Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium: Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte [1 ed.] 9783666593697, 9783525593691


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German Pages [502] Year 2017

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Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium: Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte [1 ed.]
 9783666593697, 9783525593691

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Romeo Popa

Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte

Novum Testamentum et Orbis Antiquus/ Studien zur Umwelt des Neuen Testaments In Verbindung mit der Stiftung „Bibel und Orient“ der Universität Fribourg / Schweiz herausgegeben von Martin Ebner (Bonn), Peter Lampe (Heidelberg), Stefan Schreiber (Augsburg) und Jürgen Zangenberg (Leiden) Advisory Board Helen K. Bond (Edinburgh), Thomas Schumacher (Fribourg), John ­Barclay (Durham), Armand Puig i Tàrrech (Barcelona), Ronny Reich (Haifa), Edmondo F. Lupieri (Chicago), Stefan Münger (Bern)

Band 111

Vandenhoeck & Ruprecht

Romeo Popa

Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 3 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-5124 ISBN 978-3-666-59369-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen

In memoriam Franz Kelkel, Pf. i. R. in Winterspelt (1927–2014)

Vorwort

Der Impuls, eine Dissertation überhaupt zu schreiben, kam von Herrn Prof. Ulrich Luz während der prägenden Gespräche in Fribourg am Rande einer­ Johannes- und dann einer Matthäusvorlesung. Dass ich über Matthäusevangelium schreiben werde, stand noch nicht fest und mein Forschungsvorhaben hat sich allmählich durch intensive Lektüren in verschiedene Richtungen präzisiert. Die Begegnung mit der Konflikttheorie von Louis Coser und ihre Rezeption in der exegetischen Literatur hat meine Neugier besonders geweckt. Damit war die Grundidee dieser Untersuchung geboren – Ich wollte einen methodischen Weg finden, um die vielseitigen und komplexen Konflikttheorien für das Verständnis mancher Textkonstellationen in MtEv fruchtbar zu machen. In der kurzen aber intensiven Zeit in Laupen (bei Bern) hat mein Ansatz durch unzählige Gespräche mit Prof. Ulrich Luz immer mehr an Kontur und Substanz gewonnen. Herrn Prof. Matthias Konradt bin ich für die offizielle Übernahme der Betreuung meiner Dissertation schon in Bern zu Dank verpflichtet. In jener Frühphase habe ich mich besonders mit den sozialwissenschaftlichen Teilen befasst, ich hatte aber zugleich auch die Gelegenheit meine Ideen zum matthäischen theologischen Konstrukt im Rahmen eines Oberseminars weiter zu entwickeln, auch wenn nicht alle meine Überlegungen von damals wegen der Eingrenzung der Thematik den Weg in die Dissertation finden konnten. Fortsetzung folgt! Die Betreuung wurde dann in Heidelberg weiter geführt, als Herr Prof. Konradt trotz vieler anderer Verpflichtungen ab März 2011 regelmäßig meine immer umfassender gewordenen exegetischen Texte von den ersten christologischen Versuchen bis hin zu den Überlegungen zum objektiven Status der matthäischen Gemeinde gelesen und dann anschließend mit mir diskutiert hat. Ende 2013 waren alle Teile meiner Dissertation, einer nach dem anderen, nach intensiver konzeptioneller und exegetischer Arbeit fertig. Anschließende Korrekturarbeiten unter Hochdruck, für die ich Anja Steinberg sehr dankbar bin, haben dazu geführt, dass ich im SoSe 2014 die Dissertation an der Uni. Heidelberg einreichen durfte. Herrn Apl. Prof. Dr. Peter Busch sei für das Verfassen des zweiten Gutachtens gedankt. In meiner Heidelberger Zeit habe ich durch Kontakt zur ausgezeichneten exegetischen Bibliothek und zu meinem Betreuer viel über Matthäus gelernt. Trotz vieler Gemeinsamkeiten, die ja meistens zum Gemeingut der neuen matthäischen Forschung ab dem Ende der 80er gehören, ergaben sich jedoch im Laufe der Zeit verständlicherweise in manchen Punkten auch unterschiedliche Meinungen. Andersrum gesagt, wenn man sich innerhalb eines schon abgezeichneten Paradigmas bewegt, werden eben die kleinen Unterschiede sehr wichtig.

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Vorwort

Somit hat einer Dissertation ausgerechnet über Konflikte auch das passende Umfeld nicht gefehlt, um in ihrem spezifischen Element gut zu gedeihen. Eine Promotion ist m.E. eine einmalige Gelegenheit, die eigene exegetische Identität zu entwickeln, und keineswegs, um trotz aller individuellen Bemühungen „sich schließlich überzeugen zu lassen“. Herrn Prof. Max Küchler, der schon zu Beginn meiner Promotion in seiner sehr freundlichen Art unterstützend gewirkt hat, bedanke ich mich zusätzlich dafür, meine Dissertation für die Aufnahme in die prestigereiche NTOA-Reihe vorgeschlagen zu haben. Ein großer Dank gebührt auch dem ganzen Herausgeberkreis, im besonderen Herrn Prof. Stephan Schreiber, der die Betreuung von der Seite der exegetischen Reihe bis zur Veröffentlichung übernommen hat. Bis zur Abgabe des Manuskripts haben weitere wache Augen dafür gesorgt, dass die Zahl der Fehler sich möglichst viel verringert. Meine gute Freundin aus der Studienzeit, Eugenia Küchler, hat von Chemnitz aus eine ‚KorrektorenMannschaft‘ organisiert, die, wie sie selbst, bereit waren, verschiedene Kapitel zu lesen und zu korrigieren. Allen sei hier herzlich gedankt – Pf. i. R. Dr. Christoph Körner, Jens Küchler, Pf. i. R. Klaus Pfeiffer, Pf. i. R. Waldemar Rink, Constanze Sbosny, Dr. Hartmut Sbosny und Vikar Matthias Westerweg. Die Vorbereitung des Manuskripts für den Druck war eine anstrengende und zeitraubende Aufgabe. Aus der inzwischen erschienenen Literatur konnte ich nur gelegentlich auf den Kommentar von Prof. Matthias Konradt eingehen. Frau Dr. Elke Liebig und Herr Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht haben mit ihrer professionellen und freundlichen Beratung und nicht zuletzt mit ihrer Geduld maßgeblich zum vorliegenden redaktionellen Ergebnis beigetragen. Mein Aufenthalt in Heidelberg ist durch ein DAAD-Forschungsstipendium und durch die Unterstützung der „Gerhard von Rad“-Stiftung der Universität Heidelberg möglich geworden. Für die Übernahme etwa der Hälfte der Druckkosten gebührt ein ganz besonderer Dank der Stiftung „Eugène und Louis­ Michaud-Fonds des Departements für Christkatholische Theologie der Universität Bern“. Herr Prof. Urs von Arx hat freundlicherweise meine Bewerbung eingereicht und erfolgreich unterstützt. An den Druckkosten hat sich auch die Evangelische Landeskirche Baden beteiligt. Während der manchmal schwierigen Promotionszeit in Heidelberg stand meine Dissertation aus verschiedenen Gründen mehrmals auf der Kippe. Ohne die Ermutigung und die Unterstützung von Herrn Pf. i. R. Hans Kelkel (Winter­spelt) wäre dieses Projekt gescheitert. Als ich meine Dissertation eingereicht habe, war er schon seit einigen Wochen von uns gegangen. Dem großartigen Menschenfreund und Priester wird dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet. Romeo Popa November 2016, Bukarest

Inhalt Einleitender Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Exegetische und sozialpsychologische Hinführung . . . . . . . . . . . . 14 1.1 Sozialwissenschaftliche Ansätze zum Matthäusevangelium . . . . . 14 1.2 Sozialpsychologische Grundlegung der Konfliktanalyse . . . . . . . 19 1.2.1 Die Gruppe als Identitätsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.2 Die Theorie der sozialen Identität (Social Identity Theory – SIT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.2.3 Stereotypen und kognitive Prozesse im intergruppalen Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2.4 Emotionen und aggressives Intergruppenverhalten . . . . . . 36 1.3 Grundbausteine der Konfliktbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . 41 1.3.1 Was ist ein Konflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.3.2 Sozialpsychologische Mechanismen der Konfliktentstehung und -austragung: Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . 44 1.4 Fragestellung und Aufbau der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . . 48 1.4.1 Subjektiver vs. objektiver Status der Gemeinde . . . . . . . . . 48 1.4.2 Konflikt in, cum et sub Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Erster Hauptteil: Der subjektive Status der Gemeinde. Eine ‚Diagnose‘ des matthäischen Konfliktes mit der Synagoge im Lichte der exegetischen und der sozialpsychologischen Forschung . . . . . . . . 53 2. Konfliktbeteiligte: Die tragenden Kräfte des Konfliktes . . . . . . . . . . 53 2.1 Die Eigengruppe: Jesus als Legitimierungsmittel und polemisches Gesicht der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1.1 Das Wirken Jesu in Israel als Davidssohn . . . . . . . . . . . . 54 2.1.2 Jesus, der Lehrer der „besseren Gerechtigkeit“ . . . . . . . . . 71 2.1.3 Die paradoxe Gestalt des Gottessohnes: Der Gottessohn als Menschendiener . . . . . . . . . . . . . . 80 2.2 Die Gegner Jesu und der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.2.1 Bezeichnungen der Gegnergruppen . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.2.1.1 Gegnerschaft bis zur Passion . . . . . . . . . . . . . . 99 2.2.1.2 Der Tod Jesu und die Gegner . . . . . . . . . . . . . . 107 2.2.1.3 Tendenzen der matthäischen Redaktion . . . . . . . . 108

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Inhalt

2.2.2 Gegnerbild nach Wort und Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.2.3 Πονηρία als Grundmerkmal der Gegner . . . . . . . . . . . . 118 3. Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte . . . 127 3.1 Das Volk als ‚kritische Masse‘ der matthäischen Konfliktgeschichte 127 3.1.1 Die Menge als Zielpublikum der Kontrahenten . . . . . . . . 128 3.1.1.1 Die ersten Jünger Jesu und das nachfolgende Volk (4,18–22; 4,23–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.1.1.2 Jesus behält das Volk im Blick (5,1; 9,36) . . . . . . . 134 3.1.1.3 Die taktische Rücksicht der Gegner auf die Menge (12,24; 21,26.46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.1.2 Die Differenzierung Autoritäten – Menge als mt Erzählkonzept 139 3.1.2.1 Durch die Lehre kommt die Zwietracht (7,28–29) . . 139 3.1.2.2 Das Wunder als Unterscheidungskriterium (9,1–8) . . 140 3.1.2.3 Der Zuwachs an Erkenntnis über die Davidssohnschaft Jesu (9,32–34; 12,22–24; 21,9–17) . . . . . . . . . . . . 143 3.1.2.4 Schlussfolgerung (23,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.1.3 Das Verhältnis Jesu – Menge auf dem Prüfstand (27,24 f) . . . 150 3.2 Die Nächstenliebe und die Polemik über die richtige Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3.2.1 Die Grundlagen (Mt 5,17–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.2.2 Reine Speise und (un)reine Menschen (Mt 9,10–13; 15,1–20) 168 3.2.3 Gutes tun, wann auch immer (Mt 12,1–14) . . . . . . . . . . . 176 3.2.4 Liebe über alles (Mt 22,34–40) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3.3 Göttliche Autorität vs. menschliches Versagen: Die Gottessohnschaft Jesu als Kern des matthäischen Machtkonflikts . . . . . . . . . . . . 185 3.3.1 Die Vollmacht des Gottessohnes als Bestandteil der Konfliktgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3.3.2 Der leidende Gottessohn und der erhöhte Christus . . . . . . 190 4. Symbolische Gewalt: Gott, Geschichte und Gemeinde – drei Horizonte der Konfliktaustragung im Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . 195 4.1 Gottes Gericht über die Gegner: Die Macht der Machtlosen . . . . 198 4.1.1 Gerichtssprache als Kampfsprache in Schriften des Frühjudentums: Religionsgeschichtliche Vorüberlegungen . . 198 4.1.2 Am Gottesgericht gescheitert: Entmachtete Gegner im Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4.2 Pragmatische Geschichtsdeutung: Die Instrumentalisierung der Zerstörung Jerusalems im Matthäusevangelium . . . . . . . . . 230 4.2.1 Mörderische Stadt und heiliger Tempel . . . . . . . . . . . . . 232 4.2.2 Bewältigung der zweiten Tempelzerstörung in der jüdischhellenistischen Literatur und im Matthäusevangelium . . . . 242

Inhalt

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4.2.3 Das Tempel-Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.2.3.1 Instrumentalisierung der Zerstörung Jerusalems in der matthäischen antipharisäischen Polemik . . . 253 4.2.3.2 Nachahmung im Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 4.2.3.3 Gemeindeverfolgung und Tempelzerstörung (23,29 – 24,2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4.3 Wissende und fordernde Gemeinde: Heilskompetenz und ethische Konfliktsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.3.1 Eigengruppe im Mittelpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 4.3.1.1 Selbstzugeschriebene kognitive Gruppenkompetenzen: Wissende Gemeinde (Mt 13,10–17) . . . . . . . . . . 276 4.3.1.2 Fordernde Gemeinde: Das Liebesgebot als bestimmende Kraft des Gemeindelebens (Mt 18) . . . 289 4.3.2 Spaltung in Israel: Kognitive / ethische Gegenüberstellung der Gruppen als sozialpsychologischer Kontrasteffekt . . . . . 305 4.3.2.1 Von der Akzentuierung zum Mirror image-Effekt und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 4.3.2.2 Kognitive Überlegenheit: „Wenn ihr aber wüsstet…“ 307 4.3.2.3 Antipharisäische Ethik im Matthäusevangelium . . . 311 4.3.2.3.1 Das matthäische Kontrast-Ethos: „Ihr seid alle Brüder“ (23,8–12) . . . . . . . 311 4.3.2.3.2 Das ethische Gegnerbild: „Sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht“ (23,1–7.13–28) . . . . . . . 316 4.3.3 Die matthäische Gemeinde als ekklesia Gottes und locus salutis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Zweiter Hauptteil: Der objektive Status der matthäischen Gruppierung Gefährdete Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 5. Sozialpsychologische Beschreibung der matthäischen Gruppe . . . . . . 351 5.1 Gruppenglaube als Identitätsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 5.2 Feste Gruppenkultur und durchlässige Gruppengrenzen . . . . . . 370 5.3 Gefährdete Gruppenidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 6. Der ‚Stand‘ des matthäischen Konfliktes mit der Synagoge . . . . . . . 380 6.1 Verbale Aggression und Emotionen als Medium der Konfliktaustragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 6.2 Unlösbare Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 6.3 Der Standort der matthäischen Gemeinde nach der heutigen Forschung aus sozialwissenschaftlicher Sicht . . . . . 388

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Zusätzliche Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 I. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 II. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 III. Kommentare zum Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . 404 IV. Exegetische Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 V. Sozialwissenschaftliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Griechische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Einleitender Teil

Nach vorherrschender Meinung der Kommentatoren erzählt Matthäus eine Konfliktgeschichte, die über die narrative Ebene hinaus auch auf Umstände seiner damaligen Lage rekurriert. Die matthäische Gemeinde steht in ihrer Entwicklung vor einer entscheidenden Wende. Sie befindet sich auf externer Ebene in einem heftigen religiösen Streit mit jüdischen Nachbarn, umso heftiger, weil die Gemeinsamkeiten noch schwer wiegen und das Bedürfnis nach theologischen und heilsgeschichtlichen Differenzierungen und Abgrenzungen im Prozess der religiösen Neuorientierung nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. entsprechend groß geworden ist. In diesem Zusammenhang lässt sich die mehrfach (real-geschichtlich und symbolisch) gefährdete jüdisch-christliche Gemeinde auf eine harsche Polemik mit der jüdischen Führerschaft ein. Die angespannte soziale Lage ist m. E. vor allem – jenseits von allen „Antijudaismen“, die hier immer wieder vermutet wurden – für die oft als anstößig empfundene sprachliche Gestaltung dieser Auseinandersetzung verantwortlich. Die Gemeinde bemüht sich aber auch um einen intertextuell geführten Dialog mit ihrem eigenen kollektiven Gedächtnis, das gleichermaßen in einem jüdischen und jesuanischen Boden verwurzelt ist, um die verschiedenen Überlieferungsstränge untereinander zu harmonisieren und sie – neu aufgelegt – für die neu entstandene Situation nützlich zu machen. Darum wird der soziale Konflikt zu einem bedeutenden Faktor in der Bildung einer neuen Identität. Trotz dieser vielversprechenden Ausgangslage wurde bisher keine ausführliche Konfliktanalyse erstellt, die das verfügbare Textmaterial systematisch nach den konfliktrelevanten Kriterien ordnet und mit einem konflikttheoretisch geschulten Blick sozialpsychologische Phänomene unter der Textoberfläche zu identifizieren versucht. Dieser Herausforderung stelle ich mich in der vorliegenden Untersuchung. Der einleitende Teil enthält eine Reihe von theoretischen und methodischen Überlegungen, auf die ich mich im weiteren Verlauf der exegetischen Untersuchung stützen werde. Zugleich stelle ich hier in zusammenfassender Form einige Rahmentheorien der Sozialpsychologie, von der Gruppendynamik, über Identitäts-, Emotions- und Aggressions-Theorien bis hin zu den integrativen konflikttheoretischen Ansätzen als Vorstellungshorizont dar, von denen ausgehend ich die Gesamtstruktur der Konfliktanalyse gestalten werde. Schließlich entwerfe ich aufgrund der beabsichtigten Fragestellung einen Aufbau der Arbeit, der diese ersten Ergebnisse aufnimmt und sie für die weitere hermeneutische Reflexion fruchtbar macht.

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Einleitender Teil

1. Exegetische und sozialpsychologische Hinführung 1.1 Sozialwissenschaftliche Ansätze zum Matthäusevangelium Es gibt mehrere mögliche Zugänge zum Konflikt. In der vorliegenden Untersuchung wird aber vor allem von den Ergebnissen der Sozialpsychologie Gebrauch gemacht, die ein besonderes Interesse an der Erforschung der Kleingruppen und der typischen Phänomene an der Schnittstelle zwischen individuellem Erleben und sozialem Verhalten entwickelt hat.1 Denn ein weiterer Ausgangspunkt dieser Fragestellung ist die Annahme, dass Matthäus hier im Namen einer konkreten Gemeinde denkt und schreibt, deren Hauptanliegen er durch die autoritative Stimme Jesu Gewicht verleiht.2 Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse wurden in der Matthäusforschung erst dann aufgegriffen, als der Kenntnisstand durch das Wachstum der Quellenbasis über die konfliktbehafteten Beziehungen zwischen dem entstehenden Christentum und dem formativen Judentum3 das Stadium erreicht hatte, in welchem durch die Zusammenführung der Ergebnisse aus verschiedenen Richtungen die Entwicklung komplexer Erklärungsmodelle über die textuelle Analyse hinaus nicht nur möglich, sondern auch nötig geworden ist. Wir nehmen zwar die Konfliktaustragung, die Identitätsbildung, die angespannte soziale Interaktion durch einen Evangelien-Text zur Kenntnis, diese sind aber soziale Phänomene, die sich rein exegetisch kaum angemessen erfassen lassen. Der Blick von außen, mit sozialwissenschaftlich ‚trainierten‘ Augen, gewährt manchmal ein akkurateres Verständnis der komplexen Prozesse, die hinter den Texten steckten, oder er ermöglicht sogar, dass bestimmte Sachverhalte und Textzusammenhänge erst wahrgenommen werden. Abgesehen von den vereinzelten Fällen, in denen die Autoren in einheitlichen Studien programmatisch und konsequent interdisziplinäre Ansätze vorlegen4 1 Myers, Social Psychology, 4: „Social psychology lies at psychology’s boundary with socio­logy“. Damit trägt die Sozialpsychologie der Tatsache Rechnung, dass „a group has a social as well as a psychological reality“ (Turner / Reynolds, Identity, 137). 2 Hier kann ich nur kurz auf die aktuell entfachte Debatte über die Adressaten der Evangelien verweisen. Dass das Matthäusevangelium eine bestimmte soziologische Gruppe im Blick hatte, deren Probleme es theologisch verarbeitet, ist eine Grundvoraussetzung dieser Untersuchung. Für einen Überblick über den wichtigsten Stellungnahmen vgl. Klink, Gospel, 60–85. Argumente für die ‚Gemeinde-orientierte‘ Lösung bei Last, Communities, 173–198; Mitchell, Counter-Evidence, 36–79; Sim, Christians, 3–27. Besonders zur matthäisch eigenständigen Gemeinde siehe Ascough, Matthew, 96–126. 3 Die Monographien von Saldarini, Matthew, und Overman, Matthew, haben die ersten Schritte in diese Richtung gemacht. Die letztere Arbeit hat auch für die Entscheidung, mich mit dem Thema zu beschäftigen, eine wichtige Rolle gespielt. 4 Vledder, Conflict; Ettl, Konflikt; Hakola, Identity.

Exegetische und sozialpsychologische Hinführung

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oder dieser exegetische Zweig den Schwerpunkt der Autoren auch ansonsten darstellt,5 sind die meisten und für die Matthäusforschung die einflussreichsten Versuche dieser Art als natürliche Erweiterung einer traditionell orientierten Exegese entstanden.6 Nicht selten hatten sich ihre Autoren schon als bekannte Matthäusspezialisten ausgewiesen und hatten durch Zugriff auf Theorien und Gedankengut aus dem breiten Spektrum der Sozial- und Humanwissenschaften einen weitergehenden Schritt hin zu einer Wahl vielfältigerer Methoden im exegetischen Umgang mit schwierigen Texten gewagt. Diese Entwicklungslinie zeigt nochmals deutlich, dass diese methodische Vorgehensweise kein ‚Anhängsel‘ an eine sonst ‚konventionell‘ geführte Forschung ist, sondern ein fester Bestandteil eines integrativen heuristischen Ansatzes, der es nicht bei der Beschreibung der Sachlage oder bei rein theologischen Ausführungen belässt, sondern der sich vorsichtig in den (Sinn)zusammenhang jenseits der Texte vorantastet, indem auch sozialgeschichtliche bzw. -psychologische Erklärungen in Erwägung gezogen werden. Man muss jedoch vor einem übertriebenen Optimismus warnen. Trotz des gerechtfertigten Versuches, für die sozialen Phänomene hinter den Texten die passenden Methoden auszuwählen, wird andererseits die Grenze dieses Unternehmens darin deutlich, dass der zu untersuchende Gegenstand  – die postulierte matthäische Gruppierung – sich jeder empirischen Beobachtung entzieht. Die Ergebnisse der Sozial- und Humanwissenschaften stützen sich meistens auf experimentelle Untersuchungen. Von der Zielgruppe dieser Untersuchung hat man nur einen selbstreferenziellen Text. Nichtdestotrotz macht sich in den Sozialwissenschaften zunehmend das Bedürfnis bemerkbar, der Sprache in der sozialen Interaktion mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die Bedeutung der sprachlichen Dokumente als Quelle für die empirische Forschung neu zu entdecken. Das menschliche Verhalten, seine Äußerungen oder soziale Errungenschaften sind sprachlich verschlüsselt. Diese Tatsache öffnet ein entsprechend breites Spektrum von möglichen Zugängen zur Sprache. Für die Zwecke meiner Untersuchung, in der das Verhalten der Gruppen untereinander und die daraus entstandene Textproduktion von zentraler Bedeutung sind, kommen besonders drei Fachrichtungen in Frage, die Sprache als Medium sozialer Verhältnisse für ihre Kompetenzen und Denkmodelle in Anspruch nehmen: die Soziolinguistik, die Sprachsoziologie und die Sozialpsychologie der Sprache. Diese Forschungsrichtungen zeichnen sich durch verschiedene methodische Akzentuierungen im Umgang mit der menschlichen Sprachproduktion 5 Siehe z. B. den anthropologisch geprägten Überblick von Malina, Social-Scientific, 154–193. 6 Stanton, Matthew’s Gospel, 85–107; Luz, Antijudaismus, 310–327, oder Ders., Mt III, 399–401; Luomanen, Sectarism, 107–130; Saldarini, Matthew, besonders 84–123; Ders., Conflict, 38–61; Sim, Strategies, 491–515; die verstreuten Bezüge bei Overman, Matthew;­ Gielen, Konflikt; Repschinski, Stories.

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Einleitender Teil

aus. Dabei treten gewisse Überlappungen oder fruchtbare gegenseitige Ergänzungen auf, trotz ihrer unterschiedlichen Entwicklungen und theoretischen Gerüste. Das dichte, komplexe Geflecht, in dem Sprache, Gruppe, Gesellschaft verwoben sind, lässt die tendenziell eigenwilligen wissenschaftlichen Disziplinen in diesem Fall nicht völlig auseinander gehen. Hier nur eine kurze Darstellung der jeweiligen Kerngebiete. Untersuchung des Sprachgebrauchs im sozialen Kontext lautet die ungefähre Definition und Abgrenzung der Soziolinguistik.7 Sie entstand innerhalb der ‚asozialen‘ Linguistik, aber als eine Reaktion auf diese, und beschäftigt sich mit der sozialen Organisation des sprachlichen Verhaltens, inventarisiert z. B. die verschiedenen Sprachen, Dialekte, Slangs und ihre linguistischen Eigenschaften nach den Merkmalen der Sprachträger und der unmittelbaren sozialen Kontexte. Berufliche, regionale oder stilistische Unterschiede mit ihren phonologischen, lexikalischen und grammatikalischen Begleiterscheinungen, wie auch individuelle oder gruppenbezogene linguistische Anpassungen in einer vielsprachigen Gesellschaft werden beschrieben, verglichen und kategorisiert.8 Die Soziolinguistik wird sehr oft mit der Sprachsoziologie kontrastiert, um ihr Kerngebiet besser zu profilieren.9 Letztere setzt neue Schwerpunkte und führt eine andere Perspektive ein. So interessiert sich die Sprachsoziologie eher für die sprachlichen Phänomene in der Makrogesellschaft und untersucht zum Beispiel die ökonomischen und demographischen Faktoren, die das Überleben oder das Aussterben einer Minderheitssprache beeinflussen,10 fragt nach den Einflüssen sozialer Rollen und Klassen oder verschiedener gesellschaftlicher Themen­ bereiche wie Gesundheit, Politik und Erziehung mit ihren unterschiedlichen Sprachstilen und -mustern. Überschneidungen sind nicht zu vermeiden, die unterschiedliche Fokussierung ist gleichwohl nicht aus den Augen zu verlieren.11 Die Sozialpsychologie hat sich nur zögernd dem Phänomen Sprache zugewandt und bis in die 80er Jahre galt die plastisch von Carl Friedrich Graumann formulierte Aussage: „Was die Forschung betrifft, ist die Sozialpsychologie in weiten Bereichen sprachlos“.12 Da für mein Vorhaben sozialpsychologische Sachverhalte wie die rege Wechselbeziehung zwischen Gruppendynamik, Identität 7 Huston, Sociolinguistics, 4; Radford u. a., Linguistics, 14–16. 8 Hogg / Abrams, Identifications, 193. Das ganze Kapitel 9: Language, Speech and Communication, ist den sprachlichen Belangen der sozialen Kommunikation gewidmet. 9 Clément / Noels, Langage, 239; Huston, Sociolinguistics, 4; Janicki, Sprachsozio­ logie, 67. 10 Giles / Coupland, Language, 100. 11 Clément, Social Psychology, 223. 12 Graumann, Sprache, 58. Vgl. auch Hogg / Abrams, Identifications, 191: „Language is exiled from the province of social psychology“; Bavelas, Solitudes, 180 f. Eine Erklärung dieser Vernachlässigung versuchen Fraser / Scherer, Introduction, 3. Für einen Überblick über die wichtigsten theoretischen und experimentellen Ansätzen vgl. Kraus / Chiu, Language, 4­ 1–88; Noels u. a., Language, 232–256.

Exegetische und sozialpsychologische Hinführung

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und Konflikt eine zentrale Rolle spielen, schließe ich noch einige Erläuterungen über diese neue Forschungsrichtung an. Die Entstehung einer Sozialpsychologie der Sprache13 ist eine Reaktion auf einen empfundenen Mangel in den schon vorhandenen Ansätzen. Die traditionelle Soziolinguistik14 sei zu taxonomisch und beschreibend, aber zu wenig erklärend und prädiktiv; die subjektiven Variablen, Motivationen und Selbstdefinitionen seien wegen einer Fokussierung auf soziodemographische Kontexte vernachlässigt; sie sei den sozialen Sprachgebrauch betreffend zu deterministisch, und nehme die potenzielle Rolle der Sprache in der Re-Dimensionierung der sozialen Wirklichkeit nicht genügend ernst.15 Die Sozialpsychologie ist durchaus fähig, diese Hindernisse zu überwinden, denn sie bringt auch die dynamische Vermittlung von Motivation und Identität auf individueller Ebene und auf Gruppenebene ins Spiel. Man plädiert deswegen für eine symbiotische Beziehung zwischen der Sozialpsychologie und Soziolinguistik,16 die nur zusammen der Komplexität der sprachlichen Prozesse als Teil der sozialen Interaktion in ihrer Tiefe und Breite gerecht werden kann. Die Sozialpsychologie berücksichtigt die bestehende Vernetzung zwischen dem individuellen Verhalten und den sozialen Faktoren und sie untersucht, wie die Wechselwirkung aus kognitiven und affektiven Faktoren sowie persönlichen Beweggründen der Individuen mit dem sozialen Milieu ein bestimmtes Sprachverhalten hervorruft.17 Die Diskurse und die Texte, in denen sich die Sprache niederschlägt, sind nie neutral, sondern tragen immer einer bestimmten sozialen Konstellation Rechnung und umgekehrt: Die feststehenden sprachlichen Belege sind immer Beweise für einen Kontext und dessen Nachwirkungen.18 Besonders die Kontakte zwischen Gruppen, von den harmlosen Formen des täglichen Nebeneinanderlebens bis hin zu der ‚heißen‘ Problematik der Identitätsbehauptung oder zu den allfälligen Konflikten, begünstigen eine reiche sprachliche Produktion, worin jede Seite ihr Anliegen subjektiv verdeutlicht und sich selbst in einem möglichst positiven Licht präsentiert. Durch die wissenschaftliche Wieder­entdeckung der engen Vernetzung der Sprache mit traditionellen Gebieten wie Stereotypen-, Attribution-, oder Aggressionsforschung hat die Sozial­ psychologie ihre betont soziale Komponente neu entdeckt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die sozialpsychologische Untersuchung der Sprache eine regel 13 Für eine kurz gefasste Entstehungsgeschichte vgl. Giles / Fortman, Sozialpsychologie, 99–108. 14 Eine ähnliche Kritik gilt auch für die Sprachsoziologie, vgl. Clément / Noels, Langage, 239. 15 Für weitere Details und Literaturverweise vgl. Hogg / Abrams, Identifications, 193 f. 16 Giles, Sociolinguistics, 3.  Dass eine exakte Trennungslinie schwer zu ziehen ist, sieht man auch in unerwarteten Aussagen wie die folgende: „The study of language in experimental social psychology is called sociolinguistics“ (Rogers, Social Psychology, 114). 17 Fraser / Scherer, Introduction, 5. 18 Bardac / Giles, Language, 202.

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rechte Blütezeit erlebt. Die Analyse der sozialen Spannungen mit sprachlichen Hintergründen hat die Forschung geprägt.19 Für die vorliegende Untersuchung sind der Ausdruck der eigenen Identität in der sprachlichen Äußerung und die sprachliche Austragung von Konflikten von zentraler Bedeutung. Die Sprache interessiert mich also hier nicht als Ur­sache, wie in einem interethnischen Konflikt, sondern als Interaktionsmittel. Und das nur, insofern man aus einem narrativen Text Schlüsse auf die erlebte Wirklichkeit ziehen kann. Narrative Texte20 können anhand verschiedener Strategien, auf symbolische Weise, ein bestimmtes Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Die Untersuchung von Gruppentexten und die Beobachtung der wichtigen, narrativ konstruierten Merkmale des Selbst gewähren uns Einblicke in das Identitätsrepertoire einer Gruppe, geben uns Auskunft darüber, wie es verwaltet wird und welche Arten von Konflikten und Widerständen damit verbunden sind.21 Die Gruppenidentität kann auf narrativer Ebene und abhängig von konkreten sozialen Konstellationen ausgehandelt werden. Die Erzählungen bilden ein kreatives Ressourcenpotenzial und stellen der Gruppe ein ganzes Inventar von Identitäten zur Verfügung, zwischen denen man auch pendeln kann.22 Man spricht in diesem Sinne von polyphonischen Stimmen, die in einem narrativen Geflecht einer Erzählung eingewoben sind.23 Die Gestaltung einer narrativen Identitätskonstruktion ist keine rein private Angelegenheit, sondern muss einem minimalen Konsens zwischen den Gruppen und innerhalb der Gruppe treu bleiben.24 Die entwickelte Identität kann vom kulturellen Milieu nicht absehen, ihre Kohärenz und Legitimität werden nur im Rahmen eines sozial akzeptierten ‚Kanons‘ gewährleistet („social generation of narrative construction“).25 Um ihr eine gewisse Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft zu verleihen, sollte sich eine neue Story mit der sozialen Wirk­lichkeit korrelieren lassen. Die Bausteine einer Erzählung – was sie erzählt und wie sie erzählt – sollten von allgemein anerkannten Vorstellungen nicht zu sehr ab­weichen. Der Konflikt mit der Synagoge, der in dem matthäischen Text widergespiegelt wird, beeinflusst die Darstellungsweise des Evangelisten zutiefst. Der apolo 19 Ein großer Teil der Literatur ist dieser Problematik gewidmet, vgl. z. B. nur einige klassische Studien: Giles / Johnson, Role, 199–243; Edwards, Language, 129–146; Sachdev /  Bourhis, Language, 211–229. 20 Die Thematik wird besonders in den diskursanalytischen Veröffentlichungen oder in der diskursiven Sozialpsychologie aufgegriffen. Ich beziehe mich auf einige Studien, die auch als vertiefende Lektüre geeignet sind: De Fina, Identity, 351–375; Gergen / Gergen, Social Construction, 171–189; Ainsworth / Hardy, Discourse, 153–173. 21 De Fina, Identity, 351 f. 22 Ainsworth / Hardy, Discourse, 162. 23 De Fina, Identity, 356. 24 Gergen / Gergen, Social Construction, 185: „The individual is limited at the outset to a vocabulary of action that possesses currency within the culture“. 25 Gergen / Gergen, Social Construction, 185.

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getische Charakter zielt darauf hin, die Gemeinde in der Umbruchsituation mit wirksamen Erkenntnissen zu versorgen und ihr eine heilsgeschichtliche Plausibilitätsstruktur anzubieten, in deren Rahmen ihr mit Jesus verbundenes Geschick seine volle Bedeutung beibehält. ‚Der polemische Jesus‘ untergräbt die Glaubwürdigkeit seiner Kontrahenten und gibt den matthäischen Christen theologische Rückendeckung. Es geht aber hier nach der matthäischen Darstellungsweise nicht um Meinungsverschiedenheiten zwischen Gleichgestellten, sondern um die autorisierte Stimme Gottes, die das Wort ergreift.

1.2 Sozialpsychologische Grundlegung der Konfliktanalyse Die Konflikttheorien gehören zu den paradoxen Denk- und Handlungsrichtungen, die sich darum bemühen, das Gegenteil ihres Untersuchungsgegenstandes zu bewirken, nämlich den Frieden. Weil die Konflikte eine Konstante des Alltags und unvermeidbare Begleiterscheinungen menschlichen Zusammenlebens darstellen und zugleich auch positive, kreative Züge aufweisen, wäre ihre totale Beseitigung einerseits ein unrealistisches Ziel, andererseits auch nicht wünschenswert. Konflikte an sich sind nicht gefährlich, sondern sie sind dies nur durch die bedrohlichen Folgen, die sie herbeiführen können. Deswegen ist die Regulierung der Konflikte das Thema zahlreicher Studien, die Konfliktabläufe strukturieren und systematisieren. Die meisten konkreten Konfliktanalysen sind auf die Konfliktlösung ausgerichtet26 und auf die Verhinderung gewaltsamer, verheerender Nebenwirkungen, die sie unter bestimmten, aber immer noch nicht genau bekannten Bedingungen auslösen.27 „Frieden schaffen“ als evangelische Tugend (Mt 5,9) wird in diesem Zusammenhang zur eigenständigen Wissenschaft. In unserem Fall muss diese wesentliche Komponente der Konfliktforschung ausfallen und der Akzent auf das bessere Verstehen des Konfliktes selbst gesetzt werden. Dies hat den Zweck, ähnlichen Phänomenen in dem untersuchten biblischen Text möglichst effektiv auf die Spur zu kommen und dadurch im Umkehrschluss der konkreten Konfliktsituation der matthäischen Gemeinde auch eine gewisse Kontur abzugewinnen. Zu diesem Zweck versuche ich die im Text vorhandenen Spuren des Konfliktes zu systematisieren und auszuwerten. Die reale Konfliktlage ist empirisch nicht mehr zugänglich, der einzige (einseitige) ‚Zeuge‘ und der einzige ‚Bericht‘ über 26 McNeil, Nature, 14: „The importance of gaining insight into the nature of conflict […] suggests that that man’s search for a solution ought to leave no possibility unexplored“. 27 Ansicht von zahlreichen Studien, die in das Zentrum ihrer Konfliktanalysen gerade die Lösung der Konflikte stellen, vgl. Pfetsch, Einleitung, 12. Einige Beispiele: Glasl, Konfliktmanagement, nimmt im theoretischen Teil ständig Bezug auf die praktische Anwendbarkeit der Konfliktlösung, und der dritte Teil  behandelt ausführlich die Konflikthandhabung. Dieselbe Ausrichtung gilt auch für Pruitt / Kim, Conflict, oder Coltri, Conflict Diagnosis usw.

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die Entstehung, Entwicklung und Eskalation dieses Konfliktes ist das Matthäusevangelium selbst. Man wird also umgekehrt vorgehen müssen. Man sucht im Text möglichst eindeutige konfliktrelevante Elemente und nimmt die vorgegebenen Theorien zur Hilfe, um dafür plausible Kontexte und Erklärungen heuristisch zu finden. Das Kriterium für die Auswahl der vorgestellten Theorien ist also primär das Evangelium selbst, auf Basis der bisher exegetischen Ergebnisse, über die bereits allgemeiner Konsens besteht. Ein Ausgleich zwischen Text und sozialpsychologischer Theorie ist nicht möglich und wird auch nicht angestrebt. Des­ wegen ist der Beitrag eines solch interdisziplinären Ansatzes zur exegetischen Aufschlüsselung der biblischen Texte begrenzt und nur selektiv möglich. In den folgenden Abschnitten werden sozialpsychologische Begriffe und theoretische Ansätze eingeführt und erklärt,28 die in der Konfliktforschung oft in das Gespräch gebracht werden, wobei ich mich in diesem einführenden Teil eher auf Rahmentheorien beschränke; weiteres Material wird im exegetischen Teil gelegentlich eingeführt. Ich gehe von der, auch für die Erforschung der Konflikte, fundamentalen Gruppendynamik aus; dazu kommen Einsichten aus der Identitäts-, Kognitions-, Emotions- und Aggressionsforschung, die die Facetten der Konfliktentstehung und Konfliktentwicklung verschieden beleuchten können. Anschließend werden die Hauptlinien einer Konfliktbeschreibung von der Begriffsbestimmung bis zur Eskalation skizziert.

1.2.1 Die Gruppe als Identitätsträger Die Gruppe als soziale Einheit ist ein allgegenwärtiges soziales Phänomen. Jeder Mensch besitzt eine subjektive Erfahrung als Mitglied von zahlreichen und verschiedenartigen, öffentlichen und privaten Gruppen, die schlussendlich die menschliche soziale Dimension ausmachen. „Der Mensch ist Zeit seiner historischen und individuellen Existenz darauf angewiesen, Mitglied einer ihn bergenden Gruppe zu sein“.29 Gerade deswegen ist sie schwer zu definieren,30 wie jedes komplexe Gebilde, das man nur schwierig einer Analyse unterziehen kann,

28 Die Sozialpsychologie findet in der Konfliktforschung immer mehr Beachtung. Hier einige konfliktanalytischen Studien, die sich gezielt sozialpsychologischen Betrachtungsweisen bedienen: Cook-Huffman, Identity, 19–31; Kelman, Approach, 170–183; Northrup, Dynamic, 55–82; Kelman, Dimensions, 191–237; Rouhana / Bar-Tal, Intractable, 761–770; Condor / Brown, Processes, 3–26; Lilli / Rehm, Processes, 29–45; Hewstone, Attributional, 47–71; Klar u. a., Conflict, 73–85; Deutsch, Features, 26–56; Stagner, Psychology, 45–63; Demirdöğen, Conflict, 215–227; Bar-Tal / Teichman, Stereotypes, besonders die theore­ tischen Ausführungen 20–91. 29 Battegay, Mensch, 16; Forgas, Interaktion, 270. 30 Ein Überblick über die wichtigsten Definitionen der Gruppe, besonders in der älteren Forschung bei Kruse, Gruppen, 1546–1553. Vgl. auch Thomas, Grundriss, 5–8, für eine gute Zusammenfassung über die Gruppe als Forschungsgegenstand und Erfahrungsfeld.

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weil der Beobachter selbst tief involviert ist. Zudem nehmen die Gruppen so viele Gestalten an und lassen sich von so vielen Gesichtspunkten her betrachten, dass eine für alle zufriedenstellende Definition schwer zu erreichen ist. Das ist der Grund, warum „anstelle breit angelegter, umfassender theoretischer Konzepte […] man heute eher Arbeitsdefinitionen der Gruppe [findet]“.31 Zwei Disziplinen beschäftigen sich besonders mit der Untersuchung von Gruppen: die Soziologie und die Sozialpsychologie, wobei die letztere die Gruppenforschung von Anfang an zu ihrem zentralen Forschungsgegenstand erklärt hat. Die alte Aufteilung, dass die Sozialpsychologie eher die Stellung des Individuums im Rahmen der Gruppe betrachtet, und die Soziologie ihr Hauptaugenmerk auf die Struktur der Gruppe als soziales System richtet, wurden mittlerweile zugunsten einer multivalenten Annäherung weitgehend aufgehoben. Nun ist die Gruppe der Untersuchungsgegenstand der ‚Sozialwissenschaften‘, die sich durch eine ausgeprägte Interdisziplinarität auszeichnen.32 Man merkt, dass die Hauptingredienzien eigentlich dieselben sind, wenn Standarddefinitionen des Gruppenbegriffs in beiden Fächern verglichen werden. Aus Sicht der Soziologie umfasst die Gruppe eine bestimmte Zahl von Mitgliedern, die zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenzieles und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich.33

Durch die Augen der Sozialpsychologen betrachtet, sieht eine Gruppe sehr ähnlich aus: Von einer Gruppe kann man dann sprechen, wenn zwei oder mehr Personen miteinander in Beziehung stehen, gemeinsame Ziele verfolgen und bestimmte Normen beachten, die dann ihr Verhalten steuern, und die gegenseitige Rollenerwartungen und affektive Beziehungsstrukturen untereinander entwickeln.34

Ich werde hier auch keine dichotomischen Verhältnisse zwischen Disziplinen vertreten, der Fokus liegt aus pragmatischen Gründen auf der Gruppe als solcher und auf ihrer Fähigkeit, sich psychologisch in der Umwelt zu orientieren. Der zu 31 Kruse, Gruppen, 1541. 32 Good, Art. Social Sciences, 584: „The disciplinary specialisation we see nowadays […] is often decried as inhibiting the proper study of social phenomena, and interdisciplinarity re­ peatedly comes into voge“; auch Hansen / Rapley, Art. Group(s), 255–257. 33 Schäfers, Gruppe, 129; vgl. auch Feldmann, Soziologie, 178. 34 Thomas, Grundriss, 11; vgl. auch die ähnliche aber mehr synthetische Definition von Aronson u. a., Sozialpsychologie, 320: „Zwei oder mehr Menschen, die untereinander interagieren und in dem Sinne interdependent sind, dass ihre Bedürfnisse und Ziele eine gegen­ seitige Beeinflussung bewirken“.

