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German Pages 165 [168] Year 1996
Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin
SELBST ZEUGNISSE DER NEUZEIT
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Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte Herausgegeben von Hartmut Lehmann, Alf Lüdtke, Hans Medick, Jan Peters und Rudolf Vierhaus Band 5
Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin Die Aufzeichnungen der Volkswirtin Elisabeth Freund Herausgegeben und kommentiert von Carola Sachse
Akademie Verlag
Abbildung auf dem Einband: Zu Ballen aufgerollte Stoffbahnen mit Aufdruck von „Judensternen".
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Freund, Elisabeth: Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin : die Aufzeichnungen der Volkswirtin Elisabeth Freund / hrsg. und kommentiert von Carola Sachse. - Berlin : Akad. Verl., 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 5) ISBN 3-05-003042-9 NE: G T
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen N o r m ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen N o r m ISO TC 46. Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Akademie Verlag, Hans Herschelmann Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Einleitung Momentaufnahmen der Zwangsarbeit Der Kontext Die Biographie Der Text Zwangsarbeit Akteure und Akteurinnen Editorische Notiz
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Text Zwangsarbeit Berlin 1941 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Arbeitsamt für Juden Spindlersfeld Feuchte Hitze Dampfpressen und Heißluftmangeln Frauenlöhne und Judensteuern „ Nicht für Juden!" Rassentrennung statt Anlernung Der Stachel der Zwangsarbeit Eine Frau aus deutschem Adel Soldaten, Hitlerjungen, Parteigenossen Sorgenvolle Erholungstage „Jüdische" und „arische" Schichten „Judenwohnungen" werden geräumt Vorgesetzte Aufrecht gehen darf man also auch nicht! Krieg mit Rußland Arbeiten bis zum Zusammenbruch Kontrollärzte Haltungen, Stimmungen und Gerüchte Ehrich & Graetz, Metallwaren Betriebsappell
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Inhalt
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Schraube paßt, paßt nicht, weglegen Jüdische Kinder und Jugendliche „Arische"Klosetts Krach mit dem Meister Eine „Braune Schwester" und andere Kollegen Auswanderungsberatung Ausreiseverbot für jüdische Frauen Drahtgaze Bombennächte - Ungewißheit über die Ostfront Resignation und Selbstbehauptung Geisterstimmen Dürfen sterilisierte Frauen ausreisen? - Judenstern Verbindungen zur Gestapo „Und ick brauch'nicht neben Lieschen zu sitzen!" Gestapo, Kurfürstenstraße 116 Schreckensnachrichten Abschiede
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Anhang Verzeichnis der Abkürzungen Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur Publikationen von Elisabeth Freund Quellen Zeitschriften Literatur Abbildungsnachweis
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Einleitung Momentaufnahmen der Zwangsarbeit
Als Elisabeth Freund Anfang April 1941 in das jüdische Arbeitsamt, die „Zentralstelle für Juden" der Berliner Arbeitsverwaltung, bestellt und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde, hatte bereits die vorletzte Etappe der Verfolgung der Berliner Juden begonnen. In Berlin lebten 1933 über 160.000 von etwa einer halben Million Menschen, die sich im Deutschen Reich zum jüdischen Glauben bekannten. Hinzu kamen diejenigen, die unabhängig von ihrer Glaubensrichtung von den nationalsozialistischen Rassegesetzen als Juden definiert wurden. Deutlich mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung waren Frauen, und über 30% der Männer und Frauen waren älter als 45 Jahre. Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus im Mai 1945 lebten in Berlin nur noch sechs- bis achttausend jüdische Menschen, etwa gleich viele Frauen und Männer.1
Der Kontext Die gegen Juden gerichtete Arbeits- und Berufspolitik war Teil der unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme einsetzenden Verdrängungsund Verfolgungspolitik, die alle Lebensbereiche von der Wohnung über Gesundheit, Fürsorge, Schule, Konsum und Kultur bis hin zur Raumplanung der Reichshauptstadt erfaßte. 2 Antijüdische Maßnahmen in der Arbeits-, Sozial- und Wohnungspolitik griffen ineinander und verschärften sich gegenseitig, auch wenn sie sich manchmal widersprachen. Sie gehorchten zumindest bis zu den Novemberpogromen von 1938 keinem in sich kohärenten Plan und waren keineswegs immer „von oben" verordnet. Vielmehr entwickelten viele untergeordnete Dienstsstellen, allzu beflissene Beamte, neidische Nachbarn und mißgünstige Kollegen 1 Juden bildeten im Juni 1933 0,77% der Reichsbevölkerung und 3,78% der Berliner Bevölkerung. Alle Zahlenangeben nach Arndt/Boberach 1991, S. 23f. und Gruner 1995, S. 254. 2 Die folgenden Ausführungen stützen sich insbesondere auf die Artikel und weiterführenden Hinweise von Wolf Gruner, dessen Dissertation „Der geschlossene Arbeitseinsatz' der deutschen Juden als Element des antijüdischen Verfolgungsprozesses des NSStaates 1938 bis 1943" in Kürze erscheinen wird.
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Momentaufnahmen der Zwangsarbeit
einen grausamen Erfindungsreichtum, wenn es darum ging, jüdische Schulkinder, Patienten oder Unterstützungsempfänger zu demütigen und sich auf Kosten jüdischer Geschäftskonkurrenten, Berufskollegen oder Nachbarn einen billigen Vorteil zu verschaffen. Elisabeth Freund schildert einige solcher Erfahrungen. Menschenverachtende Gesetze, willkürliche Anordnungen aller möglichen Dienststellen, selbstherrliche Verfügungen einzelner Amtsträger in Partei und Verwaltung und vielfältige Ausgrenzungen auf allen sozialen Ebenen schnürten die Bewegungsräume der jüdischen Bevölkerung immer mehr ein. 3 „Nicht Gesetz ist die Parole, sondern Schikane. Die Juden müssen aus Berlin heraus", notierte der Berliner Gauleiter, Joseph Goebbels, im Juni 1938 in sein Tagebuch. 4 Die Unberechenbarkeit und Widersinnigkeit der Maßnahmen, wovon Elisabeth Freund eindrückliche Beispiele gibt, ließen jede Handlungsentscheidung oder auch nur Verhaltensweise von jüdischen Männern und Frauen gegenüber ihrer nicht-jüdischen Umwelt zum existenzbedrohenden Vabanquespiel werden. Die Ungewißheit wich nach den Novemberpogromen 1938 der Gewißheit in dem Maße, wie die Federführung in der antijüdischen Verfolgungspolitik bei der Gestapo und dem Reichssicherheitshauptamt ( R S H A ) konzentriert, die tödliche Bedrohung immer offensichtlicher und der Hoffnung auf eine wie auch immer reglementierte Fortexistenz von Juden in Deutschland der Boden entzogen wurde. In Berlin begann die antijüdische Arbeitspolitik in den ersten Monaten des „Dritten Reiches". N o c h bevor das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 mit seinem „Arierparagraphen" auch nur formuliert war, hatten zahlreiche städtische Behörden jüdische Arzte und Arztinnen, Richter, Staatsanwälte, Professoren, Lehrerinnen und Lehrer, Fürsorger und Fürsorgerinnen entlassen. Krankenkassen, Versicherungen und andere Einrichtungen folgten diesem Beispiel. A m 1. April 1933 fand die reichsweite „Boykott-Aktion" gegen jüdische Geschäfte, Arzt- und Anwaltspraxen statt. Bei öffentlichen Ausschreibungen wandten Berliner Behörden den „Arierparagraphen" auch auf jüdische Unternehmen und Zulieferfirmen an. 5 Jüdische Firmen wurden in perfider und offiziell gebilligter Weise vom Markt verdrängt oder „arisiert", jüdische Beschäftigte entlassen. Wenn entlassene, zur Geschäftsaufgabe gezwungene und verarmte Juden Arbeitslosen- oder Wohlfahrtsunterstützung bezogen, wurden sie ausnahmslos zur unentgeltlichen Pflichtarbeit vor allem bei den Vorhaben zum U m b a u Berlins zur monumentalen Reichshauptstadt herangezogen. Nach dem Novemberpogrom von 1938 wurde die soziale Separierung gleichzeitig durch die Konzentrierung von Juden auf bestimmte Wohnbezirke, die Verhängung des „Judenbanns" über repräsentative Straßenzüge und privilegierte Stadtviertel sowie die Einführung besonderer Einkaufszeiten und Sprechzeiten 3 Mehr als 1.900 einschlägige antijüdische Bestimmungen wurden zusammengestellt von Walk (Hg.) 1981. 4 Zitiert nach: Gruner 1995, S. 236. 5 Gruner 1995, S. 230f.
Der Kontext
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bei öffentlichen Einrichtungen forciert. Auch im Arbeitseinsatz sollten die Juden fortan separiert werden. Am 20. Dezember 1938 ordnete der Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (RAVAV) reichsweit den „geschlossenen Arbeitseinsatz" für jüdische Erwerbslose und Unterstützungsempfänger an. Wie der Einsatz geschlossener jüdischer Kolonnen im einzelnen zu bewerkstelligen sei, wurde bis zuletzt nicht en detail geregelt. Dies bereitete den anfangs ausschließlich öffentlichen Arbeitgebern einige praktische Schwierigkeiten und öffnete der Willkür Tür und Tor, wobei sich die Aktivisten der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) in den Betrieben besonders hervortaten. 6 Im Frühjahr 1940 begannen die Vorbereitungen für den Zwangsarbeitseinsatz aller arbeitsfähigen jüdischen Frauen und Männer in Berlin unabhängig davon, ob sie Wohlfahrtsunterstützungen bezogen oder nicht. Männer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren und Frauen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren mußten sich bei der Jüdischen Gemeinde registrieren lassen, um für den „geschlossenen Arbeitseinsatz" in der Berliner Wirtschaft herangezogen zu werden. Im Sommer 1940 schätzte die Arbeitsverwaltung von den noch 72.000 jüdischen Einwohnern Berlins 25.000 Frauen und 18.000 Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren als arbeitsfähig ein. 7 Ohne die Altersgrenzen sonderlich ernst zu nehmen, rekrutierte die Zentralstelle für Juden bis November 1940 einen großen Teil von ihnen und wies sie der Berliner Stadtverwaltung für Bau- und Abrißarbeiten, aber verstärkt auch Industrieunternehmen zu. So beschäftigten die Berliner Siemenswerke bereits im April 1940 500 zwangsverpflichtete jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter; ein halbes Jahr später waren es bereits 1.300 und im Herbst 1941 über 3.000. Sie wurden in teils separaten, teils mit „verstellbaren Trennwänden" abgeteilten Werkhallen eingesetzt. 8 Auch Elisabeth Freund berichtet von allerlei organisatorischen Improvisationen und zeitraubenden Schikanen zur Separierung der Juden, die in der Köpenicker Großwäscherei Spindler und der Treptower Elektrofabrik Ehrich & Graetz, wo sie arbeiten mußte, die eingespielten Arbeitsabläufe störten. Im März 1941 nahmen die Deportationspläne, angetrieben durch die für den Umbau der Reichshauptstadt vorgesehenen Räumungsaktionen des Generalbauinspektors (GBl), Albert Speer, konkretere Gestalt an. Zugleich wurde die Zwangsarbeitspolitik gegen die Berliner Juden erneut verschärft. Entgegen den bisherigen Maximen sollten sie nun nicht mehr zur Auswanderung getrieben, sondern bis zu ihrer nunmehr geplanten Deportation als Arbeitskräfte herangezogen werden. Die jüdischen Kultureinrichtungen und Umschulungskurse, in denen sich Frauen und Männer, halbwüchsige Mädchen und Jungen mit einer praktischen beruflichen Ausbildung auf die erhoffte Auswanderung vorbereiteten, wurden geschlossen, das freigesetzte Personal, die Kursteilnehmer und -teil6 Gruner 1995, S. 240f; Maier 1994, S. 26-40. 7 Gruner 1995, S. 244f. 8 Sachse 1991, S. 4 und dies. 1989, S. 323.
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M o m e n t a u f n a h m e n der Zwangsarbeit
nehmerinnen zur Zwangsarbeit verpflichtet. Unter ihnen war auch Elisabeth Freund, die gerade noch ihren Fotografie-Lehrgang beenden konnte, bevor sie in der „Schikanepromenade", wie das jüdische Arbeitsamt in der Kreuzberger Fontanepromenade bei den Betroffenen hieß,9 erscheinen mußte. Im Juli 1941 waren ungefähr 26.000 bis 28.000 Berliner Juden, darunter 45% Frauen, im Zwangsarbeitseinsatz beschäftigt. Sie wurden noch vor der Einführung des Judensterns mit einer zumeist gelben Armbinde gekennzeichnet, die es erleichtern sollte, ihren geschlossenen Einsatz im Betrieb, ihre Isolierung von den „arischen" Kolleginnen und Kollegen durchzusetzen. 10 Der Arbeitseinsatz, ihre von den meisten Unternehmen durchaus geschätzte Arbeit, schützte diese Menschen, anders als manche von ihnen gehofft hatten, zwar nur vorübergehend vor den Deportationen, die im Oktober 1941 begannen. Jedoch konnten Unternehmen eingearbeitete Arbeitskräfte zeitweise erfolgreich „reklamieren" und auf diese Weise eine Zurückstellung von der Deportation erreichen. Solche „Reklamationen" konnten im Einzelfall lebensentscheidend sein, waren doch die Uberlebenschancen der zuletzt Deportierten immerhin etwas größer als die der früher Deportierten. Allerdings neigten Betriebe dazu, eher männliche als weibliche Arbeitskräfte zu „reklamieren" und trugen auf diese Weise ihren Teil dazu bei, daß unter den Millionen Opfern des Holocaust deutlich mehr Frauen als Männer waren bzw. die geringen Überlebenschancen eher Männern als Frauen zufielen. 11 In manchen Betrieben, wie bei Siemens & Halske waren es die jüdischen Arbeiter selbst, die die inzwischen nach Deutschland deportierten polnischen Arbeitskräfte noch als ihre Nachfolger anlernen mußten, bevor sie selbst nach Polen deportiert wurden. Ein Teil von ihnen wurde in das Arbeitslager Auschwitz eingewiesen, wo einzelne, und zwar wiederum überwiegend Männer, überleben konnten, unter ihnen Martin Friedländer, der zuvor bei Siemens eingesetzt war und davon 1990 berichtete.12 Am 27. Februar 1943 wurden die letzten in den Berliner Betrieben verbliebenen jüdischen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, wenn sie nicht wie einige wenige rechtzeitig untergetaucht waren, in einer von der Gestapo in Zusammenarbeit mit dem Werkschutz der Unternehmen vorbereiteten Aktion bei Schichtbeginn am Arbeitsplatz zusammengetrieben und abtransportiert. Nur noch die in sogenannten „Mischehen" mit nicht-jüdischen Partnern lebenden Männer und Frauen und die Kinder aus solchen Ehen durften „legal" in Berlin bleiben und wurden weiterhin zur Zwangsarbeit herangezogen. 13
9 Gruner 1995, S. 241. 10 Gruner 1995, S. 247. 11 Ringelheim 1992; Maier 1994, S. 71 f. 12 Siegel 1991, S. 17; zu Auschwitz: Schwarz 1990, S. 146-148. 13 Sachse 1991, S. 4; Gruner 1995, S. 252f. Ausführlich über die „Fabrikaktion" und das nachfolgende Leben von Juden in der Halblegalität bzw. im Untergrund berichtet Beck 1995, S. 96ff.
Die Biographie
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Die Biographie Elisabeth Freund wurde am 16. September 1898 in Breslau als Tochter des Neurologen Dr. Carl Samuel Freund und seiner Ehefrau, Paula Haber, geboren. Sie studierte Volkswirtschaft in Berlin und Breslau. Gleich nach ihrem Abitur wurde sie 1917 in das Haus ihres Onkels, Prof. Fritz Haber (1868-1934), eines Vetters ihrer Mutter, nach Berlin eingeladen. Die dreisemestrige Berliner Studienzeit erlebte sie, wie sie im Alter schrieb, als eine der wichtigsten Stationen ihres „Werdegangs". Im Haus des bekannten Chemikers, der 1918 den Nobelpreis für seine Verfahrensentwicklungen in der Ammoniaksynthese erhielt, traf sie mit vielen „bedeutenden Leuten" zusammen. Nach ihrem Studium bis zu ihrer Eheschließung arbeitete sie für einige Monate als Vorstandsassistentin bei der Oberschlesischen Kokswerke und Chemischen Fabriken AG, die 1922 die Aktienmehrheit der späteren Schering AG übernahm. 14 1922 heiratete sie ihren über zwanzig Jahre älteren, entfernten Vetter, Dr. Rudolf Freund (1877-1959), und ging mit ihm nach Gleiwitz. Rudolf Freund war Jurist und zu dieser Zeit Vorstandsmitglied der dortigen Oberschlesischen Eisenindustrie AG. In Gleiwitz wurde 1923 die erste Tochter Kläre (Cläre) Elisabeth geboren. Als die Oberschlesische Eisenindustrie AG 1924 von den Mitteldeutschen Stahlwerken übernommen wurde, siedelte die Familie an den Firmensitz nach Berlin über. Sie lebte in einer großen Villa in der Dahlemer Miquelstraße, wo 1924 und 1928 die Kinder Ursula und Rudolf Ernst geboren wurden. Beide Ehepartner stammten, wie Elisabeth Freund es beschrieb, „aus alteingesessenen jüdischen Familien mit vielen Akademikern". 15 Sie standen der jüdischen Religion fern und fühlten sich vor allem dem „Gedankenkreis der deutschen Kultur" verbunden. Zwar lehnten sie es ab, sich selbst als Erwachsene taufen zu lassen, jedoch schickten sie ihre Kinder in den protestantischen Religionsunterricht und pflegten persönliche Beziehungen zu Mitgliedern und Pastorenfamilien der protestantischen Dahlemer Annen-Gemeinde, die ab 1934 ein Zentrum der Bekennenden Kirche wurde. 16 Nach der Geburt ihres dritten Kindes wurde Elisabeth Freund auf einem Gebiet schriftstellerisch aktiv, auf dem sich schon eine Reihe von Volkswirtinnen bzw. 14 LBI, coli. Freund, „Einführung"; Briefwechsel Freund/Sachse; Schreiben C. Freund v o m 27. 7. 1995. Zitate: Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 5. 10. 1981. Die Schering A G - zuvor: „Chemische Fabriken auf Actien (vorm. E. Schering)" ging 1937 aus diversen Fusionierungen hervor. Dazu gehörte 1922 auch die Übernahme der Aktienmehrheit der Firma „W. Spindler, Berlin und Spindlersfeld bei Cöpenick. Färberei - Druckerei - Appretur. Wasch- und Chem. Wasch-Anstalt". Ein Teil davon war die Großwäscherei, bei der Elisabeth Freund zwanzig Jahre später Zwangsarbeit leisten mußte. Vgl. Scheringianum, Historischer Jahresstrang, S. 18 und Spindlersfeld, X B 2.1.11; Korff u. Rürup (Hg.) 1987, S. 166 und Holländer 1955, S. 63f. 15 LBI, coli. Freund, „Einführung", S. II. 16 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben Freund vom 1 . 5 . 1981.
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Momentaufnahmen der Zwangsarbeit
Elisabeth Freund mit ihren drei Kindern Cläre, Ursula und Rudolf um 1930.
Nationalökonominnen, Sozialwissenschaftlerinnen, Architektinnen und Psychologinnen wie Christine Frederick und Lillian M. Gilbreth in den U S A und Erna Meyer, Irene Witte oder Grete Schütte-Lihotzky in Deutschland engagiert hatte und das in den späteren Jahren der Weimarer Republik sehr en vogue wurde: die Rationalisierung der Hausarbeit. 17 Elisabeth Freund schrieb einen Ratgeber mit Anleitungen, wie Frauen Reparaturen im Haushalt selbst ausführen können, der 1930 unter dem Titel „Hausfrau hilf dir selbst" im Stuttgarter ThienemannsVerlag erschien. Es war eines der ersten Selbsthilfe-Bücher dieser Art, die später so populär werden sollten. In diesem knappen Band dokumentierte sich bereits der mit genauer Beobachtungsgabe gepaarte Sinn für die praktischen, alltäglichen Verrichtungen, über den Elisabeth Freund, die selbst einen großen Villenhaushalt mit mehreren Hausangestellten leitete, verfügte und der auch den späteren Bericht über ihre Zwangsarbeitserfahrungen auszeichnet. Im Zuge der Übernahme der Oberschlesischen Eisenindustrie A G war Rudolf Freund in den Vorstand der Mitteldeutschen Stahlwerke übergetreten, die Teil des Flick-Konzerns waren. 18 Schon ab 1927 wurde seine Stellung als Vorstandsmit-
17 Ausführlich dazu: Sachse 1990 (Rationalisierung), S. 52-56. 18 Weisbrod 1978, S. 97f.
Die Biographie
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E M A N N S-VERLAG- STUTTGART Titelblatt des Buches von Elisabeth Freund Hausfrau, hilf dir selbst! Eine durch zahlreiche Photographien erläuterte Anleitung, den Handwerksmann im Haushalt zu ersetzen, erschienen 1930 im Thienemanns-Verlag Stuttgart.
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Momentaufnahmen der Zwangsarbeit
glied zunehmend schwieriger, da Friedrich Flick bekanntlich frühzeitig die N S D A P unterstützte. 1930 verlor Rudolf Freund seine Position und schied aus dem Flick-Konzern aus. Er ließ sich dann als Anwalt nieder und wurde nach einer entsprechenden Prüfung 1932 als öffentlich bestellter Wirtschaftsprüfer zugelassen. Als solcher war er in den folgenden Jahren insbesondere für die Berliner Handelsgesellschaft ( B H G ) tätig. Die B H G war ihm auch noch behilflich, nachdem ihm mit den nationalsozialistischen Berufsverboten in den Jahren 1937 und 1938 die Berufsausübung zunächst als Anwalt und dann auch als Wirtschaftsprüfer untersagt worden war. Zuletzt vermittelte ein leitender Mitarbeiter der B H G den entscheidenden Kontakt zur Gestapo, aufgrund dessen das Ehepaar Freund noch im Oktober 1941 die Ausreiseerlaubnis erhielt. 19 Bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme war Rudolf Freund in die U S A gereist. Jedoch wurde ihm damals angesichts der herrschenden wirtschaftlichen Depression von allen Seiten von einer Einwanderung abgeraten. D a s Ehepaar Freund hoffte zunächst, den nationalsozialistischen „ S p u k " mit den vorhandenen finanziellen Reserven überstehen zu können. Vor der Emigration schreckten beide auch noch in den folgenden Jahren zurück, weil Rudolf Freund als deutscher Jurist und aufgrund seines fortgeschrittenen Alters im Ausland kaum Chancen gehabt hätte, noch einmal beruflich Fuß zu fassen. 2 0 Die beiden Töchter wurden nach 1933 in einer Oberschule aufgenommen, die der katholische Lehrorden der Ursulinen am Oskar-Helene-Heim in Dahlem eingerichtet hatte. Dort wurden auch nicht-katholische Schülerinnen unterrichtet, und Mitarbeiter des Dahlemer Pastors Martin Niemöller erteilten Religionsunterricht für Kinder aller Konfessionen. Die Ursulinen ermöglichten den Kindern zunächst einen Sommeraufenthalt bei den Londoner Ordensschwestern, um Englisch zu lernen. Als die Dahlemer Schule schließen und die Berliner Ursulinen nach Chile auswandern mußten, besuchten die beiden Mädchen die jüdische Goldschmidt-Schule am Roseneck. 21 Nach dem Novemberpogrom verschlechterte sich die Situation der Familie rapide. Zwar war Rudolf Freund in der Pogromnacht vermutlich dank der immer noch angesehenen Stellung der Familie in der Dahlemer Nachbarschaft nicht verhaftet worden und konnte sich in den folgenden Tagen in der Provinz verstecken. Jedoch wurden die Restriktionen auch für die Familie Freund noch härter. 22 Für die Kinder, deren Ausbildung den Eltern besonders am Herzen lag, wurde es immer ungewisser, ob sie die Schule überhaupt würden abschließen dürfen, nachdem in der Pogromnacht die jüdische Schule am Roseneck fast niedergebrannt worden war. Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, irgendwo auf der Welt 19 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 5. und 19. 10. 1980. Vgl. Kap. 34. 20 L B I , coli. Freund, „Einführung", S. III. 21 Briefwechsel Freund/Sachse, Schreiben C . Freund vom 27. 7. 1995. 22 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 5. 10. 1980. Vgl. Kap. 10.
Die Biographie
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eine Einreiseerlaubnis zu erhalten. Wann die Familie die Einreisevisa in die U S A , die sie nun doch noch beantragt hatte, erhalten würde, war in Anbetracht der restriktiven amerikanischen Einwanderungspolitik und des neuerlichen Ansturms auf die amerikanischen Konsulate in Deutschland nicht abzusehen. 2 3 In dieser Situation entschlossen sich Elisabeth und Rudolf Freund, ihre drei Kinder nach England in das einzige Land zu schicken, das nach dem November 1938 wenigstens die Einreise für jüdische Kinder erleichtert hatte. Die beiden Mädchen waren von den Londoner Ursulinen und der kleine Sohn von einer anglikanischen Pastorenfamilie auf unbestimmte Zeit eingeladen worden. Nachdem die beiden Töchter noch von Pfarrer Helmuth Gollwitzer in der überfüllten Annen-Kirche in einem besonderen Abendgottesdienst konfirmiert worden waren, reisten die drei Geschwister im Alter von fünfzehn, vierzehn und elf Jahren im Januar 1939 wie Tausende andere jüdische Kinder in diesen Monaten ohne elterliche Begleitung nach England aus. 24 Mit den Ekern sollten sie erst 1946 in Philadelphia wieder zusammentreffen. „Aus Kindern wurden Briefe", wie es die Zurückgebliebenen damals ausdrückten, bis nach wenigen Monaten auch keine Briefe mehr von England nach Deutschland gelangten. Seit Kriegsbeginn konnten die Eltern Freund nur noch vermittelt über ihre Verwandten in den Vereinigten Staaten und Freunde in der Schweiz knappe, verschlüsselte Botschaften von den Kindern erhalten. 25 Das Haus in Dahlem mußte zu einem „Spottpreis" an einen Nazi-Parteigenossen verkauft werden; das Ehepaar Freund zog in eine kleine Wohnung in der Charlottenburger Mommsenstraße. Rudolf Freund bezog zwar weiterhin eine Pension aus seiner früheren industriellen Tätigkeit, aber die Bankkonten wurden gesperrt, und es waren nur noch bestimmte, amtlich festgesetzte Teilbeträge im Monat verfügbar. Darüber hinaus besaß das Ehepaar Freund immer noch ein beachtliches, vor allem in Immobilienbesitz angelegtes Vermögen. Es konnte aber weder für einen angemessenen Preis verkauft, noch für die Abgaben in Anrechnung gebracht werden, die den Juden auferlegt waren und die sie vor einer eventuellen Auswanderung zu entrichten hatten. Immerhin kamen Elisabeth und Rudolf Freund mit den sechshundert Reichsmark, die sie als monatlichen Freibetrag von ihrem Sperrkonto abheben durften, noch gut aus und konnten vielen anderen helfen. 2 6 Nachdem ihre drei Kinder nach England ausgewandert waren, bereiteten sich die Eltern, so gut es ihnen möglich war, auf die ersehnte Zukunft in den Vereinigten Staaten vor. Rudolf Freund befaßte sich mit amerikanischem Recht und der U m 23 Vgl. Kap. 11. 24 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 1. 5. 1981; Briefwechsel Freund/ Sachse, Schreiben C. Freund vom 27. 7. 1995. 25 Briefwechsel Freund/ Richarz, Schreiben von E. Freund vom 1. 5. 1981. 26 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben Freund vom 5. 1 0 . 1 9 8 0 ; LBI, coli. Freund, „Einführung".
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Momentaufnahmen der Zwangsarbeit
Stellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft. Elisabeth Freund ließ sich in einem von der Jüdischen Gemeinde organisierten Ausbildungskurs, den sie im März 1941 abschloß, zur Fotografin umschulen. Sie befaßte sich dabei besonders mit dem damals neuen Gebiet des Fotofarbendrucks und hatte offensichtlich Interesse und Freude an dieser aus der Not heraus eingeschlagenen Ausbildung, die sie gern auch beruflich nutzen wollte. 27 Die folgenden dramatischen Monate von April bis Mitte Oktober 1941, die Elisabeth Freund in ihrem Bericht beschreibt, waren von zwei ineinander verwobenen Erlebnissträngen geprägt. Dies waren einmal die Erfahrungen, die sie als Zwangsarbeiterin beginnend mit ihrer Einbesteilung zum Arbeitsamt für Juden im April 1941 zuerst in einer Großwäscherei und dann in einem Rüstungsbetrieb machen mußte. Sie wurde mitnichten als Fotografin oder gar entsprechend ihrer volkswirtschaftlichen Qualifikationen eingesetzt, sondern zu körperlich schweren und monotonen Hilfsarbeiten herangezogen. Die in manchen Abteilungen schikanösen Arbeitsbedingungen brachten sie zeitweilig an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs. Zugleich war es die seelische Anspannung, das mehrfache, rasch aufeinanderfolgende Hinundhergeworfensein zwischen der Hoffnung, doch noch ein Ausreisevisum ergattern und die Kinder wiedersehen zu können, und der Verzweiflung, wenn sich kurz vor dem Ziel wieder eine Ausreisemöglichkeit zerschlug. Beides, die überharten körperlichen Zumutungen der Zwangsarbeit und die seelischen Zumutungen des täglichen Ausgeliefertseins, der mehr als nur erahnten Lebensbedrohung und der Ungewißheit über das Schicksal ihrer Kinder, hat Elisabeth Freund durchgestanden. Der Bericht ist Zeugnis ihres Durchhaltevermögens in einer Zeit, in der dieses Vermögen in verbrecherischer Weise herausgefordert wurde, in der es aber auch eben noch wirken konnte, bevor am 18. Oktober 1941 die Deportationen der Berliner Juden in das Ghetto von Lodz begannen. Der Bericht ist zugleich Dokument ihrer gelungenen Anstrengung, ihr seelisches Uber- und Weiterleben bewußt in die Hand zu nehmen, nachdem sie der von den Nationalsozialisten in die Welt gesetzten Lebensgefahr entronnen war. Wenige Tage bevor am 23. Oktober 1941 die Auswanderungen verboten wurden, gelang es Elisabeth und Rudolf Freund, nach Kuba auszureisen. Mit einem der letzten von der Reichsvereinigung der deutschen Juden organisierten Auswandererzüge konnten sie am Sonntag, den 19. Oktober 1941 Berlin in Richtung Paris verlassen. Von dort reisten sie weiter nach Lissabon, wo sie sich drei Wochen aufhalten mußten, bevor sie mit einem portugiesischen Schiff die neunzehntägige Uberfahrt nach Kuba antreten konnten. 28 In Kuba galten auch jüdische Deutsche nach dem Kriegseintritt der Amerikaner im Dezember 1941 als feindliche Ausländer; die Briefe der Kinder aus England 2 7 LBI, coli. Freund, „Einführung". 28 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben von E. Freund v o m 5. 10. 1980.
Die Biographie
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wurden den Eltern Freund mit Ausnahme des ersten monatelang von der kubanischen Polizei vorenthalten. Immer wieder wurden ihre Einreisegesuche in die U S A abgelehnt, weil es - wie sich erst später herausstellte - in Argentinien einen Waffenhändler gleichen Namens gab, mit dem Rudolf Freund von den amerikanischen Einwanderungsbehörden gleichgesetzt wurde. Die Verwechslung war nur unter großen Schwierigkeiten aufzuklären, und erst nach zweieinhalb Jahren durften Elisabeth und Rudolf Freund 1944 in die U S A einwandern. 29 Solange der Krieg dauerte, konnte Rudolf Freund trotz seiner achtundsechzig Jahre als Buchhalter in Philadelphia arbeiten. In diese, gemessen an seiner früheren Führungsposition, untergeordnete Tätigkeit hat er sich, wie seine Frau später schreibt, „mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit" eingefügt. 30 Mit der Rückkehr der Kriegsteilnehmer wurde er entlassen. Elisabeth Freund, die bereits in den letzten Kriegsmonaten damit begonnen hatte, ihre zweite, praktische Berufsausbildung zu nutzen und in Heimarbeit Fotonegativ-Retuschen durchzuführen, wurde zur „Hauptverdienerin". 3 1 1946 kamen die inzwischen erwachsenen Töchter und der herangewachsene Sohn zu den Eltern. Die Töchter hatten ihre deutsche Muttersprache beim Abhördienst der British Broadcasting Corporation ( B B C ) einsetzen können, wohin sie durch Vermittlung eines ebenfalls nach London emigrierten Freundes der Familie kamen. Der jüngere Sohn hatte sein Deutsch während des achtjährigen Englandaufenthalts, währenddessen er eine englische Schule besuchte und zuletzt mit deutschen Kriegsgefangenen Kartoffeln ernten mußte, verlernt. Trotz der nicht eben einfachen finanziellen Situation der Familie besserten alle Kinder zunächst einmal in Abendkursen ihre Schulbildung nach, die nach den zurückliegenden Ereignissen und gemessen an den hohen Standards der Familie kaum anders als „lückenhaft" sein konnte, und schlössen das College ab. 32 Als die sogenannten „Wiedergutmachungsleistungen" der Bundesrepublik Deutschland einsetzten, verbesserten sich die materiellen Bedingungen der Familie allmählich. Nachdem ihr Mann 1959 in hohem Alter gestorben war, eröffnete sich Elisabeth Freund, inzwischen selbst einundsechzigjährig, noch einmal ein neues Berufsfeld, das sie, mit ihren eigenen Worten, „ganz ausfüllte" und in dem sie „wirklich etwas leisten konnte". Sie hatte soeben ihr Buch „Crusader for Light", die Biographie eines Großonkels, veröffentlicht, der 1832 die Methoden der europäischen Blindenerziehung nach Amerika gebracht hatte. 33 An der von ihm 1832 gegrümdeten „Overbrook School for the Blind", der Blindenschule in Philadelphia, baute sie 29 LBI, coli. Freund, „Einführung", S. I und „Ausklang", S. b. 30 LBI, coli. Freund, „Ausklang", S. b. 31 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 3. 10. 1980. 32 L B I , coli. Freund, „Ausklang", S. b; Briefwechsel Freund/Sachse, Schreiben C. Freund vom 27. 7. 1995. 33 Elisabeth Freund, Crusader for Light, Philadelphia 1959; Zitate: LBI, coli. Freund. „Ausklang", S. b.
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Momentaufnahmen der Zwangsarbeit
Elisabeth und Rudolf Freund mit ihren Töchtern Ursula (links) und Cläre (rechts) in Philadelphia 1946.
im Anschluß daran ein „Touch-and-Learn-Center" auf - eine von ihr selbst entwickelte Idee, die bald von anderen Blindenschulen nachgeahmt wurde und auch für die Arbeit der U N E S C O in Ländern der „Dritten Welt" von großem Interesse war. 34 Mit 1.800 fühlbaren Gegenständen zur Unterrichtung blinder Schüler war ihre in zehn Jahren aufgebaute Sammlung die größte in der Welt. Elisabeth Freund hatte während ihres Kuba-Aufenthalts Spanisch gelernt und unternahm in späteren Jahren unter anderem im Zusammenhang mit ihrer blindenpädagogischen Arbeit noch einige größere Reisen, die sie nach Bolivien, Hawai und Japan führten. In den letzten Jahren von 1972 bis zu ihrem Tod lebte sie mit ihrer älteren, alleinstehenden Tochter Cläre zusammen, die in Rochester im amerikanischen Bundesstaat N e w York als wissenschaftliche Bibliothekarin bei der Firma Kodak arbeitete. Dort starb Elisabeth Freund nach einem Schlaganfall am 4. November 1982. 3 5
34 Vgl. Elisabeth Freund, Making learning real fun for blind children, in: The Unesco Courier, 24. Jg., Mai 1971, S. 28-31. 35 LBI, coll. Freund, „Ausklang", S. b und c; Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 5. 10. 1980 und Schreiben C. Freund vom 18. 11. 1982; Briefwechsel Freund/Sachse, Schreiben C. Freund vom 27. 7. 1995.
Der Text
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Der Text Elisabeth Freund schrieb den Bericht über ihre letzten Monate in Berlin unmittelbar nach ihrer Ankunft in Havanna nieder, wo sie Ende November 1941 mit ihrem Ehemann eingetroffen war und wo sie die erste direkte Nachricht von ihren drei Kindern nach fast zwei Jahren erhielt. Die älteste, inzwischen achtzehnjährige Tochter bat in einem Brief aus London an die Eltern in Havanna: „Bitte, schreibt doch sofort alles auf, was Ihr erlebt habt. Wir wissen nichts von Euch." Für Elisabeth Freund hatte die Niederschrift ihrer „ganz frischen Erinnerungen", mit der sie sofort begann, nicht nur den Sinn, die zerrissene Familiengeschichte ein Stück weit wieder zusammenzufügen. Sie hoffte auch, sich von ihren quälenden Angstträumen befreien zu können: „Während die meisten anderen Flüchtlinge anfingen, gesünder auszusehen, war ich noch immer in Berlin, jedenfalls in Gedanken, und erlebte alle Schrecknisse dort noch einmal. Als ich endlich noch vor Weihnachten meine Niederschrift beendet hatte, hatte sie ihre Wirkung getan. Ich hatte es mir 'von der Seele geschrieben' und konnte wieder schlafen." 3 6 Elisabeth Freund hätte ihren Bericht gern bald nach ihrer Einreise in die Vereinigten Staaten veröffentlicht. Nicht zuletzt deshalb, weil sie dringend Geld verdienen mußte. Solange der Krieg dauerte, befürchtete sie jedoch, daß eine Veröffentlichung die Brüder ihres Mannes gefährden könnte, die in nationalsozialistische Lager verschleppt worden waren. Nach dem Krieg erlahmte das Interesse der Verlage an Berichten über die Lebensbedingungen, denen Juden vor der Deportation in Nazi-Deutschland ausgeliefert waren, insofern bald, als sie von den noch grauenvolleren Schilderungen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern übertroffen wurden. Ein amerikanischer Verleger gab Elisabeth Freund das Manuskript mit der Bemerkung zurück, daß „die Leser (...) an noch viel schlimmere Berichte aus der Hitlerzeit gewöhnt" seien und „diese Geschichte (...) nicht blutig genug" sei. 37 Bislang wurden lediglich Auszüge aus dem Manuskript veröffentlicht. So hat Monika Richarz 1982 und 1989 etwa dreißig Seiten des Textes in den von ihr edierten „Lebenszeugnissen deutscher J u d e n " publiziert. Sie hat sich dabei auf die dramatischen, von vielen Rückschlägen gekennzeichneten Anstrengungen des Ehepaares, das sich seit dem Pogrom im November 1938 um die Ausreise bemühte, konzentriert. 38 Die umfangreichen Passagen über das Alltagsleben in Berlin 36 L B I , coli. Freund, „ E i n f ü h r u n g " , S. II. 37 L B I , coli. Freund, „ A u s k l a n g " , S. b und c. Erst 1994 erschien auf der Basis eines Interviews mit der Tochter Ursula, verheiratete Goebel, ein biographischer Artikel: J o n n i e Bassaro, N a z i labor: an ordeal to remember. H e r mother's memoirs, a half Century old, personalize history for U r s u l a Goebel, in: T h e N e w s - T i m e s . T h e Sunday Magazine v o m 6. 2. 1994, S. 3 - 5 . 38 Richarz 1982, S. 374-386; dies. 1989, S. 513-527.
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1941 und die Zwangsarbeit, die im Zentrum ihres Berichtes steht, konnten in dieser Edition nicht berücksichtigt werden. Der Dokumentationsband „Juden in Kreuzberg" hat kurze Ausschnitte abgedruckt, in denen Elisabeth Freund ihre Erfahrungen im jüdischen Arbeitsamt beschreibt. 39 Eine ungekürzte Veröffentlichung in Deutschland, um die sich Elisabeth Freund im Alter von über achtzig Jahren noch einmal mit Nachdruck bemühte, konnte sie nicht mehr erreichen. Die großen deutschen Taschenbuchverlage schickten ihr Anfang der 1980er Jahre das Manuskript zurück. Ihr knapper, sachlich beschreibender Zeitzeugenbericht paßte nicht in die Publikationslandschaft dieser Jahre, in denen zahlreiche Memoiren von Frauen - Verfolgten, Hilfeleistenden, Mitläuferinnen und Schuldiggewordenen - erschienen, die jetzt im fortgeschrittenen Alter ihre Erinnerungen an das „Dritte Reich" literarisch verarbeiten wollten. Die von manchen Verlagslektoren geäußerten Umarbeitungswünsche lehnte Elisabeth Freund ab, sie wollte darauf nicht „weiter Zeit und Kraft (...) verwenden". 4 0 Dieser Entscheidung ist zu verdanken, daß der, wie sich im Zuge der Editionsarbeiten bestätigte, bis in die Einzelheiten korrekte Bericht nunmehr ohne literarische Bearbeitungen in authentischer F o r m erscheinen kann. Elisabeth Freunds Ziel war es, „einen so objektiven und unpersönlichen Bericht zu schreiben, wie es unter den Umständen möglich war". 4 1 Sie schreibt in einem anschaulichen und eingängigen Stil und verwendet viel wörtliche Rede, vor allem auch längere Gesprächssequenzen zwischen jüdischen Zwangsarbeiterinnen und ihren nichtjüdischen Kolleginnen, Vorarbeitern und Vorgesetzten. Aufgrund der zeitlichen Nähe des Berichts und des Erlebens erinnert sich Elisabeth Freund offensichtlich an viele Gespräche, Redewendungen und Argumente mehr oder weniger wörtlich. In der Beschreibung der Arbeitsbedingungen und der zwischenmenschlichen Beziehungen gelingt es ihr, die erinnerten Situationen mit einfachen Worten präzise wiederzugeben. Elisabeth Freund will keine Stimmungsbilder malen, sondern virtuelle, nur in ihrem Gedächtnis vorhandene Fotografien in Worten reproduzieren, so wie sie später umgekehrt Gegenstände für ihre Lehrsammlung danach auswählt, ob sie geeignet sind, über den Tastsinn eine visuelle Vorstellung bei blinden Schülern hervorzurufen. Im kubanischen Internierungslager greift sie zur Schreibmaschine, um die allzu deutlichen und bedrängenden Bilder aus sich herauszuschreiben und sie in lesbare Texte umzuformen, die in ihrer vergegenständlichten Form das Erlebte dauerhaft dokumentieren, aber andererseits auch in einer Schublade verstaut werden können, um einer neuen Gegenwart Raum zu geben.
39 Juden in Kreuzberg, 1991, S. 269-272. 40 Zitat: Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom September 1981. Monika Richarz bemühte sich 1980/81 bei mehreren großen deutschen Verlagen im N a men von Elisabeth Freund vergeblich um eine Veröffentlichung (Briefwechsel Freund/ Richarz, passim). 41 Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben von E. Freund vom September 1981.
Der Text
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Elisabeth Freund wählt für ihre Dokumentation über weite Strecken die Form des Zeitzeugenberichts, ohne sich jedoch selbst zu verleugnen. Sie will Zeugnis ablegen von dem Erlebten, aber auch von sich selbst. Sie nimmt die Rolle der Zeitzeugin ein, um nicht in der Opferrolle zu verharren, so wie sie bereits die Zumutungen und Strapazen der Zwangsarbeit gemeistert hatte, indem sie sozusagen im Geiste einen Beobachtungsposten bezog und als verhinderte Fotografin die Bilder, mit denen sie die Wirklichkeit hätte dokumentieren wollen, in ihrem Gedächtnis speicherte, um sie zu gegebener Zeit wieder aus sich herauszustellen und sich von ihnen zu befreien. Das Ergebnis ihres gelungenen Selbstversuchs ist eine in dieser Art seltene, wenn nicht einzigartige Quelle zur Sozialgeschichte und Frauengeschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Ihr Quellenwert wird unterstrichen durch die zeitliche Unmittelbarkeit, mit der der Bericht an das Erleben anschließt, und durch die „fotografische" Darstellung, die Anschaulichkeit mit bewußt gesuchter Distanz verbindet. Der Text stellt aber auch in seiner thematischen Schwerpunktsetzung eine außergewöhnliche Quelle dar. Nur selten haben Emigranten oder Uberlebende, noch seltener emigrierte und überlebende Frauen ihre Zwangsarbeitserfahrungen so in den Mittelpunkt ihrer Berichte gerückt wie die Volkswirtin Elisabeth Freund, die mit sicherem Blick die Schwachstellen bei der Anlernung unerfahrener Arbeiterinnen erkannte und die sich auf dem Heimweg dabei ertappte, wie sie „im Kopf die ganze Expeditionsabteilung umräumte und die Arbeit anders einteilte". 42 Nicht zufällig erinnert ihr Bericht über manche Strecken an das unter Sozialhistorikern und Industriesoziologen wohlbekannte „Fabriktagebuch" der französischen Philosophin Simone Weil aus den Jahren 1934/35.43 In den lebensbedrohlichen Verhältnissen im Frühjahr 1941, wo es nur noch um das Durchhalten und das Vorantreiben der Ausreise für sich und ihren Mann gehen konnte, hätte Elisabeth Freund sicherlich nicht von sich aus das Innenleben der Fabriken unter rassistischem Vorzeichen erkunden mögen, wo es, wie sie nach einigen Wochen resigniert feststellte, nicht darum ging, möglichst rationell zu arbeiten, sondern wo „diese Zwangsarbeit für Juden vor allen Dingen dazu da ist, um sie zu diffamieren und zu quälen" und, wie sie in der persönlichen Konfrontation mit „arischen" Vorgesetzten erfuhr, ihre „aufrechte" Haltung zu brechen, sie zu „geduckten Sklaven" zu machen. 44
42 Aus den Berichten von Emigranten, die im LBI in New York gesammelt wurden und die häufiger auch Mitteilungen über die erlebten Zwangsarbeitseinsätze enthalten, sticht dieser Bericht mit seiner dezidierten und bereits im Titel manifestierten Schwerpunktsetzung hervor. Zitat: Kap. 12. 43 Simone Weil ( 1 9 0 9 - 1 9 4 3 ) war zunächst Lehrerin in Frankreich, erkundete dann als ungelernte Arbeiterin das Fabriksystem, über das sie ein detailliertes Fabriktagebuch führte und mehrere theoretische Schriften verfaßte. Sie nahm auf republikanischer Seite am spanischen Bürgerkrieg teil, lebte 1942 in den U S A und starb ein Jahr später in England. 44 Zitate: Kap. 20 und 15.
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Dennoch: einmal in diese Situation versetzt, erduldete sie die Zumutungen nicht nur, sondern nutzte sie, um aus der ihr bis dahin fremden Perspektive der Arbeiterin, zumal der rassistisch diskriminierten, die Organisation der Arbeitsabläufe, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und vor allem das Spektrum der sozialen Interaktionen zwischen den Kolleginnen und zwischen den hierarchischen Gruppen, zwischen Männern und Frauen, Juden und „Ariern" zu beobachten. Die Bilder und Szenen, die sie sich eingeprägt hatte, ließ sie in Havanna vor ihrem inneren Auge Revue passieren und faßte sie in Worte.
Zwangsarbeit Wie selbstverständlich überschrieb Elisabeth Freund ihren Bericht mit dem Wort „Zwangsarbeit". Unter jüdischen Frauen und Männer in Berlin war Zwangsarbeit 1941 schon längst die übliche Bezeichnung für das, was sie in der Kreuzberger „Schikanepromenade" erwartete. Sie benutzten Zwangsarbeit, wie es eine jüdische Arbeiterin der Berliner Siemenswerke im nachhinein formulierte, als „Enttarnwort" für das, was von den Behörden „Dienstverpflichtung" genannt wurde. 45 War „Zwangsarbeit" sozusagen ein gegensprachlicher Begriff, so gebrauchte die Minderheit derjenigen, die nach den rassistischen Regeln der Nürnberger Gesetze - unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis und ihrer eigenen kulturellen Identität - als „Juden" stigmatisiert wurden, das herrschaftssprachliche Wort „Arier" zur Kennzeichnung der Mehrheit der Nicht-Juden beinahe ebenso selbstverständlich und häufig, wie ihnen von Schaufenstern, Litfaßsäulen, Schildern und Parkbänken das in hebraisierendem Schriftzug gestaltete Wort „Jude" entgegenschlug. Freilich lag auch eine subversive Ironie in den von ihnen erfundenen neuen Wortkombinationen wie etwa in der Rede vom „arischen Klo", das als verbotene Ortlichkeit in jedem Betrieb vorhanden war und das in beinahe jedem Bericht von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern erwähnt wird. Wenn jüdische Frauen und Männer Zwangsarbeit sagten, was offiziell für sie ebenso wie für viele „Arier" und besonders für „arische" Frauen Dienstverpflichtung hieß, aber für beide Gruppen Verschiedenes bedeutete, so empörten sie sich vor allem über ihre Freiheitsberaubung, die die bereits erfahrenen Drangsalierungen noch verschärfte. Nicht durchgängig meinten sie damit die Arbeitsbedingungen, die, wie es auch die Erfahrungen von Elisabeth Freund zeigen, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz von „unerträglich und schikanös" bis „erträglich und anständig" variieren konnten und die sich nicht immer von denen der nichtjüdischen Kolleginnen und Kollegen unterschieden. Elisabeth Freund zitiert eine ältere Frau, die mit ihr zusammen zu der besonders harten Arbeit in einer Köpenicker Großwäscherei eingeteilt wurde und die ihre Empörung formulierte, indem sie ihre eigene Situation mit ihrer Vorstellung von 45 Interview mit Gerda B. (der Name wurde geändert).
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der Freizügigkeit der „arischen" Arbeiterinnen verglich, die tatsächlich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eingeschränkt war, wenn auch deren Einschränkungen bei weitem nicht an diejenigen der jüdischen Arbeiterinnen heranreichten und leichter umgangen werden konnten: „Eine Arierin arbeitet hier ja nur, wenn sie will. Wenn sie es nicht aushält, geht sie eben in eine andere Fabrik. Eine Arierin kann kündigen, wenn die Arbeit über ihre Kräfte geht." 46 Der Angriff auf die persönliche Freiheit konnte schmerzhafte moralische Empörung hervorrufen, die die dreiundvierzigjährige Elisabeth Freund dadurch zu bewältigen hoffte, daß sie sich in ein selbstbestimmtes Verhältnis zur oktroyierten Arbeit setzte: „Diese Arbeit ist so furchtbar, weil wir dazu gezwungen werden. Man kann sie sich nur erträglich machen, wenn man über diesen Zwang hinwegkommt... Wenn ich mir selbst die Aufgabe stelle, mit der Arbeit fertig zu werden, dann hat die Zwangsarbeit ihren Stachel verloren." 47 Den Sinn des Schulaufsatzthemas: „Das Gesetz nimm auf in Deinen Willen, und es steigt von seinem Herrscherthron!", über das sie und ihre Mitschülerinnen vor fünfundzwanzig Jahren nur lachen konnten, glaubte Elisabeth Freund jetzt verstanden zu haben. Die Abiturientin Gerda B. hingegen, die im Frühjahr 1940 ein Jahr nach ihrem Schulabschluß als Zwangsarbeiterin zu Siemens geschickt wurde, traf in ähnlicher Lage eine ganz andere Entscheidung. Sie empfand die Freiheitsberaubung und die „ökonomische Sinnlosigkeit" der unqualifizierten, monotonen Arbeit als eine seelische „Höllenqual", der gegenüber sie die schwierige Situation der Illegalität vorzog. 48 Eine andere Ebene der Wahrnehmung von Zwangsarbeit als solcher war der Vergleich der eigenen Arbeitsbedingungen mit denen der nicht-jüdischen Arbeiterinnen im selben Betrieb, sofern dies unter den Bedingungen des „geschlossenen Arbeitseinsatzes" von Juden überhaupt möglich war. Elisabeth Freund nutzte jede Gelegenheit, um über den engen Bereich ihres eigenen Arbeitplatzes hinaus die Abläufe in der jeweiligen Abteilung und dem weiteren betrieblichen Umfeld zu erfassen. Sie stellte auch hier kritische und selbstkritische Beobachtungen an, um herauszufinden, wo und welche Arbeitsbedingungen zwar hart und strapaziös waren, aber jüdische und nicht-jüdische Arbeiterinnen gleichermaßen betrafen, wo jüdische Arbeiterinnen durch behördliche Anordnungen oder betriebliches Management gezielt schlechter behandelt wurden und wo sich nicht-jüdische Arbeiterinnen und Vorgesetzte auf Kosten der Zwangsarbeiterinnen einen eigenen Vorteil verschafften. Die Erfahrung von Fabrikarbeit als Zwangsarbeit 46 Zitat: Kap. 3. Zu den Dienstverpflichtungen nicht-jüdischer deutscher Frauen vgl. Hachtmann 1993. 4 7 Zitat: Kap. 8. 48 Interview mit Gerda B.
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konstituierte sich hier aus Schlechterstellungen, die als ungerecht empfunden wurden, sowie aus der Ohnmacht gegenüber diesen Ungerechtigkeiten und gegenüber der Willkür der Vorgesetzten. Schlechterstellungen und Ungerechtigkeiten waren nicht nur rassistisch, sondern auch geschlechtsspezifisch ausgeformt. Ergänzt man die Beobachtungen von Elisabeth Freund mit den Erfahrungen, die andere jüdische Zwangsarbeiterinnen, etwa Gerda B. oder Camilla Neumann, in den Jahren 1940 und 1941 bei den Berliner Firmen Siemens und Blaupunkt machten, und vergleicht sie mit den inzwischen zusammengetragenen Kenntnissen über die Arbeitsbedingungen Von deportierten osteuropäischen Fremdarbeiterinnen zum Beispiel in der Krupp'schen Gußstahlfabrik in Essen und von weiblichen KZ-Häftlingen in einer nordhessischen Chemiefabrik, so wird erkennbar, in welcher Weise nationalsozialistische Arbeitspolitik die sozialen Kategorien Geschlecht und „Rasse" kombinierte und Gesundheit und Leben von Frauen aus diskriminierten Minderheiten bedrohte. 4 9 Allgemeine Arbeitsschutzbestimmungen und spezielle Frauenarbeitsschutzbestimmungen wurden zuerst für deutsche jüdische Zwangsarbeiterinnen, dann für „Ostarbeiterinnen" und andere „fremdvölkische" Frauen nach und nach außer Kraft gesetzt. Die Einhaltung der je noch bestehenden Schutzbestimmungen wurde kaum überwacht. Für KZ-Häftlinge schließlich galten keinerlei Schutzbestimmungen, vielmehr waren die Betriebe gehalten, besondere Schlechterstellungen insbesondere bei den Arbeitszeiten ggf. auch durch besondere organisatorische Maßnahmen zu gewährleisten. Die Außerkraftsetzung des Arbeitsschutzes machte Zwangsarbeiterinnen und Fremdarbeiterinnen im Gegensatz zu deutschen nicht-jüdischen Frauen nicht nur attraktiv für deutsche Unternehmen, sie bot auch die Möglichkeit, besonders unangenehme Arbeitsvorgänge oder unbeliebte Arbeitszeiten auf die „jüdische Schicht" abzuschieben - eine Möglichkeit, von der manche der „arischen" Kolleginnen Elisabeth Freunds in der Köpenicker Wäscherei gern, reichlich und ungestraft Gebrauch machten. 5 0 Die Einschränkung des allgemeinen Arbeitsschutzes und der spezifischen Frauenschutzbestimmungen veränderte zwar die bisher gültigen Regeln in den Werkhallen, aber sie hob die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auch für die jüdischen Zwangsarbeiterinnen nicht auf. Die Erfahrungen, die Gerda B. in den Jahren 1940 und 1941 bei Siemens machte, bieten ein anschauliches Beispiel für diesen Zusammenhang: In einer für Juden reservierten Werkhalle arbeiteten ausschließlich Frauen an Drehbänken. Manche der veralteten Drehbänke waren so groß und schwer, daß ihre Schlitten mit der Hüfte bewegt werden mußten. Ein solcher Arbeitsplatz wäre sonst allein schon deshalb, weil die Gewerbeaufsicht - ob zu Recht oder nicht - Unterleibsschäden und negative Auswirkungen auf die Gebärfähigkeit von Frauen daraus abgeleitet hätte, Männern vorbehalten gewesen. Die jüdischen 49 Interview mit Gerda B.; L B I , coli. Neumann; Herbert 1985, S. 190-229; Vögel 1989 und Vaupel 1990. 50 Vgl. Kap. 8, 12, H u n d 18.
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Zwangsarbeiterinnen erhielten nicht einmal die üblichen Lederschürzen; ihre ständigen schmerzhaften Blutergüsse in der Gegend der Beckenknochen nahm außer ihnen selbst niemand zur Kenntnis. Ihre Gebärfähigkeit galt im Kontext antijüdischer und rassistischer Bevölkerungspolitik nicht als schützenswert - im Gegenteil. Andererseits mußten diese Drehbänke häufig umgerüstet und vor allem die Stähle ausgewechselt werden. Dies jedoch durften nur die ausschließlich männlichen „arischen" Vorarbeiter und Einrichter machen, obwohl die Frauen viele dieser Arbeitsgänge nach wenigen Wochen selbst hätten erledigen und damit Wartezeiten einsparen können. 51 Der Arbeitseinsatz von zuletzt im September 1944 mehr als zwei Millionen als nicht schützenswert erachteter „fremdvölkischer" und jüdischer Frauen, der mit den jüdischen deutschen Zwangsarbeiterinnen 1939 begann, setzte die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung dort außer Kraft, wo sie durch frauenspezifische Schutzmaßnahmen bestimmt war. Dort, wo sie durch „Tradition", „Qualifikation", männlichen Status und männliche „Ehre" geprägt war, blieb sie erhalten. 52 Für die Ökonomin Elisabeth Freund war die nach „Rasse" differenzierende Berechnung der Löhne ein betriebswirtschaftlich besonders markantes und für die meisten ihrer Kolleginnen auch besonders hartes Instrument der Diskriminierung. Obwohl sie selbst mit ihrem Lohn, der auf das eheliche Sperrkonto floß und sich auf den monatlichen Freibetrag nicht auswirkte, nichts anfangen konnte, sah sie genau, daß die meisten der jüdischen Zwangsarbeiterinnen mit dem deutlich unter dem „arischen" Niveau liegenden Lohn, der noch dazu von besonderen Steuern dezimiert wurde, nicht existieren konnten. Sie wurden durch ihre Dienstverpflichtung vielmehr gezwungen, vorherige einträglichere Arbeiten nur noch nebenbei in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden auszuüben bzw. früher oder später ganz aufzugeben, weil sie diese extremen Mehrfachbelastungen nicht durchhalten konnten. 53 Die Abiturientin bei Siemens interessierte sich hingegen für die Lohnberechnung wenig, auch wenn sie sich später daran erinnerte, daß die Akkorde in ihrer Werkhalle ein Dauerthema waren. Ihr genügte das Kalkül, daß sie mehr als ihren Lohn aufwenden mußte, um den angesichts der schweren Arbeit höheren Bedarf an Lebensmitteln, Kleidung und Schuhwerk auf dem Schwarzmarkt decken und das Fahrgeld bezahlen zu können. Für sie war, wie sie es später ironisch auf den Punkt brachte, „Schraubendrehen ein zu teurer Sport". 54 Ein ähnliches Kalkül auf der Ebene der Alltagsorganisation war gerade auch für Frauen mit Familie von Bedeutung. Das geringe Lohneinkommen war zu wenig 51 Interview mit Gerda B. 52 Zur Doppeldeutigkeit der nationalsozialistischen Rede von der „Ehre der Arbeit" vgl. Lüdtke 1993, S. 3 3 1 - 3 3 5 . 53 Vgl. Kap. 5, 22 und 25. 54 Interview mit Gerda B.; zur Entlohnung jüdischer Arbeitskräfte vgl. Maier 1994, S. 57f. und S. 1 1 6 - 1 1 9 .
