Rollen benannt werden (vgl. hierzu die Einleitung zu Kapitel 6). Ein Berater muss die Rolle des Beraters – durch sein Handeln erkennbar – einnehmen und persönlich, fachlich, situativ auch einnehmen können. Paralleles gilt für den Ratsuchenden. Auch er muss in der Lage und gewillt sein, sich als Ratsuchender mit seinem Anliegen in den Beratungsprozess einzubringen. Aus beratungsmethodischer Perspektive werden für Beratungen im Kontext der Sozialen Arbeit weitere Prinzipien bzw. grundlegende Strukturmerkmale formuliert. So basiere eine Beratung stets auf der Freiwilligkeit der Ratsuchenden. Deren Partizipation am gesamten Beratungsprozess und an den vereinbarten Zielen und Ergebnissen sei zu gewährleisten. Die Beratung habe sich – so vor allem von Thiersch (2009) beschrieben – an der Lebenswelt der Ratsuchenden zu orientieren. Hilfen seien dementsprechend stets am Einzelfall ausgerichtet und basierten auf Zustimmung der Ratsuchenden. Als hilfreich für den Verlauf
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von Beratungen werden zudem der Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung sowie ein ausgewogenes, situativ angemessenes Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Berater/-in und Ratsuchenden herausgestellt. Hinsichtlich dieser Charakteristika ist für die untersuchten Beratungen festzustellen, dass unabhängig davon, ob das Resultat der Gespräche, d.h. die festgelegten Hilfeleistungen, den Vorstellungen und Wünschen der alten Migrant/-innen entsprechen oder nicht, der Weg dahin, der Prozess der Problemerfassung und der Planung von Hilfen, nicht als ein beratender beschrieben werden kann. Wie im Folgenden zusammenfassend erläutert wird, ist hier vielmehr von Gesprächen über alte Migrant/-innen, von institutionellen Verhandlungen oder von dem Oktroyieren von fachlich vermeintlich für notwendig erachteten Hilfen zu sprechen. Nun ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das allein nicht spezifisch für Beratungen von Migrant/-innen ist. Im Bereich der Altenhilfe – und auch nicht nur dort – stehen die eben genannten Strukturmerkmale immer wieder zur Disposition. Selbstbestimmung und die Partizipation alter Menschen in Beratungssituationen fallen nicht selten der Bevormundung durch Angehörige oder Professionelle zum Opfer. Legte man die theoretisch formulierten Prinzipien als Maßstab auf die Praxis an, so würde schnell erkennbar, dass es sich um idealtypische Vorstellungen von Beratung handelt, die so in Reinform selten anzutreffen sind. Ethnische Differenzierungen – so zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie – erweisen sich als ein behindernder Faktor in diesem Kontext. Hierfür spricht eine Reihe von Anzeichen. So scheitern oftmals schon der Kontaktaufbau und die Herstellung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen Berater/-innen und Ratsuchenden, insbesondere wenn dabei ethnische Differenzierungen als Instrument zum Einsatz kommen (vgl. Kapitel 6.1). Es erweist sich offensichtlich als kontraproduktiv, über ethnische Differenzsetzungen Distanz abbauen und Nähe herstellen zu wollen. Dabei scheint weniger ein Problem zu sein, dass auf Herkunft rekurriert wird, sondern wie dies geschieht. Über- und Unterordnungen sowie Wertigkeiten spielen meist eine Rolle. So hebt Mecheril (1998: 290) hervor, dass »jede soziale Differenzpraxis als eine Praxis der Macht zu betrachten« sei. Macht definiert er »als eine das Feld sozialer Realitäten konstituierende Kraft, die das ungleiche Verhältnis der Einflussnahme der sozialen Akteure aufeinander bewirkt und zum Ausdruck bringt« (ebd.: 289). Ethnische Differenzierungen in der Beratung sind als machtförmige Praxen zu beschreiben, die über die Möglichkeiten der Akteure, Einfluss auf Beratungsprozesse zu nehmen, unterschiedlich entscheiden. Lutz/Wenning (2001) sprechen von Ethnizität als einer »bipolaren hierarchischen Differenzlinie«, die neben anderen Differenzlinien zu den – von den Individuen internalisierten – sozialen Ordnungskategorien moderner Gesellschaften zu rechnen ist und das Verhältnis zwischen Migrant/-innen als »ethnische Minderheit« und Nicht-Migrant/-innen als »dominante Gruppe« strukturiert. Eth-
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nische Unterscheidungen reichen als eine solche internalisierte hierarchische Differenzlinie in konkrete Interaktionen hinein und kennzeichnen auch Beratungssituationen. Beratungssituationen sind nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie stattfinden, zu betrachten. Sie werden durch diesen präformiert. Neben Asymmetrien, bedingt durch die institutionelle Einbettung der Beratung, die fachliche Überlegenheit des Beraters und andere hierarchische Differenzlinien, wie Geschlecht, Alter und Sozialstatus, nimmt demnach auch die Differenzlinie Ethnizität Einfluss. Sie kommt unter anderem auf folgende Weise zum Ausdruck: Berater/-innen kommunizieren in einem herabsetzenden, infantilisierenden Stil mit den Ratsuchenden und erkennen sie selten als gleichwertige Gesprächspartner an. Sie deuten Lebens- und Problemsituationen und daraus abgeleitete Hilfebedarfe zum Teil ethnisierend unter Rückgriff auf stereotypes, verallgemeinertes Vorwissen, ohne erkennbare Motivation zur Modifizierung dieser Vorannahmen am und mit dem einzelnen Ratsuchenden. Mit Dannenbeck/Lösch/Eßer (2001: 247) könnte man in diesen Fällen vom »hegemonialen Erklärungsanspruch« ethnisierender Sichtweisen auf alte Migrant/-innen sprechen. Diese werden für Berater/-innen handlungsleitend und münden nicht selten in ein ›Besserwissen‹ über deren Lebenssituation. Anstatt Ratsuchende zu