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untersuchende Text – das Matthäusevangelium – bietet uns einen Einblick in die Dynamik einer religiösen Gruppe gegen Ende des ersten Jh. n. Chr. Die Kohäsion und Identität dieser Gruppe werden durch heftige Auseinandersetzungen mit ideologisch ähnlich gesinnten Gruppen auf die Probe gestellt. Zugleich stehen ihr schwierige Entscheidungsprozesse bevor. Unser Untersuchungsgegenstand empfiehlt also eher eine sozialpsychologisch orientierte Vorgehensweise. Für den vorliegenden Zweck empfiehlt sich ein eher minimalistischer, inklusiver Gruppenbegriff.35 Unser Untersuchungsgegenstand ist empirisch nicht zugänglich, deswegen sind die Ziele niedrig gehalten. Nur soweit die biblischen Texte selbst Themen abdecken, die einem allgemein anerkannten thematischen Gruppenraster und Verhaltensmuster entsprechen, besitzen wir gewisse Orientierungspunkte, Kriterien, Merkmale, logische Zusammenhänge für einen effektiven und strukturierten Zugang zu dem Innenleben einer Gruppe. Hier kann man Begriffe wie „Interaktion“, „Wir-Bewusstsein“, „Norm- und Wertsystem“, „Ziele und Inte­ressen“, „Dauer und Kontinuität“, „Identität“ oder „Art der Außenbeziehungen“ aufzählen. Ich werde von einer dreidimensionalen Auffassung der Gruppe ausgehen, die wie ein roter Faden mindestens implizit in den meisten Gruppenuntersuchungen vorausgesetzt wird und die Interaktion, soziale Struktur und Identität einbezieht. Das Kriterium der Identität besagt, dass die Individuen ein kollektives Bewusstsein von sich selbst als distinkte soziale Entität haben sollen, sie müssen sich selbst als Gruppe mit einer gemeinsam geteilten Identität wahrnehmen und als solche auch von sozialen Partnern wahrgenommen werden.36 Die Dimension der sozialen Struktur hebt die Tendenz der regulären Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern hervor, sich mit der Zeit zu festigen und sich in relativ dauerhaften Überzeugungen, Werten, Normen und Rollen niederzuschlagen. Die Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern ist schließlich als das theoretisch wichtigste Kriterium anzusehen.37 In den sehr kohäsiven Gruppen38 wird 35 Wie z. B. der Vorschlag von Levine / Moreland, Socialisation: „People who interact on a regular basis, have affective ties with one another, share common frame of preference, and are behaviourally interdependent“ bis zum Einbegriff-Definition von Levine / Moreland, Groups, 416: „groupiness“  – eine Eigenschaft, die Menschen dazu bringt, sich als Gruppen­ mitglieder zu fühlen, zu denken und dementsprechend zu handeln. 36 Die Gruppe ist „selbstreferentiell“, d. h. „alles, was die Beteiligten tun, denken und fühlen steht nicht nur mit den inneren Zuständen der einzelnen Mitglieder und nicht nur mit den äußeren Bedingungen in Beziehung, sondern auch mit sich selbst“ (Schattenhofer, Gruppe, 120). 37 Homans, Theorie, 102, hat seinen ganzen Ansatz exklusiv auf die Interaktion zwischen Gruppenmitglieder aufgebaut: „Eine Gruppe ist also definiert durch die Interaktion ihrer Teilnehmer“. 38 Wie sich der Befriff ‚Kohäsion‘ gewandelt hat, zeigt auch, wo die Probleme mit seiner Definierung stecken. Nach der früheren holistischen und wenig operationalisierbaren Definition („The total field of forces which act on members to remain in the group“, vgl. Dion, Co-

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die einfache Interaktion von Angesicht zu Angesicht zur funktionalen Interdependenz. Man entwickelt positive, interpersonale Einstellungen und übt Einfluss aus oder lässt sich beeinflussen. Solche Gruppen mit einem hohen Interaktionsgrad und mit starken affektiven Beziehungen zwischen den Mitgliedern werden in der Soziologie Primärgruppen genannt.39 Ihnen werden bestimmte qualitative Eigenschaften zugeschrieben, von denen ich hier nur einige aufzähle: Sie zeichnen sich durch eine enge unmittelbar persönliche Verbindung zwischen den Mitgliedern aus; sie sind fundamental an der Herausbildung der sozialen Identität der Individuen beteiligt; sie sind langfristig, basieren auf einem zentralen Ziel und bilden für ihre Mitglieder den Lebenssinn.40 Im Zusammenhang mit der Gruppenforschung ist besonders der formative Charakter der Normen hervorgehoben, denn gerade ihre Existenz macht zunächst das Bestehen einer Gruppe möglich.41 Erforschung der Normen ist fast eine Unterdisziplin der Sozialwissenschaften; sie werden in sehr verschiedenen Bereichen wie Ökonomie, Ethik, Politik oder Spieltheorien thematisiert. Mit Rekurs auf Normen kann man bestimmen, wer einer Gruppe zugehört und wer nicht. Dadurch erlangen sie innerhalb der Gruppe eine exklusive und universalistische Funktion. Im Fall der kleinen Gruppen wird ihre Stellung und Bedeutung zusätzlich auch durch die typische Vertrauensstruktur gestärkt.42 Der Konformismus in Gruppen und die Mechanismen durch die einem einheitlichen Normensystem zugestimmt wird, ist ein Kernthema der Sozialpsychologie.43

hesion, 9) hat man bei dem Individuum angesetzt und versucht die Kohäsion durch die Nummer und die Stärke der gegenseitigen positiven Beziehungen zwischen Einzelnen zu erklären. Doch funktioniert dies nur für face-to-face Gruppen, nicht aber für größere Einheiten (Kritik an diesem Modell üben Hogg, Cohesiveness, 96–98; Brown, Group, 45 f, aus). Als Alternativen kann man erwähnen: die emotionale Lösung (starke subjektive Involvierung, Wir-Gefühl, Bollen / Hoyle, Cohesion; Forsyth, Group, 139 f); die Rolle der Führungsschicht als Identifikationsmuster (Levine / Moreland, Groups, 428); für die prototypische Lösung vgl. S. 27–28. 39 Der Begriff ist von Cooley, Organisation, eingeführt worden, und findet immer noch breite Anerkennung unter den Soziologen. Vgl. dazu auch Hanson / Rapley, Art. Group(s), 256 („a key distinction in sociology“); Olmsted, Kleingruppe, 24 f, Setzen, Gruppe, 21 f; Wilson, Groups, 17 f; Kruse, Gruppen, 1561 f; siehe auch weiter 5.1. 40 Schäfers, Gruppe, 129 f, und Feldmann, Soziologie, 178. 41 Forsyth, Group, 175: „Norms do not just maintain order in the group; they also maintain the group itself “; Dubé-Simrad, Genesis, 189. 42 Cook / Hardin, Norms, 329. 43 Die Gruppe übt in zwei Formen Einfluss auf ihre Mitglieder aus: informativ und normativ. Wer sich auf das Wissen der anderen verlässt und ihre Meinungen als zuverlässige Basis für die eigene Auffassung hält, steht unter einem informativen Einfluss. Das Bedürfnis, akzeptiert und bestätigt zu werden, macht den normativen Einfluss aus, der die gegenseitige Abhängigkeit der Gruppenmitglieder voneinander vergrößert; vgl. dazu Stangor, Groups, 89 f; Nijstad, Group, 33.

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Normen zu erzeugen und zu gewährleisten ist eine der unabdingbaren Aktivitäten einer gerade entstehenden Gruppe.44 Sie haben eine stabilisierende Funktion, „machen Verhalten in Grenzen vorhersehbar, geben Sicherheit und helfen dem einzelnen seine Identität zu finden und zu bewahren“.45 Die Normen sind deswegen sehr oft mit gewissen Sanktionen verbunden. Einerseits bilden sie einen Rahmen, innerhalb dessen die Akteure eine bestimmte Lage deuten und von dem ausgehend sie ihre Aufgaben ableiten; andererseits sind sie wirkungsvolle Determinanten unseres Verhaltens und machen Aussagen darüber, was getan oder verboten werden sollte.46 Die Gruppenzugehörigkeit schlägt sich auch auf sprachlicher und kommunikativer Ebene nieder. Manchmal genügen einige Sprachwendungen, standardisierte Ausdrücke oder Symbole, die in einem Text oder in einem Gespräch vorkommen, um eine bestimmte Zugehörigkeit aufzudecken.47 Die Gruppen bilden solche im Vergleich zum Mainstream teils abweichende, komplexe Zeichensysteme, die aus den spezifischen Bedeutungen, Symbolen und Regeln bestehen, worin gemeinsame Erfahrungen oder Ziele ‚objektiviert‘ und für alle zugänglich gemacht werden. Diese Sinnwelten sind das Endprodukt einer stetigen Interaktion über lange Zeitstrecken hinweg und erfüllen auch die wichtige Aufgabe als „­Medium der Vermittlung und als Instrument zur Ausarbeitung von Orientierungen für gegenwärtiges und zukünftiges Verhalten“.48 Um einige feste Punkte wird die Gruppengestalt ständig rekonstruiert. Bedeutungsinhalte oder Wortverwendungen bilden eine Art ‚Eigenbegrifflichkeit‘, d. h. ein komplexes 44 Forsyth, Norms, 414: „In most instances norms develop through reciprocal influence“. Opp, Entstehung, 11, versteht die Entstehung einer Norm eher vom Individuum und nicht von der Gruppe her: „Eine Norm entstehet, wenn ein Individuum zum ersten Mal eine bestimmte Erwartung äussert“. Für ihn sind nicht die Gruppen, sondern die Individuen die Normen­träger. Wie schon bemerkt, habe ich hier eine andere Auffassung aufgenommen, die die Normen auf die Gruppendynamik zurückführt. Vgl. z. B. Hardin, One, 77: „All or nearly all norms are community-based“. 45 Sader, Psychologie, 199; König / Schattenhofer, Gruppendynamik, 44: Normen machen „das Zusammenleben in Gruppen überhaupt erst möglich“. 46 Horne, Sociological, 4; Homans, Theorie, 136; Aronson u. a., Sozialpsychologie, 321; Mills, Soziologie, 109; König / Schattenhofer, Gruppendynamik, 43; Forsyth, Norms, 412. 47 Im Rahmen der Soziolinguistik wurde längst erkannt – „language can act as a vehicule for conveying important social information about the speakers […]; certain linguistic features come to be associated with particular local social characteristics“ (Dyer, Language, 101). Thornborrow, Language, 142, berücksichtigt Aspekte wie „shared linguistic norms within a group“, „the role of speech communities“ und „the definition of social categories and group boundaries“; vgl. auch Milroy, Language, 33: „Language use is closely connected with the local values system“; Hartung u. a., Kommunikation, 517 ff, zum Thema „Kommunikationsgemeinschaften mit spezifischen Formen und Strukturen der Kommunikation“; ­Gumperz /  Cook-Gumperz, Introduction, 1–21; Tabouret-Keller, Language, 316. 48 Badura, Sprachbarrieren, 81.

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Sinngebilde, das die kognitive und affektive Antwort der Gruppe auf ihr unmittelbares Milieu gemäß ihrem kreativen Potenzial in einem genuinen und gemeinsam geteilten Sprach- und Denksystem zusammenfasst. Die Gruppenkultur49 enthält das geteilte Wissen in einer Gruppe und eine Reihe von zusammenhängenden Bräuchen.50 Diese sind gruppenspezifisch und teils sind sie schon eine Voraussetzung für die Entstehung einer Gruppe, teils entwickeln sie sich durch den Gruppenprozess selbst. Manchmal ist das Vorhandensein einer gemeinsamen Kultur sogar ein Indikator für die Existenz der Gruppe überhaupt.51 Mit den Worten von Michael S. Olmsted: Jede Gruppe hat eine eigene Subkultur, eine ausgewählte und modifizierte Version einiger Bestandteile der Gesamtkultur. Die Bedeutung dieser Subkultur liegt nicht so sehr in der Bereicherung der Gesamtkultur, sondern in der Tatsache, dass ohne die eigene Kultur, keine Gruppe etwas anderes sein würde als eine Vielfalt, eine Masse von einzelnen.52

Das geteilte Wissen ist in diesem Sinne die konkrete, wahrnehmbare Seite einer Sinnbildung, die eine spezifische Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt zustande bringt. Was eine Gruppe zusammenhält ist schliesslich ein Bild von sich und von der Aussenwelt, das durch Interaktion, Vergleichs- und Legitimierungsprozesse für die Gruppenmitglieder plausibel, ja sogar wahr erscheint und ständig neu aufgelegt wird.

1.2.2 Die Theorie der sozialen Identität (Social Identity Theory – SIT) Das Verhältnis Individuum-Gruppe wird heute auf beiden Seiten des Atlantiks tendenziell unterschiedlich bestimmt. Während man in der amerikanischen Sozialpsychologie fast von einem Verschwinden der sozialen Komponenten spricht,53 gilt die Beschäftigung mit der sozialen Einbettung der Einzelnen sogar als Charakteristikum der europäisch sozialpsychologischen ‚Stimme‘.54 Die-

49 Dazu vgl. ausführlicher 5.1. 50 Einen informativen Überblick findet sich bei Levine / Moreland, Groups, 428 f. 51 Bar-Tal, Conception, 39: „Group beliefs are essential elements of the definition of any type of group.“ 52 Olmsted, Die Kleingruppe, 90. 53 Greenwood, Disappearance, 1: „In this work, I argue that contemporary American social psychology has virtually abandoned the study of the social dimensions of psychological states and behaviour“. 54 Taylor / Moghaddam, Theories, 63: „Among the important European traditions that influenced the development of European social psychology […] were the concern for evaluating phenomena within the wider social context in which they occur“. Das führte zur Bestrebung „to make social psychology truly social“.

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ser Tatbestand hat natürlich seine Vorgeschichte, die vorwiegend mit dem Namen von Henri Tajfel und seinen Mitarbeitern verbunden ist, der in den siebziger Jahren das Fundament einer Theorie gelegt hat, die das Soziale als grundlegende Bestimmung des menschlichen Daseins wieder ins Zentrum stellte. Die Annahme einer sozialen Identität oder einer definitorischen sozialen Seite des menschlichen Selbstkonzeptes hat anschließend vielerlei Forschung angeregt. Auch wenn manche Elemente der Gesamttheorie oft in die Kritik geraten sind, gelten die Grundannahmen des tajfelschen Erbes heute noch als ein wichtiges Konzept für die Beschreibung der intermenschlichen und intergruppalen Beziehungen. Hier werde ich zuerst den Ansatz in seiner originalen Form vorstellen und dann einige der weiteren Entwicklungen gleich oder in späteren Abschnitten55 an passender Stelle aufnehmen. Das primäre Ziel der Theorie der sozialen Identität56 ist es, eine Erklärung für kompetitives Verhalten zwischen Gruppen zu liefern, auch wenn ein ‚Apfel der Zwietracht‘ fehlt. Warum begünstigen die Menschen die Eigengruppe, indem sie einerseits das Ergebnis für die Eigengruppe, andererseits den Unterschied zur Fremdgruppe maximieren wollen?57 Die Theorie der sozialen Identität definiert das Verhältnis zwischen interpersonalen und intergruppalen Verhalten neu. Es wird von einem Kontinuum ausgegangen, das diese beiden Polen verbindet. Die Fähigkeit, soziale Beziehungen zu bilden, wird auf diese enge Verbindung zurückgeführt. Die aktuelle punktuelle Identität ist situationsabhängig und definiert sich in eher individuellen oder sozialen Zügen.58 Die SIT setzt sich aus vier theoretischen Elementen zusammen, die sie in einem funktionalen Modell verknüpft: die soziale Kategorisierung, die soziale Identität, der soziale Vergleich und die positive soziale Distinktheit.59

55 Vgl. zur Theorie der Selbstkategorisierung (SCT) 4.3.2.1; zum Model der Sprachverzerrungem im Intregruppenkontext (Linguistic intergroup Bias – LIB) vgl. S. 122. 56 Vgl. dazu Tajfel, Gruppenkonflikt; Tajfel / Turner, Theory, 73–98. Knappe Zusammenfassungen der Theorie findet man bei Mummendey / Otten, Theorien, besonders ­98–104; Mummendey, Verhalten, 337–341; Thomas, Grundriss, 221–232. 57 In den so genannten Minimalgruppenexperimenten (minimal group paradigm) wurden die Teilnehmer in zwei beliebige Gruppen aufgeteilt, ohne Interaktion innerhalb der Gruppe oder zwischen den Gruppen. Die Zuordnung erfolgte zufällig und die Mitglieder blieben anonym. Dann wurden die Jungen gebeten, kleine Geldbeträge zwei anderen Teilnehmern zuzuteilen, von denen nur deren Gruppenzugehörigkeit mitgeteilt wurde. Die Versuchsteilnehmer bevorzugten selbst unter solchen minimalen Bedingungen die Mitglieder der eigenen Gruppe und wiesen die deutliche Tendenz auf, die positive Differenz zwischen Eigen- und Fremdgruppe zu maximieren. 58 Mummendey / Otten, Theorien, 100; Tajfel / Turner, Theory, 74; Thomas, Grundriss, 220. 59 Tajfel, Gruppenkonflikt, 101; Herkner, Sozialpsychologie, 490; Mummendey / Otten, Theorien, 100; Thomas, Grundriss, 225; Kessler / Mummendey, Vorurteile, 500; Taylor /  Moghaddam, Theories, 78.

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Die Kategorisierung ist ein für das Entstehen und Aufrechterhalten der sozialen Kommunikation wesentlicher kognitiver Prozess. Der Begriff entstammt der kognitiven Psychologie und bezeichnet die Organisierung der Informationen über Objekte, Personen und Ereignisse in Wissens-Strukturen und Schemata. In dieser Weise erfolgt eine automatische Klassifizierung und Vereinfachung der Wahrnehmungen, die unsere Umwelt überschaubar und umgänglicher macht. Dementsprechend wird man die soziale Kategorisierung60 als einen Prozess verstehen, der sich auf die soziale Welt bezieht: Personen, Gruppen, Interaktionsformen. Der Betrachter ist aber keine neutrale Instanz, sondern ordnet sich selbst einer bestimmten Kategorie unter.61 Die bedeutsamste Unterscheidung ist zwischen Eigengruppe (Ingroup) und Fremdgruppe (Outgroup). Als folgenreiche Konsequenz dieser Kategorisierung werden die Unterschiede innerhalb einer Gruppe heruntergespielt und die Ähnlichkeiten werden akzentuiert. Hingegen scheinen die Unterschiede zwischen den Kategorien deutlicher zu sein.62 Man spricht deswegen von Assimilationseffekten innerhalb einer Kategorie und Kontrasteffekten zwischen verschiedenen Kategorien.63 Wenn ein Element einer bestimmten Kategorie zugeordnet wird, können ihm auch Merkmale zugeschrieben werden, die ihm zwar fremd sind, die aber insgesamt für die Kategorie gelten. Wichtig ist es auch, dass die Differenzen zwischen Kategorien besonders mit Dimensionen korrelieren, die für die Definierung der eigenen Kategorie besonders relevant sind.64 Der Wahrnehmungsprozess wird also von dem schon bestehenden Kategoriensystem gesteuert. Das lässt natürlich die Tür für zahlreiche kognitive Fehleinschätzungen65 offen, die nachträglich als Teil unseres sozialen Orientierungssystems die Einstellungen und die Handlungen beeinflussen. Ein weiterer Punkt betrifft die Art und Weise, wie die Kategorien aufgebaut werden. Im Rahmen der SIT wird oft die sogenannte „prototypische Lösung“ aufgegriffen, die besagt, dass eine Kategorie auf einer knappen Zusammen­fassung basiert, auf einem unscharfen Set (fuzzy set) von Attributen  – den so genann 60 Diese Unterscheidung ist allgemein als der generierende Faktor der sozialen Existenz angesehen: „Social categorisation is the foundation of intergroup behavior – behavior between groups can occur only if the social world can be categorized into separate groups“ (Hogg /  Abrams, Behavior, 411). 61 Vgl. Hogg, Categorization, 206; Ders., Processes, 66. 62 Für eine knappe Beschreibung der experimentellen Grundlage dieser Ergebnisse vgl. Herkner, Sozialpsychologie, 490–491. Besonders für die Steigerung der Ähnlichkeiten innerhalb der Gruppe vgl. Doise u. a., Accentuation, 159–168: „Experiments have demonstrated that the increase of similarity within the same category is part of the process of category differentiation […]. The same process is able to account for the accentuation of differences between social categories as well as for their subjective decrease within a social category“ (168). 63 Thomas, Grundriss, 226; vgl. auch Turner / Reynolds, Identity, 135. 64 Abrams / Hogg, Introduction, 3. 65 McGarthy u. a., Categorisation, 68: „Categorisation can be seen as an errorful process that is used in preference to more accurate individuaded or piecemeal perception“.

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ten Prototypen.66 Sie erfassen die wichtigsten Gemeinsamkeiten der Gruppe und auch die Unterschiede zur Fremdgruppe und richten verengend die Aufmerksamkeit auf eine begrenzte Zahl von menschlichen Attributen.67 Diese sind abstrakter Art und können von keinem Mitglied der Gruppe verkörpert werden; dem Gruppenprototyp kann man sich also höchstens asymptotisch nähern. Diese Neigung zur ‚Essentialisierung‘, die in der Bildung von Prototypen festgemacht werden kann, mag eine Stabilisierung der intergruppalen Verhältnisse bedeuten,68 das geschieht aber auf Kosten einer realitätsträchtigen Beziehung. Für die weitere Komponente – die soziale Identität – hat Henri Tajfel eine einprägsame und verbreitet aufgenommene Definition formuliert: Sie ist als Teil des Selbstkonzeptes eines Individuums angesehen, der sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist.69

Gegen die Tendenzen, die Vielfalt der sozialen Interaktion auf individuelle Beziehungen zu begrenzen, zeichnet sich die Theorie der sozialen Identität dadurch aus, eine nicht reduktionistische Erklärung vorzuschlagen, die die psychologischen und sozialen Prozesse miteinander verbindet70 und das Soziale zu einem Teil des kontextbezogenen71 Selbstkonzeptes macht. Ein Individuum wird in der Gesellschaft durch die Gruppe verortet, sie bietet ihm ein Referenzsystem. Jedes Mitglied einer Gruppe eignet sich ein typisches Gruppenverhalten an und die Mitgliedschaft wird zum Teil seiner Selbstdefinition.72 Diese Involvierung aktiviert 66 Sie fassen die grundlegende Eigenschaften einer Gruppe zusammen, vgl. Stangor /  Schaller, Stereotypes (2000), 67; Hogg, Categorization, 207; Hogg, Uncertainty, 36; McGarthy u. a., Categorisation, 70. Die Frage, ob diese kognitiven Strukturen mit der Zeit variieren, wurde unterschiedlich beantwortet. Obwohl Turner das Selbstkonzept als eine vorläufige und situationsabhängige kognitive Vorstellung dargelegt hat (das ist sogar eine der Grundannahmen der Theorie der Selbstkategorisierung, vgl. Turner u. a., Rediscovery, 44), liefert Hogg, Sovereignity, 132, eine etwas komplexere Auffassung und behauptet, dass nur die Prototypen von geringerer Bedeutung von dem Kontext abhängen. Die bedeutsamen Prototypen sind hingegen dauerhaft und gewähren Orientierung in der sozialen Welt. 67 Hogg, Uncertainity, 36. 68 Cantor / Mischel, Prototypes, 42: „Knowledge about person prototypes not only ­makes information processing easier, it also helps the perceiver to plan behavior in social interactions“. 69 Tajfel, Gruppenkonflikt, 102. 70 Turner / Giles, Introduction, 27: „The general implication of the identity model is that we need to assume  a continual causal loop between psychological and social processes in the determination of group members’ attitude and actions“; auch Hogg, Theory, 556; Abrams / Hogg, Introduction, 2; Taylor / Moghaddam, Theories, 61: „This theory attempts to explain relations between groups from a group perspective“. 71 Hogg / Abrams, Processes, 413: „Social identity is context specific insofar as different social identities are salient in different social contexts, and the same social identity may take a different form as a function of contextual demands“. 72 Hogg, Processes, 68: Darum gilt die SIT als „general perspective on group-mediated social psychological phenomena“.

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folglich das Streben nach einer positiven Selbstbewertung, die nun mittels der Gruppenmitgliedschaft erlangt wird. Das führt in einem intergruppalen Rahmen zu einer Favorisierung der Eigengruppe. Das Individuum bewegt sich stets auf dem Kontinuum zwischen interindividuellem und intergruppalem Verhalten. Die Einstellung gegenüber der Fremdgruppe verändert sich entsprechend. Je näher eine soziale Situation an dem Intergruppenextrem liegt (d. h. die Akteure interagieren als Gruppenmitglieder), desto stärker verliert das Gegenüber an persönlichen Merkmalen.73 Die soziale Identität bekommt also ihren Inhalt durch Vergleiche mit verschiedenen anderen sozialen Partnern, sonst würde sie ein Abstraktum bleiben. Es war einer der auffälligsten Befunde der Minimalgruppenexperimente, dass der maximale Unterschied zugunsten der eigenen Gruppe noch wichtiger als der maximale gemeinsame Gewinn war.74 Das Bedürfnis danach, besser als die anderen abzuschneiden, war der bewegende Grund in der Zuteilung der Belohnungen zwischen den Beteiligten. Diese experimentelle Beobachtung hat sich in der Bedeutung niedergeschlagen, die die SIT den sozialen Vergleichen und der dadurch angestrebten positiven sozialen Distinktheit beimisst. Aber nicht alle beliebigen Vergleichsdimensionen und auch nicht jede beliebige Zielgruppe könnte diese Funktion erfüllen, sondern paradoxerweise diejenigen, mit denen die eigene Gruppe auch relevante Eigenschaften teilt,75 sonst wären die Vergleiche kognitiv nicht mehr aussagekräftig und motivational belanglos. Je wichtiger die Vergleichsdimension für die soziale Identität der Gruppe, desto bedeutsamer der Vergleich. Je relevanter die andere Gruppe als Vergleichsziel, desto schwerwiegender das Vergleichsresultat.76 Die Vergleiche wirken sich auf den sozialen Status aus. Jede Gruppe kann sich infolgedessen einen legitimierten / nicht legitimierten, stabilen / instabilen Status zuschreiben. Es geht hier um die Selbstwahrnehmung der Gruppe, die sich mit der sozialen Wirklichkeit nicht un­ bedingt abdeckt.77 73 Turner, Issues, 10; Tajfel, Gruppenkonflikt, 87–88: Die Tendenz wird stärker „Mitglieder der Fremdgruppe als undifferenzierte Items in einer einheitlichen sozialen Kategorie zu behandeln, ohne Rücksicht auf ihre individuellen Eigenarten“. 74 Tajfel, Gruppenkonflikt, 120; Tajfel, Experiments, 117; Turner, Comparison, ­249–250: „The purpose of ingroup bias is primarily to distinguish the ingroup positively from the position of the outgroup rather than to downgrade the outgroup“; vgl. hier auch Anm. 57. 75 Tajfel, Gruppenkonflikt, 110; vgl. auch Tajfel / Turner, Theory, 84: „In-group do not compare themselves with every cognively available out-group […]. Similarity, proximity and situational saliance are among the variables that determine out-group comparatibility“; Lemaine u. a., Differentiation, 290: „Similarity may be felt as a threat to one’s identity“; Turner, Comparison, 246: „Intergroup differentiation tends to be stronger amongs similar groups“. 76 Thomas, Grundriss, 227. 77 Vgl. Hogg, Processes, 67; Tajfel, Gruppenkonflikt, 93, streift das Thema, indem er über eine Diskrepanz zwischen existierenden Überzeugungen und der nachweisbaren sozialen Situation spricht.

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Die psychologische Ausgangslage begünstigt oder hemmt bestimmte Reaktionen in dem Versuch, eine positive Distinktheit zu erwerben.78 Die Gruppe könnte einen objektiv untergeordneten Status haben, obwohl sie sich subjektiv eine hervorragende Stellung zuschreibt.79 Eine untergeordnete Gruppe wird umso mehr versuchen, sich von der dominanten Gruppe positiv zu unterscheiden, wenn die eigene Unterlegenheit nicht als gegeben, unveränderlich oder legitimiert angesehen ist.80 Die empfundene Illegitimität der sozialen objektiven Konstellation begünstigt den Versuch, sie zu ändern. Einige Handlungsalternativen stehen dann der Gruppe zur Verfügung, um den positiven Selbstwert (self­ esteem) wieder herzustellen.81 − Eine ganz einfache individuelle Lösung wäre die individuelle soziale Mobilität, indem man die Gruppe verlässt und sich der statushöheren Gruppe anschließt. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn die Grenzen zwischen den Gruppen durchlässig sind, sodass ein Gruppenmitglied nicht gehindert wird, von einer Gruppe zur anderen überzuwechseln. − Auf der Gruppenebene öffnet sich eine begrenzte Zahl von psychologischen Strategien: die soziale Kreativität und der direkte soziale Wettbewerb. Die grundlegende Bedingung, um solch ein Verhaltensmuster zu aktivieren, ist primär die Überzeugung, dass das soziale System veränderbar ist. − Unter sozialer Kreativität versteht man eine Reihe von psychologischen Vorgängen, die keine wirkliche Veränderung der konkreten Beziehungen herbeiführen, sondern durch kognitive Umdeutung und Wechsel der Vergleichsdimensionen die soziale Identität ohne faktische Verhaltensweisen verbessern können. Es ist zum Beispiel möglich, eine vorher negativ evaluierte Charakteristik der Gruppe neu zu definieren. Zudem könnte ein neuer Vergleichsparameter ‚erfunden‘ werden, auf dem die Gruppe besser abschneidet als die andere (vgl. z. B. „Black is beautiful“). Besonders eine Gruppe mit einem objektiv niedrigen Status neigt dazu, eine alternative Vergleichsdimension zu entwickeln, auf der sie in einem viel besseren Licht erscheint.82 Zugleich wurde 78 Zu den Handlungsmöglichkeiten vgl. z. B. die Abschnitte „Strategien der Intergruppendifferenzierungen“ und „Von Mobilität zu sozialen Bewegungen“, in Tajfel, Gruppenkonflikt, 128–142; 88–100, oder Turner / Brown, Status, 201–234. Für eine gut strukturierte Zusammenfassung vgl. Haslam, Psychology, 23–27. 79 Die Überlegung ist mir sehr wichtig, denn ich gehe davon aus, dass die matthäische Gemeinde in ihrer Umwelt nicht das Sagen hat. Man kann sie deswegen objektiv als Gruppe mit einem eher niedrigeren, minoritären Status bezeichnen. Es sieht aber anders aus, wenn man die Lage vom Selbstbild der Gemeinde her betrachtet. Subjektiv ist die eigene Stellung ganz deutlich überlegen, und vor allem besitzt die Gemeinde eine („konstruierte“) göttliche Legitimität. 80 Turner / Brown, Status, 207. 81 Tajfel, Gruppenkonflikt, 92 ff; Tajfel / Turner, Theory, 87–92; Hogg / Abrams, Identifications, 26–29; Korostelina, Identity, 134–138; Stangor, Groups, 250–252. 82 Van Knippenberg, Status, 176.

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die Tendenz bestätigt, dass die statusinferioren Gruppen die Differenzen zu Fremdgruppen nachdrücklich unterstreichen.83 − Erst mit dem nächsten Aspekt kommt es zu einer höheren Stufe der sozialen Spannungen, weil auch die Möglichkeit einer direkten Auseinandersetzung besteht. Durch sozialen Wettbewerb beginnt man einen direkten Interessenkonflikt. Die Fremdgruppe wird zur Gegengruppe, sie wird angegriffen, die Veränderung der sozialen Landschaft wird also nicht mehr den anderen sozialen Partnern überlassen, die Partei selbst ergreift die Initiative und versucht die Verhältnisse zu ihren Gunsten umzukehren.84 Die Gruppe engagiert sich in einem heftigen Kampf um soziale Anerkennung.85 Anschließend ist noch kurz nach der Bedeutung der SIT für die Erforschung der Konflikte zu fragen (vgl. dazu auch 6.3). Erwähnt wird die Theorie im Zusammenhang mit der Konfliktentstehung neben den realistischen Konfliktursachen besonders in den „affektiven Wertekonflikten“.86 Ohne dass die Kategorisierung unmittelbar zum Konflikt führt, ruft die Teilung in verschiedene Gruppen die Eigengruppen-Favorisierung hervor.87 Die Gruppenzugehörigkeit kann die soziale Wahrnehmung verzerren.88 Zugleich akzentuiert die Kategorisierung eine gewisse Anonymität innerhalb der Gruppe und fördert eine undifferenzierte Behandlung der Nichtmitglieder. Wie stark gruppenabhängig ein Individuum sich selbst, seine Genossen aber auch die Anderen anhand bestimmter Konzepte definiert, wird am Grad der Identifizierung mit der Gruppe gemessen. Die bloße Zuschreibung einer Kategorie ohne die subjektive Anteilnahme reicht für ein stark gruppenbezogenes Verhalten noch nicht aus. Erst die Identifikation bringt auch die emotionale Komponente der sozialen Identität89 ins Spiel und bewirkt 83 Van Knippenberg, Status, 178. 84 Abrams / Hogg, Introduction, 5: „When cognitive alternatives to the status quo are­ conceivable, the subordinate group may enter directly into social (and real) competition with the dominant group, challenging its superiority or rights on the dimensions which are important in defining the group“. 85 Thomas, Grundriss, 230: „Es werden vermehrt Verhaltensweisen produziert, die ge­ eignet sind, die positiven Merkmale der Eigengruppe zu betonen, bis hin zur Übertreibung, und die der Fremdgruppe zu diskriminieren“. 86 De Dreu / Gelfand, Conflict, 14–18; Pruitt / Kim, Conflict, 29; Cook-Huffman, Identity, 24; Fisher, Conflict, 182, spricht von der „dark side of social identity“; Deutsch, Konfliktregelung, 71; Fisher, Social Psychology, 29. 87 Oakes, Root, 4; Mummendey / Otten, Discrimination, 114; Wilder, Categorisation, 291–355: „The mere categorization of persons into different groups engages a series of assumptions that foster intergroup biases“ (292); Lilli / Rehm, Processes, 30–35: „Categorisation is the most basic and necessary condition for the development and maintenance of conflicts“ (35). 88 Die Kategorien funktionieren wie „Scheuklappen“ (categorical blinders) „which restrict perceiver’s perspectives on new information producing confirmation of pre-existing categorybased expectations“ (Oakes, Root, 12). 89 Dazu ausfühlicher im Abschnitt über gruppenbasierte Emotionen 1.2.4.

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die reale psychologische Involvierung (commitment).90 Die starke Identifizierung mit der Gruppe liefert eine zusätzliche Motivation91 und steigert je nach Kontext das Potenzial für feindselige Antworten und negative Einstellungen gegenüber der Fremdgruppe.92 Auch ein weiterer Schlüsselbegriff der SIT – der soziale Vergleich – ist an sich nicht kompetitiv; man hat das natürliche Bedürfnis, seine eigene Stellung mit der von den anderen sozialen Akteuren in ein Verhältnis zu setzen und das erfolgt durch ständige Vergleiche mit signifikanten Anderen: wir, unser im Vergleich zu ihr, euer (kollokutiv) / sie, ihr (dellokutiv). Wenn aber die Vergleiche nicht nur als Orientierungsstütze sondern auch als Mittel eingesetzt werden, Überlegenheit und psychologische Selbstaufwertung zu erlangen, wird der Weg für den sozialen Wettbewerb eröffnet. In Extremfällen könnte es zu einem psychologischen Nullsummenverhältnis93 kommen, wenn man sich nur dann einen Vorteil zu verschaffen erdenkt, wenn der Andere einen Verlust erleidet. Besonders wenn die jeweilige Vergleichsdimension für beide Parteien ungeheuer wichtig ist, nehmen die vergleichenden Bewertungen unausweichlich kompetitive Züge an.94

1.2.3 Stereotypen und kognitive Prozesse im intergruppalen Rahmen Die Theorie der sozialen Identität stellte die soziale Motivation, ein positives Self-Esteem zu erringen, ins Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen. In diesem Abschnitt wird von dem ‚konkurrierenden‘ Ansatz ausgegangen, der den individuellen kognitiven Prozessen den Vorrang gibt. Aus dieser Perspektive stellt der soziale Kontext nur den Hintergrund dar, in dem Informationsverarbeitungsmechanismen (z. B. Wahrnehmung, Gedächtnis, Kognition usw.) und Verhaltensweisen in Gang gesetzt werden; die mitbestimmende Kraft des sozialen dynamischen Zusammenhangs wird dabei minimalisiert.95 Das Resultat dieser Prozesse der Welterfassung ist höchst subjektiv, es fungiert aber als Grundlage und Ausgangspunkt für das Verhalten und für die soziale Aktion und beansprucht den Wirklichkeitsstatus.96 90 Vgl. Tajfel, Gruppenkonflikt 70 f; Self / Chatman, Identification, 411. 91 Brewer, Relations, 21: „Social identification represents the extent to which the ingroup has been incorporated into the sens of self, and at the same time, that the self is experienced as an integral part of the group“. 92 Mummendey / Otten, Discrimination, 115; Hewstone u. a., Bias, 584–585. 93 Das sogenannte Zero-sum Thinking benennt die Überzeugung, dass die Interessen der Gruppen sich gegenseitig ausschließen und ist oft daran schuld, dass Konflikte entstehen und eskalieren (Pruitt / Kim, Conflict, 22; Deutsch, Features, 30; Brewer, Relations, 26). 94 Brewer, Identification, 24 f; Lilli / Rehm, Processes, 39–41. 95 Für Unterschiede und mögliche Annäherungen, vgl. Operario / Fiske, Integrating, ­26–53. Die Autoren argumentieren nicht nur, dass die Ansätze kompatibel sind, sondern auch dass sie gegenseitig von den theoretischen und empirischen Ergebnissen profitieren können. 96 Leyens / Dardenne, Kognition, 116 f; Bless u. a., Cognition, 2 f.

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Die Kategorisierung ist wiederum ein wichtiger Begriff, denn nur dadurch können Objekte gruppiert und klassifiziert werden. Innerhalb einer Kategorie tendiert man dazu, die Merkmale und Eigenschaften eines Objektes in Bezug auf Zeit und Raum zu verallgemeinern. Das Ergebnis der Generalisierung wird Schema oder Skript genannt – mentale Strukturen, die unser Wissen über die soziale Welt automatisch ordnen.97 In diesem Rahmen beschäftigt sich die soziale Kognition mit dem Erfassen und der Beschreibung von sozialen Gruppen. Als spezifisch kognitive Produkte gelten die Stereotypen.98 Es besteht ein breiter Konsens darüber, die Stereotypen als gemeinsam geteilte Überzeugungen zu Persönlichkeitsmerkmalen oder Verhaltensweisen von Personen / Gruppen aufzufassen.99 Aus rein kognitiver Sicht verhelfen sie den Menschen bei der Orientierung in der sozialen Umwelt durch Vereinfachung und Strukturierung der Informationenflut. Die Vertreter der ‚sozialen Sicht‘ binden die Stereotypen sehr stark an das gesellschaftliche Leben, betrachten sie als Produkte der „sozialen Fabrik […], geteilt von Menschen innerhalb einer Kultur“.100 Ihrer Meinung nach trage die rein kognitive Sicht dieser wesentlichen Problematik nicht genügend Rechnung.101 Die Stereotypen seien keine kalten mentalen Konzepte und erfüllten nicht nur eine epistemische, sondern auch eine wertbezogene Funktion.102 Sie erklärten zum Beispiel meist unangenehme soziale Ereignisse und befriedigten in dieser Weise das kollektive Bedürfnis, das Unglück zu verarbeiten und zu verstehen. Wenn die Gruppenwerte und das Gruppenverhalten nicht mehr übereinstimmen und ihre Balance gestört ist, können Stereotypen feindselige Handlungen 97 Leyens / Dardenne, Kognition, 122; Aronson, Sozialpsychologie (62008), 58. Tajfel, Gruppenkonflikt, 106, selbst hat auch Experimente über die Kategorisierungsprozesse durchgeführt und schreibt der sozialen Kategorisierung eine bedeutende Funktion zu: Sie bildet „ein Orientierungssystem, das den eigenen Platz eines Individuums in der Gesellschaft schafft und definiert“. 98 Für die verschiedenen Auffassungen über Kategorisierungsprozesse und ihre Relevanz für die Stereotypenbildung vgl. Oakes, Categorization, 95–119. Die Stereotypenforschung ist inzwischen kaum mehr überschaubar; zur Einführung vgl. z. B.: Ashmore / Del Boca,­ Approaches, 1–35; Stangor / Schaller, Stereotypes (1996), 3–37. Die Stereotypen gelten als die meist kognitiven Komponenten unter den möglichen Formen der sozialen Beziehungen. In diesem Sinne macht das Vorurteil den meist affektiven und die Diskriminierung den verhaltensbezogenen Teil aus (vgl. dazu Fiske, Stereotyping, 357–411). 99 Leyens / Dardenne, Kognition, 125 f. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen nach der Überprüfung der meisten Definitionsvorschläge auch Ashmore / Del Boca, Approaches, 21: „A stereotype is a set of beliefs about the personal attributes of a social group“. 100 Stangor / Schaller, Stereotypes (2000), 64; zu Erwägungen über den sozialen Wert der Stereotypen und das Zwischenspiel kognitiv-sozial vgl. auch Condor, Stereotypes, ­230–249. 101 Deutlich in diese Richtung äußern sich Taylor / Moghadham, Theories, 159–166. Für einen guten vergleichenden Überblick vgl. Stangor / Schaller, Stereotypes (2000). 102 Vgl. Stangor / Schaller, Stereotypes (1996), 20 ff. Tajfel, Gruppenkonflikt, 54 f, hatte drei Grundfunktionen der Stereotypen formuliert: Erklärung, Rechtfertigung und positive Differenzierung (vgl. dazu auch: Leyens u. a.: Stéréotypes, 101).

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gegenüber Fremdgruppen rechtfertigen und dadurch die kognitive Dissonanz auf Gruppenebene beseitigen. Sie selbst begünstigen ein extremes Verhalten, indem sie diskriminierende Meinungen und Bilder über die anderen vermitteln.103 Solch eine vereinfachte, einprägsame Bezeichnung der Fremdgruppe lässt mit der Zeit sehr viel Ignoranz und gegenseitiges Misstrauen aufkommen.104 Dieser Bedarf manifestiert sich besonders in krisenhaften Situationen, wenn ein kristallklares Feindbild und starre Verhaltensnormen potenziell verwirrende Ambiguitäten verringern.105 Der soziale Wettbewerb fördert also sehr stark die Entstehung von Stereotypen.106 Es ist deswegen zu erwarten, dass Gruppen mit einem niedrigeren sozialen Status (z. B. Minoritäten oder stigmatisierte Gruppen) eine stärkere Tendenz aufweisen, Stereotypen zu bilden und zu verwenden,107 um dadurch ihr gefährdetes Selbstimage zu verbessern.108 Durch Attributionsprozesse wird der kognitive Versuch unternommen, eine schlüssige Erklärung für verschiedene Ereignisse zu finden. Jeder wird zum­ ‚naiven Psychologen‘, indem er kausale Verbindungen herstellt. Es wird in der Regel zwischen interner und externer Attribution unterschieden. Die erste rechnet mit einem durch externe Faktoren verursachten Verhalten; die zweite führt hingegen die Ursache auf interne Merkmale der handelnden Person zurück. Jenseits der rein individualistischen Sichtweise109 versucht die sozial-kausale Attribution, den Prozess sozial zu verorten. Ein wichtiger Befund ist, dass positive Ereignisse tendenziell eher der eigenen Gruppe zugeschrieben werden, während für sozial unerwünschte Geschehnisse die Fremdgruppe verantwortlich gemacht wird.110 Den internen Faktoren in der Attribution verschiedener Ereignisse wird tendenziell mehr Gewicht verliehen.111 Angewendet auf intergruppale Kontexte wird diese Tendenz ein ‚ultimativer attributioneller Irrtum‘ (ultimate attribution error) gennant.112 Die Gruppenzugehörigkeit scheint das entscheidende Kriterium zu sein, ob man Ereignisse intern oder extern attribuiert, und zwar folgender­ 103 Operario / Fiske, Stereotypes, 25 f. 104 So Stephan / Stephan, Ignorance, 241 f. 105 Stangor / Schaller, Stereotypes (1996), 22. 106 Esses u. a., Relations, 237 f. 107 Stangor / Schaller, Stereotypes (1996), 23 f. 108 Fein / Spencer, Prejudice, 185; Stangor / Schaller, Stereotypes (2000), 75: „Those who are chronically low in self-esteem would develop stronger stereotypes as a means of regain­ ing positive regard“. 109 Das wird oft den Attributionstheorien vorgeworfen (vgl. Deschamps, Social, 228, 233; Deschamps / Beauvois, Attributions, 111). 110 Die Tendenz wurde auch als ‚ethnozentrische‘ oder manchmal ‚soziozentrische Attribution‘ bezeichnet. Vgl. Deschamps / Beauvois, Attributions, 113 ff; Hewstone, Causal, 171. 111 Dieses psychologische Phänomen hat als „fundamentaler attributionaler Fehler“ (fundamental attributional error) den Eingang in die Sozialpsychologie gefunden (vgl. Ross, Distortion, 184). 112 Die Formulierung gehört Pettigrew, Ultimate, 461–476.