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nutze. Vielmehr bedeutete die Zwangsverpflichtung für die betroffenen Frauen und meist auch für ihre Familien oft einen gravierenden materiellen Nachteil, weil ihre Arbeitskraft im Haushalt unter den schikanösen Umständen der reduzierten Lebensmittelrationen, der beschränkten Einkaufszeiten und der geringen Möglichkeiten, beschädigte Kleidung und Textilien zu ersetzen, für das Uberlebensmanagement der Familie und angesichts der zahllosen vorgeschalteten Behördengänge für die Betreibung der Ausreise nützlicher gewesen wäre. Oktroyierte Arbeit, die zum täglichen Leben nicht einmal das Nötigste einbrachte und die die Uberlebensmöglichkeiten gegenüber den vorherigen Erwerbs- und Haushaltsarrangements noch weiter verringerte, konnte nur Zwangsarbeit genannt werden. Zwangsarbeit bedeutete indes für Juden 1939/40 nicht dasselbe wie 1944 und 1945; sie sah in einer Berliner Fabrik anders aus als im Steinbruch von Mauthausen. Die nach den im Oktober 1941 beginnenden und über das Jahr 1942 hin anhaltenden Deportationen noch in Berlin verbliebenen jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter wurden in der „Fabrikaktion" vom 27. Februar 1943 aus den Fabriken, wo sie sich gezwungenermaßen aufhielten, geschlossen in die Konzentrationslager deportiert. Für sie wurde die Fabrik zum Sammellager; die Zwangsarbeit, die ihnen ein weiteres Stück Freiheit geraubt hatte, entpuppte sich als der vorbereitende letzte Schritt zu ihrer Inhaftierung und Vernichtung. Anders sah es für die weiblichen und männlichen KZ-Häftlinge aus, die in den Lagern und Außenkommandos arbeiten mußten und die seit Mitte 1944 zum Beispiel von Auschwitz nach Deutschland und auch nach Berlin gebracht wurden, um in Fabriken, in Bergwerken und auf Baustellen zu arbeiten. Für diese „Sklavenarbeiter", wie Benjamin Ferencz sie bezeichnet, ging es längst nicht mehr um Freiheit, sondern nur noch um das Uberleben von einem Tag zum nächsten. Zwangsarbeit konnte unter diesen Umständen beides bedeuten: Untertage oder bei Bauarbeiten ohne Rücksicht auf die Witterung in kürzester Zeit zu Tode geschunden zu werden oder an einem halbwegs sauberen und geheizten Arbeitsplatz bessere Uberlebenschancen zu haben und vielleicht die Befreiung zu erleben. 55 Elisabeth Freund berichtet von der ersten Form der Zwangsarbeit, die ihr im Oktober 1941 um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre, wenn nicht ein einsichtsvoller Meister in der Petroleumabteilung bei Ehrich & Graetz ihren Entlassungschein unterschrieben und ein korrupter Gestapo-Beamter im letzten Moment die Schließung ihres Arbeitsbuches beim jüdischen Arbeitsamt veranlaßt hätte. 56
55 Ferencz 1981. 56 Vgl. Kap. 34 und 35.
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Akteure und Akteurinnen Zwangsarbeit war wie jede Form gesellschaftlicher Arbeit ein soziales Handlungsfeld - insbesondere dann, wenn sie in einer „normalen" Wäscherei oder Fabrik stattfand und nicht in der verkehrten Welt des Konzentrationslagers, w o sich die Frage nach Handlungs- und Verantwortungsmöglichkeiten vom SS-Wachpersonal über die zivilen Betriebsleiter, Meister, Vorarbeiter und Vorabeiterinnen bis hin zu den Funktionshäftlingen und den nach verschiedenen Kategorien hierarchisierten Häftlinge noch einmal ganz anders stellte. „Fast jeder Uberlebende hat seinen ,Zufall"', schreibt Ruth Klüger, „das Besondere, Spezifische, das ihn oder sie unvermutet am Leben erhalten hat." U n d sie rechnet ihr eigenes Uberleben der „freien, spontanen Tat" einer jungen Frau, Häftling wie sie selbst, zu, die als Schreiberin bei einer Selektion schnell entschlossen unter hohem eigenem Risiko der abgemagerten Dreizehnjährigen dazu verhalf, entgegen den geltenden Kriterien für einen Arbeitstransport ausgewählt zu werden, der sie aus Auschwitz herausbringen sollte. 57 Daß Elisabeth Freund der Zwangsarbeit und zusammen mit ihrem Ehemann der bereits beschlossenen Deportation entkommen konnte, hing ebenfalls von Zufällen ab, und auch diese Zufälle waren gebunden an die Einmischungen, Entscheidungen und Handlungen von anderen Menschen. Es war zufällig, daß Rudolf Freund auf der Straße den Bankier und früheren Geschäftsfreund traf. Aber es war dessen Entscheidung, sich bei der Gestapo f ü r das jüdische Ehepaar einzusetzen. 5 8 Es war nicht weniger zufällig, daß Elisabeth Freund zuletzt noch von der Schrauben- in die Petroleumabteilung versetzt wurde. Aber es war die Entscheidung und die Tat des neuen Meisters, entgegen den betrieblichen Interessen und anderslautenden Vorschriften des Arbeitsamtes die ihm gerade erst zugewiesene Zwangsarbeiterin zu entlassen und ihr in seinem Einflußbereich die Hindernisse auf dem Weg aus Deutschland heraus zu räumen. Auf der anderen Seite war es kurz zuvor die Entscheidung des anderen Meisters aus der Schraubenabteilung gewesen, dieser Zwangsarbeiterin die bescheidene Bitte abzuschlagen, wegen ihrer Ausreiseformalitäten nur eine Stunde früher nach Hause gehen zu dürfen. 5 9 Anders als die „reine Tat" der Schreiberin in Auschwitz, von der Ruth Klüger spricht, bargen die Handlungen des Meisters in der Petroleumabteilung oder des Bankiers in Berlin allenfalls ein geringes persönliches Risiko. Sie geschahen nicht
57 Klüger 1992, S. 131-135 (Zitate: S. 133 und 134). Ruth Klüger (geb. 1931 in Wien) wurde 1942 zunächst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Sie kam dann mit ihrer Mutter und einem etwas älteren Mädchen, das sich ihnen angeschlossen hatte, zum Zwangsarbeitseinsatz nach Christianstadt. Allen drei gelang es, sich im Februar 1945 vom Todesmarsch abzusetzen. Ruth Klüger ist heute Literaturwissenschaftlerin in Kalifornien. 58 Vgl. Kap. 34. 59 Vgl. Kap. 35.
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unter den Bedingungen eigener existenzieller Bedrohung und des Geworfenseins in schiere, unberechenbare Gewaltverhältnisse, die so oft den Einsatz für einen Mit-Häftling zum Verrat an einem anderen werden ließen und diejenigen, die sich dennoch zum Handeln entschlossen, in ein moralisches Dilemma verstrickten, das - unlösbar für sie - als Teil des Terrors von der SS konstruiert war. Primo Levi hat sich mit der „Grauzone" der „Privilegien" und „Kollaboration" im Konzentrationslager und der „Scham" der Uberlebenden in seinem letzten, ein Jahr vor seinem Tod erschienenen autobiographischen Text vom Uberleben in Auschwitz in beklemmenden Passagen und quälenden Selbstreflektionen auseinandergesetzt und die Handlungsmöglichkeiten unter diesen extremen Bedingungen diskutiert. 60 Im Fall von Elisabeth Freund jedoch setzten die Handlungen des Meisters oder des Bankiers nichts weiter voraus als ein durchschnittliches Maß an Einfühlung und die Bereitschaft, die bedrängte Situation des Gegenübers wahrzunehmen und ihm im Rahmen des eigenen Spielraums entgegenzukommen. Elisabeth Freund konnte nur von wenigen solcher Handlungen ihr gegenüber berichten, obwohl die Begegnungen mit anderen Menschen am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, beim Einkauf oder unterwegs das Material ihrer Erinnerung waren, aus dem sie ihren Bericht formte. Die „alte Hedwig", die seit über vierzig Jahren bei der Familie Freund als Hausangestellte tätig war und die ihre nur allzu berechtigte Angst überwand, um Elisabeth Freund zu helfen, wo sie nur konnte, blieb unter den sozialen Beziehungen zu „arischen" Bekannten und Freunden, die überhaupt noch Bestand hatten, eine ebenso herausragende wie singuläre Erscheinung, auch wenn sie insofern typisch war, als manche jüdische Familien mit ihren „arischen" Hausmädchen ähnliche Erfahrungen machten. 61 Elisabeth Freund beschrieb für sie unangenehme, verletzende, ja gefährliche Begegnungen ohne Haß, eher erschrocken als gekränkt über das, was ihr widerfuhr, und nach Erklärungen für Selbstbezogenheit, Anmaßung, Apathie und mangelndes Mitgefühl suchend. In der um Distanz bemühten Beschreibung und Deutung einer Vielzahl von Begegnungen mit nicht-jüdischen und jüdischen Menschen lag ihr Schwarzweißmalerei fern. Sie verschwieg nicht, wenn, was nur allzu nachvollziehbar war, Angehörige der existenziell verfolgten Minderheit in ihrer Bedrängnis die Nerven verloren. Aber die Gefühllosigkeit, Gemeinheit und Korruptheit, die unterschwellige und mehr als einmal auch offene Aggressivität, die sie beobachtete und die ihr persönlich von Angehörigen der vergleichsweise unbedrohten Mehrheit entgegengebracht wurden, waren ein Phänomen, das sie nicht nur als persönlichen Affront wahrnahm. Es beunruhigte sie auch intellektuell, gerade
60 Levi 1993, S. 33ff. und S. 70ff. Primo Levi ( 1 9 1 9 - 1 9 8 7 ) wuchs in Turin auf, studierte Chemie und wurde 1944 als Jude und Mitglied der Resistenza verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Er kehrte nach seiner Befreiung und einer anschließenden langen Odyssee nach Italien zurück, w o er bis 1977 in der chemischen Industrie und danach als Schriftsteller arbeitete. 61 Vgl. Kap. 19.
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weil sie spürte, daß Unwissenheit oder lückenhafte Bildung, die sie als Argumente besonders dann heranzog, wenn sie das perfide zwischenmenschliche Verhalten von einzelnen Frauen oder deren Identifikation mit dem NS-Regime verstehen wollte, dies nicht hinreichend erklärten. 62 Elisabeth Freund erwartete von ihren „arischen" ebensowenig wie von ihren jüdischen Bekannten, Nachbarn und Kollegen Heldentaten. Sie sah sich selbst nicht als Heldin und hatte Verständnis dafür, daß sich Menschen nicht wegen anderer oder im offenen Widerstand gegen das Regime selbst gefährden wollten. 63 Umso gravierender stellt es sich bei der Lektüre dar, daß in weit über einem Drittel der beschriebenen ganz alltäglichen Begegnungen mit nicht-jüdischen Deutschen Personen ohne Not oder „dienstlichen" Auftrag sich antijüdisch äußerten, sie oder ihre Kolleginnen als Jüdinnen diffamierten, sie um des eigenen Vorteils willen oder aus purer Lust an der Schikane diskriminierten oder sich ihnen gegenüber aggressiv verhielten. Elisabeth Freunds Begegnungen mit „arischen" Frauen waren zu einem noch höheren Anteil, nämlich über die Hälfte, von solchen negativen Erfahrungen geprägt als ihre Begegnungen mit Männern, die, sofern sie nicht als Vertreter der Verfolgungsbehörden agierten, ihr weit überwiegend Empathie entgegenbrachten oder sich zumindest neutral verhielten. Mit der Zwangsarbeit von jüdischen Männern und Frauen brach der Rassismus in den betrieblichen Alltag ein und zwang alle, die mit ihnen als Vorgesetzte oder Kollegen in Berührung kamen, sich dazu zu verhalten. Es entstanden vielfältige Beziehungsgeflechte, über die im Hinblick auf ihre hierarchische Struktur etwa zwischen „deutschen" Vorarbeitern und jüdischen oder „fremdvölkischen" Untergebenen schon einiges geschrieben wurde. 64 Die Bedeutung der sozialen Kategorie „Geschlecht" in diesen Beziehungen ist jedoch noch kaum erforscht. Allenfalls über die hierarchische Anordnung der Geschlechter im Arbeitsprozeß ist bekannt, daß - anders als in kleineren Betrieben oder in der Landwirtschaft in industriellen Betrieben „arische" Vorarbeiterinnen nur weibliche, „arische" Vorarbeiter aber sowohl männliche wie weibliche Untergebene aus der Gruppe der Zwangs- und Fremdarbeiter haben konnten. Dies war auch in der Großwäscherei und der Elektrofabrik, wo Elisabeth Freund arbeiten mußte, nicht anders. Elisabeth Freund schildert eine Fülle von Beobachtungen und Begegnungen mit „arischen" Kolleginnen und Kollegen, Vorarbeiterinnen und Vorarbeitern, Meistern und Chefs. Etwa dreißig Personen, davon ein gutes Drittel Frauen, hebt sie zumeist in einer einzelnen, manchmal auch in mehreren Szenen als Individuen hervor und charakterisiert sie in bestimmten Situationen durch konkretes Verhalten und allem Anschein nach gut in ihrer Erinnerung haftengebliebene, mehr oder weniger wörtlich zitierte Äußerungen.
62 Vgl. Kap. 11 und 16. 63 Vgl. Kap. 10. 64 Vgl. z.B. Lüdtke 1993, S. 329f.
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Unmittelbar abhängig war sie als Zwangsarbeiterin von ihren Vorarbeitern und Vorarbeiterinnen, die ihr die Regeln des Betriebsablaufs erklären oder sie ins Messer laufen lassen konnten, die ihr Hilfsmittel und Tips zu den einzelnen Arbeitsvorgängen geben oder verweigern konnten, die sich dafür einsetzen konnten, daß ihr unter Umständen ein besser für sie geeigneter Arbeitsplatz zugewiesen wurde, oder dies unterlassen konnten, die sie freundlich oder herablassend anlernen konnten und die sie bei Fehlern sachlich korrigieren oder dies zum Anlaß für wüste antijüdische Diffamierungen nehmen konnten. Drei von jenen vier Vorarbeiterinnen, mit denen sie es in der Wäscherei zu tun bekam, verhielten sich beleidigend und schikanierten die ihnen untergeordneten Frauen. Bei den Männern, die als Meister, Abteilungsleiter und Direktor die höheren Ränge der Betriebshierarchie einnahmen, war es dort nicht viel besser. Nur der Abteilungsleiter kam ihr zu Hilfe, während der Meister ihrem körperlichen Zusammenbruch spöttisch zusah und der Direktor sich immer neue Schikanen für die „Judenschicht" ausdachte. Vielleicht lag es an der zum Teil äußerst schmutzigen und entsprechend geringgeschätzten Arbeit, an den auch für die „arischen" Arbeiterinnen körperlich harten Arbeitsbedingungen, daß in diesem Frauenbetrieb der inhumane Führungsstil der männlichen Betriebsleitung bis hinunter zur Ebene der Vorarbeiterinnen das „Betriebsklima" vergiftete und sich auch noch auf die Haltung der „arischen" Arbeiterinnen auswirkte, die sich auf Kosten der „jüdischen Schicht" ein paar Arbeitserleichterungen verschafften, indem sie ihnen die Sortierung der hereinkommenden Schmutzwäsche von der Front überließen oder die je nach Jahreszeit angenehmere Schichtzeit für sich beanspruchten. Es konnte unter solchen Bedingungen kaum ausbleiben, daß es auch unter den Zwangsarbeiterinnen zu Streit und Mißgunst kam. Bei der Elektrofirma Ehrich & Graetz hatte Elisabeth Freund fast nur männliche Vorarbeiter, mit denen sie durchweg keine schlechten Erfahrungen machte. Der Personalchef behandelte sie mit einer selbstverständlichen Höflichkeit, die sie nach ihren vorhergehenden Erfahrungen nicht mehr erwartet hatte. Auch die Meister, mit denen sie zusammentraf, verhielten sich ihr gegenüber nicht nur so wie gegenüber allen anderen Arbeitern und Arbeiterinnen, sondern gaben auch des öfteren zu verstehen, daß sie mit den verordneten anti-jüdischen Diskriminierungen und Schlechterstellungen nicht übereinstimmten und versuchten hier und da, mildernd einzugreifen. Daß ein solches Verhalten auch in diesem Betrieb nicht selbstverständlich war, zeigt das gegenteilige Beispiel des Meisters in der Schraubenabteilung und eines weiteren, die sich besonders übel durch ungerechtfertigte Sabotagevorwürfe und andere denunziatorische Unterstellungen hervortaten. Solche Personen waren nicht nur als Individuen unangenehm, sie waren, insofern ihre Bösartigkeit von den politischen Verhältnissen oder direkt von Nazi-Funktionären im Betrieb gedeckt wurde, gefährlich - für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter allemal, aber auch für diejenigen „arischen" Kollegen, die ihre Sympathie oder Hilfsbereitschaft allzu offen zeigten. Von den „arischen" Arbeitern, mit denen Elisabeth Freund bei Ehrich & Graetz zusammenarbeitete oder
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die sie sonst im Betriebablauf traf, erfuhr sie mit einer Ausnahme durchweg ein freundliches, hilfsbereites und gelegentlich solidarisches Verhalten, während die wenigen Begegnungen mit „arischen" Frauen, zwei Vorarbeiterinnen, einer Vorzimmerdame und der Betriebskrankenschwester, eher zwiespältig bis negativ waren. Das in den meisten Abteilungen eher positive Betriebsklima, der zumeist sachliche Führungsstil, die harten, aber nicht unerträglichen Arbeitsbedingungen in der Elektrofabrik und die etwas besseren Verdienstmöglichkeiten mochten sich günstiger auf die Kooperationsbeziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Arbeiterinnen und Arbeitern ausgewirkt haben als in der Wäscherei. Gleichwohl hatten nicht-jüdische Arbeiter, Arbeiterinnen und Vorgesetzte in beiden Betrieben Spielräume im Umgang mit den Zwangsarbeiterinnen, die je nach Hierarchiestufe zwar unterschiedlich groß waren, die sie aber dennoch individuell gestalten konnten. Eine zusammenfassende Betrachtung dieser Gestaltungsspielräume kommt nicht daran vorbei, daß Elisabeth Freund über die Hälfte der Arbeitskontakte mit „arischen" Frauen, aber nur etwa ein Drittel der Arbeitskontakte mit „arischen" Männern als ausgeprochen negativ beschreibt. Explizit formulierte, daraufhin befragt, die ehemalige Siemens-Zwangsarbeiterin die auffällige geschlechtergebundene Diskrepanz im Verhalten von Vorarbeiterinnen und Vorarbeitern. Die Beziehungen zwischen den Zwangsarbeiterinnen und den „arischen" Vorarbeiterinnen, die in der kleineren, sich an ihre Werkhalle anschließenden Montagehalle herrschten, schildert Gerda B. als unerträglich und charakterisiert letztere als „aggressiv", „schikanös" und „niederträchtig", obwohl die Arbeit dort relativ sauber und leicht im Sitzen verrichtet werden konnte. Dagegen habe unmittelbar nebenan zwischen den jüdischen Frauen, die an den teilweise nur unter körperlichen Schmerzen zu bedienenden, schweren und veralteten Drehbänken eingesetzt waren, und ihren „arischen" Vorarbeitern durchweg bestes Einvernehmen, wechselseitige Solidarität und eine „erotisch aufgeladene" Atmosphäre geherrscht. 65 Zum Grad der Schwere der Arbeit, zum Betriebsklima und zum Führungsstil trat offensichtlich noch etwas hinzu, das die Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz prägte. Jüdische Zwangsarbeiterinnen waren offiziell als „minderwertig" stigmatisierte und in diesem Sinne andere Arbeitskräfte. Die Ansatzpunkte, sie tatsächlich als untergeordnete „andere" wahrzunehmen und sich zu ihnen entsprechend zu verhalten, waren für „arische" Männer und Frauen verschieden. Arbeiterinnen, die sowieso am Ende der Betriebshierarchie rangierten, und Vorarbeiterinnen, die sich nur ein kleines Stück darüber emporgearbeitet hatten, konnten sich über ihre Geschlechtsgenossinnen, für die es in der Fabrik kaum noch andere oder niedriger bewertete Arbeiten als für sie selbst gab, nur dann erheben, wenn sie sich die rassistische Stigmatisierung der Zwangsarbeiterinnen, die zumeist aus höher bewerteten Berufen 65 Interview mit Gerda B.
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wie Verkäuferin oder Kontoristin oder als Hausfrauen aus höheren sozialen Schichten kamen, als Jüdinnen zu eigen machten. Arbeiter und erst recht Vorarbeiter und Meister mußten Zwangsarbeiterinnen hingegen nicht als „minderwertige" Jüdinnen, sie konnten sie als Frauen sehen und sich ihnen gegenüber, wie es in der Betriebshierarchie selbstverständlich war, überlegen fühlen. Männer führten andere, höher bewertete Arbeiten aus, konnten sich auf ihr technisches Können im Umgang mit der Maschinerie berufen und im übrigen auf die eingeübten Interaktionsmuster betrieblicher und zugleich geschlechtsspezifischer Uber- und Unterordnung zurückgreifen. Dort, wo sie direkt davon betroffen waren, wie ein rassistisch verändertes Arbeitsregime die mit männlichem Prestige verbundene Fabrikordnung durcheinanderbrachte, indem es Zwangsarbeiterinnen sonst Männern vorbehaltene Arbeiten zuwies, äußerten sie des öfteren ihren Unmut und versuchten gelegentlich, durch „ritterliches" Verhalten, die Dinge wieder ins richtige (Geschlechter-) Verhältnis zu setzen. Die Art der Arbeit, der Führungsstil, die Betriebshierarchie und das Geschlecht als soziale Kategorie strukturierten die Handlungsspielräume der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Meister und der Chefs. Aber diese Strukturen beließen den „arischen" Männern und Frauen im Betrieb nicht nur ein Spektrum von Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit den jüdischen Kolleginnen und Kollegen, das, wie die Erlebnisse von Elisabeth Freund zeigen, unterschiedlich genutzt werden konnte. Vielmehr prägten die Art und Weise, wie dieses Spektrum genutzt wurde, die Summe der Handlungen auch diese Strukturen und damit das jeweilige Betriebsklima, das bisher noch selten so differenziert und konkret wie hier für die Köpenicker Großwäscherei und die Treptower Elektrofabrik beschrieben wurde. Mit ihren Beobachtungen von Begegnungen und Interaktionen lenkt Elisabeth Freund den Blick der Leserinnen und Leser auf das alltägliche soziale Handeln von nicht-jüdischen Frauen und Männern gegenüber rassistisch verfolgten Nachbarn und Arbeitskollegen. Sie fächert am anrührenden oder aber empörenden Beispiel einzelner Personen mögliche Verhaltensweisen auf, die von Solidarität und Mitgefühl über Desinteresse bis hin zur aktiven Teilhabe an den verbrecherischen Maßnahmen und Schikanen des nationalsozialistischen Terrorregimes reichten und die mit ihrer Schlagseite von Ignoranz, Kleinmütigkeit und Gemeinheit dazu beitrugen, daß das NS-Regime seine unmenschlichen Utopien realisieren konnte. Auf der anderen Seite dokumentiert der Bericht von Elisabeth Freund aber auch, daß die Handlungsspielräume für die jüdischen Arbeiterinnen minimal waren und sie umso mehr auf ein Minimum an Empathie und Entgegenkommen ihrer „arischen" Vorgesetzten, „Kolleginnen" und „Kollegen" angewiesen waren, um ihren unvergleichlich härteren Alltag durchstehen zu können. Vor allem aber verdeutlicht der Bericht, daß sich hinter der Geschichte der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, die mit der Zwangsarbeit jüdischer Deutscher begann und mit dem Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen aus ganz Europa endete, millionenfache Geschichten von individuellen Frauen und Männern verbergen. Die Rekon-
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struktion der Geschichte der Zwangsarbeit als Geschichte der Zwangsarbeit von individuellen Frauen und Männern könnte zu einem tieferen Verständnis des Geschehens führen als die derzeitige akademische Debatte über „Vernichtung durch Arbeit" versus „Arbeit statt Vernichtung". Diese Debatte reduziert mehr noch als die nationalsozialistische Arbeitspolitik selbst Männer und Frauen zu abstrakten „Arbeitskräften". Ein individualisierender geschlechterdifferenzierender Ansatz kann hingegen dazu beitragen, die Humanität der Opfer wieder zu erkennen, die, wenn sie überleben konnten, dann deshalb, weil sie als Frauen oder als Männer in Beziehung zu anderen treten und sich der versuchten Dehumanisierung durch das NS-Regime widersetzen konnten.
Editorische Notiz Bereits im Dezember 1971 hatte Elisabeth Freund ihren Bericht unter dem Titel „Zwangsarbeit für Hitler", dem sie noch eine vierseitige „Einführung" mit Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte des Textes und einen dreiseitigen „Ausklang" mit näheren Angaben zu den erwähnten Personen beifügte, als Leihgabe an das Archiv des Leo-Baeck-Instituts in New York geschickt. 66 Das Originalmanuskript ist nicht mehr vorhanden; Elisabeth Freund hatte es bereits in Havanna auf einer geliehenen Schreibmaschine geschrieben. Ihre Tochter Cläre fertigte später, als sich ihre Mutter um eine Publikation ihres Manuskriptes bemühte, mehrere Abschriften an. 67 Im Leo-Baeck-Institut befindet sich der Durchschlag einer maschinenschriftlichen Fassung sowie eine Fotokopie dieses Durchschlags mit kleineren Korrekturen der Autorin. Sie kürzte die wenigen stilistischen und inhaltlichen Wiederholungen. Selten vorkommende saloppe oder umgangssprachliche Bemerkungen, die etwa die beschriebene Person herabsetzen, Überheblichkeit ausdrücken oder in anderer Weise einen falschen Beigeschmack haben könnten, strich sie konsequent heraus. -Emphatische und gefühlsbetonte Ausdrücke ersetzte sie des öfteren durch schwächere oder neutrale Worte, pauschale Charakterisierungen wie „kleine Leute" durch individualisierende Beschreibungen von Einzelpersonen. Klassen- und milieuspezifische Verallgemeinerungen veränderte sie ebenso wie Formulierungen, die aus ihrem früheren großbürgerlichen Lebensstil und seinen sprachlichen Eigenheiten herrührten. Die Korrekturen zielten durchweg auf eine weitere Verknappung und Versachlichung des ohnehin knappen und präzisen Schreibstils. Die Buchveröffentlichung folgt ohne weitere Kürzungen oder Veränderungen dieser von der Autorin überarbeiteten Fassung, in der sie ihr dezidiertes Anliegen, sachlich und „glaubwürdig" über unbegreifliche Geschehnisse zu berichten, noch 66 LBI, coli. Freund, Schreiben von Fred Grubel an E. Freund vom 13. 12. 1971; Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben von E. Freund von September 1981. 67 Briefwechsel Freund/Sachse, Schreiben C. Freund vom 27. 7. 1995.
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deutlicher herausgearbeitet hat. 68 Die Einteilung der Kapitel folgt im wesentlichen den im Manuskript mit Trennlinien markierten Textabschnitten; die Numerierung wurde nachträglich vorgenommen; die Stichwörter im Inhaltsverzeichnis und in den Kopfzeilen wurden von der Herausgeberin formuliert. Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert, Abkürzungen und Ziffern um der leichteren Lesbarkeit willen weitgehend ausgeschrieben. Orthographie und Zeichensetzung wurden, wenn nötig, den heutigen Regeln angepaßt. Alle Unterstreichungen in der Druckfassung sind im Manuskript vorhanden, jedoch wurden nur die für das Verständnis notwendigen Unterstreichungen und sonstigen Hervorhebungen übernommen. Die später verfaßten Textstücke „Einführung" und „Ausklang" sind nicht aufgenommen worden; sie entsprechen zum Teil nicht dem Charakter der „frischen Erinnerungen" des Haupttextes, zum Teil sind sie nicht ganz ausformuliert. Die darin enthaltenen Informationen sind jedoch in die Einleitung und Anmerkungen der Herausgeberin eingeflossen. Für die Anmerkungen wurden, sofern nicht spezifische Nachweise angegeben werden, die üblichen Nachschlagewerke benutzt. In vielen Fällen konnte auf die knappen, aber kenntnisreichen Erläuterungen zurückgegriffen werden, mit denen Monika Richarz ihre umfangreiche Quellenedition von „Lebenszeugnissen deutscher Juden" versehen hat. 69 Vielen Kolleginnen und Kollegen, Archivarinnen und Archivaren, die ich im Verlauf der Editionsarbeiten um Rat fragen mußte, ganz besonders aber Monika Richarz und Wolf Gruner danke ich für wertvolle Hilfestellungen und fachliche Auskünfte. Einem langen Spaziergang mit Gudrun Schwarz im Park von Sanssouci verdanke ich Einsichten, die in meine Deutung der Erlebnisse von Elisabeth Freund eingeflossen sind. Frank Mecklenburg vom Leo-Baeck-Institut in New York danke ich für seine entgegenkommende Unterstützung bei der Vorbereitung der Edition und die sorgfältige und kritische Lektüre des Manuskripts, das von Bettina Voigt mit Engagement und Genauigkeit für die elektronische Textbearbeitung erfaßt wurde. Ursula Goebel, Geb. Freund, stellte dankenswerterweise rare und so wertvolle Familienfotos zur Verfügung. Vor allem aber danke ich Clare Freund, die mich bei meinen Recherchen unterstützte, Verwandte, Freunde und das eigene gute Gedächtnis zu Rate zog und meine vielen Fragen geduldig und ausführlich beantwortete.
68 Zitat: LBI, coli. Freund, „Ausklang", S. c. 69 Richarz 1989.
Text Zwangsarbeit Berlin 1941
Elisabeth Freund 1942.
1 „Wenn jetzt nicht sofort Ruhe ist, lasse ich Sie alle miteinander von der Gestapo abführen!" Die Stimme ist scharf und schneidend. Es wird auf einmal ganz still in dem großen Raum, niemand wagt mehr, ein Wort zu sagen. Wir warten jetzt schon seit zwei Stunden hier auf dem Berliner Arbeitsamt für Juden in der Fontanepromenade. 1 Heute sollen wir zur Arbeit eingestellt werden. Der Wartesaal für Frauen ist gedrängt voll. Wir sind alle unausgeschlafen und frieren. In den letzten beiden Nächten waren große Fliegerangriffe. Man sagt, das Opernhaus wäre abgebrannt und die Staatsbibliothek beschädigt. 2 Die Oper kann man wieder aufbauen - um die Schätze der Staatsbibliothek wäre es ein Jammer. Aber es hat ja keinen Sinn, darüber nachzudenken. Der Krieg zerstört noch ganz andere Werte. Vor zwei Tagen waren wir auch schon auf dem Arbeitsamt, zur ersten Meldung. In den letzten Märzwochen hatte eine ungeheuer große Zahl von Juden in Berlin die Aufforderung zur Zwangsarbeit bekommen. Alle Teilnehmer und Lehrer von den Ausbildungskursen der Jüdischen Gemeinde sind da, die Gestapo hatte die Kurse aufgehoben und hat außerdem dem Jüdischen Kulturbund jede weitere 1 Die „Zentrale Dienststelle f ü r Juden" der Berliner Arbeitsverwaltung wurde bereits am 23. Dezember 1938 in der Kreuzberger Fontanepromenade 15 eingerichtet; zum gleichen Zeitpunkt wurde den Juden untersagt, die übrigen Diensträume des Berliner A r beitsamtes zu betreten. Vorausgegangen war der geheime Erlaß des Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (RAVAV), Friedrich Syrup, vom 20. Dezember 1938, mit dem die Zusammenfassung von erwerbslos gemeldeten Juden vorangetrieben wurde; sie sollten in separaten „Judenkolonnen" vor allem zu Bauund Meliorationsarbeiten herangezogen und in Arbeitslagern untergebracht werden (vgl. Gruner 1992, S. 1 4 9 - 1 5 1 ; Roik-Bogner 1991, S. 252). 2 Es handelt sich um den Bombenangriff in der Nacht vom 9. zum 10. April 1941, bei dem die Berliner Staatsoper Unter den Linden bis auf die Grundmauern zerstört und die Staatsbibliothek beschädigt wurde (LAB: StA Rep. 0 1 - 0 2 , Nr. 698, Bericht der Hauptluftschutzstelle über den 62. Fliegeralarm vom 10. 4. 1 9 4 1 ) . Die Staatsoper wurde am 12. Dezember 1942 wiedereröffnet und 1944 erneut zerstört.
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Tätigkeit verboten. Alle Musiker, Sänger und Schauspieler von dort sind auch hier. 3 D e r Ton der Beamtinnen w a r vorgestern zu uns ja nicht gerade freundlich, aber es ist doch alles ganz reibungslos abgelaufen. W i r mußten Formulare ausfüllen, mit genauen Angaben über Vorbildung und fachliches Können. Man scheint also auf die Vorbildung Wert zu legen. Es wäre ja ein Glück, wenn w i r eine vernünftige Arbeit bekämen. Es soll überall ein solcher Mangel an Facharbeitern sein. Ich stehe mit einer Gruppe Fotografinnen zusammen. W i r kommen alle v o n einem Ausbildungskursus der Jüdischen Gemeinde. Daß ich bisher bei einem solchen Kursus gearbeitet habe, ist überhaupt der einzige Grund, weswegen ich nicht schon längst in der Fabrikarbeit bin. Denn ich habe schon v o r drei Monaten einmal, im Januar 1941, eine A u f f o r d e r u n g v o m Arbeitsamt bekommen, bin aber damals noch zunächst zurückgestellt worden. A l s nämlich 1938 den Juden in Deutschland jeder Besuch einer arischen Schule untersagt wurde, hatte die Jüdische Gemeinde in Berlin mit Genehmigung der zuständigen Regierungsstellen Kurse und Lehrwerkstätten eingerichtet. Sie w a ren in erster Linie f ü r Menschen bestimmt, die auswandern wollten. In diesen
3 Im Frühjahr 1941 hatte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RV), dem im Februar 1939 geschaffenen Zwangszusammenschluß aller „Rassejuden" im Sinne der Nürnberger Gesetze, angekündigt, daß die Kosten einer Gesamtumsiedlung der jüdischen Deutschen aus dem Vermögen der RV zu decken seien. Die RV war daraufhin zu umfangreichen Sparmaßnahmen gezwungen. Umschulungseinrichtungen und Eigenbetriebe, die zur Vorbereitung von jüdischen Menschen auf die Auswanderung eingerichtet worden waren, mußten geschlossen werden. Teilnehmer und Lehrpersonal mußten den Arbeitsämtern zugeführt werden; nur „nichtarbeitseinsatzfähige" Personen durften noch an den verbleibenden Umschulungskursen teilnehmen (Gruner 1992, S. 165f.). Die Jüdische Gemeinde Berlin war die größte in Deutschland. Als Gründungsdatum gilt der 21. Mai 1671, als Kurfürst Friedrich Wilhiem I. ein Edikt zur Aufnahme von österreichischen „Schutz-Juden" erließ. Die Jüdische Gemeinde vereinigte in Berlin ansässige Menschen unterschiedlicher liberaler und orthodoxer Glaubensrichtungen mit eigenen Synagogen. Ihr Gemeindezentrum war in der Oranienburger Straße, wo 1866 die Neue Synagoge eröffnet worden war und zahlreiche kulturelle und soziale Einrichtungen angesiedelt waren (vgl. den Bericht von Alexander Szanto in: Richarz 1989, S. 424-435; zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Berlin vgl. Jersch-Wenzel 1995 sowie die weiteren Beiträge in dem von Rürup 1995 herausgegebenen Sammelband). Daneben gab es die konservative Gemeinde „Adass Jisroel", die sich 1869 gegründet hatte, vgl. Offenberg (Hg.) 1986. Die Jüdische Gemeinde Berlin wurde am 28. Januar 1943 zwangsweise aufgelöst. Der Jüdische Kulturbund Berlin wurde im Juni 1933 gegründet als Veranstalter- und Besucherorganisation eines separaten jüdischen Kulturlebens. Mit Bünden anderer Städte 1935 vereint, veranstaltete er bis 1941 unter strenger Zensur des Reichspropagandaministeriums Theater- und Konzertaufführungen sowie Vortragsreihen (vgl. Richarz 1989, S. 596 sowie den Bericht von Kurt Baumann, ebda. S. 470-480; Geisel/Broder 1992).
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Kursen konnte man Sprachen lernen, ausländische Buchhaltung und Wirtschaftskunde. Es gab Näh-, Putz- und Plättkurse für Frauen, außerdem Lehrstätten für Tischlerei und Schlosserei, und es gab fotografische Kurse, wie ich sie besucht hatte. Es ist ein Jammer, daß wir die Fotokurse aufgeben müssen. Unser Lehrer war ausgezeichnet, und es ist uns allen sehr ernst mit der Arbeit gewesen. Ein paar von meinen Mitschülern und ich auch sind jetzt hoffentlich bald „dran". Wir müssen doch jetzt endlich in den nächsten Wochen die Visa für die USA bekommen, auf die wir nun schon länger als zwei Jahre warten, und wir wissen ganz genau, in Amerika kommen wir nur weiter, wenn wir wirklich etwas können. „Ob man uns Fotografinnen in unserem Fach arbeiten lassen wird?" Meine Bekannte, mit der ich zusammenstehe, sieht mich zweifelnd an. „Glauben Sie, daß die Fotowerkstatt uns rechtzeitig hier angefordert haben wird?" Ich bin fest davon überzeugt. Wir beide waren nämlich vor drei Tagen zusammen in einem großen Fotobetrieb. Der uns bekannte Geschäftsinhaber will uns gern beschäftigen, alle seine Schwierigkeiten wären behoben, wenn er nur ein paar Arbeitskräfte mehr bekäme. Aber er hat uns auch gleich auf alle Hindernisse aufmerksam gemacht, die die Arbeitsfront ihm in den Weg legt. Das Zusammenarbeiten von Juden und Ariern wird meistens nicht erlaubt. 4 Ja, wenn er den ganzen Betrieb auf Juden umstellen könnte! Aber sein Betrieb ist Wehrbetrieb, d.h. er arbeitet für Wehraufträge, und das wird Schwierigkeiten machen und außerdem ihm vielleicht bei einem Teil seiner anderen Kunden schaden. Und dann müßte er doch besondere Toiletten für Juden einrichten, seine Werkstatt verfügt über je einen Waschraum für Damen und Herren. Wir hatten nicht gewußt, daß diese Sondertoilette für Juden eine Hauptbedingung der Arbeitsfront 5 bei der Beschäftigung jüdischer Arbeiter ist. Der Mann war sehr nett und freundlich und hat uns mehr als einmal versichert, wie sehr er dieses ganze Vorgehen gegen die 4 Der „geschlossene Arbeitseinsatz" wurde zuerst am 20. 12. 1938 für die erwerbslos gemeldeten und sozial unterstützten Juden im Reichsgebiet angeordnet. Ende April/Anfang Mai 1940 wurden darüber hinaus alle jüdischen Männer zwischen 18 und 55 Jahren und alle jüdischen Frauen zwischen 18 und 50 Jahren aufgefordert, sich bei der zuständigen Stelle der Jüdischen Gemeinde für den Arbeitseinsatz registrieren zu lassen. A b Oktober 1940 rekrutierten die Arbeitsämter in Berlin und im Reich in steigendem Umfang Juden zum Arbeitseinsatz. Selbst Kinder unter 16 Jahren wurden ohne Beachtung der Arbeitschutzbestimmungen eingesetzt. Vgl. Gruner 1995, S. 241 und S. 2 4 3 - 2 4 5 ; Maier 1994, S. 2 6 - 3 3 5 Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) wurde am 10. Mai 1933 als Nachfolgeorganisation der zerschlagenen Gewerkschaften, deren Vermögen sie sich einverleibte, gegründet. Sie war die größte Massenorganisation des „Dritten Reiches" und erfaßte alle „schaffenden Volksgenossen" als Einzelmitglieder ohne Unterschied des Berufes oder des sozialen Status einschließlich der Unternehmer (vgl. Siegel 1988). Freilich schloß sie jüdische und nicht-deutsche Erwerbstätige aus; diese Gruppen zählten weder zu den „Volksgenossen" noch zu den „Gefolgschaftsmitgliedern" im Betrieb.
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Juden mißbilligt. Es nützt uns bloß nichts. Aber daß er rechtzeitig hier beim Arbeitsamt sich um eine Überweisung von Arbeitskräften bemüht hat, das liegt schon in seinem eigenen Interesse. Ich habe noch einen anderen Grund, weswegen ich zuversichtlich bin. Mein Mann und ich hatten hin und her überlegt, was man etwa machen könnte, als ich die Aufforderung bekam. Es soll auch Möglichkeiten geben, sich überhaupt um die Zwangsarbeit herumzudrücken. Irgend jemand bekommt Geld, und dann verschwinden die Akten im Arbeitsamt. Aber so etwas wollten wir nicht machen. So etwas glückt nur selten und dann bestimmt nicht Leuten wie uns. Dagegen haben wir aus früheren Zeiten noch Verbindungen zu einflußreichen Persönlichkeiten. Es sitzen ja schließlich in den maßgebenden Stellen nicht nur junge Leute, die als Hauptbegabung das Parteiabzeichen führen, es gibt auch noch die gediegenen Sachverständigen aus der Vor-Nazi-Zeit, die gehalten werden, weil man sie nicht entbehren kann. Wir haben bisher nur ungern von diesen Verbindungen Gebrauch gemacht. Es hat doch keinen Sinn, diese Menschen mit unseren Schwierigkeiten zu behelligen. Wenn jemand anzeigt, daß ein Beamter mit Juden zusammenkommt, dann kann er Amt und Stellung verlieren. Wir haben uns immer zum Grundsatz gemacht, sie sollen zu uns kommen, wenn sie noch den Mut dazu aufbringen, und wir sind froh, daß es immer noch Menschen gibt, die uns nicht im Stich lassen. Deutschland besteht nicht nur aus Hitlerleuten. Es sind viele im Gegensatz zu der Partei und sind selbst in schweren Gewissenskonflikten, als Katholiken, als ehemalige Logenbrüder oder als Mitglieder der Bekennenden Kirche. 6 Sie mißbilligen die Grundsätze der Partei und können doch nicht anders als mitmachen. Der Mann, den wir aufgesucht haben, war ehrlich und tief erschüttert, als wir ihm erzählten, weswegen wir seine Hilfe brauchten. Er sitzt in einer hohen Regie-
6 Freimaurerlogen wurden von den Nationalsozialisten v o n Anfang an verfolgt wegen ihrer ursprünglich aufklärerisch-humanitären Ideale und ihrer internationalen Verbindungen. Nachdem sie sich in „Deutsch-Christlicher Orden" umbenannt und die wenigen Juden aus ihren Reihen ausgeschlossen hatten, wurden sie dennoch im September 1935 verboten. Männern, die weiterhin freimaurerische Verbindungen unterhielten, drohte die Einweisung ins Konzentrationslager, vgl. Zentner/ Bedürftig (Hg.), 1985, S. 191. Die Bekennende Kirche gründete sich im Mai 1934 auf der Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen mit der Barmer Theologischen Erklärung gegen die Kirchenpartei der Deutschen Christen, die seit 1933 mit Unterstützung der N S D A P die Macht in großen Teilen der evangelischen Kirche erlangt hatte. Eines ihrer Zentren war die A n n e n - G e meinde in Berlin-Dahlem. D o r t konfirmierte im Januar 1939 Pfarrer Helmut Gollwitzer die beiden Töchter Elisabeth Freunds, unmittelbar bevor sie nach England auswanderten, im Rahmen eines besonderen Abendgottesdienstes (Briefwechsel Freund/ Richarz, Schreiben von E. Freund v o m 1.5.1981). Zum Widerstand in den christlichen Kirchen vgl. van Norden 1994 und Hürten 1994.
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rungsstelle (Staatssekretär) und wußte von nichts, was uns betrifft! Das ist typisch. Das ganze Vorgehen gegen die Juden ist eine Sache der Gestapo. 7 In deutschen Zeitungen stehen seit Jahren nur noch Hetzartikel gegen „die Juden" und über alle „Feindseligkeiten des Weltjudentums gegen das hilflose deutsche Volk". Aber über das, was in Deutschland selbst mit den deutschen Juden geschieht, darüber bringt eine Zeitung wie die Deutsche Allgemeine 8 nach Möglichkeit nur noch klein gedruckte Berichte im Wirtschaftsteil: „Verordnungen über die Entjudung der Deutschen Wirtschaft" oder „die Beschlagnahme des jüdischen Vermögens", alles ganz sachlich und mit vielen Paragraphen. Wahrscheinlich macht man das aus Zartgefühl, um den großen Leserkreis dieser Zeitung aus Schichten, die die deutsche Bildung und Kultur umfassen, mit einem so unerfreulichen Thema nicht zu verstimmen. Unser Bekannter wußte nicht einmal, daß die Juden in Berlin nur zwischen vier und fünf Uhr in den Geschäften einkaufen können, was sich bei der Lebensmittelknappheit immer katastrophaler auswirkt. Das hätte er doch eigentlich sehen müssen, denn von jeder Ladentür grinsen einen doch die Schilder mit diesem Verbot an. Aber er entschuldigte sich mit einem trüben Lächeln: „Wissen Sie, diese ganze Judenfrage ist so beschämend und schrecklich, es bleibt uns nur die Vogel-Strauß-Politik, gar nicht mehr hinzusehen. Man kann ja doch nichts bessern!" Er hat uns fest versprochen, sofort mit einer maßgebenden Stelle zu besprechen, daß von dem jüdischen Arbeitsamt Facharbeiter nicht für ungelernte Arbeit vermittelt werden dürfen. Auch er weiß genau, daß der Mangel an qualifizierten Arbeitern in Deutschland unbeschreiblich ist. Das müßten auch die Arbeitsämter wissen. Allerdings, wenn dieses Arbeitsamt für Juden mit Gestapo-Leuten besetzt ist, dann stehen die Aussichten schlecht.
7 Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ging aus der preußischen Politischen Polizei und dem 1933 von Hermann Göring ( 1 8 9 3 - 1 9 4 6 ) als preußischem Innenminister geschaffenen Geheimen Staatspolizeiamt hervor. Sie war ein Organ der Sicherheitspolizei, die von Reinhard Heydricb ( 1 9 0 4 - 1 9 4 2 in Prag ermordet) geleitet wurde und neben der O r d nungspolizei die zweite Säule der polizeilichen Organisation bildete. Die Gestapo war zuständig f ü r „Gegnerbekämpfung"; sie konnte ohne Einschaltung der Justiz Personen zeitlich unbegrenzt inhaftieren und in die Konzentrationslager einweisen. Im September 1939 wurde die Sicherheitspolizei mit dem Sicherheitsdienst der SS (SD) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unter Führung von Heinrich Himmler (1900-1945 Selbstmord) zusammengefaßt. Damit waren die Polizeiorgane des Staates und der Partei zusammengeführt. Maßgeblicher Chef der Sicherheitsorgane im Reich war der formal Himmler nachgeordnete Heydrich. Die Gestapo bildete fortan das A m t IV des R S H A unter Leitung von Heinrich Müller ( 1 9 0 0 - 1 9 4 5 verschollen). In diesem A m t war Adolf Eichmann ( 1 9 0 0 - 1 9 6 2 hingerichtet in Ramie bei Tel Aviv) zuständig für „Judenangelegenheiten und Räumung". Vgl. Tuchel/Schattenfroh 1987. 8 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe G r o ß Berlin, erschienen bis 22. 4. 1945.
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Die Fülle in den zwei Warteräumen, für Männer und Frauen getrennt, ist so groß, daß man kaum Platz zum Stehen hat. Es kommen immer mehr Menschen zur Tür herein. Man ahnt gar nicht, daß es noch soviel arbeitsfähige Juden in Berlin gibt. Aber sind sie denn wirklich arbeitsfähig? In diesem Raum sind soviel ganz alte Leute dabei, man scheint ja bis zu siebzig Jahren hinaufgegangen zu sein. 9 Was will man denn bloß mit diesen alten Menschen? Ich entdecke eine mir bekannte Dame von 68 Jahren. Sie lebt mit einer noch älteren Freundin zusammen, der sie den Haushalt besorgt. Sie hat ein Attest ihres Arztes mit. Hoffentlich wird das etwas nützen, obwohl es von einem jüdischen Arzt ist, der sich jetzt nur noch „Krankenbehandler" nennen und nur noch Juden behandeln darf. 10 Ich selbst habe auch ein ärztliches Attest mit, denn ich hatte eben eine schwere Grippe und bin noch in Behandlung. Aber ich werde wohl dieses Attest nicht benützen. Ich will bei meiner Fotografengruppe bleiben. Wer weiß, ob nicht in vierzehn Tagen länger wird man mich auf das Attest hin keinesfalls zurückstellen - die Aussichten noch viel schlechter sind. Vielleicht werden wir wirklich als Fotografen arbeiten können. Ich kann mir doch auch nicht denken, daß alles so schlimm werden wird. Schließlich, wenn man nicht von vornherein widerwillig an eine Arbeit herangeht, dann muß es doch zu schaffen sein. Und wenn man unsere Arbeitskraft braucht, dann muß doch auch vernünftig damit umgegangen werden. Wir haben schon soviel über diese Fabrikarbeit gehört. Ein junger Freund von uns arbeitet als Bauarbeiter bei der Reichsautobahn. Eigentlich ist er Dozent für russische und slavische Sprachen. Mit diesen seltenen Spezialkenntnissen hätte er allerdings auch woanders verwendet werden können. Eine Bekannte hat Arbeit in einer Fabrik, wo Fallschirme geklebt werden. Ein ehemaliger Amtsgerichtsrat war bei Siemens Lackierer, dort soll es ganz erträglich sein, bei Zeiss-Ikon ebenfalls. Die Berichte lauten ganz verschieden. Ist die Arbeit wirklich so schwer, wie manchmal erzählt wird, oder sind die Geschichten von den netten Vorarbeitern und der angenehmen Arbeit mehr ein Wunschbild, um an die unangenehme Wahrheit nicht heranzukommen? Wir warten. Auf einmal hören wir, daß bereits die ersten Gruppen der Männer zusammengestellt sind und an die neuen Arbeitsplätze abgehen. Die Künstler
9 Die Verordnung über den Arbeitsschutz vom 12. 12. 1939 galt nicht für Juden. Auch die anderen arbeitsrechtlichen Bestimungen wurden für Juden nach und nach außer Kraft gesetzt, wobei die sonderrechtlichen Bestimmungen in der Regel der Praxis hinterherhinkten; die Einhaltung der jeweils noch geltenden Schutzbestimmungen wurde kaum überwacht. Zum Teil gingen die lokalen Verwaltungsbeamten bei der Heranziehung der jüdischen Zwangsarbeiter noch rigider vor, als die jeweils geltenden Erlasse es verfügten. Vgl. Majer 1981, S. 252f. und S. 2 5 9 - 2 6 1 ; Maier 1994, S. 1 1 6 - 1 4 0 . 10 Mit der „Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz" vom 25. 7. 1938 wurde jüdischen Ärzten die Approbation entzogen; sie mußten sich fortan „Krankenbehandler" nennen. Bereits am 22. April 1933 war ihnen die Kassenzulassung entzogen worden.
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v o m Kulturbund k o m m e n vorwiegend zu den Aufräumungsarbeiten an dem zerstörten Opernhaus, weil „sie sich für künstlerische Arbeiten besonders eignen", wie ihnen spöttisch gesagt wird. D a s sieht nicht gut aus. Welch ein Glück, daß nicht auch mein Mann die Vorladung b e k o m m e n hat - solcher Arbeit wäre er nicht gewachsen. N a m e n werden aufgerufen. M a n erhält sein Arbeitsbuch und wird verschiedenen G r u p p e n zugeteilt. Ich k o m m e zu einer großen G r u p p e von Frauen. Allein, ohne meine Bekannten, die ich überhaupt nicht mehr sehe. Wir sollten doch als F o t o grafen vermittelt werden! E s müssen doch Anforderungen für uns vorliegen! D i e Beamtin weiß nichts davon. D a s kann nicht stimmen! Jetzt entdeckt eine Frau, daß sie in ihrem Arbeitsbuch als „ungelernte Arbeiterin" eingetragen ist. Sie ist gelernte Schneiderin. Alle Arbeitsbücher haben denselben Vermerk. Wozu war denn dann bloß dieses Theater mit dem Ausfüllen der Fragebogen? Wenn wir alle „ungelernte Arbeiter" sind, dann ist das Vermitteln nach dem Fachwissen sehr schnell zu machen! D i e Frauen werden ganz nervös und aufgeregt; einzelne versuchen, den Beamtinnen ihre Wünsche klar zu machen. „Wenn wir bloß nicht zur Pertrix k o m m e n " , flüstert mir eine Nachbarin zu, „das ist das Schlimmste, was es gibt. D o r t machen sie Batterien. 1 1 D a s ist eine furchtbare Arbeit, mit Blei oder so etwas. D i e schlimmsten Abteilungen sind nur mit J u d e n besetzt. D e r Schmutz frißt sich da so in einen hinein, daß man nie mehr sauber wird, die ganze H a u t wird schwarz, die Wäsche, die Kleidung, einfach alles. U n d die Juden da bekommen weder Seife z u m Waschen noch die Milch, die arische Arbeiter überall bei Bleiarbeiten b e k o m m e n müssen. D a s sind ja Verbrecher hier!" „Seien Sie doch bloß still! Wenn uns jemand h ö r t ! " Zwei Beamte k o m m e n herein. D e r eine, ein kleiner, elegant aussehender Mensch, ist derselbe, der vorhin mit der G e s t a p o drohte. E r läßt unsere G r u p p e in eine Ecke der Halle treten. E s soll Herr Eschhaus sein, der gefürchtete oberste Leiter des Berliner Arbeitsamtes für Juden. 1 2 11 Pertrix - Chemische Fabrik A G , Berlin-Oberschöneweide. 12 D e r Regierungsinspektor Alfred Eschhaus ( 1 9 0 3 - 1 9 4 5 ) wird auch in anderen Berichten von überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern als Sadist geschildert, der schnell wegen angeblicher „ A r b e i t s s a b o t a g e " die G e s t a p o einschaltete und eine D e p o r t a t i o n in ein Konzentrationslager veranlaßte, vgl. Maier 1994, S. 112-114 und R o i k - B o g n e r 1991, S. 260. Eschhaus war gelernter Handlungsgehilfe f ü r D a m e n k o n fektion und arbeitete seit 1933 als Arbeitsvermittler in der F a c h g r u p p e D a m e n k o n f e k t i o n des Arbeitsamtes. Er trat 1933 der S A und 1937 der N S D A P bei. 1939 übernahm er die Leitung der „Zentralstelle für J u d e n " des Arbeitsamtes. Seine „starke Initiative" w u r d e positiv vermerkt. A n f a n g 1942 wurde er verbeamtet, aber bereits vier M o n a t e später verhaftet und E n d e 1942 w e g e n K r i e g s Wirtschaftsverbrechen, aktiver und passiver Beamtenbestechung verurteilt: Er hatte eine Schneiderei bevorzugt mit jüdischen Arbeitskräften versorgt und in einer Art K o m p e n s a t i o n s g e s c h ä f t Wintermäntel verschoben. Er w u r d e aus d e m Beamtenverhältnis entlassen und aus der Partei ausgeschlossen. Im M ä r z
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„Meine Damen, Sie kommen jetzt in eine Fabrik und haben dort zu arbeiten. Sie können froh sein, daß Sie endlich mal in Ihrem Leben eine vernünftige, zweckmäßige Arbeit kennenlernen werden. Sie wissen ja wohl, wieviel Sie damit vor denen voraushaben, die sich unterdessen in Polen das Arbeiten angewöhnen... Das Wichtigste, was Sie sich zu merken haben, ist das Wort,Arbeits-Sabotage'. Wann macht man Arbeits-Sabotage? Wenn man sich vor der Arbeit drückt, wenn man schlecht und ungenügend arbeitet usw. Ich habe angeordnet, daß mir jeder Fall solcher Arbeits-Sabotage persönlich gemeldet wird. Und Sie sollen mal sehen, wie ich mich dafür interessieren werde! Ich werde höchstpersönlich kommen, um mich mit Ihnen darüber zu unterhalten, aber ich werde auch gleich zwei Leute von der Gestapo mitbringen, die mit den Betreffenden in ein KZ weiterfahren werden... Ja, und dann die Sache mit Ihren vielen Krankheiten! Bekanntlich sind immer alle Juden todkrank und gar nicht zur Arbeit geeignet. Und sie haben ja auch ihre netten Herren Krankenbehandler, die sie darin noch besonders bestärken. Das sind alles Kavaliere, die Herren Krankenbehandler, die schreiben Atteste und machen Wunder was mit der Gesundheit ihrer lieben Pflegebefohlenen her. Damit ist jetzt Schluß! Ich bin stolz darauf, daß ich schon drei dieser würdigen Leute hinter Schloß und Riegel gebracht habe. Es wird mir das größte Vergnügen machen, diese Gesellschaft im KZ noch ein bißchen zu vergrößern!" Man kann das gar nicht mehr mitanhören. So ein Sadist, und was hat er für eine glatte, ölige Art. Was für eine Gemeinheit ist das, sich dermaßen gegen wehrlose Frauen auszutoben, da muß ja eine enorme Tapferkeit dazu gehören! Endlich ist Eschhaus mit seiner Rede fertig, er hat uns noch ironisch viel Vergnügen gewünscht. Jetzt spricht ein anderer Mann. Er muß von der Firma sein, der wir zugeteilt sind. Wir kommen also in die Waschanstalt in Spindlersfeld 13 , wir sollen jetzt dorthin fahren und vor dem Stationsgebäude der Stadtbahn auf ihn warten. Er käme gleich nach. Die ganze Gruppe Frauen setzt sich in Bewegung. Ich sehe mich um. Kein einziges bekanntes Gesicht darunter. Fast nur ältere Frauen über vierzig, manche müssen über sechzig sein, nur ganz wenig jüngere. Es sind ungefähr siebzig bis achtzig Menschen. Die Fahrt ist endlos. Natürlich, Eschhaus hatte doch auch so etwas gesagt, daß er mit besonderer Vorliebe jüdische Arbeiter so vermittle, daß sie einen recht weiten Weg hätten. Meine Nachbarin ist genau so allein wie ich, sie kennt auch niemanden, und sie ist ebenso empört und niedergeschlagen über das, was wir soeben gehört haben. Sie 1943 wurde er zum Wehrdienst eingezogen und fiel in den letzten Kriegsmonaten. Vgl. B A Außenstelle Berlin-Zehlendorf: O P G Eschhaus, Alfred. 13 Aus der Niederlassung der Wasch-Anstalt Spindler an der Oberspree entwickelte sich seit Mitte der 1870er Jahre der Ortsteil Spindlersfeld bei Köpenick, w o sich Wäschereibetriebe, Textilfabriken und Färbereien ansiedelten, vgl. Erbe 1987, S. 730. Die Fa. W. Spindler gehörte seit 1922 zu Schering (zu den Besitzverhältnissen s.o. Einleitung, A n m . 14).
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S-Bahnhof Spindlersfeld, a u f g e n o m m e n 1995.
hat große Sorgen. Früher war sie Prokuristin in einem großen Büro, seit 1933 hat sie als Auswanderungsberaterin gearbeitet und dabei gut verdient. Sie hat hauptsächlich alten Leuten, die zu ihren Kindern ins Ausland wollten, bei den unendlichen Schwierigkeiten und Laufereien der Auswanderung geholfen, und aus ihrer ruhigen und gescheiten Art zu reden, kann ich mir gut vorstellen, wie ausgezeichnet sie das gemacht haben muß. Sie hat sich und ihre alte Mutter vollkommen erhalten und fürchtet, daß es damit zu Ende sein wird.