befähigen, als Expert/-innen ihrer eigenen Lebenswelt (vgl. Grunwald/Thiersch 2008) in den Beratungen in Erscheinung zu treten, dokumentiert das Beraterhandeln vornehmlich eine »bevormundende Expertenmacht« (Gaitanidis 2007: 322), die zur Folge hat, dass nicht mit den Ratsuchenden, sondern stellvertretend für sie Entscheidungen getroffen werden. Einen besonderen Stellenwert nimmt in diesem Kontext die sprachliche Dominanz der Berater/-innen ein. Deutsch als Beratungssprache schließt Ratsuchende vielfach aus. Verständigungsschwierigkeiten aufgrund von sprachlicher Differenz, v.a. der Umgang mit ihnen, erweisen sich als Hauptursachen für die Störung der Beratungssituation und führen teilweise dazu, dass eine solche gar nicht erst zustande kommt. Trotz Versuchen der Berater/-innen, auf die sprachliche Pluralität ihres Klientels zu reagieren, zeichnet sich in den untersuchten Altenberatungsstellen ein monolinguales Selbstverständnis ab. Alte Menschen anderer Herkunftssprache sind nach wie vor ungewohnt, stellen eine Abweichung von der herkömmlichen ›einsprachigen‹, ›kulturell homogenen‹ Klientel dar. So sieht etwa die behördliche Altenberatung keine Dolmetschlösungen ihrerseits vor. Die Berater/-innen führen Beratungen durch, ohne auf sprachliche Verständigungsschwierigkeiten vorbereitet zu sein. Sie nehmen dadurch in Kauf, sich selbst nicht verständlich zu machen und beschneiden auch den Ratsuchenden die Möglichkeit, ihre Rolle als Ratsuchende wahrzunehmen und ihre Anliegen sprachlich zur Geltung zu bringen. Es wird auf die Dolmetschleistung von Angehörigen, z.T. Kindern, und von Pflegedienstmitarbeiter/-innen vertraut, also von ›Dolmetschern‹, die weder für diese Tätigkeit ausgebildet, noch frei von eigenen Interessen in der Beratung sind. Auch in dem Beratungs-
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angebot der Altentagesstätte, die sich zwar auf ihr mehrheitlich türkisches Klientel mit Hilfe einer – nicht ausgebildeten – Dolmetscherin einstellt, ist eine fachlich angemessene, verlässliche sprachliche Verständigung nicht immer gewährleistet. In vielen Fällen, in denen sich sprachliche Barrieren auf den Beratungsprozess auswirken, wird dies zum Nachteil der Ratsuchenden. Ihre Partizipation fällt äußerst lückenhaft aus, Problemsituationen werden unzureichend erfasst und Hilfen dementsprechend kaum am individuellen Bedarf ausgerichtet. Ratsuchende haben wenige Möglichkeiten, sich selbst mit ihren Anliegen und Interessen in den Beratungen zu präsentieren. Sie erscheinen vorrangig als abhängige, die Beratungskommunikation an Dritte, wie Angehörige und Pflegedienstmitarbeiter/-innen, abgebende – oft nur still – Beteiligte. In wenigen Fällen wirken sie selbstbestimmt und aktiv am Geschehen mit. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die eben beschriebenen machtförmigen Handlungspraxen der Berater/-innen nicht unbedingt Ausdruck einer ›bewussten‹ Überheblichkeit sind, sondern Handlungsunsicherheiten insbesondere im Kontext sprachlicher Differenz widerspiegeln und Hinweise auf den Umgang mit – drohenden – Kompetenzverlusten darstellen. Denn beim Vorliegen von sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten verliert das für die Berater/-innen wichtigste Handlungsinstrument, die Gesprächsführung, partiell an Wirkungskraft. Kontrollverlust und im Extremfall Handlungsunfähigkeit drohen. Herkunftssprachige Kommunikation, die der Berater nicht versteht, kann in einer solchen Situation zusätzlich irritieren und zu autoritärem Handeln führen. Eine eindimensionale Sicht auf machtvolle Praktiken im Kontext ethnischer Differenzierungen wäre indes als zu schlicht zurückzuweisen. Es ließen sich in den untersuchten Beratungen Kontexte nachweisen, in denen Ratsuchende insbesondere mittels des strategischen Einsatzes sprachlicher Differenz Macht über die Berater/-innen erlangten. Begreift man Macht mit Max Weber (1922/1980: 28f.) als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«, so sind ethnische Differenzierungen partiell als eine solche »Chance« zu begreifen, wenn sie dazu führen, dass Ratsuchende ihre Beratungsziele auf diesem Wege realisieren können. Jedoch handelt es sich hierbei um eine eng begrenzte, zudem höchst fragile, situative Macht, die über die Situation hinaus wirkungslos sein kann, da der Berater, etwa in Form von Bewilligungskompetenz, über situationsunabhängige Einflussmöglichkeiten verfügt. Schließlich soll auf einen weiteren in den untersuchten Beratungen hervorstechenden Aspekt hingewiesen werden. Er hängt mit den einleitend zu Kapitel 6 aus beratungstheoretischer Perspektive beschriebenen zwei Interventionsformen, den Maßnahmen zur Existenzsicherung und den pädagogischen Interventionen, zusammen (vgl. auch Ansen 2008: 63ff.). Es fällt auf, dass in den Gesprächen die Erschließung von Sozialleistungen und die Organisation von pflegerischen und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen überwiegen. Andere