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maßen: Die positiven Ereignisse werden für die Eigengruppe durch interne, intrinsische Merkmale erklärt, während für die Fremdgruppe der Fokus auf externen zufälligen Gegebenheiten liegt. Genau umgekehrt wird im Fall von negativen Ereignissen vorgegangen: Unerwünschtes Verhalten der Eigengruppe wird schonend auf externe Ursachen zurückgeführt und das negative Verhalten der Fremdgruppe wird ihrer internen Verfassung angehaftet. Folglich ist die Attribution ein wirksamer Mechanismus, die eigene Gruppe zu rechtfertigen und die anderen sozialen Partner zu diskreditieren.113 In diesem Sinne ist sie von überragender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Stereotypen in ihrer (de)legitimierenden Funktion.114 Die gezielte Attribution bildet um die Stereotypen eine Art ‚kognitive Schutzmauer‘, die nur die bestätigenden Wahrnehmungen zulässt.115 Es bietet sich hier die Gelegenheit, kurz die ‚selbsterfüllende Prophezeiung‘ (self-fulfilling profecy)116 darzustellen. Damit ist die Erfüllung unserer Erwartungen, die selbst durch unseren Umgang provoziert wurden, gemeint. Die enge Verbindung mit der sozialen Funktion der Stereotypen ist deutlich.117 Die verfügbaren Stereotypen bilden Leitlinien im Umgang mit der Fremdgruppe und nehmen die Ereignisse selektiv wahr, damit sie in das Szenarium hinein passen und sich selbst bestätigen.118 Nicht nur die Zukunft wird so konstruiert, sondern auch die Vergangenheit passt sich paradoxerweise den sozialen Entwicklungen an. Dank eines selektiven flexiblen Gedächtnisses werden besonders die Informationen abgerufen, die im Einklang mit der gegenwärtigen Positionierung stehen. Das Gedächtnis dient dazu, vorhandene Erwartungen zu bestätigen und Stereotypen zu befestigen. Die Menschen weisen ein besseres Abrufvermögen für vergangene Ereignisse oder Verhaltenssequenzen auf, die ihre gegenwärtigen Ziele oder Einstellungen unterstützen.119 Anders gesagt, ist unser Gebrauch von der Erinnerung immer eine Kombination von Abschreiben und Umschreiben: „People both remember and 113 Die Tendenz ist jedoch stärker, wenn die Gruppen gewissermassen symmetrische Haltungen einnehmen (vgl. Deschamps / Beauvois, Attributions, 117). 114 Yzerbyt / Rogier, Blame, 105; Hewstone, Causal, 169. 115 Hewstone, Causal, 193 f; ferner Brown, Group, 300 f. 116 Für einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Forschung vgl. Jussim / Fleming, Prophecies, 161–192. Über die drei Momente dieses Kreisschlusses  – irrtümliche Erwatung, entsprechende Handlung, bestätigende Reaktion – vgl. ebd., 164. 117 Hewstone, Causal, 194; Jussim / Fleming, Prophecies, 161; Brown, Group, 302: „Stereo­types can turn out to be self-fulfilling prophecies“. 118 Snyder, Self-Perpetuating, 200. 119 Es geht um die so genannte ‚selbst bestätigende Funktion‘ des Gedächtnises (self-confirming function), die zwangsläufig in eine selbst perpetuierende Funktion der Stereotypen umschlägt (vgl. dazu Rothbart u. a., Recall, 344, 351, 354; Kunda, Cognition, 351, 354). Zu den zwei Prozessen – preferential remembering und selective reinterpretation – vgl. auch Snyder, Self-Perpetuating, 186; Brown, Group, 298 („selective effects of group stereotypes on memory“).

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‚write‘ all the history that fits and reinterpret and ‚rewrite‘ all the history that seems not to fit“.120 In einem sozialen Kontext kommt diese Annahme vollends zur Geltung: Man hat ein besseres Gedächtnis für negatives Verhalten gezeigt, wenn es mit der Fremdgruppe assoziiert wird.121

1.2.4 Emotionen und aggressives Intergruppenverhalten Von dem ‚kalten‘ Bereich der kognitiven Forschung gelange ich noch zu den ‚heißen‘ Begleiterscheinungen eines Konfliktes: den Emotionen und den Aggres­ sionen. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ist von einer emotionellen Involvierung nicht zu trennen. Nicht nur kognitive Aspekte machen den ­Status eines Mitgliedes aus, sondern auch verschiedene Gefühle, die vom Stolz auf die eigenen Gruppenwerte bis zum Ärger über das Verhalten der konkurrierenden Fremdgruppen reichen können. In der Literatur wird oft bedauert, dass den Emotionen lange Zeit nicht die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt wurde.122 Dieser Mangel ist im Rahmen der hier oft erwähnten SIT auch schwer zu erklären, denn schon die wegweisende Definition der sozialen Identität von Henri Tajfel nahm einen deutlichen Bezug auf die emotionale Signifikanz der Gruppen­ zugehörigkeit.123 Das Wissen um die emotionale Färbung der sozialen Interaktion und das Abwechseln von Emotion, Kognition und Handlung ist auch für die Konfliktbeschreibung unabdingbar. Der Ausgangspunkt für die Theorie der Intergruppenemotionen baut auf SIT auf, insbesondere auf der Grundannahme, dass die Gruppenidentität zum Teil  des eigenen Selbst wird, sodass das Schicksal oder die sozialen Erfahrungen der Gruppe entsprechende emotionelle und verhaltensbezogene Reaktionen in jedem Mitglied hervorrufen.124 Wer zu derselben Gruppe gehört, teilt ein gemeinsames emotionelles Profil. Die Kategorisierung in Eigen- und Fremd­ gruppen und die innerliche Identifizierung sind auch hier die Grundphänomene für die individuelle emotionale Verortung,125 wobei die Identifizierung anscheinend eine vermittelnde Funktion einnimmt, was die Intensität, die Qualität und 120 Snyder, Self-Perpetuating, 192. 121 Howard / Rothbart, Memory, 308–310; Brown, Group, 299. 122 Brown / Capozza, Motivational, 17; Johnston / Hewstone, Contact, 202; ferner auch Brewer, Relations, 83. 123 Vgl. S. 28; dazu Brown / Capozza, Motivational, 16; Smith / Mackie, Aggression, 363. 124 Smith / Mackie, Intergroup, 473; Garcia-Pieto / Scherer, Connecting, 190. 125 Mackie u. a., Theory (2009), 289; Mackie u. a., Emotions (2004), 234: „Both categorization […] and identification are necessary for the experience of intergroup emotions“. Die bloße Kategorisierung hat unmittelbar positive emotionale Konsequenzen für die Eigengruppe (Smith, Identity, 303). Die Stärke der Identifizierung intensiviert die emotionale Bindung (Schütte / Kessler, Emotions, 166).

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die Ausrichtung der Emotionen betrifft.126 Besonders die Konflikte  – seien sie Interessen- oder Wertekonflikte – sind sehr emotionsgeladen und werden ständig mit Emotionen negativer Valenz assoziiert.127 Drei relevante Emotionen habe ich in diesem Zusammenhang ausgewählt: die Angst, der Ärger und die soziale Demütigung.128 − Drei Faktoren bewirken die Entstehung einer diffusen Anxietät zwischen Gruppen in Kontakt, die sich dann leicht zu einer regelrechten Angst entwickeln kann.129 Wenn die früheren Beziehungen durch Konflikte oder divergierende Interessen charakterisiert waren, wird die Anxietät ein hohes Niveau erreichen. Bestehende negative Vorurteile oder Überzeugungen über die Fremdgruppe werden Erwartungen über negative Verhaltensweisen hervorrufen. Die Kontaktsituation als solche, ob eine konkurrierende oder eine kooperative Interdependenz besteht, sowie die Statusdifferenzen zwischen den Beteiligten spielen dabei auch eine Rolle. − Die Konsequenzen der Intergruppen-Anxietät wirken sich im kognitiven und affektiven Bereich aus, schlagen sich aber auf der Verhaltensebene nieder.130 Typischerweise kann die Angst zu zwei Antworten führen: Vermeidung (flight) oder Konfrontation (fight).131 Die Informationsverarbeitungsprozesse werden vereinfacht als Folge der zunehmenden Angst. Die Mitglieder der anderen Gruppe werden eher im Lichte der schon vorhandenen Schemata beurteilt und andere relevante soziale Informationen werden entweder nur spärlich und oberflächlich verarbeitet oder einfach außer Acht gelassen.132 − Dem Ärger wurde in der Emotionen- und Aggressionsforschung wegen seiner besonderen Relevanz für die Auslösung des aggressiven Verhaltens viel Aufmerksamkeit geschenkt.133 Der Ärger wird durch die subjektive Stärke der Gruppe unterstützt und durch ihre Ideologie legitimiert. Entfacht wird er aber grundsätzlich, wenn eine Verletzung der Erwartungen vorliegt und das Ver 126 Smith / Kessler, Emotions, 306. 127 Vanman / Miller, Application, 230; Smith / Mackie, Time, 180; Wilder / Simon, Affect, 153 f. 128 Montada, Aggression, 19–37; Baumeister / Bushman, Angry, 61–75; Lindner, Emotion, 268–293. 129 Stephan / Stephan, Anxiety, 271–275; zur Angst in Konfliktsituationen siehe BarTal u. a., Collective Emotions, 448. Über die Wiederentdeckung der sozialen Dimensionen der Emotionen vgl. Brown / Capozza, Motivational, 18. 130 Stephan / Stephan, Anxiety, 275–281. 131 Lindner, Emotion, 274. 132 Stephan / Stephan, Anxiety, 278: „The arousal that anxiety creates will generally narrow the focus of attention“. Vgl. dazu auch Johnson u. a., Emotional, 243 f; Wilder/ Simon, Affect, 163, und Bodenhausen, Emotions, 20; Wilder, Role, 91, 96. 133 Vgl. Mackie u. a., Emotions (2000), 602–616; Averill, Studies, 1145–1160; Bierhoff, Ärger, 26–47.

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halten der anderen als ungerecht wahrgenommen wird. Dies geschieht z. B., wenn die eigenen Kompetenzen missachtet werden, ‚heilige‘ Symbole verunglimpft oder Pflichten vernachlässigt werden.134 − Die Demütigung, die man dabei erlebt, liefert nur zusätzlichen Sprengstoff für mögliche aggressive Handlungen.135 Wenn die eigene Weltanschauung durch den realen oder symbolischen Eingriff anderer Gruppen beschädigt wird, ist die Aggression ein ‚legitimiertes‘ Mittel sie aufrechtzuerhalten. Der Wunsch nach (göttlicher) Rache ist dann ein instinktiver Versuch die ‚gestörte‘ Ordnung der Welt wiederherzustellen.136 Das basiert selbstverständlich auf und produziert zugleich übertriebene Wahrnehmungen, illusorische Korrelationen zwischen Tatsachen und Ursachen, Selbststigmatisierung, Fehlschlüsse und Scheinargumente. Das ausgesprochene Ziel ist es dabei, den Status und die Autorität der Gegner herabzusetzen.137 Daraus ergibt sich auch ein entsprechendes Gegnerbild: Sie sind bedrohlich und wollen ‚uns‘ um jeden Preis verletzen, sie sind böswillig und rücksichtslos. Der Hass ist oft das Resultat der Erfahrung, ohnmächtig einem aggressiven heim­ tückischen Gegner ausgeliefert zu sein.138 Nun, anschließend Näheres zur Aggression. Mehrere Aggressionstypen werden in der Forschung vorgeschlagen, wobei die verschiedenen Kategorien sich teilweise überschneiden: instrumentelle (als Resultat eines kalten Kalküls) / emotionale Aggression.139 Mischformen werden auch eingeräumt: Gewalttaten werden nicht nur von einer momentanen emotionalen Erregung oder von blinder Wut gefördert, sondern zum Beispiel auch von dem Wunsch, die Autorität oder den Status wiederherzustellen.140 Was die Erklärungsansätze betrifft, gehen die Meinungen weit auseinander.141

134 Montada, Aggression, 27. Deutlich wird dieser Zusammenhang von Bierhoff, Ärger, 32, ausgedrückt: „Unter den Auslösern wird ein besonderer Schwerpunkt auf den Vorwurf moralischer Verfehlung und die Zuschreibung von Unfairness gelegt“. 135 Lindner, Emotion, 227, hat die Erniedrigung (humiliation) als „nuclear bomb of the emotions“ charakterisiert. 136 Bies u. a., Point, 26. 137 Tedeschi / Felson, Violence, 259 f. 138 Montada, Aggression, 31. 139 Vgl. Berkowitz, Aggression, 25; Bierhoff / Wagner, Aggression, 6; Anderson /  Bushman, Aggression, 29; Geen, Aggression, 16). Ausdrücklich wird diese Unterscheidung von Bushman / Anderson, Time, 273–279, in Frage gestellt. Eine weitere Unterscheidung ist: reaktive / proaktive Aggression; es wird danach gefragt, wer die Initiative ergreift und ob eine Provokation oder Bedrohung vorliegt (Vgl. Merk u. a., Distinction, 197–220). 140 Vgl. Berkowitz, Aggression, 28. 141 Informativ zu dem aktuellen Forschungsstand Baron / Richardson, Aggression; ein guter deutschsprachiger Überblick findet sich bei Otten / Mummendey, Theorien, 198–216.

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− Die klassische Frustrations-Aggression-Hypothese142 postuliert in ihrer früheren Gestalt eine unmittelbare Verbindung zwischen Frustration und Aggression. Diese Theorie hat sich zur klischeehaften Denkgewohnheit entwickelt und gehört inzwischen zum festen Gedankengut der ‚Pop-Psychologie‘: „Aggression ist immer die Folge einer Frustration. Spezifischer: das Auftreten von aggressiven Verhalten setzt immer die Existenz einer Frustration voraus, und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression“.143 Solche steilen Formulierungen machen eine Theorie allgemein sehr anfällig. Jeder von den beiden Grundsätzen kann leicht widerlegt werden.144 Eine gewisse Verbindung zwischen Frustration und Aggression bleibt aber bestehen. Der Frage: unter welchen Bedingungen das geschieht, widmet sich die Neuauflage von Leonard Berkowitz. Er kommt zu einer Neuformulierung der klassischen Theorie.145 Die ‚Frustration-Aggression-Theorie‘ in ihrer revidierten Fassung nuanciert dieses Verhältnis: Die Frustration erzeugt eine Veranlassung zur Aggression, nur insofern sie negative Affekte erregt. Die anfänglichen emotionalen Erfahrungen rufen dann entsprechende Kognitionen, Erinnerungen hervor, werden mit relevanten Wahrnehmungen assoziiert146 und entscheiden zusammen, ob die Frustration zur Aggression führt oder nicht. Ein direkter Zusammenhang bestehe also nicht, mehrere Faktoren emotionaler, kognitiver und situativer Art müssten als Vermittler eingeschoben werden.147 − Von völlig anderen Grundannahmen gehen James T. Tedeschi und Richard B. Felson aus.148 Dem Aggressor kommt die Hauptrolle zu, er ist die bestimmende Größe, dessen Wahl von erwarteten Belohnungen gelenkt wird. Jede Form von Gewalt ist instrumental und zielt auf bestimmte Ergebnisse, seien sie konkrete Güter, personelle Sicherheit, Gerechtigkeit oder die Wieder­ herstellung einer positiven sozialen Identität.149 Aus diesem Grund wird die 142 Ursprünglich in 1939 zum ersten Mal formuliert; hier wird auf Dollard u. a., Frustration, verwiesen. 143 Dollard u. a., Frustration, 9. Eine Frustration ist vorhanden, wenn die folgenden zwei Bedingungen erfüllt werden: Das Individuum würde bestimmte Handlungen vollziehen; diese Handlungen sind bei ihrem Auftreten gehindert (vgl. ebd., 16). 144 Baron / Richardson, Aggression, 129–133, listen Beweise für und gegen eine solche Annahme auf, die sie zur Aussage führen: „Frustration sometimes facilitates aggression“. (133) 145 Sein Beitrag wird als „kognitiv-neoassoziationistischer Ansatz“ bezeichnet (vgl. Berkowitz, Aggression, besonders Kap. 2, 3 und 4; Ders., Hypothesis, 59–73). 146 Schon früh nach der Veröffentlichung der originalen Hypothese wurde der Einwand erhoben, dass nicht alle Sorten von Frustration Aggressionsauslöser sind, sondern nur diejenigen, die wir als arbiträr, illegitim und unerwartet wahrnehmen und gegen uns persönlich gerichtet sind (vgl. Berkowitz, Aggression, 35; Baron / Richardson, Aggression, 136 f). 147 Geen, Aggression, 17. 148 Tedeschi / Felson, Violence, besonders Kap. 6–9. 149 Tedeschi / Felson, Violence, 165.

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Aggression selbst in „zwanghafte Handlung“ umbenannt und das Soziale als Feld der Interaktion zwischen Akteuren wird als unabdingbarer Hintergrund für die Entstehung der Aggression angesehen. Die Kosten-Nutzen-Abwägung ist ein wesentlicher Aspekt ihrer Theorie.150 Wenn die Durchsetzung der eigenen Interessen (z. B. wegen mangelnder sozialer Kompetenz, unlösbarer Wertekonflikte, langer gewaltsamer gemeinsamer Geschichte usw.) keine sozial akzeptierten Formen annehmen kann, werden Macht, Zwang und Gewalt eingesetzt. − Die Gewalt tritt nicht als etwas Geschichtsloses und Unerwartetes ein, sondern hat ihre Vorgeschichte, die ihre Anwendung ‚motiviert‘. Im Laufe der Interaktion ändern sich die Positionen der Beteiligten – sie sind mal Angreifer, mal Opfer – und damit färben sich auch ihre Wahrnehmungen und ihre kognitive Einschätzungen über die Sachlage in einer breiten Farbpalette, die von Selbstviktimisierung bis zum Eifer nach Gerechtigkeit reichen kann. Die Geschehnisse werden also immer wieder neu konstruiert.151 Durch positions­ spezifische Akzentuierungen und selektive subjektive Berücksichtigung der objektiven Gegebenheiten nimmt der Betroffene das Verhalten des Angreifers als völlig unbegründet, überzogen und provozierend wahr. Der Aktant seinerseits weist auf vergangene Geschichten und Provokationen hin, die sein schroffes Vorgehen verständlich, ja sogar notwendig erscheinen lassen, sodass jeder von den Beteiligten den Anspruch erhebt, ein Reagierender zu sein, und sich keineswegs als Verursacher der kritischen Situation betrachtet. Kurz gesagt: Aggressiv sind immer die anderen. Somit wird in der jeweiligen sozialen Interaktion die Norm der negativen Reziprozität befestigt, die jedem das Recht gibt, auf das aggressive Verhalten ebenfalls aggressiv zu antworten.152 Eine restlose Objektivität der gegenseitigen Stellungnahmen in einem konfliktären Rahmen ist ein unerreichbares Desiderat. Durch das Hineinkommen in eine Gruppe rückt die persönliche Identität in den Hintergrund. Das bedeutet aber keinen Verlust an Rationalität, sondern dadurch wird nach der SIT das verstärkte Einschalten der sozialen Identität veranlasst. Die Gruppenmitglieder bleiben nicht anonym, sondern nehmen eine andere Identität an, nämlich die der Gruppe: „In becoming a part of a group, individuals do not lose all sense of self, rather they shift from the personal to the social level of identification“.153 Sie lassen sich von den Zielen und Normen der Gruppe beein-

150 Otten / Mummendey, Theorien, 204. Mehr dazu in: Tedeschi / Felson, Violence, 187 ff. 151 Mummendey u. a., Aggression, 75. 152 Mummendey u. a., Aggressiv, 182. 153 Reicher u. a., Deindividuation, 177.

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flussen, die je nach dem einzelnen Fall auch prosoziales Verhalten fördern können. Vorgegebene Spannungen und divergierende Interessen führen aber oft zu aggressiven Akten. Wir haben es dann schon nicht mehr mit isolierten punktuellen Ereignissen zu tun, sondern mit komplexen sozialen Phänomenen, denen wir uns in einem letzten Abschnitt noch zuwenden werden.

1.3 Grundbausteine der Konfliktbeschreibung 1.3.1 Was ist ein Konflikt? Was die Definition des Begriffes „Konflikt“ betrifft, ist man sich nur darin einig, dass es keinen vollständigen und von allen anerkannten Konfliktbegriff gibt. Seine ‚Allgemeinheit‘154 und die verschiedenartige Anwendung führten zu zahlreichen Definitionen und Bestimmungsversuchen, die mit der Zeit eine immer feinere und sehr ausdifferenzierte Betrachtungsweise, die sehr vom jeweiligen theoretischen Blickwinkel abhängt,155 zur Folge hatten.156 Für Louis Kriesberg war eine Konfliktdefinition mit einem starken Fokus auf die beabsichtigten Ziele noch zufriedenstellend;157 in der neueren Konfliktforschung kommt es zu komplexeren Formulierungen. Die einfache und synthetische Definition von Dean G. Pruitt und Sung H. Kim zeigt schon die Richtung dieser Entwicklung, wenn man das Wort perceived betont.158 Das Subjektive wird nicht mehr ausgeklammert, sondern nimmt eine entscheidende Rolle ein. Die innere Welt der Beteiligten – d. h. zugleich auch die eigene konstruierte Welt – ist eingeholt und wird entscheidend für die Bestimmung einer Konfliktsituation und letztendlich für den Konfliktbegriff selbst. Dieser Trend ist auch mit der zunehmenden

154 Mack / Snyder, Analysis, 212–248, bezeichnen den Konflikt als „Gummi-Metapher“ („rubber concept“), dehnbar je nach dem beabsichtigten Zweck. Glasl, Konfliktmanagement, 14, wehrt sich gegen einen „Container-Begriff “, in den jeder hineininterpretieren kann, was er möchte (vgl. auch Pruitt / Kim, Conflict, 7). 155 Bonacker, Konflikttheorien, 14, unterstreicht die Abhängigkeit des Konfliktbegriffes von der jeweiligen Konflikttheorie so stark, „dass erst Konfliktteorien es ermöglichen, den Begriff inhaltlich zu füllen“. 156 Die gesamte begriffliche Diskussion kann hier nicht aufgenommen werden, einen überschaubaren und strukturierten Überblick bietet Glasl, Konfliktmanagement, 14–18; vgl. auch Vollmer, Konflikt, 54–57, oder Herrmann, Konfliktarbeit, 17–21. 157 Kriesberg, Sociology, 17: „Social conflict is a relationship between two or more parties who (or whose spokesman) believe they have incompatible goals“. 158 Pruitt / Kim, Conflict, 7–8 („perceived divergence of interest“). Etwas ausführlicher De Dreu / Gelfand, Conflict, 6: „A process that begins when an individual or group perceives differences and oppositions between itself and another individual or group about interests and resources, beliefs, values, or practices that matter to them“; auch Deutsch, Konfliktregelung, 19, spricht von einem „erlebten Konflikt“.

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Rolle verbunden, die den psychologischen Phänomene in der Konfliktentstehung und Konfliktaustragung beigemessen wird. Das erklärt auch, warum die sozial­ psychologischen Modelle, die zwischen Soziologie und Psychologie angesiedelt sind, immer mehr an Bedeutung gewinnen.159 Ausgehend von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Konfliktgegenständen und Konfliktverhalten160 kann man in einer Definition tendenziell die Ursachen oder die Handlungen hervorheben. Jede Form, den Konfliktbegriff einzugrenzen, hat auch Nachteile: Ein ‚enger‘ Konfliktbegriff ist natürlich sehr handlich und für konkrete Verhandlungen brauchbar, kann aber theoretisch zu kurz reichen und weite Teile der sozialen oder psychologischen Wirklichkeit unberücksichtigt lassen. Ein ‚weiter‘ Konfliktbegriff kann sich in der Praxis der Konfliktlösung als unterbestimmt und inadäquat erweisen. In der neueren Konfliktforschung ist oft die Auffassung des Konfliktes als Prozess anzutreffen. Somit wird von einem starren Konfliktbegriff Abschied genommen und eine früher ungenügend beachtete, zugleich synchronische161 und diachronische162 Komplexität wird bestimmend. Daraus entsteht ein facettenreicher Konfliktbegriff: ein komplexer sozialer Prozess mit eigenständiger Dynamik, mit vielschichtigen Ursachen, mehrdimensionaler Konfliktaustragung und multiplen möglichen Ausgängen. Sehr einflussreich, besonders im deutschsprachigen Raum, ist der Ansatz von Friedrich Glasl, der eine ausführliche Konfliktdefinition formuliert, die das subjektive Element in das Zentrum rückt. Von einigen als „eng“ charakterisiert,163 in den Fachdiskussionen aber oft verwendet, lautet sein Definitionsvorschlag wie folgt:

159 Zum Verhältnis Sozialwissenschaften  – Sozialpsychologie vgl. Withey / Katz, Conflict, 65; siehe auch Thiel, Konflikte, 32: „Konflikte können im Grunde kaum mehr auf wenige gemeinsame generative Mechanismen zurückgeführt werden, notwendig ist vielmehr eine Analyse der Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten […]. Eine solche Vorgehensweise steht im Grunde in diametralem Gegensatz zur klassischen soziologischen Absicht“. Studien zur sozialpsychologisch orientierten Konfliktanalyse habe ich in der Anm.  28 aufgelistet. 160 Pruitt, Conflict, 470; auch De Vliert, Complex, 7: „Conflict issues and conflict behaviour are basically independent phenomena“. 161 Das betrifft das Konfliktverhalten („No conflict behaviour is completely without com­ plexity […]. The term conglomerated conflict behaviour refers to  a simultaneous or sequential aggregation of several behavioural components [meine Anmerkung: „Avoiding“, „Accommodating“, „Compromising“, „Fighting“] in varying degrees“, vgl. De Vliert, Complex, 102 f), aber auch die Konfliktebene: individuell / gruppenbezogen (vgl. De Dreu / Gelfand, Conflict, 7) und die Ursachen des Konfliktes (De Dreu / Gelfand, Conflict, 8 ff). 162 Die zeitliche Dimension wird auch in das Spiel gebracht: „Issues of time are by definition critical for the study of conflict.“ Jede Gruppe hat ihr eigenes Zeitprofil (vgl. De Dreu / Gelfand, Conflict, 36–39). 163 Herrmann, Konfliktarbeit, 18.

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Ein sozialer Konflikt ist eine Interaktion zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.), wobei wenigstens ein Aktor eine Differenz bzw. Unvereinbarkeiten im Wahrnehmen und im Denken bzw. Vorstellen und im Fühlen und im Wollen mit dem anderen Aktor (den anderen Aktoren) in der Art erlebt, dass beim Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will, eine Beeinträchtigung durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge.164

Diese Definition schafft es, meint Ansgar Thiel,165 mehrere Probleme der sozialwissenschaftlicher Konfliktforschung zu vermeiden, indem sie zum Beispiel das Erleben von Unvereinbarkeiten ohne die konsequente Handlung mindestens eines Akteurs als nicht hinreichend einstuft, um von einem Konflikt zu sprechen. Auch die Abgrenzung zu verwandten Ereignissen (wie z. B. Missverständnis, Meinungsdifferenz usw.) gelingt besser.166 Das heißt nicht, dass Missverständnisse oder logische Widersprüche usw. im Laufe eines Konfliktes nicht vorkommen können, aber nur sie allein machen noch keinen Konflikt aus. Erst durch die Verknüpfung mit der Ebene der Handlung und durch die Bildung einer öffentlichen Gegenposition kommt ein Konflikt zustande.167 Ein Konflikt entsteht also, wenn die aufeinanderprallenden Vorstellungen zweier Parteien zum konkreten Handeln führen. Die Definition eines Konfliktes soll auch Anhaltspunkte für die Erörterung der Ursachen bieten. So hat man es zumindest lange angenommen – ein Grund, warum „sich sozialwissenschaftliche Konfliktforschung in der Vergangenheit hauptsächlich als Ursachenforschung profiliert hat, letztlich aber damit gescheitert ist“.168 Ein survey über einige vertretene Positionen kann einen in dieser Hinsicht in Verlegenheit bringen, denn auf der Ebene der Begrifflichkeit, aber auch in den eigentlichen Ausführungen herrscht eine irreführende Uneinigkeit. Trotz des Fehlversuches, eine causa prima zu identifizieren, hat die Debatte zu einem wichtigen Erkenntnisgewinn geführt, nämlich diesem, dass eine engführende Ursachenerklärung der Komplexität des Phänomens einfach nicht gerecht wird. Louis Kriesberg hat den Begriff „causes of conflict“ sogar aufgegeben und zieht ihm einen deutlich allgemeineren vor (­„bases of conflict“). Weiter werden drei Kategorien von Faktoren herangezogen:169 die

164 Glasl, Konfliktmanagement, 17. 165 Thiel, Konflikte, 30. 166 Dazu anschaulich die Tabelle bei Glasl, Konfliktmanagement, 19. 167 Diese Ausweitung der punktuellen Interessen bis zu dem Ausbruch in konkreten Handlungen als Bedingung für die Annahme Konfliktes ist auch bei Pruitt / Kim, Conflict, 16, anzutreffen: „Before party’s interests can clash with those of other, these interests must be translated into aspirations, mental representations of the things that party strives for or believes it must achieve. Aspirations may take the form of goals that party is striving for“. 168 Herrmann, Konfliktarbeit, 20. 169 Kriesberg, Sociology, 61 ff.

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Charakteristika der Gegner, die Beziehungen untereinander und schließlich das soziale Milieu.170 Friedrich Glasl spricht seinerseits nicht mehr von Konfliktursachen, sondern vielmehr über ein Konfliktpotenzial.171 Diese Sicht ist von seiner Auffassung von Konflikten als eskaliertes Geschehen her zu verstehen. In fortgeschrittenen Phasen können die Ursachen und Folgen in umgekehrter Richtung wirken und die anfänglichen Konfliktfolgen erweisen sich später als konfliktfördernde Ursachen.172 Die Konfliktprozesse sind zudem zyklisch und die Wechselwirkungen bestimmen stets das Konfliktgeschehen. Das ist der Grund, weshalb im Konflikt […] nicht von eindeutigen und einseitigen, d. h. linearen Ursachen und daraus erfliessenden Folgen gesprochen werden [kann], sondern von ‚mutual ­causality‘, d. h. von Wechselwirkungen verschiedenen Faktoren.173

1.3.2 Sozialpsychologische Mechanismen der Konfliktentstehung und -austragung: Rückblick und Ausblick Wenn man keine direkten Konfliktursachen präzisieren kann, ist es zumindest möglich, einige konfliktfavorisierende psychologische Faktoren zu identifizieren. Manche von ihnen habe ich schon in den vorherigen sozialpsychologischen Ausführungen kurz dargestellt und werde darauf nicht mehr eingehen müssen. Andere theoretische Elemente werden erst im exegetischen Teil an passender Stelle eingeführt. Dazu zählen von der Gruppendynamik ausgehend, verschiedene gruppendynamische, kognitive oder emotionale Prozesse wie: Gruppenkohäsion (vgl. 1.2.1), mirror image-Effekt (4.3.2.1), Identitätsgefährdung (5.3), Gruppenpolarisierung,174 soziale Vergleiche und das Streben nach einem positiven Selbst 170 Eine ähnliche mehrstufige Analyse der Konfliktentstehung vertritt auch Smith, Lan­ guage, 24, der die sozial-ökonomischen Hintergründe eines Konfliktes als einzige Begründung der Handlungen einer Gruppe und ihres Führers stark relativiert. Er entwirft eine ausdifferenzierte, vierteilige Typologie über die Ursachen eines Konfliktes: Hintergründe (channels: die Basiselemente der sozio-politischen Struktur); Ziele (targets); Auslöser (triggers stehen für die zeitliche Dimension und erklären nicht allgemein, warum ein Konflikt stattfindet, sondern warum er ausgerechnet dann ausbricht) und schliesßlich Katalysatoren (catalysts: interne oder externe Faktoren, die die Intensität und die Dauer eines Konfliktes beeinflussen). Allgemein gilt heute: „Konflikte können im Grunde kaum mehr auf wenige gemeinsame generative Mechanismen zurückgeführt werden“ (Thiel, Konflikte, 32). 171 Das ‚traditionelle‘ Thema wird als Teil  der „Konfliktdiagnose“ behandelt vgl. Glasl, Konfliktmanagement, 105–113. 172 Glasl, Konfliktmanagement, 99. 173 Glasl, Konfliktmanagement, 99; vgl. dazu auch Deutsch, Konfliktregelung, 15: „Soziale Interaktion wird nicht nur von Motiven initiiert; sie schafft auch neue Motive und verändert alte. Sie ist nicht nur festgelegt, sondern legt auch fest“. 174 Vgl. weiter S. 400, Anm. 92.

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bild (self esteem),175 Stereotype,176 soziale Attribution,177 „die selbsterfüllende Prophezeiung“,178 emotionale Gruppenzustände (vgl. 1.2.4) usw., die als natürliche, individuelle Phänomene oder Gruppenphänomene an sich keine Konfliktgefahr bedeuten, aber unter bestimmten sozialen Umständen und besonders in schon erreichten fortgeschrittenen Konfliktphasen die Eskalation vorantreiben können. Solche sozialen ‚Katalysatoren‘ werden hier noch kurz erörtert, bevor ich dann schließlich die Dynamik der Eskalation noch in Grundzügen beschreibe. Die situativen Bedingungen, die Parteiencharakteristika, ihr Verhältnis zuein­ ander und zu ihrem Umfeld, bestimmen das Konfliktereignis eindeutig. Die eigenen Ziele sind sozial eingebettet und beziehen sich auf die vorhandenen Ressourcen: „Scarce resources constitute one major cause of conflict at all levels of analysis“.179 Die inhärente Interdependenz zwischen den sozialen Akteuren180 bringt sie oft in eine ‚negative Abhängigkeit‘: Sie erreichen nur dann ihr Ziel, wenn die Interessen der anderen beeinträchtigt werden. Auf dieser Grundannahme stützt sich hauptsächlich die Theorie des realistischen Gruppenkonfliktes.181 Danach liegt es also an den konkreten Interessen und an ihrer Erreichbarkeit, ob ein Konflikt ausbricht oder nicht. Wenn diese Ziele eine zentrale Position in der jeweiligen Gruppenkultur einnehmen,182 sinkt die Verhandlungsbereitschaft sehr stark. 175 Vgl. oben S. 30 „Soziale Konflikte [sind] immer eine existenzielle Herausforderung an unser Selbstbild“ (Glasl, Konfliktmanagement, 38). Besonders wenn das Selbstwertgefühl einer Person angegriffen wird, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass kompetitive Taktiken angewendet werden (De Dreu / Gelfand, Conflict, 15 f). 176 Vgl. oben 1.2.3. Stereotype beschränken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Klassen von Informationen und führen zu Vereinfachungen in der Beurteilung einzelner Personen und Gruppen (Lili / Frey, Hypothesentheorie, 69; Thomas, Grundriss, 240). 177 Vgl. oben 1.2.3. Besonders die Tendenz hin zur internen Attribution kann vorschnell Pauschalisierungen zur Folge haben; vgl. dazu Fisher, Conflict, 181–182; Pruitt / Kim, Conflict, 159 („attributional distortion“); Deutsch, Features, 45 f; Korostelina, Identity, 132. 178 Vgl. oben 1.2.3. Oft mit Konfliktentstehung oder Eskalation in Verbindung gebracht; sie sorgt dafür, dass auch die schlimmsten Vermutungen der Eigengruppe bestätigt werden; vgl. dazu Deutsch, Konfliktregelung, 14; Pruitt / Kim, Conflict, 154–155; Deutsch, Features, 45; Kelman, Approach, 175. 179 De Dreu / Gelfand, Conflict, 8.  180 Der „Kontakt“ und die „Sichtbarkeit“ sind daher eine Grundbedingung, jedoch keine ausreichende Bedingung, damit ein Konflikt entsteht (vgl. Deutsch, Konfliktregelung, 69–73; Ders., Features, 29–30; 35. 181 Sie ist dem Sozialpsychologen Muzafer Sherif zu verdanken, der eine Reihe von Experimenten über Gruppenbildung, Gruppenkonflikt und Konfliktlösung durchgeführt hat – die so genannten „Robbers Cave“ – Experimente (vgl. dazu Sherif, Conflict; Taylor / Moghaddam, Theories, 35–60). 182 Solche „rigid aspirations“ sind wichtige Anliegen bei denen keiner der Konfliktbeteiligten nachgeben würde. Vgl. De Vliert, Complex, 92: „Notably, big issues, negative goal interdependence, and little perceived common ground tend to promote egocentric concern“; auch Deutsch, Features, 39: „Thus conflicts over issues that are considered to be central by both­ sides are often the most irreconcilable ones“.

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Dazu kann man materielle, aber auch ideelle Bedürfnisse wie Identität oder Respekt zählen.183 Je zentraler der umstrittene Punkt ist, desto heftiger ist die Debatte. Ein Nachteil wird als relative Deprivation184 empfunden. Das geschieht, wenn es einer Partei nicht gelingt, zu dem Ergebnis zu kommen, das sie erwartet hat und auf das sie ein Anrecht zu haben glaubt. Einerseits wird sich jene Partei dadurch bewusst, dass unüberbrückbare Inkompatibilitäten bestehen; andererseits liefert die Deprivation die nötige Energie, um die Hindernisse aufzuheben.185 Dieses Durchsetzungsvermögen drückt man am besten mit dem Begriff Macht aus.186 Peter T. Coleman ist sogar der Meinung, dass jeder Konflikt sich um die Macht dreht.187 Die Macht ist ein Mittel, um das Soziale im Sinne der eigenen Überzeugungen zu verändern und zu gestalten. Ein ständiges Wechselspiel mit der sozialen Umgebung charakterisiert jeden sozialen Akt. Über die Gruppen hinaus polarisiert sich auch die Mehrheit: Es kann einerseits zu einer spontanen Spaltung in der Gesellschaft kommen, andererseits werden neue Mitglieder bewusst rekrutiert. In einem eskalierten Konflikt gewinnen die Ereignisse eine unübersehbare Eigendynamik („self-perpetuating dynamic“).188 Einige Beispiele sollen diesen Prozess abschließend zusammenfassend veranschaulichen.189 − Zunehmende Projektion bei wachsender Selbstfrustration Dadurch steigt die Tendenz, alle negativen Ereignisse der Gegenpartei anzulasten, wobei die eigene Schuld verdrängt oder einfach übersehen wird. Sind 183 Cook-Huffman, Identity, 21: „Once issues of identity become a concern, there is likehood that the resulting perceptions, assumptions, and communication dynamics will transform potentially negotiable issues into intractable conflicts“. 184 Einen guten Überblick zu diesem Thema findet man bei Walker / Pettigrew, Deprivation, 1–14; Walker, Deprivation, 694–698. Pruitt, Conflict, 489, zählt die relative Deprivation zu den wichtigsten Konfliktursachen: „The two main sources of conflict behaviour: divergence of interests and relative deprivation“. 185 Pruitt / Kim, Conflict, 19 f; Kriesberg, Sociology, 68 ff. 186 Dazu Deutsch, Konfliktregelung, 84–91; Pruitt / Kim, Conflict, 22–23. Die Macht ist nach Morton Deutsch ein Beziehungsbegriff und bedeutet den überlegten und beabsichtigten Einfluss auf die Wertauffassungen, Glaubenseinstellungen oder Verhaltensweisen der anderen. Ähnlich urteilt auch Witte, Theorien, 221, mit seinem ausdifferenzierten Machtbegriff: „Unter sozialer Macht verstehen wir […] die aufgrund ihrer Verfügungsgewalt über Ressourcen von den Partnern zugeschriebene Fähigkeit von Personen oder Gruppen, auf kognitive oder Verhaltensaspekte dieser Partner einzuwirken“. 187 Coleman, Power, 120: „In fact, virtually all conflicts directly or indirectly concern power“; auch Kriesberg, Sociology, 44; Condor / Brown, Processes, 14; Northrup, Dynamic, 61; Brewer, Relations, 34. 188 Kelman, Approach, 174. 189 Ich orientiere mich an einigen Darstellungen der Eskalation. Vgl. dazu Glasl, Konfliktmanagement, 207–226; Pruitt / Kim, Conflict, 85–168; Thiel, Konflikte, 65–78. Eine solide Darstellung der Eskalation findet man auch bei Kriesberg, Conflicts, 159–189; ausführlicher Ders., Sociology, 153–203.

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solche Projektionsmechanismen einmal in den Gang gesetzt, weiten sie sich aus, denn sie „geben Anlass zu Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen und Enttäuschungen und diese verstärken aufs neue die Projektionsvorgänge“.190 Von leichten zu schweren Taktiken Am Anfang gehen die Parteien noch ziemlich vorsichtig miteinander um, mit der Zeit aber, wenn die Fronten sich verhärten, kann es zu einem ‚Dammbruch‘ kommen und die Parteien lassen den aufgestauten Affekten freien Lauf.191 Der andere verliert allmählich den Status eines Gesprächspartners, mit dem man sich noch einigen kann und wird zum Opfer von Verleumdungen und Bedrohungen der Gegenpartei.192 ‚Issue-Lawine‘ und Komplexitätsreduktion Mit der Zeit werden immer mehr inhaltliche Aspekte in die Konfliktthematik aufgenommen. Die Streitfragen wachsen an Anzahl, Umfang und Komplexität.193 Von anfänglich überschaubaren und spezifischen Fragen tendiert man zu allgemeinen und umfassenden Streitpunkten: „small, concrete concerns tend to be supplanted by grandiose and all-encompassing positions and by a general intolerance of the other side“.194 Die Ausweitung der Konfliktgegenstände wird nach Friedrich Glasl von einer starken Komplexitätsreduktion auf der Ebene der Wahrnehmung begleitet. Die Zusammenhänge werden vereinfacht, die Wirklichkeit wird immer stärker nur durch die eigene Sichtweise betrachtet. Zur Folge „werden die Parteien in ihrem Denken starrer, in ihrem Auftreten radikaler und in ihren Forderungen extremer“.195 Was ganz besonders darunter leidet, ist das Bild des Anderen: „Man reagiert nicht mehr auf die Person des Gegners, sondern auf den Typus des Feindes, auf den Stereotyp, den man sich im Laufe der Konfrontation von ihm gebildet hat“.196 Ausweitung des sozialen Rahmens bei gleichzeitiger Tendenz zum Personifizieren Die Anzahl der Beteiligten an einem Konflikt hat im Laufe der Eskalation die Tendenz zu steigen; immer mehr Personen oder Gruppen werden in den Konflikt mit hineingezogen.197 So wird die soziale Umgebung zum Reservoir

190 Glasl, Konfliktmanagement, 211. 191 Glasl, Konfliktmanagement, 211. 192 Pruitt, Conflict, 89. 193 Kriesberg, Sociology, 160: „Often it is difficult to say which goal is a mean to which other goal, all the issues are so inextricably tied together“. 194 Pruitt / Kim, Conflict, 89; auch Glasl, Konfliktmanagement, 213; Putnam / Wondolleck, Intractability, 41: „The issues not only grow in number and scope, they also become interwined“. 195 Glasl, Konfliktmanagement, 216. 196 Glasl, Konfliktmanagement, 222. 197 Besonders Disputen um ideologische oder ethische Fragen können mehrere Parteien in den Konflikt hineinziehen. Solche Uneinigkeiten „appears to the partisans as difficult to divide and not amenable to compromise“ (Kriesberg, Conflicts, 173).