Wir müssen mehr als dreiviertel Stunden vor dem Bahnhof warten. Es ist ein kalter Apriltag. Wir frieren vor Kälte und Abspannung. Endlich kommt der Fabrikangestellte, der auf dem Arbeitsamt zu uns gesprochen hatte. Er entschuldigt sich, er wäre so lange aufgehalten worden. Es ist rührend, wie wir glücklich aufatmen, daß er nicht unfreundlich zu uns spricht, sondern so, wie es eigentlich für jeden Mann, selbst den einfachsten, selbstverständlich sein müßte. Man hört plötzlich wieder optimistische Ansichten. „Seien wir doch froh, daß wir nicht zu Pertrix gekommen sind. In einer Wäscherei muß es doch wenigstens sauber sein."
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Und ich selber denke mir, wie erleichtert ich bin, daß ich nicht in eine Munitionsfabrik muß. Das wäre mir das Schrecklichste gewesen: Granaten zu drehen oder vielleicht Fallschirme zu kleben, durch die meine drei Kinder in England bedroht werden könnten. Wir kommen in einen Aufenthaltsraum, anscheinend ein Klubzimmer der Arbeiter. Große Bilder von Hitler, Göring und Ley und Hakenkreuzfahnen. 1 4 Unsere Personalien werden aufgenommen. Wieder wird nach der Vorbildung gefragt. Gibt es denn hier keinen Fabrikarzt und keine ärztliche Untersuchung vor der Einstellung? Anscheinend nicht. Ein Teil der Frauen ist sehr enttäuscht. Der Frau neben mir wird schlecht und ich bekomme den Auftrag, mit ihr an die frische Luft zu gehen, wo sie sich wieder erholt. Sie ist aus guten Verhältnissen, 63 Jahre alt. „Wieso kommen Sie denn hierher, waren Sie denn auch in einem Ausbildungskursus?" Sie ist vollkommen im unklaren, wieso sie die Vorladung zum Arbeitsamt bekommen hat. Vielleicht eine Denunziation? Sie hat ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren, er ist als Offizier an der Front gefallen. Im letzten Kriege sind ja viele Juden Offiziere geworden, und mehr als 12.000 deutsche Juden sind gefallen. Sie ist mit drei kleinen Söhnen allein zurückgeblieben und hat bis jetzt immer noch eine Hinterbliebenenpension bekommen. Und wegen dieser Pension ist ihr vor kurzem ein Fragebogen zugegangen. Damit kann es zusammenhängen. Die Versorgungsbehörde wird sie sicher dem Arbeitsamt gemeldet haben. „Und wo sind Ihre Söhne, sind die noch hier?" Der eine ist in Holland, der andere in Palästina, sie hat seit Kriegsanfang nur zweimal von ihm gehört. Der dritte war in Paris, von dort ist er beim Einmarsch der Deutschen geflüchtet. Sie hat seitdem keine Nachrichten mehr von ihm und glaubt, daß er in Afrika bei der Fremdenlegion ist. Jetzt lebt sie hier ganz allein. Sie wollte den Söhnen nicht eher nachgehen, als bis sie festen Fuß gefaßt hätten, sie wollte ihnen doch nicht zur Last fallen. Und schließlich hat sie ja bis jetzt immer noch hier leben können mit der Hinterbliebenenrente und dem kleinen Vermögen, das sie hat. Es ist das Schicksal der vielen einsamen jüdischen Eltern in Deutschland. Allein, mit spärlichen Nachrichten. Man darf gar nicht daran denken. Ich bin sowieso 14 Adolf Hitler (1889-1945 Selbstmord im Berliner „Führerbunker") seit 1921 Führer der NSDAP, seit 1933 Reichkanzler und seit 1934 als „Führer und Reichskanzler" Deutschlands Regierungs- und Staatschef und oberster Befehlshaber der Wehrmacht. Hermann Göring ( 1 8 9 3 - 1 9 4 6 ) , seit 1933 preußischer Ministerpräsident, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, seit 1940 „Reichsmarschall". E r betrieb zusammen mit Himmler und Heydrich den Aufbau der Gestapo. A m 31. 7. 1941 wies er Heydrich an, die „Vorbereitungen für eine Gesamtlösung der Judenfrage" zu treffen. E r beging nach seiner Verurteilung in Nürnberg unmittelbar vor der angesetzten Hinrichtung Selbstmord. Robert Ley ( 1 8 9 0 - 1 9 4 5 ) , liquidierte im Mai 1933 die deutschen Gewerkschaften und war seitdem Leiter der Deutschen Arbeitsfront. E r beging am 25. 10. 1945 in .Nürnberg Selbstmord.
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sehr unruhig. Unsere letzten Nachrichten von unseren Kindern in England sind schon viele Wochen alt. 15 Es kommt wieder mal keine Post aus USA, wo meine Schwester lebt, die mit den Kindern in Verbindung steht. Ich selbst kann ihnen nicht schreiben, England ist feindliches Ausland. Und dabei sind die Heeresberichte ganz voll von Nachrichten über die Angriffe der Luftwaffe am Themsebogen. Dort liegt die Schule meiner beiden Töchter. Unser dreizehnjähriger Junge ist mit seiner Schule in einem Ort an der Südküste, ich weiß nicht einmal wo. Man darf nicht daran denken. Gehen wir lieber zu den anderen hinein! Wir kommen gerade zurecht. Die Personenaufnahme ist beendet, und der Mann, der uns vom Arbeitsamt brachte, hält eine Ansprache. Er stellt sich als der Parteivertreter in diesem Betriebe vor. Die Firma hat bereits eine jüdische Abteilung, und nun wird eine zweite eingerichtet. Wir werden in der Wäscherei in Spätschicht von mittags bis abends um halb zwölf arbeiten. Auch er erklärt uns, daß wir froh sein sollten, in eine Wäscherei gekommen zu sein. Die Arbeit wäre sauber und ungefährlich. „Arbeiten Sie ordentlich und gewissenhaft. Die Betriebsleitung wird berechtigten Wünschen immer Entgegenkommen zeigen. Seien Sie sich darüber klar, daß das schlechte Benehmen irgendeines einzelnen immer auf die ganze jüdische Abteilung zurückfallen wird. Wer ordentlich arbeiten will, fühlt sich wohl bei uns!" Wir sollen jetzt nach Haus gehen und morgen zum ersten Mal zur Arbeit antreten. Alles drängt zum Ausgang hin. Die meisten Frauen haben bei der Rede zustimmend genickt, sie scheinen alle arbeitswillig zu sein. Hoffentlich bekommen wir Arbeit, die wir auch schaffen können. Als ich bei dem Parteivertreter vorbeigehe, der mit ein paar Herren der Leitung zusammensteht und ihnen wohl über uns berichtet, höre ich, wie er sagt: „Das ist alles Bruch, was sie uns da geschickt haben!" Ich fahre mit der Nachbarin von der Hinfahrt nach Haus. Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Vielleicht können wir zusammenbleiben. Alle die Frauen, die sich schon kennen oder sich gerade jetzt kennenlernten, haben diesen einen Wunsch: zusammenzubleiben. Es kommt mir so vor wie bei Kindern, die sich im Dunkeln zu zweien etwas weniger fürchten. Der ganze Stadtbahnwagen ist voll von ausländischen Arbeitern, man hört alle Sprachen von Mitteleuropa. Aus allen Ländern arbeiten die Menschen mehr oder weniger freiwillig für den „Endsieg des Deutschen Volkes" mit. In einer Ecke sitzt
15 Nach dem Novemberpogrom von 1938 bis Kriegsbeginn gelang es noch etwa 80.000 Juden, das Land zu verlassen. England war das einzige Land, das seine Einreisebestimmungen angesichts der Notlage lockerte. Es nahm unter anderen 8.000 Kinder auf, die ohne Eltern einwanderten. Darunter waren die drei Kinder Elisabeth Freunds, die im Januar 1939 nach England ausreisten. Insgesamt wanderten von 1934 bis Ende 1939 18.000 jüdische Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern aus, davon 8.100 nach England und 5.300 nach Pälastina. Vgl. Richarz 1989, S. 54 und 448 (Anm. 3).
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ein Trupp polnischer Arbeiter mit einem „P"-Abzeichen. 1 6 Sie sitzen so stumpf und niedergeschlagen in ihrer Ecke. Ich habe das Flugblatt gelesen, das in allen Betrieben aushängt, in denen Polen arbeiten. Es ist in einer wüsten, widerlichen Sprache geschrieben: „Deutscher, vergiß nie, daß D u dem Herren-Volke angehörst, D u hast keine Gemeinschaft mit diesen Untermenschen, die in brutalster Weise die Volksdeutschen in Polen hingemordet haben!" Jedes freundliche, menschliche Wort zu einem Polen wird bestraft. Es muß schrecklich sein, mit diesem Kainszeichen herumzulaufen. Wenn nur nicht eines Tages auch noch so etwas für die Juden erfunden wird! Den Nachmittag verbringe ich auf der Jagd nach einer Thermosflasche. Ich war schon lange nicht mehr in der Stadt einkaufen. Deswegen fällt es mir vielleicht besonders auf, wie leer die Läden sind. Ich muß drei Stunden wegen der Flasche herumlaufen. In der Zeit von vier bis fünf hätte ich das nicht erledigen können. Sonst halte ich mich übrigens streng an die Vorschriften. Man kann ja auch nur in Stadtvierteln, in denen man nicht bekannt ist, außerhalb der Zeit einkaufen, und es ist gefährlich. In den Lebensmittelgeschäften und Zigarrenläden wird immer wieder durch Polizeistreifen kontrolliert. A m nächsten Morgen muß ich noch auf die Steuerstelle, um mir eine Steuerkarte zu besorgen. „Welcher Beruf?", werde ich gefragt. Ich zögere eine Sekunde mit der Antwort, und dann sage ich: „Fabrikarbeiterin!"
3 Ich treffe mich mit meiner neuen Freundin Kaethe mittags auf dem Bahnsteig der Stadtbahn. Fein, daß sie auch in derselben Gegend wohnt. Wir gestehen uns beide auf der Fahrt, daß wir eigentlich in einer Art erwartungsvollen Stimmung sind. Jetzt werden wir bald wissen, woran wir sind. Der Weg von der Station zur Fabrik ist neu und interessant, es riecht so etwas nach Frühling, der dieses Jahr besonders spät kommt. Wir haben noch alle die Wintermäntel an. Man friert dieses Frühjahr so, das kommt wohl von der schlechten Ernährung. In der riesengroßen Fabrikhalle schlägt uns eine feuchte Hitzewelle entgegen. Der Parteivertreter ist wieder da, dann ein großer, dunkelhaariger Mann, der die Leitung der Wäscherei hat, und ein paar arische Arbeiterinnen und Aufseherinnen,
16 Die Kennzeichnung der polnischen Zivilarbeiter und -arbeiterinnen mit einem „ P " Abzeichen war Teil der „Polenerlasse" vom 8. 3. 1940, die den massenhaften Einsatz von Arbeitskräften aus dem Generalgouvernement vorbereiten sollten. Bis Mitte 1941 waren bereits ca. 400.000 polnische Frauen und Männer nach Deutschland verbracht worden. Vgl. Herbert 1985, S. 74-88.
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L u f t a u f n a h m e der Werksanlagen von Spindlersfeld. 1922 ü b e r n a h m die „Chemische Fabrik auf Actien (vorm. E. Schering)" die Aktienmehrheit der Fa. W. Spindler u n d pachtete 1925 die Spindlerschen Betriebe. In den 1930er Jahren richtete Schering dort in Teilen der Gebäudeanlage verschiedene chemische Produktionsanlagen ein (s. Einleitung, A n m . 14).
die uns einarbeiten sollen. Es muß gar nicht so leicht sein, so viele ungelernte Arbeitskräfte zugleich einzurichten. Es dauert einige Zeit, bis wir alle irgendwie beschäftigt sind. Kaethe und ich werden an einen Karren mit nassen Bettlaken gestellt und sollen diese Stücke zurechtziehen. Das ist einfach. Während wir mechanisch mit unseren großen Laken hantieren, sehen wir uns in der großen Halle um. Die eine Querseite der Halle wird von großen Maschinen eingenommen, von denen diese furchtbare Hitze kommt. Das müssen Heißmangeln sein, aber die haben ganz andere Ausmaße als die kleinen Mangeln, die man von den Wäschereien in den Straßen kennt. Es sind Ungeheuer, gut acht Meter lang, die von einer Tribüne aus bedient werden. Dort arbeiten ein paar junge Mädchen, sie müssen schon länger hier sein, denn mit uns sind sie nicht gekommen. Die Halle ist so groß, wir können gar nicht übersehen, was sonst noch alles gemacht wird. Die Hitze ist furchtbar, wie in einem überhitzten Treibhaus. Ein feuchter Wäschedunst steht wie ein Nebel in der Halle. Der Schweiß rinnt uns allen herunter. „Daran soll man sich gewöhnen", sagt eines der jungen Mädchen. „Wir sind jetzt schon vierzehn Tage hier, da ist es noch schlimm genug, aber nicht mehr ganz so ungewohnt."
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Dieses Mädchen gehört zu einer Gruppe von Kindergärtnerinnen. Sie haben eben an dem jüdischen Kindergärtnerinnenseminar ihre Examina machen dürfen, sogar mit staatlicher Prüfung, haben alle gut bestanden und sind darauf zur Belohnung sofort zum Arbeitsdienst eingezogen worden. Aber sie sind noch ganz froh, daß sie wenigstens gemeinsam hierher in die Wäscherei gekommen sind. Da sind doch alle Freundinnen zusammengeblieben. Sie haben auch noch weiter eine Arbeitsgemeinschaft und lesen zweimal in der Woche vormittags Pestalozzi und Montessori. 17 Sie glauben, das durchführen zu können. Es sind nette Mädel zwischen achtzehn und zwanzig. Meine älteste Tochter müßte jetzt eigentlich auch so aussehen. Ich kann sie mir bloß nicht so recht vorstellen. Ich habe sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen und auch keine Bilder von den Kindern bekommen. Unsere Große war fast sechzehn, als wir sie nach England schickten, jetzt muß sie erwachsen sein. Wie gut, daß unsere Kinder das hier nicht mitmachen müssen - so unsäglich schwer die Trennung auch für uns Eltern ist. Die Arbeit ist anstrengender, als man denken möchte. Der Rücken schmerzt und die Füße tun weh. Nirgends ist ein Schemel zum Hinsetzen. Jemand versucht, sich auf den Rand eines kleinen Transportwagens aufzuhocken. „Stehen Sie sofort auf! Hinsetzen und Anlehnen gibt's hier nicht! Das ist verboten!" Diese unangenehme schrille Stimme gehört einer dicken großen Frau mit einem Kneifer. Sie ist die oberste Aufseherin im Saal. Vor der wird man sich in acht nehmen müssen. Nach zweieinhalb Stunden sind fünfzehn Minuten Pause, die wir in einem Kantinenraum verbringen dürfen. Dort ist wenigstens trockene, kühle Luft. Aber der Verkaufsstand ist geschlossen. An Juden wird nichts verkauft. Wir werden uns selbst genug zum Trinken mitbringen müssen, unser Durst nach dieser furchtbaren Hitze ist schrecklich. Der Raum ist voll von Menschen. Die Abteilung zählt ungefähr 120 Frauen, alles jüdische Frauen. Deswegen ist es auch nicht notwendig, daß wir eine Armbinde tragen, die uns als Juden kennzeichnet, wie es in allen anderen Betrieben ist. Wir sind ja unter uns. Nach der Pause werden Kaethe und ich an einen Transportwagen kommandiert. Wir sollen fertige Wäsche in einen anderen Raum abfahren. Der Wagen muß hoch geladen werden, selbst zu zweit ist es nicht einfach, ihn durch die engen Gänge zwischen den Arbeitstischen zu dirigieren. Es ist alles Militärwäsche, Bettzeug, Hemden, Unterhosen, die am nächsten Tag von Soldaten wieder abgeholt werden sollen. Wir fahren die Wagen hin und her. Nach drei Stunden ist wieder eine Pause. Wir sind alle schon ganz erschöpft und sollen noch bis zum Schluß der Schicht aushalten. Aber wir müssen uns doch darüber klar sein: Wir müssen die Arbeit durchhalten. Ungewohnte Arbeit ist 17 Johann Heinrich Pestalozzi ( 1 7 4 6 - 1 8 2 7 ) , Schweizer Pädagoge; Maria Montessori ( 1 8 7 0 - 1 9 5 2 ) , italienische Pädagogin.
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immer zuerst schrecklich, und diese feuchte Hitze ist fast unerträglich. Aber was die Arbeiterinnen in der arischen Schicht können, muß doch auch bei uns gehen! Darüber kann man stöhnen, aber es muß doch möglich sein! „Ich kann es aber nicht", sagt eine Frau, „ich habe Krampfadern und ganz geschwollene Beine, ich kann nicht den ganzen Tag stehend arbeiten. Eine Arierin arbeitet hier ja nur, wenn sie will. Wenn sie es nicht aushält, geht sie eben in eine andere Fabrik. Eine Arierin kann kündigen, wenn die Arbeit über ihre Kräfte geht. Gibt es denn hier keine Arbeit im Sitzen?" E s sind so viele alte Frauen unter uns und auch so viele kranke jüngere. Man muß abwarten, bis man in den nächsten Tagen besser übersieht, was es für Arbeit gibt. E s ist schon ganz finster. D i e Fabrik ist nach außen gegen Fliegerangriff abgedunkelt, alle Fenster sind geschlossen. Die Hitze im Saal in der letzten Schicht ist fürchterlich. D i e letzten Stunden schleichen. Wir können kaum mehr. Endlich ist Schluß. Wir taumeln in den Umkleideraum. Draußen ist alles stockdunkel. N a c h der H i t z e im Saal schaudern wir vor Kälte. Nirgends ein Licht. Wir stolpern im Dunkeln nach dem Bahnhof durch die ungepflasterten, unbekannten Straßen. Hoffentlich k o m m e n keine feindlichen Flieger. Wenn wir bloß schon zu H a u s wären. E s ist unheimlich, dieses Nachhausefahren im Dunkeln. D i e Stadtbahnzüge sind auch ganz dunkel, die Bahnsteige kaum erleuchtet. Wir sind das N a c h h a u s e k o m m e n in der Nacht nicht gewöhnt. Seit Kriegsanfang dürfen J u d e n nach acht U h r abends nicht mehr die Straße betreten. D a s ist ein Verbot, das nirgends veröffentlicht worden ist. Aber wer abgefaßt wird, k o m m t auf den „Alexander" und hat außerdem hohe Strafen zu zahlen. 1 8 D i e Firma hat uns deshalb Ausweise mit Lichtbild gegeben zur Bescheinigung, daß wir dort in Spätschicht arbeiten. D a m i t können wir auch früh in den Geschäften einkaufen, denn zwischen vier und fünf U h r nachmittags haben wir jetzt keine Zeit mehr. Was ist das alles für ein Unsinn! N u r nach H a u s jetzt, nach H a u s und ins Bett!
4 A m nächsten Tag wird alles neu eingeteilt. Kaethe und ich werden getrennt. Auf unsere Bitte, uns doch zusammen zu lassen, sagt die D i c k e mit dem Kneifer: „Freundinnen werden bei uns immer getrennt. D a s ist viel besser für die A r b e i t ! " Im Saal steht eine Abteilung von zehn kleinen Dampfpressen. Ich soll an der einen arbeiten. Eine arische Arbeiterin zeigt uns, wie man Arbeitskittel preßt. Eine einzige Arbeiterin z u m Einarbeiten von zehn anderen ist nicht genug. Sie kann nicht gut erklären, was man eigentlich machen soll, nur vormachen, wie sie es
18 „Alexander" war der umgangssprachliche Begriff für das Polizeipräsidium am Alexanderplatz in Berlin.
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selber macht. Wir sollen aber vom ersten Augenblick an richtige Arbeit leisten. Es ist unerklärlich, warum die Firma so mit dem Anlernpersonal spart. Es ist in allen Abteilungen das gleiche. Niemand weiß ordentlich Bescheid. Das Interesse an der Arbeit sinkt natürlich sofort, uns kann es ja gleich sein, was wir abliefern, wenn es nicht richtig gezeigt wird. Diese Dampfpressen sind etwas Furchtbares. Wir haben fast alle nach wenigen Minuten Brandblasen an den Fingern, eine Frau hat eine große Brandwunde an der Stirn, da ihr der Preßdeckel der Maschine ins Gesicht kam. Es muß doch hier Brandsalbe geben. Die arische Abteilung hat eine kleine Apotheke, aber die ist jetzt geschlossen. Der Portier in der Eingangshalle hat auch eine Apotheke zu verwalten, er gibt aber für Juden nichts davon heraus. Schließlich wird etwas Fett von den Schnitten auf die Wunde geschmiert. Morgen werden wir uns also auch Brandsalbe selbst mitbringen müssen. Ich presse die Kittel, der Dampf schlägt mir bei jedem Auf- und Zugehen der Maschine ins Gesicht. Der Deckel der Maschine kann mich wenigstens nicht erreichen. Dazu bin ich viel zu groß. Aber dieser Dampf - ich bin ganz benommen. Und immerfort kommen meine Finger an die Innenseite des heißen Preßdeckels. Mir ist ganz schwindelig von dem Dampf. Nach der Pause melde ich mich bei der dicken Aufseherin und bitte, irgendwo anders arbeiten zu dürfen, ich könne den Dampf nicht ertragen. „Das erträgt sich alles hier, arbeiten Sie nur ruhig weiter. Wenn einer nicht arbeiten will, ist er immer gleich krank!" Sonst bin ich doch nicht weichlich mit mir. Vielleicht mache ich irgendetwas falsch. Die Vorarbeiterin muß es mir noch einmal genau zeigen. Aber nach kurzer Zeit ist es wieder dasselbe, ich bekomme kaum mehr Atem. Dieser Dampf um meinen Kopf! Ich melde mich wieder bei der Aufsicht, wieder Ablehnung. Halb bewußtlos hantiere ich an der Maschine. Auf einmal steht der Abteilungsleiter neben mir: „Was ist denn mit Ihnen los, Frau? Setzen Sie sich mal dort drüben hin!" Ich hocke ganz schwindlig an einem Arbeitstisch. Nach einer Weile kommt der Abteilungsleiter wieder. Ich brauche nicht mehr an der Maschine arbeiten, ich soll jetzt für alle Dampfpressen die fertigen Kittel zusammenlegen. Die Pause fängt gerade an. Ich bin zum Umfallen erschöpft. Kaethe stürzt auf mich zu. „Sind Sie von der Dampfpresse abgelöst? Das war ja eben ein Theater! Der Chef hat der Dicken Ihretwegen eine Szene gemacht und ihr gesagt, was das für ein Unsinn wäre, so eine lange Frau an eine Maschine zu stellen, die für mittelgroße Arbeiterinnen gebaut wäre. Sie arbeitet ja nicht vor dem Dampf, sondern über dem Dampf!" Das ist also die Erklärung. Natürlich, ich bin ja fast ein Meter achtzig lang. Wahrscheinlich habe ich mir auch deswegen so die Hände verbrannt, weil meine Arme nicht in dem richtigen Winkel in die Maschine faßten. Kaethe ist an die große Heißmangel gekommen. Sie ist ganz aufgeregt.
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„Passen Sie mal auf, wie die Frauen dort zusammenklappen werden. Das ist unsinnig heiß dort. Aber statt daß ein Arzt untersucht, wer gesund genug dafür ist, wird einfach ausprobiert, wie lange man es aushält. O b unsereiner sich dabei einen Schaden holt, das interessiert hier niemanden." Es sind noch zweieinhalb Stunden durchzuhalten. Man zeigt mir, wie Kittel gelegt werden. Die Vorarbeiterin ist nett. „Ich werde Ihnen mal ein bißchen helfen. Mensch, sehen Sie schlecht aus! Ihnen ist wohl nicht gut? Wenn jemand vorbeikommt, müssen Sie natürlich ordentlich arbeiten. Und dann gehen Sie eben ein paar Mal raus aufs Klosett, das tun wir auch immer, wenn wir nicht mehr weiter können." Das ist der einzige Zufluchtsort des Fabrikarbeiters, das Klosett. D o r t ist etwas Ruhe, dort kann man den schmerzenden Rücken ein paar Minuten an der kühlen Wand anlehnen. Diese O r t e sind so schmutzig und verdreckt. Die Wände mit Inschriften verschmiert. „Die Dicke ist dof!" steht da. Und darunter: „Das stimmt!" Nach einer schrecklichen Nacht gehe ich am nächsten Morgen, einem Sonntag, zu meiner jüdischen Arztin. „Sie müssen ja kurz vor einem Hitzschlag gewesen sein. Haben Sie mal als Kind rheumatisches Fieber gehabt?" „Ich weiß es nicht. Mein Vater, ein Arzt, war der Ansicht, daß Kinder besser nicht über ihre Krankheiten unterrichtet sein sollten." „Seien Sie froh, daß Sie noch mal gerade so weggekommen sind. Sie sollten ein paar Tage ganz fest liegen". Aber das ist nicht zu machen. Ich muß versuchen, weiterzuarbeiten, damit ich den neuen Arbeitsplatz behalte, der ist wenigstens etwas kühler. Von der Arbeit komme ich sowieso nicht los. Die Arztin verschreibt mir ein paar Medikamente. Ich soll mich „so wenig anstrengen wie möglich." Die nächsten Tage vergehen wie im Traum. Ich lebe zwei ganz verschiedene Leben. Mittags fahre ich in die Fabrik, lege meine Arbeitskittel, Pause, Arbeitskittel, Pause, Arbeitskittel, und um ein U h r nachts bin ich zu Hause. Dann liege ich bis zum nächsten Mittag krank im Bett. Aber dieser seltsame Tagesplan hilft. Ich kann die verlangte Arbeit leisten und bin nach acht Tagen doch einigermaßen über diesen Fast-Hitzeschlag hinweg.
5 Das Legen der Kittel ist anstrengend, aber ich bin froh, daß ich diese Arbeit habe. Jetzt ist es sogar vorteilhaft, daß ich so groß bin, die längsten Overalls machen mir keine Schwierigkeiten. Ich gebe mir aber auch sehr Mühe, denn die Dicke paßt interessiert auf, ob sie mich nicht bei einer Ruhepause erwischen könnte. Nach den ersten Tagen machen die Hände die Arbeit ganz mechanisch, ich schaffe
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genau das, was ich schaffen muß, allerdings darf man dann auch keine Minute aussetzen. Der Abteilungsleiter kommt an einem der Tage zum Kontrollieren vorbei. Ich kann ca. 700 Kittel vorweisen und bedanke mich kurz, daß er mich von der Dampfpresse fortgeholt hat. „Reden Sie lieber nicht darüber!" sagt er und geht schnell weiter. Sobald man die Arbeit beherrscht, kann man sich umsehen. Langsam bekomme ich einen Uberblick. Die Wäsche wird in einem besonderen Waschraum in großen Maschinen von ein paar Männern, ebenfalls Juden, gewaschen, gespült und geschleudert. Dann kommt sie in Karren in die große Halle, wird zurechtgezogen, läuft durch die Heißmangeln und wird an großen Tischen gelegt. Die Soldatenwäsche wird besonders gestapelt. Das habe ich ja gleich am ersten Tage mitgemacht. Was mit der anderen Wäsche geschieht, die sich überall fertig auftürmt, weiß ich noch nicht. Ich gehe immer von einer Dampfpresse zur anderen und hole mir die gepreßten Stücke zum Zusammenlegen ab. Allmählich lernen wir Frauen uns kennen. Eine Frau war Aufräumefrau im Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde, eine andere war Krankenpflegerin in einem Altersheim. Beide sind schwere körperliche Arbeit gewöhnt und finden die Dampfpresse nicht so schlimm. Sie glauben, daß später Akkord gearbeitet werden wird, und arbeiten jetzt schon wie die Wilden, um möglichst bald auf einen recht hohen Verdienst zu kommen. Das alte Fräulein, das früher einen Damenwäschesalon führte, kommt bei diesem Tempo nicht mit. Die Arbeit ist überhaupt viel zu schwer für sie. Sie ist schließlich 62 Jahre, und das dauernde Stehen strengt sie schrecklich an. Eine Kameradin hat früher als Pelznäherin gearbeitet, eine andere hat Damenmäntel eingefüttert. Sie haben gut dabei verdient und machen sich Sorge, wie das jetzt sein wird. Eine kleine zarte Frau ist Witwe, sie hat zwei Kinder, die auf einem jüdischen Lehrgut in Landwirtschaft ausgebildet werden. Sie sieht ganz erschöpft aus. „Wenn ich mich hier kaputt arbeite, kann ich es früh nicht leisten", klagt sie. „Ich muß früh dazu verdienen. Hier werden wir sicher noch lange nur Stundenlohn bekommen, und die beiden Kinder kosten so viel Geld. Ich weiß nicht, wie ich es machen soll!" Sie ist nämlich basedowkrank und wiegt knapp neunzig Pfund. Was wir für diese Arbeit bekommen werden, ist uns bei der Einstellung nicht gesagt worden. Wir machen Zwangsarbeit und müssen froh sein, wenn wir überhaupt etwas bekommen. Am ersten Zahltag wissen wir es dann: Zirka zwölf Mark fünfzig wöchentlich für eine verheiratete Arbeiterin, die unverheirateten bekommen etwas mehr, weil sie keinen Abzug für „Doppelverdiener" haben, kommen aber auch nicht über vierzehn Mark höchstens. Und davon geht noch das Fahrgeld von einer Mark achtzig die Woche für die Stadtbahnkarte ab und bei den meisten fast drei Stunden unbezahlter Arbeitsweg. Der Tarif der Wäschereien ist besonders schlecht, und wir werden doch nur als ungelernte Arbeitskräfte bezahlt. Dann gibt es aber für Juden noch besonders hohe Steuersätze. Von jedem Einkommen
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werden fünfzehn Prozent vorweg abgezogen, als „soziale Ausgleichsabgabe der Juden". 19 Und es gibt für uns keine Kinderermäßigungen. Die Steuern sind das einzige Gebiet, auf dem die Juden in Deutschland „erstklassig", das heißt in der höchsten Steuerklasse, behandelt werden. Zwölf Mark fünfzig. Wir bekommen ungefähr die Hälfte von dem, was eine arische ungelernte Arbeiterin verdient. Es bleiben noch nicht eine Mark fünfzig für den Wochentag zum gesamten Leben. Eine Aufräumefrau verlangt in Berlin fünfzig Pfennig für die Stunde und noch die Verpflegung dazu! Ein Teil von uns bekommt überhaupt kein Lohngeld in die Hand. Wir haben „Sicherungskonto". Die arische Vorarbeiterin will wissen, was das ist, sie kann es nicht begreifen, daß einer arbeiten soll, ohne einen Pfennig zu erhalten. Es ist wirklich nicht einfach, das zu erklären. Unsere Bankkonten sind gesperrt. Jeden Monat darf nur eine bestimmte Summe abgehoben werden, die von der Devisenstelle in jedem einzelnen Falle festgesetzt wird. An das andere Geld kommen wir nicht heran, und wir dürfen auch keinerlei Zahlungen in Empfang nehmen. Selbst ganz kleine Bankkonten sind gesperrt, die Behörde sichert das Geld, damit wir es nicht zu schnell verbrauchen oder nach dem Ausland verschieben. „Es soll noch genug übrigbleiben, falls mal alles auf einmal beschlagnahmt wird", sagt jemand spottend. Die Vorarbeiterin kann nur den Kopf schütteln. Die Devisenstelle erlaubt nicht einmal, daß die Lohnbeträge monatlich, also in Beträgen von zirka vierzig Mark, auf unsere Bankkonten überwiesen werden. Solche hohen Beträge dürfen nicht angesammelt werden, erklärt das Lohnbüro, und so wird bei jeder Uberweisung dieser zwölf Mark fünfzig noch ein Abzug für Porto und Spesen gemacht. „Man wundert sich schon über gar nichts mehr", meint eine jüdische Frau. „Es ist doch zuerst sogar verlangt worden, daß für jeden Almosenempfänger der Jüdischen Gemeinde, der seine zehn bis fünfzehn Mark Unterstützung bekommt, ein Bankkonto eingerichtet würde, damit man auch diesen Geldverbrauch genau kontrollieren könnte. Na, dagegen haben sich wenigstens die Banken gewehrt." Das ist alles noch das Wenigste. Aber mit zwölf Mark in der Woche kann man doch nicht durchkommen bei diesen hohen Lebensmittelpreisen. Trotz aller Preiskontrollen steigen die Lebenshaltungskosten täglich. Da sind Wohnungsmieten zu bezahlen, die manchmal den ganzen Monatslohn weit übersteigen. Und man
19 Im Steuerrecht galten wie in allen anderen Rechtsbereichen zahlreiche Sondergesetze für Juden. Sie wurden zusammengefaßt im Erlaß des Reichsfinanzministeriums über die steuerrechtliche Sonderbehandlung der Juden vom 10. 2. 1940. Familienbedingte oder andere Steuervergünstigungen galten für Juden nicht. Die üblichen Nebenleistungen wie Bezahlung der Feier- Urlaubs- und Krankentage erhielten sie nicht. Seit Anfang 1939 wurden alle Juden ohne Rücksicht auf ihren Familienstatus in die höchste Steuerklasse eingeordnet. Seit dem 1. 1. 1941 wurden ihre Löhne um die 15%ige „Sozialausgleichsabgabe" vermindert. Vgl. Maier 1994, Kap. 6, bes. S. 119 und Majer 1981, S. 245-262, bes. S. 256 (Arbeitsrecht) und S. 283-288, bes. S. 287 (Steuerrecht).
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kann die Wohnungen nicht aufgeben, wenn sie zu teuer sind, denn Juden müssen überhaupt froh sein, wenn sie noch eine haben. Es ist Wohnungsnot in Berlin. Kaethes möbliertes Zimmerchen im Westen Berlins kostet 45 Mark Miete, Hinterhaus mit Zentralheizung. Natürlich kann sich eine Fabrikarbeiterin auch ein Hinterhauszimmer im Berliner Westen nicht leisten. Sie soll außerdem ihr Essen bezahlen und für ihre Mutter sorgen. Es ist ja aber gerade die Absicht der Arbeitsfront, daß die jüdischen Arbeiter mit ihrem Lohn nicht auskommen sollen. Sie sollen, soweit sie noch Ersparnisse haben, dieses Geld verbrauchen. Und diejenigen, die keine Rücklagen haben, können sich ja, nach der Ansicht der Arbeitsfront, an die Wohlfahrtsstelle der Jüdischen Gemeinde wenden, die immer für alles eintreten soll. Die Dicke hat uns neulich katzenfreundlich gesagt, es müsse doch so schön für uns sein, daß wir jetzt arbeiten dürften und nicht mehr müßig zu Haus herumzusitzen brauchten. Dabei liegt es in Wirklichkeit ganz anders. Die meisten meiner Kameradinnen haben bisher in ihrem Fach gearbeitet und haben gute und gediegene hochwertige Arbeit geliefert - natürlich jetzt meist als unerlaubte Schwarzarbeit. Und nun werden sie gezwungen, ungewohnte und ungelernte Arbeit für einen Hungerlohn zu machen. Es ist bei fast allen dasselbe. Und da sich die meisten nicht unterstützen lassen wollen, so müssen sie eben vormittags das zu verdienen versuchen, was fehlt. Nach der ersten schrecklichen Woche haben sich alle einigermaßen auf die Arbeit eingerichtet, und wer es nur kann, versucht, nebenher zu arbeiten. Es ist nur die Frage, ob das auf die Dauer gehen wird. Die Arbeit ist schwer, die Hitze verschlimmert alles. Wir sind nie vor ein Uhr nachts zu Hause. Durch die schlechte Ernährung sind wir sowieso schon nicht mehr auf der Höhe unserer Leistungsfähigkeit. Und daneben müssen Mann und Kinder versorgt werden, und wir müssen einkaufen, kochen, waschen, aufräumen, ausbessern. Am besten haben es noch die, die die Hausarbeit nicht ganz allein machen müssen. Alle arbeiten nebenbei entweder zum Gelderwerb oder zur weiteren Ausbildung, die für viele im Hinblick auf die Auswanderung so wichtig ist, daß man sie nicht aufgeben möchte. Die jungen Kindergärtnerinnen haben weiter ihre Kurse und helfen in den Horten. Kaethe macht weiter ihre Auswanderungsberatung. Ich mache FotoNegativretusche und Farbendruck. Jeden Morgen ein paar Stunden. Das ist der Vorteil der Spätschicht: Die Morgenstunden, in denen man ausgeschlafen ist, gehören einem selbst und nicht der Fabrik. Aber das verleitet auch dazu, sich morgens zuviel vorzunehmen, und dann ist man in den letzten Stunden in der Fabrik übermüdet. Ob man das lange wird durchführen können? Wir haben jetzt schon vierzehn Tage an der Dampfpresse hinter uns. Man kennt jetzt schon das Zischen und Pfeifen der Maschinen, wenn sie sich öffnen und schließen, und den merkwürdigen, brenzlichen Geruch, der von ihnen ausgeht. Die Arbeit wird wieder anders eingeteilt. „Sie kommen zur Expedition", sagt mir der Abteilungsleiter.
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Hoffentlich ist das ein Vorteil. Nächsten Montag w i r d damit angefangen. Eigentlich ist es schade, daß unsere Dampfpressengruppe schon wieder auseinander kommt. W i r haben uns gut vertragen. Natürlich hat es daneben auch Zank gegeben. W i r hatten da eine arische Einarbeiterin, die sich gleich mit der einen von uns anfreundete. Natürlich gab es darüber Streit. Die Nachbarin erklärte, diese Bevorzugung wäre gemein, und die Vorarbeiterin zeige nur der einen alle Tricks, und die anderen kämen dann nicht mit. Mich amüsiert es hauptsächlich, w i e schnell die jüdische und die arische Arbeiterin sich befreundeten und wieviel gemeinsame Gesprächsstoffe sie hatten. Nach den Nazi-Theorien w a r das doch offensichtlich ganz unmöglich, da hätte ja beide eine innere Stimme voreinander warnen müssen. In Wirklichkeit aber hatten sie beide dieselben Interessen und dieselben A n sichten, hatten beide für M a n n und Kinder zu sorgen und hatten beide Schwierigkeiten, die Lebensmittel z u s a m m e n z u b e k o m m e n , und konnten sich gegenseitig mit Kochrezepten aushelfen. Die Arier haben es ja auch nicht einfach mit den Lebensmitteln. Freilich dürfen sie zu allen Tageszeiten einkaufen, aber es gibt ja nicht genug. Vormittags stehen lange Schlangen wartender Frauen vor den Lebensmittelgeschäften. Kartoffeln sind augenblicklich sehr schwer zu bekommen. Die letzte Ernte w a r schlecht und Gemüse ist knapp. A b e r es ist seltsam, w i e großartig die Lebensmittelverteilung in Deutschland organisiert ist. Ganz verhungern kann eben doch keiner, jedenfalls nicht im „Altreich". Sie schaffen ja aus den besetzten Gebieten alle Lebensmittel ins Reich und lassen dafür lieber die Polen und Tschechen hungern. A n der Lebensmittelknappheit w i r d das N a z i - S y s t e m sobald noch nicht zu Grunde gehen. A b e r schließlich bekommen die Arier immer noch ganz wesentlich mehr als w i r Juden. W i r haben jetzt schon lange auf allen Lebensmittelmarken ein „J" (Jude) aufgedruckt, damit w i r uns nicht etwa heimlich Vorteile verschaffen können. Extrazuteilungen gibt es für uns nicht, keine Konservendosen, keinen Fisch, kein Geflügel, keine Räucherwaren, keinen Bohnenkaffee und vor allem keine Milch, nicht einmal Magermilch. Für jüdische Kinder gibt es Milch nur, solange sie klein sind. Daß jüdische Kinder keine Süßigkeiten bekommen, regt mich immer wieder auf. Das ist eine solche Niedertracht. Die anderen Kinder bekommen ja auch nicht viel. A b e r es w ü r d e doch nichts ausmachen, w e n n die jüdischen Kinder dieses Viertelpfund Bonbons oder den Kunsthonig auch bekommen würden. Es gibt nicht U n w ü r d i g e r e s als einen Krieg gegen Kinder. In ganz Berlin sollen noch etwa 80.000 Juden leben. 2 0 In der Provinz ist die Zahl sehr gering. N u r in Breslau und Frankfurt am M a i n gibt es noch größere jüdische 20 In Berlin lebten im Juni 1 9 3 3 : 1 6 0 . 5 6 4 , im Mai 1939: 75.344 und im November 1946: 7.274 Juden. Von 1933 bis 1939 war der Anteil der Personen von über 45 Jahren von 4 0 % auf 6 2 % und der Anteil der Frauen von 5 2 % auf 5 8 % gestiegen. Frauen im Alter von über 45 Jahren bildeten einen Anteil von 3 6 % , Männer der gleichen Altersgruppe einen Anteil von 2 6 % aller Berliner Juden (berechnet nach Angaben von Engeli/Ribbe 1987, S. 1005).
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Gemeinden. Eigentlich müßten die N a z i s merken, wie lächerlich die Begründung ist, daß sie den paar Juden die Lebensmittel angeblich nicht geben, „weil sie knapp sind". D e r Verbrauch der J u d e n spielt bei einer Gesamtbevölkerung von siebzig Millionen doch gar keine Rolle. Merkwürdig ist es wieder, wieviele Arier nicht wissen, daß J u d e n weniger Lebensmittel bekommen. In den Bekanntmachungen an den Anschlagsäulen steht nur, daß dieser oder jener Abschnitt der Lebensmittelkarten, „die mit einem ,J' bezeichnet sind", nicht beliefert werden. Aber es wird nicht gesagt, daß es sich um die Karten für „ J u d e n " handelt. E s ist ein hinterhältiges, verstecktes Vorgehen gegen wehrlose Menschen.
6 A m Sonntag ist man richtig ausgeschlafen. D e r Frühling kommt, der Himmel ist blau, und ein paar Amseln singen auf den Dächern. D i e Straßen im Berliner Westen machen einen ruhigen und friedlichen Eindruck. Wenn man nicht wüßte, daß in Wirklichkeit Krieg ist, daß gerade in Jugoslawien die Menschen hingemordet werden, am äußeren Straßenbild würde man es nicht merken. E s ist eher noch friedlicher als vorher. Die Kinder spielen mitten auf dem F a h r d a m m Fußball und Fangen, nicht etwa nur, weil gerade Sonntag ist, sie machen es an Wochentagen ebenso. D e r Wagenverkehr in Berlin ist enorm zurückgegangen. Selbst den Kurfürstendamm kann man ungefährdet überqueren, die wenigen A u t o s dort sind zu zählen. Wir gehen in den Tiergarten. Wir wollen uns mal von unten die Festungen am Bahnhof Zoologischer Garten ansehen, an denen ich jetzt jeden Tag mit der Stadtbahn oben vorüberfahre. 2 1 Sie sind fast fertig. E s sind zwei riesenhafte Betonklötze, vielleicht zehn Stockwerke hoch. Sie bekommen gerade einen dunkelgrünen Anstrich, damit sie sich nicht von den B ä u m e n des Tiergartens abheben. Auf dem einen Turm wird eine große Apparatur aufmontiert. D a s ist wohl ein Hörgerät, um herannahende Flugzeuge festzustellen, eine riesige Halbkugel z u m Auffangen Im Mai 1939 lebten in Frankfurt am Main etwa 14.000, in Breslau 11.000 und in Hamburg 10.000 Juden. In den genannten vier Städten lebten also rund 110.000 der insgesamt noch etwa 210.000 in Deutschland verbliebenen Juden. Vor 1933 hatte über eine halbe Million Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland gelebt (vgl. Arndt/Boberach 1991, S. 32, die jedoch für Berlin höhere Zahlen angeben als Engeli/Ribbe 1987). 21 Es handelt sich um den Flakturm und Bunker am Bahnhof Zoo. D a sich das N S Regime lange Zeit keinen Luftkrieg über Deutschland vorstellen konnte und umfangreichere Bunkerbauten den monumentalen Umbau der Reichshauptstadt behindert hätten, wurde mit dem Bau von Großbunkern erst 1940 begonnen. Vor dem Krieg geplant waren öffentliche Schutzräume für 400.000 Personen; bis Kriegsbeginn waren davon 15% fertiggestellt. Auch bei Kriegsende boten die Großbunker am Zoo und vier weiteren Orten lediglich Platz für 65.000 Menschen. Juden hatten zu ihnen keinen Zutritt. Vgl. K o r f f / Rürup (Hg.) 1987, S. 563.
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der Schallwellen. Auf dem anderen Turm stehen bereits Flugabwehrgeschütze. Wozu baut man eigentlich noch diese riesigen Türme, wenn Hitler doch dem Deutschen Volke den Friedensschluß für diesen Herbst 1941 versprochen hat! Aber das muß man sagen: Die Planung dieser Festungen und die Schnelligkeit, mit der sie in den letzten sechs Wochen aus der Erde gewachsen sind, hat schon etwas Imposantes. Von hier aus muß ein großer Teil des Berliner Westens beherrscht werden können. Bei den letzten Flugangriffen haben wir bereits gemerkt, daß die deutschen Abwehrgeschütze viel stärker klangen als sonst. An der großen Prachtstraße wird auch gearbeitet, sie wird grün angestrichen, damit ihr leuchtend weißes Band den Feindfliegern in der Nacht nicht als Wegweiser dient. 22 Am Lietzensee hat man es ebenso gemacht. Die große blinkende Seefläche muß eine gute Orientierung gegeben haben. Jetzt ist nichts mehr vom See zu erblicken. Alles ist mit Gestänge und Binsenmatten überdeckt. Uberall Kulissenbauten, es sieht so aus, als ob Häuser, Straßen und Vorgärten sich auf der einstigen Wasserfläche befänden. Und die großen Messehallen sind ebenso getarnt. Mehrstöckige Häuserkulissen sind auf die Hallen aufgebaut, breite Asphaltstraßen und Rasenstreifen scheinen hinüberzuführen. Wenn rund um den Lietzensee nicht noch so viele Zerstörungen von einem der großen Flugangriffe und so viele notdürftig reparierte Dächer zu sehen wären, könnte man das Ganze für einen gelungenen Karnevalsscherz halten. Wir haben heute an dem Spaziergang wenig Freude. Bisher konnte man doch wenigstens im Tiergarten immer ein paar Bänke zum Sitzen finden. Jetzt ist eine neue Bemalung aller Bänke erfolgt. Auf jeder steht jetzt: „Nicht für Juden!" Und dabei fehlt es an Arbeitskräften, und Ölfarbe ist nicht zu haben! Ich muß an Frau L. denken. Sie und ihr Mann sind fleißige, anständige Leute, die sich sehr mühselig mit Heimarbeit durchbringen. Die alte Frau sieht immer so blaß von der Zimmerarbeit aus, daß ich ihr ein paar Mal sagte, sie solle doch endlich mal sonntags irgendwo ins Freie fahren. Aber sie ängstigt sich vor dem Spazierengehen, wenn sie jeden Augenblick fürchten muß, daß jemand sie von einer Bank in den Anlagen fortjagen kann. Bis sie mir eines Tages erzählte, sie wäre wirklich im Grünen gewesen. Sie wäre nach Weißensee auf den großen jüdischen Friedhof gefahren. „Nein, wie schön es da gewesen ist! Alles so friedlich, und die schönen Blumen! Und niemand hat uns gestört!" Zum Mittagessen ist Kaethe bei uns. Sie soll jetzt immer sonntags zu uns kommen, da weiß ich, daß sie wenigstens an einem Tag der Woche einigermaßen satt wird. Wir sind zwei Personen, da kann bei gutem Willen schon mal ein Dritter mitessen. Selbst die Arier klagen, daß Einzelpersonen schlecht mit ihren Rationen auskommen. Für einen Juden ist es noch viel schwieriger. Ins Restaurant kann Kaethe nicht gehen. Am Eingang jeder Gastwirtschaft in Berlin hängt das Schild 22 Gemeint ist die Ost-West-Achse von Unter den Linden und weiter in Richtung Westen über die heutige Straße des 17. Juni, Bismarckstraße und Kaiserdamm.
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„Juden ist der Eintritt verboten!", und außerdem würden ihr nirgends ihre mit „ J " gestempelten Lebensmittelmarken abgenommen werden. M a n hat das N e t z um uns ganz eng gewoben. Unzählige Menschen sind damit beschäftigt, dieses N e t z zu überwachen und sich neue Schwierigkeiten für uns auszudenken. U n d das in einer Zeit, w o doch jeder gebraucht wird, u m das Land zu verteidigen. Kaethe erzählt von ihrer Mutter. D i e alte Frau lebt ganz allein in Frankfurt am Main. D o r t werden den J u d e n die Wohnungen gekündigt. A u s Leipzig haben wir es auch schon gehört. Eine Familie hat nur noch, wenn überhaupt, Anrecht auf ein Zimmer. D i e Juden sollen alle in „jüdischen H ä u s e r n " zusammengepfercht werden. D i e Mutter hat Fragebogen hergeschickt, die sie nicht allein ausfüllen kann. Es werden ganz genaue Angaben über die Vermögensverhältnisse verlangt, außerdem eine Aufstellung aller Möbelstücke und sonstigen Habseligkeiten. Vielleicht will man auch dort alle Juden enteignen und alles beschlagnahmen, wie es gerade in einigen Provinzstädten gemacht worden ist. E s könnte aber auch die Vorbereitung für einen Abtransport der J u d e n nach Polen sein. Von Wien und Prag sind bereits solche Deportationen nach den galizischen und polnischen Ghettos durchgeführt worden. 2 3 Man hört schreckliche Gerüchte über diese Verschikkungen. Augenblicklich ist aber das Schlimmste, daß die alte Frau nicht genug z u m Essen hat, denn es wird dort nur noch in einigen wenigen L e b e n s mittelgeschäften an Juden verkauft. D i e alte Frau ist krank und kann nicht täglich in weit entfernte Stadtteile laufen. Kaethe will hinüberfahren, sobald es irgend geht, um nach der Mutter zu sehen. D a s ist aber auch nicht einfach, denn die Gestapo in Frankfurt am Main gestattet nicht, daß fremde Juden sich dort ohne besondere Erlaubnis aufhalten. Kaethe darf also dort nicht übernachten, sondern muß nachts hin- und zurückfahren. E s ist schon ganz warm, wir können uns auf den Balkon setzen und Strümpfe stopfen. Ich wünschte, Kaethe käme von der Heißmangel weg. Sie sieht schrecklich schlecht aus, denn sie verträgt die H i t z e auch nicht. Übrigens hat sie einen Bezugschein für eine Arbeitsschürze beantragt, da sie keine besitzt. D e r Antrag ist aber abgelehnt worden. Für Juden gibt es keine Arbeitskleidung, sie solle sich an die Kleiderkammer der Jüdischen Gemeinde wenden. D o r t gibt es aber natürlich auch nichts mehr. Jetzt haben wir seit zwei Jahren schon keine Kleidungsstücke mehr kaufen können, seitdem die Kleiderkarten nur noch für „Arier" ausgegeben wurden. A m
23 Mitte Oktober 1939 waren erstmals fast 1.600 jüdische Männer aus Wien, MährischOstrau und Kattowitz in das Gebiet von N i s k o am San deportiert worden. Das „NiskoProjekt" wurde später abgebrochen, das Lager im April 1940 aufgelöst. 460 Überlebende wurden in ihre Heimat zurückgeschickt; 900 mährische Juden sollen von der SS über die sowjetische Grenze getrieben worden sein. Im Februar und März 1941 wurden über 5.000 Wiener Juden ins Ghetto L o d z transportiert (Moser 1991, S. 69f; Aly 1995, S. 64). In Prag liefen seit Sommer 1941 die Vorbereitungen zur Ghettoisierung (Schmidt-Hartmann 1991, S. 360f.).
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schlimmsten ist es mit den Strümpfen, wir bekommen ja nicht einmal den Bezugschein für Strumpfstopfgarn. In den ersten Kriegsmonaten gab es wenigstens noch „hintenrum" für kurze Zeit Strümpfe zu kaufen, und ein paar dünne Sommerstoffe waren punktfrei. Jetzt ist alles so knapp, daß es auch dies nicht mehr gibt. Auch nicht für Arier. Aber die bekommen doch wenigstens das, was ihnen auf ihre Punkte zusteht und außerdem schickten ihnen bisher die Soldaten das, was ihnen fehlte. Ich sah mal, wie eine Frau in unserem Hause ihrer Nachbarin ein Winterkostüm zeigte, das ihr Mann ihr beim Urlaub mitgebracht hatte, er hätte es „ganz billig eingekauft". Woher kommen denn alle die schönen Pelzmäntel und Silberfüchse, die Seidentücher, Wollstoffe und Schuhe, die man in den Straßen sieht? Die haben meistens Soldaten geschickt, aus Dänemark, Holland, Belgien, Frankreich und den Balkanländern. Jetzt läßt das aber auch nach. Europa ist ausgeplündert.
7 Bei der Expedition wird die fertige Wäsche sortiert und verpackt. Jeder Auftrag hat eine bestimmte Nummer, die in allen dazugehörigen Wäschestücken vermerkt ist. Die Packerinnen müssen genau vergleichen, ob auch alle Stücke des Wäschezettels eingepackt werden. Es bleiben immer einzelne Kartons zurück, weil nicht alles rechtzeitig angeliefert wurde, und andererseits sammeln sich Wäschestücke an, zu denen der zugehörige Karton erst gesucht werden muß. Ich soll dieses Einsortieren in die Fehlkartons besorgen. Da hab' ich Dusel gehabt! Keine Arbeit in der schlimmsten Hitze und keine langweilige Arbeit! Zu meiner großen Freude ist auch Kaethe in die Expedition gekommen. Eigentlich ist es „alles mögliche", daß Juden überhaupt bei einer so „gehobenen" Arbeit beschäftigt werden. Aber die arische Expedition kann wohl nicht die Arbeit für zwei volle Abteilungen leisten. Uns soll es recht sein, wir werden uns schon Mühe geben, denn wir sind ja schon glücklich, daß unser Arbeitsplatz am weitesten von den Maschinenungeheuern entfernt ist. Wir haben es sicher vier bis fünf Grad kühler als dort, und das will etwas sagen, wenn es auch noch heiß und dunstig genug ist. In den ersten Tagen ist in der Expedition ein unglaubliches Durcheinander. Wieder sind zum Anlernen von zwölf Menschen nur zwei Personen da, eine Vorarbeiterin und zeitweilig eine Aufseherin. Die Arbeitsfront hat nämlich die A n weisung gegeben, daß die Arierinnen so wenig wie möglich mit uns zusammenkommen sollen. Es ist doch immer die Angst, daß der deutsche Arbeiter irgendeine Ansicht hören könnte, die nicht vom Propaganda-Ministerium gebilligt ist. Wir werden auch nie in die Halle hineingelassen, bevor nicht die arische Schicht hinausgegangen ist. Die beiden Einarbeiterinnen können nicht an allen Stellen zugleich sein, obwohl aus allen Ecken nach ihnen gerufen wird. Wir können unmöglich wissen, was alle
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die Kreuze und Haken in den verschiedenen Farben auf den Wäschezetteln bedeuten. Es wird drauflos sortiert und gepackt, keiner versteht zuerst, worum es sich eigentlich handelt. Es stellt sich heraus, daß jeden Tag eine andere Arbeiterin uns anlernen soll. Das verbessert die Anleitung nicht. Aber die arischen Arbeiterinnen wollen trotz eines besonderen Lohnzuschlages diese Aufgabe nicht übernehmen, dann müßten sie genauso wie wir im Stockdunkeln nach Hause und davor fürchten sie sich. Es ist auch unheimlich so ganz allein in der Nacht dort in den Vororten, und im Berliner Westen ist es auch nicht anders. Um ein Uhr nachts, in mondlosen finsteren Nächten sieht man nicht drei Schritte weit. Ich gehe dann immer in der Mitte des Fahrdamms. Das ist immer noch angenehmer als auf dem Bürgersteig, denn es gibt viele Betrunkene, trotz des strengen Alkoholverbotes. Und besonders Soldaten, Mannschaften und Offiziere sind so oft betrunken, daß man sich wundern muß. Ein gewisses Gefühl der Sicherheit hat man allerdings dadurch, daß die Strafen für Belästigungen von Frauen während der Verdunklung furchtbar schwer sind. Ich weiß, daß vor wenigen Wochen bei einem Regiment zwei Soldaten erschossen worden sind, weil sie in der Nacht in der Betrunkenheit die Frau eines Wachtmeisters angerempelt haben. Wir sind jedenfalls immer froh, wenn wir endlich im Finstern unser Haus und mit dem Hausschlüssel schließlich das Schlüsselloch gefunden haben. Die Aufsicht über die Expedition hat Frau Schulz, eine kleine Frau, die unscheinbar aussieht, aber enorm viel leistet. Wahrscheinlich sind wir die ersten Juden, die sie aus der Nähe zu sehen bekommt, sie betrachtet uns etwa so wie Tiere im Zoo und wartet immer, daß wir irgendetwas ganz Absonderliches tun oder sagen könnten. Es muß ihr ein großes Vergnügen machen, daß sie über eine solche Zahl von Untergebenen kommandieren kann, man merkt es ihr bei jedem Wort an. Sie hetzt uns schrecklich herum, manchmal mit ganz unnötigen Aufträgen. Die Arbeit selbst interessiert mich. Jetzt vergeht die Zeit viel schneller, weil man aufpassen muß, was man tut. Es ist aber schwere körperliche Arbeit. Die Wäschekartons sollen durchschnittlich zwanzig Pfund wiegen, aber nur selten sind sie leichter, meistens wesentlich schwerer bis zu vierzig Pfund und sogar mehr.24 Ein Transportarbeiter kann auch nicht anders arbeiten als ich. Ich schleppe die Kartons hierhin und dorthin und verschnüre sie, wenn sie zum Abschicken fertig sind. Nach meiner Berechnung muß ich durchschnittlich dreihundert Mal solche Kartons täglich tragen und umbauen. Es gibt kleine Fahrtische, mit denen man sich die Arbeit erleichtern könnte, aber es wird gewünscht, daß wir sie nur im Notfall benützen. Frau Schulz gehört zu den Leuten, die gegen jede Vereinfa24 Die vom Reichsarbeitsministerium immer wieder bekräftigten Arbeitsschutzbestimmungen verboten das Heben und Tragen von Lasten über 15 kg für Frauen (Winkler 1977, S. 68 und 155). Für Juden war der Arbeitsschutz jedoch eingeschränkt; zudem konnten die Gewerbeaufsichtsämter Bestimmungen erlassen, die von den geltenden Arbeitsschutzbestimmungen abwichen (Maier 1994, S. 118f. und S. 129).