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beraterische Hilfen zur Lebensbewältigung im Alter, die auf die Befähigung der Ratsuchenden zielen, Alltagsanforderungen und Probleme selbstverantwortlich zu bearbeiten, werden vernachlässigt. Diese pädagogische Dimension von Beratung ist kaum Bestandteil der Beratungen alter Migrant/-innen. Eine solche Reduktion von Altenberatung auf die existentiell notwendigen Maßnahmen zur sozialen Sicherung ist jedoch ein generelles Manko vieler Angebote und kann nicht unmittelbar als Charakteristikum von Beratungen alter Migrant/-innen gelten. Was folgt aus den Erkenntnissen der Studie für die Praxis Sozialer Beratung? Gewiss ist Franz Hamburger und Paul Mecheril zuzustimmen, wenn sie sich für einen empirischen und praxisbezogenen Perspektivwechsel stark machen, der von der Betrachtung ›ethnischer Differenz‹ an sich auf die Analyse der interagierenden Personen und der Orte des Handelns als Orte der Ungleichheit und Macht übergeht (vgl. Kapitel 3.2.2). Beide plädieren für eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Gebrauch, den situativen Bedingungen des Gebrauches und mit den – unbeabsichtigten – Folgen von ethnischen Differenzierungen. »Reflexive Interkulturalität« wie Hamburger (2006) sie fordert und eine »Kompetenzlosigkeitskompetenz«, die Mecheril (2002) für aussichtsreich hält, bedeuten für Berater/-innen, sich von (Experten-)Macht zu verabschieden. (Selbst-)Reflexivität führt nur dann weiter, wenn sie über Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten hinaus geht und diese modifiziert. Allerdings reicht das allein nicht aus. Auch die Rahmenbedingungen Sozialer Beratung müssten modifiziert werden. Eine reflexive Haltung der Berater/-innen muss in Handlungsstrukturen eingebunden sein, in denen Reflexivität institutionell, z.B. durch fachlichen Austausch oder Supervisionsangebote, gefördert wird, und in denen Beratungsbedingungen vorliegen, die es ermöglichen, mit alten Migrant/-innen zu kommunizieren und Hilfen auf ihren individuellen Unterstützungsbedarf abzustimmen. Dazu bedarf es an einigen Stellen auch struktureller Lösungen: Um die Beratungskommunikation sicherzustellen, sind unabhängige, fachlich kompetente Dolmetscher/-innen in Beratungen, in denen dies von Nöten ist, einzusetzen. Zudem deutet sich in den untersuchten Fällen an, dass teilweise konkretere Regelungen bezüglich Art und Umfang der Bewilligung spezifischer Bedarfe alter Migrant/-innen, wie Dolmetschhilfen oder Begleitungen zu entfernt praktizierenden herkunftssprachigen Ärzten, im Rahmen der Leistungen nach dem SGB XII getroffen werden müssten. Hier liegen Ermessensspielräume vor, die recht unterschiedlich ausgelegt werden. Mit diesen Hinweisen sind nur erste, allgemeine Anknüpfungspunkte für eine Weiterentwicklung der Altenberatung von Migrant/-innen angedeutet worden. Ein systematischer Bezug der Befunde auf die Praxis Sozialer Beratung steht noch aus und müsste sich nun anschließen. Dazu wäre ein vertiefter Blick auf den Zusammenhang zwischen der konkreten Beratungsarbeit und den institutionellen Strukturen, in die sie eingebettet ist, unerlässlich. Drei Fragen, die
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sich im Laufe des Forschungsprozesses gestellt haben, sollen abschließend aufgeworfen und mit Forschungszielen für die Soziale Arbeit im Kontext von Alter und Migration verbunden werden. Die Fragestellungen betreffen die Reichweite der entwickelten Typologie, die Notwendigkeit einer Erweiterung der Forschungsperspektive um andere Differenzierungskategorien in ihrer Verknüpfung mit Ethnizität sowie mögliche Wege einer De-Ethnisierung von Beratung. 1. Welche allgemeine Aussagekraft hat die vorgelegte Typologie von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen in der Beratung? Und inwiefern ist sie auf andere Handlungsfelder der Sozialen Arbeit übertragbar? Die Typologie, die im Rahmen der empirischen Untersuchung dieser Studie entwickelt werden konnte, ist gewiss von begrenzter Reichweite. Sie hat zunächst einmal nur uneingeschränkt Geltung für den gewählten Ausschnitt aus dem Versorgungssystem für alte Menschen und für die Beratungskonstellationen, die im Datenmaterial vertreten sind. Die vorliegenden Typen von Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen sind daher als vorläufig und unabgeschlossen zu bewerten. Um ihren Geltungsbereich auszubauen und damit auch die Verallgemeinerungsfähigkeit zu stärken, wäre eine Reihe von Erweiterungen denkbar und notwendig. Vor allem wäre zu prüfen, ob sich bei Hinzuziehung weiterer Fälle, d.h. durch die Anreicherung und Variation der Vergleichshorizonte, die generierte Typologie bestätigen würde und inwiefern sie Ergänzungen oder Revisionen unterzogen werden müsste. Neben dem Ausbau des Samples um weitere Beratungsgespräche, die von anderen Berater/-innen in den bereits berücksichtigten Altenhilfeinstitutionen durchgeführt werden, wäre auch die Hinzuziehung anderer Beratungsinstitutionen des Altenhilfesystems, etwa des Sozialdienstes im Krankenhaus oder stationärer Einrichtungen, in Betracht zu ziehen. Insbesondere ist der Einbezug weiterer Beratungsangebote aus der offenen Altenhilfe, von denen hier lediglich eines berücksichtigt werden konnte, notwendig. Zusätzlich wäre es ertragreich, die komparative Analyse um Beratungsgespräche mit Ratsuchenden, die über keinen Migrationshintergrund verfügen, zu ergänzen. Diese stellten einen aussichtsreichen Vergleichshorizont dar, vor dem die Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen deutlicher konturiert und von Wirkungsweisen anderer Differenzierungskategorien klarer abgegrenzt werden könnten. Eine weitere mögliche Variation der Fälle wäre ihre Kontrastierung mit Beratungen, die von Berater/-innen mit Migrationshintergrund, gegebenenfalls in der Herkunftssprache der Ratsuchenden, durchgeführt werden. Hierzu könnte es auch weiterführend sein, Beratungen alter Migrant/-innen hinzuzuziehen, die nicht durch Angebote der ›regulären‹ Altenhilfe, sondern im Rahmen der Migrationssozialarbeit stattfinden. Durch eine solche Anreicherung der Fälle könnte das Feld der Altenberatung in seiner Vielschichtigkeit breiter erfasst werden und die Aussagekraft der dadurch generierten Typologie für das Altenhilfesystem erhöht werden.