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von neuen Kräften, neuen Anhängern und neuen Kontrollmitteln. Je breiter und stärker die Hintermannschaft ist, desto effektiver ist der Einfluss, den die Partei auf die Konfliktsituation ausüben kann. Mit der Ausweitung des sozialen Rahmens wird die Konfliktlage immer chaotischer und die Interaktion zwischen den Konfliktparteien wird zunehmend unpersönlicher.198 Hand in Hand mit dieser Tendenz geht auch eine paradoxe Entwicklung einher: Die Streitfragen verlieren immer mehr an Bedeutung und in das Zentrum rückt der Feind als solcher – der Konflikt wird also personalisiert. Nicht die Äußerungen, Meinungen oder Argumente der Gegner sind unakzeptabel, sondern ihr Urheber selbst.199

1.4 Fragestellung und Aufbau der vorliegenden Arbeit 1.4.1 Subjektiver vs. objektiver Status der Gemeinde Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich eine Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Status für den Zweck dieser Arbeit als grundlegend. Der objektive Status einer Gruppe zeigt sich in dem Einfluss, den sie in der breiten Gesellschaft ausübt und in der Anerkennung ihrer Werte. Eine Gruppe mit niedrigem objektivem Status hat mit Marginalisierung und Vorurteilen zu rechnen und sucht deswegen nach Strategien, um ihre soziale Stellung zu verbessern.200 Der subjektive Status, d. h. die Selbstwahrnehmung als geschlossene und selbstbewusste Gruppe, deckt sich aber nicht unbedingt mit dem objektiven Status. Die Selbsteinschätzung kann dank einer positiven Gruppen­kultur erheblich günstiger ausfallen. Angewendet auf die untersuchte jüdisch-christliche Gemeinde soll ihr subjektiver Status an der Hoheit und der Qualität ihrer Christologie gemessen werden. Für was sie sich hält, ihr Wesen und ihre Struktur spiegeln sich in ihrem Christusverständnis wieder. Und umgekehrt bedeutet dies: Christus durchdringt ihre Praxis in allen Lebensbereichen. Ihr realer, objektiver Status lässt sich hingegen nur mutmaßlich und sehr begrenzt aus den über den ganzen Text verteilten Hinweisen noch ‚rekonstruieren‘, wobei das Ergebnis auf unvermeidlichen Interpreta­ tionsvorlieben und Vorannahmen fußt. Die matthäische Entfaltung der Christologie ist also eine verschlüsselte Selbstdarstellung und in dieser Hinsicht stellt sie nur die Hälfte der Geschichte dar, nämlich die Innenperspektive. Die hohe Christologie bezeugt über ein sehr positives Selbstbild, ungeachtet der wahrscheinlich geringen Rolle, die die Gruppierung in der religiösen Bestimmung ihrer Umwelt

198 Glasl, Konfliktmanagement, 222. 199 Glasl, Konfliktmanagement, 222. 200 Stangor, Groups, 69, 249; Ellemers / Barreto, Impact, 332–333.

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spielte. Das Evangelium verarbeitet wie eine Art „group’s manifesto“201 diese erlebte Differenz zwischen dem christologisch zugesprochenen hohen Status und der widrigen sozialen Wirklichkeit. Diese Überlegungen nehme ich im letzten Teil der Arbeit wieder auf. Die primäre Unterscheidung zwischen dem subjektiven und objektiven Status bestimmt auf Gliederungsebene die Trennung der beiden Hauptteile: Die Konfliktanalyse (Hauptteil I) schildert die Ereignisse aus der subjektiven Perspektive der matthäischen Gemeinde. Dieser werde ich eine Gruppenbeschreibung hinzufügen (Hauptteil II), die die Ergebnisse der sozialpsychologischen und exegetischen Analyse für den hypothetischen objektiven Status der Gruppierung annäherungsweise fruchtbar zu machen versucht.

1.4.2 Konflikt in, cum et sub Text Der aus dem Bereich der Medizin entlehnte Begriff „Konfliktdiagnose“ ist in der Konfliktforschung häufig anzutreffen.202 Das heißt natürlich nicht, dass die Konflikte als anomale Ereignisse behandelt werden. In den heutigen Sozialwissenschaften ist diese Betrachtungsweise längst überholt; vielmehr interessiert man sich für das kreative Potenzial eines Konfliktes.203 Durch Konfliktanalyse wird versucht, möglichst konkret und schlüssig alle ‚W-Fragen‘ zu beantworten und sich aus den verstreuten Indizien ein einheitliches Bild über eine konflikthafte Beziehung zu verschaffen. Dieses methodisch relativ einfache Muster soll zum Ergebnis führen, dass man die Hauptkräfte und Hauptgründe, die im Konflikt agieren, ins Auge fasst und die Eskalation aufgrund der Spannungen, verwendeten Sprache und Rhetorik einigermaßen beschreibt. Die Existenz eines Konfliktes der matthäischen Gemeinde mit der Synagoge gehört zu den Grundannahmen dieses Ansatzes, und der Anteil der intensiv erlebten Problematik der dahinten stehenden Gruppierung ist m. E. bei der Gestaltung eines Textes dieser Gattung relativ hoch. Die Turbulenzen des Alltagslebens bleiben nicht außerhalb der theologischen Sinnkonstruktion des Evangeliums. Aus der bewährten Erkenntnis, dass Matthäus eine Konfliktgeschichte erzählt, lassen sich wertvolle Schlüsse auf die Darstellungsweise der handelnden Personen und auf das gesamte Erzählkonzept ableiten. Den Akteuren werden bestimmte theologische Stellungnahmen zugeschrieben. Der Plot legt erzählerisch 201 Ascough, Matthew, 125. 202 Vgl. z. B. Coltri, Diagnosis; Kreyenberg, Konfliktmanagement; Schwarz, Konfliktmanagement. 203 Turner / Reynolds, Identity, 146–147: „Human social conflict is not a matter of psychological, and historical processes which have shaped people’s collective understanding of themselves, their ingroups and outgroups, and their relations with other groups. It is an outcome of the collective theories and ideologies which they have developed“. Vgl. auch Condor /  Brown, Processes, 19.

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Einleitender Teil

dar, was dem Erzähler, mit seinem auf die vorbildliche und legitimierende Vergangenheit und zugleich auf die konflikthafte Gegenwart gerichteten Blick, besonders am Herzen liegt. Einmal festgestellt, dass die Erzählung für die Hörer / Leser transparent204 ist, werden die Handlungen der einzelnen Erzählgrößen, ihr Verhalten zuein­ander und das Bild, das sie voneinander in sich tragen, zu einer redaktionell sorgfältig gestalteten Stellungnahme im Rahmen eines gegenwärtigen Konfliktes. Eine rein geschichtlich-deskriptive Intention, losgelöst von jedem zeitgenössischen Bezug, wird m. E. der matthäischen Jesusgeschichte nicht gerecht. Eine bewusst konstruierte Textpragmatik mit intendierten, konkreten und effektiven Wirkungen in die von der Gemeinde erlebte Konfliktsituation hinein steht außer Frage. Die Motivation, das Evangelium zu schreiben, entsteht also aus der Gegenwart des Evangelisten und seine Jesusgeschichte nimmt diese realen Umstände der Gemeinde in den Blick. Grundsätzlich gilt aber auch, dass die Entstehung des Evangeliums und seine inhaltlichen Schwerpunkte sich nicht restlos durch die Konfliktthematik erklären lassen. Zugleich halte ich den Konflikt mit den pharisäischen Gegnern nicht für den alleinigen Schlüssel zum besseren Verständnis von MtEv. Eine Untersuchung kann aber nicht alles leisten, eine thematische Eingrenzung ist Pflicht. Gruppendynamische Mechanismen, der Drang nach Selbstentfaltung, nach Kristallisierung und Befestigung einer Identität, können durchaus ohne allfällige Konflikte verlaufen und auch schriftliche Formen annehmen. Umso mehr aber wird ein Konflikt eine Gruppe dazu fordern, ihre schwankende Identität zu präzisieren und ihre distinkte Stellung in einem gespannten Verhältnis zur Gegengruppe zu bewahren bzw. erst zu konstruieren und zu stärken. An welcher Stelle die Trennlinie zwischen dem genuinen Gottesverständnis der Gemeinde und der vom Konflikt angeregten theologischen Selbstschutzstrategie liegt, ist letztendlich eine Sache der Interpretation. Es kommt aber nicht selten vor, dass eine bewegende oder bedrohliche Erfahrung sogar schon befestigte Einstellungen und Weltanschauungen nachdrücklich ‚färbt‘ und verschiedene schon vorhandene Überzeugungen im Einklang mit den neu erworbenen Erkenntnissen auf einen neuen gemeinsamen Nenner bringt. Mit der Zeit wird die Bedeutung des Konfliktes mit der Bedeutung des Selbst eng verbunden und das Konfliktereignis schleicht sich in die innersten Komponenten der eigenen Identität ein: „As the conflict itself feeds the escalation process, par 204 Luz, Jesusgeschichte, 45, hat sehr deutlich diesen Aspekt herausgestrichen: „Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte Jesus und eigene Erfahrung liegen ständig ineinander“. Matthäus stellt seine Jesusgeschichte als Geschichte der Auseinandersetzung mit Israel dar (ebd., 78). Ausführlicher über das Matthäusevangelium als eine „inklusive Geschichte“ vgl. Luz, Mt I, 36–39. Siehe auch Beare, Jesus, 32: „We must see the entire gospel as moving in a double perspective – that of the historical life of Jesus and that of the matthean church of seventy years or so after his death“.

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ties develope a vested interest in the conflict and assimilate the conflict into their story of self “.205 Erzählt wird das Matthäusevangelium aus der Perspektive eines eskalierten Konfliktes.206 Die normale narrative Entwicklung wird des­wegen öfters durch die Meldungen aus der turbulenten Gegenwart der Gemeinde überholt und ‚bereichert‘; die Fronten sind von Anfang an verhärtet,207 reale und narrative Ereignisse überlappen sich ständig. Von daher ist eine so scharfe Trennung zwischen Tradition und Innovation im Hinblick auf die matthäische Konfliktgeschichte nicht von einem besonders großen hermeneutischen Interesse, nicht erstrebenswert und schlussendlich auch nicht möglich. Die Konfliktthematik ist aufs engste mit der theologischen Struktur des Evangeliums verflochten, sie ist in der Erzählung ‚allgegenwärtig‘. In der Vorgehensweise orientiere ich mich an den Vorgaben einer kompletten Konfliktdiagnose. Dies ist in meinem Fall nicht nur eine gewinnbringende Methode, sondern auch ein gutes Gliederungsmittel. Ich werde deswegen den Stoff nach folgenden Richtlinien anordnen: Zuerst frage ich nach den Konfliktbeteiligten (2.1 und 2.2) und ihren Beziehungen zueinander, dann werde ich die Konfliktquellen (3.1, 3.2, 3.3) erörtern und in einem umfassenden Teil die Dimensionen der komplexen Konfliktaustragung (4.1, 4.2, 4.3) verdeutlichen. Schließlich werde ich, wie schon gesagt, in einem rückblickenden Abschnitt Erwägungen zu dem objektiven Status der Gemeinde, zu ihrer Gruppendynamik und ihrer gefährdeten Identität (Kap. 5) formulieren und anschließend nach der Relevanz der komplexen und prägenden Ereignisse für das Verhältnis der matthäischen Gemeinde zum formativen Judentum fragen (Kap. 6).

205 Cook-Huffman, Identity, 23, 25: „identities are transformed in the waging of conflicts“; vgl. auch Northrup, Dynamic, 75–76: „The conflict itself becomes a defining characteristic of the identity of the conflict parties. […] Over time, the social way of life […] interweaves the importance of the conflict with the importance of the self “. Ähnlich äußert sich auch Zartman, Analyzing, 50: „The conflict plays back on the identity itself, turning into a beleaguered selfawareness […]. Endangerment becomes part of the identity itself “. 206 Vgl. auch Buck, Anti-Judaic, 179: „Matthew […] bears the marks of an escalation of that conflict“; Glasson, Anti-Pharisaism, 320: „Conflict […] colors its presentation of Jesus“. 207 Vgl. Hummel, Auseinandersetzung, 37; Konradt, Israel, 121; Garbe, Hirte, 58–59: „Die Tatsache, dass Mt narrativ die Pharisäer zum Ausgangspunkt der Verfolgung Jesu macht, weist also wohl, gerade in Verbindung mit den Sabbat-Fragen, auf aktuelle Auseinandersetzungen der mt Gemeinde mit den Pharisäern hin“.

Erster Hauptteil: Der subjektive Status der Gemeinde. Eine ‚Diagnose‘ des matthäischen Konfliktes mit der Synagoge im Lichte der exegetischen und der sozialpsychologischen Forschung

2. Konfliktbeteiligte: Die tragenden Kräfte des Konfliktes 2.1 Die Eigengruppe: Jesus als Legitimierungsmittel und polemisches Gesicht der Gemeinde Das Jesus-Bild und seine Funktion stehen im Zentrum des Evangeliums und machen dessen eigentliches Thema aus. Die Frage nach der Identität Jesu durchzieht den matthäischen Text buchstäblich vom ersten bis zum letzten Vers. Die von Matthäus entworfene Christologie steht aber nicht nur mit dem erzählerischen Rahmen in enger Abhängigkeit, sondern weist darüber hinaus auch auf die Umstände der realen Gemeinde hin. Jesus nimmt für Matthäus prototypische Züge an. Wer Jesus ist, definiert und füllt inhaltlich die Identität der matthäischen Gemeinde. Jesus gibt der Gemeinde einen bestimmten Sinn in der Welt, indem er mit seiner Autorität ihre Lebensart, ihre Zielsetzungen und Stellungnahmen legitimiert und unterstützt.1 Subjektiv betrachtet ist deswegen Jesus selbst der Vertreter der Gruppe in der laufenden Auseinandersetzung. Die christologische Bandbreite des Matthäusevangeliums interessiert mich aus diesem Grund hier nur, insofern die verschiedenen christologischen Titel, Bezeichnungen oder Dimensionen mit der Konfliktthematik in Berührung kommen. Es ist zu erwarten, dass die Hauptfigur der matthäischen Erzählung in vielen Hinsichten auch die bestimmende Kraft und den Schlüssel des narrativen Konfliktes darstellt. Auszugehen ist auf jeden Fall nicht nur von den christologischen Titeln, die bei Matthäus ohnehin eine größere Rolle als in seinen Textquellen spielen, sondern auch von der konkreten narrativen Konfliktentwicklung,2 die mit einem be 1 Diese Bemerkungen kommen der Frage von Keck, Toward, 374, entgegen: „Is there any correlation between a type of christology and the social identity and location of the people who espouse it?“ und bejahen sie. Über das enge Verhältnis der Christologie zum Gruppenstatus vgl. den ekklesiologisher Teil S. 276, 333 f. 2 Über die Notwendigkeit die Titelchristologie mit der narrativen Christologie im Matthäus­ evangelium zu verbinden, vgl. Luz, Skizze, 223: „Die mt Jesusgeschichte funktioniert als Prädika-

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Der subjektive Status der Gemeinde

merkenswerten Textbewusstsein von Matthäus schon in den ersten Abschnitten seines Evangeliums exemplarisch skizziert wird. Die konkreten Titel fungieren darin als ‚theologische Knoten‘, worin traditionelle Züge zusammenschmelzen, und die erzählerischen Fäden wie in einem Fluchtpunkt zusammenfließen. Sie übernehmen bestimmte Funktionen in der Geschichte und müssen deswegen von dieser Stellung her betrachtet und gefüllt werden. Erzählung und christo­ logischer Titel legen sich gegenseitig aus, wobei dies auf verschiede Art und Weise geschieht. Der erzählerische Fluss bringt zahlreiche Motive in Umlauf, veranlasst intertextuelle Assoziationen oder baut auf vertraute Erkenntnisse und stereotypische Handlungsabläufe auf. Die Titel verdichten in einzelnen Formeln die Identität Jesu fast bildhaft; sie sind in der religiösen Umwelt teils verankert, können aber im neuen Kontext durchaus neue Valenzen und Funktionen übernehmen. Ihre Bildhaftigkeit macht sie zur ‚aspektiven‘ Verwendung fähig. Sie können zusammen auftauchen, ihre Signale abgeben, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Das Gesamtbild verbindet alle diese Aspekte harmonisch und die narrativ konstruierte Logik hält sie zusammen. Es ist nun im Vorliegenden meine Aufgabe, die konfliktrelevanten Hauptlinien des christologischen Geflechtes knapp zu verdeutlichen und dadurch das nötige theologische Rückgrat für die weitere Konfliktdiagnose festzulegen.

2.1.1 Das Wirken Jesu in Israel als Davidssohn Der folgende kurze Überblick über die Davidssohn-Bezeichnung bei Matthäus3 wird deren Bedeutung gerade in den Auseinandersetzungen Jesu mit seinen narrativen Gegnern unterstreichen.4 Die Tendenz setzt schon ganz am Anfang ein.5 Dort bedarf der zukünftige rettende Davidssohn wegen der entschlossenen tiv und bestimmt den Inhalt der traditionellen Hoheitstitel neu. Sie ‚verflüssigt‘ gleichsam die feststehende Bedeutung der traditionellen Hoheitstitel“; Luz, Jesusgeschichte, 44; Konradt, ­Israel, 23; Müller, Figure, 164: „only the story is able to indicate the content“; Kennedy, Recapitulation, 8–9; Keck, Toward, 369–370; Kupp, Matthew, 171 („direct relation to Matthew’s narrative development“); Riches, Conflicting, 283. 3 Schon viele Studien wurden speziell diesem Thema gewidmet. Hier seien nur einige erwähnt: Suhl, Davidssohn, 57–81; Kingsbury, Son of David, 591–602; Gibbs, Purpose, ­446–464; Chilton, Jesus, 88–112; Duling, Therapeutic, 392–410. 4 Das ist keineswegs eine neue These, schon Hummel, Auseinandersetzung, 120, stellt fest, dass Matthäus diesem Titel eine große Bedeutung im Streit mit den Autoritäten beimisst (vgl. auch Burger, Jesus, 91; Mullins, Jesus, 117; Stanton, Christology, 108–112; Verseput, Role, 536). 5 Gielen, Konflikt, 29–36, rechnet ebenfalls die Geburtsgeschichte Jesu (jedoch stellvertretend nur 2,1–9a) dem Konfliktstoff des Matthäusevangeliums zu. Für die Einbeziehung der knappen Kindheitsgeschichte in die Konfliktthematik vgl. auch Konradt, Israel, 110–113; der Mordversuch ist in diesem Sinne „ein facettenreicher Vorausverweis auf die Opposition der jüdischen Autoritäten gegen Jesus“ (ebd., 112).

Konfliktbeteiligte: Die tragenden Kräfte des Konfliktes

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Feindseligkeit des Herodes und der Jerusalemer Autoritäten selbst der Rettung: „Der designierte Retter ist zunächst selbst einmal ein Geretteter“.6 Wie auch immer man den ersten Vers 1,1 deutet und worauf man ihn bezieht,7 ist υἱὸς Δαυίδ bestimmt mehr als ein bloßer Hinweis auf die Abstammung Jesu aus einer davidischen Familie, auch wenn die betonte, wahrscheinlich redaktionelle Angabe in 1,20 vermuten lässt, dass für Matthäus diese Zugehörigkeit nicht gleichgültig war. Einige Züge des gleich darauf folgenden Stammbaumes8 und die weitere Kette von Geschichten9 tragen dazu bei, dem noch unbestimm-

6 Ploner, Schriften, 112. 7 Vgl. die Deutungsmöglichkeiten bei Luz, Mt I, 117–119. Der Bezug auf Gen 2,4 ist aber, trotz der wörtlichen Übereinstimmung (βίβλος γενέσεως) nicht gerade sinngemäß, denn an dieser Stelle wird eine Geschichte rekapituliert und abgeschlossen. Der Stammbaum bei Matthäus ist nur im Lichte der zu erzählenden Geschichte verständlich und stellt einen Grundstein für einen Neuansatz dar. Eine engere Parallele wäre z. B. Gen 5,1: βίβλος γενέσεως (auch von Luz, Mt I, 118, aufgeführt; Stanton, ΒΙΒΛΟΣ, 1190; Bauer, Literary, 138); im Einklang mit Mt 1,1 wird an dieser Stelle ein neuer, entscheidender und wirkungsvoller Beginn markiert: wie die Menschheit nach der Sintflut durch Noah wieder gegründet wurde. Zudem ist Gen 5,1 einer Genealogie unmittelbar vorangestellt und genau das ist für Gen 2,4 nicht der Fall (vgl. auch Gibbs, Son of God, 41, Anm. 6; Kennedy, Recapitulation, 55). 8 Die geringfügigen auffallenden Zusätze haben die Aufmerksamkeit auf bestimmte Signale lenken können. Mayordomo-Marín, Anfang, 222, macht auf die christologische Relevanz der „Zwischentöne“ aufmerksam. Besonders vier Randfiguren sind ins Zentrum der Forschung gerückt (V. 3: Θαμάρ; V. 5: Ῥαχάβ; Ῥούθ; V. 6: ἐκ τῆς τοῦ Οὐρίου). Diese auf­ fälligen Zusätze (jedoch nicht einmalig in den jüdischen Genealogien, Frauen werden auch in Gen 22,20–24; 1Chr 2,3–4; Jub 4,7–33; LAB 1,1–19 usw. erwähnt, dazu Kennedy, Recapitulation, 86) werden in der Forschung unterschiedlich gewertet: Unregelmäßigkeiten, die die Marien-Figur vorbereiten; Vorankündigung der Zuwendung zu den Völkern usw. Für einen ausführlich kommentierten Überblick vgl. Hood, Messiah, 88–118. Kennedy, Recapitulation, 86–95, wehrt sich gegen eine vorschnelle theologische Erklärung und führt die vier Namen eher auf die Quellen selbst, die Mt verwendet hat, und auf den dadurch evozierten narrativen Hintergrund zurück (88). Die programmatische Stellung des Stammbaumes spricht aber eher gegen eine zufällige Erwähnung der vier Figuren. Wenn man die Bewegung von 10,6 zu 28,18–20 berücksichtigt, bleibt vielleicht die Vorankündigung und Legitimierung der Heidenmission die wahrscheinlichste Variante (mit vielen anderen Kommentatoren, Bauer, Literary, 149), mit dem Vermerk, dass nicht die Jüdin Bathseba, sondern ihr Mann Urija, der Hethiter, der vierte erwähnenswerte Heide in der Reihe ist (Hood, Messiah, 127–138). 9 Die klar profilierten, aber eng miteinander verflochtenen Erzählungen (1,18–25; 2,1–23) bilden einen starken Kontrast zu der blockmäßigen Genealogie. Beide enden auf zwei Namen: die konkrete Namengebung Jesus (V. 25) und die prophetische Ankündigung: ὅτι Ναζωραῖος κληθήσεται (V. 23). Mit Recht Frankemölle, Bund, 14: „Der abschließende Vers 25b zeigt inhaltlich und stilistisch (καὶ ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἰησοῦν; vgl. 1,21) in seiner Parallele zu Vers 23b (καὶ καλέσουσιν τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἐμμανουήλ), dass hier keine Konkurrenz zwischen verschiedenen Namen herrscht, sondern Identität und theologisch gegenseitige Ver­ tiefung bezweckt wurde“. Ναζωραῖος ist schwierig zu deuten, vgl. dazu France, FormulaQuotations, 246–249. Ἐμμανουήλ ist eine Kompilation von Jes 7,14 mit 8,8.10 (Kupp, Matthew, 165–166).

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Der subjektive Status der Gemeinde

ten Begriff Inhalt und Sinn zu verleihen. Zudem sieht die dreigliedrige GenitivKonstruktion ( Ἰησοῦ Χριστοῦ υἱοῦ Δαυὶδ υἱοῦ Ἀβραάμ) wie ein Abriss mit den für Matthäus wichtigsten Stationen des darauf folgenden Stammbaumes (1,2a; 1,6; 1,16) aus, nur chiastisch10 in der umgekehrten Reihenfolge. Mit V. 2 beginnt Matthäus11 von hinten und füllt die leeren Intervalle mit Namen,12 deren Provenienz nicht vollständig auszumachen ist.13 So wird der Stambaum zu einem „Grundriss der Geschichte Israels in der denkbar kürzesten Form“.14 Matthäus richtet den ganzen Stammbaum auf Jesus aus und präsentiert ihn als Höhe- und Endpunkt der abrahamischen und davidischen Linie.15 Den Ausdruck υἱὸς Ἀβραάμ betreffend, kann man z. B. folgendermaßen argu­ mentieren: Die Erwähnung Abrahams ist überflüssig, solange es um einen Jude geht. Umgekehrt kann man aber auch meinen, dass gerade diese Selbstverständlichkeit darauf aufmerksam macht, was der Autor mit dieser Zufügung signa­lisieren will. Die Zugehörigkeit zur abrahamischen Nachkommenschaft hat durchaus eine programmatische Funktion.16 Das Hauptinteresse ist nicht geschichtlich, sondern symbolisch. Das passt auch gut zu den matthäischen Bemü­

10 Bauer, Literary, 141; Mayordomo-Marín, Anfang, 216 („eine rücklaufende Zusammenfassung der folgenden Genealogie“). 11 Dass die Gestaltung des Stammbaumes in vielen Hinsichten Matthäus zu verdanken ist, auch wenn er vorhandene Quellen benutzt hat, gehört inzwischen zur Mehrheitsmeinung. Vgl. Vögtle, Messias, 16; Luz, Mt I, 130. 12 Auf die inhaltlichen und strukturellen Unterschiede zwischen dem matthäischen (1,2–16) und lukanischen (3,23–38) Stammbaum wird oft hingewiesen (vgl. Novakovic, Messiah, 38–39; Kennedy, Recapitulation, 52–53). Es liegen ihnen verschiedene ‚generative Mechanismen‘, aber auch unterschiedliche theologischen Intentionen zugrunde. Lukas drückt die Vaterschaft durch eigentliche Genitive aus, er beginnt mit der Nachkommenschaft und fährt rückwärts fort; υἱός kommt nur einmal am Anfang, in Bezug auf Jesus vor (Lk 3,23). Matthäus führt zuerst die Vorväter ein und betont durch ἐγέννησεν ihre aktive Beteiligung an der Erzeugung ihrer Söhne (dieses Modell liegt bereits in Rut 4,18–22 vor, vgl. Kennedy, Recapitulation, 61; Nolland, Women, 534). Das macht die plötzliche Unterbrechung in 1,16b noch auffälliger, denn der Vater spielt im Fall von Jesus keine Rolle mehr und die stereotype aktivische Ausdrucksweise wird durch ein passivum divinum abgebrochen (ἐγεννήθη). Zur mt iterativen Formel und zu den auffälligen Unterbrechungen vgl. auch Rasco, Matthew, 220 f. 13 Kennedy, Recapitulation, 59–65, 65–72, argumentiert für Rut 4,18–22 bzw. 1Chr 3,10–19 als schriftliche Grundlagen für den mt Stammbaum; auch Nolland, Woman, 534. Für eine fundierte Analyse der möglichen Quellen und redaktionellen Eingriffe vgl. auch Burger, Jesus, 91–100. 14 Zitat aus Zahn, Mt, 44 (vgl. auch Burger, Jesus, 99; Kennedy, Recapitulation, 78). 15 Bauer, Literary, 142 („climax“). Die mt Genealogie wird deswegen mit gutem Grund „teleological“ bezeichnet (Kennedy, Recapitulation, 34–35, 63–64). 16 Luz, Mt I, 119; Burger, Jesus, 102: „In Jesus findet jene Geschichte ihr Ziel, die von Abraham ihren Anfang nahm“; ähnlich Ostmeyer, Stammbaum, 189–191; Kennedy, Recapitu­lation, 57–58. Saldarini, Matthew, 171, für die ambivalente Funktion von „Sohn Abrahams“ – Bezeichnung: zugleich Betonung der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und Marker der Öffnung der Grenzen für die Heiden.

Konfliktbeteiligte: Die tragenden Kräfte des Konfliktes

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hungen, Jesu Geburt durch Erfüllungszitate17 als Verwirklichung der alttestamentlichen Prophetie auszuweisen.18 In diesem Sinne ist die Abraham-Sohnschaft nicht nur eine Vorwegnahme der Einbeziehung der Völker in das Heil, sondern betont zugleich auch die Basis dieser Ausweitung – die Recapitulatio, die Erfüllung und die Überbietung19 in Jesus der ganzen israelitischen Heilsgeschichte. Für die drei Abschnitte des Stammbaumes hat Karl-Heinrich Ostmeyer drei unterschiedliche Schwerpunkte festlegen können: die väterliche Linie mit Abraham als Erstgenanntem (1,2–4); die Königslinie und die Priesterlinie.20 Wichtig sind in unserem Zusammenhang die mittlere alttestamentliche Königsliste (1,6–11) und der priesterliche Akzent mit der Verbindung zum Tempel im letzten Teil (1,12–16).21 Da die Salbung ein Privileg und ein Einsetzungssymbol der Priester und der Herrscher im Alten Testament war,22 ist der direkte Bezug zum bereits eingeführten Titel ( Ἰησοῦς Χριστός) nicht zu übersehen. In Jesus als dem Gesalbten Gottes fließen die beiden Stränge zusammen, in ihm sind die An­ wesenheit und die Wirkung Gottes in gut jüdischen Formen greifbar und voll 17 Jes 7,14 in 1,23; Mi 5,1 in 2,6; Hos 11,1 in 2,14; Jer 31,15 in 2,18. Sie haben wie auch der Stammbaum selbst, eine legitimierende und apologetische Funktion gegenüber den Rezipienten: „The purpose of his apologetic is to bolster the faith of those who believe in Jesus (both Jews and Genliles) and to reply to the objections and criticisms emanating from the synagogue“ (Evans, Book, 72; France, Formula-Quotations, 238 [„apologetic element“]; Hultgren,­ Matthew, 100: „The infancy narrative would have functioned to forge  a sense of self-understanding and self-definition for the community itself “); Theissen, Davidssohn, 156. Für einen kritischen Überblick über die wichtigsten Beiträge zur Erforschung der Erfüllungszitate in Mt vgl. vor allem Senior, Lure, 90–103. 18 Auch die Flucht nach (2,14) und die Rückkehr aus (2,19–23) Ägypten zeigen ein gewisses matthäisches Interesse für ein typologisches Denkschema, nur ist für Matthäus Ägypten der Zufluchtsort und Judäa eine Art „metaphorical Egypt“ (Kennedy, Recapitulation, 138). Jesus steht stellvertretend für das ganze Volk. So erklärt sich auch der Vorzug der hebräischen Lesart im Singular: ynIb.li. (Hos 11,1) gegenüber der griechischen Variante im Plural τὰ τέκνα αὐτοῦ (vgl. dazu Luz, Mt I, 181). Die genauere Determinierung im Hebräischen durch ein Pronomen der ersten Person Singular („mein Sohn“) hat bestimmt auch eine Rolle bei der Textwahl gespielt. Matthäus hat durch diese Textentscheidung die Substitution Jesus – Volk wortwörtlich klar gemacht. Solche Töne klingen auch in 1,21b an: Es ist Jesu Vorbestimmung, die Sünden seines Volkes auf sich zu nehmen (vgl. auch 1,25: Ἰησοῦς). Die enge Beziehung Jesu zum Volk wird auch in 1,21b (τὸν λαὸν αὐτοῦ) und 2,6b (τὸν λαόν μου) klar formuliert. 19 Ist das Wort des Täufers in Mt 3,9, das die abrahamische Sohnschaft relativiert, etwa in dieser Richtung zu verstehen? 20 Ostmeyer, Stammbaum, 175–192. 21 Vgl. dazu Ostmeyer, Stammbaum, 182–185. 22 Die AT-Belege sind zahlreich, hier seien nur einige Stellen aufgeführt: priesterliche Salbung – Ex 28,41; 29,7.29; 30,30; 40,15; Lev 4,3; 7,36; 8,12; 21,10.12; Num 3,3; 1Chr 29,22; Salbung der Herrscher  – Jdc 9,8; 1Sam  2,10; 9,16; 10,1; 12,3.5; 15,1; 16,3.6.12.13; 24,7; 26,9; 2Sam  1,14.16; 2,4.7; 3,39; 5,3 (= 1Chr 11,3); 5,17; 12,7; 23,1; 1Kön  1,34.39.45; 5,15; 19,15; 2Kön 9,3; 11,12; 23,30; 2Chr 22,7; 23,11; Ps 2,2; 18,51 (= 2Sam 22,51); 20,7; 45,8; 84,10; 89,39; 132,10 (= 2Chr 6,42); Jes 45,1; Thr 4,20; Dan 9,25–26. Dazu kommt auch noch die Salbung der Propheten: 1Kön 19,16; Jes 61,1; Ps 105,15 (=1Chr 16,22).

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Der subjektive Status der Gemeinde

kommen. Nur nach der feierlichen Einführung macht Matthäus seine Leser ab dem V. 18 mit neuen Akzenten des Christus-Seins vertraut, die nicht dem Haupttrend der traditionellen Erwartungen entsprachen: zuerst die Verknüpfung des Titels mit dem Horizont der Gottessohnschaft (1,18–25; 2,15; vgl. dazu 2.1.3) – ein Zug, der auch in 22,41–46 wieder vorkommt  –, dann die Gefährdung der Hauptfigur selbst durch den skrupellosen Widerstand des Herodes und seiner Verbündeten (das ganze Kap. 2).23 Die schon im Stammbaum profilierte königliche Würde Jesu24 wird des Weiteren in den Erzählungen aufgebaut, das dominante Motiv ist aber die ständige Gefährdung des Auserwählten und seine Rettung durch die sanfte und unauffäl­ lige Intervention Gottes im Traum25 (κατ’ ὄναρ: 1,20; 2,12.13.19.22). Das im Verborgenen geborene Kind erhält von Anfang an die totale Unterstützung Gottes, agiert aber nicht selbst, sondern ist auf Hilfe von außen angewiesen. Seine vornehme Stellung wird zum Anstoß für die vorübergehend etablierten Mächte, die durch ihre Reaktion auf diese außergewöhnliche Geburt in ihrer Pflicht gegenüber Volk und Gott versagen. Hier wird der Kern einer möglichen späteren Eskalation der Verhältnisse spürbar. 23 Die Tendenz ist auch im Stammbaum spürbar, weil Matthäus zwei gebrochene königliche Gestalten aufnimmt: Usjia (2Kön 15,5) und Jechonja (1Chr 3,17). Der erste war aussätzig, der zweite wurde gefangen genommen (vgl. Ostmeyer, Staumbaum, 180). Über den König ­Usjia wird auch berichtet (Sach 14,5), dass in seiner Amtszeit ein Erdbeben stattgefunden hat. Nur am Rande sei gesagt, dass σεισμός eine Vorzugsvokabel von Matthäus ist: Dieses in der Apokalypse vertraute Wort (Apk  6,12; 8,5; 11,13.19; 16,18; zu religionsgeschichtlichen Parallelen vgl. Anm. 323, S. 194) kommt abgesehen von den synoptischen Parallelen (Mt 24,7; Mk 13,8; Lk 21,11) bei Matthäus noch dreimal zusätzlich vor (8,24; 27,54; 28,2). Einige Details aus dem Leben Jesu lassen die Vermutung aufkommen, dass die gezielte Auswahl der Könige doch nicht zufällig war. Das erste Wunder Jesu bei Matthäus ist die Heilung eines Aussätzigen (8,1–4), anders als in Mk 1,23–28 und Lk 4,33–37. Der Täufer und Jesus selbst wurden auch gefangen genommen (14,3; 26,57), die Sorge um die Gefangenen gilt als wichtige Voraussetzung für das Bestehen im Endgericht (25,36.39.43.44). In anderer Hinsicht kann man mit Bauer, Kingship, 310, die Einfügung ἐκ τῆς τοῦ Οὐρίου in dem Stammbaum auch als kleine Erinnerung an die Sünde Davids betrachten. Der Sohn Davids aber, der gerade vorgestellt ist, wird das Volk (seine Könige eingeschlossen) von dessen Sünden erretten (1,21). Ein Kontrastelement ist zumindest angedeutet, zugleich aber auch die ungewöhnliche Art dieses Messias und die Idee, dass er die Kraft und die Mission innehat, das menschliche Gebrechen (Krankheit, Gefahr, Sünde) aufzuheben. 24 In 1,6 wird David als einziger in der ganzen Liste als βασιλεύς bezeichnet. Die königliche Abstammung ist ein Hauptanliegen der mt Genealogie. Vgl. Kupp, Matthew, 170; ­Theissen, Davidssohn, 145; Beare, Jesus, 33 („lay stress on the Davidic lineage of Jesus“); Baxter, Heal­ ing, 37; auch Lindars, Apologetic, 200: „The genealogies were compiled in order to provide the necessary proof “; Karrer, Der Gesalbte, 278. 25 Die Träume haben rein narrativ betrachtet die Funktion, die jeweilige Krise zu bewältigen; leserorientiert versucht 1,18–25 apologetisch die Audienz von der Legitimität der Geburt Jesu zu überzeugen (Subash, Dreams, 185); christologisch gibt er den Modus an, wie Davidsund Gottessohnschaft zu vereinbaren sind (vgl. dazu S. 90 f). Zu Erzählungen von Traumvisionen vgl. Mayordomo-Marín, Anfang, 259.

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Zunächst knüpft Matthäus mit 1,18–25 wieder an 1,16 an, doch bevor er für die Ungereimtheit, Jesus als Davididen darzustellen, obwohl Joseph, der Sohn Davids, nicht sein natürlicher Vater ist, eine Erklärung abgibt, führt Matthäus ein neues Motiv ein: Er führt die Schwangerschaft Marias auf den Heiligen Geist zurück und untermauert dies mit einem Schriftzitat (1,18.20–23). Die geistgewirkte Geburt begründet einen neuen wichtigen Zug der matthäischen Christologie, nämlich die Gottessohnschaft (1,18.20 ff).26 Gleich darauf wird mit παρέλαβεν27 τὴν γυναῖκα αὐτοῦ (1,24b) erklärt, in welcher Hinsicht auch Jesus ein Davidide ist, nämlich durch nachträgliche Adoption.28 In der ganzen Perikope geht es Matthäus darum, diese zwei christologischen Bestimmungen miteinander zu harmonisieren und zu zeigen, „wie Jesus trotz der jungfräulichen Empfängnis der Sohn des Davididen Joseph und deshalb der Messias sein kann“.29 Das zweite Kapitel führt das Thema der Gefährdung Jesu weiter und entfaltet einen plötzlich ausgebrochenen Konflikt des gerade geborenen „Königs der Juden“ mit dem amtierenden König Herodes und seiner Gefolgschaft. Zur Spannung ist es gekommen, als die Weisen aus dem Morgenland sich ausgerechnet in Jerusalem über die Geburt des angekündigten Königs erkundigt haben.30 In den nebeneinander stehenden Versen 2,1 und 2,2 gehört βασιλεύς zu zwei völlig unterschiedlichen Königsklassen: Ἡρῴδου τοῦ βασιλέως und ὁ τεχθεὶς βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων treffen zusammen wie zwei einander fremde und feindlich gesonnenen Welten.31 Die Ortsangabe (2,1) verleiht dem Kindskönig ein Gesicht und 26 In dieser Hinsicht muss man der Korrektur von Luz, Mt I, 149, zustimmen, die er an der verbreiteten Meinung vornimmt, dass 1,18–25 nicht nur eine erklärende, „erweiterte Fußnote zum kritischen Punkt der Genealogie“ ist (vgl. Stendahl, Quis et Unde?, 302), sondern „er deutet vielmehr neue, im Evangelium erst noch zu entfaltende christologische Themen an“ (vgl. auch Mayordomo-Marín, Anfang, 250, Anm. 259). Das passivum divinum ἐγεννήθη in 1,16 weist „verhüllt“ auf „den Heiligen Geist als den ‚Erzeuger‘ Jesu“ (Pesch, Nazoräer, 1400). Die Gottessohnschaft als eine weitere Dimension der mt Christologie ist hier also ergänzend angesprochen, „obwohl der Terminus Gottessohn dort nicht gebraucht wird“ (Broer, Versuch, 1277); vgl. zu diesem Aspekt auch weiter S. 81. 27 In V. 20 sollte der Ausdruck des Engels παραλαβεῖν mehr als nur „zu sich nehmen“ bedeuten und wird im Rahmen der Kindheitsgeschichte zum terminus technicus des Adoptionsvorganges (1,24b). Er bestimmt aber auch das konkrete, vorsorgliche, von Gott gebotene Verhalten Josephs gegenüber dem Kind (immer an der ersten Stelle nach seiner Geburt) und seiner Mutter (2,13.14b.20.21b). Jedes Mal taucht die Wendung während oder nach einer Traumbegegnung mit dem Boten Gottes auf (1,24a; 2,14a.21a). 28 Vgl. Burger, Jesus, 104; Kingsbury, Son of David, 594; Konradt, Israel, 29 f; Gerhardsson, Mighty, 89; Luz, Mt I, 151; Menken, Psalms, 74; Baxter, Healing, 37; Waetjen, Genealogy, 228: „According to 2Sam 7,11–14 and Ps 2,7, David’s heir is to become God’s son by adoption. The very opposite takes place in the first gospel“. 29 Vögtle, Messias, 17. 30 Carter, Empire, 66, bezeichnet ihre Anfrage als „nondiplomatic question“. 31 Senior, Matthew 2, 1–12, 398: „Herod sees that Jesus represents a vision of life that ultimately threatens his own and is not compatible with it“; Bauer, Literary, 154 („contrast“); Ploner, Schriften, 108 („Rivalität“); vgl. auch weiter in 2,6: ἡγέομαι. Diesem kann man als

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schlägt auch eine Brücke zu den vorangehenden Versen (1,1.6.20). Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass Bethlehem eher mit dem Herodes-Magier-Geschich­ tenzyklus in Verbindung steht und in der eigentlichen Geburtserzählung fehlt.32 Gesucht wird in den Schriften gezielt nach χριστός (2,4)33 und im Lichte von 1,1 sollte dies schon ein Indiz über die Identität des Neugeborenen sein. Zudem ist das Erfüllungszitat eine Mischung aus Mi 5,1 und 2Sam 5,2LXX,34 dort bezieht sich der letzte Teil direkt auf David (vgl. auch 1Chr 11,2). Mit ὅστις ποιμανεῖ τὸν λαόν μου τὸν Ἰσραήλ (2,6) wird die Funktion der davidischen Nachkommenschaft dargelegt und ein Pendant zu 1,21 geschaffen. Die Sündenvergebung ist ein wichtiger Aspekt der Tätigkeit eines Hirten in dem Volk Gottes und für Matthäus ein wichtiger Zug der Jesusverkündigung und -wirkung. Dass nun diese zwei Funktionen – das Volk weiden und seine Sünden vergeben – die im Erzählduktus zwei verschiedenen Christusvorstellungen (Davidssohn: 2,6 bzw. Gottessohn: 1,21) zugeordnet sind, sich so eng zueinander verhalten, zeigt noch einmal, wie vorsichtig man mit der klaren Abgrenzung der christologischen Titel bei Matthäus sein muss. Die Notwendigkeit eines Hirten zeigt sich exemplarisch am Verhalten der Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes.35 Herodes, aber auch weitere Kreise – die ganze Bevölkerung Jerusalems36 – werden durch die Magier in Angst und Schrecken versetzt (2,3: ἐταράχθη). Nach seinem Befehl (2,4) liefern ihm die Argument für eine machtkritische Sicht auch die Verwendung von ἡγεμών im Rest des Evangeliums (10,18 und in Bezug auf Pilatus 27,2[red.].112[red.].14[red.].15[red.].21[red.].27[red.]; 28,14[red./trad.]) hinzufügen. Mt versteht aber diese neue Machtform nicht als Ersatz, sondern als grundsätzliche Infragestellung. Der Machtbegriff wird m. E. im Einklang mit der christologischen Konstruktion transformiert. Herrscherliche Ansprüche wie in PsSal 17,40 (so Willitts, Shepherd-King [2007a], 111, 115: „the expected political leader of Israel, who will be shepherd over the restored united kingdom of Israel“) sind hier wahrscheinlich nicht zu hören. 32 Burger, Jesus, 104 f; in diesem Sinne: „Matthew informs his readers that Jesus was born in Bethlehem of Judea, the city of David“ (Subash, Dreams, 188); vgl. auch Kennedy, Recapitulation, 109; Ostmeyer, Stammbaum, 183: „Der alttestamentlichen Verheißung entsprechend musste es Bethlehem sein“. 33 Die christologische Relevanz der Szene ist damit deutlich, im Unterschied zu den Magiern fragt Herodes nach dem jüdischen Messias (vgl. Sand, Mt, 51). 34 Vgl. Luz, Mt I, 159, und weiter S. 62 f. 35 Sie hätten „eigentlich ‚Kooperatoren‘ des Messias sein“ müssen (Ploner, Schriften, 114), stellen sich aber in den Dienst des falschen Königs. Dieselbe Kombination ist auch beim „zweiten“ Besuch Jesu in Jerusalem 21,15–16 anzutreffen. Vgl. dazu Gielen, Konflikt, 34–36. 36 Die Präposition μετά + G bringt bei Matthäus im interpersonalen Bereich oft eine tiefe, innige Verbindung (vgl. Bauer, Kingship, 316; Ploner, Schriften, 172–173) im Gutem oder im Bösem zum Ausdruck. Unmittelbar vor dieser Stelle (2,3), wird sie in der Auslegung des Namens Immanuel ebenfalls gebraucht: μεθ’ ἡμῶν ὁ θεός (1,23); vgl. auch 2,11; 4,21[red.]; 8,11[red.]; 17,17[red.]  – Mk  9,19; Lk  9,41: πρός + Akk; 20,20[red.]; 22,16[red.]; 26,29[red.]; 26,38[red.].40[red.]; 27,41; 28,12[trad.].20[red.]. Μετά + G gehört nach Luz, Mt I, 67, zu den matthäischen Vorzugsvokabeln. Ausführlich mit der Problematik beschäftigt sich Franke­ mölle, Bund, 7–83.