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chung einer Arbeit sind, weil sie glauben, man arbeitet nicht richtig, wenn man sich nicht ordentlich dabei abschindet. Wenn das Tragen der schweren Kartons nicht so furchtbar anstrengend bei dieser tropischen H i t z e in der Halle wäre, könnte es einem ja gleich sein, aber ich weiß von den anderen Vorarbeiterinnen, daß die arische Schicht die Fahrtische viel benützt, weil dort die Frauen auch nicht alle solche Bärenkräfte haben wie Frau Schulz, die immer mit ihren erstaunlichen Leistungen protzt. Wir helfen uns alle gegenseitig soviel wie möglich, sobald Frau Schulz nach der ersten Stunde die Arbeit eingeteilt hat und nach H a u s e gegangen ist. Aber wir müssen vorsichtig damit sein, sonst k o m m t gleich die Dicke angelaufen. „Meine Damen, hier wird immer hübsch allein gearbeitet!" Allein arbeiten und nicht hinsetzen, sind die Devisen dieser Fabrik. E s ist immer der reine H o h n , wenn die Dicke uns mit „meine D a m e n " anredet. Ich gehe ihr aus dem Wege, w o ich kann. D i e Kameradinnen in der Expedition sind alle nett. E s sind nur Frauen mit besserer Schulbildung dorthin gekommen: Drei Kindergärtnerinnen, eine Sängerin v o m Kulturbund, ein paar Frauen, die früher im Geschäftsleben standen, auch die ältere Frau, der damals am ersten Tag schlecht wurde und die drei Söhne im Ausland hat, unsere „ O m i " . A m Tisch neben mir arbeitet eine Frau, deren Schicksal mich sehr beschäftigt. Sie ist von ihrem arischen Mann geschieden und kinderlos. D i e Behörde, bei der der Mann arbeitet, hat seine weitere Anstellung nicht nur von der Scheidung abhängig gemacht, sondern man hat ihm später nahegelegt, sich wieder zu verheiraten, und er hat diesem D r u c k und dem Drängen seiner Familie nachgegeben. Meine K a m e radin war vierzehn Jahre glücklich mit ihm verheiratet, sie hat schwere Zeiten im Anfang der Ehe getreulich mit ihm getragen und liebt ihn immer noch, trotz seiner Charakterschwäche. Jetzt muß sie mit ansehen, wie er mit der zweiten Frau und dem Kind aus der zweiten Ehe glücklich ist und sie vergißt. O h n e ihre Schuld ist ihr ganzes Lebensglück zerbrochen. E s gibt unzählige solcher Tragödien. M a n regt sich immer wieder auf, wenn man von solchen Schicksalen hört.
8 In der ersten Pause sitzen wir, seitdem es wärmer geworden ist, „im Garten". Hinter dem Waschhaus ist ein Stück grüner Rasen mit ein paar Bänken. D e r Rasen ist frisch gesät, die ersten gelben Löwenzahnblüten stehen darauf, ein paar Spatzen hüpfen in der Sonne. D i e paar Minuten im Freien sind eine Erfrischung nach der Arbeit in der heißen, schlechten Luft. Dieser Rasenplatz ist neu angelegt. D a ß auch wir Juden dort sitzen dürfen, ist nur darauf zurückzuführen, daß wir wegen der sauberen Wäsche nicht in der Halle essen können. D i e Arbeitsfront verlangt von den Betrieben, daß sie unter dem M o t t o „ K r a f t durch F r e u d e " die Arbeitsplätze verschönern, gute Aufenthaltsräume, Spiel- und
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Sportplätze usw. für die Arbeiter einrichten. Unsere Firma hat also diesen Rasenplatz für den Sommer und den großen Kantinenraum für den Winter und Blumenkästen an der Eingangshalle zu den Fabriken. 2 5 Die arische Belegschaft soll auch nächstens einen Dampferausflug machen. Ich weiß nicht recht, das sind solche Kleinigkeiten. Sie sollten lieber den ganzen Betrieb auf größere Schonung der Menschenkraft umstellen und für genügend Hocker und Schemel sorgen, damit eine Frau sich innerhalb der Arbeitszeit auch einmal hinsetzen kann. Denn das gibt es ja angeblich für die arische Arbeiterin auch nicht. D a hört man soviel von Organisation der Arbeit und Erleichterungen der Frauenarbeit. Natürlich, wir haben Krieg, da haben die Fabrikleitungen an anderes zu denken, aber unser Betrieb muß auch vorher schon reichlich altmodisch und unrationell in der Behandlung des Menschenmaterials gewesen sein. An allen Anschlagsäulen in der Stadt werden Arbeiterinnen gesucht und angenehme 1 leichte Arbeit versprochen. Hoffentlich ist es in anderen Betrieben anders als hier. In der Zeitschrift der Arbeitsfront, die gerade in der Expedition herumliegt, steht ein erbaulicher Artikel über die Behandlung der Frauen in Fabrikbetrieben. 2 6 Lauter schöne Theorie: Wie die Mütter des Deutschen Volkes jetzt zwar die Stellen der Männer einnehmen müssen, daß aber nie vergessen werden darf, ihre Kräfte zu schonen. Frauen sollen nie mehr als höchstens fünfzehn bis zwanzig Pfund tragen. Man soll für jede mögliche Erleichterung sorgen, älteren Frauen grundsätzlich nur Arbeit mit Sitzmöglichkeit geben usw. - wir haben ja so gelacht! Schade, daß man das nicht eingerahmt als Leitspruch über den ganzen Betrieb hängen kann! Eingerahmte Leitsprüche gibt es übrigens bei uns genug. Sie hängen überall, meistens sind es Zitate aus „Mein Kampf" oder einer Rede des Führers. Auch die Bilder von Adolf Hitler hängen in jedem Raum. Das wird sehr geschickt gemacht. Eine Parteistelle versendet diese schön gedruckten Leitsprüche an sämtliche Arbeitsbetriebe in Deutschland, jede Woche gibt es einen neuen Spruch. Außerdem hängt überall ein Merkblatt über den Verkehr mit Kriegsgefangenen. Unsere Fabrik hat eine ganze Abteilung Franzosen, die hier draußen in einer Baracke untergebracht sind. Sie arbeiten in geschlossenen Gruppen in den einzelnen Abteilungen. Ein paar sind Betriebshandwerker und Tischler und reparieren alles, was nötig ist. Nach dem Merkblatt ist es den deutschen Arbeitern streng verboten, mit ihnen mehr als nur sachlich über die Arbeit zu sprechen.
25 Die „Nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude" ( K d F ) wurde im November 1933 gegründet. Sie war der D A F zugeordnet und unterhielt ein besonderes A m t „Schönheit der Arbeit", das sich in den Betrieben für Maßnahmen, wie die hier beschriebenen, einsetzte. Vgl. Sachse 1990 (Siemens), S. 59. 26 Gemeint ist vermutlich: „Die Frau am Werk. Zeitschrift für die werktätige Frau in der D A F " , die seit 1936 erschien und eine Fülle solcher Artikel veröffentlichte.
8 Der Stachel der Zwangsarbeit
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Vor allen Dingen werden die deutschen Arbeiterinnen sehr scharf gemahnt, nie die „Würde der deutschen F r a u " zu vergessen. E s ist gefährlich, mit Gefangenen zu sprechen. Wenn eine deutsche Arbeiterin dabei angetroffen wird, dann wird sie im Schulungslager schon zurechtgebogen. Kaethe und ich sitzen zusammen in der Sonne. Wir können von unserem Platz aus die ganze jüdische Belegschaft gut übersehen. D a sitzen die jungen Mädel. Glücklicherweise sind sie meistens ganz vergnügt, so schlecht sie auch bei der schweren Arbeit aussehen. Viel schlimmer ist es mit den alten Frauen. Heute ist wieder eine an der Heißmangel ohnmächtig geworden. Die Behandlung solcher Fälle ist sehr einfach. M a n hat sie auf den Rasen herausgetragen, bis sie sich wieder erholte, und dann durfte sie weiterarbeiten. Wie besorgt die meisten der Frauen aussehen, und wie erschöpft sie auf den Bänken sitzen. E s sind so viele mit Krampfadern dabei. Wenn man beim Arbeiten hin und her gehen kann, ist es nicht so schlimm, wie wenn man acht Stunden lang am selben Platze steht. In der Schmutzwäscheabteilung arbeiten jetzt lauter alte Frauen. D o r t ist wenigstens manchmal Sitzen erlaubt. Aber das ist ja eine furchtbare Arbeit. Ich kann es verstehen, daß ein paar Frauen sagen, sie ekelten sich so schrecklich, sie wüßten gar nicht, wie sie sich zu dieser Arbeit zwingen sollten. D i e arischen Arbeiterinnen haben auch erklärt, wenn jetzt Juden da seien, so könnten diese die ganze Schmutzwäscheabteilung übernehmen, sie selbst wollten es nicht mehr. D i e meisten jüdischen Frauen sind wirklich nett und vertragen sich gut miteinander. Schlimm ist, daß zwei geistig nicht normal sind. E s ist doch jeder, dem nicht gerade ein Glied fehlte, v o m Arbeitsamt genommen worden. Jetzt hat es sehr unangenehme Szenen gegeben. D i e eine Frau hat plötzlich einen Wutanfall bek o m m e n und ist mit einem Messer auf ihre Nachbarin losgegangen. D a s war drüben in der anderen Abteilung, w o U n i f o r m e n von Kriegsgefangenen zertrennt werden. D e r Meister ist dazu gekommen und hat die beiden Frauen auseinander gerissen. Im anderen Fall hat sich die betreffende Frau ganz merkwürdig benommen. Sie hat sich an die Meister und Vorarbeiterinnen herangemacht und hat immerfort auf die Juden geschimpft, das wären ja doch bloß Lügner und arbeitsscheue Leute. Sie hat sogar vorausgesagt, daß sicher die J u d e n alles „klauen" würden, was nicht niet- und nagelfest sei. Ein aufmerksamer Beobachter hätte sofort feststellen können, daß beide Frauen geisteskrank sind. Mir sagte einmal ein arischer Nervenarzt: „Ich wundere mich über jeden Juden, der hier in diesem Lande den Verstand behält. Es ist unbegreiflich, daß sie diesen D r u c k jahrelang aushalten!" Leider verstehen die arischen Meister und Arbeiter nicht, daß es sich um Kranke handelt. Sie sind empört über die Vorfälle. „ S o was ist doch noch nie v o r g e k o m m e n , so was gibt es wohl nur bei J u d e n ! " D e r Abteilungsleiter der Messerstecherin soll seitdem unerträglich streng sein. E s ist ja leider immer so, daß die J u d e n immer alle in einen Topf geworfen werden, und so fällt natürlich alles auf die ganze jüdische Belegschaft zurück.
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9 Eine Frau aus deutschem Adel
D i e Pausen dauern eine Viertelstunde. Wir sollen pünktlich wieder anfangen. Die Dicke bleibt in der überhitzten Halle bei ihrer Weckuhr sitzen. Lieber brät sie dort, ehe sie sich zu den J u d e n ins Freie setzen würde. N a c h fünfzehn Minuten k o m m t sie uns holen: „Meine Damen, die Arbeit fängt wieder an, was sitzen Sie hier noch draußen rum! Los! Los!" Drei oder vier von uns älteren sind dann fast immer schon zu einer anderen T ü r in die Halle hineingegangen. Wir sind keine kleinen Mädel, die sich anschnauzen lassen. Lieber fangen wir eine Minute eher von selbst wieder an. Ich muß immer an einen Schulaufsatz denken: „ D a s Gesetz nimm auf in Deinen Willen, und es steigt von seinem Herrscherthron!" Damals in der Klasse haben wir über dieses verrückte T h e m a gelacht. Jetzt ist mir sehr klar, was es bedeutet. Diese Arbeit ist so furchtbar, weil wir dazu gezwungen werden. Man kann sie sich nur erträglich machen, wenn man über diesen Z w a n g hinwegkommt. Wenn ich freiwillig rechtzeitig meine Pause abbreche, dann kann es mir gleich sein, ob die Dicke mit ihrer scheußlichen Keifstimme mich holen kommt. Wenn ich mir selbst die A u f g a b e stelle, mit der Arbeit fertig zu werden, dann hat die Zwangsarbeit ihren Stachel verloren. Wir wollen es jedenfalls hoffen, daß sie ihn verliert! E s ist furchtbar anstrengend. Abends wenn wir nach Arbeitsschluß unsere Kittel in die Schränke hängen, sind sie patschnaß, so sind sie durchgeschwitzt. Dabei sagt uns die Vorarbeiterin, daß es jetzt noch gar nicht schlimm wäre, im richtigen S o m m e r gäbe es noch eine ganz andere Hitze. Jetzt haben wir A n f a n g Mai. D i e Sonne brennt auf das schwarz getarnte Glasdach der Halle. D i e Belüftung ist eigentlich doch nur für eine Arbeitsschicht unter normalen Bedingungen eingerichtet. Sie reicht nicht aus für die zwei Schichten, die pausenlos aufeinander folgen. Wenn die jüdische Belegschaft in die Halle hineingelassen wird, ist die L u f t so schlecht und verbraucht, daß man kaum atmen zu können glaubt. U n d wenn dann abends alle Fenster wegen der Verdunklung auch noch fest geschlossen werden, um keinen Lichtstrahl hinauszulassen, wird es noch schlimmer.
9 Glücklicherweise sind ein paar freie Tage. D e r 1. Mai ist frei, und dann k o m m e n die zwei Pfingstfeiertage. D a d u r c h wird uns das Einarbeiten sehr erleichtert. D i e arische Schicht erreicht es, daß sie auch den Pfingstsonnabend frei b e k o m m t , für die jüdische Schicht gibt es natürlich solche Vergünstigungen nicht, aber wir können auf diese Weise an d e m Sonnabend schon u m sieben U h r früh anfangen und sind eher mit der Arbeit fertig. Bei dieser Gelegenheit merken wir übrigens, wieviel besser die L u f t und wieviel leichter die Arbeit während der Frühschicht ist.
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Beim Nachhausegehen von der Arbeit an diesem Sonnabend, zum ersten Mal im Tageslicht, treffe ich die alte Frau von B. Sie kommt auf mich zu, um zu fragen, ob wir etwas von unseren Kindern gehört hätten. Glücklicherweise kann ich es bejahen. Endlich ist wieder einmal eine Nachricht gekommen, daß alle drei gesund sind. Sie will wissen, wo ich herkomme. Zu meinem Bericht sagt sie nicht viel. Ich frage, wie es ihr selbst geht. „Ich muß mich mit dem Gedanken abfinden, daß wir zu dem Volke gehören, das Englands Städte zerstört und Englands Zivilbevölkerung mordet!" Das ist nun eine Frau aus einer guten Familie des deutschen Adels. Sie steht mit ihrer Ansicht nicht allein da, das weiß ich. Zum Kriegsanfang war ich einmal mit verschiedenen adligen Damen zusammen. Es wurde davon gesprochen, daß ein junger Mann zum Heeresdienst eingezogen werden würde. „ D a s ist ja schrecklich", sagte die eine. „Ist er denn nicht in irgendeinem wichtigen Betrieb oder irgendeiner Regierungsstelle, damit er reklamiert werden kann?" Darauf meinte eine andere: „Es ist doch seltsam, wie wir hier über solche Sachen sprechen. Die meisten meiner Vorfahren sind in irgendeinem Krieg gefallen. Mein Vater schon vor meiner Geburt. 1914 hat sich jeder freiwillig zum Heeresdienst gemeldet, und die jungen Leute konnten es gar nicht schnell genug damit haben. Mein eigener Bruder war erst siebzehn, als er sich 1914 freiwillig stellte und dann bis zum Kriegsende immer an der Front war. Aber diesmal, das ist doch etwas ganz anderes. Wenn einer nicht Parteibonze ist, dann drückt er sich. So etwas von einem unpopulären Krieg hat es doch noch gar nicht gegeben!" Allerdings haben sich unterdessen in diesen Kreisen die Ansichten teilweise sehr geändert. Die großen Erfolge, die Hitler mit den „Blitzkriegen" gehabt hat, waren seine beste Propaganda. Wer damals zum Anfang nicht hat mitmachen wollen, der hat bei diesen Erfolgen Zweifel bekommen, ob das nicht doch der richtigste Weg zu Deutschlands Größe wäre. Der Glaube an Hitlers Fähigkeiten ist immer mehr gewachsen. U n d gerade die Adelskreise haben in der letzten Zeit sehr stark umgeschwenkt. Die Großgrundbesitzer verdienen gut. Die jungen Leute sind begeisterte Soldaten, denen das einfach im Blute liegt, und für einen Soldaten kann es nichts Großartigeres geben als diesen Siegesvormarsch der letzten beiden Jahre. Die deutschen Generäle und Feldmarschälle haben wunderbare Aufgaben und riesige Gehälter. Es heißt, daß sie alle Rittergüter in den neuen Ostprovinzen bekämen. Große Politiker sind unter den deutschen Militärs immer selten gewesen. Sie kennen nur ein Ziel: Deutschlands militärischen Sieg.
10 Wir wollen die beiden Pfingstfeiertage ganz zum Erholen ausnützen und in den Wald fahren. Ich bereite am Sonnabendabend alles dafür vor und packe einen Rucksack mit dem Proviant, den wir mitnehmen wollen, als es plötzlich abends
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um dreiviertel zehn klingelt. Um Himmels Willen! Wer kann so spät unangemeldet kommen? Jüdische Bekannte können es nicht sein, die dürfen nach acht Uhr ja nicht mehr unterwegs sein. Das kann doch nur eine Haussuchung sein! Es klingelt noch einmal. Was sollen wir bloß machen? Sie werden meinen Mann holen. Aber wo soll er sich in der kleinen Wohnung verstecken? Es hilft nichts, wir müssen aufmachen. Ich gehe öffnen. Im verdunkelten Hausflur steht ein Mann in Uniform. Ich sehe ihn entsetzt an. „ Ja, was haben Sie denn, erkennen Sie mich nicht ?" Es ist ein guter Freund von uns, der auf Urlaub aus Belgien da ist. Er ist ganz bestürzt, daß er uns so erschreckt hat. Ein Arier kann sich ja wohl nicht vorstellen, was für gehetzte Menschen wir sind, seitdem damals im November 1938 zum ersten Mal die jüdischen Männer ohne jeden Grund aus ihren Wohnungen geholt und wochenlang in die Konzentrationslager gesperrt worden sind zur Sühne für einen Mord, von dem keiner von ihnen etwas wußte, und der höchstwahrscheinlich aus homosexuellen und nicht aus politischen Motiven erfolgt ist. Er gab den Nazis nur den Vorwand, die Sühneabgabe von einer Milliarde zu rauben, für deren Erhebung die Formulare schon seit Jahresfrist vorbereitet waren. Die Jahreszahl des Druckes war nämlich schön ordnungsgemäß auf dem Bogen vermerkt! 27 Damals sind viele Juden tagelang in Berlin herumgeirrt und haben nicht gewagt, ihre eigene Wohnung zu betreten. Mein Mann flüchtete zu Bekannnten in die Provinz. Ich werde nicht vergessen, wie eine unserer Töchter ganz verstört aus der jüdischen Schule nach Haus kam: „Mutti, alle Väter von allen Mädeln aus meiner Klasse sind verhaftet, bis auf Vati und noch einen. Was soll ich denn bloß den anderen sagen, warum unser Vati nicht auch im KZ ist! ?" Als vier Monate später ein Parteigenosse unser Haus kaufen wollte und zufällig darüber gesprochen wurde, sagte der: „Ich weiß gar nichts von diesen Verhaftungen. Ja, wenn Sie verhaftet worden wären, dann würde mir alles dies zu denken geben. Aber Sie sind ja nicht verhaftet worden, und das ist für mich der sichere Beweis dafür, daß alle anderen etwas auf dem Kerbholz hatten! In Deutschland werden nur Schuldige verhaftet!" 27 A m 28. 10. 1938 wurden mindestens 15.000 Juden mit polnischen Pässen über die Reichsgrenze nach Polen abgeschoben. Darunter war auch das Ehepaar Grynszpan aus Hannover. Ihr siebzehnjähriger Sohn lebte in Paris; er erschoß dort, nachdem er diese Nachricht erhalten hatte, den deutschen Botschaftssekretär von Rath. Dieses Attentat nahm das NS-Regime zum Anlaß für das Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Das Pogrom war eine reichsweit geplante Aktion, die von der NSDAP, der SA und der SS durchgeführt wurde, während die deutsche Bevölkerung meist tatenlos zuschaute. In dieser Nacht wurden 91 Juden ermordet und fast 30.000 verhaftet. Uber 1.000 Synagogen wurden in Brand gesteckt oder demoliert und 7.500 Geschäfte jüdischer Besitzer verwüstet. In den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau starben während der monatelangen Haft Hunderte der Inhaftierten. Vgl. Richarz 1989, S. 53.
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Das H a u s der Familie Freund in der Miquelstraße 81 in Berlin-Dahlem, a u f g e n o m m e n
1995. N u r Schuldige? 30.000 Menschen sind damals schätzungsweise in Berlin allein verhaftet worden, viele unserer Freunde und Bekannten, alle ohne jeden Grund. Und wieviele von ihnen sind in den Konzentrationslagern elend umgekommen. Man hat sogar Achtzigjährige in die Lager geschleppt. Unsere Furcht heute ist auch nicht unbegründet, denn es finden wieder überall Haussuchungen statt, und zwar nach verborgenem Geld und nach Lebensmitteln. Juden dürfen kein Obst kaufen, Gemüse ist nur teilweise freigegeben. Wenn Apfel oder Tomaten gefunden werden oder gar Schokolade oder Bohnenkaffee, dann wird verhaftet, oder es werden hohe Geldstrafen verhängt. Wir selbst hatten erst vor ein paar Wochen eine Haussuchung der Zollfahndungsstelle. Im Zusammenhang mit der Sicherung unseres Bankkontos hatten wir genaue Aufstellungen über unser Vermögen einreichen müssen. Man glaubte, eine falsche Angabe gefunden zu haben. Glücklicherweise war es uns sofort möglich, das Mißverständnis aufzuklären. Aber auf jeden Fall verhörten uns die Beamten drei Stunden lang und prüften alle unsere Papiere und Bankauszüge. Als sie dann schließlich weggingen, sagte der eine lachend:
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„Wenn wir sonst wo weggehen, nehmen wir eigentlich meistens den Wohnungsinhaber mit. Sie können sich wahrhaftig gratulieren." Wir brauchen einige Zeit, bis wir uns an dem Besuch unseres Freundes freuen können. Es ist doch wirklich nett, daß er gekommen ist. Er bringt uns sogar Sunlicht-Seife aus Belgien mit, wie herrlich! Denn die Kriegsseife ist so schrecklich schlecht und die Ration ganz unzureichend. So ein guter Kerl! Er kann einem auch leid tun. Es gibt wohl nicht so bald einen größeren Gegner der Partei. Er ist seiner politischen Einstellung wegen 1933 gezwungen worden, seine Stellung als Oberlehrer aufzugeben, und hat sich dann sehr mühselig mit Privatunterricht durchgebracht. Jetzt ist er zum Militärdienst eingezogen und muß mitmachen, ob er will oder nicht. Wenigstens ist er als älterer Landsturmmann nicht an der kämpfenden Front. Er hat Kinder und will jetzt die Familie irgendwo auf dem Lande unterbringen, damit sie besser ernährt werden. Für ihn ist das Schlimmste, daß seine Jungen in die Hitlerjugend eintreten müssen. 28 Es ist Zwang, er kann sich nicht dagegen wehren, daß sie in einem Sinne erzogen werden, der ihm unerträglich ist. Bisher hat er immer noch versucht, den Kindern klarzumachen, daß es auch andere Weltanschauungen gäbe. Jetzt, seitdem er beim Militär ist, hat er auf die Kinder gar keinen Einfluß mehr. Wir reden darüber, ob und wieweit er es eigentlich verantworten kann, die Kinder in seinem Sinne zu erziehen. Er sagt, daß es ihm ja gleich sein könne, er hätte seine Stellung sowieso verloren, er riskiert also nicht mehr, hinausgesetzt zu werden, sobald der Junge „aus der Schule plaudert". Aber kann man es eigentlich einem zehnjährigen Jungen, der nun einmal Hitlerjunge sein muß, zumuten, dort im Kreis der Kameraden mit Ansichten hervorzutreten, für die es dort nur Verachtung und Bestrafung gibt. Es ist eine schreckliche Belastung für ein Kind, schweigen und heucheln zu müssen, um seine eigene Meinung nicht laut werden zu lassen. Es muß doch dadurch unfrei und gedrückt werden. Es mag ja noch Kinder geben, für die das Verfechten ihrer eigenen Meinung selbst gegen eine erdrückende Ubermacht von anderen Ansichten die beste Erziehung ist. Aber das sind Ausnahmen. In Wirklichkeit hat doch ein zehnjähriger Junge noch keine eigene Meinung, für die er eintreten kann. Er bildet sie sich erst, und zwar an dem, was er mit Uberzeugung vorgetragen bekommt, und das ist seit acht Jahren immer dasselbe. Es gibt bei der Hitlerjugend soviele Zwangsmittel gegen Jungen, die etwa nicht mitmachen wollen, daß es hoffnungslos ist, sich in diesem ungleichen Kampfe zu wehren. Wir fragen nach der Stimmung bei der Truppe. Die Leute dort bei der Besatzungsarmee haben es recht über. Es sind alles ältere Männer, die nach Hause wollen. Die 28 Die Hitlerjugend (HJ) entstand 1926 als Jugendorganisation der NSDAP. Ende 1932 hatte sie etwa 50.000 männliche Mitglieder; 1935 waren es bereits über 800.000. Der Druck auf die „arischen" Jungen, der HJ beizutreten, wurde immer stärker, so daß nach 1939 von einer A r t Zwangsmitgliedschaft gesprochen werden kann, obwohl nie alle Jahrgänge vollständig erfaßt wurden. Vgl. Reese 1989, S. 3 4 - 4 2 .
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Frauen zu Hause werden mit den Geschäften nicht gut allein fertig. Die belgische Bevölkerung ist nicht gerade freundlich eingestellt. Es scheint aber gar keine Aussicht auf baldigen Frieden zu sein. Ein Friedensangebot soll wieder gemacht worden sein, Hitler hat aber so unbeschreibliche Bedingungen gestellt, daß es von vornherein keine Aussichten hatte. Die Engländer haben schon so oft erklärt, daß es keinen Frieden in Europa gibt, bevor Hitler nicht abgewirtschaftet hat. Weiß man irgendetwas über die neuen Absichten der Heeresleitung? Man redet doch wieder soviel über einen großen Angriff auf England. Die ganze Fischereiflotte in der Kanalzone soll zusammengebracht worden sein und übt „Landung an Steilküsten". Dann hört man wieder, daß der Gedanke eines Landungsversuches fallen gelassen worden ist. Vielleicht ist das Reden von dem Angriff auf England nur ein Täuschungsmanöver, um statt dessen etwas ganz anderes vorzubereiten, vielleicht einen Einmarsch in die Schweiz oder ein Vorgehen auf dem Balkan. Man weiß überhaupt nichts Zuverlässiges.
11 Die beiden freien Tage sind unbeschreiblich schön und erholsam. Wir fahren nach dem Osten Berlins, weit hinaus bis hinter Erkner. Die Stadtbahnzüge sind überfüllt, aber sobald wir erst im Wald sind, verlaufen sich die Menschen schnell, und wir sind bald allein. Hier im Wald sind wir wenigstens noch freie Menschen. Hier gibt es noch keine Aufschriften: „Nicht für Juden!" D e r Waldboden ist bedeckt mit blühenden Maiglöckchen, es duftet wunderbar. Wir lagern uns am Waldrand im Grase mit einem weiten Ausblick über das märkische Land. Wir hatten uns überlegt, ob wir Freunde auffordern sollten, mit uns zu kommen. Aber wir haben es gelassen. Wir zwei können miteinander schweigen, und das ist schön und erholsam. Wenn man mit anderen zusammen ist, dann kommt man ja doch nicht von den schrecklichen Gesprächen über den Krieg und unsere eigene Lage los. Unter Juden gibt es nur ein Thema. Jeder erzählt neue schreckliche Geschichten, das ist nicht zu ertragen, und leider ist das meiste nicht übertrieben. Und wenn man mit Ariern zusammen ist, ist es dasselbe, dann sollen wir erzählen, weil sie ja nichts von unseren Schwierigkeiten wissen. Das regt uns auf und ist für die Zuhörer genauso schlimm. Sie können ja doch nicht helfen. Wir kennen genug, die die Behandlung der Juden in Deutschland als schreckliche Schande empfinden. Es ist wie ein Fluch, der an uns klebt, das Zusammensein mit uns muß für unsere arischen Freunde quälend sein. Diese beiden Tage sind die letzten Erholungstage für lange Zeit. Wir pflücken große Sträuße Maiglöckchen und bleiben den ganzen Tag im Walde. Den nächsten Tag fahren wir wieder hinaus. Diesmal aber machen wir einen langen Marsch. Wir sind ordentlich gebräunt von der Sonne. Wenn wir doch auch so wie die anderen Familien mit unseren Kindern hier zusammen wandern könnten! Wann werden wir sie eigentlich wiedersehen?
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Es ist ja ein Selbstbetrug. Wir werden auch zu zweien unsere Sorgen nicht los und müssen davon sprechen. Wir haben so sicher geglaubt, daß wir jetzt die Visa für die USA bekommen müßten, aber wir haben noch immer nichts darüber gehört. Unsere Geschwister in Amerika schreiben, wir sollten uns beim amerikanischen Konsul erkundigen. Sie hätten alles geregelt, die Affidavits für uns liegen beim Konsulat und sind gut und ausreichend, es ist sogar ein Bankdepot für uns gestellt worden, und man hat eine Bescheinigung der Schiffahrtslinie geschickt, daß die Fahrkarten bereits bezahlt sind. Unsere Wartenummer ist längst an der Reihe. Aber es ist wie ein Verhängnis, wir haben die Vorladung aufs Konsulat noch immer nicht. Wenn wir nur wüßten, woran es liegt, daß wir nicht weiterkommen. Leider wird im Konsulat keine Auskunft über den Stand von Auswanderungssachen erteilt. Wir sind vollkommen ratlos. Wenn wirklich eines Tages Amerika in einen Krieg mit Deutschland eintritt, und es sieht doch alles bedrohlich genug aus, wenn dann alle Verbindungen mit dem Ausland gesperrt sind und wir die Visa nicht rechtzeitig erhalten haben! Es ist gar nicht vorstellbar - dann sehen wir doch die Kinder überhaupt nicht mehr wieder! Es ist wirklich zum Verzweifeln! Wir haben schon soviel unternommen, um aus Deutschland fortzukommen. In der Schweiz, Dänemark und Schweden haben wir Anträge auf Einreiseerlaubnis gestellt. Es war alles erfolglos, obwohl wir in allen diesen Ländern gute Verbindungen hatten. Im Frühling 1939 haben wir uns durch einen Agenten für dreitausend Mark die Einwanderungspermission für Mexiko verschafft, wir haben aber das Visum nie erhalten, weil das mexikanische Konsulat verlangte, daß wir Pässe vorlegen sollten, die zur Rückreise nach Deutschland berechtigten, und solche Pässe gab die deutsche Behörde für Juden nicht aus. Dann erhielten wir im August 1939 wirklich das Permit für England. Aber es kam zu spät, erst zehn Tage vor Kriegsausbruch, und in dieser kurzen Zeit konnten wir nicht die Formalitäten bei den deutschen Behörden erledigen. Im Frühling 1940 bekamen wir die Einreiseerlaubnis für Portugal. Wir machten sofort alles fertig, beantragten unsere Pässe - da kam der Einmarsch der deutschen Truppen nach Holland, Belgien und Frankreich, ein Flüchtlingsstrom ergoß sich nach Portugal, und die portugiesische Regierung widerrief telegrafisch sämtliche erteilten Genehmigungen. Wir hatten dabei noch Glück, daß wir noch nicht unsere Wohnung aufgegeben und noch nicht unsere Einrichtung verkauft hatten. Es war auch gut, daß wir im Dezember 1940 nicht bereits das Geld für die Panama-Visa bezahlt hatten, als wir merkten, daß die uns angebotenen Visa gar nicht zur Landung in Panama berechtigten. Es kann uns jetzt wieder so gehen, daß wir wieder nicht fortkommen! Wir sind überzeugt, daß Amerika in Wirklichkeit helfen will und die europäischen Flüchtlinge in großzügigster Weise aufnimmt. Aber sie wissen dort drüben nicht, wie schwierig die Lage ist, sonst würden sie doch diesen armen gequälten Menschen erlauben, schnell herüberzukommen, solange es noch möglich ist. Sie könnten sie dort in ein Camp einsperren, bis die Verhältnisse jedes einzelnen
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Die Geschwister Clare, R u dolf und Ursula Freund (von links) trafen während ihres achtjährigen Exils in England nur einmal alle zusammen. Bei dieser Gelegenheit in Hampshire entstand diese Aufnahme.
geklärt sind, und die Hilfskomitees könnten die Kosten dafür tragen, - aber hier müssen wir fort und so schnell wie möglich, sonst geht es uns wie den unglücklichen Menschen, die aus Stettin nach Polen verschleppt wurden 29 , oder wie den Juden aus Baden, die man nach Frankreich schickte und dort in den Pyrenäen gefangen hält. Ein Bruder meines Mannes, ein Arzt, mit seiner Frau und seiner alten Schwiegermutter gehören auch dazu. Im Oktober 1940 sind sie plötzlich aus ihrer Woh29 Die erste Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen fand am 12./ 13. Februar 1940 in Stettin statt. Es wurden etwa 1.200 Juden aus Stettin und der Provinz P o m m e r n in die Region von Lublin verschleppt (Richarz 1989, S. 526; Arndt/Boberach 1991, S. 40f.).
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nung in Freiburg/Breisgau geholt worden, man hat ihnen nur kurze Zeit gelassen, um etwas zusammenzupacken. Fünfzig Pfund Gepäck pro Person waren erlaubt, aber alte Leute können ja nicht soviel tragen. Alles andere Besitztum mußte dableiben, die Wohnungen wurden versiegelt und der Inhalt nach einigen Wochen versteigert. Siebentausend Menschen sind so aus Baden und der Pfalz ins unbesetzte Frankreich geschickt worden. Frankreich war nämlich verpflichtet, die französischen Elsaß-Lothringer wieder aufzunehmen. Und da hat man ihnen diese Badenerjuden als „Elsaß-Lothringer" zugeschickt. 30 Ein feiner Dreh! Bei dieser Aktion sind selbst die Altersheime geräumt worden. Alte Männer und Frauen bis zu neunzig Jahren wurden verschleppt, starben zum Teil schon auf dem Transport oder später in den Konzentrationslagern, in die sie von der Vichy-Regierung gebracht wurden. Das Lager war wenigstens ein Dach über dem Kopf. Der letzte kalte Winter, den sie dort im Gebirge ganz schlecht ernährt verbrachten, muß furchtbar gewesen sein. Mein Schwager kam mit Hungerödemen ins Lazarett, viele andere mit schweren Erfrierungen. Wir haben versucht, Geld oder Pakete nach dem Camp de Gurs zu schicken. Es war alles vergebens, Pakete wurden auf der Post nicht angenommen, Geldsendungen waren verboten. Dabei standen doch der deutschen Regierung französische Franken im Uberfluß zur Verfügung. Alles Vermögen der Verschleppten wurde beschlagnahmt. Es sind immer wieder Eingaben gemacht worden, um meinem Schwager wenigstens einen kleinen Geldbetrag von seinem eigenen Bankkonto schicken zu dürfen. Er hat den Weltkrieg als Offizier mitgemacht und besitzt das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Sein ehemaliger Regimentskommandeur hatte den Mut, selbst eine Eingabe für ihn zu machen. Die Anträge wurden abgelehnt. Das Tollste ist, daß ich zufällig im Gemüsegeschäft hören mußte, wie sich zwei Frauen über diese Juden-Abtransporte in Baden unterhielten. Die eine fand es grausam, die andere klärte sie aber auf: Das sei unbedingt notwendig gewesen, weil ja die Juden in Baden dauernd den französischen und englischen Fliegern Lichtsignale gegeben hätten. Da habe man eben das ganze Grenzland von Juden säubern müssen. So ein Unsinn! Aber die deutsche Propaganda versteht es eben ausgezeichnet, die Meinung der großen Masse, besonders der Frauen, zu beeinflussen, und weiß genau, daß nichts so weit hergeholt ist, daß es nicht doch geglaubt wird. Das alte Märchen von den Lichtsignalen, die man dem Feind mit einer Taschenlampe oder einer Kerze geben kann, ist einfach nicht tot zu machen. Deswegen hat schon im belagerten Paris 1870 der Pöbel Menschen gelyncht. Das wird immer geglaubt. 30 Aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden am 22./23. Oktober 1940 etwa 7.000 Juden in das unbesetzte Frankreich deportiert. Die Vichy-Regierung inhaftierte sie im Lager Gurs am Rande der Pyrenäen. Einem Teil gelang es, von dort zu entkommen; die meisten wurden später in die Vernichtungslager nach Polen weiterdeportiert (Richarz 1989, S. 533; Mittag 1994). Prof. Walter Freund entkam mit der Hilfe des französischen Untergrunds aus dem Lager Gurs in die Schweiz (LBI, coli. Freund, „Ausklang", S. a).
12 „Jüdische" und „arische" Schichten
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Bei uns in Berlin geht dies Gerücht natürlich auch um, und deswegen sind jetzt neue, sehr scharfe Vorschriften erlassen worden, daß Juden sich sofort beim Ertönen der Luftschutzsirene in den Keller begeben müssen. Es gibt genaue Kontrollen und Strafen, wenn man nicht kommt. Nur alte und kranke Leute dürfen in den Wohnungen bleiben, wenn sie ein Attest des Bezirksarztes vorweisen können. Glücklicherweise bin ich auf dem Nachhauseweg von der Fabrik noch nicht in einen Flugangriff hineingekommen. Es fing immer an, wenn ich gerade zu Hause angekommen war. In unserem Hause gibt es, wie überall, getrennte Luftschutzkeller für Arier und Juden. Der arische Keller ist groß und geräumig, so daß dort auch eine Anzahl Betten und Couches aufgestellt sind. Der jüdische Keller ist so klein und eng, daß wir nur eben sitzen können. Es ist ganz unmöglich, dort zu schlafen, man kann nicht einmal einen bequemen Stuhl aufstellen. Diese schwere Arbeit und dann noch fünf, sechs Stunden im Keller sitzen! Ich habe mir jetzt auch so ein Attest beim Amtsarzt verschafft und bleibe nun angezogen auf meinem Bett liegen. Ich bin fast immer so müde, daß ich trotz des Höllenlärms der Flakgranaten fest schlafe. Vor den Luftangriffen fürchte ich mich nicht, wenn es auch nicht gerade angenehm ist und man ja nie weiß, ob man den nächsten Morgen erleben wird. Das ist eine Gefahr, die wir mit vielen Millionen anderen Menschen teilen. Wenn einem etwas geschehen soll, dann soll es eben so sein. Wir fürchten uns nur vor der Gestapo, vor allen diesen hinterhältigen Maßnahmen, auf die wir jeden Tag gefaßt sein müssen, ohne daß man sich wehren kann. Wir fürchten uns vor dem Verschlepptwerden, vor dem Konzentrationslager. Wenn uns heute jemand grundlos denunziert, können wir morgen eingesperrt werden, und kein Mensch kann uns helfen. Der Rechtsgrundsatz, daß niemand verhaftet werden darf, ohne einem Richter vorgeführt zu werden, existiert in Deutschland nicht mehr.
12 Alle Frauen sehen ein bißchen erholt und frischer aus, als wir nach den Feiertagen wieder zur Arbeit antreten. Wir merken bald, daß eine Reihe von Veränderungen eingetreten sind. Die beiden verrückten Frauen sind glücklicherweise entlassen worden. Aber die ganze Stimmung gegen uns ist schlechter geworden. Die arischen Vorarbeiterinnen, mit denen wir doch immer ganz nett gestanden haben, grüßen uns nicht mehr, wenn wir sie auf dem Wege zur Fabrik treffen. Es muß eine Anordnung von der Arbeitsfront gekommen sein. Sie gehen auf die andere Seite der Straße hinüber, wenn wir kommen, und sehen weg. Manchen ist es ganz sichtlich peinlich. Für Juden ist ein besonderes Klosett im Hof gebaut worden, der arische Klosettraum wird abgeschlossen, „weil die Juden ihn so verschmutzt hätten". Wir sollen überhaupt plötzlich an allem schuld sein. Eine Kaffeekanne einer arischen Arbeiterin fehlt:
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12 „Jüdische" und „arische" Schichten
„Die Itzigs haben sie geklaut!" Der Fußboden der Halle ist nicht ordentlich gekehrt: „Das sind nur die Juden gewesen!" Das Schlimmste sind aber die Reklamationen der Kunden, die sich häufen. Jetzt kommt das, was wir von vornherein befürchtet hatten. Die Firma hat an Anlernpersonal gespart, es sind Fehler über Fehler gemacht worden, so daß es in manchen Fällen unmöglich ist, den Hausfrauen ihre eigene Wäsche wieder zuzustellen. Es stehen so viele Fehlkartons herum wie noch nie, weil die fehlenden Wäschestücke nicht aufzufinden sind. Die Kartons müssen dann schließlich mit einer Verlustanzeige abgeschickt werden. Aber selbst die höflichste Entschuldigung der Firma und der angebotene Schadensersatz nützen nichts. Man kann doch gute Wäschestücke nicht mehr kaufen. Die Kartenstellen geben auch nur in Ausnahmefällen die nötigen Punkte zum Ankauf von Ersatzwäsche. Es ist natürlich sehr unangenehm für die Firma, aber das hätte man sich vorher überlegen sollen. Die Firma stellt sich auch immer mehr auf Militärwäsche um. Von den verschiedenen Regimentern in Berlin und Potsdam und aus der Provinz kommen ganze Eisenbahnwaggons mit Schmutzwäsche, die dann immer so schnell wie möglich fertiggestellt werden sollen. Eine scheußliche Arbeit, dieses Abzählen und Umwenden dieser vielen hundert Unterhosen, Hemden und Strümpfe. Die Waggons stinken, wenn sie ankommen. Die Dicke benützt das Abkommandieren zu dieser Arbeit als Strafe für diejenigen, die ihr Mißfallen erregen. Sie hat überhaupt ein ganzes System von Strafen. Wenn ein paar junge Mädel bei der Arbeit schwatzen oder lachen, werden sie sofort getrennt an anderen Arbeitsstellen untergebracht. Neulich hat sie eine Sechzehnjährige für eine ungezogene Antwort drei Stunden lang mit Salzsäure den Boden scheuern lassen, bis ihre Hände ganz wund waren. Das Mädel hat Schneidern gelernt und hat schon durch Heimarbeit für sich und ihre kranke Mutter gesorgt. Jetzt bekommt sie so wenig Lohn, daß sie nicht durchkommen und auf Unterstützungen angewiesen sind. Sie hat eine treuherzige und aufrichtige Art und ist so empört über das, was man ihr antut. Dann hörte ich, daß das Mädel strafversetzt worden ist, in die Abteilung, wo die Messerstecherei war. Dort soll es so furchtbar schmutzig sein. Wir müssen ja froh sein, daß wir in der Expedition mit sauberer Wäsche zu tun haben. Sogar manchmal mit sehr schöner Wäsche. Die eine Kindergärtnerin ruft mich, ich soll mir bloß mal ansehen, was für ein Posten eben durchkommt. Alles Babywäsche aus der Reichskanzlei. Was hat denn Hitlers Reichskanzlei mit Babywäsche zu tun? So was Schönes! Wickeltücher, Lätzchen, Hemdchen, Strampelhöschen, alles aus dem feinsten Zeug. Ich hätte gar nicht gedacht, daß es überhaupt noch solche schönen Sachen in Deutschland gibt. Und diese Mengen, und alles nagelneu! Richtig, da stand ja neulich in der Zeitung, daß jede schwangere Frau und jede Mutter mit kleinen Kindern, deren Mann im Felde ist und die sich vielleicht allein zu Hause fürchtet, eingeladen ist, die Luftschutzkeller der Reichskanzlei zu benützen, wo geschulte Arzte und Schwestern für sie sorgen und ihnen beistehen würden.
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Es klingt zu rührend. Aber mit so einem Babykeller hat natürlich die Reichskanzlei nach Völkerrecht die Befugnis, sich ein großes rotes Kreuz aufs Dach zu malen, wie es in den Flugblättern der englischen Flieger von allen Ministerien in der Wilhelmstraße behauptet wird. Bei den flachen Hausdächern in Berlin kann man es nicht kontrollieren und vielleicht ist es auch übertrieben. Das Regierungsviertel soll sowieso bei jedem Fliegerangriff vernebelt werden, so daß die englischen Flieger vielleicht auch nicht so genau sehen können, wo da die Roten Kreuze sind. Seltsam ist jedenfalls, daß ein so großes Krankenhaus wie die Charité, an der wir jeden Tag zur Arbeit vorbeifahren, nur ein einziges, ganz bescheidenes Rotes Kreuzchen besitzt auf seinen großen Dachschrägen und zwar nicht etwa auf den Hauptgebäuden, sondern auf dem Dach einer der Baracken, die dicht neben dem Bahndamm der Stadtbahn stehen. Herrliche Bettwäsche kommt auch aus der Reichskanzlei, sogar Taschentücher mit dem handgestickten Namenszug „Adolf Hitler", die ihm wahrscheinlich von begeisterten Anhängerinnen geschenkt worden sind. Die glückliche arische Arbeiterin, die diese Taschentücher plätten durfte! Die Reichskanzlei-Sachen werden mit besonderer Sorgfalt verpackt, da kommen soviel Seidenpapier dazwischen und bunte Bändchen herum. Genau wie bei der Wäsche aus den Ministerien von Göring und Göbbels. 31 Göbbels hat übrigens einen eigenen, besonders niedrigen Tarif, nach dem seine Wäsche berechnet wird, das muß er wieder mal geschickt angefangen haben. Sonst werden eigentlich die Sachen gewöhnlicher Sterblicher nicht so erstklassig behandelt. Man bekommt beim Packen der Wäschekartons einen ganz komischen Hintertreppen-Einblick in die einzelnen Haushalte. Manchmal sind zum Beispiel bei Würdenträgern der Partei, Gruppenführern usw. herrliche handgestickte Gedecke im feinsten Leinen dabei. Seltsamerweise mit ganz anderen Monogrammen als die übrige Wäsche, aber nicht etwa von der Schwiegermutter geerbtes Zeug, das müßte ja altmodisch sein. Ist das nun aus zweiter Hand gekauft, oder ist es unrecht Gut? In diesen Häusern müssen auch große Gesellschaften gegeben werden, die Servietten sind nur einmal benützt. Wo haben denn diese Leute die Lebensmittel für so etwas her? Ist es also wirklich wahr, daß in diesen Parteikreisen alles im Uberfluß vorhanden ist und daß die Festlichkeiten gar kein Ende nehmen? Ich habe jetzt eine Kindergärtnerin zur Hilfe bei meinen Fehlkartons bekommen, ein nettes Mädel, neunzehn Jahre alt. Das arme Ding tut mir so leid. Ilse könnte wirklich was anderes machen, als Kartons zu schleppen und zu verschnüren. Eigentlich sollte sie kurz vor dem Krieg mit einem Stipendium nach England kommen, weil sie für Mathematik besonders begabt ist. Ich staune immer, was sie
31 Göring leitete das Reichsluftfahrtministerium. Joseph Goebbels (1897-1945), der zugleich Gauleiter von Berlin war, leitete das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Goebbels und seine Frau begingen, nachdem sie ihre sechs Kinder hatten vergiften lassen, am 1. 5. 1945 in der Reichskanzlei Selbstmord.
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für ein Zahlengedächtnis hat. Sie behält alle Nummern unserer Fehlkartons im Kopf. Was für eine Zukunft wartet auf das arme Mädel, wenn sie nicht mehr aus Deutschland herauskommt. Stumpfsinnige Fabrikarbeit von früh bis abends und nie die Möglichkeit, sich irgendwie heraufzuarbeiten. Ilse ist ein ganz zartes Ding, man kann es gar nicht mitansehen, wie sie sich mit den schweren Kartons abschleppt. Sie kann sehr viele Goethe'sche und Schiller'sche Gedichte auswendig, ebenso wie ich. Wenn wir mal beim Kartonverschnüren unbeobachtet sind, können wir uns damit großen Genuß verschaffen. Die Dicke, eine andere Aufseherin und Frau Schulz sind die einzigen Arbeiterinnen der Spätschicht geblieben. Sie wechseln sich in der Oberaufsicht für die ganze Wäschehalle ab. Die Dicke ist am gefürchtesten. Sie ist überall und nirgends zugleich. Wenn sie die Aufsicht hat, haben wir nichts zu lachen. Man hört dann in der ganzen Halle ihr keifendes Organ. Es gibt nicht sobald jemanden, der so von vornherein überall nur Bosheit und Faulheit wittert. Bei der arischen Belegschaft soll sie den Spitznamen „der Kettenhund der Firma" haben. Dabei ist natürlich ihr Ton zu den arischen Arbeiterinnen unvergleichlich freundlicher und liebenswürdiger als zu uns. Solche Sklaventreiber müssen für eine Firma unbezahlbar sein. Unsere kleine Frau Schulz steht nicht etwa gut mit ihr. Eine gönnt der anderen ihre Stelle nicht, nur im Schikanieren der Arbeiterinnen sind sie ein Herz und eine Seele. Ich denke immer noch, daß es hauptsächlich darauf ankommt, daß die Arbeit gut und zweckmäßig erledigt wird. Das ist ein ganz falscher Standpunkt, das wird mir immer klarer. Ich beneide immer die Frauen unter uns, die sich gar nichts bei der Arbeit denken, aber wer es tut, der muß ganz von allein auf die Fragestellung kommen, ob nicht der Arbeitsvorgang doch irgendwie verbessert werden könnte. Ich habe mich neulich mal auf der Heimfahrt dabei ertappt, wie ich im Kopf die ganze Expeditionsabteilung umräumte und die Arbeit anders einteilte. Daß ich meine Ansichten nicht laut werden lasse, ist natürlich selbstverständlich. Allerdings habe ich eins gemacht. Ich benütze soviel wie möglich die kleinen fahrbaren Tische, und wir haben ein System, um überhaupt das Hantieren mit den schweren Kästen auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Ich hoffe, daß dies kein Verbrechen ist. Auf diese Weise werden wir immer mit unserem Arbeitspensum fertig. Was aber viel wichtiger ist: Es ist überhaupt die einzige Möglichkeit für mich weiterzuarbeiten. Ich habe einfach nicht die Körperkräfte, dauernd so schwere Kartons in dieser Hitze zu tragen. Ich komme dann ganz außer Atem und werde ganz schwindlig. Anders könnte ich die Arbeit nicht leisten. Und das darf niemand merken, sonst werde ich von der Expedition fortversetzt, und dann käme ich ja in noch größere Hitze. „Sie verstehen es nicht, sich die Arbeit richtig einzuteilen!" meint Kaethe im Scherz. „Sehen Sie sich nur mal die Kontrollbücher der arischen Schicht an, die schaffen nicht so viel wie Sie!" „Na, dann sagen Sie lieber: wie alle hier in der Expedition. Als ob die anderen es anders machten..."
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„ E s ist ein F l u c h ! " , gibt sie zu. „ L e u t e von unserer Art und Bildung können nur hintereinander weg und gut und ordentlich arbeiten, aber es wird uns niemand dafür danken, das steht bestimmt fest." E s gibt allerdings auch Frauen, die gelegentlich Arbeitstage versäumen, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Die alten sind so abgearbeitet, ohne ein paar Ruhetage von Zeit zu Zeit können sie nicht weiter. Wir haben auch so sehr viel kranke Frauen, die überhaupt nicht hier in der Fabrik bei der H i t z e arbeiten dürften. Sie werden aber von dem Vertrauensarzt der Firma nicht krank geschrieben. Manche könnten vielleicht in einem anderen Betrieb, der nicht so heiß wäre, mehr leisten. Aber die Firma entläßt nur ganz selten und nur aus wichtigen G r ü n den, weil das Arbeitsamt für Entlassene keinen Ersatz schickt. D i e Firma muß gut an uns verdienen. Wir b e k o m m e n nur „ungelernten" L o h n , während wir doch jetzt schon längst alle eingearbeitet sind und Vollwertiges leisten. Die arischen Arbeiterinnen haben alle vier Wochen einen Tag nach Wahl frei, damit sie ihre Hausarbeit und die große Wäsche machen können, außerdem wohnen sie fast alle hier in der N ä h e , so daß sie nicht wie wir soviel Zeit für den Weg brauchen. A u c h bei manchen der jüdischen Frauen fallen die große Wäsche und das „ K r a n k s e i n " auf einen Tag. D e r Abteilungsleiter hat sogar gesagt, daß er sich überlegen will, ob nicht auch wir so einen freien Tag b e k o m m e n könnten. Aber es wird wohl nichts daraus werden. Wir singen manchmal in der letzen Schicht, wenn die Dicke nicht die Aufsicht hat. N a c h zehn U h r abends sind wir mit der anderen Aufseherin ganz allein. D i e Kindergärtnerinnen können viele Volkslieder, beim Singen arbeitet es sich viel besser. Ein junges Mädel meinte zwar, wenn uns jemand hört, können wir noch bestraft werden. Juden dürfen doch keine deutsche Musik entweihen. Im J ü dischen Kulturbund hat nie Mozart, Beethoven oder Schubert etc. gespielt werden dürfen. E s wird auch sicher nicht erlaubt sein. D e r arische Nachtportier hörte einmal zu, und es gefiel ihm offenbar. „ A b e r lassen Sie es lieber, der Direktor ist jetzt v o m Urlaub gekommen, und wenn der Sie etwa mal hört, dann gibt's einen Heidenkrach. D a s ist der Ärgste hier!" Unsere Nach-Hause-Wege sind jetzt herrlich. Diese wundervollen Sternennächte im Mai. A u s allen Gärten duftet es nach Flieder. A m Nachthimmel spielen die Scheinwerfer der Flugabwehr. Wir haben einen Weg durch Gärten und über eine Wiese gefunden, den Kaethe, die O m i und ich jede N a c h t allein benützen. D i e anderen gehen in großer Schar auf dem nächsten Weg. Wir aber lieben unseren U m w e g . Wie der M o n d über den hohen Schwarzpappeln steht und die Sterne glitzern und funkeln, das ist doch ein Erlebnis, das uns auch bei dieser Sklavenarbeit nicht genommen werden kann.
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13 Es ist große Aufregung unter unserer Belegschaft und überhaupt in allen jüdischen Kreisen. Uber tausend jüdische Wohnungen sind in Berlin gekündigt worden. Sie sollen innerhalb von fünf Tagen frei gemacht werden. Die Gestapo verlangt, daß die jüdische Gemeinde die gekündigten Familien anderweitig unterbringt. In Häuser, die arischen Hauswirten gehören, dürfen Juden nicht einziehen. Gerade diese Häuser werden jetzt judenfrei gemacht. In den nichtarischen Häusern, die Juden gehören oder zu einem bestimmten Termin gehört haben, sollen die Juden zusammengelegt werden. Wie das durchzuführen ist, sei Sache der Jüdischen Gemeinde. Die Maßnahme wird damit begründet, daß durch die Flugangriffe zu viele Wohnungen zerstört worden seien. Die jüdischen Wohnungen sollen leer bleiben, um nötigenfalls zur Verfügung zu stehen. Wir wissen, was wir von dieser Begründung zu halten haben. Natürlich ist Wohnungsnot in Berlin, aber hauptsächlich deswegen, weil trotz des Krieges weiter die halbe Stadt für den „Neubau der Stadt Berlin" abgerissen wird. Das ist Hitlers Steckenpferd. Die Kriegsgefangenen sind so billige Arbeitskräfte, daß dieser Umbau trotz des Krieges weitergeht, solange noch Baumaterial da ist. Die Behörden und Geschäftsverwaltungen sind gezwungen, in Wohnhäuser zu ziehen, weil ganze Viertel im Innern der Stadt niedergerissen werden. Hier spielen ganz andere Gründe eine Rolle. Diese Wohnungen sollen jetzt der Partei zufallen. Die Baukommission der Stadt setzt willkürlich fest, was für die angebliche Renovation der Wohnung vom jüdischen Vormieter bezahlt werden muß. Ein Freund von uns hat 2.400 Mark bezahlen müssen, obwohl nach dem Urteil des Hauswirtes selbst fast nichts zu reparieren war. Das Geld wird aber auch gar nicht an den Hauswirt, sondern an die Baukomission gezahlt. Es ist eine unglaubliche Schikane, daß die Räumung in fünf Tagen durchgeführt werden soll. Die Sache ist aber sehr ernst. Der Leiter des jüdischen Wohnungsamtes, der um eine Verlängerung der Frist bat, kam sofort in ein Konzentrationslager.32 Die Räumung muß also in diesen wenigen Tagen durchgeführt werden. 32 Mitte März 1941 war der Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Gemeinde mitgeteilt worden, daß 1.000 Wohnungen für Bombenopfer freigemacht werden sollten. Das R S H A forderte seinerseits die Jüdische Gemeinde auf, ihm eine Liste „guter jüdischer" Wohnungen in „arischen" Häusern bis 1.4.1941 einzureichen. Bis Mitte Mai 1941 stellte die Behörde des Generalbauinspektors, Albert Speer, mit Hilfe dieser ersten großen „Judenwohnungs-Entmietungsaktion" 940 Wohnungen zur Unterbringung bombengeschädigter „Volksgenossen" zur Verfügung. Vgl. Gruner 1995, S. 245f. Martin Brasch ( 1 9 0 6 - 1 9 4 1 ) war - entgegen den Erinnerungen seiner leitenden Mitarbeiterin Dr. Martha Mosse, - auch im März 1941 noch Mitglied im Vorstand der Jüdischen Kultusvereinigung und dort zuständig für das Wohnungswesen (BA Potsdam, 75 C Re 1, Bd. 45, Bl. 45 und 51). Er wurde danach verhaftet und in das Arbeitslager Wuhlheide gebracht, w o er am 22.6.1941 starb (vgl. Kap. 15; zum Arbeitslager Wuhlheide vgl. Schwarz 1990, S. 84). Für diese Hinweise danke ich Susanne Willems, Bochum.
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Seitenflügel und Hinterhaus der Mommsenstraße 51 in Berlin-Charlottenburg, w o das Ehepaar Freund seit 1939 lebte; das Vorderhaus ist nicht mehr vorhanden; aufgenommen 1995.