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Es wäre überdies von einigem Interesse zu erfahren, ob die vorgelegte Typologie auf Beratungen in anderen Handlungsfeldern mit anderen Adressatengruppen der Sozialen Arbeit und/oder auf andere Handlungsmethoden, wie z.B. die Arbeit mit Gruppen in Altentagesstätten, partiell übertragbar ist. Was würde sich nach einer solchen Prüfung als spezifisch, was als unspezifisch für den Anwendungsfall der Altenberatung herausstellen? Sind die Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen in anderen professionellen Handlungssituationen ähnlich? Ferner ist über eine Fundierung der Ergebnisse mittels einer Kombination unterschiedlicher Methoden der qualitativen Sozialforschung nachzudenken, die die Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand erweitern würde. Insbesondere wäre eine Anreicherung des Datenmaterials um die subjektiven Sichtweisen der Beratungsteilnehmer/-innen ertragreich. Diese wurden durch den von mir gewählten Zugang ausgeblendet und lediglich insoweit berücksichtigt, wie sie sich in den Interaktionen manifestierten. Durch eine systematische Erhebung subjektiver Sichtweisen könnten z.B. die Vorstellungen und Wünsche der alten Migrant/-innen stärker zur Geltung kommen, die in den Beratungen kaum als Akteure in Erscheinung traten. Denkbar wären daher Forschungsansätze, die ergänzend Interviews mit den Beratungsteilnehmenden im Anschluss an die jeweiligen Beratungsgespräche vorsehen. Die subjektiven Sichtweisen der Akteure auf die Beratungsinteraktion könnten so als ›Korrektiv‹ und als inhaltliche Ergänzung der Interpretationen der Forscherin in die Typologie einfließen. Auch könnten neben Interviews Dokumentenanalysen der Akten, in denen Beratungsprozesse dokumentiert werden, instruktiv sein. In den meisten Bereichen des Altenhilfesystems ist eine solche Dokumentation üblich. 2. Inwiefern verschränken sich ethnische Differenzierungen mit anderen Differenzierungskategorien und welche Wirkungen haben sie aufeinander? Um eine Erweiterung der methodischen Perspektive auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit geht es auch bei der zweiten Frage. So liegt es nahe, den Stellenwert und die Wirkungsweisen ethnischer Differenzierungen nicht isoliert zu betrachten, sondern um den Blick auf andere Differenzlinien, wie Geschlecht, Klasse/Sozialstatus, Gesundheit, Alter, zu erweitern und diese in ihren Verknüpfungen und Wechselwirkungen herauszustellen. Die empirischen Analysen zeigten: Ethnisierungen sind stets in ein Geflecht ineinander verwobener unterschiedlicher Differenzierungskategorien eingebettet. Diese wurden zwar auch in den Blick genommen, jedoch dienten sie hier ›lediglich‹ als Vergleichshorizonte für die Konturierung und die Rekonstruktion von Ethnisierungsvorgängen (vgl. Kapitel 5.2.4). Sie müssten nun gleichermaßen in den Vordergrund empirischer Betrachtungen rücken, aufeinander bezogen werden und in eine weit komplexere Typologie einfließen.