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Schriftexperten die nötigen Auskünfte, die Herodes listig dazu einsetzt, um dem Gotteskind auf die Spur zu kommen. Narrativ schalgen sie sich sich also auf die Seite Herodes. Alle politischen und religiösen Kräfte des Landes tun sich zusammen, setzen ihr Wissen und ihre Machtbefugnisse ein und bilden eine einheitliche Front,37 um den zukünftigen Fürst (ἡγούμενος) frühzeitig aus dem Weg zu räumen. Dabei sind aber die religiösen Führer in Selbstwidersprüche verstrickt, denn sie treten in ein direktes Konkurrenzverhältnis mit Gott selbst, dem sie dienen sollten, und machen sich zu Kollaborateuren mit seinen Feinden.38 Das totale Versagen in ihren Grundpflichten hat seine Parallele in dem verzweifelten Zustand des Volkes Gottes und verlangt nach einem sofortigen Eingreifen Gottes (vgl. 9,36–38). Auf der anderen Seite werden die Weisen aus dem Ausland ihrem Namen gerecht und treffen die richtige Entscheidung, indem sie dem Kind huldigen (2,11: προσεκύνησαν) und Herodes zum Narren halten (2,16: ἐνεπαίχθη). Damit sind die Fronten genau gezeichnet und auch das matthäische Konfliktschema ist programmatisch in nuce formuliert.39 Diese Konstellation mit vorbestimmten Rollen und Verhaltensweisen, aber mit leicht variierten Akteuren wird das ganze Evangelium prägen. Die Kindheitsgeschichte fungiert als Vorwegnahme der ganzen Konfrontation Jesus mit den feindlichen Mächten, bis hin zu ihrer Klimax in der Passion. Einige auffällige Übereinstimmungen und Textbeobachtungen machen diese Korrespon­denz noch deutlicher.40 Bevor Herodes als Folge einer kollektiven Erschütterung41 das Heft des Handelns ergreift, lässt er zuerst sein ganzes ‚Team‘ (2,4) zusammenkommen (συναγαγών), um die Verwirrung gemeinsam zu bewältigen. Abgesehen von dem informativen Interesse dieser Zusammenkunft klingt die königliche Initiative wie ein ‚Schließt die Reihen!‘. Diese Handlungssequenz ist vorbildlich und wiederholt sich mehrmals im Laufe des Evangeliums: 12,14; 22,15; 27,1; 28,12 (συμβούλιον); 26,4 (συνεβουλεύσαντο); 22,34; 26,3.57; 27,62 (συνήχθησαν). Niederträchtige Absichten verstecken sich jedes Mal hinter solchen Sitzungen und die Beschlüsse stehen denen von Herodes an Grausamkeit 37 Vgl. Gielen, Konflikt, 31. Dieser Aspekt charakterisiert das Feindbild bei Matthäus im Allgemeinen (vgl. dazu S. 117 f). 38 Matthäus verpasst nicht die Gelegenheit, die politische Macht trotz ihres gewaltsamen Vorgehens (2,16–18) doch in ihrer schwachen Seite zu zeigen. Der König selbst ist dem Plan Gottes unterworfen, an zwei Stellen (2,15.17) erfüllt Herodes selbst die Schrift, zudem wird sein Tod ironischerweise dreimal (2,15.19.20) erwähnt (vgl. Weaver, Power, 186). 39 So Bauer, Structure, 66: „This segment is paradigmatic for Matthew’s presentation of the enemies of Jesus“, der hier zwei Kontraste feststellt: einmal Jesus vs. Herodes, dann die verschiedenen weiteren Reaktionen – die starre Ablehnung von der Seite der Gegner vs. die Huldigung und der Schutz der Magier (Ders., Kingship, 307 f). 40 Vgl. auch Bauer, Kingship, 316–318. 41 Ganz (πᾶσα) Jerusalem hat auch in der Einzugsperikope (21,10) eine genaue Entsprechung, aber auch in der Szene der Verurteilung Jesu vor dem Richterstuhl von Pilatus (27,24 f); vgl. dazu 3.1.3.

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und List nicht nach. Herodes sieht mit Recht im bloßen Dasein des Kindes eine völlige Infragestellung seiner Autorität und trachtet (ζητεῖν) nach seinem Leben (2,13.20). Die jüdischen religiösen Autoritäten (und auch Judas mit ihnen zusammen) ahmen ihn später sorgfältig nach (21,46; 26,16.59). Sie gehören zusammen schon am Anfang zur klar definierten Gruppe der Jesusgegner. Das Evangelium ist der narrative und ideologische Raum zweir konkurrierender Machtansprüche, die sich in der Erzählung und der realen Welt zugleich abspielen. Matthäus stellt dem gewaltsamen Modell seine brüderliche, menschenzugewandte Machtvorstellung entgegen. In diesem Sinne entwirft das Matthäusevangelium schon am Anfang der Geschichte eine sehr machtkritische Weltsicht. Die Wirkung Jesu als Davidssohn ist in der Geburtsgeschichte schon angelegt und verdeutlicht die hier dargelegte Machtkonstellation. Hier gilt es, nur die Grundmerkmale dieser christologischen Bezeichnung zu skizzieren. Die Davidssohnschaft Jesu wird im Matthäusevangelium über die eigentliche Bezeichnung42 hinaus durch ein Netz von weiteren Bildern und Motiven43 ausgelegt und auf die angesprochene reale Situation angewendet. Die beiden thematischen Felder – die Hirten-44 und die verwandte Heilungsthematik45 – werden weiter auch anhand der religionsgeschichtlichen Vorstellungen kurz erläutert. Das matthäische Spezifikum wird dabei vor allem durch die machtkritische und die implizit polemische Funktion hervorgehoben. Dazu gehört erstens das Weiden des Volkes, wie schon im Prolog (2,6: ποιμαίνω) durch Rückgriff auf Mi 5,1 und 2Sam 5,2 angedeutet wird. Ursprünglich war in Mi 5,1 von εἰς ἄρχοντα ἐν τῷ Ισραηλ die Rede; wahrscheinlich ist es durch die Verschmelzung mit 2Sam  5,2LXX (1Chr 11,2) zum εἰς ἡγούμενον ἐπὶ τὸν Ισραηλ gekommen.46 Was könnte diese Assoziation ermöglicht haben? Waren 42 Schon die häufige Verwendung dieser Titulatur ist auffällig: Mt  1,1[red.]; 9,27[red.]; 12,3[red.]; 15,22[red.]; 20.30 // Mk  10,47; 20,31 // Mk  10,48; 21,9[red.].15[red.]; 22,41–463 //  Mk 12,35–37. 43 In Frage kommen vor allem ὁ ποιμήν (Mt 9,36; 25,32), ἡ ποίμνη (26,31), ποιμαίνω (2,6) und πρόβατον (für diese Problematik wichtige Stellen: Mt 9,36; 10,6.16; 15,24; 18,12–14; 25,32; 26,31). 44 Das „Hirte-Sein“ ist in 1Sam 16,1–13; 71,12–31; 2Sam 7,8 von Anfang an eng mit der Gestalt Davids verbunden (Hunziker-Rodewald, Hirt, 47); der Zusammenhang ist sehr verbreitet: vgl. Mi 4,14–5,5; Jer 23,1–8; Ez  34,23–24; Sach 9,9–10; Ps  2,8–9; 78,70–72; 11Q5 ­28,3–4.10–12; 4Q504 Frgm. 2, 4,6–8; PsSal 17,40–41 (dazu Willitts, Shepherd-King [2007a], 53–92; Hunziker-Rodewald, Hirt, 46–62). 45 Mt verbindet auffälliger Weise den Davidssohn-Titel mit Heilungen: 9,27 (δύο τυφλοί); 12,23[red.] (V. 22: δαιμονιζόμενος τυφλὸς καὶ κωφός); 15,22[red.] (ἡ θυγάτηρ κακῶς δαιμονίζεται); 20,30.31 (V. 30: δύο τυφλοί); 21,15[red.] (V. 14: τυφλοὶ καὶ χωλοὶ ἐν τῷ ἱερῷ). Apodiktisch Theissen, Davidssohn, 161: „Der Davidssohn führt kein Kriege, er heilt“; vgl. auch Marshall, Jesus, 136; Gerhardsson, Mighty, 87; Mayordomo-Marín, Anfang, 262. 46 So Menken, Bible, 259; Ham, Prophetes, 43. Für weitere Unterschiede zu Mi 5,1 vgl. Willitts, Shepherd-King (2007a), 104–105. Auch mit Beeinflussung durch Gen 49,10 ist zu rechnen, so Chae, Jesus, 177.

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die Verse traditionell aufeinander bezogen oder schafft erst Matthäus diesen Bezug? Linguistische und inhaltliche Berührungen können diese legitime Assoziation veranlasst haben.47 Aber auch theologische Interessen können durchaus dahinten stehen: Mi 5,1 wird durch diesen Querbezug ‚davidisiert‘.48Aus 2Sam 5,2 holt Matthäus auch den bedeutenden λαός-Begriff noch ein, wodurch aufgrund des Rückverweises auf 1,21 „ein Anliegen des Evangelisten erkennbar [wird]“.49 Doch wäre dieser Textbefund trügerisch, wenn man nur den Begriff ποιμαίνω berücksichtigt und nicht auch die dazugehörenden Elemente desselben Vorstellungshorizontes in Betracht zieht. Zu erwähnen wären hier zunächst ποιμήν50, ποίμνη und πρόβατον51. Der Hirte als Metapher für eine Form der Macht­ ausübung ist traditionsgemäß eher bewertend als beschreibend zu verstehen. Der Hirte ist für die Gestalt eines Führers eigenartig, denn er dient den anderen.52 Obwohl er vom βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (2,2) spricht, bedient sich Matthäus nicht der gewöhnlichen Verhältnisse, indem er dem dienenden Moment in seinem Davidssohn-Bild auf Kosten der Herrschaftsthematik einen festen Platz

47 Vgl. ποιμάινω; so auch Willitts, Shepherd-King [2007a], 101; weitere Ähnlichkeiten bei Menken, Bible, 259. 48 Willitts, Shepherd-King [2007a], 199: „greater Messianic emphasis by making the link to David more explicit“; 110: „heightening the Davidic connotations“. 49 Rothfuchs, Erfüllungszitate, 61; Davies / Allison, Mt I, 243; Luz, Mt I, 174. 50 Der Hirte ist in einer Agrargesellschaft eine sehr multivalente Gestalt, die zwar ein Machtverhältnis, aber auch Vertrautheit, Nähe und Mitleid illustriert (exemplarisch wurde dieser Topos in der johanneischen Hirtenrede [Joh  10,1–30] aufgegriffen; vgl. dazu Nolan, Royal, 175 f). Es ist der Grund, warum im AT das Bild auch auf Gott übertragen wird, aber nicht im Sinne einer „formelhaften orientalischen Gottesprädikation“, sondern als natürlicher Reflex einer „lebendigen Frömmigkeit“ (Jeremias, Art. ποιμήν, 486). Die Metaphorik kommt an zahlreichen Stellen vor, vgl. z. B. Gen 48,15; 49,24; Num 27,17; 2Sam 7,7 (= 1Chr 17,6); Ps 23,1–4; 28,9; 77,21; 79,13; 80,2; 95,7; 100,3; Mi 2,12–13; 4,6–8; Sach 10,3; Jes 40,11; 49,10; 56,8; Jer 23,3; 31,10; Ez  20,37; 34 11–15; Sir 18,13; 1Hen 89,22.24.28; zu den Aufgaben des Aufsehers CD 13,7–12; Philo, Agr 49 (πάντα ἀγαθοῦ ποιμένος). Zu den meisten einzelnen alttestamentlichen Stellen vgl. eingehend Hunziker-Rodewald, Hirt. Auch der Messias (PsSal 17,40; 1Hen 90,17–18, vgl. Chae, Jesus, 115 f, 158 f) oder das Gesetz (2Bar 77,13–16, vgl. Hunziker-­ Rodewald, Hirt, 211 f) können ähnlich bezeichnet werden. 51 Gott als Hirte korrespondiert das Volk als Herde (Jeremias, Art. ποίμνη, 499) bzw. der einzelne Israelit als Schaf Gottes: Num 27,17; 2Sam 24,17(= 1Chr 21,17); 1Kön 22,17; Ps 23,1–4; 28,9; 68,8; 74,1; 77,20 f; 79,13; 80,2; 100,3; Jes 40,11; 63,11; Jer 13,20; 23,1–3; Ez 34,6.8.31; Sach 9,16; 10,3; Sir 18,13 usw. 52 Die Pflicht des Dienens bei den Autoritätsträgern wird im Matthäusevangelium an mehreren Stellen betont und gefordert. Die stark machtkritischen Äußerungen von Mk 10,42–45 übernimmt Matthäus fast wortwörtlich (Mt  20,25–28); διάκονος (Mt  20,26) wird später zur Grundbestimmung der Jüngerschaft gemacht (Mt 20,26 f; 23,11; angedeutet auch in 18,4) und διακονέω taucht beim Jüngsten Gericht als ‚Performanzkriterium‘ (Mt 25,44) auf. Zugleich wird das Nicht-Dienen scharf gebrandmarkt (Mt 23,4) im Kontrast zur Bereitschaft des Menschensohnes den anderen bis in den Tod zu dienen (Mt 20,28).

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einräumt.53 Wichtig ist m. E. die neue Bedeutung, die Matthäus dem in den beiden alttestamentlichen Versen (Mi 5,1; 2Sam  5,2) vorgefundenen Autoritätsbegriff gibt. Er entwickelt den Machtgedanken nicht weiter, bricht die triumphalistische Tendenz der beiden Texte ab und legt das selbstgemachte Mischzitat in seiner Jesuserzählung von der Hirtenmetaphorik her aus. Jesus übernimmt dementsprechend in der matthäischen Erzählung die Rolle des hilfsbereiten, rechtmäßigen Hirten, der sich um die Bedürfnisse seiner angeschlagenen Herde kümmert und sie vor Gefahren schützt. Jesus ist bei Matthäus angesichts der dürftigen körperlichen und soteriologischen Lage54 der Einzelnen (20,34) oder des Volkes insgesamt (9,36; 14,14; 15,32) innerlich zutiefst involviert55 und übt Barmher-

53 Theissen, Davidssohn, 157, spricht von einer „Korrektur eines traditionellen, militärischen Messiasideals“. Vgl. z. B. die Auslassung von Mk 11,10 (εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν) im Bericht über den Einzug in Jerusalem (Mt 21,9), wobei πραΰς (21,5) mit Sach 9,9 (vgl auch 5,5; 11,29) red. eingeführt wird. In dieser Weise werden die herrschaftlichen Anspielungen eindeutig abgeschwächt. Die Szene ist von dem sanftmütigen König, der auf einem Esel reitet, dominiert (vgl. auch Kingsbury, Son of David, 598; Strecker, Weg, 119; Ham, Prophets, 53: „It also omits the description of the king as ‚triumphant and victorious‘ found in Zech. 9,9, perhaps to accentuate the depiction of Jesus’ entry as ‚humble‘“; Menken, Bible, 109–110; Johnson, Motif, 141: „Matthew puts no special emphasis on the Davidic-royal element“, siehe auch S.  143; Stanton, Christology, 111–112; Harrington, Mt, 295; Moss,­ Zechariah, 63–64; Trilling, Einzug, 69; Karrer, Der Gesalbte, 281). Über eine bewusste „Entpolitisierung“ des Messias-Bildes im Matthäusevangelium, siehe auch Nolan, Royal, 148–149; Johnson, Motif, 143: „Matthew has made the royalty future and transcendent“; Menninger, Israel, 88 („nonpolitical messiahship“); Luz, Skizze, 225 („eine Verschiebung jüdischer Hoffnungen von der ‚politischen‘ auf die ‚menschliche‘ Ebene“); Schnackenburg, Knecht, 208: „Der erbarmungsvolle Davidssohn verwehrt jeden Gedanken an ein äußerliches Herrschen und eine politische Befreiung“; Schmidt, Hoffnung, 702. Anders sieht Descamps, Le messianisme, 62, in den matthäischen Abweichungen der Einzugsperikope keine Sinnänderung. 54 Die Lage der Volksmenge kommt dabei den prophetischen Beschreibungen des ermatteten Israels nahe. Vgl. einige Begriffe vorwiegend aus den prophetischen Büchern: Die Schafe sind „zerstreut“ (διασπείρω in Ps 43,12LXX; Ez 34,5.6), „verirrt“ ([ἀπο]πλανάω in Jes 50,6; 53,6; Ez 34,4), „zersprengt“ (διασκορπίζω in Jer 10,21; 23,1.2; Sach 11,16), „verkommen“ (ἐκλιμπάνω in Sach 11,16), „zerbrochen“ (συντρίβω in Sach 11,16; Ez  34,4), „geschwächt“ (ἀσθενέω in Ez 34,4, vgl. Mt 8,17 im Jesajazitat 53,4a), „krank“ (κακῶς ἔχον in Ez 34,4; vgl. Mt 8,16[red.]; 14,35), „verloren“ (ἀπόλλυμι in Jer 23,1; 50,6; Ez 34,4, vgl. Mt 10,6; 15,24), „vertrieben“ (ἐξωθέω in Jer 23,2), „unversorgt“ (Ez 34,8; Sach 11,16; Jer 23,2), „selbst zum Frass aller Tiere geworden“ (Ez 34,5.8; Jer 50,7; 1Hen 89,55–58; 90,4). 55 Das typische Verb für diesen Sachverhalt  – σπλαγχνίζομαι (14,14 // Mk  6,34; 15,32 //  Mk 8,2; 18,27[trad.]; 20,34[red.]) – hängt bei Matthäus enger mit den Heilungen zusammen. So z. B. in 20,34[red.] in der Blindenheilung; auch in 14,14, dort wo Mk 6,34 Jesus eine lange Rede (ἤρξατο διδάσκειν αὐτοὺς πολλά) halten lässt, heilt der mt Jesus ihre Kranken; auch in 9,35–36 werden im mt Summarium die Heilungen ausdrücklich erwähnt. Vgl. auch Duling, Thera­peutic, 403; Künzel, Studien, 77–78; Loader, Son of David, 585; Novakovic, ­Messiah, ­143–144. Thematisch nahe steht CD 13,9: „Er habe Erbarmen mit ihnen wie ein Vater mit seinen Kindern und er richte all ihren Schaden wie ein Hirt seiner Herde“ (Übersetzung nach Meier, Die Qumran-Essener, Bd. 1, 27).

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zigkeit56 an der Herde aus, indem er sich um ihr Wohl57 sorgt. Die Speisungsberichte (14,13–21; 15,32–39) illustrieren diese Zuwendung Jesu als sorgevoller Hirt58 und lassen wegen ihrer aneinander angeglichenen und typisierten Struktur auf eine paradigmatische Handlung59 schließen: Eine große Volksmenge (14,14 // Mk  6,34; 15,30[red.]) folgt Jesus (14,13[red.]: ἠκολούθησαν; 15,30[red.]: προσῆλθον αὐτῷ), jammert ihn (14,14 // Mk 6,34; 15,32 // Mk 8,2); er heilt ihre Kranken (14,14[red.]: ἐθεράπευσεν; 15,30[red.]) und ernährt sie anschließend reichlich,60 wobei den Jüngern, als Vertreter Jesu und typologische Figuren der Gemeinde, bei Mt eine vermittelnde Rolle zukommt (14,19fin[red.]; 15,36fin[red.]: οἱ δὲ μαθηταὶ τοῖς ὄχλοις).61 Im matthäischen Davidssohn-Bild tritt also einerseits die Entschlossenheit Gottes zutage, sich den Bedürfnissen seiner Schafe selbst anzunehmen (Ez  34, 10–12), indem er einen Hirten einsetzt, der als Knecht (δοῦλος: Ez  34,23.24; 37,24 und δίκαιος: Jer 23,5)62 den göttlichen Auftrag erfüllt, das Schwache zu stärken, das Kranke zu heilen, die Herde zu versorgen, das Verlorene zu suchen und wieder heimzubringen. Andererseits zielt die matthäische Tendenz auch in eine 56 Bei Mt ist der Zusammenhang besonders deutlich (Luz, Mt II, 400: „Das ist keine Floskel: Das Erbarmen des Messias Israels mit seinem Volk ist Matthäus wichtig“; Chae, Jesus, 206; Novakovic, Messiah, 89; Gibbs, Son of David, 449; Nielsen, Heilung, 131). In 20,30.31 und 20,34 liegen ἐλεέω und σπλαγχνίζομαι eng beieinander. Abgesehen von 20,30.31 // Mk 10,47.48 fügt Mt auch an weiteren Stellen ἐλεέω in Heilungsberichten hinzu: 9,27[red.]; 15,22[red.]; 17,15[red.]. Das mk βοηθέω blieb wegen der Kürzung in 17,17–18 // Mk 9,19–27 weg, Mt nimmt es aber in 15,25 wieder auf. Im Hilferuf der heidnischen Kanaanäerin kommt paradoxerweise die ganze Gebetstradition des jüdischen Volkes zu Wort („a prototype, a biblical metapher for deliverance, a paradigm for the structure of God’s saving activity“, in: Jackson, Mercy, 11), das seinen einen Gott immer wieder als Helfer anredet (vgl. Ps 7,11; Jer 16,19; Jes 17,10; 25,4 usw.). Diesem mt Wortgebrauch liegt die enge Verbindung σπλάγχνα – ἐλεός zugrunde, wie sie an manchen Stellen vorkommt: TestHiob 26,5; ApkSedr 13,2–3; TestSeb 7,3; 8,2; 1QS 1,22; 2,1. 57 Die Darstellung des Hirten orientiert sich an prophetischen Vorbildern wie Ez 34 (vgl. Heil, Ezekiel 34, 698–708; Chae, Jesus, 209–210; 292–296; Cousland, Crowds, 86–87; Konradt, Israel, 38–40; Baxter, Healing, 43–45); 37,22–25, aber auch Jer 23,1–6; 50,6 (Willitts, Shepherd-King [2007b], 373, der in der Anm. 18 mit Recht auch den exklusiven Bezug auf Ez 34 kritisiert); Sach 10,2–3 (vgl. Ham, Coming King; Moss, Zechariah; Nolland, King, 134–137). 58 Kompakte Analysen aus dieser Perspektive bei Chae, Jesus, 298–299; Cousland, Crowds, 117–119; die israelitische Identität der Menge in den beiden Speisungsberichte stellt Cousland, Feeding, unter Beweis. 59 Luz, Mt II, 441 („grundsätzliche Bedeutung der Speisung“). 60 Als Muster dürfte 2Kön 4,42–44 gedient haben (Luz, Mt II, 397; Harrington, Mt, 221). Der Überfluss entspricht dem eschatologischen Mahl in dem Reich des Messias: Jes 25,6; 2Bar 29,4–8; ApokrEz Frgm. 5; 4Q521 Frgm. 2 2,12–13; 1Hen 62,14. 61 Konradt, Israel, 353; Wilkins, Disciple, 147. 62 Zwar tauchen auch in diesen ausgewählten prophetischen Texten Begriffe wie ἄρχων (Ez 34,24; 37,25) oder sogar βασιλεύς (Jer 23,5), κύριος (Sach 10,3) auf; ihr Wirkungseffekt ist aber in der matthäischen Rezeption durch den Kontext und durch die weiteren Querbezüge stark abgeschwächt und paradox umorientiert oder in eine scharfe Polemik gegen die religiösen Autoritäten umfunktioniert (vgl. auch oben Anm. 53).

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machtkritische Richtung, indem der Redaktor auch sehr prophetische autoritätskritische Töne übernimmt.63 Der Herde zu Hilfe zu eilen, bedeutet implizit, der Autorität der bestehenden Hirten ein Ende zu bereiten. Der sanftmütige Hirte erweist sich den böswilligen und inkompetenten Führern gegenüber als ein unerbittlicher Richter.64 Besonders der Formulierung πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα (9,36 // Mk 6,34),65 die Matthäus redaktionell vor den Missionsauftrag der Jünger stellt, ist eine deutliche Kritik an den gleichgültigen Autoritäten anzumerken.66 Eine ähnliche Konstellation ergibt sich auch aus der Untersuchung einiger Stellen betreffs der Heilungstätigkeit. Auf einer Seite steht das Volk als Begünstigter der Wirkung Jesu. Dagegen handeln die feindseligen Autoritäten, die alles unternehmen, um diesen Erfolg zu verhindern. Das Motiv des heilenden Davidssohnes ist eigentlich eine Konkretisierung der dienenden Funktion, die Jesus als rechtmäßiger Hirte in Bezug auf die „verschmachtete“ Volksmenge einnimmt. Der Hirte kümmert sich auch um die Krankheiten seiner Schafe.67 Matthäus investiert daher einen großen redaktionellen Aufwand darin, Jesus als den typischen, vollkommenen Heiler zu präsentieren.68 Die Tätigkeit Jesu als Exorzist tritt dafür im Vergleich zu Markus gewissermaßen zurück.69 63 Matthäus spielt möglicherweise auf sehr autoritätskritische Texte an, in denen Gott den treulosen Hirten (Führern) den Untergang ankündigt (Jer 2,8; 23,2; Ez 34,2–10; Sach 10,2–3; 11,5.17; 13,7); vgl. auch CD 19,7–9; ApkElia 42,6–9; 1Hen 89,65. 64 Der Text- und Sachzusammenhang ist schon bei Sacharja vorgegeben: Nachdem in 9,9 der helfende König auf einem Esel eingeführt wird, wird in 10,3 („Mein Zorn ist entbrannt über die Hirten“) aber auch weiter im Kap. 11 (z. B. 11,17: „Wehe über meinen nichtsnutzigen Hirten, der die Herde verlässt“) gegen die treulosen Hirten geschossen. 65 Es geht um eine typische Bezeichnung für Israel in krisenhaften Zeiten: Num 27,17; 1Kön 22,17 (2Chr 18,16); Ez 34,5–6.8; Sach 10,2; Jdt 11,19; Josephus, Ant VIII 404; 2Bar 77,13. 66 So Ham, Coming King, 87: Eine „metaphor that can connote  a lack of political leadership or  a lack of spiritual guidance and can refer to the Davidic Messiah Yahweh will send“; Olmstead, Trilogy, 66 („ill-equipped to care for his people“); Baxter, Healing, 39; Tooley, Shepherd, 16 („a criticism of the teachers of Israel“); Luz, Wundergeschichten, 153; Davies / Allison, Mt II, 158 („polemical dimension“); Garland, Reading, 109 („an implicit indictment of Israel’s current leaders“); Carter, Construction, 94. 67 Das Gebrochene zu verbinden und das Kranke zu stärken gehört zu den Grundausgaben eines rechtmäßigen Hirten: Ez 34,16; Philo, Agr 39; ApokrEz Frgm. 5.  68 Siehe auch Bornkamm, Vollmacht, 285; Duling, Therapeutic, 397; Baxter, ­Healing, 38; Chilton, Jesus, 93; Burger, Jesus, 90; Broer, Versuch, 1260; Paffenroth, Jesus, ­548–551; Novakovic, Messiah, 77; Cousland, Crowds, 108–117; Lohfink, Messiaskönig, 196. Damit geht eine Tentenz „to magnify and generalize“ die Heilungstätigkeit Jesu einher (Gerhards­ son, Mighty, 24; auch Nielsen, Heilung, 125) und das geschieht nach drei Mustern: die umfassende Wirkung Jesu  – θεραπεύων πᾶσαν (4,232 = 9,352); πάντας τοὺς κακῶς ἔχοντας ἐθεράπευσεν (8,16); ἐθεράπευσεν αὐτοὺς πάντας (Mt 12,15); die Größe der geheilten Menge – ὄχλοι πολλοί (12,15; 19,2); die Vielfalt der Krankheiten – ἑτέρους πολλούς (15,30). 69 „Besessenheit ist eine schwere Krankheit, die Heilung von Besessenen ein Spezialfall von Krankenheilungen“ (Trunk, Heiler, 185; auch Paffenroth, Jesus, 549; Gerhardsson, Mighty, 33–34). Markus gilt hingegen als der wichtigste Überlieferer von Exorzismen unter den Synoptikern (vgl. Twelftree, Jesus, 3).

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Ein Paradebeispiel für diese doppelte Intention ist die redaktionelle Bearbei­ tung und Platzierung des ersten matthäischen Summariums (4,23 f), in dem die heilende Tätigkeit Jesus anstatt von τὰ δαιμόνια ἐκβάλλων (Mk 1,39) durch θεραπεύων πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν ἐν τῷ λαῷ (V. 23) / καὶ ἐθεράπευσεν αὐτούς (V. 24) erfasst wird. Markus konnte verallgemeinern, was er schon erzählt hatte (Mk  1,23–28), Matthäus sieht aber von der Erzählzeit völlig ab und bietet vielmehr den Schlüssel für ihre richtige Deutung vorab, indem er der erst von nun an zu entfaltenden Wirkung Jesu ein Summarium voranstellt. Die Rolle Jesu als Helfer und Beistand für sein Volk wird schon im Prolog dargelegt (Mt 1,21–23; 2,6) und in den beiden Namen ( Ἰησοῦς/ Ἐμμανουήλ) des göttlichen Kindes verdichtet. Dadurch findet eine identitäre Verschmelzung statt: Jesus ist der von Jesaja angekündigte Immanuel, und in diesem Sinne sind die Wundergeschichten als die praktische Anwendung und Verwirklichung seiner theologischen Identitätsbestimmung zu verstehen.70 Jesus ist der gehorsame Knecht Gottes, der seinem Wesen nach Schutz und Hilfe vor allen menschlichen Gebrechen bietet. Er heilt nicht gelegentlich, sondern es gehört zu seiner Bestimmung das menschliche Leiden aufzuheben. Das wird auch in den zahlreichen weiteren Summarien deutlich.71 Diese sind einerseits ein fester Bestandteil der Erzählung, andererseits ragen sie ‚refrainartig‘ aus ihr heraus, ‚befreien‘ die detaillierten Berichte von unnötigen Textfloskeln und führen sie in das Typische und Allgemeine.72 Aufgrund der Kontinuitätslinien auf der Ebene der Begrifflichkeit zwischen diesen Summarien und den Heilungsgeschichten einerseits73 und 70 Vgl. auch Luz, Skizze, 224; Karrer, Der Gesalbte, 282; Suhl, Davidssohn, 76; Novakovic, Messiah, 63 („closely ties Jesus’ identity to his activity“); Ostmeyer, Stammbaum, 190; Müller, Figure, 166; Repschinski, For He Will Save, 254–255; Luomanen, Entering, 225 („something essential about Jesus’ activity in it“); Ploner, Schriften, 111 („‚soteriologisches‘ Programm“); Waetjen, Genealogy, 229–230 („direct correspondence between his activity and his name“); Park, Sündenvergebung, 107–108; Kupp, Matthew, 173. 71 Matthäus macht sich zur Gewohnheit, im Laufe des Evangeliums die Werke Jesus regelmäßig mehr oder weniger umfangreich zusammenzufassen. Vgl. 8,16–17; 9,35–36; 11,2–6; 12,15–16; 14,13–14.35–36; 15,29–31; 19,1–2; 21,14. Besonders 11,2–6 ist eindeutig messianisch beladen (11,2: τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ); vgl dazu Giesen, Krankenheilungen, 99–101; Trunk, Heiler, 183; grundlegend Novakovic, Messiah, 152–184; Nielsen, Heilung, 124. 72 Die Tendenz ist selbst in der Bearbeitung des Stoffes erkennbar. Matthäus verzichtet auf viele markinische Details in der Schilderung der Einzelwundergeschichten (Hogan, ­Healing, 275: „In stressing the authority of Jesus, he minimizes Jesus’ use of healing means or techniques“; Chae, Jesus, 290: „Matthew portrays Jesus as the healer without any Solomonic-style magical maneuvering“). Sein Interesse ist vor allem theologisch und weniger literarisch. Was über die markinischen Summarien gesagt wird, gilt im Grunde genommen auch für Matthäus: „Die Summarien verallgemeinern und typisieren die in den einzelnen Wundererzählungen singulären Phänomene“ (Dschulnigg, Mk, 39); vgl. auch Becker, Summarien, 460 („Verdichtung der Evangelien-Erzählung“). 73 Die ausdrückliche Erwähnung der verschiedenen Krankheiten in den Summarien verbindet diese mit den detaillierteren Heilungsgeschichten: δαιμονίζομαι (4,24[red.]; 8,16 // Mk 1,32), entsprechend: 8,28–34 // Mk  5,1–20; 9,32–34 // 12,22–24 // Mk  3,22 // Lk  11,14–15; Mt  15,21–

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den grundlegenden christologischen Aussagen am Anfang des Evangeliums andererseits kann man ihnen auch die Funktion zuschreiben, als Bindeglieder die Heilswunder in das vorgezeichnete christologische Raster genauer einzuordnen. Denn die Typisierung der Wirkung Jesu erfolgt durch den Einsatz ausgewählter Begriffe. Was das Wort σῴζω (1,21) betrifft, besteht die matthäische Besonderheit darin, die Gemeinde74 und die Volksmenge75 als Empfänger der Hilfe Gottes anzugleichen. Matthäus stilisiert Jesus mit großer redaktioneller Sorgfalt zu dem typischen, vollmächtigen Heiler.76 Die Volksmenge als Begünstigter der Tätigkeit des davidischen Messias wird ebenfalls im Anschluss an die Geburtsgeschichte (λαός: 1,21; 2,6) oft eingeführt.77 Die Typisierung der Wirkung Jesus als heilender Davidssohn geht Hand in Hand mit der standardisierten Darstellung der konkreten Lage des leidenden 28(15,22[red.], Mk 7,25: πνεῦμα ἀκάθαρτον) // Mk 7,24–30 – σεληνιάζομαι (4,24[red.]), entsprechend: 17,14–21 (17,15[red.]) // Mk  9,14–29  – παραλυτικός (4,24[red.]), entsprechend: 8,5–13 (8,6[red.], Lk 7,2: κακῶς ἔχων) // Lk 7,1–10; 9,1–8 // Mk 2,1–12 – τυφλός (11,5; 15,30. 31; 21,14[red.]), entsprechend: 9,27–31 // 20,29–34 // Mk  10,46–52; 12,22–23 (12,22[red.]) //  Lk 11,14 – χωλός (nur in Summarien: 11,5; 15,30[red.].31[red.]; 21,14[red.]) – λεπρός (11,5), entsprechend: 8,1–4 // Mk  1,40–45  – κωφός (11,5; 15,30[red.],31[red.]), entsprechend: 9,32– 34 // 12,22–24 // Lk  11,14–15  – νεκροὶ ἐγείρω (11,5; auch im Missionsbefehl 10,8[red.]), entsprechend: 9,23–26 // Mk 5,38–43 – κυλλός (nur in einem Summarium: 15,30.31). 74 Vgl. σῴζω in Mt 8,25[red.]; 10,22 // Mk 13,13; 14,30[red.]; Mt 16,25 // Mk 8,35; Mt 19,25 //  Mk 10,26. Dadurch dass in 1,21 die Sündenvergebung mit dem Verb σῴζω formuliert wird, welches in der Regel in den Heilungen vorkommt, muss man auch ἀφίημι als ‚technischen‘ Ausdruck für Sündenvergebung heranziehen (relevant für diese Fragestellung sind 9,2.5.6; 12,31, 26,28); exemplarisch zu dieser Verbindung in Mt vgl. Novakovic, Messiah, 67–68; auch Repschinski, For He Will Save, 257–258. Zwischen Sünde und Krankheit wird oft ein direkter Zusammenhang vorausgesetzt: Ps 32,3–5; 103,3; Jes 1,5–6; 53,4; Hos 5,12–6,1; Sir 38,9–11.15; 1Hen 80,7–8; 95,4; Jub 23,13–14; ferner 10,10; TestRub 1,7–8; Philo, Virt 162; Imm 135; Josephus, Ant XVII 168–171; Bel VII 451–453; 1QGenAp 20,12–29 (=1Q20); 4QOrNab Frgm. 1–3; Joh 5,14; 9,2–3. 75 Vgl. σῴζω in 9,21–22 // Mk  5,28.34 in Bezug auf die Frau mit Blutfluss; διασῴζω in Mt 14,36 // Mk 6,56 (σῴζω). 76 Wie die Vorkommnisse von θεραπεύω bezeugen: 4,23[red.] (mit dem verallgemeinernden πᾶς; Mk  1,39: δαιμόνια ἐκβάλλων).24 (Mk  3,10); 8,7[red.].16 (mit πᾶς red. // Mk  1,32– 34); 9,35[red.] (wiederum mit πᾶς); 10,1[red.] (mit πᾶς).8[red.]; 12,10.15.22[red.]; 14,14[red.] (Mk  6,34: ἤρξατο διδάσκειν); 15,30[red.]; 17,16[red.] (Mk  9,18 liest ἐκβάλλω).18[red.]; 19,2[red.] (Mk 10,1 liest διδάσκω); 21,14[red.]. 77 Siehe Gibbs, Purpose, 450 („οἱ ὄχλοι form an integral part of his Son of David structure“); als λαός (4,23[red.]: ἐν τῷ λαῷ), ὄχλος (4,25[red.]: ὄχλοι πολλοί; 9,36; 12,15[red.]: [ὄχλοι] πολλοί; 14,13.14; 15,30[red.]: ὄχλοι πολλοί; 17,14; 19,2; 20,31[red.]) direkt erwähnt (nur ein einziges Mal: οἱ ἄνδρες τοῦ τόπου ἐκείνου in 14,35[red.]). Durch das Erfüllungszitat (Jes 53,3–4) ist im Summarium in Mt 8,16–17 das Volk in dem Pronomen ἡμῶν enthalten. Im solidarischen unser der prophetischen Stimme schimmert trotz der desolaten Lage das erhoffte Heil durch. Ich nehme für diese Stelle eine Anspielung auf die Erklärung des Kindesnamens in 1,23 (μεθ’ ἡμῶν ὁ θεός) an. Matthäus schafft dadurch einen intertextuellen Bezug nicht nur innerhalb seines Evangeliums, sondern auch zwischen zwei Texten aus Jesaia, indem er Jes 53,4 direkt auf Jes 7,14 bezieht.

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und herrenlosen Volkes, die es zu beseitigen gilt. Die ihm folgende Menschenmenge ist von Krankheiten und Gebrechen geplagt, von Plagen und Qualen behaftet, erschöpft und verschmachtet.78 Durch die feindselige Reaktion der Gegner auf die Wundertätigkeit Jesu in Bezug auf die leidende Volksmenge wird angedeutet, dass eben die schwachen Führer die Schuld für diesen Zustand tragen. In diesem Sinne ist die eigentliche Intention nicht nur die Beschreibung der vernachlässigten Menge an sich, die Jesus berührt und die sein göttliches Wirken nach sich zieht. Vielmehr wird dadurch auch die Frage nach dem ‚Warum?‘ in den Raum gestellt. Wie es dazu gekommen ist, oder genauer gesagt: Wer ist dafür verantwortlich? Auch auf diese Frage gibt Matthäus ebenfalls eine (stereo)type Antwort, denn eng ist mit der Davidssohn-Titulatur als der heilende Messias die narrative Konfliktentwicklung verbunden und damit auch das Gegnerbild.79 Wie sich der Konflikt durch die (An)Erkennung dieser Qualität von der Volksmenge zuspitzt, wird im Abschnitt 3.1.2.3 erläutert. Hier schließe ich mit noch einem Charakteristikum der matthäischen Präsentation Jesu als Davidssohn und Heiler an, und zwar mit dem Hinweis auf die besondere Bedeutung der Blindenheilungen. Texte wie 9,27–31; 12,22–24; 15,30–31; 20,29–34, 21,14–1580 bezeugen ein deutliches Interesse daran, den Davidssohn-Titel gezielt mit Blindenheilungen zu verbinden.81 Ich nehme von 21,14 ausgehend einen Kontrast zu dem kriegerischen David-Bild an.82 Nach dem Bericht der Eroberung Jerusalems durch David (2Sam 5,6–10) ist den Blinden nicht nur der Zugang „ins Haus“ verwehrt,83 78 Das Wortpaar νόσος καὶ μαλακία (Mt  4,23; 9,35; 10,1) kommt auch in Dtn  7,15 vor (später in einem magischen Text in einem christlichen Amulett  – P.Oxy VIII 1151,26–27; μαλακία ist auch zusammen mit πληγή in Dtn 28,61; Jes 53,3 belegt); bei Mt haben beide Begriffe, gepaart oder nicht, meistens einen red. Ursprung (4,23; 9,35; 10,1; νόσος zusätzlich in 4,24; 8,17[im Jesajazitat 53,4a], aber nur in Mk  1,34 vorhanden); βάσανος in Mt  4,24[red.]; ἐσκυλμένοι καὶ ἐρριμμένοι (Mt 9,36[red.]; zu ῥίπτω in pass. Verwendung vgl. 1Kön 13,24; Jer 14,16; TestHiob 30,5; Josephus, Ant III 6; zu σκύλλω vgl. TestAbr B,2). 79 Luz, Wundergeschichten, 155: „Das heilende Handeln des Messias Israels in seinem Volk ist also der entscheidende bewegende Faktor, der den Konflikt und damit die ganze Erzählung vorantreibt“. Über die stereotypischen Züge der Gegner bei Matthäus siehe S. 123 f. 80 In 9,27 und 20,30 macht Mt aus dem blinden Bartimäus (Mk  10,46) zwei Blinde; in Mt 12,22 ist der Besessene nicht nur stumm (Q 11,14), sondern τυφλὸς καὶ κωφός; im selbstgemachten Summarium 15,30–31 fügt Mt τυφλός zweimal ein; in 21,14 treten red. τυφλοὶ καὶ χωλοί zu Jesus. Für einen Überblick über diese Stellen vgl. Loader, Son of David, 572–574; Novakovic, Messiah, 79–91; Gibbs, Purpose, 451–452, 457–460. 81 Mit Gibbs, Purpose, 451: „Matthew has a special concern for blindness“; Lohfink, Messiaskönig, 196, und viele andere. 82 Vgl. ähnlich auch Weren, Jesus’ Entry, 137, Anm. 45; Theissen, Davidssohn, 157; Trilling, Einzug, 72; Gerhardsson, Mighty, 30. 83 Die Blinden und Lahmen dürfen nicht in den Tempel (Lev 21,17–19; 2Sam 5,8; 1QSa 2,3– 10; CD 15,15–17; 1QM 7,4–6). Das Öffnen der Augen der Blinden in der messianischen Zeit (Jes 29,18; 35,5; 42,7; 4Q521 Frgm. 2 2,8) dürfte auch als Vorstellungshorizont gedient haben; Texte wie Jes 29,18–19; 35,5–6; 42,18; 61,1 spielten auch in Mt 11,4–6 eine gewisse Rolle (Luz, Mt II, 169; Weren, Jesus’ Entry, 135, mit besonderem Hinweis auf Jes 35,4–6).