Jeder m u ß zusammenrücken, so gut er kann. W i r w e r d e n auch noch ein Zimmer von unserer kleinen Wohnung abgeben. In der Fabrik sind viele Frauen von dieser Kündigung betroffen. Sie bitten u m Urlaub, u m auf Wohnungssuche gehen zu können. Da die Gestapo hinter der Maßnahme steht, bekommt man auch Urlaub. Die Gemeinde, die für diese plötzliche Aufgabe in keiner Weise vorbereitet ist, gibt Adressen von jüdischen Häusern aus. Das Wohnungfinden ist sehr schwierig, besonders für Familien mit Kindern. Eine der Kindergärtnerinnen ist ganz verzweifelt. Sie möchte zu ihrer Mutter in deren möbliertes Zimmer ziehen. Es läßt sich aber nicht machen, denn die Mutter, der noch nicht gekündigt ist, w o h n t in einem arischen Haus, und da dürfen J u d e n auch dann nicht einziehen, w e n n dadurch in Wirklichkeit gar nicht zusätzliche R ä u m e von Juden belegt werden. U n s e r Zimmer sind w i r im H a n d u m d r e h e n los. W i r b e k o m m e n ein altes Ehepaar, ruhige stille Leute, die schon einmal 1918 vor den Bolschwiken aus Petersburg geflohen sind. Sie haben Glück, daß sie die ersten bei uns waren. Es klingelt ununterbrochen wegen dieses Zimmers an unserer Tür. Mein M a n n muß auf das jüdische Wohnungsamt, u m die Vermietung zu melden. Dort stehen schon früh u m sieben U h r viele H u n d e r t e von Menschen, und er kann erst nach achtstündigem Warten die Sache erledigen. Ich bitte in der Fabrik u m einen freien Tag, denn ich m u ß unsere Wohnung umräumen, u m für die neuen Mieter Platz zu schaffen. W i r holen uns immer heimlich unsere Zeitung vom Zeitungskiosk. Wir b e k o m men sie nicht mehr ins H a u s gebracht und dürfen sie eigentlich auch nicht mehr kaufen, weil Juden deutsche Zeitungen nicht mehr lesen sollen. Aber die Zei-
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tungsfrau kennt uns, und sie ist so nett, uns immer ein Exemplar beiseite zu legen. Es steht eine merkwürdige Mitteilung darin: Heß, der Stellvertreter des Führers, ist verschwunden „in einem Anfall von Geisteskrankheit". Eben hat er doch noch am ersten Mai die Rede als Vertreter des Führers gehalten und war ganz normal! Da steckt doch was dahinter! In der Fabrik schwirren die Gerüchte. Heß soll nach England geflogen sein. Das sieht fast so aus, als ob eine Ratte das sinkende Schiff verlassen hat, oder ist das ein neuer Bluff? 33 In den nächsten Tagen hört man von nichts anderem sprechen. Durch einen Regiefehler des Herrn Dr. Goebbels bringt die Berliner Illustrierte 34 eine ganze Bilderserie: Heß bei der Abnahme einer Parade, Heß bei seiner Rede am ersten Mai, Heß neben dem Führer im Reichstag. Die Zeitung kam gerade in den Handel, als Heß abflog. Das ist ja großartig! Die tollsten Gerüchte sind im Umlauf, und es gibt wieder eine Unzahl politischer Witze. Aber man darf sich das nur leise erzählen. Die Partei hat sofort Gegengerüchte erfunden, die brav und bieder überall zu hören sind. Danach ist es „ein Glück, daß sich dieser Schädling von Deutschland entfernt hat. Außerdem kommt so etwas in der Geschichte doch immer wieder vor, daß Einzelgänger und Wirrköpfe sich plötzlich auf die andere Seite schlagen". Das wird allerdings nicht überall geglaubt. Ich habe mir zwei arische Arbeiter aus unserer Straße bestellt, die beim Umstellen unserer großen Schränke helfen sollen. Nazis scheinen sie nicht zu sein. Sie rücken an den Schränken hin und her und beeilen sich dabei nicht sehr. „Du", sagt der eine, „ick werd' mir nächstens zur Ruhe setzen!" „Was? Haste geerbt oder in der Lotterie gewonnen?" „Nee, ick laß' mir bloß von jedem, der morgen abend den englischen Rundfunk hört, wenn sie sagen werden, warum der Heß abgehauen ist, von dem laß' ick mir zehn Pfennig geben!" Der andere denkt nach und kratzt sich hinterm Ohr. „Hör mal, Du bist ja ein unverschämter Mensch. Rechne mal nach! Bloß im Altreich gibt es siebzig Millionen, davon hören aber morgen trotz aller Verbote bestimmt mindestens zwanzig, damit man's bescheiden rechnet. Und dann willste von jedem einen ganzen Zehner! Das macht ja, warte mal, das macht ja zwei Millionen Mark! Du bist aber happig!" „Na", sagt der andere, „ick bin ja nicht so, ick kann es auch billiger machen. Aber daß das ein gutes Geschäft ist, da kannste Gift drauf nehmen!"
33 Rudolf Heß ( 1 8 9 4 - 1 9 8 7 , gestorben im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau) war Stellvertretender Führer der N S D A P und Leiter der Parteikanzlei. Er flog am 10. Mai 1941 nach England, w o er mit einem Fallschirm über Schottland absprang, um Großbritannien f ü r die deutschen Kriegsziele im Osten einzunehmen. Er wurde verhaftet, 1946 zum Prozeß nach Nürnberg gebracht und zu lebenslanger Haft verurteilt. 34 Die „Berliner Illustrierte Zeitung" erschien bis April 1945.
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Die beiden sind großartig, wie die Shakespeare sehen Witzbolde. Es ist nur schade, daß der englische Rundfunk dann später diese Aufklärungen über die Affäre Heß nicht bringt. Sie mögen vielleicht drüben aus irgendeinem Grunde der Ansicht sein, daß diese ganze Sache so lange wie möglich im dunkeln bleiben soll. Aber es ist schade. Es hätte eine ungeheure Wirkung haben können, wenn der Fall Heß voll ausgewertet worden wäre. Wenn ein englisches Regierungsmitglied, sagen wir Mr. Smith, in Deutschland angeflogen gekommen wäre, dann hätte doch Goebbels von früh bis abends in den Zeitungen und im Rundfunk von nichts anderem reden und schreiben lassen. Mr. Smith zum Frühstück, zum Mittag, zum Abendbrot nicht nur für das deutsche Volk, sondern auf sämtlichen Fernstrahlern für die ganze Welt in sämtlichen möglichen Sprachen. Er hätte daraus eine großartige Propaganda fabriziert. Und nun bringt England nichts. Schade! Alle hatten darauf gewartet, was der englische Sender sagen würde, und nun verläuft alles im Sande. Schon nach einer Woche hört man nur noch das Schlagwort der Parteipropaganda: „Die ganze Heß-Geschichte ist lächerlich. Deutschland braucht keinen Heß, um den Sieg zu erringen!" Die Stimmung in unserer Belegschaft ist schlecht. Manche haben Wohnungen gefunden, die meisten sind sehr schlecht untergekommen. Alle Frauen sind sehr niedergedrückt. Sie haben wieder Möbel verkaufen müssen und noch dazu zu einem Spottpreis bei dem plötzlichen Uberangebot aus jüdischem Besitz. Es ist aber nicht nur die Wohnungsfrage - die wird sich schon in den nächsten Tagen irgendwie regeln. Die Kartoffeln sind so knapp. Die Arier bekommen kaum welche, die Juden erst recht nicht. In den Lebensmittelgeschäften mehren sich die Plakate: „Mangelware wird an Juden nicht abgegeben." Uberall sind Haussuchungen nach Lebensmitteln in jüdischen Haushalten. Alles wird schlimmer, und das Schlimmste ist, daß die Hoffnungslosigkeit unserer Lage allen immer klarer wird. Es geht mir auch so, ich bin so mutlos, ich weiß gar nicht, wie ich durchhalten soll. Bei Kaethe ist es nicht anders. Kaethe war neulich wirklich über den Pfingstsonntag bei ihrer Mutter. Gut, daß sie noch gefahren ist. Denn unterdessen ist eine Verordnung gekommen, daß Juden ohne besondere Genehmigung der Gestapo nicht mehr die Eisenbahn benützen dürfen. In Frankfurt spitzt sich alles furchtbar zu. Kaethe hat bisher immer geglaubt, daß die kranke alte Frau die Reise nach Amerika zu ihren anderen Kindern, ja sogar bloß bis nach Stuttgart zum amerikanischen Konsulat nicht überstehen würde. Vielleicht war das falsch, und man hätte es doch versuchen müssen. Jetzt wird möglicherweise überhaupt kein amerikanisches Visum mehr zu bekommen sein. Wir selbst hören auch nichts von dem amerikanischen Konsulat. Die Zeitungen sind so voll von Hetze gegen die Vereinigten Staaten, es ist schon nicht mehr zum Aushalten. Diese Pöbeleien gegen „das verjudete Amerika", gegen den „Juden Rosenfeld" (Roosevelt) und seine Frau, „die Jüdin Sara Rosenfeld", die überhaupt
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nur noch in den widerwärtigsten Karikaturen abgebildet wird. 35 Man muß dem nur gegenüberstellen, was stets angegeben wird, wenn „der deutsche Führer von einem ausländischen Journalisten in unverantwortlicher Weise mit Schmutz beworfen wird". Im englischen Rundfunk wurde gesagt, daß die deutschen Konsulate in den Staaten geschlossen werden mußten, weil sie erwiesenermaßen seit langer Zeit Nazi-Propaganda getrieben hätten. Diese Nachricht ist sehr beunruhigend. Hier hat noch nichts davon in den Zeitungen gestanden. Aber dann erfolgt doch unbedingt hier als Gegenmaßnahme die Schließung der amerikanischen Konsulate in Deutschland. Dann gibt es kein Herauskommen mehr für uns. Hoffnungslosigkeit ist das Schlimmste, was es gibt. Alles läßt sich ertragen, wenn man glaubt, es dauert nicht lange. Aber das kann man kaum noch glauben. Dieser Krieg, diese Quälerei und Schinderei, die mit uns getrieben wird, kann noch lange dauern.
14 Zuerst war die Arbeit in der Fabrik etwas Neues, zuerst war die Behandlung auch noch ganz freudlich. Aber es wird immer schlimmer. Selbst die Kriegsgefangenen werden besser behandelt als wir, schon mit Rücksicht auf die deutschen Gefangenen im Feindesland. Die Franzosen werden sogar fast freundlich angefaßt, um bei ihnen Sympathien für Deutschland zu wecken. Nur bei den Juden braucht man auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Die Judenschicht ist allmählich eine Art Sträflingsschicht geworden. Und dann ist dieser Direktor vom Urlaub zurückgekommen. Er hat ein ganz zerhacktes Korpsstudenten-Gesicht, auf Bayrisch würde man sagen: ein Watschengesicht. Er kommt immer nur auf eine halbe Stunde, und diese ganze halbe Stunde macht er Krach in jeder Abteilung, in die er kommt. Gleich beim ersten Mal erschien er vor Schluß der Pause und schrie die Frauen unbeschreiblich an, die nicht bereits an der Arbeit waren. Vor uns brüllte er dem Waschmeister zu: „Seien Sie nicht so human mit diesen Judenweibern!" Wie soll das hier im Betrieb werden, wenn so ein Rohling die Oberleitung hat. Unser Abteilungsleiter ist nicht der schlechteste, das muß man sagen. Aber gegen den Direktor kommt er nicht auf. Vor ein paar Tagen bat eine Arbeiterin von uns um Entlassung, ein armes, unglückliches Wesen, schwer basedowkrank und mit Verkrüpplungen an Füßen und Händen. Der Direktor kam gerade im Büro dazu, als der Abteilungsleiter ihr die Entlassungspapiere aushändigen wollte. Der Direktor verhinderte das: 35 Franklin Delano Roosevelt ( 1 8 8 2 - 1 9 4 5 ) , von 1932 bis zu seinem Tod 32. Präsident der U S A , wurde in seinem A m t von seiner politisch und journalistisch aktiven Ehefrau Anna Eleanor Roosevelt ( 1 8 8 4 - 1 9 6 2 ) unterstützt, die dann von 1947 bis 1951 Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission war.
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„Jede Arbeitskraft wird gebraucht, der Gesundheitszustand der Frau kann uns ganz egal sein!" Kameradinnen hörten, wie das Lohnbüro mit der Betriebskrankenkasse telefonierte: „Wenn die Frau A. zu Ihnen kommt, dann schreiben Sie sie gesund. Sie wird ja von einem jüdischen Arzt behandelt." Der Direktor hat eine neue, verschärfte körperliche Visitation für Juden beim Verlassen der Fabrik angeordnet, weil „sonst von den Juden soviel gestohlen wird". Und außerdem hat er neue Anordnungen über das Fortgehen am Abend erlassen. Wir haben bisher, wenn wir fertig waren und uns angezogen hatten, gleich fortgehen können. Jetzt müssen wir ganz sinnlos in der Eingangshalle bis um Punkt halb zwölf warten. Eher läßt uns der Portier nicht weg. Das bedeutet, daß wir dann im Stockdunkeln wie gehetzt zum Bahnhof rennen müssen, um den nächsten Zug zu erreichen. Es fährt nachts später nur noch ein einziger Zug, und mit dem bekommt man nicht mehr den Anschluß für die entfernten Stadtteile. Der Abteilungsleiter sagt, es hinge damit zusammen, daß aus dem O r t Klagen gekommen wären, daß die Judenschicht beim Nach-Hause-Gehen „solchen Krach" mache. Als ob man 120 Menschen, die um Mitternacht durch ausgestorbene Straßen im Dunkeln nach Hause tappen, nicht auch dann hört, wenn sie „so leise wie möglich" sind. Es ist eine Zuchthäusler-Stimmung bei uns allen, die uns die Arbeit noch schwerer macht. Es hat ja auch wirklich keinen Sinn, wie wir arbeiten, wir sind ja doch an allem schuld. Bei der Kontrolle können wir am besten beurteilen, wie unbegründet die Vorwürfe sind, die es jetzt von allen Seiten gegen die Judenschicht regnet. Wenn irgendein Wäschestück falsch genummert ist oder in einen falschen Karton kommt, sollen es immer die Juden gewesen sein. Wir sehen aber bei der Kontrolle, daß die arische Schicht mindestens zur Hälfte, wenn nicht mehr, an den Fehlern beteiligt ist. Nur mit dem Unterschied, daß dort der Fehler stillschweigend berichtigt wird, während aus einem unserer Fehler sofort eine große Geschichte gemacht wird. Dann sind diese vielen kleinen Stiche, die uns immerfort versetzt werden. Unserer netten Omi fällt das Arbeiten wirklich nicht leicht, sie leidet sehr an Migräne. Neulich hat sie sich mal an einem solchen Tage auf einen Schemel gesetzt und ist dafür furchtbar angepfiffen worden. Nachher bat sie, nach Hause gehen zu dürfen, da ihr nicht gut sei. Man ließ sie aber nicht fortgehen. Dann haben wir eine alte Dame, die Witwe eines Arztes, auch über sechzig Jahre alt. Sie hat Kinder in Amerika und hatte einen Ausbesserungskursus und einen Kurs im Plätten von Oberhemden bei der Jüdischen Gemeinde mitgenommen, um sich später bei ihren Kindern im Hause nützlich machen zu können. Dafür ist sie mit der Einziehung zum Arbeitsdienst bestraft worden. Die Dicke hat irgend etwas gegen sie. Wahrscheinlich spürt sie den Gegensatz ihrer eigenen Art zu dieser stillen feinen Frau. Frau W. wird neuerdings immer zum Ausladen der Militärwaggons mit Schmutzwäsche kommandiert. Und dagegen ist man wehr-
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los! Jede arische Arbeiterin in ihrer Lage würde um andere Arbeit bitten dürfen, wenn sie das nicht mag. Für uns gibt es das nicht. Wie sagte damals der Parteivertreter beim Einstellen so hübsch: „Die Fabrikleitung wird berechtigten Wünschen immer Entgegenkommen zeigen." Die Dicke sagte neulich: „Meine Damen, ich kann mich nur wundern, wieviel Krankheiten Sie alle haben. Jede von Ihnen hat doch ein Leiden. Ich denk' mir, es wird damit nicht so schlimm sein. Sonst könnten einem ja wirklich die Juden leid tun, wenn sie alle so herzkrank wären, wie Sie vorgeben." Boshaftes Lächeln dazu. Eine Frau erwiderte ihr ganz geschickt: „Wir sind auch herzkrank, soviel Herzeleid haben wir!" Schade, daß gerade diese Frau das sagte. Ihr Schicksal ist zwar besonders schwer, da ihre Familie in England ist, während sie selber in letzter Minute vor Kriegsausbruch durch einen unglücklichen Zufall am Ausreisen verhindert wurde. Manchmal ist sie monatelang ohne Nachricht. Aber irgendwie ist sie exaltiert, bekommt immer große Weinanfälle und fehlt sehr viel. Sie ist eine der wenigen, bei denen ich nicht sicher weiß, ob sie nicht mit ihren Krankheiten mehr hermacht, als unbedingt nötig. Frau G. ist anders. Die weint immer nur vor sich hin und arbeitet verzweifelt weiter. Sie ist vielleicht 58 Jahre, hat Krampfadern und ist gallenleidend. Sie packt Kartons und weiß selbst, daß sie sehr viele Fehler dabei macht. Ob sie nicht mehr ganz so frisch ist oder woran es sonst liegen mag, in ihren Kartons und denen der Omi, wenn die einen schlechten Tag hat, sind immer die meisten Fehler. Wir überwachen ihre Packerei schon, denn wir möchten doch nicht, daß sie aus der Expedition fortkommt. Mir war neulich mal sehr schwindlig, und ich stolperte mit einem Karton. Die Dicke kam gerade vorüber und wollte wissen, ob ich etwa epileptisch wäre, denn dann müßte ich ein Attest beibringen. Daß man nicht epileptisch sein und doch Schwindelanfälle haben könnte, war ihr nicht bekannt. Ich fragte, ob ich mich für einen Moment hinsetzen dürfte. Das machte sie sofort wieder mißtrauisch. Nachher hörte ich, daß ein Beschwerdebuch über die Frauen der Judenschicht geführt wird. Hätte ich die Dicke nur lieber erst gar nicht gefragt. Sicher hat sie das gemeldet. Die Firma muß großen Ärger mit der Privatkundschaft haben. Viele Haushalte schicken ihre Wäsche nicht mehr. Deshalb richtet sich die Firma so stark auf Militärlieferungen ein. Zur gleichen Zeit versendet sie übrigens ein Rundschreiben an alle Annahmestellen in der Stadt, daß von jüdischen Kunden Wäsche nicht mehr angenommen werden darf. Wenn das mit dem Rückgang der Haushaltskunden so weitergeht, dann ist es nächstens mit unserer Expedition aus. Dann wird der Eingang nur noch für die arische Schicht reichen. Ich fürchte mich einfach davor, wenn ich etwa wieder an eine heiße Maschine müßte.
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Ich habe jetzt meine Fotoarbeit ganz aufgegeben, weil ich es neben meinem Anteil an der Hausarbeit nicht mehr leisten kann. E s geht uns allen so. D i e Kurse der Kindergärtnerinnen sind eingeschlafen, weil sie nicht mehr regelmäßig besucht wurden. D i e Mädel sind zu müde dazu. D i e meisten Kameradinnen haben alle Nebenarbeiten aufgegeben. Sie können es einfach nicht mehr machen. Es ist ja auch jetzt eine unbeschreibliche H i t z e bei uns. In diesen ersten heißen Junitagen waren 48 G r a d Celsius an der Heißmangel und ungefähr 40 G r a d in der übrigen Halle. Im Juli wird das noch schlimmer werden. D i e Nachricht des englischen R u n d f u n k s über die Schließungen der deutschen Konsulate in Amerika war richtig. Jetzt sind wirklich, wie wir fürchteten, die amerikanischen Konsulate in Deutschland geschlossen worden. Wir haben noch eine letzte H o f f n u n g , daß die Visa von der Botschaft ausgegeben werden könnten. Man erzählt das überall, hoffentlich ist das nicht wieder nur ein frommer Wunsch.
15 E s ist ein furchtbar heißer Tag. Ilse sieht schlecht und übermüdet aus. U n d nicht nur das, sie ist innerlich sehr mitgenommen. Vorgestern ist folgendes vorgekommen. In unserer Abteilung ist eine junge Frau, die ein Kind erwartet. Sie arbeitete immer sehr fleißig, es war sicher nicht leicht für sie in diesem Zustand, aber wenigstens war sie an schwere Arbeit gewöhnt und beklagte sich nicht. Es kamen zwei große Militärwaggons mit Schmutzwäsche. Sie mußte mit ausladen. Ich glaube sogar nicht einmal, daß die Dicke sie absichtlich zu dieser Arbeit genommen hat, sie vergaß wohl bloß, daß die Frau ein Kind erwartete. D i e junge Frau arbeitete zwei Schichten durch. D a n n wurde ihr schlecht, sie fuhr nach H a u s und hatte eine Fehlgeburt. Natürlich wird immerfort darüber gesprochen. D i e Meinungen sind geteilt. D i e einen finden die Sache schrecklich, die anderen sagen, es sei doch so viel besser, was solle denn aus einem jüdischen Kind in Deutschland werden, die Mutter hätte es ja doch sofort in ein H e i m geben müssen. Ilse hat so etwas wohl z u m ersten Mal miterlebt. Gestern abend, als sie um eins nach H a u s e kam, erzählt sie mir, hat sie ihre Mutter geweckt und bis früh mit ihr darüber gesprochen, so aufgeregt war sie. Mir geht es auch nicht aus dem K o p f . G a n z abgesehen von dem Einzelfall, der einem sehr leid tun kann, es geht doch in Wirklichkeit darum, daß in diesem Land, in dem so viele Kinder geboren werden, daß man über die Kinderwagen nur so stolpert, daß hier ein jüdisches Kind mehr ein U n g l ü c k bedeutet. D a m i t ist doch das Urteil über uns alle gesprochen, mit dieser sachlichen Feststellung, daß es besser ist, daß dieses Kind nicht z u m Leben gekommen ist. Ilse und ich arbeiten an den Fehlkartons. Wir legen Stücke in die Kartons ein, jeder für sich. Bei besonders schweren Kartons helfen wir uns beim Tragen. D a s ist uns ausdrücklich so gesagt worden. Auf einmal steht der Direktor neben uns,
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wir haben ihn nicht kommen hören, da er Gummisohlen hat. Wir sind natürlich sehr erschrocken. „Was arbeiten Sie hier?" „Wir legen Fehlstücke ein." „Arbeiten Sie hier zusammen?" Was meint er denn damit, wir sind doch von derselben Abteilung. Ich muß antworten, weil er sich nur an mich wendet. „Ja, wir arbeiten beide bei der Expedition." „Ob Sie sich gegenseitig helfen, will ich wissen?" „Wir helfen uns, wenn die Kartons besonders schwer sind." „So!" Was mag er wohl gewollt haben. Ilse ist gleich ganz aufgeregt. Die Pause fängt an, und wir gehen hinaus. Ich kann mir nicht denken, daß das irgendetwas zu bedeuten hatte. Wir arbeiten so gut und ordentlich, daß er uns nichts am Zeuge flicken kann. Nach der Pause kommt der Direktor ein zweites Mal. Diesmal ist der Abteilungsleiter dabei. Der Direktor brüllt mich an: „Ich habe mich eben erkundigt. Es ist Ihnen nicht erlaubt, sich gegenseitig zu helfen. Ich bitte mir aus, daß dies nicht noch einmal geschieht! Die Judenschicht hier nimmt sich wer weiß was heraus. Wenn die arischen Arbeiterinnen die Kartons allein tragen können, werden wir für die Juden keine Extrawürste braten! Verstanden?!" Was soll denn das bloß? „Ich frage, ob Sie verstanden haben?" „Ja, gewiß, aber..." „Ich dulde keinen Widerspruch, merken Sie sich das!" Er geht weg, der Abteilungsleiter, der kein Wort gesagt hat, hinterher. Ja, um Himmels Willen, was wollte er denn! Wir wissen doch, daß die arischen Arbeiterinnen sich immer beim Kartontragen helfen. Der hier, bei dem er uns erwischt hat, wiegt 38 Pfund. Wie kann ihm denn einer sagen, daß das nicht erlaubt sei! Er weiß wohl überhaupt nicht, wie schwer die Kartons sind. Wir arbeiten weiter, die Hände zittern uns. Daß der Abteilungsleiter nichts dazu gesagt hat, der weiß doch Bescheid. Jetzt arbeiten wir natürlich jede ganz für sich. Ilse ist ganz verängstigt, sie will nicht mal mehr einen Fahrtisch benützen. Die Kartons sind besonders schwer. Wenn sie sehr voll und noch nicht verschnürt sind, gibt die dünne Kriegspappe bei dem schweren Inhalt nach, man kann sie dann nicht allein regieren. Ilse verliert das Gleichgewicht, ein Karton fällt hinter den Tisch, geht auf und die ganze Wäsche fällt heraus. Alles ist verschmutzt und muß ins Waschhaus zurück. Nein, so können wir doch nicht weiterarbeiten. Wenn wir uns gegenseitig nicht helfen, können wir die Arbeit nicht machen, helfen wir uns gegen die Verfügung des obersten Fabrikleiters, dann kann er uns wegen Sabotage ins KZ bringen. Diese Zwickmühle ist ja zum Verrücktwerden! Wir müssen dem Abteilungsleiter melden, daß der Karton heruntergefallen ist.
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„Dem können Sie viel melden, er wird gar nicht kommen!" Er kommt aber doch. Er sieht sich den Karton an und den Wäschzettel über 38 Pfund und überlegt. Dann sagt er mir plötzlich, er möchte mich einen Augenblick allein sprechen. Was ist denn das nun wieder? Er geht mit mir in den Vorraum der Halle. „Hören Sie, ich wollte das nicht so vor den anderen sagen. Diese ganze Geschichte richtet sich doch nur gegen Sie, es handelt sich doch gar nicht um das Kartontragen." Ich starre ihn fassungslos an. „Gegen mich?" „Na ja, das ist doch so: Uber Sie liegen Klagen vor, Sie sollen sich oft hingesetzt haben. Aber das ist es ja auch nicht, Sie sind eben aufgefallen. Sie machen Ihre Arbeit so, als ob Sie das alles gar nicht schwer nehmen. Ich kann Ihnen das nicht so erklären. Sie ducken sich nicht, nicht wahr, und das paßt ein paar Leuten hier nicht!" Heiliger Himmel! „Ja, aber es können doch unmöglich irgendwelche Klagen über meine Arbeit vorliegen, ich gebe mir doch die größte Mühe, und ich schaffe doch alles, was verlangt wird." „Ach, das glaub ich schon, bloß.... Sie sind wohl aus besseren Verhältnissen, nicht wahr, Sie gehen so aufrecht herum und lassen sich durch nichts anfechten. Ich hab ja gesagt, daß Sie das gar nicht wissen, aber hier gibt's Leute, die sowas nicht sehen können." Ich weiß immer noch gar nicht, was ich sagen soll. „Na, arbeiten Sie jetzt weiter. Sehen Sie zu, daß es nicht noch einmal zu einem Zusammenstoß mit dem Direktor kommt. Ich selbst kann mich nicht über Sie beschweren!" Wie betäubt gehe ich wieder an meinen Arbeitsplatz. Wenn das so ist, dann weiß ich wirklich nicht, was ich machen soll. Ich gehe immer aufrecht und gerade, wie soll ich das ändern. Vielleicht sieht das bei meiner Länge aufreizend aus. Aufrecht gehen darf man also auch nicht. Sklaven, arme geduckte Sklaven sollen wir sein! O Gott, das kann ich nicht, das lerne ich auch nicht! Ich erzähle nur Kaethe von dieser Aussprache mit dem Abteilungsleiter, denn sonst wird das sofort überall herumgetragen. Sie wird ganz nachdenklich: „Wissen Sie, daß ich mir neulich schon selbst mal sowas gedacht habe, als die Schulz mit Ihnen sprach. Sie ist doch so klein und kurzbeinig und muß zu Ihnen hinaufsehen. Gerade solche Leute, wie die mit ihrer Großmannssucht, die können das manchmal nicht ertragen. Und die Dicke, die hat Ihnen das bestimmt noch nicht vergessen, daß der Abteilungsleiter Sie damals von der Dampfpresse wegnahm." Ich bin so verstört, ich kann gar nicht sagen wie. So kann ich doch meine Arbeit nicht weitermachen. Jeden Augenblick mit den Augen nach der Tür, ob etwa gerade der Direktor auf seinen Gummisohlen uns überfallen will.
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Ilse ist überhaupt nicht mehr zu brauchen, sie ist vollkommen verängstigt, faßt nicht mehr einen Karton mit an, schleppt sich mit ihren eigenen halb kaputt und, als zwei Tage später der Direktor wieder durchkommt, läßt sie alles stehen und liegen und rennt auf die Toilette. Diesmal kommt er übrigens gar nicht bei uns vorbei, sondern schnauzt in der Näherei. Als Ilse glücklich wieder da ist und wir ihr eine Strafpredigt halten, daß sie das nun doch auch nicht machen dürfe, ist sie am Weinen. Ich wußte gar nicht, daß sie früher in einer kleinen Stadt in Ostpreußen lebte. Im November 1938 ist die SS in ihr Haus gekommen, hat die Männer verhaftet und die Kinder geschlagen, es muß grauenhaft gewesen sein. „Sie können mir glauben", beteuert sie weinend, „ich hab' mich doch früher auch nicht gefürchtet. Aber seitdem bin ich eben so. Ich ängstige mich so schrecklich vor diesem Menschen, ich bleib' nicht hier, wenn er noch mal kommt!" „Ach, Ilschen, er hat Sie sicher neulich gar nicht gesehen, der hat es nur mit mir gehabt!" tröste ich sie. Aber wie soll ich mich selbst trösten? Ich bin so aufgeregt, daß ich abends kaum einschlafen kann, weil ich mir ausdenken muß, daß es wieder zu so einem Krach kommen könnte. Auf Insubordination steht KZ. Das ist doch klar. Ich muß versuchen, gar nicht mehr daran zu denken. Sonst verliert man ganz die Nerven. Es ist soviel, was jetzt plötzlich auf einmal kommt. Wir hören, daß der Leiter des jüdischen Wohnungsamtes tot ist, den sie damals in ein Konzentrationslager steckten, weil er um Aufschub bei den Wohnungskündigungen bat. Ich kannte ihn vom Sehen, ein großer, kräftiger Mensch. Er verletzte sich angeblich bei der Arbeit im Lager, bekam Blutvergiftung und ging daran zu Grunde. Im Lager wird mit so etwas nicht viel hergemacht. Der Vorsitzende der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Hirsch, ein früherer Ministerialrat, ist im Lager Mauthausen ums Leben gekommen. 36 Seine Frau erhielt nur diese Nachricht, ohne jede genauere Mitteilung. Dahinter steckt sicher eine Tragödie. 36 Die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" (RV) wurde im Februar 1939 als zwangsweiser Zusammenschluß aller „Rassejuden" geschaffen. Sie trat an die Stelle der „Reichsvertretung der deutschen Juden" (seit 1935: „Reichsvertretung der Juden in Deutschland"), die im September 1933 von allen großen jüdischen Organisationen und Landesverbänden gegründet worden war und die erste Gesamtvertretung in der Geschichte der deutschen Juden darstellte. Sie war personell mit der Reichsvertretung identisch, unterschied sich aber grundlegend in ihrer Struktur, insofern die Mitgliedschaft nicht mehr auf der Religionszugehörigkeit beruhte, sondern auf der „Rasse" im Sinne der Nürnberger Gesetze. Sie unterstand direkt der Gestapo und damit dem Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes unter Adolf Eichmann (Richarz 1989, S. 53 und 597). Dr. Otto Hirsch (1885-1941), Württembergischer Ministerialrat, gehörte zum Hauptvorstand des 1893 gegründeten „Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", der größten jüdischen Organisation Deutschlands, die im November 1938 verboten wurde. Von 1933 bis 1939 amtierte er als Geschäftsführender Vorsitzender und war anschließend Vorstandsmitglied der RV. Er war bereits 1935 und im November 1938 verhaftet, aber zur Weiterführung seiner Amtsgeschäfte beide Male wieder entlassen wor-
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Und dann haben wir ganz aufregende Nachrichten von unseren Freunden aus Breslau bekommen. Schlesien wird judenfrei gemacht. Es sind bereits ein paar hundert Menschen in die Nähe von Görlitz abtransportiert worden. Dort befindet sich in Tormersdorf eine große Anstalt für Geistesschwache. Die Anstalt stand leer, seit diese Kranken alle „plötzlich gestorben" sind. Dorthin kommen die Breslauer Juden. 37 Man hat mit den alten Menschen angefangen, und die Altersheime der Jüdischen Gemeinde beschlagnahmt. Da haben nun viele Auswanderer ihre Eltern mit großen Summen in diese Altersheime eingekauft und glaubten, sie damit bis an ihr Lebensende so gut wie möglich versorgt zu haben! Eine zweite Verschickung geht nach Gnissau in das alte Benediktinerkloster. Das Kloster steht leer, die Klosterbrüder sind nicht mehr da. 38 Wer von den Juden noch irgend arbeitsfähig ist, soll von dort täglich nach Landshut, um in den Spinnereien zu arbeiten. Es ist so schrecklich beunruhigend. Diese Hilflosigkeit! Wir sitzen doch alle wie in einer Falle!
16 Am Sonntag fahren mein Mann und ich nach Potsdam hinaus. Wir müssen mal wieder ganz ausspannen und etwas anderes sehen, wir brauchen ein bißchen Ruhe und Sonnenschein. Wir haben noch keine Zeitung gelesen. Irgendetwas muß los sein. Am Bahnhof sind alle Zeitungen vergriffen, die Leute reißen sie sich aus der Hand. Krieg mit Rußland! 39 Die deutschen Truppen haben bereits die Grenzen überschritten. Mit Rußland! Also doch! Mit den deutschen Verbündeten und Rohstofflieferanten. Mein erster Gedanke ist, dann gibt es jetzt keinen Landungsversuch in England, wo unsere Kinder sind! den. Im Frühsommer 1941 wurde er erneut aus dem A m t heraus verhaftet und am 19. Juni 1941 im K Z Mauthausen ermordet. Vgl. Bewährung im Untergang 1965, S. 71-74; Richarz 1989, S. 458 und 594. 37 Vgl. Brilling 1980, S. 16f.; Otto 1990, S. 61. In Tormersdorf befand sich eine von einer evangelischen Bruderschaft geleitete Anstalt für Behinderte. Sie war im Juni 1941 geräumt worden. Kurz darauf wurden in diese Anstalt zunächst die Bewohner des jüdischen Altersheims in Breslau gebracht. A b 3 1 . 7 . 1941 gingen mehrere Transporte von jüdischen Familien von Breslau nach Tormersdorf. Insgesamt wurden dort etwa 700 Menschen interniert. 1942 wurden sie von dort nach Theresienstadt weiterdeportiert. Für diese Hinweise danke ich Andreas Reinke, Berlin. 38 Neben Tormersdorf und einem Lager in der Nähe des Dorfes Riebling bei Brieg war das Kloster Grünau das dritte Internierungslager für Juden aus Breslau und Schlesien. In den Klostergebäuden, die nach der Verhaftung der Mönche längere Zeit leer gestanden hatten, waren die räumlichen und hygienischen Bedingungen besonders schlecht. Vgl. Reinke 1994, S. 399f. 39 Der Uberfall auf die Sowjetunion begann ohne Kriegserklärung in den frühen Morgenstunden des 22. 6. 1941.
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Es sollte doch schon im April gegen Rußland losgehen. Durch den Regierungswechsel in Jugoslawien und den darauf folgenden Feldzug wurde dieser Plan aufgehalten. Jetzt fängt es also doch an. Die Menschen in der Stadtbahn lesen die Zeitung, geben sie weiter und sind erregt, aber man hört kein Wort. Alle scheinen überrascht zu sein. Wir fahren mit der Bahn nach Luftschiffhafen und setzen uns auf eine Bank am See. Neben uns wird laut über die Ereignisse gesprochen. So was hört man selten, es müssen Parteimitglieder sein, denn andere Leute geben ihre Ansicht nicht laut zum Besten. „Das ist das einzig Richtige, daß der Führer sich endlich dazu entschlossen hat. Rußland ist kein Gegner. Die sind ja alles Analphabeten, und die haben keine Begeisterung. Eine russische Front hält nie und nimmer. In vier Wochen sind unsere Jungens in Moskau, passen Sie mal auf!" Wie interessant. Wir glauben das nicht. Aber vielleicht wissen die besser Bescheid als wir. Vielleicht sind wir nur aus unserer ganzen Einstellung gegen die Nazis heraus so wenig geneigt zu glauben, daß der neue Feldzug so einfach sein wird, wie diese Bierbürger da behaupten. Mein Mann erinnert mich, wie ihm beim Beginn des Feldzugs gegen Polen mit derselben Sicherheit von Industriellen gesagt wurde: „Das dauert ja nur ein paar Tage, und es handelt sich ja nur um Polen, die Engländer und Franzosen werden sich hüten einzugreifen." Als er erwiderte: „Das werden sie sicher tun!", hieß es wütend: „Dann werden wir ihnen so auf den Kopf kommen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht und es mit ihnen auch nur ein paar Tage dauert." Im Krieg gegen England hat das ja nun noch nicht zugetroffen. Genauso ist im Juni 1940 mit einer solchen Bestimmtheit in Berlin erklärt worden: „Am 31. August ist der Krieg zu Ende!", daß wir uns nicht wunderten, als am Pariser Platz bereits die Tribünen für einen Siegeseinzug gebaut wurden. 40 Für September sollte der „Parteitag des Sieges" einberufen werden. Er mußte abgesagt werden. Mit Rußland wird das nicht so schnell gehen. Es liegt auf der Hand, an Napoleon und seine Niederlage in Rußland zu denken. Aber es wiederholt sich nichts in der Weltgeschichte, wenn nicht auch die Umstände ganz ähnlich liegen. Seit dem Krieg mit Finnland glaubt man in Deutschland nicht an die Kriegstüchtigkeit der Russen. 41 Und trotzdessen halten wir Rußland für einen sehr gewichtigen Gegner, besonders wenn sie ihre alte Kriegstaktik anwenden, sich weit in ihr Land 40 A m 5. Juni 1940 begann die Schlacht um Frankreich, die am 22. Juni mit der Unterzeichnung des deutsch-französischen Waffenstillstandvertrages in Compiegne endete. 41 Finnland hatte im Finnischen Winterkrieg 1939/40 die sowjetischen Angriffe zunächst wirksam parieren können, bevor es im März 1940 vor der Ubermacht der Sowjetunion kapitulieren mußte. Die finnischen Anfangserfolge wurden unter anderem von Winston Churchill in einer Rundfunkansprache vom 20. 1. 1940 vorschnell als Beweis der militärischen Unfähigkeit der Roten Armee gedeutet. Vgl. Hart 1972, Kap. 5.
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Vier Jahre früher konnte die Familie Freund noch gemeinsame Ausflüge unternehmen. Die Aufnahme von 1937 zeigt die Eltern mit den Kindern Ursula und Rudolf.
zurückzuziehen, und wenn das Klima und die unendliche Weite des Landes ihre Bundesgenossen sind. E s ist auch sehr spät im Jahr, um mit Rußland anzufangen, denn man hat dort nur noch knapp drei Sommermonate vor sich. A n dem Havelsee ist die Landschaft wunderschön, die riesige Wasserfläche und der weite Himmel, über den helle, sonnenbestrahlte Sommerwolken ziehen. Was sind wir selbst für kleine machtlose Körnchen in dem großen Weltgeschehen! Durch diese neue Verwicklung kann die ganze Welt in den Krieg hineingezogen werden. Wir fahren mit dem D a m p f e r nach Potsdam zurück. N e b e n mir sitzt eine Frau, die ganz gesprächig wird, weil sie sich ängstigt. „Was wird jetzt nur werden? D a s Brot ist doch schon so knapp. Wenn jetzt nicht mal mehr die Zufuhren von Getreide aus Rußland kommen! Wissen Sie, meinen Mann, den haben sie bis jetzt noch nicht zu den Soldaten genommen, aber wenn jetzt ein neuer Krieg k o m m t ! U n d mein J u n g e ist siebzehn, um den kann ich mich ja jetzt auch sorgen!" Sie sieht mich ganz verzweifelt an. „Mein Mann darf das gar nicht hören, und, natürlich, der Führer wird das sicher schon besser wissen! Aber ich kann mir nicht helfen, ich hab' so eine Angst! U n d wissen Sie, die Russen, auf die ist doch gar kein Verlaß. D a waren sie erst unsere Freunde, ich hab' ihnen ja nie getraut, aber man kann doch wirklich schon an gar nichts mehr glauben, wenn die jetzt so aus heiler H a u t über uns herfallen. Finden Sie das denn nicht auch schrecklich, daß die hinter unserem Rücken mit den Engländern verhandelt haben?"
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Sie hat ein solches Zutrauen zu mir, daß ich die ganze Familiengeschichte zu hören bekomme. Ich selbst brauche gar nicht viel zu sagen, sie ist froh, daß sie sich endlich aussprechen kann. Wenn nicht alles so bitter ernst wäre, könnte man wirklich darüber lachen: Da sitzen wir auf dem Haveldampfer, von der Potsdamer Garnisonskirche tönt das Glockenspiel „Üb' immer Treu' und Redlichkeit" herüber, und diese arme kleine Frau schüttet mir, der Nichtarierin, ihr ganzes Herz aus. Man kann doch das Erbarmen kriegen, wenn sie so davon redet, wie das Deutsche Volk von den bösen, bösen Russen so hinterhältig betrogen worden ist. Das glaubt sie und sieht nicht, daß sie alle von ihrer eigenen Regierung betrogen werden. Auf dem Weg vom Bahnhof zu unserer Wohnung haben wir noch ein erschütterndes Erlebnis. An einem kleinen Milch- und Gemüsegeschäft steht mit großen Buchstaben in roter Ölfarbe quer über die Schaufensterscheibe gekleckst „JudenKnecht!". Der Besitzer des Ladens, den wir gar nicht kennen, ruft zu uns heraus: „Kommen Sie doch ruhig herein! Sie können alles geschenkt kriegen, was ich noch an Ware habe. Ich ziehe morgen sowieso von hier weg. Am besten wär', ich hänge mich gleich auf!" Wir sehen das zum ersten Mal. Und das ansehen zu müssen und nichts tun können, man kann dem Mann nicht einmal ein gutes Wort geben, denn eine Schar halbwüchsiger Jungen lungert grinsend um den Laden herum. Kaum sind wir zu Hause, als eine gute Freundin ganz aufgeregt zu uns kommt. „Wo wart ihr denn bloß? Hat man euch denn nicht festgehalten? Ich habe es mir ja gleich gedacht. Ihr wißt wohl nicht einmal, daß heute überall Razzien in den Ausflugsorten gewesen sind und Polizeistreifen durch den ganzen Grunewald. Nach Potsdam und überhaupt über die innere Stadt hinauszufahren, ist streng verboten. Wenn ein Jude ,den deutschen Wald schändet', wird er verhaftet." Woher sollen wir das wissen? Es hat nirgends in der Zeitung gestanden. „Doch, es soll im Anzeiger des Polizeipräsidiums gestanden haben, den niemand zu sehen bekommt. Ihr müßt mir versprechen, daß ihr nie mehr einen Ausflug macht, hört ihr, bestimmt nie mehr!" Man greift sich an den Kopf. Gerade heute, zum Kriegsbeginn mit Rußland, werden solche neuen Schikanen angefangen. Die Polizei müßte wirklich alle Hände voll mit wichtigeren Sachen zu tun haben. Aber im Gegenteil, wir fürchten, daß es jetzt erst richtig gegen uns losgehen wird. Jetzt ist auf einmal Rußland, der bisherige Verbündete, nichts weiter mehr als „ein Judenland", „die Juden sitzen dort in der Regierung", „die Juden haben diesen neuen Krieg angefangen", und wir Juden hier dürfen für alles büßen, was die Nazis den Juden in Rußland andichten. Und nicht nur wir, auch die unglücklichen Juden in Polen und die armen Verschickten in Lublin, soweit sie noch am Leben sind. Das liegt doch alles im neuen Kriegsgebiet. Die französischen Kriegsgefangenen in der Fabrik haben den Krieg gegen Rußland mit einem „Bierabend" in ihrer Baracke gefeiert. Sie hoffen, daß dieses russische Abenteuer für Deutschland eine Niederlage und für sie die Befreiung brin-
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gen wird. Sie glauben, daß dies der A n f a n g v o m E n d e ist. Es soll bis spät in die N a c h t großer L ä r m und Liedersingen gewesen sein - sehr z u m Mißvergnügen der deutschen Wachtposten. Aber der Vormarsch der deutschen Truppen ist unaufhaltsam, die Erfolge werden v o m Radio mit Trompetenfanfaren bekannt gegeben. Uberall sind jetzt im Sommer die Fenster offen. Schon von sechs U h r morgens an hört man ununterbrochen die Siegesmeldungen. D i e russische Flugwaffe soll nach wenigen Tagen vollständig vernichtet worden sein.
17 Ein schrecklicher Unglücksfall! D e r Leiter unseres Fotokurses ist tödlich verunglückt. Martin Weinberg war ein ausgezeichneter Künstler. Früher war er der Vorsitzende des Deutschen Graphiker Verbandes. D a n n übernahm er die F o t o kurse der Jüdischen Gemeinde. Ich habe bei ihm mit Begeisterung gearbeitet, denn er war wirklich ein hinreißender Lehrer. D a n n wurde auch er zur Zwangsarbeit eingezogen und arbeitete mit sechzig Jahren bei Siemens als Schlosser auf einem hohen Gerüst. Ein Brett brach durch, und er stürzte herunter. Mein M a n n erzählt es mir, bevor ich mittags in die Fabrik fahre. E s geht mir sehr nahe. So ein prachtvoller Mensch und großer Könner, der noch viel hätte leisten können. In der Fabrik habe ich einen peinlichen Zusammenstoß beim A n f a n g der Arbeit mit einer anderen Frau. Sie behauptet, ich hätte ihren Fahrtisch genommen, und macht eine Szene, daß alles zusammenläuft. Es nützt mir nichts, daß sie nachher ihren Tisch findet und sich sogar bei mir entschuldigt, sie wäre eben immer gleich so aufgeregt. Frau Schulz hat die ganze Sache mit angehört und sofort gegen mich Partei genommen und mir alle möglichen Beschuldigungen an den K o p f geworfen. E s ist sehr unangenehm, denn es wird doch sicher gemeldet werden. Wir sind alle nervös, und es gibt jeden Tag Szenen. E s ist nur d u m m , daß mir das passieren mußte, gerade jetzt, w o ich schon bei dem Direktor auf der schwarzen Liste stehe. D i e Arbeit fällt mir sowieso immer schwerer. Seit Wochen habe ich jetzt solches Ohrensausen, daß ich kaum das Geräusch der Motoren höre. Ich muß endlich mal wieder zu meiner Ärztin gehen, aber ich weiß im voraus, daß sie mir nur sagen wird, daß ich mit der Arbeit aussetzen müßte, und das kann ich nicht. Ich muß sehen, daß ich besser schlafe und mich nicht weiter wegen dieses Direktors aufrege. D a s ist eine Willensfrage, und das muß ich fertig bekommen. Wenn man muß, geht alles. Frau Schulz ist auf Urlaub. Die nächsten Tage vergehen ganz ruhig. Ich war bei der Ärztin, es hat sich natürlich alles so abgespielt, wie ich es mir dachte. Ich arbeite weiter. Wir k o m m e n mittags in die Fabrikhalle. Plötzlich sagt mir der Abteilungsleiter: „Sie arbeiten nicht mehr in der Expedition. Sie k o m m e n in eine andere Abteilung. Auf ausdrücklichen Wunsch des Direktors sind Sie in eine andere Abteilung versetzt, ich kann Ihnen keine andere A u s k u n f t geben."
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Die Dicke steht schon dabei. „Nehmen Sie Ihre Sachen, ich werde Sie in diese Abteilung bringen." Das ist ja furchtbar. Das ist doch eine Strafversetzung. N u r nicht jetzt die Haltung verlieren. Ich nehme schnell meine Sachen zusammen und werde von der Dicken in ein entferntes Fabrikgebäude gebracht. Das ist die berüchtigte Abteilung, w o die Messerstecherei war. D o r t gibt sie mich an den Meister ab. „ D a s ist hier die Frau, von der Sie schon gehört haben." Sie geht weg. Der neue Meister mustert mich kurz. „Sie sind in diese Abteilung strafversetzt. Ich höre, daß Sie arbeitsscheu sind, das gibt's hier nicht." Ich versuche zu sagen, daß es sich doch wohl um einen Irrtum handeln müsse. Arbeitsscheu, das bin ich bestimmt nicht. Er schneidet mir aber das Wort ab. „Sie arbeiten Dampfpresse. Sie können ja zeigen, ob Sie arbeiten wollen oder nicht." Dieser Mann und ebenso ein anderer Meister dieser Abteilung sehen einen Juden nicht an, wenn sie mit ihm sprechen. Als ob sie in die Luft hinein ihre Anweisungen gäben. Bloß jetzt versuchen, die Ruhe zu behalten! An den Dampfpressen werden Militäruniformen gedämpft. Es ist ein unbeschreiblicher Gestank von feuchtem Wollstoff. Die jüdische Frau, die mich einarbeiten soll, sieht mich neugierig freundlich an. „ D a haben Sie sich keine schöne Arbeit ausgesucht, aber man gewöhnt sich auch daran. Nur, gesund muß man dazu sein, das ist die Hauptsache. Sind Sie gesund?" Ich schüttle den Kopf. „ D a sagen Sie es lieber gleich. Wenn sich der Meister erst einmal eingeredet hat, daß Sie hier arbeiten sollen, dann wird es viel schwerer, daß Sie wieder loskommen." Es hat keinen Sinn, der Meister glaubt mir ja doch nicht. Ich muß versuchen zu arbeiten. Diesen ersten Tag und den zweiten Tag versuche ich es mit Aufbietung aller Kräfte. Dann melde ich, ich könnte nicht mehr weiter. Der Meister sieht mich gar nicht an. „Sie arbeiten auf ausdrücklichen Wunsch des Direktors an der Dampfpresse, damit Sie arbeiten lernen. Gehen Sie an Ihre Arbeit!" Ich arbeite weiter. Ich muß weiterarbeiten, ich muß durchhalten, ich muß meine Familie lebend wiedersehen, ich darf doch hier nicht zu Grunde gehen. Meine Kameradin schiebt mich plötzlich auf einen Schemel, sie holen mir kaltes Wasser. Mir ist furchtbar schlecht, ich übergebe mich. Der Meister kommt und sieht sich das spöttisch an. „Das ist doch alles nur Theater, Sie bleiben bis zum Arbeitsschluß hier!" Ich arbeite aber nicht mehr, ich kann nicht mehr.
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18 Unsere Arztin erklärt mir, daß sie mich nicht behandeln will. „Ich tue Ihnen einen schlechten Dienst, wenn ich Sie behandle. Sie sind sehr krank, und deswegen müssen Sie zu einem arischen Arzt, damit einwandfrei nachgewiesen wird, daß Sie krank sind." D e r arische Arzt, ein Freund aus unserer Studienzeit, schreibt mich sofort zunächst für eine Woche arbeitsunfähig. Ich liege fest im Bett. E s ist viel schlimmer diesmal als damals, als ich in den ersten Tagen an der Dampfpresse zusammenklappte. Der Arzt sagt mir nach der zweiten Untersuchung: „Wie konnte man Sie denn überhaupt in eine Wäscherei schicken. Ich weiß wahrhaftig, daß jeder jetzt im Krieg so viel und so schwer arbeiten muß, wie er kann, die Juden ganz besonders. Sie können arbeiten, und Sie haben zu arbeiten. Aber, Herrgott, jeder Unteroffizier weiß doch, daß gerade die längsten und überwachsenen Soldaten in der Hitze am schnellsten schlapp machen. Sollte man das in der Wäscherei nicht auch wissen?" E r schreibt mich für weitere acht Tage krank. Darauf bekomme ich die Vorladung vor die Betriebskrankenkasse. Ich fahre zeitig früh dorthin. Im Wartesaal sind viele Menschen. Ich sitze ganz allein auf einer Bank mit der Aufschrift: „Für Juden". Die Leute sehen mich neugierig an. Ich war eine der ersten, ich komme aber nicht dran, sondern muß warten, bis alle arischen Patienten abgefertigt sind, erst dann werden Juden untersucht. Die junge Frau aus der Wäscherei, die vor ein paar Wochen die Fehlgeburt hatte, kommt mit ihrer Mutter. Sie erzählt, daß sie damals mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht wurde. Jetzt hat ihr die Krankenkasse mitgeteilt, daß sie die Kosten für diesen Transport nicht übernehmen und auch nur einen Teilbetrag zu den Krankenhauskosten beisteuern werden. Dabei sind diese Ausgaben doch bei der Krankenversicherung vorgesehen. Man sagte ihr aber: „Solche Kosten übernimmt die Kasse für Juden nicht, und wenn sie hundertmal die Beiträge gezahlt haben. Das wird nur an Arier erstattet. Juden können sich das vom Wohlfahrtsamt der Jüdischen Gemeinde wiedergeben lassen. Die Juden haben Geld genug dafür." Endlich werde ich in den Untersuchungsraum gerufen. Der Arzt ist ein ganz junger Mensch. E r sitzt an seinem Schreibtisch und sieht zum Fenster hinaus, während er mit mir spricht. „Sie sind jüdisch?" „Jawohl." „Seit wann sind Sie krank geschrieben?" „Seit zehn Tagen." „So, dann können Sie jetzt wieder zu arbeiten anfangen!" Untersucht denn dieser Arzt nicht? Ich lege das Attest vor, das mir der D o k t o r mitgegeben hat. Der Arzt liest es gar nicht durch. „Dieses Attest ändert nichts. Das ist doch ein jüdischer Arzt, der Sie schickt."
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„Nein, das ist ein arischer Arzt." „ Soo... Also, dann werden Sie noch einmal vom Kontrollarzt der Kasse untersucht werden. Sie werden eine Benachrichtung bekommen, zu wem Sie gehen sollen." Die Untersuchung ist damit beendet. Wie recht hatte meine Ärztin, daß sie mich nicht behandeln wollte. Nach vier Tagen bekomme ich die Vorladung vor den Kontrollarzt. Er wohnt ganz weit draußen im Osten in einer Arbeitergegend. Es gibt zwei Wartezimmer, beide sind überfüllt, und es warten vielleicht fünfzig Menschen. Der Arzt kommt sehr spät, er arbeitet neben der Praxis noch in einem Krankenhaus. Die wartenden Patienten sitzen mit bewundernswerter Geduld da. Der Arztemangel in Berlin, die vollkommen unzureichende ärztliche Versorgung der Zivilbevölkerung sind ein offenes Geheimnis. Ich würde gern wissen, ob nicht viele der Patienten sich noch an die Zeit erinnern, als die gut ausgebildeten und allgemein beliebten jüdischen Arzte für sie erreichbar waren. Soweit ich aus den Gesprächen der Patienten entnehmen kann, scheint der Arzt hier sehr streng zu sein. Man darf nicht mucken, wenn er etwas sagt, die Kinder haben alle Angst vor ihm. Die Reihe kommt an mich, er schickt mich aber sofort zurück, für Kontrolluntersuchungen brauche er mehr Zeit, ich solle bis zum Ende der Sprechstunde warten. Als ich bei der Sprechstundenhilfe meine Personalien angebe, sehe ich zufällig den Überweisungszettel der Krankenkasse, der dem Arzt zugeschickt worden ist. Das ist ja unglaublich. Der Kassenarzt hat mich doch überhaupt nicht angerührt. Trotzdessen sind alle Rubriken auf dem Formular ausgefüllt, Herz, Blut, Augenbefund usw., alles ist in bester Ordnung. Eine einfache Untersuchungsmethode! Der Kontrollarzt dagegen untersucht sehr lange und gründlich und fragt dann wieder, ob ich als Kind rheumatisches Fieber gehabt hätte. Irgendwas scheint mit meinem Herzen nicht in Ordnung zu sein. Dann schreibt er mich für weitere zehn Tage krank. Länger ginge es nicht, er hätte genaue Anweisungen. Er diktiert vor mir den Bericht an die Krankenkasse! Ich würde nach zehn Tagen wieder arbeitsfähig sein, aber ich soll nicht weiter in der Hitze und nicht mehr mit dem Tragen schwerer Lasten beschäftigt werden. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Ich hatte mich vor dieser Kontrolluntersuchung sehr gefürchtet, nach meinen Erfahrungen mit dem Kassenarzt war das ja natürlich. Jetzt sollen sie mich meinetwegen in der Fabrik in die Abteilung für das Zertrennen von Militärgarnituren stecken oder sonst zu irgendeiner schrecklichen Arbeit. Ich weiß, daß es kein Zuckerlecken ist, was auf mich wartet. Aber bloß nicht mehr in die Hitze. Vor dem Arbeiten in vernünftiger Temperatur habe ich keine Angst. Es kommt aber ganz anders. Ich bekomme die Kündigung der Firma. Vielleicht kann man wirklich in einer Wäscherei, in der es überall heiß ist, keinen Arbeiter brauchen, der ausdrücklich nicht in der Hitze beschäftigt werden darf. Vielleicht ist es auch aufgefallen, daß ich nach dieser Strafversetzung wirklich ernsthaft krank geworden bin. Mir kann es gleich sein, die Hauptsache ist, ich brauche dort nicht mehr hinzugehen, ich brauche nicht mehr zu fürchten, daß dieser Direktor
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Die Werksanlagen in Spindlersfeld, die zu Zeiten der D D R die Großwäscherei- und Reinigungsbetriebe „Blütenweiß" und danach die Fa. Rewatex beherbergten, wurden Ende 1994 stillgelegt; aufgenommen 1995.
plötzlich neben meinem Arbeitsplatz steht. Leider erscheint er mir noch viel zu oft, wenn ich einschlafen will. Ich muß noch ein letztes Mal in die Wäscherei, um meine Papiere zu holen. Kaethe und Ilse haben mich, während ich krank war, mehrmals besucht, so daß ich über alles, was dort inzwischen geschehen ist, gut unterrichtet bin. Es ist noch viel schlimmer geworden. Die Arbeit mußte ja in der Sommerhitze schwer werden. Die Juden arbeiten jetzt nur noch Tagesschicht und zwar neun Stunden statt acht und nur noch Schmutzwäsche und Heißmangel. D a es sich nicht vermeiden ließ, daß in der großen Halle zugleich jüdische und arische Arbeiterinnen beschäftigt waren, ist für die jüdischen Arbeiterinnen ein R a u m um die Heißmangeln herum mit Bretterverschlägen abgetrennt worden. Nicht etwa mit durchlässigen Drahtgittern, mit Brettern! In diesen Käfigen hat die Belüftung überhaupt keine Wirkung mehr! D i e Schmutzwäscheabteilung, in der Kaethe jetzt arbeitet, ist etwas kühler. D o r t k o m m e n aber jetzt die Militärwaggons auch aus Polen an. E s ist Ungeziefer darin! D i e Firma läßt aber solche Wäsche nicht erst brühen oder desinfizieren, sondern zuerst werden die Stücke durchgezählt. E s ist unbegreiflich, man scheint zu glauben, daß der Flecktyphus, wenn er erst einmal eingeschleppt ist, auf die jüdischen Arbeiterinnen beschränkt bleiben wird. N i e m a n d scheint zu sehen, was für eine Gefahr das für Berlin bedeutet. D i e Bekannten in der Fabrik, die ich zu sehen bekomme, beglückwünschen mich. Sie sehen alle entsetzlich schlecht aus. Wie arme, müde H u n d e schieben sie die Schmutzwäsche-Karren. Im L o h n b ü r o muß ich einen Zettel unterschreiben, daß ich keine Ansprüche irgendwelcher Art gegen die Firma habe, dann bin ich entlassen.
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19 Uber drei Wochen war ich krank und habe fast die ganze Zeit im Bett gelegen. Unsere alte Hedwig hat alle paar Tage nach mir gesehen und in rührender Weise für mich gesorgt. Das ist eine arische Frau, die seit mehr als vierzig Jahren mit unserer Familie verbunden ist. Sie war als junges Mädchen bei meinen Eltern Hausangestellte, sie kennt jedes Mitglied der Familie und weiß fast besser über alle Bescheid als ich selbst. Sie hat auch meine Kinder aufwachsen sehen und sorgt sich um sie. Ihr Mann ist bei der Post angestellt, ihr Sohn ist schon verheiratet. Sie hat nie den Zusammenhang mit uns verloren und sagt immer wieder, daß sie es meinen Eltern nicht vergessen wird, daß ihr Junge ohne deren Hilfe vor vielen Jahren bei einer schweren Krankheit wohl zu Grunde gegangen wäre. Sie ist ein so grundanständiger, treuer Mensch, ich kann alles mit ihr besprechen und ihr alles anvertrauen. Wie sie weiter unter den größten Schwierigkeiten zu uns hält, ist rührend. Denn die Gefahren, die sie unsertwegen auf sich nimmt, sind eigentlich so groß, daß ich ihr selbst ausreden wollte, zu uns zu kommen. Bei der Postbehörde haben eben alle Angestellten, also auch ihr Mann, wieder eidlich versichern müssen, daß sie keine Verbindungen mehr mit Juden haben. Natürlich gilt diese Versicherung auch für den Umgang der Frau. Wenn es herauskommt, daß sie uns besucht, verliert der Mann die Stellung und damit die Existenz. Sie ist selbst in einem schrecklichen Zwiespalt zwischen Angst und Uberzeugung. Einerseits hat sie mir erklärt, daß es ihr ganz gleich sei, ob eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben wird oder nicht. „Man wird ja zum Meineiden geradezu erzogen. Was mein Mann bloß immerzu beeiden muß, alle Wochen etwas anderes! Da hat man ja gar keine Ehrfurcht mehr davor." Andererseits fürchtet sie sich schrecklich, daß sie erwischt werden könnte. Sie hat ihrer Nazi-Schwägerin, die lauernd nach uns fragte, gesagt, sie wisse gar nicht, wohin wir ausgewandert wären. Sie ist sehr stolz auf diese diplomatische Auskunft. Frühmorgens huscht sie in das Haus und ist in steter Sorge, daß man sie etwa durchs Fenster oder beim Fortgehen sehen könnte. Wenn es an der Tür klingelt, versteckt sie sich. Und trotz dieser Angst und Nervenanspannung kommt sie doch und schleppt Lebensmittel an, die ich gar nicht nehmen kann, weil ich weiß, daß sie es sich vom Mund abspart und daß es uns beide in Gefahr bringt. Es ist bewundernswert, wie diese einfache Frau den Mut hat, den sehr viele der „gebildeten" Leute nicht aufbringen. Leider haben wir uns in manchen unserer sogenannten Freunde getäuscht. Um so mehr muß man anerkennen, wie sich die alte Hedwig benimmt. Sie drängt uns immerfort, doch bloß endlich auszuwandern. Als ob wir es nicht brennend gern möchten. Die Außenstehenden, die Arier hier und wahrscheinlich auch die Menschen im Ausland, können immer gar nicht verstehen, warum wir denn immer noch hier sind, sie wissen nicht, daß es doch gar nicht an uns liegt, sondern daß wir eben leider nirgends einen Einlaß in ein anderes Land finden.