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Auf die Notwendigkeit, der Mehrdimensionalität pädagogischer Situationen Rechnung zu tragen und nicht nur eine hierarchische Differenzlinie für sich zu betrachten, ist wiederholt hingewiesen worden (vgl. Hamburger in Kapitel 3.2.2 dieser Studie; Leiprecht/Lutz 2006; Nohl 2006; Krüger-Potratz/Lutz 2002). Das Konzept der Intersektionalität, das in den USA im Kontext feministischer Forschung entwickelt wurde und seit einigen Jahren auch in der deutschen Erziehungswissenschaft rezipiert wird, könnte hierfür ein – auch forschungsmethodisch – geeignetes Verfahren sein, das allerdings bislang erst in Ansätzen ausgearbeitet und methodologisch begründet wurde (vgl. Winker/Degele 2009; Leiprecht/Lutz 2006; Krüger-Potratz 2005: 152f.). Ziel intersektionaler Analysen ist es, die Wechselwirkung zwischen verschiedenen sozialen Differenzierungskategorien empirisch zu fassen. Mit dem Begriff der Wechselwirkung wird hervorgehoben, dass hier mehr als nur ein additiver Zusammenhang vorliegt, wie ihn z.B. der Ausdruck der »double jeopardy« (siehe oben) impliziert. Soziale Differenzierungskategorien zeichnen sich durch die Gleichzeitigkeit ihrer Wirkungen aus. Sie überschneiden und verschränken sich und können sich wechselseitig verstärken oder abschwächen. Für den deutschsprachigen Raum haben Winker/Degele (2009) ein methodisches Verfahren vorgeschlagen, Intersektionalität empirisch zu untersuchen. Dieses Verfahren zeichnet sich unter anderem dadurch aus, soziale Differenzierungskategorien nicht allein auf der Mikroebene, also der Ebene der Interaktionen von Individuen, sondern auch auf zwei weiteren Ebenen, auf denen sie wirksam werden, der Ebene der gesellschaftlichen Sozialstrukturen und ihrer Institutionen sowie der Ebene der symbolischen Repräsentationen, die etwa kulturelle Normen und Werte umfasst (vgl. ebd.: 18ff.), in den Blick zu nehmen. Die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Kategorien schließt nicht aus, den spezifischen Wirkungsweisen einzelner Kategorien nachzugehen. Beide Perspektiven ergänzen sich. Für das in der vorliegenden Studie betrachtete, noch unerforschte Feld der Beratung im Altenhilfesystem ist ein erster notwendiger Schritt zurückgelegt worden. Mit der Typenbildung auf einer sinngenetischen Ebene (vgl. Bohnsack 2007b) werden nähere Erkenntnisse über die unterschiedlichen Handlungsweisen der Akteure im Hinblick auf ethnische Differenzierungen vorgelegt. Die dokumentarische Methode, die hier zum Einsatz kam, bietet in einem zweiten, weiterführenden Rekonstruktionsschritt an, im Zuge einer soziogenetischen Typenbildung, Mehrdimensionalität herauszuarbeiten (vgl. hierzu Kapitel 5.2.4). Ob und wie auf diesem Wege auch einer Intersektionalität von Differenzierungskategorien in Handlungssituationen der Sozialen Arbeit ansatzweise näher gekommen werden kann, bliebe zu prüfen.
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3. Welche Schlüsse sind – auf dem Weg zu einer De-Ethnisierung von Beratung – für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit zu ziehen? Die Befunde der vorliegenden Studie deuten auf die Notwendigkeit, spezifische Bedarfe alter Migrant/-innen, die in Verbindung mit ihrer Herkunft, ihren Migrationserfahrungen und ihrem Leben und Altern unter Migrationsbedingungen stehen, in den Beratungen der Altenhilfe aufzugreifen, jedoch ohne diese Spezifika zu essentialisieren und sie Migrant/-innen per se zuzuschreiben. Ein erforderlicher Schritt in diese Richtung ist, sich als Berater/-in des interaktiven Herstellungscharakters ethnischer Differenz im professionellen Handeln bewusst zu sein. In diesem Zusammenhang wird es auch darauf ankommen, die Funktionalität des Rekurses auf Herkunft und ihre komplexen Wirkungsweisen in Praxissituationen im Fachdiskurs um Alter und Migration stärker als bisher aufzugreifen und auszuleuchten. Eine Herausforderung für die Sozialarbeits- und Erziehungswissenschaft besteht m.E. darin, mittels Weiterentwicklung des im Intersektionalitätsansatz formulierten Erkenntnisinteresses ihren Wissensbestand über hierarchische Differenzlinien und deren Zusammenwirken in der (sozial-)pädagogischen Praxis zu vertiefen. Es wird sich als anspruchsvoll – aber nicht als unmöglich – herausstellen, das dabei erschlossene Wissen über die Komplexität von Wirkungsweisen sozialer Differenzierungskategorien, so in Konzepte und Handlungsmethoden einfließen zu lassen, dass Sozialarbeiter/-innen Handlungssicherheit – auch verstanden als konstruktive Handhabung von Handlungsunsicherheiten – im Umgang mit der Heterogenität ihres Klientels gewinnen. Handlungsrezepte jedoch sind hier nicht zu erwarten. Leiprecht/Lutz (2006: 223) betonen, dass »die Frage des Verhältnisses zwischen Differenzlinien als eine Frage offen gelassen werden [muss], die nur empirisch geklärt werden kann« (Hervorhebungen im Original). Die Erfahrungen, die im Rahmen dieser Studie im Umgang mit authentischem Material aus der Praxis gewonnen werden konnten, zeigen, dass ein solcher empirischer Blick auch für Praktiker/-innen sinnvoll sein kann. Die Arbeit mit authentischen Beratungsgesprächen, wie sie z.B. ausgehend von linguistischen Forschungen in Aus- und Fortbildungen bereits eingesetzt wird (vgl. für interkulturelle Trainings Liedke/Redder/Scheiter 2002), kann ein Weg sein, Sozialarbeiter/-innen für Differenzierungspraxen und ihre Wirkungsweisen zu sensibilisieren. Die Rekonstruktionen der Beratungsgespräche in dieser Untersuchung förderten jedenfalls auf den ersten Blick nicht unmittelbar erkennbare, wirkungsmächtige Handlungsweisen in Verbindung mit ethnischen Differenzierungen zu Tage, die Berater/-innen, die an einer Optimierung ihrer Beratungstätigkeit interessiert sind, nicht vorenthalten werden sollten und die dazu auffordern könnten, die eigene Praxis aus einem neuen Blickwinkel heraus zu betrachten. Die in der vorliegenden Typologie beschriebenen Kontexte, in denen ethnische Differenzierungen wirksam werden, stellen hierfür eine mögliche Ausgangsbasis dar.