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sondern sie werden ausdrücklich gehasst (2Sam  5,8: μισέω). Dafür signalisiert Mt durch die Verwendung des Verbes σπλαγχνίζομαι – einmal red. mit einer Blindenheilung unmittelbar vor dem Einzug in Jerusalem verbunden (20,33 f) –, dass sich Jesus um die Blinden und Lahmen hingegen besonders kümmert. Auch zieht der akklamierte Davidssohn (21,9) nicht als willkürlicher Eroberer in die Stadt Davids (vgl. 2Sam 5,9: ἡ πόλις Δαυιδ) ein, sondern als sanftmütiger Hirten reitend auf einem Esel (21,5 = Sach 9,9).84 Es geht also um eine literarische Strategie, das Bild eines dienenden und nicht herrschenden Davidssohnes zu vermitteln. Weitere Textbeobachtungen können diese Annahme unterstützen, vor allem die zwei Erfüllungszitate in Mt 8,17 und 12,17–21: Jes 53,4 bzw. 42,1–4, die absichtlich auf Heilungsberichte folgen.85 In der möglicherweise selbst angefertigten Übersetzung der hebräischen Vorlage (Jes 53,4a)86 drücken Verben wie τὰς ἀσθενείας ἡμῶν ἔλαβεν καὶ τὰς νόσους ἐβάστασεν in 8,17 ein dienendes Verhältnis87 dem leidenden Volk gegenüber aus. Im nächsten Zitat besteht durch die Einfügung von ὁ ἀγαπητός μου in 12,18 kein Zweifel daran, dass mit ὁ παῖς μου Jesus selbst aus der Taufszene gemeint ist88 – der demütige und sanftmütige Messias, der den göttlichen Auftrag erfüllt und seinem Volk in Not zur Hilfe eilt.89 84 Müller, Figure, 167–168: „The corrective to a false Christology of glory is particulary conspicuous in what I would call the meekness Christology peculiar to this evangelist“; von einem „Machtverzicht“ und „Machtlosigkeit des ‚Messias‘“ spricht Lohfink, Messiaskönig, 195, Anm. 36; Nolland, King, 140: „The humble circumstances of the messianic claimant are carefully underlined“. Vgl. auch oben Anm. 53. 85 In 8,16fin[red.]: καὶ πάντας τοὺς κακῶς ἔχοντας ἐθεράπευσεν (Giesen, Krankenheilungen, 98: „einen besseren Übergang zum Jesaja-Zitat“); 12,15: καὶ ἐθεράπευσεν αὐτοὺς πάντας. Abgesehen von dem red. πάντας, geht es beide Male um Summarien, wobei Mt 12,15–16 durch die starke Reduzierung von Mk 3,7–10 resultiert. 86 Für die mt Redaktion siehe die Analyse von Novakovic, Messiah, 126–127; auch Schnackenburg, Knecht, 213, u. v. a. Menken, Bible, 44–47, nimmt eine vormatthäische griechische Übersetzung an. 87 Hill, Son, 9 („a manifestation of his mercy, obedience and lowliness“). Vom stellvertretenden „Leiden des Gottesknechtes ist also im matthäischen Kontext nicht die Rede“ (Luz, Mt II, 19; Schnackenburg, Knecht, 210, 212 [„Leidensbeseitiger“]; Novakovic, Use, ­155–160; Nielsen, Heilung, 129). Der Knecht Gottes erfüllt primär seine Mission in den Heilungen (ἀσθένεια, νόσος) und nicht durch sühneschaffenden Tod (Kraus, Jesaja 53 LXX, ­168–169); auch Novakovic, Messiah, 127 („not as atonement for sin, but as the taking away of the literal sickness“); Giesen, Krankenheilungen, 98; Menken, Bible, 44–45; Trunk, Heiler, 188. 88 Novakovic, Messiah, 146; Verseput, Rejection, 196; De Jong, Dominion, 438–439; Menken, Bible, 59. 89 Die Gottessohnschaft Jesu wird „durch seinen Gehorsam ausgelegt“ (Luz, Mt II, 247). Cope, Scribe, 50, in Bezug auf das ganze Kap. 12: „The main feature of this chapter is its strong attention to the theme that Jesus is the servant / Messiah“; Stanton, Gospel, 341: Matthäus „reshaped the text to suit his own purpose and has emphasized the role of Jesus as humble servant“; Trunk, Heiler, 193: „Gottesknechtchristologie“. Zur Wirkung von Jes 42 vgl. vor allem Novakovic, Messiah, 133–151; Müller, Figure, 168; Hill, Son, 6, 9: „the alterations from the original text […] stress the Servanthood of Jesus“; Schnackenburg, Knecht, 219; Menken,

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Dieser Sachverhalt hat eine kontrastierende Entsprechung im Feindbild bei Matthäus.90 In 15,14 radikalisiert er die Aussage über die Blinden, die andere Blinde führen wollen, indem er diese in Lk 6,39 nur parabelhafte Wendung durch ein Zustandsverb zur wesentlichen Eigenschaft macht: τυφλοι εἰσιν ὁδηγοί; der Führungsanspruch der Pharisäer wird also direkt angegriffen und die Gefahr, sich durch sie führen zu lassen, wird verdeutlicht.91 Wortwörtlich kommt dieses prophetisch-schmähende Wort92 erneut in 23,16.24, aber nur als τυφλοί (23,1793.19) oder stark personalisiert in 23,26 (Φαρισαῖε τυφλέ) vor. Die Barmherzigkeit, die Jesus im Umgang mit den Blinden ausübt, profiliert also einerseits den eigenartigen Charakter des heilenden Messias, andererseits entlarvt sie die Unfähigkeit der bestehenden Autoritäten, ihren Pflichten nachzugehen, und der hilflosen israelitischen Herde den nötigen Schutz und Beistand zu leisten.

2.1.2 Jesus, der Lehrer der „besseren Gerechtigkeit“ Polemik und Konfrontation prägen nun auch die lehrhafte Dimension der Tätigkeit Jesu. Seine Überlegenheit in den direkten Kontroversen um die Tora entzieht der Wirkung und den Bemühungen der Schriftgelehrten und der Pharisäer jede legitimierende Grundlage. Diese unerhörte Vollmacht in Wort94 und Tat beruht auf seinem überirdischen Ursprung (vgl. 1,20–21) und dem privilegierten Verhältnis des Sohnes mit dem Vater (11,27). Die Reaktion darauf ist aber Bible, 62. Auch Chae, Jesus, 301, der besonders die Bedeutung von Ez 34 auf die mt Hirtenmetaphorik betont, nimmt einen möglichen Einfluss durch das Motiv des Gottesknechtes aus Jes 42 an, der „modified the Davidic Shepherd tradition“; ferner Saldarini, Matthew, 179–180. Ausgehend von κρίσις in 12,20 – ein Begriff, der bei Mt eine antipharisäische Konnotation hat (vgl. 23,23) –, versucht Beaton, Messiah, 5–23, für die Platzierung des Zitates auch eine polemische Funktion plausibel zu machen (für dieselbe Deutung von κρίσις als „justice“ und nicht als „judgment“, vgl. auch Menken, Bible, 60–61). 90 Besonders Luz, Mt II, 58–59; auch Gibbs, Purpose, 452–453: „Matthew intends to heap the spiritual counterparts of all the maladies on the Pharisees and their cohorts“ (453). 91 Vahrenhorst, Ihr sollt, 352 f; Saldarini, Deligitimation, 673. 92 Vgl. Jes 42,118; 43,8; 56,10; auch SapSal 2,21; Philo, VitCont 10; Josephus, Bell V 572; Ap II 142; 1Hen 90,7; TestSim 2,7; TestRub 2,9. Zu den Manifestationen der Blindheit in Mt („unable to percieve their own devastating failures“, „ignorance of the Scriptures“, „false­ teachers“), vgl. Olmstead, Trilogy, 65 f; die Kontrastverbindung zu den Blindenheilungen Jesu als Davidssohn wird jedoch nicht erwähnt. 93 Vom mt μωρός begleitet (nur noch im mt Traditionsgut vorhanden, vgl. 25,2.3.8). 94 Das Wort ist bei Matthäus auch ein bevorzugtes Heilmittel: In 8,13 überliefert Mt eine spezielle ‚Wirkformel‘ (ὕπαγε, ὡς ἐπίστευσας γενηθήτω σοι), die in Lk 7,10 fehlt; so auch in 9,29 (vgl. Mk  10,52), wobei aus das Glaubensmotiv erneut aufgenommen wird (κατὰ τὴν πίστιν ὑμῶν γενηθήτω ὑμῖν) und in 15,28 (μεγάλη σου ἡ πίστις γενηθήτω σοι ὡς θέλεις, vgl. Mk 7,29); Strecker, Weg, 176. Die Lehrtätigkeit Jesu ist ein oft bemerktes Kennzeichen von Mt (vgl. z. B. Riches, Conflicting, 283: „This linkage with his teaching is a characteristic of his authority throughout the Gospel“).

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gespalten. Neben dem engen Kreis der Jünger und dem wohlwollenden Volk hat sich innerhalb Israels eine feste ‚Widerstandsgruppe‘ mit führenden Ansprüchen und Befugnissen herausgebildet, die Jesus und seine Jünger ständig anfeindet und bekämpft. Diese dramatische Konfrontation, mit heilsgeschichtlichen Konsequenzen, prägt die Lehre Jesu in ihren Formen und Inhalten und ist im Grunde genommen der eigene Kampf der realen Gemeinde, die sich in der Erzählung widerspiegelt. Dies illustriert wiederum das Selbstvertrauen der Gemeinde, die in der Konflikterzählung Jesu die eigenen Anliegen vertreten lässt. In einem ersten Schritt muss versucht werden, die Begrifflichkeit, mit der Matthäus die Funktion Jesu als Lehrer umschreibt, zu systematisieren. Der Redaktor greift bei der Gestaltung der Lehrtätigkeit Jesu vielfach in seine Quellen ein. Auslassungen, Hinzufügungen oder neue Verbindungen zwischen Begriffen, alle geben über seine redaktionellen Vorlieben und Intentionen Auskunft. Das Wortpaar, das diesen Sachverhalt am deutlichsten wiedergibt, ist διδάσκω / διδάσκαλος. Doch erst die relative Verwendung im Vergleich zu den Quellen wird auf bestimmte Tendenzen oder Abneigungen hinweisen. An fünf verschiedenen und nicht unbedeutenden Stellen fügt Matthäus das betreffende Verb ein (Mt  4,23; 5,2.19; 11,1; 28,20); mehrmals lässt er das markinische διδάσκαλος weg.95 Die beiden Sorten von Vorkommnissen – die negativen und positiven – sprechen für einen „pointierten“96 Sprachgebrauch, wobei das Gesetz zum Objekt der Lehre gemacht wird.97 Die Lehre Jesu ringt also auch auf dieser Mikroebene der Begriffsauswahl um die Toraauslegung. Wie auch im Fall der Wundertätigkeit befinden sich einige der Belege in summarienartigen Berichten (4,23; 9,35; 11,1)98 und werden dadurch zu typischen und wesentlichen Merkmalen Jesu. Matthäus verwendet bis zur Passion konsequent nur dort διδάσκω, wo traditionell die Belehrung der Tora zu erwarten wäre. Die Adressaten sind immer die Jünger oder das israelitische Volk (4,23; 5,2; 7,28 f, 11,1 usw.; vgl. für eine Verwendung von διδάσκω in Bezug auf Israel Dtn 32,44; 1Esra 8,7) und das geschieht vorwiegend in den Synagogen und im Tempel (4,23; 9,35; 13,54; 21,23;

95 Mk 2,13 (der Vers über die Volksunterweisung am See fehlt vollständig), 4,1–2 (2mal gestrichen, wobei anschließend Gleichnisse über das Himmelreich erzählt werden); 6,30; 6,34 (θεραπεύω wird bevorzugt, wie auch in Mk 10,1); 8,31 und 9,31 (in Leidensankündigungen); 11,17 (Einführung eines Erfüllungszitats); 12,35 (die Pharisäer sind bei Matthäus doch keine lernfähigen Personen). 96 Luz, Mt I, 248. 97 Die Beobachtung gehört Bornkamm, Enderwartung, 35, Anm.  1; vgl. auch Beare, Jesus, 37; Schrage, Beobachtungen, 243; Strecker, Weg, 127 („eingeengt“); Normann,­ Didaskalos, 26; Cousland, Crowds, 104 („the law is the object of teaching“); Dupont, Le point, 255. 98 Diese sind auch die einzigen Stellen, an denen Mt διδάσκω mit κηρύσσω verbindet. Beim ersten Vorkommen in 4,23 zeigt die Reihenfolge mit διδάσκω an der ersten Stelle ein „overriding interest“ (Davies / Allison, Mt II, 413; auch Hagner, Mt I, 79).

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26,55). Angesichts der ausgesprochenen Zuwendung Jesu zu Israel (10,5 f; 15,24) fällt διδάσκω (28,20: in Bezug auf alle Völker) nur scheinbar aus der Reihe,99 denn erst jetzt wird es möglich, die jesuanische Auslegung der Tora auch den Völkern anzuvertrauen sowie auch Heiden zu missionieren (28,19: μαθητεύω).100 Im Vergleich zum Verb κηρύσσω, das bei Matthäus nie die Jünger als Adressaten hat und meistens spezifisch inhaltlich bestimmt wird (das Nahekommen des Himmelreichs: 4,17; 10,7; das Evangelium vom Reich: 4,23; 9,35; 24,14), wird durch διδάσκω auf eine erhöhte Intensitätsstufe des Missionierens hingewiesen, die gerade den Übertritt zur Gemeinde in ethischer Hinsicht markiert101 und von der allgemeinen Verkündigung des Gottesreiches zu einer vertieften und ausdifferenzierten Unterweisung führt. Matthäus zeigt also eine durchaus positive Einstellung zur Wissensvermittlung. Doch ist der Textbefund in Bezug auf die Bezeichnung Jesu als διδάσκαλος überraschend.102 Abgesehen von 23,8, wo Jesus selbst seine Würde als einziger Lehrer der Gemeinde hervorhebt, und von 26,18, wo Matthäus, wie auch seine Seitenreferenten Jesus wiederum sich selbst als Lehrer bezeichnen lässt, sind die anderen vier matthäischen Einfügungen (8,19103; 9,11; 12,38; 17,24) den Schriftgelehrten und Pharisäern in den Mund gelegt. Hier geht es natürlich nicht darum, die Rolle Jesu als Lehrer für die matthäische Gemeinde herunterzuspielen; im Matthäusevangelium ist Jesus der Lehrer par excellence.104 In diesem Sinne wäre die Meinung von Anthony J. Saldarini105 zu verstehen: Er bezeichnet als „missleading“ den Ansatz, wonach die abwertende Bezeichnung Jesu als Lehrer bei Matthäus ein Grund wäre, dessen Tätigkeit selbst eine geringere Bedeutung beizumessen. Dies ist nicht der Fall. Es ist vielmehr möglich, dass die matthäische redaktionelle Tendenz eine Nebenwirkung des umfassenden und vielschichtigen

99 So Luz, Mt I, 248. 100 In diese Richtung s. Tropper, Didáskalos, 213; Byrskog, Messianic Teacher, 96; Dupont, Le point, 254; Normann, Didaskalos, 39; Beare, Jesus, 39: „The Torah that Jesus as Messiah delivered to the men of Israel is now entrusted to his disciples that it may be made the law of life for all mankind“; Konradt, Rezeption, 132; Senior, Between, 20; Strecker, Weg, 128 („sachliche Identität der Gesetzeslehre und Gottesreichpredigt“). Meier, Law, 96, ordnet die Verwendung von διδάσκω in 28,20 in das matthäische heilsgeschichtliche Schema ein, denn den Aposteln wurde in 10,7 das Lehren vorenthaltet: „Before the ressurection, Jesus alone is the one of whom the action of teaching […] can be legitimately predicated“. 101 Schenk, Sprache, 184 („ethisch bestimmte Kundgabe des Willens Gottes“). 102 Vgl. auch Zimmermann, Lehrer, 156; Normann, Didaskalos, 24–25. 103 Wenn man den Vers 8,21 dazu nimmt, entsteht dadurch ein Kontrasteffekt zur „richtigen“ Anrede eines Jüngers – κύριε. Diese Aussage wird noch mehr erhärtet, wenn man das kleine matthäische Wortspiel mit dem Verb ἀκολουθέω in Betracht zieht. Der Schriftgelehrte will Jesus nachfolgen, wird aber vom „Meister“ abgewiesen, der Jünger will eigentlich weggehen und ist vom „Herrn“ zur Nachfolge aufgefordert (8,22 ist ἀκολουθέω red.). 104 Müller, Figure, 171. 105 Saldarini, Matthew, 179.

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Konfliktes mit Schriftgelehrten-Kreisen darstellt, der Matthäus zu entsprechenden ‚Korrekturen‘ der Terminologie gezwungen hat, um Differenzierungen zu fördern, Überschneidungen zu vermeiden und schließlich (De)Legitimierung zu schaffen (vgl. 23,7 f; 7,29). Jesus als Lehrer ist erst dann richtig erfasst, wenn er als mehr als ein Lehrer anerkannt wird. Die tendenzielle matthäische Kritik an die Bezeichnung Jesu als διδάσκαλος ist indirekt gegen seine Kontrahenten, die vermeintlichen Lehrer der Volkes, gerichtet. Die matthäische redaktionelle Arbeit aber zu bestreiten, scheitert einfach an der Textevidenz. Konsequenterweise wird das Nomen überall beibehalten, wenn es von Jesu Gegnern oder von negativ konnotierten Personen, auf jeden Fall nicht von den Jüngern, ausgesprochen wird,106 und dann gestrichen dort, wenn Jünger oder positive Erzählfiguren zu Wort kommen.107 Ein interessanter Fall ist Mt 10,24 f mit dessen redaktioneller Parallelisierung μαθητής  – διδάσκαλος // δοῦλος  – κύριος. Dies scheint wie ein Lektürehinweis zu funktionieren und zeigt deutlich, welches das angemessene Verhältnis zu Jesus als Lehrer ist.108 Wer ihn als διδάσκαλος anspricht, verfehlt sein wahres Wesen und situiert sich außerhalb seines Wirkungskreises. Nur in seiner Anbetung als Herr wird der göttliche Kern Jesu erfasst. Weitere Stellen unterstützen diese Annahme: Mt 8,25; 17,15 – Κύριος tritt an die Stelle von διδάσκαλος (vgl. Mk 9,17 // Lk 9,38; Mk 4,38; Lk 8,24 liest ἐπιστάτης) in der Anrede der Jünger im Boot und des Vaters des mondsüchtigen Knaben, der auch die richtige Haltung wählt (17,14: γονυπετῶν αὐτόν).109 Die Verwendung von ῥαββουνί und ῥαββί ihrerseits bestätigt diese Tendenz: Der Blinde in Mt 9,28; 20,33 wie auch in Lk 18,41, findet κύριε passender als Hilfe­ruf an Jesus (anders Mk 10,51); Petrus greift auf denselben Wortschatz auf dem „hohen Berg“ in der Verklärungsgeschichte (Mt  17,4; anders Lk  9,33; Mk  9,5) zurück. Den Aposteln wird dringend davon abgeraten, sich unterein­ ander ῥαββί nennen zu lassen und daran halten sie sich tatsächlich in Bezug auf Jesus (Mt 21,20 // Mk 11,21). Nur Judas weicht von der Regel ab und bezeichnet

106 Mt 19,16 // Lk 18,18 // Mk 10,16; Mt 22,16 // Lk 20,21 // Mk 12,14; Mt 22,24 // Lk 20,28 //  Mk 12,19; Mt 22,36 // Lk 10,25; Mt 19,16 // Mk 10,20. 107 Mt 24,1 // Mk 13,1; Mt 9,23 // Lk 8,49 // Mk 5,35. Zu vermerken ist hier auch die redaktionelle Verwandlung von ἀρχισυνάγωγος in ἄρχων; Mt 20,20 // Mk 10,35 – hier wird der Eindruck, dass die Jünger Jesus mit διδάσκαλος ansprechen können, noch mehr dadurch abgewendet, dass die Mutter der Zebedaiden und nicht sie selbst das Wort ergreifen; Mt 24,3 zieht Mk 13,3 (ohne Anrede) dem Lk 21,7 (mit Anrede) vor. 108 Vgl. auch Zimmermann, Lehrer, 150: „Der Beleg spricht gerade für die bewusste Unterscheidung zwischen Jesus als dem διδάσκαλος und Jesus als dem κύριος“; Normann, Didas­ kalos, 42–43; Tropper, Didáskalos, 212 („Inadäquatheit des Titels“). 109 Das matthäische Schema κύριε (Anrede) – προσκυνέω (Haltung) ist schon aus den Wundererzählungen bekannt, vgl. 8,2; 15,25; in 14,33 mit θεοῦ υἱός. „Herr“ ist deutlich mehr als ein Ausdruck des menschlichen Respektes (vgl. Donaldson, Title, 288; Kingsbury, Kyrios, 255: κύριος „undoubtedly assumes christological overtones“).

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seinen Meister zweimal unangemessen (Mt 26,25[red.], Mt 26,49 // Mk14,25).110 Es geht hier nicht um eine unanständige Anrede,111 sondern um eine fehlerhafte und entsprechend feindliche Haltung, die innerhalb eines von Matthäus standardisierten Sprachgebrauches erfolgt. Matthäus missbilligt nicht die bloße Tatsache, dass die Gesprächspartner Jesu seine Würde als Lehrer ‚titularisch‘ ausdrücken, sondern er macht klar, dass diese Anerkennung nicht genügt, um die göttliche Würde Jesu zu erfassen.112 Das Kognitive allein versagt, weil ihm eben das Wesentliche nach Matthäus fehlt, worauf es bei einer echten Begegnung mit Jesus ankommt  – ihn zu huldigen und ihm zu folgen. Jesus ist nach Matthäus kein Wanderlehrer, um den sich eine Schar von Schülern begibt, um ihnen eine Geheimlehre beizubringen, sondern er ist der Herr, der die totale Hingabe seiner Zuhörer verlangt. Wer daran scheitert, ist nach der matthäischen Logik ein potenzieller Feind. Die Differenzierung ‚kognitiv / verhaltensbezogen‘ und die Betonung der letzten Komponente ist also sehr ausgeprägt113 und kann anhand einiger matthäischer Begriffskonstellationen noch weiter verdeutlicht werden. Die folgenden Ausdrücke drehen sich alle um das Tun und das Bewahren des Gesetzes: ποιέω τὄν καρπὄν (3,10; 7,17[red.]18[red.] usw.; 12,33; 13,23.26) / τὰς ἐντολάς (5,19[red.]) / τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου (23,23[red.]) / τὸ θέλημα τοῦ πατρός (7,21[red.]; 21,31) / τοὺς λόγους μου (7,26[red.]); τηρέω τὰς ἐντολάς (19,17[red.]) / πάντα (28,20[red.]). Sie verdeutlichen aber nicht nur das allgemeine matthäische Interesse an der praktischen Anwendung der Tora, sondern beinhalten auch eine deutlich polemische Spitze: Die Bedrohung in 3,10 gilt nun für Pharisäer und Sadduzäer, wie auch in 12,33, wegen der matthäischen Textumstellung; 5,19 und 23,23 befinden sich ebenfalls in einem polemischen Kontext und 23,3 summiert als negative Folie alles, was bei den Pharisäern verwerflich ist: nämlich ‚das Nicht-Tun des Gesetzes‘. Auf einer noch tieferen Ebene der Konkretisierung lässt sich das Tun der Tora nur im Zusammenhang mit der Person Jesu verwirklichen.114 Eine neutrale, mechanische Praktizierung des Gesetzes ohne einen direkten, persönlichen Bezug

110 Davies / Allison, Mt III, 464 („inadequate appellation“). Es ist ein Zeichen dafür, dass Judas schon die Seite gewechselt hat (Byrskog, Messianic Teacher, 92 f; France, Mt, 990: „Juda’s language […] befits his status as no longer a true part of the disciple group“; Kingsbury, Kyrios, 254). 111 Denn ῥαββί ist ebenfalls eine ehrenvolle Adressierungsformel (Schürer, History, Bd. 2, 325 [„reverential appellation“]; Byrskog, Messianic Teacher, 98; Frankemölle, Bund, 100). 112 Normann, Didaskalos, 26: Diese Bezeichnungen „[greifen] nicht hoch genug“. 113 Für ein antiintellektualistisches Verständnis bei διδάσκειν vgl. Frankemölle, Bund, 104 f; Schrage, Beobachtungen, 244 („lehrhafte Anleitung zum Tun des Willens Gottes“). 114 Vgl. Flender, Lehre, 705: „Einmal bleibt die Bindung der Lehre an die Person Jesu bestehen. Sie wird aber bei Matthäus zu einer Bindung in konkretem Gehorsam“; Riesner, Lehrer, 417; Maher, Yoke, 103 („comitment to his person“); Normann, Didaskalos, 39: „Der ‚Herr‘ aber weiß über die Befolgung der Tora hinaus an seine Person zu binden“.

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Der subjektive Status der Gemeinde

zu Jesus, wird dem matthäischen Konzept nicht gerecht. Dieser Sachverhalt wird anhand der folgenden zwei Begriffe verständlich: ὁδός115 und ἀκολουθέω.116 Sie gehören sehr eng zusammen: Der Ruf in die Nachfolge ist auch der Ruf auf den rechten Weg.117 Gegen Ende der Bergpredigt (7,13 f)  verbildlicht Matthäus in der traditionellen Metapher118 der zwei Wege[-Lehre] den Ernst seiner Rede und bezeichnet sich indirekt als ‚Wegweiser‘. Direkt wird in Mt 21,32[red.] anschließend an ein Streitgespräch mit den Hohenpriestern und den Ältesten des Volkes der Auftritt Johannes des Täufers als Ereignis auf dem Weg der Gerechtigkeit (ἦλθεν … ἐν ὁδῷ δικαιοσύνης) präsentiert. In diesem letzten Fall lässt Matthäus seine polemische Ausrichtung wieder zu Tage treten und schafft ein Pendant zu 22,16. Dort wird ὁ ὁδός τοῦ θεοῦ im Munde der Pharisäer und Herodianer als listiger Versuch, Jesus in die Falle zu locken, wieder von einem bei Matthäus gesteigerten119 polemischen Kontext umgeben. Die matthäische Begrifflichkeit wirkt also paradox und weist auf eine ge­ spaltene Reaktion auf die διδαχή120 Jesu hin, die sich zugleich in der Anrede und in der Handlung zeigt. Das Lehren gehört zur Grundbestimmung Jesu, ihn aber als Lehrer zu bezeichnen, entlarvt sich als fehlgeleitete Schlussfolgerung, die zugleich seine göttliche Autorität und die angemessene persönliche Stellung ihm gegenüber verkennt. Der natürliche Schritt nach der Begegnung mit seiner Lehre sollte der Eintritt in die Nachfolge als Jünger sein. Denn die Lehre ist mit dem Lehrer untrennbar verbunden. Das Gewicht der Unterweisung Jesu im Matthäusevangelium wurzelt in der herausragenden Rolle seiner Gestalt; die διδαχή ist also ein christologisches Ereignis. 115 Zunächst werde ich die folgenden Belege berücksichtigen: 7,13.14; 21,32; 22,16. 116 Exemplarisch wird dieses Verhältnis im Gespräch mit dem reichen Jüngling sichtbar (19,16–22): ἀγαθὸν ποιήσω (V. 16)  – τήρησον τὰς ἐντολάς (V. 17)  – ἀκολούθει μοι (V.  21). Der Begriff ἀκολουθέω ist vor allem ein matthäischer terminus technicus für die Nachfolge Jesu (4,20.22; 8,22; 9,9; 10,38; 16,24; 19,21.27 usw.), kann aber auch nur eine Sympathie, eine offene Stellung oder ein reges Interesse gegenüber Jesus zum Ausdruck bringen (vgl. 4,25; 8,1; 8,10; 9,27; 12,15; 14,13 usw.). Verwandt mit ihm ist an zwei Stellen auch δεῦτε (4,19; 11,28). Vgl dazu S. 129–131 117 So Frankemölle, Bund, 97, 105. 118 Die alttestamentlichen Bezugtexte sind vor allem Dtn 30,15.19 und Jer 21,8. Die Verbindung „Weg – Gebote / Willen Gottes“ ist im Dtn geläufig (Dtn 5,33; 8,6; 9,12.16; 10,12; 11,22.28; 13,6; 19,9; 26,16; 28,9). Der Topos ist breit aufgenommen worden, vgl. TestAss 1,3–5; 2Hen 30,15; Ps 1,6; 139,24; Prov 28,6; SapSal 5,6–7; Koh 2,12; 1QS 3,13–4,26; Philo, Agr 103–104; 4Esra 7,3–9; TestAbr 11 usw. 119 Matthäus platziert den Ausdruck ὁ ὁδός τοῦ θεοῦ an einer vornehmlicheren Stelle; im Vgl. zu Mk 12,14 und Lk 20,21 lässt Mt Jesus die wesenhafte Bosheit seiner Kontrahenten feststellen und sie danach ὑποκριταί rufen (vgl. dazu Repschinski, Stories, 199–204). 120 Die wenigen Belege bei Matthäus (einerseits 7,28; 22,33; andererseits 19,9; 16,12) lassen eine Kluft zwischen der Lehre Jesu in der Vollmacht und der Lehre der Pharisäer und Saddu­ zäer erkennen (vgl. auch 15,12–14). Trotzdem hat die διδαχή immer das Gesetz zum Inhalt, „sei es Lehre des alten, überholten Gesetzes der Pharisäer und Sadduzäer, sei es Lehre des neuen Gebotes Jesu“ (vgl. Zimmermann, Lehrer, 155).

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Die Lehrtätigkeit wird durch verschiedene Metaphern und messianisch aufgeladene Formeln umschrieben und sie erfüllt innerhalb des Evangeliums verschiedene Rollen. Es ist deswegen schwer, sie einem bestimmten christologischen Titel zuzuweisen.121 Diese Vorstellung eines Messias als Gesetzeslehrer122 ist aber mit den übrigen christologischen Titeln nicht unverbunden, sondern „fest verklammert“123 und lässt sich kurz an einigen konkreten Begriffen und Sachverhalten verdeutlichen. Dem Volk fehlt nicht die Rezeptivität für diesen Aspekt der Wirkung Jesu und es personalisiert die lehrhafte Zuwendung Jesu anhand einer traditionellen Titu­latur – „ein Prophet“124 (vgl. Mt 21,10 f.45 f).125 Bemerkenswert ist, dass diese Titulatur jedes Mal von einer Kontroverse mit den Gegnern umrahmt wird. In 21,11 beantwortet die Menge die Frage der erregten (σείω) Stadt mit einer ausführlichen Formel, die fast wie eine vollständige Angabe zur Person klingt: ὁ προφήτης Ἰησοῦς ὁ ἀπὸ Ναζαρὲθ τῆς Γαλιλαίας. Damit wird die Identität Jesu für die Jerusalemer bekannt gemacht, aber auch der Sinn seines Einzugs in Jeru-

121 Repschinski, Stories, 341, situiert z. B. die Lehrtätigkeit Jesu in den Streitgesprächen in der Sphäre der Davidsohnschaft; Yieh, Teacher, 243, betont „the connection between Jesus’ identity as Son of God and his role as the teacher of God’s will“. 122 Im AT hat vor allem Gott die Funktion des Lehrens inne (Jes 2,3; 28,26; 30,20; 48,17; 51,4); ein lehrender Messiah ist weniger belegt, vgl. jedoch Jes 11,2; Jes 42,3–4 (die von Mt red. verwendet werden); CD 6,11; 7,18; 4Q174 3(= Frgm. 1+21+2),11; 1QH 18,14; 11QMelch 2,18– 21; TestLevi 18,2–7; PsSal 17,23.29.35.37; 18,7 (dazu Byrskog, Messianic Teacher, 85–87; Riesner, Lehrer, 304–330). 123 Bornkamm, Enderwartung, 33. Byrskog, Only Teacher, 305, spricht sogar von einer „didactic christology“. Religionsgeschichtlich liegt die Vorstellung eines lehrenden davidischen Messias in 11QPsa 27,2–5 vor (vgl. dazu Byrskog, Messianic Teacher, 86); für Mt trifft aber zu, was auch Byrskog, ebd., 90 behauptet: „The son of David is not a teacher in Matthew; he is primarly a healer“. 124 Die Lehrtätigkeit kann durchaus auch als ‚prophetisch‘ eingeordnet werden (vgl. Riesner, Lehrer, 297; Sand, Gesetz, 138). McDonald, Kerygma, 20–22, fragt nach prophetischen Formen in der Verkündigung Jesu bei Mt. Diese Bezeichnung lässt sich in verschiedenen Richtungen deuten. Die Moses-Typologie mit Hinweis auf Dtn 18,15–18 wurde in diesem Zusammenhang ins Gespräch gebracht (dazu Davies, Jewish Sources, 503–506). Umfassende Analysen der intertextuellen und der motivischen Bezüge bieten Davies, Setting, besonders 14–93; Allison, Moses, 137–270. Hahn, Hoheitstitel, 402, hat ein immer noch gültiges Urteil darüber gefällt: Die Mose-Typologie sei ein bedeutendes Element der matthäischen Christologie aber „mit vielen anderen Motiven verwoben und nicht der alleinige Schlüssel zur Erklärung des Evangeliums“; ähnlich spricht Baxter, Imagery, 80–81, über „Mosaic imagery“, bestreitet aber die Existenz einer „Mosaic Christology“ in Mt. Eine andere Anschlussmöglichkeit für das Verständnis Jesu als Prophet bezieht sich besonders auf Texte wie 5,10–12; 10,16–33; 22,6; 23,29–39 und ordnet das Geschick Jesu in die Linie der alttestamentlichen Propheten mit einem gewaltsamen Ende ein; vgl. Hahn, Hoheitstitel, 365 f; Steck, Israel; Hare, Theme, besonders 80–122; Schnider, Prophet, besonders 158–162; McDonald, Kerygma, 23–24. 125 Beide Vorkommnisse gehen auf Matthäus zurück (vgl. auch Gils, Jésus, 25) und zeigen ein theologisches Interesse an diesem Sachverhalt.

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Der subjektive Status der Gemeinde

salem wird dadurch gedeutet:126 Er tritt wie ein messianischer Prophet der Endzeit127 in die Davidstadt ein und gerät in einen Konflikt mit der Tempelverwaltung. Auch in 21,46, wenn die Hohenpriester und Pharisäer sich selbst unter der Figur der bösen Winzer erkennen, ist diese Erkenntnis der Volksmenge – Jesus sei ein Prophet – der Grund für ihre Angst.128 So wie aber das ‚Prophet-Sein‘ Jesu bei Matthäus mehr als Lehre beinhaltet, so ist Jesus auch mehr als ein Prophet,129 er ist nämlich ein lehrender Christus. In seiner Unterweisung zeigt sich mehr als menschliche Weisheit und seine Lehre schöpft aus den für Menschen unzugänglichen Quellen (vgl. Mt 11,27). In der Antwort Jesu auf die Anfrage der Täuferjünger erwähnt Matthäus (Mt  11,5 //  Lk 7,22) am Ende der Kette von sechs indirekten ‚Beweisen‘ seiner Messianität130 auch die Verkündigung des Evangeliums an die Armen: πτωχοὶ εὐαγγελίζονται.131 Vers 11,25 nimmt 11,5 auf, und legt die Lehrtätigkeit Jesu durch das Verhältnis Vater  – Sohn aus. Jesus preist den Vater, weil er sich den Unmündigen (νήπιοι) und nicht den hier ironisch gemeinten Weisen und Klugen (σόφοι καὶ σύνετοι)132 revelatorisch zugewandt hat und nur ihnen „diese Dinge“ (ταῦτα)133 geoffenbart hat.

126 Schnider, Prophet, 104. 127 Hill, Prophecy, 51. Schlatter, Mt, 611, bezieht die Stelle direkt auf Dtn 18,15. Nach Meier, Vision, 145–146, ist in dieser redaktionellen Einfügung eher der Wunsch am Werk, die königliche Messianität aus 21,9 zu entpolitisieren und entmilitarisieren und sie in die Richtung einer „more spiritual conception“ zu lenken. 128 Vgl. dazu 3.1.1.3. 129 Προφήτης ist in 16,14 eine unzureichende Beschreibung der Person Jesu. 130 Ob ὁ ἐρχόμενος (11,3) den Messias oder einen eschatologischen Propheten meint, ist jedoch umstritten (vgl. Hill, Prophecy, 54). Die Wendung ist unpräzise und existiert nicht als eigenständige messianische Kategorie (Luz, Mt II, 167); die Qumran Gemeinde kann aber mit einem ähnlichen Ausdruck den kommenden Messias meinen (1QS 9,11; 4Q434 1,3–4, dazu Witherington, Jesus, 233). Eine Querverbindung zu Hab 2,3 sieht hier Nolland, Mt, 450; Gnilka, Mt I, 407, hält es eher für unwahrscheinlich „weil die Verzögerungsproblematik in Mt 11,3 keine Rolle spielt“. Ein reiner Rückbezug auf 3,11 ist nicht ausgeschlossen, denn auch dort verwendet Mt im Unterschied zu Mk  1,7 // Lk3,16 das Partizip ὁ ἐρχόμενος. Des­wegen kann Matthäus hier eine richterliche Gestalt im Blick haben (Luz, Mt II, 167; Witherington, Jesus, 234). 131 Direkte Anspielung auf Jes 61,1 (vgl. die Rezeption in 11QMelch 2,18–21; 1QH 18,14); für den ganzen Passus bilden Jes 29,18 f; 35,5 f; 42,18 (Schnackenburg, Mt I, 100; Luz, Mt II, 168–169; Gnilka, Mt I, 408) das schriftliche Rückgrat. 132 Nielsen, Heilung, 132 f; Moberly, Jesus, 206 („ironic characterization“), mit Hinweis auf Jes 29,13–14 und Jer 8,8–13. Vgl. dazu auch S. 277–279. 133 Die Bestimmung variiert bei verschiedenen Kommentatoren, bezieht sich aber allgemein auf Aspekte der Wirkung, der Lehre oder auf die Person Jesu: „Jesu’ sonship, his relation to the father, his messianic identity, and his proclamation of the Kingdom“ (Deutsch, Wisdom, 30); das Gottesreich (Luz, Mt II, 206); „eschatological secrets“ oder „apocalyptic secrets of salva­ tion“ (Suggs, Wisdom, 89, bzw. Meier, Vision, 79).

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An der Schnittstelle zwischen verschiedenen christologischen Vorstellungen und als Ausdruck einer innewohnenden, aber auch sichtbar wirksamen Macht, steht der ἐξουσία-Begriff.134 Der Besitz dieser Qualität setzt eine göttliche Bevollmächtigung voraus135 und wird bei Matthäus vorwiegend als solche verstanden. Darin ist auch die „königliche Macht, die Jesus zum Gesetzgeber des Volkes Israel legitimiert“,136 enthalten. Diese Machtstellung usurpiert die Ansprüche der Kontrahenten und lässt die didaktische ἐξουσία auch zu einem Streitpunkt der Auseinandersetzungen werden.137 Diese Vollmacht zu erkennen, bedeutet aber offensichtlich nicht auch, sie anzuerkennen. Die göttliche Autorität Jesu kann einen kognitiven Vorgang auslösen, der dem Zuhörer die Tür zu einem tieferen Verständnis öffnet, kann aber auch die Feindschaft verschärfen und unüberbrückbare Differenzen entlarven. Im Leben der Gemeinde wird dieser Kampf, der schon in der Zeit Jesu seinen Anfang nahm, weiter ausgetragen, denn die Lehrautorität der Gemeinde, die sich in der Gesetzesauslegung manifestiert, wurzelt in der grundsätzlichen Anerkennung Jesu als autoritativen Sohn Gottes in Mt  16,16 (σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος).138 Diese christologische Aussage hat zwei eng miteinander verwobene Konsequenzen: die Erbauung der christlichen Gemeinde (V. 18: οἰκοδομήσω μου τὴν ἐκκλησίαν)139 und die Befugnis, Lehrentscheidungen zu treffen (V. 19: δώσω σοι τὰς κλεῖδας τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν).140 Die Verleihung dieser Lehrautorität geschah also schon in der Gründungszeit der Ekklesia. Die rechtmäßige Gesetzesauslegung gehört zu den Grundaufgaben der Gemeinde bis in die Zeit der Evangelien-Entstehung hinein: „Die Apostel und Lehrer der Gemeinde haben seine Lehre unverfälscht weiterzugeben“.141 Die Erwähnung des Schlüssels zum Himmelreich hat in Anbetracht von Mt 23,13 hier einen unüberhörbaren polemischen Unterton.142 Die Pharisäer und Schrift­ 134 Gerhardsson, Jésus livré, 210: „Dans l’activité terrestre de Jesus l’évangéliste voit percer la gloire qui est la sienne, et qui éclat déjà“. Siehe dazu auch 3.3.1. 135 Vgl. Foerster, Art. ἐξουσία, 566. 136 Zeller, Jesus, 305. 137 Byrskog, Only Teacher, 282 f. 138 Zum Gottessohn als ‚ekklesiologischer Titel‘ der matthäischen Gruppierung vgl. 4.3.3. 139 Moberly, Jesus, 210: „Peter’s recognition of Jesus is constitutive for Jesus’ community“. 140 Mit der großen Mehrheit der Exegeten bin ich der Meinung, dass hier (wie m. E. auch in 18,18, dazu S. 296–297) λύω und δέω dem rabbinischen Sprachgebrauch von rsa und arf entsprechen, also die Lehrautorität zum Ausdruck bringen (Luz, Mt II, 465; Davies / Allison, Mt II, 635 [„teaching authority“]; Schrage, Beobachtungen, 239, Anm. 12; Konradt, Israel, 201–202; Lange, Erscheinen, 114, 116; Hagner, Mt II, 473; Gnilka, Mt II, 65 [„Tradent und Garant der Lehre und Gebote Jesus“]; Hagner, Mt II, 473 [„the ethical teaching of Jesus“]; Hare, Mt, 192; Wilcox, Peter, 82; Robinson, Peter, 94). 141 Normann, Didaskalos, 45. 142 Nolland, Mt, 676 („contrasting image“); vgl. auch Luz, Mt II, 465–466; Wilkins, Disciple, 195: „Peter is contrasted to the scribes and Pharisees who shut off entrance to the kingdom“. Vgl. dazu S. 309 f und 324 f.