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Visa nach USA gibt es nicht mehr. Mein Mann hat einen letzten Versuch gemacht und unsere Verwandten in Amerika telegrafisch um die Einreisevisa nach Kuba gebeten. Das ist die einzige Möglichkeit, die es jetzt überhaupt noch gibt. Kein anderes Land gibt mehr für deutsche Juden eine Einreiseerlaubnis oder ist noch auf irgendeine Weise erreichbar. Hoffentlich glückt es uns diesmal. Es türmen sich schon wieder die Schwierigkeiten, die Kosten für ein solches Visum sind sehr hoch, es müssen große Gelddepots für uns hinterlegt werden. Hoffentlich bekommt mein Schwager das Geld für uns zusammen. Die Staaten haben eine Devisensperre eingeführt, und außerdem ist der Anstrum auf diese Kubavisa im Augenblick sehr groß, so daß für die Uberweisung der Depots drei bis vier Wochen benötigt werden. Wir können bestenfalls Mitte August auf die Visa rechnen. Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder etwas dazwischen. Wir sind nach unseren Mißerfolgen in allem, was Auswanderung anbetrifft, sehr pessimistisch geworden. Was für ein Glück das wäre, wenn das Visum jetzt schon käme, wenn ich erst gar nicht mehr aufs Arbeitsamt müßte! Es ist uns wieder mit aller Bestimmtheit gesagt worden, daß man sich von der Zwangsarbeit freikaufen kann, und zwar soll Herr Eschhaus es höchstselbst sein, der das Geld dafür einsteckt! 42 Es ist eigentlich nicht zu glauben. Oder sagen wir besser, wer hätte das früher in Deutschland für möglich gehalten! Gewiß es gab auch im alten System Korruption, besonders nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch. Aber damals blieb doch so etwas meist nicht im dunkeln. Jeder Fall wurde endlos durch die Zeitungen gezerrt und von den Gegenparteien ausgeschlachtet. Im HitlerDeutschland, im Lande der fehlenden Pressefreiheit, blüht die Korruption , ohne daß eine Kritik durch die Öffentlichkeit möglich ist. Man hört das Skandalöseste erzählen, die Bestechlichkeit gehe vom Pförtner bis zum Minister und durchziehe alle Gebiete. Zur Bestrafung kommen bestenfalls gelegentlich kleine unbedeutende Fälle. Unbestechliche, rechtliche Leute, welche versuchen irgendeiner solchen Sache nachzugehen, kommen damit nicht weiter. Es gibt genug Anwälte und Berater, die eng mit den Parteistellen zusammenarbeiten und die Technik des „Drehs" virtuos beherrschen. Deutschland ist wirklich ein sprechender Beweis, daß es ohne Pressefreiheit nicht geht. In allen Zeitungen steht derselbe uniforme Bericht über die Kriegslage. Es ist erst zweimal der Verlust eines Kriegsschiffes öffentlich zugegeben worden. Mißerfolge gibt es nicht. Alles ist immer wunderschön und herrlich. Bei Fliegerangriffen gibt es nur „unbedeutenden Sachschaden", wenn nicht wie gewöhnlich „nur Kirchen und Krankenhäuser" angegriffen worden sind. Das Abhören des ausländischen Rundfunks ist verboten, auf das Verbreiten dieser Nachrichten stehen ganz schwere Strafen. Jede Kritik an den Maßnahmen der Regierung ist untersagt. Wer irgendeine andere Meinung hat, ist ein Hochverräter. Der Erfolg ist aber auch danach. Außer den eingeschworenen Parteimitgliedern, besonders den Frauen, und der urteilslosen großen Menge steht jetzt eigentlich 42 Zum Korruptionsverdacht gegen Eschhaus s. S. 45, Anm. 12.
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jeder den Zeitungsnachrichten skeptisch gegenüber. 43 Es gibt kein Gerücht, und w e n n es noch so unsinnig wäre, das nicht sofort Glauben fände, da man ja weiß, daß in der Zeitung nur die halbe Wahrheit steht. Uberall laufen die Sensationsgeschichten um über Brückner und Streicher 4 4 , über die Attentate auf Daluege und Himmler 4 5 , darüber daß Göring seit Anfang des Russen-Feldzugs Stubenarrest haben soll, weil er gegen diesen Feldzug gewesen ist 46 , über Unstimmigkeiten Hitlers mit der Obersten Heeresleitung, über die Ursachen des Todes des Generals Fritsch und sein Staatsbegräbnis 47 und über die Unruhen in Osterreich und der Tschechei. 48 U n d trotz aller Verbote sind überall die Nachrichten des englischen Rundfunks bekannt. Die Leute sagen, „da hab ich doch gestern Nacht geträumt" oder „in der Elektrischen hat mir jemand erzählt", und dann hört man,
43 Nach einer Statistik von 1935 gab es rund 136.000 weibliche Parteimitglieder; Frauen machten etwa 5,5% der insgesamt 2,5 Millionen Parteimitglieder zu diesem Zeitpunkt aus (Klinksiek 1982, S. 113). Diese Zahl dürfte bis 1945 noch angestiegen sein. 44 Wilhelm Brückner (1884-1954) war Chefadjudant Hitlers und SA-Obergruppenführer. Er wurde wegen einer internen Auseinandersetzung überraschend im Oktober 1940 entlassen. Er ging danach zur Wehrmacht. Julius Streicher (1885-1946, nach Verurteilung durch das Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg hingerichtet) war Gauleiter von Franken und bis 1945 Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer". Er bereicherte sich persönlich durch die Enteignung von Juden in seinem Machtbereich. 1940 wurde er seiner Parteiämter enthoben, weil er führende Parteigenossen, darunter vor allem Göring, mit Äußerungen über ihr Sexualverhalten beleidigt hatte. 45 Kurt Daluege (1897-1946, in Prag verurteilt und hingerichtet) war Chef der Ordnungspolizei. Von einem Attentat auf ihn ist bislang nichts bekannt. Daluege wurde 1942 als Nachfolger Heydrichs stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und war verantwortlich für die Vergeltungsaktionen, mit denen das Attentat gerächt werden sollte, das zwei eingeflogene Exiltschechen am 27. Mai 1942 auf Heydrich verübt hatten und an dessen Folgen er einige Tage später starb (Cadle 1993). Heinrich Himmler (1900-1945, Selbstmord in britischer Gefangenschaft) war „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei"; er stand an der Spitze des Verfolgungsapparates, der die Vernichtung der europäischen Juden betrieb. Von einem Attentat auf ihn ist bislang nichts bekannt (Ackermann 1989). 46 Göring wurden taktische Fehler bei seinen Entscheidungen im Luftkrieg gegen England im Herbst 1940 und weitere Rückschläge der Luftwaffe an der Ostfront vorgeworfen sowie die Unfähigkeit der deutschen Jagdflieger, Deutschland vor den britischen Bombenangriffen zu schützen. Er verlor zunehmend an politischem Einfluß. 47 Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch (1880-1939) war im Gespräch als Nachfolger des Generalfeldmarschalls Werner von Blomberg (1878-1946, als Gefangener in Nürnberg gestorben), der wegen einer unstandesgemäßen Heirat 1938 als Reichskriegsminister zurücktreten mußte. Göring, der dieses Amt selbst anstrebte, bezichtigte von Fritsch der Homosexualität und erzwang seine Entlassung. Vom Reichskriegsgericht bald darauf rehabilitiert, fiel von Fritsch noch im ersten Kriegsmonat im Polenfeldzug. 48 Die tschechische Widerstandsbewegung verstärkte nach dem deutschen Uberfall auf die Sowjetunion ihre Aktivitäten. Eine Versorgungskrise im sog. „Protektorat Böh-
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was die englische B B C mitgeteilt hat. Wir selbst haben noch niemals den englischen Rundfunk gehört, schon deswegen nicht, weil wir keinen Apparat mehr besitzen, bei Kriegsbeginn sind allen Juden die Radios ohne Entschädigung fortgenommen worden. Aber wir sind trotzdem genau orientiert, denn wir bekommen die Nachrichten von allen Seiten zugetragen. Eine arische Bekannte erzählte mir sogar, daß ihr Neffe, ein Offizier, der gerade im Lazarett liegt, sich seinen Radioapparat dorthin hat kommen lassen, weil er mit seinen Kameraden englische Nachrichten hören wollte, um „endlich wieder zu wissen, was eigentlich los ist". Das geht so weit, daß Goebbels es bei seinen eigenen Nachrichten einkalkulieren muß. Meldet der englische Rundfunk zwei versenkte U - B o o t e , dann kann man darauf wetten, daß Goebbels die doppelte Anzahl am anderen Tage durch deutsche Streitkräfte versenken läßt. Augenblicklich werden die Predigten des Bischofs von Münster heimlich verbreitet. Wir haben eine Abschrift erhalten, obwohl es natürlich ganz gefährlich ist, so ein Schriftstück im Haus zu haben. Im katholischen Münster sind die Ordenshäuser verschiedener Klöster geschlossen worden. Die Brüder müssen Zwangsarbeit beim Straßenbau machen, die Nonnen wurden als Hauspersonal vermietet, und die hilflosen Pfleglinge der katholischen Anstalten sind der „Sterbehilfe" der Gestapo zugewiesen worden. Der Hilferuf des Bischofs, ein Graf Galen, an Hitler ist von der Reichskanzlei an die Gestapo zur Entscheidung weitergegeben worden, also an die Stelle, die für die Taten selbst verantwortlich ist! Was der Bischof sagt, klingt wie der erste Weckruf nach langer Zeit. Es ist ein flammender Protest gegen diese Gewalttaten. Ungefähr so: Ich habe alles versucht, um die Rechtsbrüche zu verhindern. Aber alle meine Anstrengungen, die Heimatfront aufrechtzuerhalten, sind erfolglos geblieben. Es gibt keine Volksgemeinschaft zwischen uns und diesen Männern von der SS und der Gestapo, es gibt keine deutsche Heimatfront mehr! Die Sicherheit unter dem Gesetz ist zerstört, das Vertrauen in die nationale Regierung erschüttert. Das alles muß zum Unglück unseres Volkes und unseres ganzen Landes führen! 4 9
men und Mähren" verschärfte die Situation. Im August 1941 wurden 1.278 und September 1941 1.532 Widerstandskämpfer verhaftet (vgl. Kural 1986, S. 79 und ders. 1994). Ende September 1941 entschloß sich Hitler zu einem Kurswechsel und entsandte Heydrich als „Stellvertretenden Reichsprotektor" nach Prag (Brandes 1994, S. 4 4 - 4 6 ) . 49 Clemens August Graf von Galen ( 1 8 7 8 - 1 9 4 6 ) wurde 1933 Bischof von Münster. E r prangerte seit Sommer 1941 in Predigten und Hirtenbriefen öffentlich die Ermordung von Geisteskranken an. Dieser wirkungsvolle Protest führte zur Einschränkung der sogenannten „Euthanasie"-Aktionen. Vgl. Hürten 1994, S. 189f.
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20 Ehrich & Graetz, Metallwaren
20 Wieder bin ich auf dem jüdischen Arbeitsamt. E s ist sehr ruhig dort. Im ganzen sind vielleicht zwanzig Frauen da. E s gibt immer weniger arbeitsfähige J u d e n in Berlin, die frisch eingestellt werden können. Alles steckt schon in den Fabriken. Wenn ich zurückdenke, wie ganz anders ich im M ä r z hier gewartet habe. Damals war ich noch ganz optimistisch und habe noch H o f f n u n g e n gehabt, damals habe ich noch geglaubt, daß man unsere Arbeitskraft brauche. Jetzt weiß ich, daß diese Zwangsarbeit für J u d e n vor allen Dingen dazu da ist, u m sie zu diffamieren und zu quälen. E s gibt keine H o f f n u n g mehr für uns in Deutschland. N u r von außen kann noch eine Rettung k o m m e n für den, dem es gelingt, irgendein Visum zu erhalten. Ich werde aufgerufen, es wird gefragt, w o ich bisher gearbeitet habe, w a r u m ich aufhörte. Ich lege das Attest des Arztes vor. D i e Beamtin fragt erst, ob es von einem arischen oder nichtarischen A r z t sei, und als ich das erstere bejahe, liest sie es durch. A u f meine Bitte u m eine leichte Arbeit werde ich in die Radiofabrik von Ehrich & G r a e t z überwiesen. 5 0 Ich soll gleich hinfahren. D i e Fahrt ist kürzer als in die Wäscherei. Vor dem Eingangsportal der Fabrik stehen Posten in U n i f o r m . Ich k o m m e in das L o h n b ü r o , zeige die Uberweisung v o m Arbeitsamt und werde in die Metallstanzerei geschickt. D e r Meister dort liest meine Papiere durch. Wenn ich zu Schwindel und Ohnmächten neige, könne er mich dort an den Maschinen nicht brauchen. D a s Attest scheint gut zu wirken. Jetzt werde ich einem Personalchef vorgeführt. Wieder Fragen nach der früheren Arbeit. D a n n telefoniert er mit vier Abteilungen, und ich höre, wie er immer wieder dasselbe sagt: „ H i e r ist eine Jüdin, die Frau sieht so aus, als ob sie ganz selbstständig arbeiten kann. Können Sie sie in Ihrer Abteilung brauchen?" Jedesmal ablehnende Antwort. Er legt den H ö r e r auf und sieht einen Augenblick vor sich hin.
50 Die Firma Ehrich & Graetz A G in der Elsenstraße in Berlin-Treptow wurde 1859 von Albert Graetz gegründet. Sie wurde 1922 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und erhielt 1942 den Namen Graetz AG. Sie stellte Metallwaren aller Art sowie Elektro- und Rundfunkgeräte her. Während des Zweiten Weltkrieges produzierte sie Kriegsgeräte wie die Graetzin-Kraftstoff-Förderpumpen für die Ausrüstung des Heeres, Minensuchgeräte, Bordfunkgeräte und Preßstoff-Zünder (LAB, StA-Rep. 250-01-05, Nr. 4-0053 und 25001-05, Nr. 1-0110: Festschrift „Ehrich & Graetz A G 1866-1941, o . O , o.J.). Sie hatte 3.000 bis 3.500 Beschäftigte. Die erste Judenabteilung wurde vermutlich im Dezember 1940 eingerichtet; jedenfalls war Manfred Oppenheim dort von Dezember 1940 bis zum 27. 2. 1943 als Zwangsarbeiter beschäftigt (LAB, StA-Rep. 250-01-05, Nr. 1-1/12). Die Firma war 1945 von der Demontage betroffen, wurde 1946 unter Treuhandverwaltung gestellt und nach der Enteignung 1949 in den VEB Graetz Berlin, später VEB Werk für Signal und Sicherungstechnik, überführt.
20 Ehrich & Graetz, M e t a l l w a r e n
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„Schade, aber Sie wissen, wie die Verhältnisse liegen. Ich schicke Sie jetzt in eine Abteilung, wo Sie im Sitzen arbeiten können. Melden Sie sich bei dem Obermeister!" Auch dieser Obermeister ist freundlich, wieder dieselben Fragen. Ich soll in einer Abteilung arbeiten, wo Kontrollarbeiten gemacht werden. „Stellen Sie sich nichts Großartiges darunter vor. Es ist unbeschreiblich stumpfsinnig. Wann wollen Sie antreten?" Ich weiß gar nicht, ob ich recht gehört habe. Wann ich antreten will? Ich habe doch einfach anzutreten. Es sind noch zwei Tage bis Wochenschluß. Könnte ich etwa erst am Montag mit der Arbeit anfangen und vorher noch zum Zahnarzt gehen? „Ja, ich habe nichts dagegen. Sobald Sie erst einmal hier arbeiten, kommen Sie doch nie mehr dazu. Bitte sagen Sie aber niemandem, daß ich Ihnen das erlaube." Da scheine ich doch Glück gehabt zu haben. Zwei Vorgesetzte heute, die mich anständig behandelt und die mich beim Reden sogar angesehen haben! Ich fahre sehr erfreut nach Hause und sehe dabei auf die Uhr. Vom Fabriktor bis zu unserer Haustür brauche ich nur reichlich 45 Minuten. Das ist doch ein großer Vorteil gegen die Wäscherei. Unser Untermieter kennt jemanden, der arbeitet auch in dieser Fabrik, und der hätte erzählt, wie gut und human es dort sei, es gäbe eine sehr gute Kantine und dieser Bekannte arbeite dort im Büro. Das kommt mir fast unmöglich vor. Die Arbeitsfront erlaubt doch nicht, daß ein Jude Büroarbeit macht. „Doch, doch, diese Fabrik ist eben so besonders anständig." Hoffentlich ist es wahr! Unser Zahnarzt ist entsetzt, wie schlecht ich aussähe. „Sie müssen doch unglaublich abgenommen haben. Waren Sie denn krank?" Gut sehe ich allerdings nicht aus, denn ich habe fünfundzwanzig Pfund Gewicht verloren. Ich bin selbst ganz betroffen, als ich die Fotos abhole, die ich mir für den Fabrikausweis machen ließ, so hohläugig sehe ich darauf aus. Montag früh um sieben trete ich zu der neuen Arbeit an. Das ist aber ein großer Betrieb, viel größer als die Wäscherei, vielleicht dreitausend Arbeiter. Alles ist ganz militärisch aufgezogen. Werkpolizei an den Eingängen, genaue Kontrolle jedes Passanten. Im Hof sehe ich Trupps von Kriegsgefangenen unter militärischer Bewachung und Lastkraftwagen der Herresverwaltung. In der neuen Abteilung werden Metallstücke geprüft. Vor mir steht eine Schachtel mit kleinen Schrauben. Ich soll kontrollieren, ob sie die richtige Größe haben. In das eine Loch eines Normalmaßes müssen sie hineinpassen, in das andere nicht. Zu dieser Arbeit braucht man nicht viel Anleitung. Es sind vielleicht fünfzehn Frauen hier. Der Raum, in dem wir arbeiten, ist mit einer Drahtwand von einer größeren Halle abgeschlagen, wir sitzen wie in einem Affenkäfig. Es ist schöne kühle Luft hier, es ist sogar nicht einmal viel Lärm, da überall nur solche Prüfarbeiten gemacht werden und keine Maschinen laufen. Die Vorarbeiterin bringt uns die Arbeit und holt sie wieder ab. Sie und der Meister kontrollieren tagsüber
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21 Betriebsappell
drei- oder viermal, abends wird die gelieferte Arbeit gewogen, sonst läßt man uns in Frieden. Ach, ist das schön kühl. Und daß man sitzen kann. Bequem sind ja allerdings die Holzschemel nicht, nur eine sehr kleine Sitzfläche und ohne Rückenlehne. „Hier ist die reine Sanatoriumsabteilung", sagt die eine Frau. Sie kommt aus der Stanzerei. Das scheint das Allerschlimmste hier zu sein. Ich kann froh sein, daß ich da nicht hingekommen bin. Wir haben hier neun Stunden Arbeitszeit, in der Stanzerei werden zehn Stunden gearbeitet und schon ab früh um sechs. Man kann sich leise unterhalten. Ich werde ausgefragt, wo ich herkomme, weswegen ich entlassen wurde und was wir in der Wäscherei verdient haben. Hier wird besser verdient, es gibt 49 Pfennig Stundenlohn für Juden, nach allen Abzügen gibt es also ca. achtzehn Mark die Woche, von denen das Fahrgeld abgeht. Im übrigen sind alle Frauen in großer Aufregung. Es ist angesagt worden, daß heute ein Appell aller nichtarischen Arbeiter sein soll. Niemand weiß, was das zu bedeuten hat. „Da erleben Sie gleich am ersten Tage hier was Interessantes." „Wie ist es denn hier überhaupt, es soll doch hier so gut sein?" Die Frauen sind nicht so überzeugt davon. „Na, Sie werden ja sehen. Schwere Arbeit schmeckt immer gleich, und die Behandlung hier wird nicht besser. Im Gegenteil. Wer weiß, was heute wieder Neues und Unerfreuliches kommt." Bei der ungewohnten Arbeit vergeht die Zeit schnell. Nur merke ich recht bald, daß dieses Stillsitzen, ohne sich rühren zu dürfen, mich furchtbar anstrengt. Ich bin ja noch gar nicht wieder richtig gesund.
21 Mittagspause. „Gehen wir jetzt in die Kantine?" „Ach, Sie sind wohl dumm, Kantine ist nur für Arier. Juden kriegen das Essen in einem Kessel hier heraufgeschickt und essen am Arbeitsplatz. Das ist doch noch „alles mögliche", daß wir überhaupt was kriegen! Wer weiß, wie lange noch. Und unseren Arbeitsraum dürfen wir sowieso während der ganzen neun Stunden nicht verlassen." „Darf man denn nicht einen Augenblick auf den Hof an die Luft, auch nicht in der halbstündigen Mittagspause?" „Ach wo, machen Sie's Fenster auf, dann ist ja frische Luft. Wir Juden dürfen überhaupt nicht ohne eine arische Begleitung irgendwohin. Selbst wenn Sie auf's Lohnbüro oder in die Krankenkasse wollen, müssen Sie sich erst vom Meister jemanden zur Begleitung mitgeben lassen." Daß man sich soviel Arbeit mit uns macht. Wir sind doch wirklich schon kenntlich genug durch die rot-weiße Binde, die alle Juden tragen müssen.
21 Betriebsappell
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Die Kantine der Ehrich & Graetz A G im Jahre 1941, zu der jüdische Arbeiterinnen u n d Arbeiter keinen Zutritt hatten.
U m drei U h r findet die Versammlung statt. Wir werden in ein anderes Fabrikgebäude geführt, in die Stanzerei. Die Motoren und Treibriemen laufen noch in dieser Halle, so daß man vorsichtig daran vorbeigehen muß. Langsam füllt sich der Raum mit allen jüdischen Arbeitern und Arbeiterinnen des Betriebes. Es ist eine große Anzahl Menschen, Männer, Frauen, junge Burschen und Mädchen. In einer Ecke der Halle steht eine Gruppe von SS-Offizieren. Daneben in weißen Kitteln und Straßenanzügen die Herren Direktoren und Meister. Da ist ja der Herr Eschhaus vom Arbeitsamt! Ich habe Pech, daß ich schon wieder eine Rede von ihm zu hören bekommen soll. Er steigt auf einen Tisch an der Schmalseite der Halle. Ich stehe so dicht dabei, daß ich beschließe, ihn überhaupt nicht anzusehen. Ich werde die Augen fest auf den Boden richten und keine Miene verziehen. Er kann von seinem Platz aus alle genau beobachten. Er beginnt mit einem unbeschreiblich widerlichen Geschimpfe. Wie langsam alle in die Halle geschlichen wären. Das wäre für ihn schon der erste Beweis dafür, wie wenig arbeitswillig wir wären. Es sei ein Skandal, wie schlecht die Juden arbeiteten. Er habe gehört, daß gerade hier in diesem Betriebe sich eine ganze Reihe besonders arbeitsscheuer Leute befänden. Die Hauptschuldigen seien bereits bekannt. Im KZ würden sie schon ein anderes Arbeitstempo lernen. Das deutsche Volk stehe jetzt in einem besonders schweren Kampf, da es nun auch noch von Rußland überfallen worden sei. Wer Rußland in den Krieg gehetzt hat, das wissen wir, das waren die Juden! Wer in Amerika daran arbeitet, um auch dieses Land in den Krieg zu hetzen, das wissen wir auch, auch hier sind es die Juden um Herrn
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Rosenfeld (Roosevelt) herum. Jede Sentimentalität des deutschen Volkes den Juden gegenüber ist damit von vornherein zu verurteilen. Er hofft, daß die Leitung des Betriebes und die Meister sich darüber klar seien. Die Juden können arbeiten, sie wollen nur nicht. Sie haben nie arbeiten gelernt. Natürlich, deshalb fällt es ihnen schwer. Aber eins muß man ihnen ja zugeben. Sie haben Köpfchen genug, und das sollten sie mal brauchen und sich an den Fingern abzählen, wie viel zu gut sie überhaupt in Deutschland noch behandelt würden und was ihnen passieren würde, wenn sie sich nicht endlich danach benähmen. Er wünsche in kurzer Zeit Bericht darüber, ob und was für Änderung in Bezug auf die Beschäftigung der Juden in dem Betrieb eingeführt worden seien. Er müsse auch noch ein Wort über das Verhalten der Juden unter sich sagen. Das sei ja dazu angetan, um den Ekel, den jeder vor den Juden habe, nur noch zu vermehren. Die Juden zerfleischten sich ja gegenseitig. Wieviele anonyme Anzeigen er bloß allein im Arbeitsamt bekäme über Juden, die etwa noch nicht arbeiteten. Die Juden sollten endlich lernen, sich untereinander zu vertragen. Er spricht eine halbe Stunde. Es ist kaum auszuhalten. Dann dürfen wir die Halle wieder verlassen. Ich bin froh, daß ich als eine der ersten wieder auf den Hof komme. In der Halle hinter uns ist irgendetwas los. Nachher höre ich, daß Eschhaus eine Anzahl von jungen Leuten hat festnehmen lassen, weil sie bei seiner Rede angeblich „gelacht hätten". Ein paar ältere Frauen weinen. „Dieser Lump! Das muß man sich alles wehrlos sagen lassen! Diese Schinderei hier tagaus, tagein für diesen Hundelohn, und dann das noch! Und dazu hat man sein ganzes Leben seine Pflicht getan, und die Männer waren im vorigen Kriege, und so viele sind gefallen. Was haben wir denn bloß getan, daß man uns wie Verbrecher behandelt!" Die jungen Mädel regen sich weniger auf: „Es hat doch keinen Sinn, sich das zu Herzen zu nehmen. Der Kerl macht seine Theater-Tournee. Die Hauptsache wird sein, wie etwa der Betrieb dadurch geändert wird." Ich möchte nur wissen, woher Herr Eschhaus schließt, daß die Juden einander beim Arbeitsamt anzeigen, wenn dies durch anonyme Briefe geschieht. Außerdem weiß doch jeder, daß es für Denunziationen gegen Juden Belohnungen gibt. Oder sollte gerade Herrn Eschhaus das unbekannt sein! Übrigens haben nachher ein paar Meister ihren jüdischen Arbeitern gezeigt, daß sie selbst anders denken. Einer soll gesagt haben: „Na, unsere Abteilung geht das ja nun nichts an. Ich hab' mich noch nicht beklagt über euch." Aber das sind Ausnahmen, und die Jungen, die gelacht haben, sind verhauen worden. In dem Rest der heutigen Arbeitszeit wird wirklich nicht gut gearbeitet, dazu sind wir zu aufgeregt. Endlich ist Arbeitsschluß. Die jüdischen Arbeiter dürfen den Arbeitsraum nicht verlassen. Wir müssen angezogen warten, bis wir alle zu-
22 Schraube paßt, paßt nicht, weglegen
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sammen fertig sind. D a n n werden wir von einem arischen Arbeiter an das Fabriktor geführt, aber nicht etwa an das Hauptportal, das dicht neben dem G e b ä u de liegt, w o ich arbeite, sondern durch das ganze, sehr ausgedehnte Fabrikgelände hindurch an einen A u s g a n g nur für Juden, w o eine besondere Kontrolle für uns ist. Wir sind in einem „Wehrbetrieb", auch der Ein- und A u s g a n g der arischen Arbeiter wird genau kontrolliert. Bei uns ist nur die Gemeinheit, daß wir einen großen U m w e g zu machen haben und daß wir eben von den arischen Arbeitern in diffamierender Weise getrennt werden. U n s e r Arbeitsweg wird dadurch ganz wesentlich länger. Wir können an die nur zehn Minuten entfernte Station erst eine halbe Stunde nach Arbeitsschluß gelangen. Morgens ist die Sache genauso. Wir müssen an dem Haupteingang der Fabrik vorbeigehen, um das Straßenviertel herum bis zu unserem Judeneingang, und dort müssen wir solange warten, bis jede Abteilung von ihrem arischen Gänsehirten abgeholt wird. Bei schlechtem Wetter ist es wenig erfreulich, im Regen zu stehen, bis die A b h o l u n g k o m m t . U n d ich hatte mir doch eingebildet, ich würde nur dreiviertel Stunden Wegzeit haben! Unter achtzig Minuten ist es nicht zu machen.
22 D e r Obermeister hatte mir ja schon bei der Einstellung gesagt, daß die Arbeit ungeheuer stumpfsinnig wäre. Z u diesem Schraubenprüfen braucht man vier Handgriffe: Schraube in die H a n d nehmen, zweimal in das Maß hineinpressen, weglegen. Diese Handgriffe werden hintereinander zweitausend-, dreitausend-, viertausendmal gemacht je nach der Größe der Schräubchen. E s ist z u m Verzweifeln. D e r A r m ermüdet, die Finger werden ganz verkrampft. M a n probiert es mit der linken H a n d , man kann von der rechten Seite auf die linke Seite arbeiten oder von links nach rechts - mehr Abwechslung gibt es nicht. Leises Sprechen ist nicht verboten. Vielleicht ahnen die Meister, daß man es sonst überhaupt nicht aushalten würde. Aber worüber soll man denn bloß sprechen. A m ersten Tage war die Zeit so schnell vergangen. D a war die Unterbrechung durch die Versammlung, die uns so aufgeregt hatte. D a n n aber auch, daß ich, eine N e u e , g e k o m m e n war. D a s war doch wieder mal was anderes. D a s junge Mädel neben mir war begeistert. „ H e u t e war's mal aufregend, aber das ist doch eigentlich auch mal was sehr Schönes." Erst hatten wir noch genug über die Versammlung zu sprechen. D a n n gab es nur noch das Alle-Tage-Gespräch. Ach, wie ist das eintönig. Worüber können wir uns denn schon unterhalten: U b e r die Lebensmittel, mit denen man nicht auskommt. Ü b e r s Kochen, manchmal übers Kino, wenn jemand mal Zeit und Geld genug gehabt hat, u m in das einzige jüdische K i n o zu gehen, das es noch irgendwo geben soll. Ü b e r alle Greuelgeschichten, die geschehen sind oder die befürchtet werden. Immer dasselbe Elend bei allen. Für mich ist wenigstens noch alles neu, und es
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22 Schraube paßt, paßt nicht, weglegen
interessiert mich, was für Kameradinnen ich bekommen habe. Mir fällt von vornherein auf, daß der Ton in dieser Abteilung nervös und gereizt ist. In der Wäscherei hatten wir so eine nette Kameradschaftlichkeit, in dieser Abteilung gibt's das nicht. Schraube paßt, paßt nicht, weglegen, neue Schraube, paßt, paßt nicht, weglegen. Ach, mein Rücken! Was für Schrauben mögen das sein? „Danach fragt man nicht", erklärt meine Nachbarin. „Sie haben doch unterschreiben müssen, daß Sie keine Spionage treiben würden". „Was hat denn das mit Spionage zu tun? Hier ist doch eine Radiofabrik." „Ach, w o ! " , bekomme ich zu hören, „hier war mal eine. Jetzt ist die Radioabteilung ganz klein und wird vielleicht überhaupt abgebaut. Hier wird nur für das Militär gearbeitet." Es ist ganz gut, daß man nicht weiß, wozu diese Schrauben gebraucht werden. Ich hatte es mir so schrecklich vorgestellt, Munition zu machen. Diesen niedlichen, kleinen Metallstückchen sieht man ihre Bestimmung jedenfalls nicht an. Die Frau mir gegenüber hat ihren Sohn in Rußland. Er wird jetzt wohl Soldat sein. Vorher war er in Polen, sie hat seit Kriegsbeginn keine Nachricht von ihm. U n d jetzt sind jeden Tag die Siegesmeldungen von der russischen Front. Sie ist vollkommen verzweifelt. Lebt der Sohn überhaupt noch? Sie sieht so vergrämt aus. Ihr Mann ist krank und arbeitsunfähig. Sie haben eine kleine Wohnung mit Untermietern, der Mann macht die Hausarbeit, die Frau ist die einzige Verdienerin. „Aber jetzt kommt der Monatserste. Wenn das bloß schon vorüber wäre!" „Wieso ist denn der Erste gerade so schlimm? Wenn Sie Untermieter haben, braucht Ihnen doch die Miete nicht solche Sorge zu machen?" „Das ist es doch nicht, aber die Strafen, wir müssen doch die Strafen bezahlen!" U n d dann erzählt sie mir folgendes: Sie haben Polizeistrafen zu bezahlen. Einmal schlecht verdunkelt, für die Juden gibt es besonders hohe Strafen: 40 Mark. Beide Eheleute sind beim Einkaufen zur falschen Zeit erwischt worden: 25 Mark. Dann haben sie zu Anfang des Krieges die Lebensmittelkarten auf Kaffee abstempeln lassen. Die Veröffentlichungen über die Abgabe von Bohnenkaffee waren so abgefaßt, daß es schien, als ob auch Juden Kaffee bekommen sollten. Sie haben nie Kaffee bekommen. Aber die Tatsache, daß sie ihre Karten beim Kaufmann hatten stempeln lassen, kostete pro Person: 25 Mark. U n d schließlich sind sie beim Jüdischen Friedhof in Weißensee nicht im rechten Winkel, sondern schräg über die Straße gegangen. Dort ist ein Polizeibeamter versteckt, der auf solche Leute wartet: 10 Mark. D a sie nicht genug Geld zum sofortigen Bezahlen dieser Strafen hatten, müssen sie monatlich bei der Polizei abzahlen. Immer noch besser als ins Gefängnis. Eigentlich sollten sie erst auf den „Alexander" kommen. Aber jetzt lebt sie in einer einzigen Angst, daß sie wieder einen Verstoß begehen könnte oder daß sie das Geld nicht rechtzeitig am Ersten zusammen hat. Was sind das für Sachen. Wer in Deutschland einen Hasen mit einer Falle fängt, wird mit Gefängnis bestraft, seit der Herr Reichs-Oberjägermeister Göring das
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deutsche Wild betreut. Und diese Menschenquälerei wird noch mit besonderer Kunst ausgeübt. Schraube paßt, paßt nicht, weglegen, paßt, paßt nicht. Ich habe mal gelesen, daß man in Amerika Methoden ausgearbeitet hat, um Arbeiter vorher zu prüfen, für welche Art Arbeit sie sich besonders gut eignen. Manche eignen sich gewiß besonders für solche eintönige Arbeit. Ich bestimmt nicht. Dabei geht es mir ganz schnell von der Hand. Aber die Zeit schleicht dabei. Ich nehme mir vor, mal hintereinander eine halbe Stunde zu arbeiten, ohne auf die Uhr zu sehen. Nach einer endlosen Zeit tue ich es. Es sind gerade fünfzehn Minuten vorbei. Aber ich muß doch froh sein, daß ich überhaupt hier im Sitzen arbeiten kann. Ich werde mich erst mal hier im Sitzen wieder gut erholen. Wer weiß, wo ich nachher hinkomme. Daß ich nicht lange in dieser Abteilung bleiben werde, scheint sicher zu sein. Ich bin natürlich wieder die Längste unter den Frauen und habe von den letzten Tagen auf unserem Balkon ein kleines bißchen Sonnenbräune. Das genügt. Der Meister hat mir schon gesagt, ich wäre doch „so groß und kräftig" und warum ich denn nicht in die Stanze gekommen sei. Auf meine Antwort, daß mich der Personalchef selbst in diese Abteilung überwiesen hätte, weil ich nicht gesund sei, sah er sehr ungläubig aus. Der läßt mich bestimmt nicht lange hier. Zu meiner großen Freude entdecke ich in der Nebenabteilung hinter der Drahtwand eine alte Bekannte aus meiner Schulzeit. Sie arbeitet schon fast ein Jahr hier im Betrieb. In ihrer Abteilung werden Zahnräder im Akkord nachgefeilt und poliert. Sie verdient zwanzig Mark in der Woche, und es reicht nicht hin und nicht her. Wenn ich denke, aus was für Verhältnissen diese Frau kommt. In dem schönen Haus ihrer Eltern wurde wundervoll musiziert. Sie selbst ist Konzertsängerin. Jetzt lebt sie mit ihrem neunzehnjährigen Sohn zusammen, der Kapellmeister werden wollte, er arbeitet aber stattdessen bei einer Baukolonne und streicht Luftschutzkeller an. Ihr Mann kam im November 1938 ins Konzentrationslager und versuchte dann, über Kuba nach Amerika zu kommen. Er gehört zu den Unglücklichen, die man in Kuba nicht landen ließ, sondern nach Europa zurückschickte, weil die Einreisevisa angeblich falsch ausgestellt waren. 51 Es gelang ihm, in Frankreich eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Seit dem Einmarsch der Deutschen ist er im Flüchtlingslager Camp de Gurs in den Pyrenäen. Von dort versuchte er, nach USA zu kommen. Aber dort läßt man ihn nicht hinein, weil er Frau und Sohn in Deutschland hat. Den Sohn dagegen läßt man aus Deutschland nicht hinaus, weil er über achtzehn Jahre alt ist. Eben ist nämlich ein Auswan-
51 A m 27. Mai 1939 traf von Hamburg kommend die „San Louis" in Kuba ein. Die über 900 deutschen Juden an Bord durften das Schiff nicht verlassen, weil Kuba unterdessen die Einreisebestimmungen verändert hatte und die Emigranten daher nicht über gültige Einreisepapiere verfügten. Da auch kein anderes amerikanisches Land bereit war, sie aufzunehmen, mußten sie zurück nach Europa gebracht werden. Sie landeten Mitte Juni 1939 in Antwerpen und wurden von dort in vier Kontingenten in die Aufnahmeländer Belgien, Niederlande, Frankreich und England weitertransportiert.
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derungsverbot für Männer zwischen 18 und 45 Jahren gekommen. Diese furchtbaren Schwierigkeiten! Alles ist wie verrammelt und verratzt! Wenn man hier unter der jüdischen Belegschaft auch nur zehn Personen nach ihren Lebensschicksalen fragt, dann bekommt man ebenso viele Tragödien zu hören. Es gibt ja kaum einen jüdischen Menschen in Deutschland, der nicht irgendein schreckliches Schicksal hat. Ich meine nicht etwa damit die Tatsache, daß die meisten ihr Geld verloren haben, sondern daß es kaum mehr eine jüdische Familie gibt, die nicht gewaltsam auseinandergerissen ist, deren Mitglieder nicht über die ganze Welt zerstreut sind. Und alle ohne Nachrichten voneinander, ohne daß sie wissen, ob ihre Angehörigen in den Konzentrationslagern, die es überall für Juden gibt, noch am Leben sind. Meine Bekannte erklärt mir, was es mit meiner Abteilung auf sich hat. Das ist die Abteilung der „schwierigen Fälle", der kranken Arbeiterinnen, die man nicht überall beschäftigen kann. Deswegen sind sie wahrscheinlich alle so nervös. Wir haben da auch eine lungenkranke Frau. Ich habe noch nie jemanden so husten hören. Trotzdem ist sie vom Arbeitsamt in die Fabrik geschickt worden. Mich wundert das nicht, denn mir wurde gerade von einem Arzt ein Heft der „Münchener Medizinischen Wochenschrift" gezeigt mit einem offiziellen Artikel, daß offene Tuberkulose kein Grund sei, um vom Arbeitsdienst zurückzustellen. Wenn die Kranken die vorgeschriebene strenge Disziplin hielten, dann sei die Gefahr für die Arbeitskameraden nicht größer als zum Beispiel die Gefahr von Verkehrsunfällen. 52 Nach diesem Artikel kam auffälligerweise ein zweiter, daß auch in Kriegszeiten in Deutschland nichts unterlassen wird, um die Verbreitung der Tuberkulose zu unterbinden! 53 In dem Fall dieser kranken Frau ist es übrigens die Firma, die auf die Entlassung drängt. Das Personalbüro hat verlangt, daß die Krankenkasse Kontrolluntersu-
52 Es handelt sich um den Runderlaß der Reichsministeriums des Inneren und des Reichsarbeitsministeriums vom 9 . 6 . 1941. Er wurde in der Münchener Medizinischen Wochenschrift (MMW), Nr. 29 vom 18. 7 . 1 9 4 1 , S. 823, in der Rubrik „Tagesgeschichtliche Notizen" wiedergegeben und ist hier detailgetreu zusammengefaßt. 53 In derselben Rubrik wurde unmittelbar vor dem zitierten Runderlaß auf die organisatorische Zusammenfassung aller mit der TBC-Bekämpfung befaßten Einrichtungen der Partei, des Staates und der Verbände zur wirksameren Bekämpfung der Ausbreitung von Tuberkulose hingewiesen (MMW, Nr. 29 vom 18. 7. 1941, S. 823). Im folgenden Heft erschien ein Artikel von Helmuth Richter, Uber zufällig entdeckte Lungentuberkulose Ohrkranker (MMW, Nr. 30 vom 25. 7. 1941, S. 832-835), der in das Fazit mündete, daß „nur eine planmäßige und großzügige Vorbeugung dieser Volksseuche wirksam zu begegnen vermag". Früher war zwar bereits unter bestimmten Bedingungen eine Arbeitstherapie in Heilstätten empfohlen worden. Die Einbeziehung von chronisch Offentuberkulösen in den allgemeinen Arbeitsprozeß war jedoch nur in „speziellen Werkstättenbetrieben" in Erwägung gezogen worden (Kurt Nicol, Aufgaben und Ziele der Arbeitsbehandlung in Tuberkulose-Anstalten, in: MMW, Nr. 23 vom 9. 6. 1939, S. 884-889).
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chungen macht, und da diese positiv für offene Tuberkulose ausgefallen sind, wird die Frau wohl in den nächsten Tagen fortkommen. Ich habe überhaupt den Eindruck, daß diese Firma hier sich besser zu den Arbeiterfragen, auch den jüdischen Arbeitern gegenüber, stellt als die Wäscherei. Aber gegen die Anweisungen des Arbeitsamtes und der Arbeitsfront k o m m t sie natürlich auch nicht an. Z u m Beispiel ist nach dem Besuch des Herrn Eschhaus die Lieferung des Mittagessens an J u d e n eingestellt worden. D a s ist für viele sehr hart, denn es bedeutet ja, daß man erst spät abends etwas Warmes zu essen bekommt. Für mich selbst ist es ein Glück, daß ich hierher gekommen bin. Wenn ich sonntags von Kaethe höre, wie es weiter in der Wäscherei zugeht, dann muß ich ganz zufrieden sein, daß ich nicht mehr dort bin. D i e Arbeit wird überall schwer sein.
23 A m schlimmsten ist die Lage unserer Arbeiterjungen. Wir haben eine ganze Schar von vierzehn Jahren an. Ich unterhalte mich oft mit ihnen, wenn ich sie auf dem Wege treffe. Mein eigener Sohn ist jetzt auch fast vierzehn. O b er wohl auch schon so lang ist wie diese Jungen hier. Ich hoffe sicher, daß er nicht so verbittert und ernsthaft sein wird, er hat es doch gut in seiner englischen Schule, er darf was lernen und wächst gleichberechtigt in einer großen Schar von Kameraden auf. Für ihn ist nur schlimm, daß er von seinen Eltern getrennt sein muß. D i e armen jüdischen Jungen hier in der Fabrik! E s ist nicht die schwere Arbeit, es ist die Aussichtslosigkeit. D a ist einer, Kurt, ein überwachsener langer J u n g e in viel zu kurzen Kniehosen, die A r m e staken ganz lang aus den Ärmeln heraus. Selbst die Jugendlichen b e k o m m e n doch keine Kleiderkarten! Kurt hat ein Jahr in einer Ausbildungswerkstatt der jüdischen Gemeinde gearbeitet, interessiert sich sehr für Technik und wollte so gern Elektroingenieur werden. „Ist es da aber eigentlich nicht ganz interessant für Sie hier, gibt es nicht eine ganze Menge zu lernen?", frage ich ihn. „Ach, haben Sie 'ne Ahnung! Lehrlinge sind nur die arischen Jungen, die bekommmen was gezeigt. Wir Judenjungens dürfen hier nichts lernen. Wir dürfen bestenfalls mal an einer Maschine arbeiten und b e k o m m e n dann den Handgriff gezeigt, der gerade für diese eine Maschine nötig ist. Aber das ist auch alles. Wir sollen ja gerade ungelernte Arbeiter bleiben. Sehen Sie mal, ich mache hier den Transport. Wir fahren die fertigen Stücke in den kleinen Karren zu den Fahrstühlen und dann in die anderen Abteilungen. Manchmal ist es sehr schwere Arbeit, manchmal vertrödelt man bloß die Zeit damit, aber wir lernen doch nichts dabei. U n d zu H a u s e k o m m ' ich doch auch nicht z u m Lernen, meine Eltern sind auch in einer Fabrik, da muß ich doch abends die Hausarbeit mitmachen. Ich will immer abends lesen, aber meistens schlaf ich schon vorher ein." D i e anderen Jungen bestätigen mir dasselbe. E s ist eben nur der Sonntag, den sie frei haben, und auch da ist nicht viel Zeit für sie.
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„Und wo sollen wir denn dann eigentlich hin! In den Wald können wir nicht, in die Parks erst recht nicht. Ja, wer ein Rad hat, der kann ja vielleicht rausradeln und irgenwo im Freien baden, in die Badeanstalten dürfen wir doch nicht. Aber das ist auch so gefährlich. Wenn uns die Hitlerjugend erwischt oder wenn irgend jemandem unsere Nase nicht gefällt, gibt es eine Schlägerei, und dann sind wir immer in der Minderzahl. Es ist doch viel zu gefährlich, zu mehr als zweien oder höchstens dreien sich irgendwo zu zeigen." Die armen Kerle. Es ist alles hoffnungslos für sie. Da nützt kein Fleiß und keine noch so große Energie, sie können nichts lernen. Wie lange wird sich überhaupt unter diesen Verhältnissen das bisher noch immer sehr hohe Bildungsniveau der Juden halten. Jede Möglichkeit ist ihnen verschlossen. Sie dürfen weder Theater noch Konzerte besuchen. Museen, Bibliotheken, selbst der Zoo sind für sie verboten. Die paar noch bestehenden jüdischen Schulen kranken an ungenügender Lehrerzahl und ungenügenden Lehrmitteln. Es gibt überhaupt nur noch eine höhere Schule für jüdische Kinder in Berlin, die wohl auch nicht mehr lange bestehen wird. Die guten Schulgebäude sind längst von der Partei beschlagnahmt. Ich höre immer sehr viel über diese Schwierigkeiten, weil eine meiner Kusinen jüdische Schulpflegerin ist. Die Geldmittel der Gemeinde für alle ihre Zwecke werden immer knapper, die Not immer größer, die Schwierigkeiten und der Druck immer unüberwindlicher. In diesem Sommer war zum Beispiel eines der größten Probleme, was man mit den Schulkindern in den Ferien machen sollte. In fast allen Familien arbeiten die Eltern in den Fabriken, zu Hause waren die Kinder also unbeaufsichtigt. Wo sollte man sie unterbringen, diese armen, übernervösen Kinder, die eine Ferienerholung besonders nötig brauchten? In früheren Jahren hatte die jüdische Schulverwaltung Ausflüge der Kinder in den Wald organisiert, unter ungeheuren Schwierigkeiten, denn die Gestapo hatte erklärt, daß die Kinder nur in kleinen Trupps von nicht mehr als sechs die Elektrischen oder Stadtbahnen benützen dürften. Man muß sich mal vorstellen, wie schwer es unter diesen Umständen ist, auch nur hundert Kinder unter Aufsicht irgendwohin zu bringen. Ganz abgesehen von der Schwierigkeit, einen geeigneten und ungestörten Platz zum Spielen zu finden, wo die Kinder nicht von irgendwelchen Lümmeln überfallen und verprügelt werden können. Dieses Jahr hatte aber die Gestapo auch diese Waldausflüge strengstens verboten. Was blieb denn da noch! Die Parks sind ebenfalls verboten, sehr viele der jüdischen Kinderhorte haben nicht einmal einen Hof, geschweige einen Garten, und wenn sie ihn haben, dürfen die Kinder nicht darin spielen der Nachbarhäuser wegen, die sich über den Lärm beklagen. Schließlich ist die Jüdische Gemeinde auf die Lösung gekommen, auf den jüdischen Friedhöfen jede freie Fläche zu Spielplätzen mit Sandkästen für die kleineren Kinder umzugestalten. Und die größeren Kinder hatten klassenweise die Pflicht, die Gräber und Wege von Unkraut zu reinigen und instand zu halten. Auf diese Weise waren die Kinder beschäftigt und in guter Luft, und zugleich wurden die Gräber in Ordnung gehalten, was seltsamerweise die Gestapo plötzlich verlangt hatte. Dafür hätten sonst natürlich Arbeitskräfte und Geldmittel gefehlt.
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Soweit ist es jetzt also gekommmen: In Deutschland sind die Friedhöfe nicht nur die letzte ruhige Stätte für die alten Menschen, sondern auch der einzige Platz zum Spielen für jüdische Kinder.
24 Unser Meister macht seinen Inspektionsrundgang, mustert die ganze Belegschaft und winkt mir dann. In einer anderen Abteilung wird eine Vertretung gebraucht, ich soll mitkommen. Wir gehen durch mehrere Fabrikhöfe in ein anderes Gebäude ins Büro. „Setzen Sie sich hierher und warten Sie, bis Ihr neuer Meister k o m m t ! " Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, da sagt mir die Buchhalterin: „Ich kann Ihnen nur raten, stehen Sie sofort auf, sonst kriegen Sie Krach, wenn Sie hier sitzen." Nun, ich kann natürlich auch im Stehen warten. D e r Meister kommt und zeigt mir meinen neuen Arbeitsplatz. Ich soll große Metalltrommeln zum Aufwickeln von Kabeln abschmirgeln. Das ist eine böse Arbeit. Ich hätte daran denken und mir mein Attest in die Tasche stecken sollen, wieviel mögen denn diese Trommeln bloß wiegen? „Na, fünfzig Pfund wiegen sie gut und gerne", sagt mir der arische Lackierer, dem ich in die Hand arbeiten soll. „Ich weiß gar nicht, warum sie eine Frau zu so was schicken." Die Trommeln müssen nämlich von allen Seiten geschmirgelt werden, und das H i n - und Herwenden ist keine Kleinigkeit. Mir wird angst und bange, als ich höre, daß man auf achtzig Stück pro Tag kommen muß. Ich bin hier in dieser Halle der einzige jüdische Arbeiter. Mein Nachbar ist ein freundlicher, gutmütiger Mann, dem ich offensichtlich leid tue und der sich alle Mühe gibt, mir bei diesen furchbaren Dingern zu helfen. Ich komme ganz außer Atem. Wie ich bloß meine Länge verwünsche! Nach einiger Zeit will ich die Toilette aufsuchen. O b es hier ein Klosett für Jüdinnen gibt? „Fragen Sie doch eine von den Frauen", sagt mein Nachbar. Ich werde in die allgemeine Frauentoilette gewiesen. Wenn das nur gut ausgeht! Als ich wieder herauskomme, steht ein Meister vor der Tür, den ich gar nicht kenne. E r hat sich nicht entblödet, extra auf mich zu warten. „Was ist das für eine Unverschämtheit, daß Sie das arische Klosett benützen! Sie wissen doch ganz genau, daß das verboten ist!" Verhör. Ich erkläre, daß ich nicht Bescheid weiß. Wieder werde ich angeschrien. Die Sache wird untersucht werden, ich werde ja sehen, was mir passiert, wenn ich etwa gelogen habe, und im übrigen soll ich mich nur unterstehen, so was noch mal zu machen! - Ach, gewiß nicht! Aber w o nehme ich denn eine Toilette für mich her. Ich frage den anderen Meister, als er wieder mal bei mir vorbeikommt.
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„Kommen Sie mal mit", sagt der, „wir werden mal eine suchen gehen." Und das soll einem nicht lächerlich vorkommen. Ich laufe wie ein kleines Kind hinter ihm her, er erkundigt sich überall, anscheinend gibt es aber hier so etwas nicht. „Wo haben Sie denn vorher gearbeitet, gab's denn da kein Judenklosett?" „Schon, aber das ist doch ein ganz anderes Gebäude, über zwei Höfe hinüber." „Na ja, die Vorschriften sind nun mal so. Sie müssen eben immer wieder in das alte Gebäude zurückgehen." „Aber der Weg allein nimmt doch schon soviel Zeit weg, und ich darf doch nicht ohne Begleiter über die Höfe." „Macht nichts, das kann die Firma bezahlen, Sie arbeiten ja nicht Akkord. Fordern Sie sich jedesmal eine Begleitung an." Der Mann ist freundlich. Ich fasse mir ein Herz und erzähle ihm, daß ich eben so krank war und daß ich ein Attest vom Kontrollarzt habe und keine schweren Lasten tragen soll, und diese Arbeit ist so furchtbar schwer. „Gehen Sie doch mit dem Attest ins Personalbüro, und lassen Sie sich zurücküberweisen", rät er mir. Und wirklich, ich habe damit wieder Erfolg und darf am nächsten Tage in die alte Abteilung zurück. Aber ich glaube, der Meister in der Schraubenabteilung ist verstimmt darüber. Schraube paßt, paßt nicht, weglegen, neue Schraube, paßt, paßt nicht, weglegen. Ich bin ja jetzt froh, daß ich wieder da bin und diese langweilige Arbeit habe. Das machen nun Arbeiter und Arbeiterinnen ihr ganzes Leben lang. Wie hat man es gut gehabt, daß man etwas hat lernen dürfen, daß einem früher alles Schöne und Interessante in der Welt offenstand, wenn man nur wollte. Der arische Fahrstuhlführer sieht mir eine Weile bei meinen Schrauben zu. „Na hören Sie mal, machen Sie das gerne?" „Ach nee, wirklich nicht!" „Wissen Sie, da fahr ich lieber Fahrstuhl, da sieht man doch wenigstens was. Diese Schraubenprüferei ist was für Zuchthäusler." Ganz meine Ansicht. Ich muß es mir eben selbst etwas interessant machen. Ich habe ein ganzes Programm von Gedichten, die ich mir aufsage, damit reiche ich fast zwei Stunden. Dieses mechanische Aufsagen von Gedichten läßt sich neben der Arbeit machen. Aber mehr ist nicht möglich. Auf der Fahrt in die Fabrik lerne ich englische Vokabeln, aber während der Arbeit kann ich mich nicht an sie erinnern. So stumpfsinnig diese Arbeit auch ist, man hat den Kopf dabei nicht frei. Ich versuche, ob ich nicht in der Pause beim Essen Vokabeln lernen kann. Auch das geht nur schwer. Man ist nicht aufnahmefähig dazu. „Was machen Sie da eigentlich?" werde ich gefragt. „Englische Vokabeln lernen." „So was gibt's noch! Glauben Sie denn wirklich, daß Sie herauskommen? Das hat man doch längst aufgegeben."
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Für mich ist es eigentlich der letzte große Halt, den ich habe. Ich hoffe auf die Kubavisa. Wir hatten wieder ein Telegramm, daß mein Schwager die Depots für uns eingezahlt hat. Wir müssen die Visa in der nächsten Zeit bekommen. Ich lerne auch auf der Nachhausefahrt. Ich weiß selbst, daß nicht viel hängen bleibt. Man ist ja zu erschöpft nach den neun Stunden, aber man muß es versuchen. Auf diese Weise mache ich in der Stadtbahn die Bekanntschaft einer jungen Französin, die wie ich während der Fahrt Vokabeln lernt, allerdings deutsche. Sie glaubt, ich wäre vielleicht auch Französin, und so kommen wir ins Gespräch. Sie ist aus Paris und arbeitet jetzt hier in einem Büro. Ihr Mann ist Führer einer französischen Arbeitskolonne. Da er Deutsch kann, ist er eine wertvolle Arbeitskraft und wird gut bezahlt. In Paris haben sie nicht bleiben können, weil sie keine Arbeit bekamen. Sie freut sich so, daß sie jemanden gefunden hat, mit dem sie Französisch sprechen kann, und wir sitzen immer zusammen, wenn wir uns in der Stadtbahn treffen. Natürlich sprechen wir nur leise, aber in den Stunden, in denen die Fabrikarbeit aus ist, wäre es nicht einmal gefährlich, Französisch zu sprechen, man hört dann in der Bahn alle europäischen Sprachen. Sie erzählt mir von ihrer furchtbaren Flucht von Paris bis nach Lourdes, von den Verwüstungen und Zerstörungen in Frankreich und von den trostlosen Zuständen, die jetzt in Paris herrschen. Ihre Eltern in Le Havre sind wie durch ein Wunder beim Bombardement der Stadt am Leben geblieben, obwohl das Haus einstürzte. Jetzt bekommt sie von ihnen sehr schlechte Nachrichten. Die Zivilbevölkerung in Frankreich hungert seit der deutschen Besetzung - ein Pfund Kartoffeln pro Kopf in der Woche, und das ist noch viel! Man fährt in der Stadtbahn an den Ruinen der großen Synagoge in der Fasanenstraße vorbei. Sie ist nicht etwa durch Bomben englischer Flieger zerstört worden, wie die Französin glaubte, sondern SS-Leute haben sie im November 1938 angezündet. Es war ein sehr schönes Bauwerk. An den Toren stehen immer noch die großen Metalltafeln, die vom Feuer verschont geblieben sind: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!" und „Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüte!" Das nannte Goebbels „die Schandlehren des Talmuds". In den Zeitungen erscheinen jetzt täglich salbungsvolle Berichte, wie die deutschen Soldaten auf dem Vormarsch in Rußland die Gotteshäuser, die von den Sowjets entweiht und geschändet worden seien, wieder für Gottesdienste freigeben und wie die Geistlichen den Ortskommandanten unter Freudentränen dafür danken. Und die unzähligen Synagogen, die in Deutschland verbrannt worden sind, sind das keine Gotteshäuser? Und die Hunderte von Pastoren der Bekenntniskirche und die katholischen Pfarrer und Brüder, die in den Konzentrationslagern jetzt schon seit Jahren gefangengehalten werden, sind das keine Diener Gottes? Diese doppelte Moral, diese fürchterliche innerliche Verlogenheit ist schauerlich.