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Olbermann, Elke (2008): Kultursensible Altenhilfe. In: Aner, Kirsten/Karl, Ute (Hg.): Lebensalter und Soziale Arbeit. Bd. 6: Ältere und Alte Menschen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 138-150. Olbermann, Elke (2007): Wohnsituation und Wohnkonzepte für ältere Migranten. Eine Einführung. In: IKoM-Newsletter, Jg. 6, Ausgabe 2, S. 2-5. URL: www.ikom-bund.de/ikom/pdf/IKoM-Newsletter %202-07.pdf [Datum des letzten Zugriffs: 07.10.2009]. Olbermann, Elke (2003a): Entwicklung innovativer Konzepte zur sozialen Integration älterer Migranten/innen. Abschlussbericht an die Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung und Soziales. ISAB-Berichte aus Forschung und Praxis, Nr. 81. Köln. URL: www.isab-institut.de/ upload/projekte/01_b_engagement/0_3_1_6_Migranten/PDF/Abschluss bericht%20Langfassung.pdf [Datum des letzten Zugriffs: 16.12.2009]. Olbermann, Elke (2003b): Soziale Netzwerke, Alter und Migration: Theoretische und empirische Explorationen zur sozialen Unterstützung älterer Migranten. Dissertation. Universität Dortmund. URL: http://deposit.ddb.de/ cgi-bin/dokserv?idn=96804350x&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename= 96804350x.pdf [Datum des letzten Zugriffs: 07.05.2008]. Olk, Thomas (2007): Bürgergesellschaft und Engagement älterer Menschen – Plädoyer für einen Welfare-Mix in der kommunalen Daseinsvorsorge. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hg.): Informationsdienst Altersfragen, Jg. 34, H. 2, S. 5-8. Opaschowski, Horst W. (2005): Soziale Netze und soziale Konvois. Was die Menschen im 21. Jahrhundert zusammenhält. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, Jg. 152, H. 1, S. 8-10. Özcan, Veysel/Seifert, Wolfgang (2004): Lebenslage älterer Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Gutachten für den 5. Altenbericht der Bundesregierung im Auftrag des Deutschen Zentrums für Altersfragen. URL: www. bmfsfj.de/bmfsfj/generator/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/ oezcan-lebenslage-aelterer-migrantinnen-migranten,property-pdf,bereich,sprache-de,rwb-true.pdf [Datum des letzten Zugriffs: 30.04.2008]. Pagenstecher, Cord (1996): Die »Illusion« der Rückkehr. Zur Mentalitätsgeschichte von »Gastarbeit« und Einwanderung. In: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Jg. 47, H. 2, S. 149-179. Paß, Rita (2006): Alter(n)svorstellungen älterer Migrantinnen. Eine explorative Studie über deren biografische Lebensentwürfe. Hamburg: Verlag Dr. Kovač. Paz Martinez, Laura de (2009): Arbeitslosigkeit, Alter und Migration – Zur Integration älterer Migranten in den Arbeitsmarkt. Eine explorative Studie aus dem Rhein-Main-Gebiet. In: Migration und Soziale Arbeit, Jg. 31, H. 2, S. 143-148. Pries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
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A LTER , M IGRATION UND S OZIALE A RBEIT
Priester, Karin (2003): Rassismus. Eine Sozialgeschichte. Leipzig: Reclam Verlag. Radtke, Frank-Olaf (1996): Fremde und Allzufremde. Zur Ausbreitung des ethnologischen Blicks in der Einwanderungsgesellschaft. In: Wicker, Hans-Rudolf u.a. (Hg.): Das Fremde in der Gesellschaft: Migration, Ethnizität und Staat/L’altérité dans la société: migration, ethnicité, État. Zürich: SeismoVerlag, S. 333-352. Radtke, Frank-Olaf (1995): Interkulturelle Erziehung. Über die Gefahren eines pädagogisch halbierten Anti-Rassismus. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 41, H. 6, S. 853-864. Radtke, Frank-Olaf (1992): Lob der Gleich-Gültigkeit. Zur Konstruktion des Fremden im Diskurs des Multikulturalismus. In: Bielefeld, Uli (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? 2. Aufl. Hamburg: Junius Verlag, S. 79-96. Raven, Uwe/Huismann, Adrienne (2000): Germany. In: Huismann, Adrienne/ Raven, Uwe/Geiger, Andreas (Hg.): Demenzerkrankungen bei Migranten in der EU. Verbreitung, Versorgungssituation und Empfehlungen – Neurodegenerative diseases among migrants in EU states. Prevalence, care situations and recommendations. Lage: Verlag Hans Jacobs, S. 110-139. Raven, Uwe/Huismann, Adrienne (1999): Demenzkranke Migranten und deren Pflege. In: iza – Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, H. 2, S. 54-59. Rehder, Peter (2002): Serbokroatisch. In: Okuka, Milos (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens. Bd. 10. Klagenfurt: Wieser, S. 461-471. Rex, John (1990): »Rasse« und »Ethnizität« als sozialwissenschaftliche Konzepte. In: Dittrich, Eckhard J./Radtke, Frank-Olaf (Hg.): Ethnizität: Wissenschaft und Minderheiten. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 141-153. Richter, Michael (2003): gekommen und geblieben. Deutsch-türkische Lebensgeschichten. Hamburg: edition Körber-Stiftung. Rüßler, Harald (2007): Polnische Pflege-MigrantInnen in deutschen Pflegehaushalten. In: Migration und Soziale Arbeit, Jg. 29, H. 3+4, S. 252-260. Saake, Irmhild (1997): Alternde Migranten. Eine neue Zielgruppe der Altenhilfe? In: Nassehi, Armin (Hg.): Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Georg Weber zum 65. Geburtstag. Köln; Weimar; Wien: Böhlau Verlag, S. 133-152. Sacks, Harvey (1995): Lectures on conversation. Volumes I & II. Oxford UK; Cambridge USA: Blackwell. Sanders, Rudolf (2007): Die Beziehung zwischen Ratsuchendem und Berater. In: Nestmann, Frank/Engel, Frank/Sickendiek, Ursel (Hg.): Das Handbuch der Beratung. Bd. 2: Ansätze, Methoden, Felder. 2. Aufl. Tübingen: dgvt-Verlag, S. 797-807. Scherr, Albert (2002): Abschied vom Paternalismus. Anforderungen an die
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340
A LTER , M IGRATION UND S OZIALE A RBEIT
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L ITERATUR
Tews, Hans Peter (1993): Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters. In: Naegele, Gerhard/Tews, Hans Peter (Hg.): Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 15-42. Thieme, Frank (2008): Alter(n) in einer alternden Gesellschaft. Eine soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter(n). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Thiersch, Hans (2009): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. 7. Aufl. Weinheim; München: Juventa Verlag. Thiersch, Hans (2007): Nähe und Distanz in der Sozialen Arbeit. In: Dörr, Margret/Müller, Burkhard (Hg.): Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität. 2. Aufl. Weinheim; München: Juventa Verlag, S. 29-45. Thiersch, Hans/Grunwald, Klaus/Köngeter, Stefan (2005): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 161-178. Thränhardt, Dietrich (1983): Ausländer im Dickicht der Verbände – Ein Beispiel verbandsgerechter Klientenselektion und korporatistischer Politikformulierung. In: Hamburger, Franz u.a. (Hg.): Sozialarbeit und Ausländerpolitik. np Sonderheft 7. Neuwied; Darmstadt: Hermann Luchterhand Verlag, S. 6278. Tiedt, Friedemann/Nestmann, Frank (1988): Repräsentativuntersuchung Sozialberatung für Ausländer. Quantitative und qualitative Analyse des Nachfrage-, Leistungs- und Kooperationsprofils sozialer Dienste für Ausländer. Endbericht. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Sozialforschung Bd. 171. Bonn. Treibel, Annette (2003): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. 3. Aufl. Weinheim; München: Juventa Verlag. Ullrich, Birgit (2002): Kultursensible Pflege. Ältere Migranten in der Einwanderungsgesellschaft – ein Beitrag zur Qualitätsdiskussion in Pflegeeinrichtungen. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, Jg. 149, H. 5, S. 189-192. UNESCO (1969): Four Statements on the race question. Paris. Vahsen, Friedhelm (2000a): Migration und Soziale Arbeit: Konzepte und Perspektiven im Wandel. Neuwied; Kriftel: Luchterhand. Vahsen, Friedhelm (2000b): Altern in der Fremde – eine Fortsetzungsgeschichte ohne Fortschritt? In: Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales. Ausländerbeauftragte/Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen (DIGESA) (Hg.): Altwerden in der Fremde – Bilanz und Perspektiven – 2. Diskussionsforum zur Situation der älteren Ausländergeneration am 18.11.99. Hannover, S. 10-22.
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A LTER , M IGRATION UND S OZIALE A RBEIT
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L ITERATUR
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A
Anhang
A.1
Ü BERSICHT ÜBER DIE R ATSUCHENDEN
k.A.
1974
k.A.
Algerien
2002
2002
Russland Russland
Russland
Russland
71 78
Frau Petri Herr Petri
Frau 66 Bujanova Herr Bujanov 70
Petri
Bujanov
keinen
keinen
k.A.
keinen
Russisch
Russisch
Russisch Russisch
Farsi
Türkisch keine
k.A.
k.A.
in Rente; vorher Reinigungskraft
keine
k.A.
Reinigungskraft
k.A.
k.A.
nein
nein
k.A.
nein
nein
FeldscherLaborant Automobilingenieur
ja
beide in Rente nein
Bauingenieurin beide in Rente k.A. Professor für k.A. Wärmetechnik
keinen
k.A.
Arabisch; k.A. Französisch
Türkisch
Serbisch
Türkisch
Türkisch
z.Z. arbeitslos; nein zuletzt in einer Reinigung
nein
Ehepaar; jüdische Kontingentflüchtlinge
Ehepaar; hat einen geistig behinderten Sohn, der bei der Beratung anwesend ist
verwitwet
-
hat in Frankreich gearbeitet, bezieht von dort eine Rente; war mit einer deutschen Frau verheiratet
Analphabetin
Analphabetin
psychotisch erkrankt; hat gesetzlichen Betreuer
verwitwet; Analphabetin
Analphabet
-
deutsche Anmerkungen Staatsangehörigkeit
1 | Angaben zur Schulbildung wurden nicht berücksichtigt, da die Erhebung ungenau erfolgte und die Angaben nicht aussagekräftig sind. 2 | k.A.= keine Angabe, d.h. wurde von den Berater/-innen nicht erhoben
1997 1997
Türkei
Afghanistan ca. 1994
Frau Demirel k.A.