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gelehrten verschließen mit ihrer Lehre das Himmelreich vor den Menschen. Gerade in 16,6.12 hatte Jesus seine Jünger vor der verderblichen Lehre (διδαχή [red.]) der Pharisäer und Sadduzäer gewarnt, nun erfolgt nach der christolo­ gischen Grundlegung die Übergabe der wahren gesetzlichen Kompetenz. Das Defizit der pharisäischen Hermeneutik hatte Matthäus programmatisch schon in 5,20 durch einen Verweis auf das Bedürfnis nach ‚Mehr‘ festgestellt (siehe auch 3.2.1). Der gerade entstandenen Gemeinde wird nun durch die Übertragung der jesuanischen Lehrgewalt das Mittel zum richtigen Umgang mit dem Gesetz gegeben, welches den Christen das Hineinkommen in das Himmelreich ermöglicht. Die matthäische Gruppierung beansprucht also für ihre Lehr­entscheidungen eine exklusive göttliche Legitimität und konditioniert den Zugang zum Himmelreich durch die Zugehörigkeit zur Eigengruppe. Dieser Sachverhalt mit Wurzeln in der realen Geschichte der Gemeinde prägt folglich auch die Gestaltung der narrativen Streitgespräche.143 Die Gesetzesauslegung gehört zu den Konfliktgegenständen in der matthäischen Konfliktgeschichte. Im entsprechenden Abschnitt (3.2) werde ich den Hauptlinien der matthäischen Argumentation nachgehen.

2.1.3 Die paradoxe Gestalt des Gottessohnes: Der Gottessohn als Menschendiener Die Gottessohn-Bezeichnung ist die christologische Kategorie, die am deutlichsten mit dem Geschick der Gemeinde verbunden ist. Als ekklesialer Titel sind die Kenntnis darüber und der Glaube daran unverwechselbare Merkmale eines Gruppenmitgliedes. Die ekklesiale Dimension der Gottessohnscahft (vgl. 14,33; 16,16) für Matthäus ist in der Forschung weitgehend übersehen worden. Im ekklesiologischen Teil  dieser Studie (4.3.3) werde ich darauf eingehen. Trotz einer unauffälligen Bedeutung in der Konfliktgeschichte gehört diese christologische Prädikation auch zu den zentralen Konfliktthemen der realen Gemeinde (vgl. dazu 3.3). In diesem Abschnitt werde ich nur die Grundkoordinaten der GottessohnVorstellung bei Matthäus skizieren und verdeutlichen. In neuem narrativem und theologischem Design erfährt das traditionelle Bedeutungsfeld erhebliche Veränderungen; seine Inhalte werden „von einem neuen Kontext her deter­ miniert“.144 Denn religionsgeschichtlich ist der Gottessohn im antiken Judentum keine messianische Kategorie; die spärlichen Beweise können diese Annahme 143 Maher, Yoke, 102: „Jesus’ controversies with the Jews and their leaders as reported in the New Testament are coloured by the apologetic interests of the Early Church“; Strecker, Weg, 137–138: „Die Polemik mit dem Pharisäismus […] durchzieht das gesamte Evangelium und bestimmt die Darstellung der ethischen Forderung Jesu“. 144 So in Bezug auf alle christologische Hoheitstitel Luz, Skizze, 221.

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nicht begründen.145 Hauptsächlich wurzelt die Vorstellung der Gottessohnschaft in der alttestamentlichen Königsideologie mit Ps  2,7; Ps  89,27–29; 110,1–4; 2Sam 7,11–14; 1Chr 17,13; 22,10; 28,6; Jes 9,5 als Hauptbelegen.146 Relevant für Matthäus, auch wenn der Aspekt hier nicht weiter verfolgt wird, ist die alttestamentliche Linie, die den Sohn als korporatives Volk auffasst,147 sodass die matthäische Konfliktgeschichte in manchen Hinsichten auch von diesem Hintergrund her gelesen werden müsste. Die ausgewählten Perikopen vermitteln einen ersten Einstieg in die matthäische Gottessohn-Christologie, wobei von Anfang an deutlich sein wird, dass die übermenschliche Autorität und das Niedrigkeitsmotiv in den Texten eng verflochten sind.148 Auch wenn der Titel selbst nicht vorkommt, wird der Sohn Gottes schon durch die Kindheitsgeschichte eingeführt (1,20). Die jungfräuliche, geistgewirkte Geburt soll man bei Matthäus als Indiz für die göttliche Paternität Jesu verstehen.149 Die Aussage wird unmittelbar im Lichte einiger theologischen Motive, die 145 Was 4Esra 7,28; 13,32.37.52; 14,9 betrifft, geht die Bezeichnung ‚filius meus‘ eher auf ydb[ zurück (vgl. Hahn, Hoheitstitel, 285; Jeremias, Gleichnisse, 71). Die Qumran-Stellen (4Q246 1–2; 4Q174 3(=Frgm. 1+21+2)10–13 sind als Belege für eine Sohngottes-Messianologie ebenfalls umstritten (vgl. Hahn, Hoheitstitel, 286; Hengel, Sohn, 71 f; Fitzmyer, Contribution, bes. 391–394; Zimmermann, Messianische Texte, 128–170; zusammengefasst in Ders., Observations). 146 Hahn, Hoheitstitel, 284. Für einen Überblick der betreffenden alttestamentlichen Texte, vgl. Schlisske, Gottessöhne, 78–115; Schreiber, Gesalbter, 145–154. Die weisheitliche Linie fügt sich dieser hinzu (vgl. SapSal 2,13.16.18; 5,5; PsSal 18,3; Sir 4,10; 51,10; Prov 3,11–12). 147 Vgl. Dunn, Christology, 49: „One of the striking Features of Matthew’s Son of God christology is his clear identification of Jesus with Israel (Matt. 2,15; 4,3.6)“; auch Donaldson, Jesus, 104. Kynes, Christology, nimmt das Motiv auf und stellt seine Bedeutung für die matthäische Christologie konsequent unter Beweis; Grindheim, Christology, 99 f („embodiment of Israel“); Kennedy, Recapitulation, 180–182. Israel oder die Israeliten sind Söhne Gottes: Ex  4,22 f; Hos 2,1; 11,1 (in Mt  2,15 zitiert); Jer 3,14.19.22; 31,9; Dtn  14,1; 32,5 f; Jes  1,2.4; 43,6; 45,11; SapSal 9,7; 12,7; 16,10; 18,13; LAB 32,16; Jub 1,24–25; 2,20; 4Esra 6,58; PsSal 13,9; 17,26–27; 18,4; TestJuda 24,3 usw. (vgl. Hengel, Sohn, 37; Konradt, Israel, 27, Anm. 276; Saldarini, Matthew, 174; Kruijf, Sohn, 5–8; Kennedy, Recapitulation, ­180–182). Wobei die Beziehung sehr oft angespannt ist und Gott unmittelbar dem Volk Untreue und Ungehorsam vorwirft (vgl. Dtn 32,5; Jer 3,20; Ez 12,20 f). 148 Schon Bieneck, Sohn, hat die beiden Aspekte – die Hoheit des Sohnes und den Gehorsam des Sohnes – als zwei untrennbare Aspekte der Gottessohnschaft bei Matthäus angenommen (vgl. die entsprechenden Kapitel S. 45–57 bzw. 58–69); auch Donaldson, Mockers, 11 („interplay of these two, at least apparently conflicting, concepts of Sonship“); ferner Davies, Jewish Sources, 507: „Matthew has throughout fused the messianic with suffering“. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Gottessohnschaft – die Zuwendung zu den Völkern – ist kein Bestandteil des Hauptkonfliktes und wird deswegen hier nicht berücksichtigt. Zu diesem Teilaspekt der matthäischen Gottessohn-Christologie, vgl. Konradt, Israel, 329–334. 149 Vgl. Kingsbury, Son of God, 6–7; Broer, Versuch, 1277; Konradt, Israel, 29; Hahn, Hoheitstitel, 319; Saldarini, Matthew, 172; Novakovic, Messiah, 46–47; Harrington, Mt, 39. Dagegen stimmen Nolland, No Son-of-God, 3–12; Verseput, Role, 540; Bauer, Literary, 143; Ploner, Schriften, 89. Vgl. auch S. 59.

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danach im Evangelium weiter geführt werden, verdeutlicht: Der Sohn wird sein Volk von seinen Sünden erretten (1,21, vgl. auch 6,12; 9,2; 26,28)150 und in ihm wird die Anwesenheit Gottes spürbar wirksam (1,23; vgl. auch 20,28). Ein intertextueller Hinweis macht den letzten Zusammenhang noch deutlicher: die identische Einführungsformel – ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν ὑπὸ κυρίου διὰ τοῦ προφήτου λέγοντος – in 1,22 und 2,15,151 dort wird durch die matthäische Wiedergabe und Interpretation von Hos 11,1 Jesus zum ersten Mal Sohn Gottes genannt. Ὁ υἱός μου wird nur wenig später (3,17) in der Proklamation der feierlichen Taufszene wiederholt. Die geringfügigen Abänderungen im Vergleich zu Mk  1,10 f // Lk  3,21 f reichen aber aus, um dem Bericht eine andere Richtung zu verleihen. Jesus wird präsentiert als der Sohn Gottes  – οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου – und nicht wie bei Mk und Lk im Sinne von Ps 2,7 (σὺ εἶ) erst inthronisiert.152 So wird die Taufszene erst bei Matthäus wirklich zu einer Epiphanie, einer Ent­hüllung einer bisher verborgenen Würde. Die Frage ist nun, wem diese Offenbarung gilt, wer sich an dem Ereignis beteiligt? Zwei wiederum kleine Hinzufügungen in 3,16 (αὐτῷ und εἶδεν) funktionieren wie ‚szenografische Anweisungen‘: Ihm wird der Himmel geöffnet153 und er sah den Geist wie eine Taube herabkommend. Man kann deswegen mit guten Gründen annehmen, dass unter den Irdischen Jesus der einzige ist, der die Himmelstimme hört.154 Die Adressaten dieser Kundgebung können auf der Erzählebene dann nur noch die himmlischen Wesen sein,155 ein Aspekt, auf den aber an keiner Stelle erneut direkt Bezug genommen wird und der in der Architektur der Erzählung auch 150 Die Vergebung der Sünden ist ein exklusiv göttliches Attribut (vgl. Ps 78,9LXX; 129,8LXX; Jes 53,4–12; Jer 31,31–34; Ez 36,25–31; vgl. auch 37,23). Ein Vorverweis auf die Passion (26,28: εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) ist schon hier gegeben (Davies / Allison, Mt I, 210; Konradt, Israel, 330). 151 Diese Beobachtung geht auf eine grundlegende Studie von Pesch, Gottessohn, 407, zurück; übernommen auch von Konradt, Israel, 308–309. 152 Luz, Mt I, 214; Frankemölle, Bund, 94; Konradt, Israel, 310; Broer, Versuch, 1277. Damit wird auch der königliche Bezug abgeschwächt, Nolan, Royal, 170, will ihn aber un­ bedingt beibehalten. 153 Der Himmel als Ort der Offenbarung Gottes: Ez 1,1; 3Makk 6,18; TestLevi 5,1; TestJuda 24,2; Apk 19,11. 154 Vgl. Kingsbury, Parable, 648; Konradt, Israel, 309. An der öffentlichen Verkündigung halten z. B. Kruijf, Sohn, 54; Kingsbury, Son of God, 10; Müller, Figure, 167 („publicly proclaimed“); Luz, Mt I, 214; Gielen, Konflikt, 51; Rowland, Open Heaven, 359; Park, Sündenvergebung, 116, fest. 155 Vgl. Lentzen-Dies, Taufe, 284: „während die Audition sich vor der ‚himmlischen‘ Zuhörerschaft der Engel abspielt, d. h. sich eigentlich an die Gemeinde richtet“; Konradt, Israel, 310: „Am ehesten ist an den himmlischen Hofstaat als Auditorium der Himmelstimme zu denken“. Die Vorstellung eines himmlischen ‚Pantheons‘, über das Jahwe herrscht, ist aus anderen biblischen aber besonders aus apokalyptischen Büchern bekannt (vgl. z. B. 1Kön  22,19 f; Jes 6,1 ff; Ps 82,1; Dan 7,9 f). Für weitere Belege vgl. Bietenhard, Welt, Kap. V.E: „Der himmlische Gerichtshof “, 116–123; Rowland, Open Heaven, bes. Kap. 4, 78–123.

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keine Rolle spielt.156 Die Menge und der Täufer scheiden deswegen aus, denn sie können nirgendwo sonst den Beweis erbringen, eine solche Erkenntnis zu besitzen.157 Auch wenn die Stimmte dem Täufer nicht zuteil wurde, bleibt das Problem trotzdem ungelöst, denn Johannes hat den Kommenden in 3,11 f mit göttlichen Attributen (Geist, Feuer) versehen und erkennt ihn implizit in Jesus (3,14). Ihm fehlt also nicht diese Erkenntnis, nur gewinnt er sie nicht infolge einer Offenbarung, sondern mittels seiner menschlichen kognitiven Fähigkeiten. Hat das ‚unkonventionelle‘ Wirken Jesu in ihm Zweifel aufkommen lassen?158 In diesem Sinne wäre auch die Antwort Jesu in 11,5 mit Jes 35,5–6 und 61,1 verständlich. Die einzigen, die es noch wissen, sind die Jünger. Erzählimmanent gelangen sie spontan zu dieser Erkenntnis (vgl. 14,33), ohne dass man die Wendepunkte einer Entwicklung einsehen kann. Sie sind aber vielmehr aus einer leserorien­ tierten Perspektive die Bewahrer und die Vertreter des festen Glaubens der Gemeinde, sodass diese Überzeugung als Rückprojektion in die erzählte Welt voraus­gesetzt werden kann. Dass οὗτος in 3,17 auch die gegenwärtige Gemeinde als Adressaten einbeziehen kann, ist daher erwägenswert.159 Die matthäische redaktionelle Bearbeitung der Taufperikope hat aber deutliche neue Akzente gesetzt und die dominierenden feierlichen Töne von Mk 1,9– 11 // Lk 3,21–22 um ein zentrales Motiv seiner Gottessohn-Konzeption ergänzt: „Der wichtigste mt Akzent besteht aber darin, dass der Sohn Gottes seine Sohnschaft in seinem Weg des Gehorsams gegenüber dem Vater bewährt“.160 Schon in V. 13 wird die Absicht Jesu, sich taufen zu lassen, als ein Zeichen seiner Unterwerfung hervorgehoben: Er kommt zu Johannes an den Jordan τοῦ βαπτισθῆναι (Passiv!) ὑπ’ αὐτοῦ.161 Der kurze angeschlossene Dialog mit dem Täufer nimmt diesen Aspekt auf und macht ihn anhand einer gewichtigen Aussage Jesu  – πρέπον ἐστὶν ἡμῖν πληρῶσαι πᾶσαν δικαιοσύνην  – auch theologisch relevant. „Die Gerechtigkeit erfüllen“  – zwei matthäische Vorzugsvokabeln  – bringt das christologische Niedrigkeitsmotiv hier als volle Unterwerfung unter den Willen 156 Oder ist die Tatsache, dass der Teufel und die Dämonen über die Gottessohnschaft Jesu unterrichtet sind (vgl. 4,3.6; 8,29), ein Hinweis darauf? 157 Vgl. z. B. Mt 11,2 f. Dazu Konradt, Israel, 309–310. Nepper-Christensen, Taufe, 202, sieht jedoch im ganzen Ereignis eine „Proklamation Jesu gegenüber dem Täufer“, um das Ende seines Wirkens zu markieren. 158 Vgl. auch Verseput, Rejection, 64: „John has suddenly become uncertain“. 159 Vgl. Luz, Mt I, 214; Gerhardsson, Gottes Sohn, 76: „Die himmlische Stimme richtet sich […] an diejenigen, die der Geschichte von Jesu Taufe lauschen, also an die christliche Gemeinde“; Konradt, Israel, 310. Das ist umso wahrscheinlicher, denn „durch die redaktionellen Hinzufügung von ‚Pharisäer und Sadduzäer‘, die nach Matthäus vermutlich nicht kamen, um sich taufen zu lassen, stellt er die Täuferpredigt hinein in die Auseinandersetzung seiner konkreten Gemeindesituation“ (Sand, Gesetz, 111); vgl. dazu auch Gielen, Konflikt, 54. 160 So apodiktisch Luz, Skizze, 231; auch Hill, Son, 8.  161 Vgl. auch Strecker, Weg, 179: „του c. inf. hat im ersten Evangelium häufig finalen Sinn“ mit der Anm. 2; Barth, Gesetzesverständnis, 129; Kennedy, Recapitulation, 171.

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Gottes zum Ausdruck.162 Jesus tritt hier als die Erfüllung der Heilsgeschichte Israels auf und verkörpert als hilfsbereiter Menschendiener die Antwort Gottes auf die Erwartung seines bedürftigen Volkes. Der Täufer ist Teil dieses Ereignisses (vgl. ἡμῖν)163 und in zwei Hinsichten der Vorläufer Jesu: erstens durch seine Predigt,164 dann durch sein gewaltsames Schicksal.165 Die Himmelstimme bestätigt diese Rolle Jesu als gehorsamer Sohn (οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου ὁ ἀγαπητός, ἐν ᾧ εὐδόκησα166) und sie fördert in einer programmatischen „Identifikationsformel“167 die Mischung „von Erhabenheit und Unterworfenheit, von Königtum und Dienstbarkeit“,168 die die Gestalt des Sohngottes insgesamt bei Matthäus charakterisieren. Die Stimme ertönt aber erst als Antwort auf die angemessene Haltung Jesu,169 der sich der auferlegten Aufgabe annimmt und die Erfüllung aller Gerechtigkeit als das Ziel seiner gesamten Mission bestimmt. Im Vergleich zu Lukas, der zwischen Taufe und Versuchung den Stammbaum einschiebt, bilden die beiden Perikopen bei Matthäus eine enge thematische Einheit.170 Was zuerst eingeführt wird, wird nun bestätigt und verdeutlicht. Der ge 162 Vgl. Konradt, Taufe, 272; Kruijf, Sohn, 46; Crowe, Son, 183–184; Kingsbury, Son of God, 9; Broer, Versuch, 1275; Barth, Gesetzesverständnis, 33, 129: Jesus erfüllt die Gerechtigkeit, „indem er als der Messias-Weltenrichter sich erniedrigt und in die Reihe der Sünder tritt, für die Sünder eintritt“; Frankemölle, Bund, 94: „Im Kontext des mt Geschichts­verständnisses haben Täufer, Jesus und die Gemeinde die Pflicht, den von Gott vorgesehenen Plan der Geschichte und seinen Willen zu erfüllen“; Gielen, Konflikt, 51, sieht hier auch die heilsgeschichtliche Aufgabe (1,21) „bis zur letzten Konsequenz (26,28)“ einbezogen; die Passion ist daher hier symbolisch angekündigt (McConnell, Law, 21: „The baptism of Jesus cannot be separated from his death“). 163 So Frankemölle, Johannes, 212; Meier, John, 391. Sogar die Gemeinde selbst kann hier eingeschlossen werden, die als soziologische Größe die Fortsetzung und die geschichtliche Konkretisierung der Wirkung Jesu darstellt (vgl. Strecker, Weg, 180; Frankemölle, Bund, 94 f; Konradt, Taufe, 272). 164 Bei Matthäus ist der Anfang der Predigt Jesu (4,17) mit der des Täufers (3,2) identisch; zudem tut er ausdrücklich das Kommen des Stärkeren (3,11: ἰσχυρός) kund, den er, wie es scheint (vgl. 3,14), auch sofort in Jesus erkennt (Wilkens, Täuferüberlieferung, 554; auch Przybylski, Role, 224). 165 Mehrmals betont Matthäus die Zusammengehörigkeit und die Angleichung Jesu mit dem Täufer. Frankemölle, Johannes, arbeitet diesen Aspekt exemplarisch heraus; vgl. auch Meier, John; Wilkens, Täuferüberlieferung, 554–556. 166 Ps 2,7 ist hier vor allem als at Bezug zu erwähnen. Auch Jes 42 mit der Figur des gehorsamen Knechtes kommt in Frage, wobei eine primäre Anspielung darauf umstritten ist. Nach Luz, Mt I, 215, erfolgt diese Verbindung erst durch Mt 12,18; vgl. ähnlich auch Nolan, Royal, 171, ferner Kynes, Christology, 27. Für einen direkten Bezug vgl. Kruijf, Sohn, 52; Hill, Son, 8; Kingsbury, Son of God, 10; Bieneck, Sohn, 62. 167 So Luz, Mt I, 214. 168 Kruijf, Sohn, 52. 169 Vgl. Bornkamm, Enderwartung, 33: „Verkündigung und Erfüllung der von Gott ge­ forderten δικαιοσύνην also ist die hier auf Erden dem Messias obliegende Funktion. Als der, der sie übernimmt, wird er als ‚Sohn Gottes‘ proklamiert“; vgl. auch Kruijf, Sohn, 54. 170 Vgl. Kruijf, Sohn, 55; Mahnke, Versuchungsgeschichte, 70; Kammler, Sohn Gottes, 170; Wilkens, Versuchung, 481; Söding, Gehorsam, 718 f; Luz, Mt I, 224; Thompson, Called, 9;

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rade über ihn herabgefahrene Geist treibt Jesus in die Wüste und der Teufel nimmt auf die eben proklamierte Gottessohnschaft zweimal eindeutig Bezug (4,3.6).171 Entfaltet wird im ganzen Passus das Verhältnis zum Vater unter dem Vorzeichen des Gehorsams des Sohnes, wie es in 3,9 zur Sprache kam. Der Text ist voll von biblischen Zitaten und theologischen Anspielungen und lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten deuten.172 Nach der kurzen erzählerischen Einleitung über das vierzig Tage und Nächte lange Fasten173 Jesu in der Wüste,174 tritt der Teufel herzu, womit ein in Form eines Streitgesprächs175 gestalteter Dialog zwischen den beiden anfängt. Der Teufel hatte die Gottessohnschaft Jesu gerade zur Kenntnis genommen und versucht nun, Jesus zu einem unangemessenen Verhalten zu verleiten. Er zweifelt nicht an Jesu Status und Fähigkeiten,176 sondern will ihn davon ausgehend versucherisch zum Missbrauch dieser Qualität verführen, um den eigeschlagenen Weg und damit das Heilswerk Gottes für die Menschen zu gefährden. Jesus durchschaut aber die eigentlichen Beweggründe seines Kontrahenten, wie so oft in den verschiedenen Konfrontationen mit den Gegnern in der weiteren Erzählung, und tritt dem Teufel als vollmächtiger Lehrer entgegen. Durch das Zitat aus Dtn 8,3 verweigert er sich nicht nur, Steine in Brote zu verwandeln, sondern weist vielmehr (nur bei Matthäus) auf das lebendige Wort Gottes hin, das den Menschen am Leben erhält. Seine Antwort ist selbst ein Gotteswort – ein performativer Akt, der zugleich als logisches Gegenargument aber auch als Verwirklichung funktioDoble, Temptations, 91: „The two events are intimately linked in thoughts and action“; mit Hinweis auf das verbindende τότε (3,13; 4,1.5.11), Wainwright, Reading, 34. 171 Vgl. Kingsbury, Parable, 649; Mahnke, Versuchungsgeschichte, 70; France, Mt, 127; Hultgren, Elements, 101–102. 172 Einen Überblick verschafft man sich bei Kammler, Sohn Gottes, 163–165, und Luz, Mt I, 222 f. Man sollte eine polyvalente, offene Lektüre durchaus befürworten und mehrere typologische Beziehungen nebeneinander gelten lassen (vgl. Mahnke, Versuchungsgeschichte, 63; Heike, Schriftgelehrsamkeit, 51: „mehrdimensionale Betrachtungsweise“; Luz, Mt I, 223). 173 Das matthäische νηστεύω in 4,2 stellt das Verhalten Jesu als religiöse Frömmigkeit dar und weist es schon als Anfang der Erfüllung der Gerechtigkeit auf, von der bei der Taufe die Rede war (vgl. den selben Zusammenhang δικαιοσύναη – νηστεύω auch in 6,1.16). Jesus konzentriert sich „auf Gott, sein Wort, seinen Heilswillen, seinen Sendungsauftrag“ (Söding, Gehorsam, 729). 174 In Anlehnung an Ex 24,18; 34,28; Dtn 9,9.18; über den deutlichen Hinweis auf Mose, der daraus entsteht, vgl. Mahnke, Versuchungsgeschichte, 57 f; France, Mt, 129–130; Stegner, Use, 102, 104. 175 Vgl. Pokorný, Temptation, 116, weitere Literatur dort in der Anm. 4; Wilkens, Versuchung, 479, 483: „Die Versuchungsgänge tragen die Züge des schriftgelehrten Streitgesprächs“. 176 Trotz der wiederholten εἰ-Sätze wird hier die Gottessohnschaft Jesu nicht in Frage gestellt (vgl. Konradt, Israel, 310; Kruijf, Sohn, 55; Crowe, Son, 160; Neugebauer, Versuchung, 39); anders über die Funktion der Konditionalsätze Thompson, Called, 92.

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niert. Jesus unterwirft sich Gott und macht sich in einem Akt des totalen Gehorsams eins mit dem göttlichen Willen.177 Der Aspekt des Leidens ist im zweiten Anlauf besonders ausgeprägt, wenn es um den Schutz geht, der dem Betenden schriftgemäß zukommt (vgl. Ps 90,11–12). Dieses Mal argumentiert der Teufel selbst mit einem ‚schmeichelhaften‘ Schriftzitat,178 das er nun Jesus als Grundlage für seinen Vorschlag anbietet. Die Aufforderung ist noch perverser, denn Jesus hat sich in der ersten Versuchung als gesetzestreuer179 Gottessohn erwiesen. Dem blinden Rekurs auf die Schrift setzt aber Jesus den Vorrang einer interpersonalen Beziehung (Dtn 6,16) entgegen.180 Die Schrift bezeugt, fordert und beruht auf einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Mensch. Dieses Verhältnis bewusst zu verletzen,181 entzieht auch dem Text seine Validität. Es geht also primär darum, die Beziehung zu Gott nicht zu instrumentalisieren und die privilegierte Stellung nicht auszunutzen, „um sich vor dem Leiden zu bewahren“.182 Proleptisch wird hier der Weg Jesu in den Tod reflektiert.183 Besonders zwei Texte aus der Passionsgeschichte verdeutlichen den Zusammenhang: In 26,53 f missbilligt Jesus die Initiative der Jünger, Widerstand gegen die Verhaftung zu leisten; in 27,43 verhöhnen die Passanten den Gekreuzigten wie der Teufel mit einem Psalmzitat (Ps 22,9) und einem Rückverweis auf das Wort Kaiphas im Synedrium (Mt 26,63). Jesus verzichtet auf seine Prärogative, als Sohn Schutz in Anspruch zu nehmen, und scheut auch den Tod als letzte Konsequenz seines Gehorsams nicht.184 177 Der mt Ausbau des Bibelzitates unterstreicht diesen Aspekt (Menken, Deuteronomy, 46; Kennedy, Recapitulation, 196–197; Crowe, Son, 161). 178 Der Teufel bezieht selbst diesen Text auf Jesus (Stegner, Use, 103; ähnlich Heike, Schriftgelehrsamkeit, 53). 179 Alle drei Anläufe wehrt Jesus mit γέγραπται (4,4.7.10) ab. Der Teufel weiß aber auch davon (4,6) Gebrauch zu machen; „Jesus’ own formula ‚It is written‘ is thus deployed against him“ (France, Mt, 132; auch Menken, Psalms, 64; Moberly, Jesus, 202); somit entwickelt sich die zweite Versuchung „mit satanischer Konsequnz aus der ersten“ (Neugebauer, Versuchung, 64). Auch sonst läuft der Streit mit den Opponenten mit Verweis auf die Schrift (vgl. z. B. 9,13; 12,7; 19,4; 21,16 mit dem leicht variierten stereotypischen οὐκ ἀνέγνωτε). Vgl. auch Broer, Versuch, 1275. Auffälligerweise assoziiert Jesus besonders in Gesprächen mit seinen Kontrahenten Gott mit der Schrift (4,4.7.10; 15,3.4.6; 22,31.32.37, vgl. Mowery, Lord, 645). 180 Verschiede religiöse Texte gegeneinander auszuspielen, um ein rücksichtloses Verhalten zu begründen, wirft Jesus auch seinen menschlichen Gegnern vor (vgl. Mt 15,5 f und Abschnitt 3.2.2). Hier wird ein „Mißbrauch“ der Schrift abgewehrt (Heike, Schriftgelehrsamkeit, 56). 181 Vgl. exemplarisch Wilkens, Versuchung, 484: „Im zweiten Versuchungsgang hat der Teufel das Ziel, das Vertrauen Jesu zu Gott zu zerbrechen“; auch Kammler, Sohn Gottes, 183. 182 Söding, Gehorsam, 737. 183 So Wilkens, Versuchung, 484 f; Kammler, Sohn Gottes, 179; Söding, Gehorsam, 739 f; Donaldson, Jesus, 99 f; zur engen Verknüpfung Versuchung – Passion vgl. auch Konradt, Israel, 323 f; Neugebauer, Versuchung, 73–74; auch Hultgren, Elements, 109 f, mit dem Vermerk, dass nicht die Versuchungsgeschichte den Passionsbericht beeinflusst hätte, sondern umgekehrt. 184 Zum Motiv der Gottessohnschaft in der Passionsgeschichte vgl. 3.3.2.

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Die letzte Versuchung weist eine andere Struktur auf: Anstatt der Konditionalsätze, die Jesus versteckt aufforderten, Gott den Rücken zu kehren, verlangt der Teufel als Preis für alle Reiche der Welt (4,8) nichts weniger als seine Anbetung (4,9: προσκυνήσῃς μοι). Die ersten zwei Versuchungen bezogen sich eher auf die Anwendung der Macht, die letzte ist aber vielmehr auf die Substanz der Macht selbst gerichtet;185 die Sohnschaft Jesu als solche steht jetzt auf dem Spiel. Das gottwidrige Ansinnen des Teufels bestraft der matthäische Jesus zuerst mit einem Machtwort – ὕπαγε, σατανᾶ – um ihm die wahre Hierarchie einzuschärfen, und erst danach bringt er mit Dtn  6,13 seine vollkommene Theozentrik zum Ausdruck (Mt  4,10). Diese dezidierte Ablehnung ebnet den Weg zum Kreuz, denn Jesus strebt eine andere Art von Herrschaft an, die ihm nach der Auferstehung ebenfalls auf einem Berg vom Vater selbst übergeben wird – ἐδόθη μοι πᾶσα ἐξουσία ἐν οὐρανῷ186 καὶ ἐπὶ [τῆς] γῆς (28,18).187 Diese Macht ist aber auf paradoxe Weise mit Ohnmacht und Niedrigkeit eng verbunden und trägt „die Signatur des Kreuzes“.188 Mit seinem Rücktritt (4,11: ἀφίησιν) ähnelt der besiegte Teufel den verstummten Gegnern Jesu,189 die immer wieder versuchten (πειράζω), ihn in seinem Wort zu fangen.190 Ihrer Grundintention nach kommt der Versuchungsgeschichte die bei Matthäus verdoppelte Zeichenforderung (Mt 12,38–42 und 16,1–2a.4) sehr nahe.191 In 16,1 bezeichnet Matthäus diese Initiative ebenfalls als Versuchung und schreibt sie direkt den Pharisäern und Schriftgelehrten zu (Lk 11,16 liest nur ἕτεροι). Damit öffnet Matthäus eine Lektüre- und Deutungsperspektive für seine ganze Erzählung.192 Als eine transparente Geschichte lässt diese auch Angelegen­ 185 Kruijf, Sohn, 55; vgl. auch Wilkens, Versuchung, 486: „Hier geht es ums Ganze“; Heike, Schriftgelehrsamkeit, 59: „Der Teufel versucht in Wahrheit Gott“. 186 Wenn man 28,18 und 4,8 konsequent parallel liest, zeigt sich die begrenzte Herrschaft des Teufels (τὰς βασιλείας τοῦ κόσμου), der Himmel und die göttliche Sphäre bleiben ihm unzugänglich (vgl. Wilkens, Versuchung, 485). 187 Auf diese Entsprechung wird oft hingewiesen. Vgl. nur Söding, Gehorsam, 747; Neugebauer, Versuchung, 75–77; Konradt, Israel, 311–312; Donaldson, Jesus, 102, der neben δίδωμι und πᾶς auch προσκυνέω 4,9.10; 28,17 hinzufügt. 188 Kammler, Sohn Gottes, 180; Hultgren, Elements, 103 („obedience unto death“). 189 Vgl. die Pharisäer in 22,22: ἀφέντες αὐτόν – nach einer anderen Szene, die ebenfalls die richtige Hierarchie und Anbetung thematisiert. Ferner 22,34.46; vgl. auch Kingsbury, Story, 56: „Especially do the leaders of the Jews have affinity with Satan“. 190 Die Pharisäer in Mt 19,3 // Mk 10,2; Mt 22,18 // Mk 12,15; die Schriftgelehrten in Mt 22,35 //  Lk 10,25. Im Angriff des Versuchers (Matthäus liest in 4,3 ὁ πειράζων anstatt ὁ διάβολος wie Lk 4,3) wird man „die wiederholten versucherischen Anschläge von Schriftgelehrten und Pharisäer mithören müssen“ (Wilkens, Versuchung, 483; auch France, Mt, 126; Hultgren, Elements, 100). 191 Wilkens, Versuchung, 483; erwägend auch Luz, Mt I, 226. 192 Luz, Mt I, 226; Söding, Gehorsam, 749; in Bezug auf Taufe und Versuchung Gerhardsson, Gottes Sohn, 78 f: „Dieses Deutungsbild lüftet den Schleier seines innersten Geheimnisses, es zeigt, dass er sowohl von Gott anerkannt wie auch ihm in allem gehorsam ist; bei

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heiten aus dem Alltag Gemeinde zu Wort kommen. Die schärfsten Töne dieses paradigmatischen Gespräches mit der umfassenden und vielseitigen Schrift- und Israeltheologie,193 die überall durchschimmern, sind auch ein verschlüsseltes (Kehr)Bild einer bedrückenden Wirklichkeit. Deswegen ist der Meinung von Wilhelm Wilkens durchaus zuzustimmen: Die Versuchungsgeschichte spiegelt die offenbar zur Zeit des Matthäus leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum. Hier hat die Versuchungsgeschichte ihren ‚Sitz im Leben‘.194

Die Identität Jesu als Gottessohn einmal eingeführt, wird diese nun in zwei weiteren Perikopen – zuerst in dem Verhältnis zum Gott-Vater, dann in dem Verhältnis zu einer anderen fundamentalen christologischen Kategorie (Davidssohnschaft) – ausdifferenzierter dargelegt. Im Lobpreis Jesu (11,25–30) laufen in einem redaktionell stark gestalteten Text verschiedene Stränge der matthäischen Christologie zusammen. Im Zentrum steht der Sohn195 – hier absolute Selbstaussage196 – in seiner revelatorischen Funktion (11,25.27: ἀποκαλύπτω) als ‚Sprachrohr‘ des Vaters.197 Mit εὐδοκία in 11,26198 weist Matthäus auf 3,17 zurück und gliedert die feierliche Aussage Jesu in die göttliche Ökonomie ein, die bei der Taufe in der Stimme des Vaters wahrnehmbar wird. Was jetzt geschieht – die wohlwollende Zuwendung des Sohnes zu den einfachen Leuten aufgrund des exklusiven Verhältnisses mit dem Vater – ist Teil jenes anfänglichen Auftrags. Der göttlichen εὐδοκία steht aber auch der Wille des Sohnes zur Seite (V. 27fin: βούλομαι), sodass das reziproke Kennen ihm herrscht ein mysteriöses Zusammenspiel zwischen souveräner Exousia und totalem Gehorsam“; Donaldson, Mockers, 8–9. 193 Für einen Überblick über die entsprechenden Schriftzitate vgl. Stegner, Use, 100–103; auch Kruijf, Sohn, 56–58; Mahnke, Versuchungsgeschichte, 66–69. 194 Wilkens, Versuchung, 487; vgl. sehr ähnlich Donaldson, Jesus, 92; Pokorný, Temptation, 122. 195 Ὁ υἱός kommt nur in 11,27 dreimal vor, ὁ πατήρ in 11,25–27 nicht weniger als 5mal und bilden daher die bindenden Elemente; ὁ πατήρ μου in V. 27 ist als reziproke Aussage zu ὁ υἱός μου (3,17) zu lesen. 196 Vgl. Luz, Mt II, 208; Konradt, Israel, 313; Hagner, Mt I, 319–320. 197 Mit πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός μου ist ein kontrastierender Rückbezug auf 4,9 geschaffen; eine auffällige Ähnlichkeit besteht auch zu 28,18 (vgl. Hagner, Mt I, 320; Deutsch, Wisdom, 33 f; Betz, Logion, 24; Verseput, Role, 540). 198 Worauf sich hier inhaltlich der Wille des Vaters bezieht – auf die Offenbarung den Unmündigen oder auf die Übergabe „aller Dinge“ an den Sohn – ist nicht klar. Die erste Variante wird meistens bevorzugt (vgl. Deutsch, Wisdom, 32 f; Wiefel, Mt, 223; Nolland, Mt, 471), die zweite wird kaum in Erwähnung gezogen. Kompositorisch betrachtet sind aber beide möglich: V. 26 kann sowohl als zusammenfassender Schluss für V. 25, als auch als Einführung zu V. 27 fingieren. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass der Inhalt der Offenbarung in den beiden Fällen unbestimmt bleibt (V. 25: ταῦτα, V. 27: πάντα), was wie eine Einladung klingt, sie vom ganzen Evangelium ausgehend, inhaltlich zu füllen.

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(V. 272: ἐπιγινώσκω) zwischen Vater und Sohn sich in eine Willenseinheit niederschlägt. Der Sohn weigert sich nicht, den göttlichen Auftrag zu erfüllen, sondern kommt dieser Aufgabe gehorsam und lobpreisend nach (11,25: ἐξομολογέω; vgl. auch 26,39). Es ist heute Konsens, dass 11,28–30 ursprünglich nicht zu diesem Passus gehörte,199 der Übergang von V. 27 zu V. 28 ist aber bei Matthäus inhaltlich bruchlos.200 Dem Offenbarungswillen in V. 27fin schließt Jesus unmittelbar in V. 28 die konkrete Einladung (δεῦτε πρός με) an alle an, die mühselig und beladen sind (οἱ κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι), sein Joch (ζυγός) auf sich zu nehmen. Was diesen desolaten Zustand bewirkt hat, lässt sich mit dem Hinweis auf Mt 23,4 sagen: Die Pharisäer und Schriftgelehrten sind daran schuld, denn sie legen untragbare Lasten (φορτίον) auf die Schultern der Menschen und kümmern sich nicht weiter darum. Ihr Gesetzverständnis ist für den einfachen Israeliten zum Verhängnis geworden und gewährt ihm keine Ruhe. Durch diesen nahe liegenden Querverweis wird bei Matthäus die Polemik gegen die pharisäische Auslegung verschärft,201 ohne aber an der vollen Gültigkeit der Tora zu rütteln, die Jesus selbst zu erfüllen hat (5,17).202 Die beiden Begründungssätze in 29b (ὅτι) und 30 (γάρ) entsprechen einander; das sanfte (χρηστός) Joch und die leichte (ἐλαφρός) Last sind nur durch ein eindeutiges personelles Verhältnis möglich203 (11,30 – zweimal μου – nimmt auf und schließt die Reihe von Pronomen in der ersten Person Singular aus V. 28[πρός με] und V. 29[τὸν ζυγόν μου; ἀπ’ ἐμοῦ] ab). Der sanftmütige (πραΰς) und von Herzen demütige (ταπεινὸς τῇ καρδία) Sohn Gottes leistet allen Hilfslosen und im Stich Gelassenen (V. 28: πάντες οἱ κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι), die zu ihm kommen, Beistand, steht ihnen als konkreter und selbstloser Retter zur Seite und übt gemäß seiner Vorherbestimmung Barm­ herzigkeit aus ihrer Mitte (Mt 1,23) aus.204 199 Vgl. Luz, Mt II, 198 f; Suggs, Wisdom, 77; Deutsch, Wisdom, 48 f; Strecker, Weg, 172. 200 Vgl. Betz, Logion, 22; Deutsch, Wisdom, 39. 201 Vgl. Luz, Mt II, 219; Strecker, Weg, 173 („antipharisäische Tendenz“); Deutsch, Wisdom, 41; Betz, Logion, 22; Kynes, Christology, 95 f; Frankemölle, Bund, 98; Hagner, Mt I, 323 („the overwhelming nomism of the Pharisees“), Maher, Yoke, 97 („a decidedly anti-pharisaic bias“); France, Mt, 448. 202 Vgl. Suggs, Wisdom, 107 f; Luz, Mt II, 220. Johnson, Reflections, 60, situiert die Debatte in der heftigen Auseinandersetzung zwischen jüdischen und christlichen Gruppierungen um die richtige Halakah: „This was a dispute between brothers in which Mt’s church was on the defensive, facing the charge from the Jewish side of breaking the Law“. 203 Vgl. ähnlich Frankemölle, Bund, 98; Hagner, Mt I, 325. 204 Eine Anspielung auf die Immanuel-Christologie ist von 11,28 (πρός με) her zwar nicht zwingend, aber doch in Erwägung zu ziehen; μάθετε ἀπ’ ἐμοῦ drückt zunächst ein Lehrverhältnis aus (France, Mt, 449; Nolland, Mt, 478; Hagner, Mt I, 324: „invitation to discipleship“), das auch vorbildsethisch verstanden werden kann, vgl. Luz, Mt II, 222: „gerade das Beispiel, das er – nach Matthäus im Unterschied zu den Pharisäern (23,4!) – gibt, macht sein Joch ‚freundlich und leicht‘“. Strecker, Weg, 174, behält die polemische Pointe bei, nur kontrastiert er das eschatologische Angebot Jesu, Eintritt in die Basileia zu gewährleisten um dort Ruhe (V. 29:

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Bis zur Passion ergreift aber Jesus in der theologischen Auseinandersetzung noch ein letztes Mal mächtig das Wort205 und stellt in der kurzen Texteinheit 22,41–46 die Pharisäer in Bezug auf die Frage nach der Davidssohnschaft des Messias zur Rede. Er ist im Laufe der Erzählung konsequent den lauernden Gefahren entwichen,206 nun geht er selbst auf die versammelten (συνηγμένων) Pharisäer (Mk  12,35: οἱ γραμματεῖς) zu und meidet nicht mehr ihre bedrohende zusammengesetzte Kraft. Nach einer Reihe von wiederholten Angriffen der Kontrahenten (21,23; 22,15.23.34) ergreift Jesus nun also selbst die Initiative.207 ­Matthäus verleiht der Perikope redaktionell eine dialogische Form208 und eine neue theologische Stoßrichtung. Durch die Einführung des Fragewortes πῶς, zweimal in 22,43a.45b, verfolgt Jesus hier nicht mehr wie bei Markus primär den Zweck, das Verhältnis zwischen den beiden messianischen Kategorien zu präzisieren, sondern auch die Bedingung herauszufinden, die dieses Verhältnis möglich macht.209 Die allererste Frage (V. 42: τί) wird nach der matthäischen Auf­fassung durchaus richtig beantwortet.210 Aus dieser Grundannahme ergeben sich bei Mt zwei unterschiedliche211 πῶς-Fragen. Das Zitat aus Ps 110,1 ist bei ἀνάπαυσιν) zu finden, mit dem vollständigen Scheitern der Pharisäer (5,20; 23,13). Diese Deutungen schließen sich eigentlich nicht gegenseitig aus. Davies / Allison, Mt II, 291 f, listen sechs Möglichkeiten auf, das Verhältnis zu verstehen, entscheiden sich aber eher für eine offene Lösung: „hangs in the air without explanation“. 205 Wenn man von der unauffälligen Unterbrechung zwischen 22,46 und 23,1 und von dem kleinen dialogischen Einschub in 24,1–3 absieht, spricht Jesus von 22,41 bis 26,1 ohne Unterlass. 206 Dafür braucht Matthäus den einzigen markinischen Beleg Mk  3,7 // Mt  12,15 für ἀναχωρέω an zahlreichen redaktionellen Stellen, immer wenn eine Bedrohung in der Luft liegt: vor allem in der Kindheitsgeschichte (2,12[die Magier].13.14[die heilige Familie].22[Joseph], alle wegen Herodes oder seines Nachkommens; vgl. συνάγω in 2,4), aber auch sonst: 4,12 (nach der Verhaftung des Täufers); 12,15 (nach dem ersten Mordentschluss der Pharisäer); 14,13 (nach der Ermordung des Täufers); 15,21 (nach der Anstoßnahme der Pharisäer und Schrift­ gelehrter aus Jerusalem); gelegentlich, um die Zurückziehung als bewusste Entscheidung zu zeigen, fügt er auch red. ἀκούσας (2,22; 4,12; 14,13) ein. 207 Die Bemerkung von Gielen, Konflikt, 276: „Die Szene gewinnt so den Charakter einer ‚Abschlussprüfung‘“ ist daher vollkommen berechtigt, wobei Jesus hier als vollmächtiger Lehrer auftritt. 208 Aus einer Streitfrage macht Matthäus ein Streitgespräch (vgl. Neugebauer, Davidssohnfrage, 82; Schneider, Davidssohnfrage, 81; Sand, Gesetz, 148; Novakovic, Messiah, 54; Konradt, Israel, 31; Sand, Gesetz, 147 f). 209 Vgl. exemplarisch Novakovic, Messiah, 59–62. Beide Richtungen sind in dem seman­ tischen Feld von πῶς angelegt (vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch, Kol. 1464). 210 Die Antwort ist schriftgemäß und kann daher nicht grundsätzlich falsch sein, vgl. Nova­ kovic, Messiah, 54: „Both the Pharisees (who make this statement) and Jesus (who does not reject it) share the same affirmative attitude toward it“ (auch Konradt, Israel, 31; Luz, Mt III, 288; Suhl, Davidssohn, 61; Loader, Son of David, 584; Hummel, Auseinandersetzung, 121). Gibbs, Purpose, 460–461, sieht darin eine Ablehnung eines davidischen Messias nach dem Fleisch. 211 So Verseput, Role, 546, und Konradt, Israel, 32.