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25 Unsere Abteilung hat überall mit Arbeiterinnen auszuhelfen, wenn N o t am Mann ist. E s werden sechs Arbeiterinnen für eine dringende Arbeit gebraucht. Natürlich werde ich auch ausgesucht. Hoffentlich ist es nicht wieder irgendwas Schreckliches. Es ist ja geradezu lächerlich, wie nervös man jedesmal ist, bis man weiß, was für Arbeit man bekommt. E s sieht schlimm aus, denn wir k o m m e n in dieselbe Halle, in der ich schon mal bei den Kabeltrommeln war und jetzt gar zu dem Meister, der mich wegen des K l o setts so angebrüllt hat. E s sollen Kartuschen geschweißt werden. D a s Schweißen macht eine arische Arbeiterin. D e r Meister zeigt ihr die Arbeit. Er redet ihr gut zu. „Sehen Sie mal, Frau Müller, das ist eine schöne Arbeit, das ist eine leichte Arbeit, das wird gut bezahlt, 85 Pfennig die Stunde. D a machen Sie das jetzt mal sehr sauber und ordentlich." D e r Mann kann ganz nett sprechen, wenn er eine arische Arbeiterin vor sich hat. Wir J u d e n sollen die Kartuschentöpfe schwarz anlackieren. Eine leichte Arbeit. Aber leider erklärt Frau Müller nach einer Viertelstunde, daß sie gar nicht daran denke zu schweißen, das sei ihr viel zu anstrengend - eine Arierin darf so etwas, und leider wählt der Meister p r o m p t mich z u m Ersatz für sie aus, weil ich doch „ s o groß und kräftig bin". Mit mir redet er weniger liebenswürdig, oder vielmehr, er gibt mir überhaupt keinen Auftrag, sondern alle Anweisungen gehen an einen jungen arischen Arbeiter, dem ich zuarbeiten soll. Ich b e k o m m e natürlich auch nur den gewöhnlichen Stundenlohn von 49 Pfennig, von dem dann noch die ganzen A b z ü g e abgehen. D a s Schweißen selbst ist nicht schwer. M a n drückt mit dem Fuß auf einen Hebel, dann arbeitet die Maschine. Furchtbar anstrengend ist nur das Zusammenpressen der Metallköpfe, damit N a h t auf N a h t kommt. D a s Material, aus dem diese Kartuschen gemacht sind, ist sehr hart, es gehören viel Körperkräfte dazu, besonders Armmuskeln, u m die Plattenränder richtig übereinander zu bringen. D e r Auftrag muß ein Sorgenkind der Fabrik sein. D i e Kartuschen waren schon mal in Spandau und sind zurückgeschickt worden. Immerfort erscheinen Meister aus anderen Abteilungen und die Abnahmebeamten aus Spandau und die Ingenieure der Firma und diskutieren darüber. Erst wird mir gesagt, ich solle den Schweißhebel schnell und kurz herunterdrücken. D a n n verlangt der Meister, daß ich langsam arbeiten und lange drücken soll. Gewiß, ich kann's auch anders. Plötzlich stürzt er wieder auf mich zu. „Sie, Frau, das sehe ich mir nicht mehr weiter mit an, Ihre pomadigen Bewegungen, arbeiten Sie gefälligst schneller!" Jetzt weiß ich wirklich schon nicht mehr, was ich machen soll. D e r Meister traut mir auch nicht. D i e Kartuschentöpfe dürfen nur oben am Rand einen einzigen Schweißpunkt haben, damit sie sofort aufplatzen, wenn sie aufschlagen, andererseits muß der Schweißpunkt natürlich fest genug sein, damit die T ö p f e nicht
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schon vor dem Gebrauch platzen. D e r Meister steht hinter mir und läßt mich nicht aus den Augen. Plötzlich reißt er mir eine Kartusche aus der H a n d . „Sie haben ja eben zweimal geschweißt! D a s ist Sabotage!" E r prüft nach, hat sich aber geirrt. Warum sollte ich auch zwei Punkte schweißen, wenn mich einer schon so anstrengt, so vergnügungssüchtig bin ich nicht. A b e r auf die D a u e r macht es mich ganz nervös, wie er da hinter mir steht und mich beobachtet. Als er mir z u m dritten Mal dieses Theater mit den doppelten Schweißpunkten macht, bitte ich sehr höflich, mich anderweitig zu beschäftigen, wenn er mir kein Vertrauen schenke. Aber unter ständiger Beschuldigung, daß ich Sabotage mache, könne ich nicht weiterarbeiten. Er sieht mich etwas verdutzt an, sagt: „Arbeiten Sie aber sorgfältig!", und dreht sich auf dem A b s a t z um. D e r ganze Auftritt hat mich mehr aufgeregt, als es sich wirklich lohnt. Aber es ist ja auch immer ein Risiko, wenn man nur den M u n d aufmacht. E s hätte genauso gut anders ausgehen können. Ich bin ganz niedergeschlagen. Wenn das hier nur nicht wieder so wird wie in der Wäscherei! Auf einmal steht ein weißhaariger arischer Arbeiter neben mir, der auch in dieser Halle arbeitet: „ N e h m e n Sie sich das nicht etwa zu Herzen, daß der Meister Sie so verrückt behandelt!" sagt er leise. „Wenn Sie gut arbeiten, ist der gar nicht so schlimm. U n d außerdem müssen Sie immer denken, Ihnen geht's nicht allein schlecht, nicht bloß den J u d e n ! Hier gibt's Leute, denen haben die N a z i s den Sohn erschossen. D i e Arbeit ist furchtbar anstrengend, nicht wahr, aber nur die ersten Tage, bis Sie die richtigen Muskeln haben, dann ist es leichter." So ein paar gut gemeinte Worte tun wohl, man k o m m t sich doch nicht ganz so gottverlassen vor. Vor Arbeitsschluß gibt's noch mal einen Krach mit dem Meister. Aber diesmal geht es wenigstens nicht mich an. D i e arischen Arbeiter dürfen sich nämlich fünf Minuten vor Schluß saubermachen. D i e J u d e n dürfen es nicht. D e r Meister steht diese letzten fünf Minuten bei uns und läßt uns nicht aus den Augen. Er schreit eine alte, sehr schwerhörige Frau an, die gar nicht begriffen hat, w o r u m es sich eigentlich handelt. Aber dann k o m m t auch für uns der Arbeitsschluß und wir können nach Hause. Ich bin furchtbar erschöpft. In der N a c h t ist ein schwerer Luftangriff, aber ich höre nichts, so fest schlafe ich. Wenn ich erst über diese körperliche E r s c h ö p f u n g hinweg sein werde, dann ist diese Schweißarbeit mir tausendmal lieber als das Prüfen der Schrauben. Z u jeder Kartusche gehören mindestens zehn Handgriffe. Dazwischen muß ich auch mal von meinem Schemel aufstehen und neue Kartuschen heranbringen, oder ich muß mir aus der Nachbarhalle einen Arbeiter holen, der die Schweißspitzen frisch anschleift, und während er es tut, kann ich etwas verschnaufen. D i e Zeit vergeht viel schneller, allerdings merke ich auch jede neue Stunde an der wachsenden Müdigkeit.
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26 Eine „Braune" Schwester und andere Kollegen
26 Mein Arbeitsplatz ist abseits von den anderen jüdischen Frauen zwischen zwei arischen Arbeitern. E s sind beides junge Leute, der eine ist ein unerfreulicher Geselle. Bei den jüdischen Frauen an dem Lackiertisch arbeitet eine junge arische Arbeiterin als Aufsicht. E s scheint nicht möglich zu sein, daß dieser N a c h b a r an dem Mädel vorbeikommt, ohne sie irgendwo zu kneifen. O d e r er ringt auch plötzlich mal mit ihr, sie muß nur immerfort aufpassen, daß er ihr nichts tut. U n s läßt er glücklicherweise in Frieden, das ist ihm wohl zu gefährlich. Aber sonst sind wir ihm sehr interessant. „Ist das wahr, daß die J u d e n weniger Lebensmittel b e k o m m e n ? Kriegt ihr wirklich nicht mal G e m ü s e und Tomaten." „Ja, das ist s o ! " „ N a , so was! Aber Sie, das macht nur irgendeine Parteistelle. D e r Adolf, der weiß das gar nicht, der will das sicher gar nicht!" Ich antworte nichts darauf. Er sieht mich ganz herausfordernd an: „Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß der Hitler das so haben will?" „Ach, Sie wissen ganz genau, ich habe Ihnen nur auf Ihre erste Frage geantwortet, und über Hitler habe ich überhaupt nichts gesagt, lassen Sie doch lieber diese Gespräche." Mir fällt ein Erlebnis ein, das ich 1939 hatte. Damals hatten die J u d e n alle G o l d und Silbersachen, auch alle Tischbestecke an den Staat abzuliefern. E s wurde eine Entschädigung dafür gezahlt, die aber so minimal war, daß die A b g a b e in Wirklichkeit einer Enteignung gleichkam. Ich sah mich genötigt, neue Messer und Gabeln aus Stahl zu kaufen. D i e Verkäuferin, die mich von früher kannte, wußte nichts von diesen Enteignungen, so daß ich ihr auf ihre Frage in ein paar kurzen Worten von der Silberabgabe erzählte. Sie hörte es ungläubig an und fing plötzlich an zu schluchzen: „Wie können Sie mir das sagen, das glaube ich ja nie und nimmer! U n d wenn Sie mir noch ganz anderes erzählen würden, ich werde trotzdem immer meinen Führer lieben und bewundern! U n d wenn alle Juden ihn herabreißen wollen, er ist mein Führer, er ist der größte Mensch unserer Zeit!" Sie wurde so aufgeregt und hysterisch, daß ich den Laden verließ. E s war ganz bezeichnend, wie dieses ältliche Mädchen die Situation umdrehte. Sie hatte instinktiv diese Enteignung mißbilligt und fand als A u s w e g , daß es eine Herabsetzung des Führers wäre, die Partei, das heißt also ihn, mit einer niedrigen H a n d lung in Verbindung zu bringen. Mein N a c h b a r hatte das genauso gemacht. Dabei hatte ich natürlich auch nicht mit einem Wort Hitler erwähnt. D e r Hitlerkultus geht soweit, daß eine Apostelfigur aus ihm geworden ist, die mit seiner wirklichen Persönlichkeit nichts mehr zu tun hat. In den Papierläden sieht man die Fotokarten, auf denen Hitler als Tierfreund, als Bewunderer der Blumen, als Beschützer aller kleinen Kinder abgebildet wird, die strahlend zu ihm aufblicken, während er ihnen väterlich übers H a a r streicht. D a s ist ein Mann, der
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niemandem etwas zu leide tut, der nur Herzensgüte und edle Menschlichkeit kennt. Das Volk will ihn so haben, die Parteianhängerinnen in jedem Falle und sehr viele andere, die eigentlich der Partei fernstehen, ebenfalls. Immer wieder, wenn etwas Grausiges geschehen ist, hört man dieses „Das weiß der Führer ja gar nicht, der Führer will das nicht, das ist sicher nur eine Parteistelle gewesen", während doch in Wirklichkeit das ganze System des Terrors von ihm eingeführt und gebilligt ist. Einmal gehe ich in die Unfallstation, um mir dort von der Krankenschwester eine Medizin geben zu lassen. Es ist eine „Braune Schwester", d.h. sie gehört einem Schwesternverband der Partei an. Sie spricht nicht ein Wort mit mir, schiebt mir nur ein Meßglas mit der Medizin auf die Tischecke, so daß ich erst gar nicht weiß, ob es für mich bestimmt ist. Wahrscheinlich fürchtet diese Dienerin der Nächstenliebe, daß auch nur ein Wort zu einer Jüdin für sie zuviel wäre. Es war immer auffallend, daß die unverheirateten Frauen des Mittelstandes und besonders darunter die Krankenschwestern sich mit einer geradezu hysterischen Verzücktheit der Partei in die Arme warfen. Mein zweiter Nachbar stellt auch seine Fragen. „Haben Sie wirklich keine Kleiderkarten?" „Nein, seit Kriegsbeginn haben wir nichts mehr kaufen können." „Na, das ist doch allerhand, wie macht ihr denn das bloß?" „Das ist eben fürchterlich, besonders für die jungen Menschen, die im Wachsen sind." Er überlegt etwas. „Eigentlich ist der Unterschied gar nicht mehr so sehr groß. Sie haben keine Kleiderkarten und kriegen keine Strümpfe. Wir haben welche, und es gibt keine Strümpfe zu kaufen. Es kommt auf dasselbe heraus. Jetzt versucht meine Mutter schon seit sechs Wochen, mir Socken zu kaufen, und es gibt nirgends welche. Ich möcht' nur wissen, wie das auf die Dauer weitergehen soll." Mit dem ersten Nachbarn, der ungeführ die geistigen Fähigkeiten und auch die Boshaftigkeit eines Fürsorgezöglings hat, vermeide ich möglichst jedes Wort. Er geht immer ins Politische, und wenn es nichts weiter ist, als daß er wissen will, ob wirklich in USA nur Juden leben wie Rosenfeld und die anderen, von denen immer in der Zeitung steht. Und ob man denn dort wirklich dieselbe Sprache wie in England spräche, denn dann wären die Amerikaner doch auch nur „Plutokraten" genau wie die Engländer. Was mag er sich darunter vorstellen? Von dem zweiten Nachbarn hört man ganz Interessantes, und immer ruhig und vernünftig vorgetragen. Ich hatte geglaubt, daß er eine besondere Ausbildung hätte. Er hat es aber nur bis zum Schlossergesellen gebracht. Dabei ist er ein besonders kluger und geschickter Mensch. Warum macht er denn nicht die Meisterprüfung? „Nee, das kann ich nicht", erklärt er mir, „erstens braucht man dazu Geld, dann mindestens drei Monate vor der Prüfung Zeit zum Büffeln, und die hab' ich nicht. Und vorher müßte ich schon Abendkurse besuchen. Aber zwölf Stunden Arbeit
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und dann noch Fabrikwachdienst wegen der Flugangriffe, da bin ich zu müde für Kurse." Aber er ist auch sonst zu übermüdet. „Das Essen, was wir bekommen, na ja, schön, Sie kriegen ja noch weniger, aber es reicht doch nur gerade dazu, daß man nicht verhungert. Es ist doch auch nicht seit heute und gestern, daß wir nicht mehr richtig zu essen bekommen. Das geht doch nun schon seit bald sieben Jahren, seitdem der Göring damals erklärt hat, daß wir weniger Butter essen und dafür lieber Kanonen anschaffen sollen. Die paar Vitamintabletten, die es für die arischen Arbeiter gibt, die machen das Kraut auch nicht fett. Noch was extras dabei arbeiten, nee, Sie, das kann man nicht. Ganz abgesehen davon, daß es auch vielen von uns nicht paßt, daß man zu der Meisterprüfung doch die ganze Parteigeschichte und alle Daten aus Hitlers Leben auswendig können muß." Ein anderes Mal sagt er mir: „Ich hätte gar nicht Metallarbeiter werden sollen. Man braucht doch fast gar keine Spezialarbeiter mehr. Haben Sie mal aufgepaßt, wieviel Frauen hier in der Fabrik arbeiten. Es geht doch gar nicht anders, da alle Männer im Feld sind. Deswegen werden alle Arbeiten in lauter kleine Abschnitte zerlegt. Nach fünf Minuten Anlernen kann jeder jede Arbeit, und die Menschen sind genauso auswechselbar wie die Maschinenteile. Es kann auch die Angst vor Spionage sein, weswegen sie das so machen. Hier in der Fabrik werden doch überhaupt nur Einzelstücke gemacht. Wie die nachher in Spandau zusammengesetzt werden, das wissen wir doch gar nicht. Alles machen die Maschinen. Auf den Menschen kommt es nicht mehr an. Das ist alles so leblos." „Und wenn Sie in eine kleinere Werkstatt gingen?" „Ach, das ist alles dasselbe. Höchstens, wenn es eine Reparaturwerkstatt ist, und dort werden noch schlechtere Löhne gezahlt. Hier meine Arbeit ist doch ganz interessant. Aber machen Sie das mal so zehn, zwölf Jahre und nichts anderes!" Es ist anscheinend überall dasselbe Lied. In jeder Pause steckt mir jetzt der alte weißhaarige Arbeiter etwas Obst zu, natürlich ganz heimlich. Er hätte gehört, daß wir kein Obst bekommen, und er hat doch einen Schrebergarten. Es ist doch reizend von ihm und außerdem mutig. Und doch wäre es mir lieber, wenn er es nicht täte, denn er kann dadurch großen Arger haben. Ob ich nicht vielleicht weiß, wie seine Enkeltochter am besten Krankenschwester werden könne. Sie war aber nicht im BDM. 54 Jetzt ist sie 54 Der Bund Deutscher Mädel (BDM) entstand 1930 aus der Umbenennung der Schwesternschaft der HJ und war seit 1932 die einzige Mädchenorganisationen der NSDAP. Der HJ unterstellt, fiel er wie diese seit 1936 unter die Jugenddienstpflicht. Der Bund bestand aus dem Jungmädelbund (JMB) für die 10- bis 14jährigen, dem BDM für die 14- bis 18jährigen und dem 1938 gegründeten BDM-Werk „Glaube und Schönheit" für junge Frauen bis 21 Jahren. Im JMB waren durch die mehr oder weniger zwangsweise Ziehung ab 1936 fast alle Mädchen erfaßt. BDM und BDM-Werk waren kleiner, weil sich
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gerade im Arbeitsdienst auf dem Lande. 5 5 Er möchte doch gern eine Freistelle für das Mädel. D a s ist eine aussichtslose Sache. Freistellen gibt es nur für jemanden, der „mitmacht", nur über die Partei! O h n e den B D M - das geht nicht! Sie haben doch aber das Mädel nicht in den B D M geschickt, sie wollten sie doch nicht von den N a z i s beeinflussen lassen! Ach, es ist auch hier überall dasselbe Lied!
27 D e r Meister hat mich in der letzten Woche ganz in Frieden gelassen. D i e arische Vorarbeiterin überrascht mich mit der Mitteilung: „ D e r Meister ist ja ganz begeistert von Ihnen. Er hat gesagt, wenn er bloß lauter solche Arbeiterinnen hätte wie Sie." Ach, herrjeh, welches L o b ! Mich selbst hat er noch nichts davon merken lassen. „ N a , wissen Sie, das können Sie nun auch nicht von ihm verlangen. Partei ist Partei. D e r wird Ihnen das nie erzählen. D a f ü r ist er N a z i . Aber der läßt Sie bestimmt immer k o m m e n , wenn wieder geschweißt wird." Unser Auftrag über neuntausend Kartuschen ist nämlich fast zu Ende. Wenn wieder geschweißt wird? Ich bin dann hoffentlich nicht mehr da. D a s kubanische Konsulat hat uns mitgeteilt, daß wir bei Vorlage der Pässe die Visa bekommen würden. Ich habe um drei Tage U r l a u b gebeten und sie erhalten. Wir müssen so schnell wie möglich alles erledigen, damit man uns die Pässe gibt. Bei unserer mißglückten Auswanderung nach Portugal haben wir bereits die Mehrzahl der notwendigen Anträge gestellt. Die Akten liegen noch bei der G e s t a p o in der Kurfürstenstraße, und wie wir hören, haben die Anträge noch Gültigkeit. D a s ist ja gut. D a brauchen wir nicht noch einmal die Listen der Gegenstände aufzustellen, die wir mitnehmen wollen. Vor einem Jahr haben wir acht Tage daran gearbeitet. N i c h t etwa, daß wir sehr viel mitnehmen wollten, sondern die Bestimmungen waren damals schon genauso streng wie jetzt. Jeder einzelne Gegenstand mußte genau aufgeführt und bezeichnet werden. E s war geradezu eine Wissenschaft der Auswanderungsberater ge-
die Jugendlichen durch Ausbildung oder Berufstätigkeit der Mitgliedschaft entziehen konnten. Vgl. Reese 1989, S. 31-42. 55 Der Freiwillige Arbeitsdienst (FAD) war während der Weltwirtschaftskrise für beide Geschlechter eingeführt worden. Nach 1933 wurde die Arbeitsdienstpflicht zunächst für junge Männer ausgeweitet. Der Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend ( R A D w J ) wurde besonders für Abiturientinnen zur Pflicht, bevor sie ein Studium aufnehmen durften. Die jungen „arischen" Frauen sollten vor dem Eintritt ins Berufsleben ein Jahr im Haushalt oder in der Landwirtschaft arbeiten und in Gemeinschaftslagern leben. 1941 wurde zusätzlich der sechsmonatige Kriegshilfsdienst für junge Frauen in kriegsrelevanten Behörden und Betrieben eingeführt. Vgl. Kleiber 1981.
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worden, diese Listen anzufertigen. M a n durfte z u m Beispiel nicht sagen „ein Beutel mit N ä h z e u g " , sondern jeder Fingerhut, jedes Knäuel Garn, jeder D r u c k knopf mußten gesondert aufgezählt werden. U n d außerdem war man nicht etwa frei in der Mitnahme von Gegenständen. Eigentlich waren überhaupt nur Sachen erlaubt, die vor dem Jahre 1933 bereits angeschafft waren. Für alle späteren A n schaffungen gab es nur in Ausnahmefällen eine Erlaubnis, nur für eine beschränkte Stückzahl und auch dann nur, wenn der volle Einkaufswert noch einmal an die G o l d - D i s k o n t - B a n k gezahlt wurde. Schreibmaschinen, Nähmaschinen et cetera, die erst nach 1933 angeschafft waren, wurden sowieso nicht genehmigt, ebenso wenig Metallgegenstände. D i e sind in Deutschland zu knapp. E s ist alles für die Erteilung unserer Pässe vorbereitet. Wir brauchen nur noch einen Stempel. Wir haben auch schon die Erklärung des Finanzamtes, daß gegen die Ausstellung der Pässe für uns keine Bedenken vorliegen, das heißt also, daß unser Vermögen vollkommen beschlagnahmt ist und keine Gefahr besteht, daß wir etwa die Reichsfluchtsteuer nicht zahlen oder mit irgendeinem Betrag über die Grenze gehen könnten. 5 6 Mein Mann und ich fahren am ersten Tag zusammen nach der Kurfürstenstraße zur Gestapo. D i e Büros sind in dem schönen G e b ä u d e untergebracht, das ehemals der jüdischen Brüdervereinsloge gehörte. 5 7 Unten in der Portiersloge sitzt immer noch der bayerische Lümmel, der uns vor einem Jahr so unbeschreiblich angeschrien hat, als wir z u m ersten Mal dort waren und nicht wußten, daß man sich bei ihm zu melden hätte. Er drohte uns damals mit Verhaftung, weil wir nicht um einen Passierschein gebeten hatten. Diesmal wissen wir schon, daß man nicht erst im H a u s , sondern schon auf der Straße den H u t abnehmen und die jüdische Kennkarte in der H a n d halten muß, wenn man überhaupt in das H a u s hineingelassen werden will. D a s muß eine gute Stellung sein, dort bei der G e s t a p o Portier zu spielen, ins Feld k o m m e n diese Gestapoleute offenbar nicht, genauso wenig wie die Mörderwachen in den Konzentrationslagern.
56 Die Reichsfluchtsteuer wurde im Dezember 1931 als Notverordnung zur Verhinderung der Kapitalflucht ins Ausland für alle Auswanderer eingeführt, betraf aber ursprünglich nur Vermögen über 200.000 RM und betrug 25%. Im Mai 1934 wurde sie auf Inhaber kleinerer Vermögen ausgeweitet und in ein Instrument zur Ausplünderung ausreisewilliger Juden umgewandelt (Hilberg 1982, S. 140-142). Im Mai 1941 betrug sie für Juden 80%, was nicht bedeutet, daß der Rest des Vermögens wirklich ausgeführt werden konnte. Hinzu kamen Transferverluste und die hier beschriebenen mehr oder weniger willkürlichen Beschlagnahmungen (vgl. Richarz 1989, S. 52 und S. 527, Anm. 7). Ein etwaiges Restvermögen konnte ebenfalls nicht ausgeführt werden, sondern kam auf ein „Auswanderersperrmark-Konto"; der Kursverlust beim Verkauf der „Sperrkonten-Mark" gegen Devisen stieg bis Kriegsbeginn auf über 90%. Vgl. Schwarz 1992. 57 In der Kurfürstenstraße 116 befand sich im ehemaligen Gebäude des jüdischen Brudervereins das Judenreferat (Abt. IV B 4) des RSHA (Richarz 1989, S. 526, Anm. 3; vgl. dazu auch den Bericht von Bruno Blau, ebda. S. 571-589, hier S. 581).
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Außer uns warten noch eine Anzahl Menschen im Treppenhaus. Alles alte Leute, alte Frauen. Wir stehen zu zweien hintereinander, genau ausgerichtet. Anlehnen an die Wand ist verboten. Stühle gibt es nicht. Von Zeit zu Zeit wird von SSMännern in U n i f o r m kontrolliert, ob wir auch am richtigen Platze stehen. Eine Frau hat sich auf eine Treppenstufe gesetzt. Sie muß aufstehen. N a c h anderthalb Stunden Warten werden wir in das B ü r o gerufen. Alle Papiere werden noch einmal genau geprüft, und da k o m m t ein dummes Mißgeschick: D i e Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes reicht nicht aus. Wir haben bis vor zwei Jahren, als wir noch im Vorort wohnten, einen H u n d gehabt. Ist die Hundesteuer voll gezahlt, oder sind da noch Rückstände? Natürlich ist alles gezahlt. Aber w o ist die Unbedenklichkeitsbescheinigung dafür? Daran haben wir nicht gedacht, und der Beamte in der Steuerstelle auch nicht. Wie unangenehm, denn die Zeit reicht nicht aus, um am selben Tage nach dem Finanzamt Zehlendorf hinauszufahren, w o wir noch zuständig sind. Dieser erste Tag ist also erfolglos. Mein Mann erhält die Bescheinigung erst am nächsten Tag. E r bekommt nun die Pässe und gibt sie noch mittags im kubanischen Konsulat ab. A m nächsten Morgen soll der kubanische Konsul die Visa unterzeichnen. Ich arbeite unterdessen zu H a u s e fieberhaft, u m alle unsere Sachen zu sichten. Alle A n z ü g e und Kleider müssen nachgesehen werden. Wir haben noch soviele Papiere auszusortieren und arbeiten bis spät in die N a c h t . A m nächsten Morgen stehen wir ganz zeitig auf. Ich will gerade am Schreibtisch weiterarbeiten, da wird die Zeitung gebracht: D i e kubanischen Konsulate in Deutschland sind geschlossen! U m Himmels willen! D a s kann doch nicht wahr sein! Einen Tag zu spät! Wenn wir vorgestern schon die Bescheinigung gehabt hätten, dann hätte der K o n sul das Visum noch gestern einstempeln können. D a n n hätte... Aber er hat doch nicht. D i e Enttäuschung ist furchtbar. Was macht man nun!? D e r Auswanderungsagent, der uns behilflich ist, sieht noch nicht ganz so schwarz. Vielleicht wird die kubanische Gesandtschaft wenigstens die Visa ausstellen, die bereits bewilligt sind. D i e Gesandtschaft ist ja noch nicht geschlossen. Aber man muß jetzt erst einmal abwarten, wie sich das entwickelt. E s ist wenigstens noch ein Hoffnungsstrahl vorhanden, wenn auch kein großer. Beim Schließen des amerikanischen Konsulats hat man das auch gesagt, und dann ist nicht daraus geworden. Unsere Niedergeschlagenheit ist schrecklich. Wir bekommen ein Telegramm aus U S A . Mein Schwager will wissen, ob und wann wir abfahren. Wir wissen nicht, was wir antworten sollen. D a s Telegramm muß zunächst liegenbleiben. U n d ich muß wieder in die Fabrik zurück.
28 Schraube paßt, paßt nicht, weglegen, Schraube paßt, paßt nicht. Während ich zu H a u s e war, ist der Kartuschenauftrag fertig geworden. Ich prüfe also wieder Schrauben. E s ist mir ganz gleich, was ich mache. Ich denke und überlege von
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früh bis abends, was wohl nun werden wird und ob es noch einen Ausweg gibt. Vielleicht läßt es sich wirklich machen, und die kubanische Botschaft wird das Visum geben, sie sollen sich zustimmend geäußert haben, warten aber noch auf Anweisung aus Habana. Der Meister, den ich hatte um Urlaub bitten müssen, will wissen, woran er ist: „Fahren Sie nu', oder fahren Sie nu' nicht?" Irgendein menschliches Interesse an diesem Mißgeschick zeigt er nicht. „Ja, ich denke doch, daß wir fahren werden." Er sieht mich mißtrauisch an. „Sie sollen nämlich in eine andere Abteilung kommen, da würde sich ja sonst das Einarbeiten gar nicht lohnen. N a , wir können ja noch ein paar Tage warten." Wir werden aber wohl überhaupt nicht mehr wegkommen. Es gehen so schreckliche Gerüchte um. Wenn die wirklich wahr wären! Leider sind sie wahr. Es kommt ein Ausreiseverbot für Frauen zwischen 18 und 45 Jahren. Jetzt ist alles verloren. Warum mußte das auch noch kommen, warum bloß? Bei dem gleichen Ausreiseverbot für Männer, das vor einigen Wochen herauskam, hieß es noch, daß es militärische Gründe hätte. Aber bei den Frauen! Weswegen verbietet man die Ausreise der Frauen! K o m m t es denn so auf die Fabrikarbeit der jüdischen Frauen an? Es kann sich doch nicht mehr um viele jüngere Frauen handeln, die jetzt noch ein Visum erhalten. Meistens sind es doch alte Menschen, denen ihre Kinder die Visa zuschicken. Es können doch höchstens ein paar hundert Jüngere sein, für die dieses neue Verbot in Betracht kommt. Es ist ein solcher Widerspruch, daß es erst heißt, Juden müßten um jeden Preis versuchen, aus Deutschland wegzukommen, und wenn sie dann mit unendlichen Schwierigkeiten einen Weg gefunden haben, dann wird die Ausreise verboten! Es ist fürchterlich. Alle Überlegungen, weshalb dieses Verbot gekommen ist, nützen uns nichts. Das Schlimme ist: Es ist da, und ich werde davon betroffen. Wieder sind alle unsere Hoffnungen zunichte. Wir hören, wie streng das Verbot durchgeführt wird. Man hat Frauen, die ihren Sichtvermerk schon im Paß hatten, aus dem Zug herausgeholt und von ihren Familien getrennt. Manche haben versucht, im Flugzeug über die Grenze zu kommen. Das soll von München aus gehen. In Berlin dürfen Juden kein Flugzeug besteigen. Für die Plätze ab München sind Fantasiepreise gezahlt worden. Aber es ist nur wenigen in den ersten Tagen geglückt, auf diese Weise zu entkommen. Kaethe, die wie immer jeden Sonntag bei uns ist, erzählt, daß eine Freundin von ihr, die auch diesen Weg versuchte, ohne Geld und ohne Lebensmittelmarken jetzt ganz verzweifelt aus München schreibt. Sie fürchtet, jetzt von der Gestapo in ein Arbeitslager abgeschoben zu werden, weil sie ohne polizeiliche Erlaubnis Berlin verlassen und sich in einer fremden Stadt aufgehalten hat! Man hört, daß der gefürchtete Chef der Gestapo 5 8 in der Jüdischen Auswanderungszentrale, Kurfürstenstraße, erklärt hat: 58 Gemeint ist wahrscheinlich der Leiter des Judenreferats, Adolf Eichmann (1906-1962). Er war in der Abt. IV B 4 des R S H A für „Judenangelegenheiten und R ä u m u n g " zustän-
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„ E s soll nur jemand versuchen, eine Ausnahme von diesem Verbot zu erreichen! E s soll nur die erste k o m m e n - eine zweite würde es wohl nicht mehr w a g e n ! " D i e ganze Sache ist wieder raffiniert ausgedacht. Seit Anfang des Jahres dürfen Juden aus Deutschland nur noch in plombierten Waggons ausreisen, in Transporten, die v o m Hilfsverein der Juden organisiert werden. D e r Hilfsverein muß jedesmal die Listen der Reisenden zusammenstellen. D i e G e s t a p o gibt dann den Sichtvermerk, wenn gegen die betreffenden Leute nichts vorliegt. E s ist jetzt nicht etwa so, daß die Gestapo die Personen zwischen 18 und 45 Jahren nicht mehr genehmigt, nein, der Hilfsverein darf sie gar nicht mehr auf die Listen setzen, der Hilfsverein „ist an allem schuld". 5 9 Wir sind ein paar Tage so vollkommen niedergeschlagen, daß wir überhaupt nichts mehr unternehmen. E s hat ja keinen Sinn mehr, es ist doch alles zwecklos. D i e kubanische Gesandtschaft stellt jetzt übrigens wirklich die Visa aus, dort würde also kein Hindernis mehr liegen. Aber das andere ist doch unüberwindlich. Ich finde, mein Mann sollte wenigstens versuchen, ohne mich fortzugehen, er fällt nicht unter die Verbote. Vielleicht kann er wenigstens noch mal mit den Kindern irgendwie zusammenkommen. Er weigert sich aber, mich hier zu lassen, und ich bin ja doch froh darüber, daß wir wenigstens zusammenbleiben. Wer weiß, was noch alles kommt. Zu zweien läßt es sich leichter ertragen. Aber o b es richtig ist? Wir sind von dem Denken und Uberlegen schon ganz krank. Manchmal hat man so das Gefühl, als ob einem der K o p f zerspringen müßte.
29 Ich k o m m e in eine andere Abteilung. D e r Meister hat mir gesagt, mit meiner Auswanderung würde es doch sicher nichts. Ach, mir ist das alles ganz gleich. Wir haben unsere Pässe wieder zurückgeben müssen. Vielleicht ist es viel besser, ich k o m m e woanders hin. Bei dem blöden Schraubenprüfen hat man viel zu viel Zeit z u m Nachdenken. Vielleicht vergeht die Zeit woanders schneller. E s ist die Abteilung für Petroleumlampen und O f e n . Die werden fürs Militär gemacht, hauptsächlich wohl für den Feldzug in Rußland. Ich soll DrahtgazePfropfen machen. Besser als Granatendrehen ist es bestimmt. D i e ersten acht Tage sind wieder fürchterlich. Aber jetzt weiß ich schon, erst müssen die herum sein, dann kann man erst über eine Arbeit urteilen. Kleine viereckige Stücke aus Drahtdig. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer wurde 1960 von israelischen Sicherheitskräften in Argentinien aufgespürt, nach Haifa entführt und dort vor Gericht gestellt. Er wurde zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet. Vgl. Arendt 1995 (l.Aufl. 1964). 59 Der „Hilfsverein der deutschen Juden" wurde 1901 als Wohlfahrtsorganisation für die Juden in Osteuropa und Palästina gegründet. Er fungierte seit 1933 als Hilfsorganisation für die Auswanderung deutscher Juden in alle Länder außer Palästina (Richarz 1989, S. 434, Anm. 3 und S. 595).
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Deutsche nicht-jüdische Arbeiterinnen bei der mechanischen Bearbeitung von Metallteilen. Das Foto wurde für die Festschrift zum 75jährigen Firmenjubiläum der Ehrich & Graetz A G 1941 arrangiert.
gaze werden ganz eng zusammengerollt, bis sie Stäbchen so dünn wie Bleistifte sind. Das sind die Filter für das Petroleum. Es ist Handarbeit, man muß die Drahtgaze mit den Fingern andrehen. Ich habe noch immer dünne Haut an den Fingern. In der Wäscherei hat man sich bei dem Hantieren mit der Wäsche die Haut „abgegriffen". Die Vorarbeiterin besieht sich mißbilligend meine Hände: „Na, Sie haben wohl auch noch nie in Ihrem Leben was Richtiges gearbeitet?" Dabei sehen meine Hände wahrhaftig schon lange nicht mehr „gepflegt" aus. Die vielen kleinen Drahtendchen bohren sich in die Fingerspitzen, bis die Finger nach ganz kurzer Zeit bluten. „Ich verstehe gar nicht, wieso sie bei Ihnen bluten, der Draht ist doch ganz weich!" Die Vorarbeiterin hat Finger wie mit Fußbaileder bezogen. „Gucken Sie mal, das ist doch ganz einfach!" Bei ihr geht es wirklich ganz einfach und schnell. Bei mir dauert es endlos lange, bis ich einen Pfropfen fertig habe. „Das lernt sich schon, Sie müssen auf eine Tagesleistung von 800 Stück mindestens (!) kommen."
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Und ich habe mit Müh' und N o t am ersten Tage 130 Stück fertig bekommen und gedacht, daß ich schon sehr viel geleistet hätte. Der neue Meister läßt sich dieses Ergebnis zeigen. „Da hätten Sie heute noch nicht einmal Ihr Mittagessen verdient. Wovon wollen Sie eigentlich leben, wenn Sie so langsam arbeiten!" E r scheint das für einen gelungenen Witz zu halten und geht lachend ab. Wenn der nur nicht erfährt, daß ich ein Sicherungskonto, also noch Geld habe. Das gibt sonst sicher einen Tanz mit ihm, denn dann wird er glauben, ich arbeite absichtlich langsam, weil mir's nicht auf den Verdienst ankommt. Es ist nur gut, daß ich zunächst noch in den Lohnbüchern der alten Abteilung geführt werde. In der ersten Woche sind die Finger so entzündet und tun so weh, daß ich in der Nacht aufwache, wenn ich nur eben mit den Fingerspitzen an das Bettlaken anstoße. Dann plötzlich sind die Finger hart und wie mit einer Kappe versdhen. N u n geht die Arbeit ganz gut voran, und ich komme jeden Tag zu besseren Ergebnissen. Allerdings kann ich mit diesen dicken, ganz gefühllosen Fingerspitzen zu Hause nicht mal mehr einen Knoten in einen Nähfaden machen, ich steche mich auch nicht mehr in die Finger, eine Nähnadel macht nur noch eine Grube in meine Lederhaut, sie kommt nicht mehr durch. Wozu brauch' ich auch feine Finger? Ich werde vielleicht nie mehr in meinem Leben etwas anderes machen als Fabrikarbeit. Seit ich in der Radiofabrik bin, habe ich noch kein einziges Mal wieder retuschiert. Ich komme nicht mehr dazu. Abends bin ich zu müde. Die paar freien Stunden am Abend - ich bin froh, wenn ich meine Hausarbeit schaffe, es gibt soviel zu nähen und zu waschen, meine Strümpfe sind in einem furchtbaren Zustand. Ich bin abends so erschöpft, daß ich so zeitig wie möglich schlafen gehe und auch immer sofort schlafe, wenn ich erst mal liege. Dabei sind in der letzten Zeit wieder sehr viele Luftangriffe gewesen. Es war eine ganze Woche lang jede Nacht Alarm. Keine Nacht richtig schlafen und keine genügende Ernährung und nur diesen dünnen Kornkaffee frühmorgens. Man merkt es in der Fabrik, wie das alle mitnimmt. Die arischen Arbeiter schimpfen was zusammen. Die eine Vorarbeiterin in der neuen Abteilung kommt einfach erst um elf Uhr, sie hätte verschlafen.
30 Diese verstörten Nächte gehen der ganzen Bevölkerung auf die Nerven. Wenn die Engländer das wochenlang durchführen würden, das wäre eine wirksame psychische Zermürbung, der die Berliner Bevölkerung vielleicht doch nicht gewachsen wäre. Die Londoner haben vielleicht bessere Nerven. Bis jetzt ist der Berliner Nazi der felsenfesten Ansicht gewesen, daß der Krieg gar nicht „so" schlimm sei und daß er sich doch immer woanders abspiele. In Berlin ist noch nicht viel Schaden angerichtet worden.
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„Die Engländer treffen ja doch immer nur daneben!" Und wirklich, der Schaden, der bisher durch Bombenabwürfe in dieser Riesenstadt angerichtet wurde, ist nicht mehr als ein paar Kratzerchen, die man im Straßenbild kaum sieht und die die Bevölkerung nicht sehr mitgenommen haben. In Westdeutschland soll das anders sein. Da sind große Zerstörungen. Aber der Berliner weiß nichts davon. Nie steht davon etwas in den Zeitungen. Von den furchtbaren Verwüstungen in Hamburg, Bremen und Kiel und im ganzen Ruhrgebiet hört man nur zufällig, wenn man mal einen Bekannten aus dieser Gegend spricht. Diesmal sehe ich zum ersten Mal von der Stadtbahn aus eine vollkommen ausgebrannte Fabrik rauchen. 60 In der neuen Abteilung ist ein arischer Transportarbeiter, der immer große Reden hält. Er erklärt genau, wie er in der Nacht die Engländer hat einfliegen sehen und wie die Bomben heruntergekommen sind. Es sei ein ganz großes Flugzeuggeschwader gewesen. „Ach, nicht doch", sage ich ganz harmlos, „das ist doch gar nicht möglich. In der Zeitung stand nur von ganz wenigen Flugzeugen, und von denen ist die größere Hälfte abgeschossen worden." „Na, hören Sie mal, Sie sind mir ja, Sie glauben vielleicht auch noch alles, was in der Zeitung steht. Na, da glauben Sie nur immer weiter. Glauben macht selig!" Ein anderer arischer Arbeiter ist ganz seiner Meinung, und beide versuchen, so einem leichtgläubigen Menschen wie mir mal die Lage richtig klar zu machen. „Was, und in Rußland, da is' auch nur ein einziger Sieg und ein einziges Vorwärtskommen, nich'! Mensch, die Weiber, die glauben nun doch auch wirklich alles! Es is' noch nie einer in Rußland gefallen, was?" Sie sind beide so begeistert bei diesem Thema, daß ich schleunigst abbreche und mir woanders zu schaffen mache. Die ganze Situation ist zu gefährlich. Aber was ist wirklich in Rußland los? Es scheint plötzlich nicht mehr so weiter zu gehen wie bisher. Man hört nichts vom Kriegsschauplatz. Mein Mann hat beim Fleischer eine Frau zur anderen sagen hören, die Heeresberichte seien deswegen jetzt so vollkommen nichtssagend, ohne Ortsangaben, „weil das taktisch richtig sei, man verrät ja dem Gegener zuviel, wenn Orte genannt werden". Das ist also die offizielle Auskunft, die die Partei gibt. 61 Aus den Zeitungen ist nicht viel zu
60 In den ersten achtzehn Monaten des britischen Luftkrieges gegen Berlin vom A u gust 1940 bis Ende 1941 wurden 448 Todesopfer und über 1.000 Verletzte gezählt. 2.500 Gebäude wurden beschädigt und 20.000 Einwohner obdachlos, jedoch konnten die Gebäudeschäden weitgehend durch Neubauten ausgeglichen werden (Groehler 1982, S. 6, S. 10 und S. 27). A m 7./8. September 1941 fand mit 134 britischen Maschinen, die eine Bombenlast von 143,1 Tonnen abwarfen, der bis dahin bei weitem größte Angriff statt (LAB, StA Rep. 01-02, Nr. 698: Berichte der Hauptluftschutzstelle über den 84. Luftangriff auf die Reichshauptstadt Berlin). 61 Im Sommer 1941 war laufend mit großem propagandistischem Aufwand über die für die deutsche Wehrmacht erfolgreichen Kesselschlachten beim Vordringen auf Moskau
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entnehmen. Sie werden immer dünner, denn das Zeitungspapier wird immer knapper. Die Todesanzeigen dürfen nur noch ein ganz kleines Einheitsformat haben. Und außerdem wird eigentlich überhaupt nicht gewünscht, daß solche Anzeigen veröffentlicht werden. Aber sie sind da und mehren sich in erschreckendem Maße. Die Anzeigen in der DAZ sprechen eine grausige Sprache. 62 Der deutsche Adel und das gute deutsche Bürgertum verlieren ihre Söhne. Anzeigen, daß „der letzte des Geschlechtes" oder „der dritte, der vierte unserer Söhne" gefallen ist, sieht man jetzt sehr oft. „Sie starben für ihren geliebten Führer und Groß-Deutschlands Zukunft", steht durchaus nicht in allen Anzeigen, und wenn es steht, dann wissen wir von Freunden, die leider ihren Sohn verloren haben, daß selbst die Formulierung von Traueranzeigen einem Druck unterliegt. Mit der Todesnachricht wird auch von der Behörde der Wunsch ausgesprochen, daß die Familie keine Trauerkleidung tragen möchte. Als ich neulich nach Hause kam, saß ein Offizier bei uns, ein früherer Angestellter meines Mannes. Es war unvorsichtig von ihm, in Uniform zu uns zu kommen. Er erklärte uns aber, er würde uns wohl noch besuchen dürfen, er ließe sich seinen Verkehr nicht vorschreiben. Wie ist es in Rußland? Nach seinen sehr zurückhaltenden Schilderungen muß es schauerlich sein. Wie hatten doch damals diese Bierbürger in Potsdam bei Anfang des Rußland-Feldzuges gesagt, „die Russen wären keine Gegner". Und ob sie das sind! Sie wehren sich mit einer solchen Heftigkeit, wie die Deutschen noch keinen Gegner erlebt haben. Sie fallen, aber für jeden Gefallenen sind andere da. Die deutschen Verluste an Menschenleben sind furchtbar, und zwar fallen gerade die kühnsten und draufgängerischsten Leute, die glauben, diesen zähen und verschlagenen Gegner mit „Schneid" bezwingen zu können. Es ist das erste Mal seit Kriegsbeginn, daß es solche Schwierigkeiten gibt. Bisher ist das deutsche Heer in den Blitzkriegen von Erfolg zu Erfolg geeilt. Dieser Nimbus der Unbesiegbarkeit hat nicht nur den Gegner entwaffnet, er hat dem deutschen Soldaten ein unbeschreibliches Gefühl der Sicherheit gegeben. Das Gefühl der Unbezwingbarkeit geht jetzt in Stücke, nicht nur an der Front, auch in der Heimat bei den Frauen, die verängstigt auf Nachrichten warten. Das ist überall zu spüren. Ich bin mit einer Frau gut bekannt, die begeistertes Parteimitglied ist. Ich habe früher mit ihr zusammengearbeitet und treffe sie jetzt noch manchmal auf der Straße. Wir wissen beide genau, daß wir politisch nicht miteinander reden können. Dennoch schätzen wir uns gegenseitig menschlich, solche merkwürdigen
berichtet worden. Im September gab es keine spektakulären Siege mehr; die deutschen Verbände kamen nur noch langsam voran, bis der Vormarsch im Oktober/November 1941 aufgrund des massiven und wirksamen Widerstandes der Roten Armee sowie des Wintereinbruchs zum Erliegen kam. 62 Deutsche Allgemeine Zeitung, erschienen bis 22. 4. 1945.
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Einschränkungen gibt es ja. E s überrascht mich, wie unsicher sie plötzlich geworden ist. Ihr Sohn ist an die O s t f r o n t gekommen. Alles was bisher nur Parteitheorie war, soll nun auf die Probe gestellt werden. Sie versucht, sich selbst etwas vorzumachen, und ich merke, sie glaubt nicht mehr fest an das, was sie sagt.
31 In der neuen Abteilung ist es besser als in der anderen. Hier ist wieder ein netter Ton unter den jüdischen Kameraden. E s ist wieder eine G r u p p e junger Mädel dabei, die doch mal lachen und singen. Ich sehe von meinem Arbeitsplatz ein Stück Himmel, manchmal k o m m t sogar ein bißchen Sonne in den Raum. In den früheren Abteilungen wußte man nie, was für Wetter eigentlich war. Ein Tag ohne Sonne und Wind, Wolken und Regen ist doch wie nicht gelebt. D i e Arbeit ist nicht langweilig, es sind mindestens zwanzig Handgriffe an jedem Draht-Pfropfen, erst müssen sie gedreht werden, und dann werden sie noch gebohrt und genietet. Ich kann es mir einrichten, wie ich will, mal drehe ich alle Pfropfen hintereinander, mal niete ich dazwischen eine Partie. D a s ist eine A b wechslung. Eigentlich gehöre ich gar nicht in diesen Arbeitsraum, in dem nur L a m p e n gemacht werden, sondern nebenan zu den Petroleumöfen. Ich scheine die einzige zu sein, die solche Pfropfen macht. Die Vorarbeiterinnen hier in diesem R a u m gehen mich nichts an. D a s ist auch ganz gut, denn die eine erinnert mich unangenehm an Frau Schulz aus der Wäscherei. A u c h so eine Frau, deren Geltungsbedürfnis ganz übersteigert ist, seitdem sie über soviel Judensklaven unbeschränkt herrschen kann. Vielleicht ist das eine ganz natürliche Reaktion. D i e Frau soll dabei im G r u n d e gutartig sein, wird mir gesagt. E s macht ihr nur eben zuviel Freude, ihren Untergebenen befehlen zu können: „Frau Lewy, machen Sie mal hier die Schrauben rein. Frau Lewy, helfen Sie mir hier! Frau Lewy, helfen Sie mir d a ! " D a s geht in einem fort. Ich bewundere die Frau Lewy, mit welcher Ruhe und immer freundlichem Gesicht sie sich alles gefallen läßt. A c h Gott, die Arme, sie erzählt mir, daß sie in anderen U m s t ä n d e n ist, schon im fünften Monat, und der A r z t hat ihr noch dazu gesagt, daß es wohl Zwillinge sein werden. U n d sie hat doch schon zwei Kinder von neun und zehn Jahren. Sie sagt mir, die Vorarbeiterin stecke ihr immerfort mal Lebensmittel zu, und sie hätte sogar schon gesagt, die Abteilung würde den Kinderwagen stiften. D a s ist eine seltsame Abteilung hier: noch zwei jüdische Frauen erwarten Kinder. In diesen schrecklichen Zeiten! E s ist merkwürdig, besonders wenn ich mich an die Sache mit der jungen Frau in der Wäscherei erinnere. U n d doch ist es wiederum kein Wunder. Erstensmal gibt es Verhütungsmittel kaum mehr zu kaufen, und sie sind sehr teuer. D a n n aber steckt das Kinderkriegen wohl an, bei dieser endlosen Propaganda für kinderreiche Familien. E s gibt doch nichts Schöneres als ein
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gesundes lachendes Baby. Alle die arischen Frauen haben welche und bekommen immer wieder welche und reden dauernd von ihren Kindern. Die jüdischen Frauen, die doch sonst nichts mehr haben, wollen in dieser Trostlosigkeit doch wenigstens auch ein Kind haben, für das sie sorgen und arbeiten müssen, damit ihr Leben einen Sinn hat. Selbst wenn sie das Kind die Woche über in einem Heim aufziehen lassen müssen, es ist doch wenigstens eine Freude in ihrem öden Dasein. Das sind eben Juden, die sich in ihr Schicksal ergeben haben, die jetzt ungelernte Arbeiter sind und die sich damit abgefunden haben, daß sie es bleiben sollen. Das ist wohl der Hauptpunkt: daß sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben. Deswegen fällt ihnen das Unabänderliche leichter. Wenn ich selbst bloß schon endlich diese Ergebung in mein Schicksal finden würde. Bis jetzt habe ich die Fabrikarbeit immer noch als etwas Provisorisches angesehen. Ich dachte doch, wir würden auswandern können. Und jetzt soll das unabänderlich sein, jetzt soll ich das vielleicht Jahre hindurch machen. Wird es mir überhaupt je gelingen, mich darein zu finden? Ich weiß es nicht. Es ist so schwer. Ich grüble und grüble und bin so verzweifelt, manchmal weiß ich überhaupt nicht mehr, wie ich mit diesen Fragen fertig werden soll. Was will man denn hier aus uns machen! Im alten Indien gab es die Kaste der Sweeper, das sind die Geringsten der Geringen, für die nur die allerschlechteste, schmutzigste Arbeit gut genug ist. Zu so etwas wollen sie uns doch herunter bringen. Von allem, was mit Kultur oder Bildung zu tun hat, sollen die Juden ausgeschlossen sein. Ist es überhaupt möglich, daß man die Ergebung in ein solches Schicksal je bekommt, für ein Dasein in vollkommener Hoffnungslosigkeit? Oder denke ich selbst nur falsch, und müßte gerade alles, was ich lernen durfte, jetzt seinen Wert dadurch erweisen, daß ich es fertig bekäme, mit Ruhe und Gelassenheit dieses Schicksal zu ertragen? Ich weiß nicht mehr aus noch ein. Neun Stunden habe ich Zeit, meine Pfropfen zu drehen und zu denken und zu grübeln. Ja, in Indien, wenn da wilde Elefanten eingefangen werden, dann sperrt man sie mit gezähmten zusammen in einen Kral. Die zahmen Tiere bringen es ganz allein fertig, die ungebärdigen Kameraden gefügig zu machen. Ich komm' mir manchmal auch schon wie so ein wildes Tier im Kral vor. Wenn ich sehe und höre, wie die anderen Frauen ihre Arbeit machen und wie sie doch nur den halben Lohn dafür bekommen und oft noch durch Schwarzarbeit ein paar Mark dazu verdienen müssen, wie sie frühmorgens schon vor fünf die Kinder aufwecken und in den Kinderhort bringen müssen, wie sie abends und sonntags waschen und nähen und alles in Ordnung halten in dem einzigen Zimmer, das sie meistens nur für die ganze Familie haben, wie sie die paar Lebensmittel nur nach endlosem Warten in den Läden zusammenbekommen, wie sie immer noch aus irgendeiner alten Gardine ein Kinderkleid herauszaubern, wie sie sich abschinden und wie dabei jede einzelne ihr eigenes schweres Schicksal trägt, es ist zu bewundern! Was für ein Recht hat man, sein eigenes Schicksal für so besonders unerträglich zu halten? Es ist schon so, es gibt doch ein bißchen mehr Ruhe, wenn man sieht, wie schwer es
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auch die anderen haben. Schwer hat es jeder, jeder auf andere Art, und jeder muß allein damit fertig werden. Zufällig setzt sich in der Frühstückspause ein jüdischer Mann neben mich. Er stellt sich auch vor. Den Namen kenn' ich doch. Das ist der Mann, von dem mir unser Untermieter erzählt hat, daß er hier bei der Firma im Büro arbeite. Stimmt das? „Ach wo, ich habe hier noch nicht einmal einen Bleistift in der Hand gehabt. Das hat sicher jemand erzählt, der gern ein bißchen rosa sehen wollte und weil ich nie klage. Ich habe hier wenigstens was gelernt. Wenn ich wirklich noch mal herauskomme, und ewig kann es doch auch nicht gehen, dann mach' ich eine Reparaturwerkstatt auf. Ich hab' einen netten Meister, der läßt mich mal da, mal dort arbeiten. Das war Glück, denn alle Meister sind sicher nicht so." 63 Es sind aber auch nicht alle Arbeiter so wie dieser von unverwüstlichem Humor, der sich nicht unterkriegen läßt. Mit einem so glücklichen Temperament ist vieles leichter. Er erzählt mir übrigens, daß sein Bruder in Hannover aus seiner Wohnung vertrieben worden ist. Er und eine ganze Anzahl anderer Familien sind in der jüdischen Leichenhalle untergebracht worden. Der Bruder hat seine Sachen verkaufen müssen. Auch eine große Couch war dabei. Nach ein paar Tagen ist die Polizei gekommen, wo diese Couch sei, der Gauleiter der NS-Volkswohlfahrt wolle sie für sich haben. 64 Und da hat er den Verkauf rückgängig machen und die Couch ohne Bezahlung an diesen Gauführer geben müssen. Man wundert sich schon gar nicht mehr über solche Nachrichten. Eine Kusine von uns in München, die Witwe eines arischen Universitätsprofessors, wohnt in einer Pension. Sie hat plötzlich die Mitteilung bekommen, daß die Sachen, die sie beim Spediteur eingelagert hatte, beschlagnahmt seien. Sie dürfe sich noch eine bestimmte Stückzahl Wäsche heraussuchen. Alles andere bekäme die Volkswohlfahrt. Zu ihrem Schrecken mußte sie feststellen, daß bereits vor ihr die Volkswohlfahrt die besten Stücke ausgesucht und mitgenommen hatte. Göring hat mal in einer seiner ersten Reden zu Kriegsbeginn gesagt, die Vorräte würden schon reichen, denn sobald irgendwo eine Knappheit eintreten sollte, würde er sich an andere Vorräte halten, die es noch genug in Deutschland gäbe. Jetzt wird eben überall das jüdische Besitztum beschlagnahmt. Die Knappheit der arischen Bevölkerung an allen Sachen und besonders an Kleidungs- und Wäschestücken wächst von Tag zu Tag. Auch Rohmaterialien sind knapp. In der Fabrik haben jetzt schon ein paarmal Abteilungen nicht arbeiten können, weil kein Material da war! Und das ist nicht nur in unserer Fabrik so! 63 Allem Anschein nach handelt es sich hier um Manfred Oppenheim, der später in München eine Elektrofirma hatte (LAB: StA Rep. 250-01-05, Nr. 1-1/12). 64 Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) war ursprünglich eine soziale Hilfsorganisation für arbeitslose SA-Männer. Sie wurde 1933 zur nationalsozialistischen Wohlfahrtsorganisation für die deutsche nicht-jüdische und „erbgesunde" Bevölkerung und seit 1935 zur zweiten Massenorganisation neben der D A F ausgebaut. Sie übernahm den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und kassierte das Vermögen der aufgelösten Arbeiterwohlfahrt. Vgl. Kramer 1983.
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Im Jahr 1950 bat Manfred Oppenheim, der die Verfolgung überlebt und nach Kriegsende in München eine Elektrowerkstatt gegründet hatte, um eine Bestätigung seiner mehr als zweijährigen und bis zur „Fabrikaktion" am 27. Februar 1943 andauernden Zwangsverpflichtung bei der Firma Ehrich & Graetz; diese war inzwischen enteignet und in den „VEB Graetz Berlin" umgewandelt worden.
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32 Die Unruhe wächst. Seit dem Beginn des Krieges mit Rußland haben sich in Deutschland die ganze Lage und die Stimmung grundlegend geändert. Und zwar nach beiden Richtungen. Auf der einen Seite gehen die Nazis immer radikaler vor und überspitzen alle ihre Forderungen. Wie sehr sich das in der jüdischen Frage auswirkt, wissen wir ja nur zu genau. Auf der anderen Seite wächst die Unzufriedenheit mit dem Nazi-Regiment und die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung. Manchmal glaubt man, wenn ein Teil der Bevölkerung nur könnte, dann würde er schon etwas unternehmen. Aber es kann kein Umsturz irgendwelcher Art aus dem Volk heraus kommen. Es ist nur aus der Oberleitung heraus möglich. Mit ein paar Maschinengewehren kann man Tausende von waffenlosen Arbeitern in Schach halten. Niemand hat in Deutschland eine Waffe, keine Schußwaffe und keine geistige Waffe, bei dieser Knebelung der Presse. Die Engländer irren sich, wenn sie glauben, sie können durch Flugblätter einen Umsturz herbeiführen. Gewiß, die Flugblätter werden gelesen und erzeugen eine gewisse Unruhe, aber woher soll ein Umsturz kommen, wenn keine Organisation des Widerstandes möglich ist. Etwas Neues gibt es allerdings. Die Geisterstimme im Rundfunk. Wenn der Heeresbericht verlesen wird, und überhaupt in jedem freien Augenblick, spricht jemand im Radio dazwischen, kritisiert die Verlogenheit der Radioberichte und fordert den deutschen Arbeiter auf, sich nicht alles gefallen zu lassen. Man scheint nicht herauszubekommen, wer dazwischenruft und woher es gesendet wird. Der Ansager am Radio spricht jetzt so schnell, daß man kaum folgen kann, er schöpft kaum Atem, damit er nicht unterbrochen werden kann, und gleich nach dem Ende des Berichtes setzt Musik ein. Es wird viel darüber geredet. Aber manchmal weiß man nicht recht, ob es sehr ernst genommen wird. Es ist mehr eine Sensation. Die Menschen in Deutschland sind alle müde und gleichgültig, wenn sie nicht überzeugte Parteimitglieder sind. Selbst bei den großen Siegesmeldungen hat man nirgends eine große Begeisterung gespürt. Die Leute standen um die Lautsprecher auf den Straßen herum, hörten die Berichte an, drehten sich um und gingen weiter. Auch in den Kinos soll beim Vorführen der Deutschen Wochenschau selten Beifall zu hören sein. Im Ersten Weltkrieg ist das ganz anders gewesen. Die SS ergreift für jeden Fall ihre Maßnahmen. Wo es nicht schon geschehen ist, werden jetzt Eckhäuser von der SS beschlagnahmt und mit zuverlässigen Parteimitgliedern und Maschinengewehren belegt. Bei uns an der Ecke ist das eben auch so gemacht worden. Sechs Straßen werden von dem Haus aus vollkommen beherrscht. Ich werde jetzt so oft gefragt: „Wie ist denn die Stimmung in der Arbeiterschaft. Sie müssen es doch wissen, wenn Sie täglich mit arischen Arbeitern zusammen arbeiten?" Ich kann die Frage nicht beantworten. Die Hauptsache ist eben doch, daß man nur selten eine wirkliche Meinung zu hören bekommt. Die Angst vor der Gesta-
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po ist so groß, daß trotz allen Schimpfens sich jeder hüten wird, zuviel von seiner Meinung laut werden zu lassen. Man kann sich nur aus lauter kleinen Einzelheiten ein ungefähres Bild zusammensetzen. Und auch da muß man sich klar sein, daß unsereiner ja mit den wirklichen Nazis Gespräche möglichst vermeidet. Eher kann ich mir ein Bild über die Einstellung des geistig interessierten Mittelstandes machen, denn da haben wir noch Freunde, mit denen wir offen sprechen können. Und hier ist eine merkwürdige Wendung eingetreten. Diese Menschen stehen vor einem Abgrund. Auf der einen Seite mißbilligen sie das Nazisystem, sie sehen wie alles, was sie schätzen, zugrunde gerichtet wird. Sie glauben schon jetzt nicht mehr an einen deutschen Sieg. Das kann nur mit einer furchtbaren Niederlage enden! In ihren Augen hat Hitler Deutschland in den Untergang getrieben. Aber gerade weil sie Deutsche sind und weil sie wissen, daß mit Deutschlands Untergang alles verloren ist, daß sie und ihre Kinder dann zugrunde gehen, sind sie jetzt in eine furchtbare Stellung hineingezwungen. Sie müssen gegen ihre Überzeugung mit Hitler zusammen für Deutschland gehen. Es ist ein Kampf nicht für den Sieg, sondern gegen den Untergang! Ein Verzweiflungskampf!