Frau Ahmadi ca. 70
Demirel
Ahmadi
75
Herr Charef
Charef
1974
Türkei
ehem. 1984 Jugoslawien
Türkei
Frau Bozkurt 64
50
Anfang 50
1986
keinen
k.A.
k.A.
Türkisch
Türkisch
k.A.2
1974
berufliche Tätigkeit
Einreise- Herkunfts- Beruf1 jahr sprachen
Bozkurt
Markovic Frau Markovic
Herr Kolat
Türkei
Yildirim Frau Yildirim 46
Kolat
Türkei
59
Herr Ersoy
Ersoy
Türkei
Ende 50
Herr Malik
Herkunftsland
Malik
Beratung Ratsuchende Alter
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ehem. Jugoslawien
Iran
61
60 k.A. 38
74
33
69
71
Frau Tekinay
Frau Moradi Herr Moradi Frau Shalal
Herr Öktem
Frau Öktem
Herr Stefanovic
Frau Stefanovic
Tekinay
Moradi
Öktem
73
k.A.
Herr Goldmann
Herr Alimov
Russland
Ukraine
Ukraine
Afghanistan
ehem. Jugoslawien
Türkei
Türkei
Afghanistan Afghanistan Afghanistan
Türkei
Türkisch
2004
2003
2003
1995
1998
1992
1969
1977
1977
keinen
keinen
k.A.
keinen
Studentin
keinen
Lehrerin k.A. Studentin
Absolventin eines Instituts für Fremdsprachen (Spanisch, Französisch) k.A.
Beruf1
Ukrainisch; Lehrerin Russisch Ukrainisch; Lehrer Russisch Schiffsmechaniker Russisch
Farsi
Farsi
Serbokroatisch
Serbokroatisch
Türkisch
Türkisch
Dari Dari Dari
k.A.2 1981 1981 1981
Russisch
2004
Einreise- Herkunftsjahr sprachen
nein
nein
ja k.A. ja
nein
nein
deutsche Staatsangehörigkeit
in Rente; vorher Marineoffizier
beide in Rente
keine
Reinigungskraft
ja
ja
ja
nein
nein
in Rente; vorher nein Arbeiter in einem Automobilunternehmen k.A. k.A.
in Rente; vorher Reinigungskraft -
in Rente k.A. -
k.A.
in Rente
berufliche Tätigkeit
1 | Angaben zur Schulbildung wurden nicht berücksichtigt, da die Erhebung ungenau erfolgte und die Angaben nicht aussagekräftig sind. 2 | k.A.= keine Angabe, d.h. wurde von den Berater/-innen nicht erhoben
Alimov
75
Goldmann Frau Goldmann
65
77
Frau Azimi
Frau Naderi
Azimi
Naderi
Stefanovic
73
Frau Kleeberg
Kleeberg
Ukraine
Alter Herkunftsland
Ratsuchende
Beratung
jüdischer Kontingentflüchtling
Ehepaar; jüdische Kontingentflüchtlinge
verwitwet
-
Ehepaar
Tochter mit ihrem an Demenz erkrankten Vater
Ehepaar mit Tochter
-
jüdischer Kontingentflüchtling; 11-jährige Enkelin dolmetscht das Gespräch teilweise
Anmerkungen
A.1 Ü BERSICHT ÜBER DIE R ATSUCHENDEN
347
A.2
TR ANSKRIP TIONSKONVENTIONEN
(in Anlehnung an das gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT nach Selting u.a. zitiert nach Deppermann 2008: 119ff.) es gilt durchgängig Kleinschreibung; jede Äußerung eines Sprechers beginnt am Zeilenanfang, außer bei Simultansprechen ?:
> > (4 sec.)
DN=(17 KXVWHW! KXVWHQG!! ?
VROFKH KYDODOHSR GDQNHVFK|Q
Sprecher/-in nicht identifizierbar Markierung des Beginns von Überlappungen und Simultansprechen schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Beiträge kurze, mittlere, längere Pausen Pausen ab 4 sec. stark betonte Silbe oder Wort in Großbuchstaben außersprachliche Handlungen/Ereignisse und kommentierende, erläuternde Bemerkungen sprachbegleitende außersprachliche Handlungen/Ereignisse Tonhöhe steigend (fragende Betonung) unverständliche Passagen je nach Länge vermuteter Wortlaut fremdsprachige Wörter, die gesagt wurden Übersetzung ins Deutsche
Theorie Bilden Stefan Dierbach Jung – rechts – unpolitisch? Die Ausblendung des Politischen im Diskurs über Rechte Gewalt 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1468-8
Peter Faulstich Aufklärung, Wissenschaft und lebensentfaltende Bildung Geschichte und Gegenwart einer großen Hoffnung der Moderne Juni 2011, 196 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1816-7
Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II 2009, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3
Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.) Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart Mai 2011, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1751-1
Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses 2010, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1490-9
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Theorie Bilden Sönke Ahrens Experiment und Exploration Bildung als experimentelle Form der Welterschließung
Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven
2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1654-5
2009, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1
Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit
Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten
2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-791-2
2010, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1176-2
Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze
Florian von Rosenberg Bildung und Habitustransformation Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen
2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9
Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8
Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4
Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7
Juni 2011, 352 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1619-4
Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium 2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1
Hanne Walberg Film-Bildung im Zeichen des Fremden Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik August 2011, 286 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1820-4
Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-688-5
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