33 Wir wollen doch nicht die Flinte ganz ins Korn werfen. Mein Mann hat sich noch einmal die Pässe zurückgeben lassen, damit die Kubavisa eingestempelt werden können. Und wenn es zu weiter nichts gut ist, als um nötigenfalls einen Schutz gegen einen Abtransport zu haben, von dem jetzt soviel geredet wird. Wenn man nur wüßte, wie man an diese Gestapo-Stelle herankommen kann. Vielleicht hat die Gestapo nur deshalb so gedroht, daß keinesfalls Ausnahmen vom Ausreiseverbot gemacht werden, um dann umso höhere Lösegelder zu nehmen. Das kann möglich sein. Es ist doch alles möglich in Deutschland. Wir wollen jedenfalls alles in Ordnung haben. Mein Mann stellt auch alles zusammen, was wir etwa an Zeugnissen und Anerkennungen aus früheren Zeiten haben, die uns irgendwie bei der Gestapo von Nutzen sein könnten. Vielleicht kann man auch etwas mit meinem ärztlichen Attest machen, wir können sagen, daß ich keine vollwertige Arbeitskraft bin. Und so lächerlich es klingt, ich kann sogar eine Unterleibsoperation nachweisen. Glücklicherweise keine schwere, aber das werde ich den Leuten nicht mitteilen. Es soll nämlich gesagt worden sein, die jüdischen Frauen zwischen 18 und 45 dürften deshalb nicht auswandern, damit sie nicht im Ausland jüdische Kinder auf die Welt bringen. Unser Auswanderungsberater hat mir erzählt, daß in der Gestapo jungen Mädchen erklärt worden ist, wenn sie den Nachweis erbrächten, daß sie sterilisiert oder irgendwie unfruchtbar seien, dann könnten sie noch einmal bei der Gestapo nachfragen. Es kommt einem verrückt vor, und doch wird diese Sache mit solcher Bestimmtheit berich-
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tet, daß man auch damit rechnen muß. Es gibt doch wirklich nichts, was für diesen Wahnsinn unmöglich wäre. 65 Wenn man nur einen kleinen Hoffnungsstrahl hat, wieviel leichter sieht sich gleich alles an. Der Mensch ist schon ein seltsames Stehaufmännchen. Ich drehe meine Pfropfen in der Fabrik und bin selbst froh, daß ich nicht mehr ganz so verzweifelt bin wie in den letzten Wochen. Ich pflege dieses bißchen Hoffnungsfreudigkeit. Nur behutsam damit umgehen. Wer weiß, wie niedergeschlagen ich nächste Woche wieder sein werde. Ich habe zufällig ein englisches Soldatenlied zu hören bekommen: „Pack up your troubles in your old kitbag and smile, smile, smile What's the use of worrying It never was worth while, so, pack up your troubles in your old kitbag and smile, smile, smile!" Die Melodie ist frisch und hübsch. Ich summe sie bei meiner Arbeit vor mich hin und bin glücklich, daß ich das habe. Nur nichts an sich herankommen lassen, nur nicht auf alle Gerüchte hören. Es wird schon wieder gesagt, jetzt würde Amerika in den Krieg eintreten. Gar nicht daran denken, man verliert sonst den Verstand. Aber es kommt schon wieder eine neue Verordnung. Vom 19. September an wird jeder Jude in Deutschland, wo er sich in der Öffentlichkeit zeigt, einen großen gelben Stern deutlich sichtbar auf seiner Kleidung aufgenäht tragen müssen. Auf dem Stern steht „Jude" mit Buchstaben, die hebräisch aussehen sollen. Selbst Kinder von sechs Jahren an werden ohne diesen Stern nicht auf der Straße spielen dürfen! Die Aufregung über diese Maßnahme ist ungeheuer. Bei uns in der Fabrik wird über nicht anderes gesprochen. „Das machen sie überhaupt bloß, damit nicht mal wirklich ein Jude eine Zigarette zu kaufen bekommt. Das ist doch bloß der Neid, daß wir etwas kaufen könnten, was die selbst haben wollen!", heißt es. Natürlich hängt es damit zusammen. Erst durch eine solche Kennzeichnung ist eigentlich die Durchführung der Judenverbote richtig möglich. Bei der bekannten Gründlichkeit, mit der deutsche Behörden arbeiten, geht es vielleicht nicht anders, als daß man die schwarzen Schafe deutlich erkennbar nach außen brand-
65 Juden unterlagen dem „Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses" vom 1 . 1 . 1934 ebenso wie die nicht-jüdische „arische" Bevölkerung, auf deren erbbiologische „Ausmerze" es in erster Linie abzielte. Danach war die Zwangssterilisation von Menschen legitimiert, die als „erbkrank" definiert wurden. Der Anteil jüdischer Sterilisationsopfer war gemessen am Anteil der Juden an der Bevölkerung höher als bei Nicht-Juden. 1941/42 wurden, unter anderem während der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, Pläne diskutiert, „Mischlinge", Juden und Slawen nach dem „Endsieg" massenweise zu sterilisieren. Zur gleichen Zeit wurden Juden in den besetzten Niederlanden vor die Wahl zwischen Sterilisation und Deportation gestellt. Vgl. Bock 1986, S. 354-360.
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markt. Aber in Wirklichkeit ist es ein Ablenkungsmanöver. Es steht schlecht in Rußland, und da sollen die Leute ein anderes Gesprächsthema haben. Es steht schlecht, und die Wut darüber wird dort ausgelassen, wo der geringste Widerstand zu finden ist. Und so etwas wird durchgeführt, während Deutschlands Existenz auf dem Spiele steht. „Italiens und Deutschlands Ende!", so deutet in ganz Berlin der Volkswitz die Buchstaben „Jude". Eine sehr jüdisch aussehende Frau, die mir gegenüber arbeitet, sagt: „Für mich ist das eigentlich gleich, bei mir weiß sowieso jeder, daß ich jüdisch bin. Für andere muß das viel schlimmer sein, die überall hingehen konnten, wohin sie Lust hatten." Sie hat ganz recht damit. Mit so einem Stern ist man vollkommen isoliert. Und nicht nur das, man ist auch überall der freien Willkür von jedem ausgesetzt, der über einen herfallen will. Mit diesem Zeichen wird man sich nirgends mehr sicher bewegen können, weder in der elektrischen Bahn noch auf der Straße. 1938 hat erst im Oktober jedes jüdische Geschäft in großen, weißen Buchstaben den Namen des Eigentümers auf die Schaufenster malen müssen, und dann sind im November in der „Kristallnacht" diese Scheiben zerschlagen und die Läden zerstört worden. Wenn jeder Jude einen gelben Stern trägt, dann weiß man, wer bei einem Pogrom dran kommt. Schon seit zwei Jahren sollen die mit diesen gelben Sternen bedruckten Stoffballen bereit liegen. Und das deutsche Volk hat kein Hemdentuch mehr! Bisher soll die Göringpartei die Sache immer noch verhindert haben. Man sagt aber, daß Göring seinen Einfluß verloren hat und daß Himmler und Heydrich, die „Bluthunde der Partei", jetzt alles zu sagen haben. 66 Dann kann uns Gott gnädig sein! Dann ist das noch nicht das Letzte, was mit den Juden geschieht! 66 Heydrich hatte bereits nach der Niederlage Polens vorgeschlagen, die deutschen Juden nach Polen zu deportieren. A m 12./13. Februar 1940 fand die erste Deportation von 1.200 Juden aus Stettin und Pommern in die Region von Lublin statt. A u s außenpolitischen Gründen befahl Göring jedoch im März 1940, die Deportationen einzustellen. Daraufhin wurde wieder die Auswanderungspolitik forciert. A m 22./23. Oktober 1940 wurden 7.000 Juden aus Südwestdeutschland ins unbesetzte Frankreich ausgewiesen, w o sie im Lager Gurs am Rande der Pyrenäen inhaftiert wurden. Im Hinblick auf die bevorstehende Vernichtung auch der deutschen Juden in den Lagern in den besetzten Ostgebieten ordnete das R S H A , also Himmler, im Mai 1941 an, Auswanderungen zu unterbinden. A m 31. 7 . 1 9 4 1 schließlich beauftragte Göring Heydrich mit den Vorbereitungen f ü r eine „Gesamtlösung der Judenfrage". Vgl. zu den Entscheidungsprozessen, die in die physische Vernichtung der europäischen Juden einmündeten: Hilberg 1982, Arndt/ Boberach 1991 und jetzt A l y 1995. Zur gleichen Zeit schwand im Zuge der Mißerfolge der Luftwaffe der politische Einfluß Görings, der sich zwar anfangs um den Jüdischen Kulturbund, aber nie um das Schicksal der jüdischen Menschen gesorgt hatte und der dem antijüdischen Rassismus der übrigen NS-Führungsclique in nichts nachstand (vgl. Bericht Kurt Baumann, in: Richarz 1989, S. 473).
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34 Die Gestapo hat mir die Erlaubnis gegeben, trotz des Verbotes aus Deutschland auszureisen! Wir wagen noch gar nicht, daran zu glauben. Es kam so: Mein Mann traf ganz zufällig auf der Straße einen alten Bekannten, einen leitenden Mann von einer der Berliner Großbanken, mit dem er viel zusammengearbeitet hat, besonders in der Zeit der Aufstände in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkriege.67 Mein Mann war damals leitendes Vorstandsmitglied der Oberschlesischen Eisenindustrie A G und hat unter ständiger Lebensgefahr mit Erfolg die Versorgung Oberschlesiens mit Geldmitteln zum Bezahlen der Löhne durchgeführt. Ohne dies wären zu den blutigen Polen-Aufständen auch noch Unruhen in der Arbeiterschaft hinzugekommen. 68 Seine kluge Vermittlung mit den englischen und französischen Besatzungsbehörden hat damals viel Unglück verhütet und ist immer sehr anerkannt worden. Dieser Herr hat also ganz harmlos freundlich gefragt, wie es uns ginge, und ist aus allen Wolken gefallen, als er hörte, was für Schwierigkeiten wir haben. „Aber ich bitte Sie. Das ist doch gar nicht möglich! Diese Maßnahmen richten sich doch nicht gegen Leute wie Sie!" Wie oft bloß haben wir und tausend andere Juden schon diesen Satz gehört: „Diese Maßnahmen richten sich doch nicht gegen Sie!" Gegen wen denn sonst? Und wenn sie sich wirklich nicht gegen „besonders verdiente" Leute richten würden, wer hat das Recht zu unterscheiden, ob ein Mann in „hoher Stellung" mehr Verdienste hat als ein einfacher Arbeiter oder ein fleißiger Kaufmann oder ein Akademiker, die alle nach bestem Wissen und gemäß ihrem Können hier in diesem Land ihre Pflicht getan haben und tun durften, bis Hitler alle Schleusen für den Antisemitismus öffnete. Aber auch damals war es üblich, daß jeder, aber auch jeder Arier seine „Protzjuden" hatte, das heißt Juden, für die er gegen das allgemeine Vorurteil eine Ausnahme machte, weil er sie aus irgendeinem Grunde gut kannte. Der joviale Göring hatte einen großen Kreis von jüdischen Freunden und soll in der für ihn charakteristischen Weise erklärt haben, ob einer Jude sei oder nicht, das bestimme er. Es gibt genug Arier, mit denen sich 67 Es handelt sich um die B H G , für die Rudolf Freund seit seiner Zulassung als Wirtschaftsprüfer arbeitete (Briefwechsel Freund/Richarz, Schreiben E. Freund vom 5. 10. 1980). 68 Im Zuge der territorialen Wiederherstellung des polnischen Staates nach dem Ersten Weltkriegs kam es in Oberschlesien zu drei bewaffneten Aufständen von polnischer Seite in der Absicht, die politischen Verhandlungen über Oberschlesien zu beeinflussen. Die Auseinandersetzungen im August 1919, August 1920 und Mai 1921 wurden von beiden Seiten mit zunehmender Erbitterung ausgetragen, vor allem nachdem die Abstimmung vom 20. 3. 1921 über die nationalstaatliche Zuordnung Oberschlesiens für die polnische Seite negativ ausgegangen war. Die von den Siegermächten durchgesetzte Teilung Oberschlesiens 1922 war unter den gegebenen Umständen ein fairer Kompromiß. Für diese komprimierten Informationen danke ich Thomas Jersch, Berlin.
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ein anständiger Mensch nicht zusammen an einen Tisch setzen würde. Es gibt auch Juden genug, die keine Ehrenmänner sind. Wenn dem nicht so wäre, dann wären sie ja wirklich ein „auserwähltes Volk". Sie sind auch nicht immer besonders intelligent oder erfolgreich im Leben. Ich würde glauben, in jeder Hinsicht ist bei den Juden die Verteilung von gut und böse und von begabt und unbegabt genau dieselbe wie bei den Deutschen. Also jedenfalls dieser Mann war sehr teilnehmend. Er hat sich genaue Einzelheiten sagen lassen und wollte die Sache in dem Vorstand seiner Gesellschaft besprechen. Dort hätte man die nötigen Verbindungen zur Gestapo und würde das schon irgendwie für uns regeln. Als mein Mann mir von diesem Zusammentreffen vor zwei Wochen erzählte, war ich so pessimistisch und so müde von der Arbeit, daß ich kaum hingehört hatte. Wir hatten doch schon soviel Enttäuschungen gehabt, warum sollte es diesmal anders ausgehen. Wir waren auch sehr ängstlich und gar nicht so entzückt von dem gut gemeinten Angebot, denn man weiß doch nicht, was passieren kann, wenn so etwas an die falsche Stelle weitergegeben wird. Aber das Wunder ist geschehen! Es ist gut ausgegangen. Der Obergruppenführer in der Kurfürstenstraße hat der Bank erklärt, daß für mich eine Ausnahme gemacht wird. Wir haben auch nichts zu zahlen. Der Gestapo-Mann, der die Sache vermittelt hat, würde allerdings gern ein Bett von uns haben, wenn wir reisen, das ist alles. Und dieses Bett werden wir ihm mit dem größten Vergnügen überlassen. Alle diese Sachen sind ja so knapp und nicht auf regulärem Wege zu kaufen. Wir haben aber nichts über diese Entscheidung in den Händen. Die Gestapo gibt aus Prinzip nichts Schriftliches in solchen Fällen. Mein Mann war sofort bei der Auswanderungsstelle des Jüdischen Hilfsvereins. Man hat ihn dort beglückwünscht, aber niemand will die Verantwortung übernehmen, unseren Namen auf eine Transportliste zu setzen. Man kann es ihnen nicht verdenken, es steht doch auf allem sofortiger Abtransport in ein KZ. Es sind noch so viele Schwierigkeiten. Nein, ich glaub' noch nicht daran, es gibt dann nur wieder eine größere Enttäuschung. Wir dürfen auch mit niemandem darüber sprechen. Die eine Stelle der Gestapo kann es erlaubt haben, vielleicht steckt uns eine andere dafür ins Lager. Ich muß auch weiter meine Arbeit in der Fabrik machen, denn wie soll ich dem Arbeitsamt für Juden klar machen, daß mein Arbeitsbuch geschlossen werden darf. Ohne Unterlagen glaubt mir das niemand. Aber ohne Schließung des Arbeitsbuches können wir keinem Transport zugeteilt werden. Wir sind noch lange nicht so weit. Ich muß meine Arbeit in der Fabrik weiter machen. Die Arbeit fliegt mir nur so von der Hand. Meine Gedanken fliegen noch viel schneller. Selbst wenn ich noch nicht recht daran glaube, so muß ich mir doch für alle Fälle überlegen, wie man am besten alles einrichtet. Vor anderthalb Jahren sind uns eine ganze Menge Sachen als Umzugsgut nach Portugal genehmigt worden. Die Genehmigung gilt noch. Aber damals hat man noch die Transportkosten in Papiermark bezahlen dürfen. Jetzt darf jeder Auswanderer nur noch zwei Handkoffer mitnehmen. Und ab deutscher Grenze muß in Goldmark bzw. Dollar bezahlt werden. Damit ist uns der Umfang unseres
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Gepäcks gegeben. Es darf nur das Allernotwendigste mitgenommen werden. Wir werden uns von unserem ganzen Haushalt trennen müssen. Das ist bitter, besonders für eine Frau. Aber ich werde mir das nicht schwer machen. Ich habe mich von meinen Kindern trennen müssen, das war schwer. Von Möbelstücken, das ist nichts, worüber man sich aufzuregen braucht. Die Hauptsache ist, daß wir lebend hier aus Deutschland herauskommen. Ich werde eben die Sachen an gute Freunde verschenken, da hab' ich wenigstens eine Freude dabei. Wenn wir nur erst so weit wären. Nach allen unseren Erfahrungen dürfen wir Wohnung und Möbel erst im allerletzen Moment aufgeben. Es kann uns doch wieder so gehen wie die anderen Male, daß wir wieder im letzten Augenblick nicht fort können. Am besten ist, wir lassen diese Auswanderung jetzt so an uns vorüberlaufen, als ob sie uns gar nichts anginge, als ob wir in einem Film mitspielten. Die Spannung ist sonst zu schwer zu ertragen. Es steht noch viel vor uns, der Abschied von unseren Freunden, das Fortgehen aus der alten Heimat. Hitler hat von den deutschen Juden gesagt: „Das sind alles Zigeuner, die sich in Paris genauso wohl fühlen wie in Budapest oder in London oder New York." Wir lieben Deutschland, wie man nur seine Heimat lieben kann. Hitlerdeutschland und alles, was damit zusammenhängt, verabscheuen wir. Aber wir müssen aus dem Lande fort, dessen Sprache wir sprechen, mit dessen Liedern und Gedichten wir aufgewachsen sind und dessen Wälder und Gebirge wir durchwandert haben. Unsere Familien haben seit vielen Generationen für dieses Land ihre ganze Kraft eingesetzt, wir werden in dieser Erde ihre Gräber zurücklassen. Unsere Kinder können in eine andere Zukunft hineinwachsen. Mein Mann und ich sind nicht mehr jung genug, wir werden in die Fremde gehen, und vieles dort wird fremd und schwierig für uns sein. Aber wenn wir erst einmal draußen sind, wenn wir in einem Lande aufgenommen werden, in dem wir ungestört mit unseren Kindern leben dürfen, dann werden wir dankbar uns Mühe geben, für dieses neue Land so getreu zu arbeiten, wie es unsere Eltern und Voreltern für Deutschland getan haben!
35 Unser Auswanderungsagent bringt die Nachricht, daß jetzt schon eine Reihe von Fällen vorliegt, in denen Ausnahmen von dem Auswanderungsverbot für Frauen gemacht worden sind. Leider nicht viele. Kaethe kennt auch so einen Fall, in dem die Gestapo fünftausend Mark dafür verlangt hat. Und wirklich ist hauptsächlich dann eine solche Erlaubnis gegeben worden, wenn ein gynäkologisches Attest vorlag. Ich arbeite noch immer in der Fabrik. Mein Mann hat jetzt vom Hilfsverein die Zusicherung, daß wir auf die nächste Transportliste gesetzt werden sollen. Die nächsten Transporte gehen aber erst in drei Wochen. Wenn wir doch bloß die Abreise beschleunigen könnten. Es wird uns immer unheimlicher.
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Seit der letzten Woche tragen wir den Judenstern. Die Wirkung auf die Bevölkerung ist anders, als die Nazis erwarteten. Berlin hat noch vielleicht 80.000 Juden. In einigen Stadtteilen sieht man die Sterne zahlreich. Leute, von denen man nach dem Äußeren nicht angenommen hätte, daß sie Juden sind, tragen den Stern. Die Bevölkerung in ihrer Mehrzahl mißbilligt diese Diffamierung. Alle Maßnahmen gegen die Juden sind bisher im Dunkeln vor sich gegangen. Jetzt kann niemand daran vorbeisehen. Es gibt natürlich verschiedenartige Erfahrungen. Ich höre es von anderen Leuten und erlebe es selbst, daß ich von wildfremden Menschen auf der Straße mit besonderer Höflichkeit gegrüßt werde und daß mir in der Bahn ostentativ Platz gemacht wird, trotzdem Sternenträger nur sitzen dürfen, wenn kein Arier mehr steht. Aber es werden mir auch mal von Straßenjungen Schimpfworte nachgerufen. Und gelegentlich sollen Juden verprügelt worden sein. Jemand erzählt mir ein Erlebnis aus der Stadtbahn. Eine Mutter sah, daß ihr kleines Mädchen neben einem Sternenträger saß: „Lieschen, setz Dich auf die andere Bank, Du brauchst nicht neben einem Juden zu sitzen." Da stand ein Arbeiter auf: „Und ick brauch' nicht neben Lieschen zu sitzen!" Die Judensterne sind nicht populär. Das ist ein Mißerfolg der Partei, und dazu kommen die Mißerfolge an der Ostfront. Als übliches Ablenkungsmanöver folgt jetzt eine furchtbare antisemitische Propagandawelle. Es sind in allen Stadtteilen mehr als zweihundert Versammlungen, in denen über die Judenfrage gesprochen wird. In den Treppenhäusern liegen frühmorgens Flugblätter, in denen ganz offen zum Pogrom aufgefordert wird. In den Mitteilungen, daß ein Soldat im Felde gefallen sei, wird gesagt, daß die Juden die Schuld an diesem Tod haben! Ein früherer Hausmeister von uns, der in Polen Bewachungssoldat in einem Konzentrationslager ist, hat seine Frau zu uns geschickt. Wir möchten doch bloß sehen, so schnell wie möglich fortzukommen. Er könne den Gedanken nicht ertragen, daß es uns wie diesen Unglücklichen da gehen sollte, ob wir denn nicht wüßten, was uns bevorstände! Das klingt schrecklich. Was macht man denn bloß mit den Lagerinsassen? Die Nazis können doch die Leute nicht zu Tausenden umbringen. Das ist doch unvorstellbar - deutsche Menschen ihre eigenen Mitbürger, mit denen sie 1914 Seite an Seite gekämpft haben. Und was geschieht mit den Frauen und Kindern? Man weiß in Berlin nichts über ihre Schicksale. Der Brief gibt auch keine Einzelheiten, wahrscheinlich ist strenge Zensur der Soldatenpost. Den ganzen Kurfürstendamm hinunter hat jetzt fast jeder Laden ein Schild „Juden ist der Eintritt verboten" oder „An Juden kein Verkauf". Wenn man die Straßen entlanggeht, sieht man „Jude", „Jude", „Jude", „Jude" an jedem Haus, an jedem Laden. Es ist schwer zu erklären, daß die Nazis, diese Judenfesser, ihre eigene Stadt mit diesem Wort über und über bepflastern, wo es dabei nur noch so wenige Juden in Deutschland gibt. Man kann nirgends mehr hinsehen, ohne auf dieses „Jude" zu stoßen. Und es sind nicht bloß etwa die Luxusläden oder die
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Leihbüchereien, die keine Bücher mehr an Juden geben dürfen, oder die Zigarrengeschäfte, die in der ganzen Stadt für Juden verboten sind, jetzt bekommen auch die Bäckereien, die Fleisch- und Gemüsegeschäfte diese Schilder. Und für Juden sind keine Kohlenbezugsscheine für den Winter ausgegeben worden. Wo soll das hinführen! Und ich arbeite immer noch in der Fabrik. Ich habe es bis jetzt nicht gewagt, dort um meine Entlassung zu bitten. Vielleicht weiß man in der Fabrik, daß für meine Altersklasse die Auswanderung gesperrt ist. Wenn das der Fall ist, dann gibt es Rückfragen, und ich habe nichts von der Gestapo in der Hand. Das sind alles solche Schwierigkeiten, wenn wir jetzt irgendetwas falsch machen, dann kann alles auf dem Spiel stehen. Vor ein paar Tagen habe ich den Meister aus der Schraubenabteilung gebeten, eine Stunde eher nach Hause gehen zu dürfen wegen meiner Auswanderungsangelegenheiten. Er wurde wütend und warf mir vor, ich wolle mich nur vor der Arbeit drücken, er wisse ganz genau, daß es keine Auswanderung mehr gäbe, und er ließe sich nicht von mir auf der Nase rumtanzen. Mit diesem Mann komm' ich nicht weiter. Da wird mir mitgeteilt, daß ich nicht mehr bei der Schraubenabteilung geführt werde, sondern vollkommen in die Petroleumabteilung umgeschrieben bin. Jetzt muß ich es versuchen. Ich lege dem neuen Meister meinen Paß mit den Visa vor und bitte um kurzen Urlaub. Nach fünf endlosen Stunden läßt mich der Meister rufen: „Hier sind Ihre Papiere, Sie sind entlassen. Gehen Sie aufs Arbeitsamt und lassen Sie Ihr Arbeitsbuch schließen!" Zum letzen Mal werde ich von dem arischen Begleiter an den Fabrikausgang gebracht. „Ist das wirklich wahr, kommen Sie weg? Wo liegt denn Kuba eigentlich? Und dort ist wirklich kein Krieg?" Er sieht sich vorsichtig um. „Dann wünsche ich Ihnen Glück, dann haben Sie es besser als wir alle hier." Ich bin wirklich entlassen! Jetzt nur noch auf das Arbeitsamt. Dort macht man mir Schwierigkeiten. Für Leute unter 45 Jahren gibt es keine Schließung des Arbeitsbuches. Ob ich das wirklich noch nicht wisse.
36 Es hilft nichts. Ich muß zur Gestapo in die Kurfürstenstraße. Das ist wenig angenehm, aber es ist der einzig mögliche Weg. Das Brudervereinshaus ist ganz leer, außer mir selber scheint kein Jude dort zu sein. Ich werde in den riesigen ehemaligen Festsaal gewiesen, an dessen Seitenwänden ein paar Nischen als Büros eingerichtet sind. Ein Beamter hört sich meine Sache an, weiß aber nicht Bescheid. Er ist sehr abweisend und glaubt mir ganz offensichtlich nicht. Aber er wird den
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obersten Vorgesetzten fragen. Ich soll warten. Ich darf aber nicht dort an der Wand warten, sondern ich muß mich genau in die Mitte des großen, leeren Saales unter den riesigen Kronleuchter stellen mit der strengen Anweisung, mich nicht vom Platze zu rühren. Ich habe genau in der Mitte des Parketts stehenzubleiben. Ich hatte von diesem Sadismus schon erzählen hören und hatte es für eine Ubertreibung gehalten. Aber nein, das wurde wirklich so gemacht. Während der dreiviertel Stunde, die ich da warte, büße ich, wie man so sagt, meine sämtlichen Sünden ab. Es ist schwer, in der Mitte eines so riesigen, leeren Raumes zu stehen, ohne zu schwanken, ohne die „Platzangst" zu bekommen. Aber das ist jetzt die Probe aufs Exempel: Wird die Gestapo die erteilte Genehmigung bestätigen? Ich warte. Ich warte. Endlich kommt der Mann zurück. Die Sache geht in Ordnung. Er telefoniert mit dem Arbeitsamt und gibt die nötigen Anweisungen. Jetzt bin ich frei! Nein, noch nicht, noch lange nicht! Ich kenne ein junges Mädchen, das fix und fertig zum Ausreisen war, als das Ausreiseverbot kam. Einen Tag später sollte sie fahren. Und jetzt arbeitet sie wieder in der Fabrik, nur ihre Eltern haben abreisen können. Erst wenn wir über die Grenze sind, erst dann bin ich frei. Jetzt kommt eine große Nervenanspannung. Wenn wir jetzt im letzten Augenblick aus irgendeinem Grunde nicht fortkommen! Mein Mann zahlt in der letzten Woche unser ganzes Vermögen für die Reichsfluchtsteuer, für die Abgabe „zur Beförderung der Auswanderung der Juden" an die Jüdische Gemeinde, die aber übrigens die Gemeinde nicht erhält, sondern die auf ein gesperrtes Konto geht, und für unsere Schiffsplätze. Es ist alles so geschickt ausgeklügelt und wird so sorgfältig berechnet. Der Betrag für diese Schiffsplätze wird nach der Höhe des noch vorhandenen Vermögens angesetzt. In gewisser Hinsicht billige ich das, denn wie sollten sonst Leute ohne Vermögen das Geld für die Überfahrt aufbringen. In unserem Falle haben wir für die Plätze alles zu zahlen, was nach der Zahlung aller anderen Abgaben an barem Geld noch übrig bleibt. Warum wird da erst so viel mit dem Berechnen hergemacht? Was wir nicht zu Geld machen konnten, wie zum Beispiel Grundbesitz oder Hypotheken, verfällt sowieso mit der Auswanderung an den Staat, da wir dann als „staatsfeindlich" ausgebürgert werden und alles beschlagnahmt wird. Von unserem immer noch großen Vermögen bleibt zum Schluß kein Pfennig übrig. Wenn wir jetzt aber nicht fortkönnen, haben wir alles bezahlt und bekommen bestenfalls einen Teilbetrag in Papiermark zurück, das heißt, wir sind dann vollkommen mittellos. Wir haben so viel zu tun, daß wir von früh bis abends angestrengt arbeiten. Mein Mann ist den ganzen Tag unterwegs von einer Behörde zur anderen. Ich sortiere unsere Sachen, die Zollbeamten kommen zu uns in die Wohnung (wieso haben die soviel Zeit für unsere paar Sachen?), und die Koffer werden unter Aufsicht gepackt. Die Vorbereitungen waren einfach. Es gibt ja nichts mehr zu kaufen. Meine paar Einkäufe sind wirklich sehr bescheiden. Schuhbänder, die ich gern hätte, sind in Berlin nicht zu haben. Zahncreme und Zahnbürsten bekomme ich, wenn auch
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nicht gleich im ersten Geschäft. Die Zahncreme in Papiertuben. Die Läden sind wie ausgeräumt. Dann kauf ich mir eine Sonnenbrille. Der Verkäufer will wissen, wozu ich die jetzt im Oktober brauche. „Was, Sie gehen nach Amerika, in ein Land ohne Krieg! Ich wünschte, ich könnte mit Ihnen tauschen!" Nach vieler Mühe gelingt es einer arischen Nachbarin in unserem Hause, „hintenrum" eine Wurst für die Reise für uns aufzutreiben. Zwei Pfund zu vierundzwanzig Mark. Ich gebe sie ihr bis zum letzten Tag zum Aufheben, weil ich Angst habe, daß noch eine Haussuchung bei uns sein könnte. 69 Einer unserer arischen Freunde kommt zu uns, um sich zu verabschieden. „Sie brauchten nicht fortzugehen, Sie würden nicht zu denen gehören, die man hoffentlich am Brandenburger Tor eines Tages aufhängen wird. Vergessen Sie nicht, daß es Menschen gibt, die sich schämen über das, was hier in Deutschland vorgeht."
37 Wir bekommen einen erschütternden Brief aus München. Der alten Frau dort, einer Kusine meines Mannes, der man schon ihre Sachen beschlagnahmt hatte, ist das Zimmer in ihrer Pension genommen worden. Sie sollte abtransportiert werden. Da hat sie es vorgezogen, selbst aus dem Leben zu scheiden. Dasselbe hören wir von guten Freunden aus Breslau, die vor dem Abtransport standen. In Breslau geht es überhaupt schrecklich zu. Dort werden von einem Tag zum anderen die jüdischen Vermögen beschlagnahmt. Dasselbe spielt sich in Frankfurt/Oder und Guben ab. Aus Düsseldorf, Dortmund, Hannover, Köln hört man von Abtransporten und Beschlagnahme xler noch in Deutschland befindlichen Vermögen von Ausgewanderten. Es wird einfach erklärt, daß sie wegen „Volks- und Staatsfeindlichkeit" ausgebürgert seien. Damit verfällt auch das Vermögen. Eine furchtbare Nachricht kommt aus Holland. Von dort sind jüdische junge Männer von achtzehn Jahren an in das Lager Mauthausen/Oberdonau gekommen. Was dort eigentlich vorgeht, weiß niemand. Tatsache ist nur, daß allein innerhalb der ersten vier Wochen von sechshundert Menschen über einhundertfünfzig gestorben sind. 70 Eine Freundin aus Amsterdam schreibt mir verzweifelt, ihr
69 Diese Nachbarin, die Elisabeth Freund häufig beigestanden hatte, wurde später wegen anti-nazistischer Äußerungen denunziert. Sie wurde verhaftet und hingerichtet (LBI, coli. Freund, „Ausklang", S. a). 70 Nach einer Straßenschlacht zwischen niederländischen Faschisten und Bewohnern des Amsterdamer Judenviertels am 11. Februar 1941 wurden am 27. Februar 389 jüdische Männer im Alter zwischen 18 und 35 Jahren zunächst ins K Z Buchenwald und etwa 340 von ihnen dann weiter ins K Z Mauthausen verschleppt. In drei weiteren Transporten im Herbst 1941 wurden 470 jüdische Männer aus Amsterdam und einigen kleineren nieder-
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neunzehnjähriger Junge ist dabei. Sie hat von ihm nur noch einmal eine Nachricht erhalten, daß er ein Drittel seines Körpergewichts verloren habe. Was macht man dort mit diesen Menschen? Welcher Sadismus darf sich da austoben? Oder wird etwa irgendein chemisches Kampfmittel an ihnen ausprobiert? Gibt es noch einen Weg, um den Jungen zu retten? An wen soll man sich wenden? Es ist furchtbar, so mit gebundenen Händen machtlos dazustehen. In der letzten Woche hat eine ganze Anzahl von jüdischen Familien in Berlin Wohnungskündigungen erhalten. Und zwar nicht von ihren Hauswirten, sondern auf Vordrucken der Polizei. Es ist ihnen mitgeteilt worden, daß sie sich nicht nach anderen Wohnungen umsehen sollen. Sie würden benachrichtigt werden, was mit ihnen geschieht. Ihr ganzes Besitztum sei beschlagnahmt. Sie dürften nur noch eine beschränkte Stückzahl von Gegenständen als ihr Eigentum ansehen und zwar zum Beispiel eine Frau: zwei Kleider, drei Stück Hemden, Hosen, Strümpfe usw., einen Mantel. 71 Die Aufregung ist unbeschreiblich. Was wird jetzt mit diesen Menschen geschehen? Kommen sie in die Provinz, in Baracken oder nach Polen? Wer hat überhaupt solche Kündigungen bekommen? Anscheinend zunächst die sogenannten „Vorbestraften", also diejenigen, die mal schlecht verdunkelt hatten oder nicht um acht Uhr zu Hause waren oder bei denen man bei einer Haussuchung etwas gefunden hatte. Hiobsnachrichten kommen von allen Seiten. Man kann kaum mehr folgen. Eine Anzahl unserer Bekannten wird vor die Gestapo geladen und teils mit Geldstrafen, teils mit Gefängnis bestraft, weil sie im Telefonbuch nicht mit dem Zwangsvornamen „Sara" und „Israel" eingetragen sind. Dabei besitzen wir doch alle seit mehr als Jahresfrist kein Telefon mehr! Sie hätten trotzdem sofort eine Änderung ihrer Namen im Telefonbuch beantragen müssen. Ein guter Freund von uns erhält die Mitteilung, daß sein Neffe, der wegen angeblicher Rassenschande zwei Jahre im Zuchthaus war, von dort in ein Arbeitslager überführt worden und dort nach vierzehn Tagen „gestorben" ist. Ich gehe aufs Postamt, um dort in einer Telefonzelle zu telefonieren. Kaum bin ich in der Zelle drin, als eine Frau die Tür aufreißt und mich kreischend herauszerrt: „Wir Arier müssen hier warten, immer sind die Juden in den Zellen! Raus mit den Juden, raus! Raus mit allen Juden aus Deutschland!" Es ist eine so schreckliche Szene, daß ich nicht weiß, wie ich wieder auf die dunkle Straße hinausgekommen bin. Ich fürchtete, sie würde mir die Kleider vom Leibe reißen.
ländischen Orten ebenfalls nach Mauthausen deportiert. Am 28. Dezember 1941 waren von den rund 850 niederländischen Juden im KZ Mauthausen noch acht am Leben. Vgl. Hirschfeld 1991, S. 141f. 71 Es handelt sich um die Vorbereitungen zur ersten Deportation von Juden aus Berlin, die am 18,Oktober 1941 stattfand; sie führte in das Ghetto Lodz (Richarz 1989, S. 527, Anm. 8).
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Mein Mann bekommt eine Vorladung auf die Gestapo am Alexanderplatz. Das ist immer sehr unangenehm. Die Korridore zu den Büros haben nämlich am Eingang schwere eiserne Gitter. Wenn die sich erst einmal hinter einem geschlossen haben, ist man nie sicher, ob man auch wieder herausgelassen werden wird. Wir waren beide schon mehrmals allein oder zu zweien vorgeladen. Es handelte sich immer darum, ob wir denn nicht endlich auswandern würden. Diesmal kann mein Mann glücklicherweise unsere Pässe mit den Ausreisegenehmigungen mitnehmen. Der Beamte fragt wirklich wieder, warum wir denn immer noch da wären. Als mein Mann die Pässe vorlegt, nimmt der Gestapo-Mann einen beschriebenen Zettel aus unserem Aktenstück und zerreißt ihn. Mein Mann fragt sehr höflich, was denn dieses Papier besagt hätte. „Das war Ihre Ausweisung nach Polen", ist die Antwort, „ich freue mich, daß Sie darum herumkommen!" Gestapo-Männer sind also auch manchmal Menschen. Das ist Donnerstag... Am Sonntag sollen wir fahren. Jetzt spielt sich alles Schlag auf Schlag ab. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag werden zum ersten Mal in Berlin Hunderte von Juden aus ihren Wohnungen geholt. Jeder darf nur ein Köfferchen mitnehmen. Die Polizei kommt in der Nacht gegen elf - im Dunkeln, damit die Bevölkerung nicht etwa Partei ergreift. Die armen Menschen werden zu einer Sammelstelle, der Synagoge in der Levetzowstraße, gebracht. 72 Das ganze Straßenviertel dort ist abgesperrt. Die Jüdische Gemeinde hat Krankenschwestern, Ärzte und Helfer stellen müssen. In aller Eile wird Proviant zurechtgemacht, denn niemand hat von zu Hause Lebensmittel mitnehmen dürfen. Es ist eine furchtbare Nacht mit Regen und Gewittersturm. Die Synagoge reicht nicht aus. Die Menschen müssen stundenlang im Freien im Hof im Regen stehen. Die Szenen, die sich dort abspielten, sollen unbeschreiblich gewesen sein. Die Familien sind getrennt worden. Schon in den Wohnungen, bei der Verhaftung haben sich Menschen das Leben genommen. Dort in der Synagoge geschieht es weiter. Es finden Leibesvisitationen statt, die Koffer werden durchsucht. Alle müssen ihre Ausweispapiere, Geburtsscheine, Pässe usw. abliefern. Es wird ihnen alles fortgenommen, was Geldeswert besitzt, und ebenso Seife, Kämme, Rasierzeug, Scheren, Bürsten, also alles, was ein zivilisierter Mensch braucht, um sauber und ordentlich auszusehen. Sie sollen so verwahrlosen wie die unglücklichen Juden im polnischen Ghetto, deren Zerrbilder der „Stürmer" bringt.
72 Die große Synagoge in der Levetzowstraße wurde 1914 erbaut für die zahlreichen im Hansaviertel ansässigen Juden; sie hatte 2.000 Plätze. Sie wurde am 9. November 1938 beschädigt, jedoch ab 1939 wieder für Gottesdienste genutzt. Sie wurde von der Gestapo während der jüdischen Feiertage im September 1941 beschlagnahmt und zur Sammelstelle für die bevorstehenden Deportationen gemacht. Die Jüdische Gemeinde versorgte die Inhaftierten dort bis zu ihrem Abtransport. Vgl. Richarz 1989, S. 556, Anm. 4.
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Wir hören diese furchtbaren Einzelheiten erst in den nächsten beiden Tagen von meiner Kusine, der Schulpflegerin. Kaethe erzählt mir, daß in der Wäscherei die Leute aus der Nachtschicht von der Polizei abgeholt worden sind. Die Arbeit in den Fabriken schützt also nicht vor dem Abtransport! Eine Anzahl meiner Bekannten aus der Wäscherei sind bereits verschickt. Ein junges Mädchen, deren Mutter zu dem Transport kam, ist von einer Gestapostelle zur anderen gelaufen, um mit der Mutter zusammen wegzukommen. Man hat ihre Bitte abgelehnt. „Sie fahren nicht nach Polen, wenn Sie Lust haben, sondern wenn wir es für richtig halten." Diese Angst, diese Panik überall, es läßt sich einfach nicht schildern. Wir haben doch wirklich schon sehr viel Schreckliches mitgemacht. Aber dies, das ist mit nichts zu vergleichen. Das ist wie eine Jagd auf wehrlose Tiere! Ich fahre einen Vormittag kreuz und quer durch die Stadt, um nach Freunden und Bekannten zu sehen, ob sie noch da oder auch schon fortgeschleppt sind. Wir wissen alle nichts voneinander, wir haben doch kein Telefon! Erst in der Nacht zum Sonnabend 73 werden die Unglücklichen in vergitterten Polizeiautos zum Bahnhof Grunewald gebracht. Dieser Bahnhof liegt so abseits, daß nur wenig Menschen beobachten können, was da geschieht. Deswegen kommen dort auch immer die Lazarettzüge von der Front an. Die Menschen werden in Viehwagen verladen. Es heißt, die Transporte gingen nach Polen. Niemand weiß es genau.
38 Bekannte kommen zu uns. Sie wissen, daß wir abfahren sollen. Sie bitten, daß wir ihren Angehörigen im Ausland letzte Grüße bringen. Wir sollen doch versuchen, daß alles getan wird, um ihnen ein Ausreisevisum zu verschaffen. Wir sollen draußen schildern, was hier vorgeht, was ihnen bevorsteht. Abtransport nach Polen, jetzt zu Beginn des Winters, das ist Tod durch Erfrieren, das ist Hunger und Flecktyphus, Seuchen und elendes Zugrundegehen. Ahnen denn die Menschen im Ausland, was hier geschieht? Wird es möglich sein, daß Hilfe kommt, ehe es zu spät ist? Werden die hohen Beträge in Dollars für die Visa aufgebracht werden können? Die meisten Verwandten im Ausland haben ja selber kein Geld... Ein paar unserer Freunde haben gerade die Kubavisa bekommen. Es sind Eltern oder alte Mütter. Der Abschied von ihnen ist leichter. Wir hoffen, sie werden uns bald nachkommen können, hoffentlich doch! Es kann nicht sein, daß sie jetzt etwa nicht mehr fortkommen werden, nachdem die Kinder mit solchen Schwierigkeiten die Visa beschafft haben. Wir müssen doch hoffen, daß sie es noch erreichen!
73 Dies ist der 18. Oktober 1941.
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Ein Studienfreund meines Mannes sagt uns Lebewohl. Seine Schwester in Breslau hat sich das Leben genommen, als sie abtransportiert werden sollte. Er selbst ist ganz ruhig und gefaßt. „Ich bin nie ein Feigling gewesen. Ich habe bisher alles durchgemacht und bin damit fertig geworden. Ich habe keine Möglichkeit, ins Ausland zu kommen. So lange ich kann, werde ich mir das hier ansehen. Foltern lasse ich mich nicht! Wenn es sein muß, dann werde ich zu sterben wissen." Eine alte Lehrerin kommt zu uns, die mit ihrer älteren Schwester und ihrer neunzigjährigen Mutter zusammenlebt. Auch sie ist bewundernswert ruhig. „Meine Schwester und ich würden auch dies auf uns nehmen. Aber die Mutter! Wir dürfen sie diesen Qualen nicht aussetzen. Sie weiß noch gar nichts von diesen Abtransporten. Wenn wir die Wohnungskündigung bekommen, dann werden wir uns mit Mutter in die Küche setzen und den Gashahn aufmachen. Das ist die einzige Liebe, die wir unserer Mutter noch erweisen können." Wir wagen nicht zu widersprechen. Das müssen diese armen Menschen mit sich allein ausmachen. Unser 72jähriger Freund F. bittet uns, seiner Tochter nach Bolivien zu schreiben, daß er gesund sei und daß es ihm gut gehe. Vielleicht kann sie das Visum für Bolivien beschleunigen, das nun schon seit mehr als einem Jahr beantragt ist. „Aber beunruhigt meine Tochter nicht. Das arme Mädel kann mir ja doch nicht helfen." Ich habe diesen lieben Menschen nie anders als heiter und gleichmäßig freundlich gesehen. Auch jetzt spricht er so mit uns, als ob es sich nicht um Ernsthaftes handelte. „Ich bin bloß froh, daß ihr wenigstens fortkommt. Ich bin ein alter Mensch, bei mir kommt es auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht an." Diese furchtbaren Abschiede. Nur nicht weinen. Ich gehe noch einmal durch unser Miethaus, um mich von unseren Nachbarn zu verabschieden. Man darf nicht feige sein. Vielleicht haben auch sie noch irgendeine Nachricht. Sie können sich auf uns verlassen. Wir werden sie sofort weitergeben, sobald wir frei Briefe schreiben können. Wenn es nur noch zurecht kommt. Ich notiere Adressen im Ausland, wir sprechen alle nicht viel, geben uns nur die Hand. Nur keine Tränen. Man darf nicht damit anfangen, sonst hört man nicht auf. Wer weiß, was aus diesen Menschen werden wird, da kann man nicht mehr in konventioneller Weise Abschied nehmen. Am Sonntag früh kommt eine jüdische Nachbarin ganz zeitig. Die Gemeinde hat einen Flüsterbefehl ausgegeben, es solle niemand auf die Straße gehen, man rechnet mit einem Pogrom. Mein Mann muß aber in das Büro des Hilfsvereins fahren, um die Fahrkarten abzuholen. Ich fahre mit. Die Straßen sind wie ausgestorben. Niemand hält uns an, und wir kommen ungestört wieder nach Hause. Unsere Wohnung ist schon halb leer. Wir schreiben noch ein paar Abschiedsbriefe und warten auf unsere Kusinen, die uns gesagt hatten, daß sie noch einmal zu uns kommen würden. Sie kommen aber nicht. Wir können nicht wegfahren, ohne sie
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noch mal gesehen zu haben. Es ist ein schrecklicher Gedanke für uns, daß wir sie allein und hilflos hier zurücklassen müssen. Sie haben zweimal versucht, zu uns zu kommen, und jedesmal sind sie auf der Straße von wohlmeinenden Menschen zurückgehalten worden. Sie sollten doch sofort umkehren, sie wären sonst ihres Lebens nicht sicher. Es ist ein schwerer Abschied. Sie sind sehr tapfer. 74 „Grüßt eure Kinder. Vergeßt uns nicht. Wenn es uns so bestimmt ist, dann werden wir auch dieses Schicksal tragen." Nur nicht weinen. Dann kommt noch der Abschied von Kaethe. Wie durch ein Wunder hat sie gerade heute ein neues Unterkommen gefunden und ist glücklich darüber. Aber was wird aus ihr werden? Auf wie lange wird sie dort bleiben können? Sie versucht, unsere Sorge ins Lächerliche zu ziehen. „Unkraut verdirbt nicht. Ich bin ja allein, da kommt man schon eher durch." Und sie hilft noch ein bißchen mit unserem Gepäck. 75 Was wird aus den anderen werden? Mit welchem Recht dürfen wir diese Hölle verlassen, wenn die anderen aushalten müssen? Vielleicht träumt man das alles nur. Es ist doch unmöglich, daß so etwas Furchtbares in der Welt Wirklichkeit ist. Wir sitzen ein letztes Mal an unserem eigenen Tisch zu einer Mahlzeit. Dann ziehen wir unsere Mäntel an, nehmen jeder einen Rucksack und eine kleine Handtasche und gehen aus dem Haus, ohne zurückzusehen. Wir fahren mit der Stadtbahn zum Potsdamer Bahnhof. Dort im Keller des Bahnhofs werden die Judentransporte zusammengestellt. Wir werden nach Uberprüfung unserer Papiere in den Keller hineingelassen. Die Tür schließt sich hinter uns. Gott sei Dank! Der Transport geht also doch noch heute ab! Wir hatten bis zum letzten Augenblick gefürchtet, die Reise werde nicht mehr erlaubt sein. Es gibt noch viele Förmlichkeiten mit Gepäck und Pässen. Es wird uns gesagt, daß in der letzten Nacht auch in Frankfurt am Main die ersten Abtransporte erfolgten. Drei Stunden vergehen, bis wir endlich im Stockdunkeln durch den finsteren Bahnhof an den Zug nach Paris gebracht werden. Ein plombierter Wagen ist für unseren Transport bestimmt. Wir steigen ein, die Türen werden abgeschlossen, der Zug setzt sich in Bewegung... Wir fahren in die Freiheit! Vier Tage später wird von der deutschen Regierung die Ausreise für alle Personen unter sechzig Jahren verboten, und kurz darauf stellt die Heeresleitung die Freigabe von Waggons für die Reise durch Frankreich ein. 76 Aber die Verschickungen der Juden nach Polen dauern fort! 74 Beide Kusinen wurden bald nach der Ausreise des Ehepaares Freund in ein Vernichtungslager in Polen deportiert und dort in den Gaskammern ermordet (LBI, coli. Freund, „Ausklang"). 75 Kaethe nahm sich, als sie von ihrer bevorstehenden Deportation erfuhr, das Leben (LBI, coli. Freund, „Ausklang"). 76 Die Auswanderung wurde am 23. Oktober 1941 verboten (Richarz 1989, S. 527, Anm. 9).
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Verzeichnis der Abkürzungen
Bundesarchiv Bund Deutscher Mädel Berliner Handelsgesellschaft collection Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er wurde 1893 gegründet als Abwehrorganisation gegen den Antisemitismus und war bis 1933 mit mehr als 500 Ortsgruppen die größte jüdische Organisation Deutschlands. Er war liberal und bis 1933 antizionistisch orientiert. Im November 1938 wurde er verboten. Deutsche Arbeitsfront DAF Deutsche Allgemeine Zeitung DAZ Freiwilliger Arbeitsdienst FAD Geheime Staatspolizei Gestapo Hilfsverein Hilfsverein der deutschen Juden. Er wurde 1901 als Wohlfahrtsorganisation für die Juden in Osteuropa und Palästina gegründet. Nach 1933 fungierte er als Hilfsorganisation für die Auswanderung deutscher Juden in alle Länder außer Palästina. Hitlerjugend HJ Jungmädelbund JMB Konzentrationslager KZ Nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude" KdF Landesarchiv Berlin LAB Leo-Baeck-Institut, New York LBI Münchener Medizinische Wochensschrift MMW Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation NSBO Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP Nationalsozialistische Volkswohlfahrt NSV Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend RADwJ RAVAV Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Reichssicherheitshauptamt RSHA RV Reichsvertretung der deutschen Juden (gegründet im September 1933); seit 1935: Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Sie wurde nach dem Novemberprogrom 1938 zwangsweise umgebildet BA BDM BHG coli. CV
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SA SD SS StA TBC VEB
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zur Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und nach Abschluß der Deportationen am 10. Juni 1943 aufgelöst. Sturmabteilung Sicherheitsdienst Schutzstaffel Landesarchiv Berlin, Außenstelle Breite Straße (vormals: Stadtarchiv Berlin) Tuberkulose Volkseigener Betrieb
Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur
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Anhang
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164
Anhang
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Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur
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Abbildungsnachweis
U. Goebel, Privatbesitz (S. 20, 38, 75, 95); Jüdische Gemeinde Berlin (Einband); LA Berlin, StA-Rep. 250-01-05, Nr. 10 1-0110 und Nr. 1-1/12 (S. 109, 130, 137); C. Sachse, Privatbesitz (S. 47, 71, 83, 100); Scheringianum, Historischer Jahresstrang (S. 51); Württembergische Landesbibliothek, Freund 1930 (S. 14,15).
Ego-Dokumente Annäherung an den Menschen in der Geschichte Herausgegeben von Winfried Schulze Selbstzeugnisse der Neuzeit Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte, Band 2 Herausgegeben von Hartmut Lehmann, Alf Lüdtke, Hans Medick, Jan Peters, Rudolf Vierhaus
Aus dem Inhalt: Hi Schulze (München): Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente" I. Autobiographische Texte Nationale und systematische Aspekte R. Dekker (Rotterdam): Ego-Dokumente in den Niederlanden im 16. und 17. Jh.; J. S. Amelang (Madrid): Spanish Autobiography in the Early Modern Era; G. Jancke (Dresden): Autobiographische Texte - Handlungen in einem Beziehungsnetz; A. Völker-Rasor (München): Die Autobiographie des 16. Jh. als Ego-Dokument; I. Modrow (Berlin): Religiöse Erweckung und Selbstreflexion. Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern; K. von Greyerz (Zürich): Spuren eines vormoderenen Individualismus in englischen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jh.
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1996. 348 Seiten - 12 Abbildungen 170 mm x 240 mm Hardcover DM/sFr 88,- / öS 651,ISBN 3-05-002615-4
IL Administrativ bedingte Selbstbefragung O. Ulbicht (Kiel): Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jh.; J. Peters (Potsdam): Zur Auskunftsfähigkeit von Selbstsichtzeugnissen schreibender Bauern; S. Jahns (Gießen): Das Generalexamen der Kammergerichtsassessoren als „Ego-Dokument"?; C. Ulbrich (Bochum): Zeuginnen und Bittstellerinnen; T. Sokoll (Hagen): Armenbriefe in England, 1750-1834 DI. Verhörprotokolle als Ego-Dokumente W. Behringer (Bonn): Verhörprotokolle und andere administrative Quellen zur Sozialgeschichte; H. Schnabel-Schüle (Tübingen): Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß; W. Schulze (München): Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören; G. Gersmann (Bochum): Selbstzeugnisse des literarischen Untergrundes aus dem BastilleArchiv IV. Schluß W. Schulze (München): Schlußbemerkungen zur Konferenz über ,Ego-Dokumente"
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Russische Emigration in Deutschland Leben im europäischen Bürgerkrieg Herausgegeben von Karl Schlöge^
Aus dem Inhalt: M. Raeff (New York),, g a s Problem einer Kultur der Emigration im 20. Jh.; K. Schlägel (Frankfurt/O.), Russische Emigration in Deutschland zwischen Hammer und Amboß I. Deutschland: Zufluchtsland-Fluchtland L. K. Skarenkov (Moskau), Russische Emigration in Deutschland im Spiegel des Generals A. A. von Lampe; F. Golczewski (Hamburg), Die Entwicklung der ukrainischen Emigration und ihr Verhältnis zur russischen Emigration; T. Pachmus (UrbanChampaign/Ill.), Baltendeutsche und Russo-Balten in der Emigration; J. Baur (Konstanz), Zwischen Zarenadler und Roter Fahne: der Kampf um die Kriegsgefangenen in deutschen Lagern; M. Vetter (Frankfurt/M.), Russische Juden in Deutschland und „weißer Antisemitismus"; J. Abyzov (Riga), Der Fluchtort als Falle II. Leben in der Fremde A. Usakov (Moskau), Die russischen Hilfsorganisationen; G. Seide (München), Die Rolle der russischorthodoxen Kirchengemeinden; M. Hatlie (Konstanz), Die Zeitung als Zentrum von EmigrationsÖffentlichkeit; Ch. Mick (Tübingen), Grauzonen des E m i g r a n t e n l e b e n s : von R u ß l a n d e x p e r t e n und Dokumentenfälschern;/?. Ebentraut (Vaduz), Kaniere und Schicksal eines Emigranten - die Odyssee des Malers I. Mjassojedoff/Eugen Zotow III. Deutsch-russische Allianzen Politik der Emigration zwischen den Kriegen R. S. Ganelin (St. Petersburg), G. Svarc-Bostunic ein russischer Faschist; M. Hagemeister (Marburg), G. Svarc-Bostunic in Deutschland; B. Dodenhoeft (Kassel); V. Biskupskij - eine Emigrantenkarriere in Deutschland; A. Liebich (Genf), Eine Emigration in der Emigration: die Menschewiki; H. Peter (Halle), „Brücken schlagen" - Selbstverständnis und Wirkung
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der Exilmenschewiki; D. Dahlmann (Freiburg), Russische Anarchisten in Deutschland IV. Russische Kunst und Wissenschaft in deutscher Umgebung G. Voigt (Berlin), O. Hoetzsch und K. Stählin und die russischen Emigranten; V. Malachov (Moskau), F. Stepun - ein russisches Leben über die Katastrophe hinweg; B. Poole (Marburg), N. v. Bubnoff und die Spur der „russischen Seele" in der deutschen Geistesgeschichte; R. v. Maydell (Bochum), Dorchnach als Pilgerstätte russischer Anthroposophen V. „Russkij Berlin" - ein Topos der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts Th. R. Beyer jr. (Middleburg/Vermont), A. Belyj Rußland in Berlin; E. Berard (Paris), I. Erenburgs Berliner Zeit; E Piatone (Rom), Russisches und sowjetisches Theater in Berlin; A. I. Rejtblat (Moskau), J. Ajchenval'd in Berlin; A. Engel-Braunschmidt (Hamburg), Nabokovs Suggestion von Berlin; O. Bulgakova (Berlin), Russische Filmemacher und Schauspieler in Deutschland VI. Das Gedächtnis der Emigration: Buch- und Verlagswesen C. Scandura (Rom), Die Ursachen für Blüte und Niedergang des russischen Verlagswesens in der 20er Jahren; E. A. Dinerstejn (Moskau), Sowjetische Einflußnahme auf Zeitungen und Verlage der Emigration; V. Moulis (Prag), Die Berliner Periode der Zeitung „Dni"; A. Burchard (Berlin), „Nas Vek"; Ch. Hufen (Berlin) Russisches Leben im 3. Reich; K. Schlägel (Frankfurt/O.), Das Ende der geteilten Archive
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