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Matthäus im Unterschied zu Mk 12,36212 Teil eines Fragesatzes (V. 43–44). Die zu erwartende Antwort auf die scheinbar widersprüchliche Aussage ist teilweise in der Frage enthalten, denn Mt fragt gezielt nach der Sohnschaft213 (22,42[red.]: τίνος υἱός ἐστιν;). Die Lösung ist durch den matthäischen christologischen Ansatz gegeben, dem eine doppelte Sohnschaft Jesu zugrunde liegt: Davidssohn und Gottessohn.214 Die darauf folgende Frage (V. 45: πῶς υἱὸς αὐτοῦ ἐστιν;), die in ein konditionales Satzgefüge eingebettet ist, dreht das Verhältnis um und fragt nach der Art und Weise, wie der Gottessohn, der durch Ps  110,1 in V. 44 eingeführt wird, doch zum Davidssohn wird. Die matthäische Standardantwort lässt sich der Geburtsgeschichte Jesu entnehmen:215 Der Gottessohn wird infolge der göttlichen Intervention in 1,20–21 von Josef ( Ἰωσὴφ υἱὸς Δαυίδ) adoptiert.216 Dass sie die Antwort nicht kennen (vgl. den hier red. platzierten V. 46 aus Mk 12,34b) entblößt ihr begrenztes, unzureichend reflektiertes Wissen in einem Bereich, in dem sie als Experten gelten.217 Nur wer die ganze Jesusgeschichte kennt, besitzt den Schlüssel zur richtigen Bestimmung des Verhältnisses. In ihrer Offenheit weist seine Frage sowohl auf die Kindheitsgeschichte zurück, wo 212 In der markinischen Perikope (12,35–37) wird in der Forschung eher darüber debattiert, ob die Davidsohnschaft überhaupt vorausgesetzt wird. Man geht in Mk 12,35 von verschiedenen Varianten aus: Einer totalen Ablehnung des Davidssohn-Titel (vgl. Wrede, Davidssohn, 168; Suhl, Davidssohn, 57; Chilton, Jesus, 103 [in Bezug auf die Davidssohnfrage bei allen Synoptikern]; Bauer, ΠΩΣ, 83) stehen eine Infragestellung ohne Ablehnung (vgl. De Jonge, Jesus, 96; Schneider, Davidssohnfrage, 82), eine Überbietung (Burger, Jesus, 65–66; Loader, Christ, 215) und eine positive Aufnahme im matthäischen Sinne zur Seite (vgl. Bornkamm, Enderwartung, 30, Anm. 1). 213 Auch Χριστός muss nach der matthäischen Auffassung der Sohn von jemandem sein, „of someone to whom he owes obedience and whose character he is to manifest“ (Gibbs, Purpose, 461). Die Frage setzt aber mehr als eine Sohnschaft voraus (vgl. Wrede, Davidssohn, 174; Suhl, Davidssohn, 61; Hummel, Auseinandersetzung, 121; Verseput, Role, 545) und erlaubt oder verlangt sogar eine inklusive, offene Antwort (Duling, Son of David, 111). Genauer Bornkamm, Enderwartung, 30: Das Verhältnis sei „nicht im Sinne eines Entweder-Oder“ zu verstehen, die Frage „kann nur auf das paradoxe Miteinander beider Jesu zukommender Titel hinweisen wollen“ (so auch Strecker, Weg, 119). 214 So die meisten Exegeten, vgl. nur Hummel, Auseinandersetzung, 121; Strecker, Weg, 120; Sand, Gesetz, 148; Konradt, Israel, 31; Novakovic, Messiah, 59–60; Baxter, Healing, 41; Kingsbury, Son of David, 596; Gielen, Konflikt, 274; Repschinki, Stories, 229: „With a wordplay on κύριος Matthew suggests that Jesus is Lord just as God is Lord“. Dagegen stimmt Broer, Versuch, 1258. 215 Der Bezug auf Jesu Gottessohnschaft lässt sich via Mt 1 herstellen. Leserorientiert betrachtet, sind die Leser darüber schon unterrichtet worden (vgl. Luz, Mt III, 286); sie wissen, dass es eigentlich um Jesus geht. Mit Recht nimmt Neugebauer, Davidssohnfrage, 81, an: Die anfängliche Messiasfrage wird „durch den, der sie stellt, und mit der Geschichte, in die sie hineingehört, zu einer Frage der Christologie“. 216 Vgl. dazu Novakovic, Messiah, 44; Konradt, Israel, 32; Menken, Psalms, 74, und oben S. 59. 217 Mit Luz, Skizze, 225: „Von ihrer Ablehnung Jesu her […] können sie also ihre eigene Bibel nicht mehr verstehen“; Grams, Temple, 59 („unable to interpret Scripture“).

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Der subjektive Status der Gemeinde

Die Sorge um vs. Delegitimierung Israel vor dem Volk Tora-Kompetenz und Liebesethos

vs. Tora-Ignoranz und Machtsucht

Hoher Gevs. Von Gott ­ gerichtete meindestatus, ‚Propheten­ ‚leidende mörder‘ Gerechte‘ EIGENGRUPPE

GEGNERGRUPPE

GOTTESSOHN

LEHRER DER ‚BESSEREN GERECHTIGKEIT‘

DAVIDSSOHN

Bild 1: Christologische Fundierung des Konfliktgeschehens

die beiden Messiasvorstellungen eingeführt und narrativ aufeinander bezogen wurden,218 als auch auf die Passionsgeschichte, denn die unbeantwortete Frage Jesu erhält eine hinreichende Antwort erst in 26,63 f und leitet zugleich unmittelbar und endgültig den Tod ein.219 Die polemischen Züge der matthäischen Christologie lassen sich im Hinblick auf die Entfaltung der Konfliktgegenstände und der Konfliktaustragung in einem Schema (Bild 1) veranschaulichen: Der matthäische christologische Entwurf ist einerseits von dem laufenden Konflikt beeinflusst, andererseits stützt er den narrativ-argumentativen Vorgang und hat damit eine pragmatische Funktion. Dies ist der Grund, weshalb sich die Konfliktpunkte (vgl. 3.1; 3.2; 3.3) aus der christologi 218 Auf diese Inclusio wird oft hingewiesen, vgl. Suhl, Davidssohn, 62; Duling, Therapeutic, 406 f; Ders., Son of David, 111; Kingsbury, Son of David, 597; Frankemölle, Bund, 319; Luz, Mt III, 288; Konradt, Israel, 31. 219 Vgl. Neugebauer, Davidssohnfrage, 84; Luz, Mt IV, 179; Konradt, Israel, 320.

Konfliktbeteiligte: Die tragenden Kräfte des Konfliktes

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schen Struktur des Evangeliums ableiten lassen: Die Davidssohn-Christologie (2.1.1) steht für die Bemühungen der Gemeinde, die jüdische Volksmenge von dem irreführenden Einfluss der Autoritäten zu befreien (3.1); der Lehrer Jesus (2.1.2) vermittelt der Gemeinde eine Gesetzesinterpretation mit dem Gebot der Liebe als zentralem Punkt, im Gegensatz zu den eigennutzenorientierten Menschensatzungen der Pharisäer und Schriftgelehrten (3.2); schließlich verleiht die geheimnisvolle Gestalt des leidenden Gottes­sohnes (2.1.3) der Gemeinde zugleich das ausgeprägte Selbstbewusstsein und die Antwort auf die gegenwärtige soziale Ausgrenzung und religiöse Verfolgung (3.3). Alle diese Aspekte werden dann in der Konfliktaus­ tragung in komplexeren Textzusammenhängen erneut zu Wort kommen.

2.2 Die Gegner Jesu und der Gemeinde In einer Erzählung, die mitten in einem heftigen realen Konflikt entsteht, macht sich verständlicher Weise das Bedürfnis bemerkbar, die alltäglichen Spannungen in einem der subjektiv erlebten Realität nahen narrativen Feindbild aufzufangen und festzuhalten. In der neueren Matthäusforschung wird in der Tat angenommen, dass die Erzählfiguren der jüdischen Autoritäten deutliche Züge der realen Kontrahenten im pharisäischen Milieu des Evangelisten220 auf thematischer und ästhetischer Ebene übernehmen. Der Evangelist operiert aber manchmal mit geschichtlich unglaubwürdigen Kombinationen von Gruppierungen,221 die anscheinend keinen historischen Wert für eine Identifikation der konkreten Feinde besitzen und eher wegen der erzählerischen Atmosphäre, die sie als überall lauernde vielköpfige Anfechter er 220 Wild, Encounter, 106: „It is not surprising that Christian accounts of Jesus ministry which appear in the latter part of the first century tended, in anything, to give the Pharsisees an increasingly higher profile as the opponents of Jesus and his followers“; vgl. auch Saldarini, Matthew, 44; Ders., Pharisees, 158; Overman, Church, 19 f; Konradt, Israel, 379 f; Senior, Passion, 12 f; Weiss, Pharisäismus, 104–111; Hummel, Auseinandersetzung, 17; Luz, Mt I, 98; Vahrenhorst, Ihr sollt, 306 („Chiffre für das aktuelle Gegenüber der mt Gemeinde“);­ Przybylski, Setting, 189; Winter, Trial, 114; Hahn, Theologie, Bd.  1, 537; Repschinski, Stories, 327; Garbe, Hirte, 57; Strecker, Weg, 137 f; Kilpatrick, Origins, 115 f; Davies, Setting, 292: „The juxtaposition of the Pharisees and the Church is born of a special, living Matthean concern“; Zumstein, La condition, 68: „Mt a donc retouché l’image des ennemis de J­ ésus, transmise par la tradition, en fonction de la réalité qu’il vivait, à savoire le judaisme né de la crise de 70“. 221 Vgl. paradigmatisch Walker, Heilsgeschichte, 16: „Die ‚Pharisäer und Sadduzäer‘ des Matthäus-Evangeliums sperren sich gegen jede historisierende Einordnung; sie sind […] für das Jahr 30 historisch ebensowenig denkbar wie für die Zeit nach 70“; vgl. auch Le Moyne, Les Sadducéens, 123: „C’est un assemblage artificiel qui ne représente pas la réalité historique“. Trotzdem, wie Theissen, Auswertung, 286, behauptet, kann für eine soziologische Analyse der Gruppentraditionen „gerade auch das ‚Unhistorische‘ relevant sein, sofern es aus diesen Gruppen entstanden ist und Rückschlüsse auf sie zulaßen“.

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zeugen, durch den dichten narrativen Schleier ein Stück der bedrängten Lage der minoritären Gruppe222 durchschimmern lassen. Man kann deswegen vielleicht behaupten, dass der Redaktor, abgesehen von deutlich hervorgehobenen Konflikthemen, vor allem dem Ton und der Farbe der realen Streitigkeiten in der Gestaltung seiner Konfliktgeschichte treu geblieben ist, denn er hat andererseits auch seinen Quellen und seiner erzählimmanenten theologischen Konstruktion, wie auch der vielfältigen Zielsetzung seines Evangeliums, Rechnung zu tragen. Auf eine pharisäische Dominanz in der matthäischen Konflikterzählung wird aber mit Recht immer wieder hingewiesen,223 nur verbindet Matthäus mit seinen Gegnerfiguren auch eigene theologische Motive und Intentionen und nimmt eine gewisse ‚Spezialisierung‘ und ‚Typisierung‘224 in ihrer Verteilung und Handlungsweise wie auch in ihren Verbindungen miteinander vor. Dies muss uns davon abhalten, die Rolle der Pharisäer in der realen Geschichte der Gemeinde nur deswegen zu relativieren, weil sie z. B. nicht zu den Hauptbeteiligten an der Verurteilung und Kreuzigung Jesu gehören,225 oder die geschicht-

222 Vgl. Luz, Mt III, 366 („unterliegende Minorität“); Siegert, Antijudaismus, 79: „Reli­ gionssoziologisch ist das Matthäusevangelium schon zur Zeit seiner Veröffentlichung die Stimme einer Minderheit gewesen“; auch Saldarini, Delegitimation, 664 f; Ders., Conflict in the Galilee, 23; Viljoen, Matthew, 672 f; Buck, Anti-Judaic, 179. 223 Vgl. Luz, Mt III, 366; Stemberger, Pharisäer, 27; Stanton, Christology, 103 („archopponents of Jesus“); Konradt, Israel, 109; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 153; Przybylski, Setting, 181; Trilling, Israel, 90; Glasson, Anti-Pharisaism, 317; Zumstein, La condition, 49–52, 64 f; Mudiso Mbâ Mundla, Jesus, 238; Suhl, Davidssohn, 60 f; Strecker, Weg, 139; Comber, Verb, 433–434; Minear, Matthew, 11; Ogawa, L’histoire, 250: „Son insistence sur les pharisiens a une signification concrète qui est visible et explicable sur son arrière-fond historique et circonstantiel“; Roloff, Kirche, 149 („die unerbittlichen Gegner Jesu schlechthin“); Beare, Jesus, 33 („the synagogue authorities with whom Matthew is confronted“); Russell, Image, 442: „The proeminence given by Matthew to the Pharisees may reflect their dominant position in his own time“. Die Schriftgelehrten und die Pharisäer sind „the representatives of the synagogue ‚across the street‘ from Matthew’s community“ (Stendahl, School, xi). 224 Vgl. Trilling, Israel, 90 f; Frankemölle, Bund, 92, 150 f: Die typisierende Methode gehöre zu „einer Grundstruktur im mt Denken“; Strecker, Weg, 140; Baumbach, Verständnis, 85; Luz, Jesusgeschichte, 98; Zumstein, La Condition, 81; Poplutz, Welt, 76: „Einzelne Vetreter dieser beiden Aktantengruppen gehen im Laufe des Evangeliums immer mehr in ihren Rollen auf und werden typisiert: Sie verlieren jegliche Individualität und werden zu typischen Jüngern oder zu typischen Gegnern“. 225 So z. B. Gielen, Konflikt, 10: Zu der Annahme einer pharisäisch dominierten Gegenfront „stehen die Beobachtungen in der mt Passionsgeschichte […] quer“: es wäre zu er­warten, „dass gerade die pharisäischen Schriftgelehrten als Mitschuldige am Tod Jesu herausgestellt würden“. Aus diesen Gründen kann man Matthäus mit Hummel, Auseinandersetzung, 22; ­Gielen, Konflikt, 10, durchaus auch ein gewisses historisierendes Interesse einräumen, denn die Pharisäer konnten sich nicht am Tod Jesu beteiligen (zur allgemeinen Tendenz der Historisierung vgl. Strecker, Geschichtsverständnis, 330–334). Zugleich aber hätte Matthäus für seine theologischen und rhetorischen Zwecke in dieser Hinsicht kein tieferes

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liche Relevanz des Evangeliums als Ganze in Frage zu stellen, weil z. B. manche matthäischen Gegnerkombinationen für die damalige Zeitgeschichte fremdartig wirken, und der Redaktor allgemein wegen seines interessierten Eifers es mit der Wirklichkeit nicht so genau nimmt.226 Rolf Walker spricht z. B. dem Evangelium aufgrund der Austauschbarkeit der Gegnergruppen jederlei Interesse an der Aufnahme von gegenwärtigen Streitigkeiten mit der pharisäischen Umwelt ab, sie stellen nur eine „literarisch repräsentierende Lehrerschaft“ dar.227 Auch nach der Meinung von Georg Strecker stehen die Pharisäer im Evangelium für einen „Antitypus“, „die Situation des zeitgenössischen Judentums [ist] aus diesen Angaben nicht zu er­heben“.228 Alexander Sand lehnt zwar die radikale ausschließlich „kerygmatische“ Lösung von Walker ab und räumt ein, dass das Matthäusevangelium als „eine polemische oder apologetische Kampfschrift anzusprechen“ sei, sieht aber darin nicht „die repräsentativen Gruppen des zeitgenössischen Judentums“ anvisiert, sondern vielmehr „die im Gesamtprozess der Geschichte Israels das falsche Verhalten repräsentierende Führerschicht Israels“.229 In ihrer ent-historisierenden Tendenz sind diese Stellungnahmen aber ziemlich ähnlich. Dass Matthäus verschiedene Gruppen pauschalisierend gegen Jesus agieren lässt, ist nicht zu bestreiten. Das ist aber noch kein zwingender Grund dafür, die engen Beziehungen zu und Einflüsse aus der realen Geschichte auszuklammern. Einige redaktionelle Vorlieben wie auch Einsichten aus der Konfliktforschung machen eher andere Lösungen plausibel. Denn man muss sich die Frage stellen: Wie kommen solche Pauschalisierungen zustande? Ist das Phänomen unbedingt als Verfremdung und zeitliche Entfernung230 oder eher als konkrete psycholo­ gische Ausrüstung bzw. kognitive Bewältigungsstrategie gegen aktuelle Feinde

Eingreifen in seine Quellen gebraucht. Wie ich zeigen werde, ist die Abwesenheit der Pharisäer in der Passionsgeschichte kein störendes traditionelles Relikt, sondern Teil  der aktuellen Argumentation. 226 Das gilt z. B. für das Pharisäerbild im ganzen NT („hostil and blurring“ – Rivkin, Defining, 205) aber besonders im Matthäusevangelium. Vgl. Stemberger, Pharisäer, 30: „Die schematische Verwendung der Pharisäer in dieser Darstellung lässt sich somit kaum für eine geschichtliche Rekonstruktion verwerten, […] sie ist vielmehr für das Feindbild der christlichen Gemeinde, die Mt vertritt, von Interesse“; Saldarini, Pharisees, 158; Stegemann / Stege­ mann, Sozialgeschichte, 197; Sand, Mt, 469 (eher „Repräsentation“ als „Dokumentation“); allgemein zur Tendenz der Evangelienüberlieferung, die Unterschiede zwischen verschiedenen religiösen Gruppierungen zu reduzieren, vgl. Bultmann, Geschichte, 54–56 (56: „schematische Auffassung“). 227 Walker, Heilsgeschichte, 20. 228 Strecker, Weg, 140. 229 Sand, Gesetz, 81 f; vgl. auch Frankemölle, Bund, 203 f; Garland, Intention, 44 f. 230 Walker, Heilsgeschichte, 15; auch Tilborg, Leaders, 3, besonders in Bezug auf die Phari­säer und Sadduzäer: „The historical differences between the various groups could not be understood any longer“.

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aufzufassen? „Typisierung“ als „Desinteresse an historischen Vorgegebenheiten“231 abzutun, versperrt den Blick in die real erlebte Geschichte der Gemeinde, denn eine soziale Spannung schlägt sich oft in einem undifferenzierten, stereotypisierten Gegnerbild nieder.232 Alle diese erzählerischen Verzerrungen gehören auch zur konkreten Konfliktstrategie und bieten zugleich in Form einer narrativen Pragmatik Antworten auf aktuelle Angelegenheiten. Man muss aber nicht erwarten, dass ein subjektiver Konfliktbericht in Form einer Jesuserzählung auf die genaue und unverfälschte Aufnahme der Verhältnisse zwischen realen Parteien großen Wert legt, denn der Autor kann von den tradierten Quellen, aus denen er schöpft, nicht viel zu auffällig abweichen, obwohl er auch von dem ihm umgebenden Milieu nicht ab­ sehen kann. Der Redaktor bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Traditionstreue und brennendem gegenwärtigem Interesse. Paradoxerweise sind aber gerade die kleinen Entstellungen und die (un)bewussten Verfälschungen der Erzählung besonders diejenigen, die für den Ernst und die Dramatik der realen Ereignisse Zeugnis ablegen.233 Matthäus ist kein Statist, sondern ein im Geschick seiner Gemeinde tief involvierter Erzähler und zugleich ein anerkannter234 Meinungsbildner. Gerade dieser Sachverhalt, der merkliche Subjektivismus, die da und dort spürbare narrativ-theologische Lenkstrategie seiner Erzählung und nicht die dadurch verlorene, ‚empirische‘ Genauigkeit begünstigen die vorliegende interdisziplinäre Fragestellung. Die Tiefenstruktur und die Charakterenwelt des Evangeliums bieten fast musterhaft deutliche Anknüpfungspunkte für eine sozialpsychologisch geleitete Textanalyse. 231 So Frankemölle, Bund, 150; auch Strecker, Weg, 140 f. 232 Vgl. auch Sim, Strategies, 495, mit Rekurs auf die Konfliktanalyse von Coser: „Stereo­ typical language such as we find in Matthew does not reflect the distance between the two opposing parties. Rather, it reflects both physical and ideological proximity“. Im Laufe der Konflikteskalation entwickeln sich allmählich die „Erinnerungsbilder zu klischeehaften Bildern von typischen Verhaltensweisen der Gegenpartei aus“ (Glasl, Konfliktmanagement, 241). Dieser Aspekt lässt sich durch den Ansatz der sozialen Identität gut erklären, demnach sich in sozial­ relevanten Zusammenhängen die Einstellungen zu den Mitgliedern anderer Gruppen befestigen und uniformisieren; ihr Bild verliert an persönlichen Merkmalen und wird zunehmend homogener und undifferenzierter (vgl. Turner, Issues, 10; Tajfel, Gruppenkonflikt, 87–88: Mitglieder der Fremdgruppe werden als „undifferenzierte Items in einer einheitlichen sozialen Kategorie […] ohne Rücksicht auf ihre individuellen Eigenarten“ behandelt). 233 Das gilt auch aus der Perspektive der matthäischen Redaktionsart, vgl. Stanton, Christology, 101: „Since Matthew is a ‚conservative redactor‘, more often than not the changes he­ makes are significant“. 234 Vgl. dazu grundlegend den Abschnitt „Matthäus als Exponent seiner Gemeinde“ in: Luz, Mt I, 82–84; auch Sand, Mt, 380: „Der dialogische Charakter des Ev. zeigt somit, dass die Situation der Gemeinde konstitutiv für das theologische Denken des Evangelisten“ ist; Bornkamm, Enderwartung, 46: „Matth. erscheint in seinem Ev. sicherlich allererst als Repräsentant einer Gemeinde. Indes genügt es nicht, sein Evangelium nur als Niederschlag einer Gemeindetheologie zu verstehen“.

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Der Text ist Bestandteil eines „kommunikativen Handlungsspiels“235 und ist vom biographischen und sozialhistorischen Zusammenhang zutiefst geprägt.236 Umgekehrt erfüllen die bestimmten Konfigurationen textinterner Merkmale eine Funktion im Hinblick auf die konkreten Rezipienten.237 Die narrative Entfaltung, die Charaktere, sowie die neue Sinnkonstruktion, vermitteln im Umkehrschluss neue Deutungen und Erkenntnisse als theoretische und praktische Anweisungsschritte, um den bedrückenden Alltag effektiver zu bewältigen. Der drohende Feind wird mit seiner schwachen Seite gezeigt; seine kleinlichen und gottwidrigen Absichten werden entblößt, sozial entwertet und karikiert. Diese Bestätigung braucht das matthäische Gruppenmitglied, weil die narrativen und realen Feinde in seinen Augen im Grunde genommen dieselben sind.238 Am Feindbild, als personhafte Verdichtung der narrativen Problematik und gegenwärtige Zielscheibe der Konfliktführung, lässt sich deswegen dieser Ansatz besonders gut exemplifizieren. Die Ausgestaltung und Verflechtung der Konfliktlinien und die einprägsamen Gegnerbilder, die daraus entstehen, entsprechen sogar sehr genau sozialpsychologischen Grundannahmen aus der Konfliktund Gruppenforschung. Einerseits orientieren sich die Fragestellung und die Herangehensweise  – sofern möglich  – an zu ihnen passenden, sozialpsycholo­ gischen Kriterien, andererseits sind die exegetischen Ergebnisse am Ende aus dieser Perspektive zu bewerten. Ohne eine durchgehende Symmetrie anzustreben, ist im Folgenden diesen möglichen Verbindungslinien, ausgehend von der exe­getischen Seite, nachzugehen. Zuerst werde ich versuchen, die interne Logik der Kombinationen von Gruppen-Labels zu verdeutlichen; dann gilt es, das Verhalten der Gegner in 235 Schmidt, Texttheorie, 16. Von exegetischer Seite vgl. Frankemölle, Pharisäismus, 129: Texte dürfen „nicht als ästhetische Objekte, nicht als in sich geschlossene, ohne Hörer / Leser existierende Textwelten“, „sondern nur als Elemente einer konkreten Lebenswelt“ verstanden werden. 236 Diese Überlegungen an sich sind von soziolinguistischer Art; der Text ist Teil eines realen kommunikativen Vorganges, wobei die sich darin widerspiegelnde Wirklichkeit „keine außerhalb von Sprache und Sprechen liegende dritte Instanz [ist], sondern ein Faktor in kommunikativen Handlungsspielen“ (Schmidt, Text, 24). Eine „Strukturuntersuchung, die ‚geistige Strukturen‘ von Werk und sozialen Gruppen einander zurechnet“ muss aber gegen „kurzschlüssige Vermittlungen zwischen Werk und gesellschaftlicher Realität über schlichte Inhaltsentsprechungen“ (Kallweit / Lepenies, Hermeneutik, 135) den Vorrang haben. 237 Im Rahmen der Rezeptionsästhetik wird nicht nach der Entstehung der Literatur aus der Gesellschaft / Gruppe, sondern nach ihrer Bedeutung für die Gesellschaft gefragt. Ver­dichten kann man diese Umorientierung der Literaturwissenschaft in die Frage: „Zu welchem Verständnis will der Text seine zeitgenössischen, d. h. die ursprünglich implizierten Lesern anleiten?“ (Gumbrecht, Soziologie, 49). 238 Vgl. auch Hagner, Sitz im Leben, 55; Ogawa, L’histoire, 254; Sand, Matthäus-Evangelium, 153; Wild, Encounter, 106: Die Insistenz, die Pharisäer als die Gegner Jesu darzustellen, „served to connect the experience of the followers with those of the Master“; Zimmermann, Struktur, 179; White, Crisis, 238, Segal, Matthew, 22.

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Bezug auf die Konflikthemen knapp zu untersuchen; schließlich werden Einsichten aus der Sozialpsychologie in das Verhältnis zu dem matthäischen enemy image gesetzt.

2.2.1 Bezeichnungen der Gegnergruppen Die Art und Weise, wie Matthäus die verschiedenen Parteien gruppiert und sie da und dort, im Vergleich zu seinen Quellen abweichend, auftreten lässt, weist einige Auffälligkeiten auf, die oft die Aufmerksamkeit der Exegeten auf sich gezogen haben.239 Angesichts der schon vorliegenden Forschung ist eine ausführliche synoptische Darstellung der gegnerischen Kräfte an dieser Stelle nicht mehr nötig, vielmehr interessieren mich einige redaktionelle und erzählerische Vor­lieben, vom Hintergrund der vermuteten Gruppenprozesse betrachtet. Ausgegangen wird von der Annahme, dass das Bild der Akteure im Laufe der Erzählung präziser und komplexer wird; die anfänglich nur skizzenhaften Merkmale gewinnen allmählich durch Wiederholung, Variationen und gezielte Kombinationen ein deutlicheres Profil.240 Deswegen wird hier zunächst das erste Vorkommen als Orientierungspunkt für die nachträgliche Systematisierung der Stellen genommen, die Einzelfälle werden dann separat behandelt. Matthäus lässt die Parteien tatsächlich vorwiegend kombiniert, in verschiedenen Varianten, auftreten. In diesem Sinne prägt er auch ein spezielles ‚Vokabular der Zusammenarbeit‘ – auf die Bedeutung von συνάγω oder συμβουλεύω wird immer wieder verwiesen. Weil ich vermute, dass die Einteilung der Gegner nach einem christologischen Kriterium erfolgt, auf das ich später eingehe, unterscheide ich schon im Vorfeld zwischen zwei funktionalen Gruppen: Die eine ist während des öffentlichen Wirkens Jesu darum bemüht, ihm entgegenzutreten, die andere besetzt besonders die Passionsgeschichte.

239 Vgl. einige Beiträge mit unterschiedlichen Akzentuierungen: Hummel, Auseinandersetzung, 11–22; Walker, Heilsgeschichte, 11–33; Garbe, Hirte, 47–57; Saldarini, Pharisees, 144–173; Sand, Gesetz, 76–84; Repschinski, Stories, 322–327; Tilborg, Leaders, 1–7; Gielen, Konflikt, 1–16 und 405–416; Przybylski, Setting, bes. 187–191; Klijn, Scribes, 259–267; Trilling, Israel, 90 f; Stanton, Gospel, 126–131; Carson, Leaders, 161–174; Wahlde, Relationship, bes. 518–420. Eine synoptische Darstellung aller ‚Gegner-Stellen‘ bei Garland, Intention, 218–221. 240 Dieses Grundprinzip der narrativen Entfaltung von Charakteren passt hervorragend zu der matthäischen Konfliktgeschichte: „Earlier portions of the narrative prepare the implied reader for the Jewish leaders’ eventual role in Jesus’ death. Their motivation are revealed and initial portraits of their character are progressively blackened“ (Anderson, Matthew, 98).

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2.2.1.1 Gegnerschaft bis zur Passion Schon beim ersten Zusammenkommen der Hohenpriester und Schriftgelehrten241 auf Herodes’ Befehl in 2,4 kommt die typische Sprachwendung συνάγω vor, die öfters denselben Aspekt zum Ausdruck bringt: Feindselige Mächte vereinigen ihre Ressourcen, um die Effektivität ihrer Handlungen gegen Jesus zu steigern. Dieselben Jesugegner tauchen wieder in der ersten (jedoch an der Seite der Ältesten 16,21 // Mk  8,21 // Lk  9,22)242 und in der dritten Leidensankündigung (20,18 // Mk  10,33; Lk  18,32 hat παραδοθήσεται τοῖς ἔθνεσιν) auf. In der Tempelszene nach dem Einzug in die Stadt (21,15) werden sie wieder redaktionell eingefügt. Wiederum versammeln sich die Schriftgelehrten diesmal mit den Ältesten bei dem Hohenpriester Kaiphas (nur bei Matthäus namentlich erwähnt,243 vgl. Mk 14,43) im Auftakt der Verurteilung Jesu vor dem Hohen Rat (26,57). Die Verspottungsszene vor dem Kreuz verzeichnet den letzten Auftritt dieser Zweierkombination, wiederum gemeinsam mit den Ältesten (27,41). Besonders auffällig sind unter der Feder von Matthäus die Adressaten der Gerichtspredigt Johannes des Täufers: Anstatt der Volksmenge, wie in Lk 3,7, sind die Φαρισαῖοι καὶ Σαδδουκαῖοι die anvisierten Zuhörer seiner harten Worte. Diese Kombination von Gegnern ist ungewöhnlich.244 Sind die Sadduzäer hier

241 Sie werden hier von dem Herrscher als Bewahrer der religiösen Traditionen aufgesucht, das Bild ist trotz des fiktiven Charakters der Geschichte „sociologically correct“ (Saldarini, Pharisees, 162; vgl. auch Gielen, Konflikt, 44); zugleich antizipiert diese Kombination die bevorstehende Passion. 242 Wie Lukas und im Unterschied zu Markus führt Matthäus hier nur ein einziges Mal den bestimmten Artikel τῶν als Zeichen für ihre untrennbare Einheit, vgl. Schnackenburg, Mt II, 158, ein. 243 Matthäus „recognized the need for mentioning the name of a person who was reported to have exercised such preponderating influence on Jesus’ fate and the final outcome of his trial“ (Winter, Trial, 33; vgl. auch Senior, Passion Narrative, 158). 244 Auf die Schwierigkeiten dieser Kombination wird oft hingewiesen. Vgl. z. B. ­Nolland, Mt, 142 („unlikely combination“); Moyne, Les Sadducéens, („étonnante“). Die Sadduzäer haben sich als antipharisäische Gegengruppierung aus der Oberschicht heraus formiert (vgl. Stegemann / Stegemann, Sozialgeschichte, 143). Zu den bekannten Unterschieden zwischen diesen Parteien vgl. die Zusammenfassung von Schürer, History, Bd. 2, 391–394; Strack / Billerbeck, Kommentar, Bd. 4, 344–352. Wegen der sozialen und theologischen Differenzen wird dieser Sachverhalt durch das totale Desinteresse von Matthäus an historischer Genauigkeit erklärt (vgl. Hummel, Auseinandersetzung, 19; Walker, Heilsgeschichte, 11; Tilborg, Leaders, 2: „lack of historical information“). Ihre Einfügung in eine Geschichte, die sich zur Lebzeit Jesu abspielt, kann jedoch im Gegenteil ein historisierendes Interesse zeigen, „même si le résultat est aberrant“ (Zumstein, La condition, 58). Kingsbury, Reflections, 442–460, stellt – m. E. mit zu wenigen Argumenten – wegen der unpassenden Kombination das Modell der „transparenten Erzählung“ in Frage; vgl. auch Meier, Vision, 20 („ignorant of the doctrinal conflictes“); Menninger, Israel, 36. Ihre Verbindung muss aber nicht unbedingt auf die Ignoranz von Matthäus über die erheblichen Unterschiede zwischen den Parteien hinweisen, sondern „may […] betray their common commission“ (Carson, Leaders, 168); vgl. auch Saldarini, Pharisees,

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wegen der Nähe Jerusalems eingetragen worden? Dies ist durchaus möglich.245 Ihre Zusammenführung vermittelt etwas über den ‚psychologischen Zustand‘ von Matthäus, der es nicht scheut, sie als Verbündete darzustellen, eben weil aus seiner eskalierten Perspektive dies durchaus als möglich erscheinen würde. Denn auch eine „unhistorische Notiz“ wäre soziologisch nicht wertlos, sie gibt Aufschluss über das, was eine Gruppe „für möglich hielt bzw. innerhalb ihres eigenes Erfahrungshorizontes selbstverständlich war“.246 Ihre Verbundenheit wird an weiteren Stellen bestätigt und verstärkt: In 16,1 treten sie zusammen Jesu gegenüber, versuchen ihn und fordern ihn auf, ein prophetisches Zeichen zu zeigen (Mk 8,11 hat nur οἱ Φαρισαῖοι, Lk 11,16 das neutrale ἕτεροι);247 in 16,6.12 werden die Jünger vor ihrer Lehre ausdrücklich gewarnt (Mk 8,15 hat für Matthäus völlig unpassend ἡ ζύμη Ἡρῴδου), und dies geschieht unmittelbar vor der Stelle (16,21), an der die Auferstehung Jesu zum ersten Mal erwähnt wird.248 Somit ist die historisierende Meinung, dass die Sadduzäer zu den Vertretern „der jüdischen Theologie im Gegenüber zur Verkündigung Jesu“249 erklärt, entschärft. Die ungewöhnliche Kombination findet in der gegenwärtigen Ver­ leugnung der Auferstehung (vgl. 28,15) eine passende Erklärung. Schließlich findet ihre Handlung in Mt  22,34  – die einzige Stelle, an der die Sadduzäer 167; France, Mt, 110 („cross-party delegation“); Nolland, Mt, 652; Stanton, Gospel, 136: „From the perspective of the evangelist the similarity between Pharisees and Sadducees is more important than their differences“; Hare, Mt, 19.  245 Vgl. Luz, Mt I, 206. 246 Theissen, Auswertung, 286. 247 Nach Linton, Demand, 115, sind vielleicht die Sadduzäer wegen ihres bekannten Skeptizismus dabei. Der Hauptgrund für ihre wiederholte red. Einfügung in diesem Textzusammenhang ist aber m. E. ihre bekannte Verleugnung der Auferstehung. Die Auferstehung besaß von 27,62–66 und 28,11–15 her betrachtet die höchste Relevanz für das Jetzt der Gemeinde – μέχρι τῆς σήμερον [ἡμέρας] (28,15). Matthäus verweist in der ersten Aufnahme der Zeichenfrage (12,38–40) redaktionell eindeutig durch τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου auf das Leiden, und mit der drei Tage-Metaphorik auf die Auferstehung Jesu (vgl. auch Edwards, Sign, 98–100; Luz, Mt II, 277; Sand, Art. Ἰωνᾶς, Kol. 525 f; ferner auch Vögtle, Spruch, 135). Durch diese ‚Auslegung‘ und Ergänzung seiner Quellen (Mk  8,11–12; Lk  11,16.29–30; V. 40 ist eindeutig sekundär – Higgins, Son of Man, 91 f; Moo, Old Testament, 333), wird das Jonazeichen (12,40; 16,4) zu einem kompakten Hinweis auf die Auferstehung Jesu, das Wissen um das JonaZeichen ist vorausgesetzt (vgl. auch Gurtner, Torn Veil, 129: „Perhaps the reader is to recall that notion from before“; Anderson, Double, 80: „The implied reader learned ist meaning form the first episode and is expected to recall it in retrospect“; Schenk, Menschensohn, 139: Diese Erkenntnis trägt der Leser „von Mt 12,40 erinnernd“ ein). Das würde die Anwesenheit der Sadduzäer in 16,1–4 durchaus rechtfertigen: „The saying has already been explained as an integral part of the passion tradition“ (Edwards, Sign, 105); die Stellen 16,6.11.12 erklären sich von selbst. 248 Durch die Auslassung von Mk  8,22–26 werden die beiden Episoden noch näher ver­ bunden. Vgl. auch S. 337 f. Ihre hier angesprochene διδαχή (16,12[red.]) ist ein Vorverweis auf die erbitterte Opposition der Autoritäten gegen die Auferstehung Jesu. 249 Strecker, Weg, 140.

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allein vor­kommen  – einen ganz deutlichen Ausdruck. Die Pharisäer schreiten deswegen unterstützend ein, weil ihre Verbündeten von Jesus zum Schweigen gebracht wurden (der Partizip ἀκούσαντες und das typische συνάγω deuten klar darauf hin). Mit der nächsten Bezeichnung – Γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι (zum ersten Mal in 5,20)  – schafft Matthäus die häufigste Gegnerkombination seiner Jesusgeschichte, die von Anfang an mit heftiger Polemik in Verbindung gebracht wird.250 Ihre unzureichende Gerechtigkeit als Kontrastbild zu den Jüngern bzw. zu ihrer Gemeinde, lässt sie schon zu Beginn der öffentlichen Wirkung Jesu als eine befestigte und feindselige Erzählgröße erscheinen.251 Dasselbe ‚Team‘ wird Jesus auch an anderen Stellen entgegentreten: Auf die unzutreffende Anrede διδάσκαλε in dem Versuch, Jesus ein Zeichen zu entlocken, folgt die bedrohende Gerichtsrede über das „böse und abtrünnige Geschlecht“ (12,39). Wegen ihrer strukturellen Bosheit können sie der ewigen Verdammnis nicht mehr entrinnen (12,41 f). Eine ähnliche Redensart mit endgerichtlichem Kolorit verwendet Jesus gegen dieselben (jedoch in Anlehnung an Mk  7,1 in umgekehrter Reihenfolge)  auch im Streitgespräch über ‚rein‘ und ‚unrein‘ vor. Nachdem die Gesprächspartner Jesu schon in 15,7 als ὑποκριταί bezeichnet wurden, richtet der matthäische Einschub (15,13 f) die Gerichtsmetaphorik (πᾶσα φυτεία … ἐκριζωθήσεται)252 und die glatte Beleidigung (τυφλοί … ὁδηγοί) wieder gegen sie und schlägt auf Vorstellungs- und Sprachebene die Brücke zum bekanntesten antipharisäischen Text überhaupt, zu Mt 23.  Die sechsfach wiederholte Formel – Οὐαὶ δὲ ὑμῖν, γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι ὑποκριταί (vgl. auch 23,2; dann 23,13.15.23.25.27.29)253 – führt einerseits kon-

250 Luz, Mt III, 366; Przybylski, Setting, 190; Sim, Strategies, 493 f; Sand, Gesetz, 79;­ Garland, Intention, 41 f; Saldarini, Pharisees, 171 („the learned groups par excellence“); Zumstein, La condition, 53 („forte tendance à la polemique“). 251 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 252 Zur Gerichtsmetaphorik als Konfliktmittel vgl. Abschnitt 4.1.2. 253 In den sachlichen Parallelen (mit oder ohne Οὐαί – Formel) werden einmal die Schriftgelehrten, ein anderes Mal die Pharisäer anvisiert, aber nie beide Gruppen zugleich: Mk 12,38 (γραμματεύς); Lk 11,52(νομικός).42(φαρισαῖος). 39(φαρισαῖος).44(implizit φαρισαῖος).47(implizit νομικός). Vgl. Saldarini, Delegitimation, 668 f; Tilborg, Leaders, 18. Lukas weiß die Weherufe gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten voneinander zu unterscheiden (Pharisäer – Lk 11,39.42.43.44; νομικοί – Lk 11,46.47 f.52). Vgl. Lührmann, Redaktion, 45; Schulz, Q, 96; Luz, Mt III, 318; Davies / Allison, Mt III, 283; Légasse, Scribes, 323; Kümmel, Weherufe, 145; Haenchen, Matthäus 23, 45; Frankemölle, Pharisäismus, 139. Die stereotypische Anrede geht sicherlich auf Matthäus zurück (Luz, Mt III, 319; Hare, Theme, 81; Kosch, Tora, 92; Wilckens, Art. ὑποκρίνομαι, 566; Hakola, Identity, 124; Banks, Jesus, 174). Zu seiner Zeit gab es vermutlich nur noch pharisäische Schriftgelehrten, deswegen ist ihre „sachliche und historische Einheit“ verständlich (vgl. Weiss, Pharisäismus, 108 f); auch Saldarini, Pharisees, 164 f; Gundry, Mt, 454: „Matthew leaves the impression that he is writing only about scribes who belong tot he Pharisaical sect“; Davies / Allison, Mt III, 268: „Perhaps indeed all the scri-

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sequent die bisherige stark polemisch ausgerichtete Sprache weiter, schreibt aber den Pharisäern und Schriftgelehrten als öffentlichen Kontrahenten durch den auf symbolischer Ebene vernichtenden Diskurs eine beachtliche Bedeutung unter den anderen Gegnergruppen zu. Aus gleichgestellten Erzählfiguren entsteht durch die ungewöhnliche Wiederholung im Korpus einer geschickt konstruierten Gerichtsrede ein stereotypisches,254 beängstigendes, aber zugleich lächerliches Feindbild. Matthäus verlässt offensichtlich den Rahmen seiner Narratio und spricht eher den eigenen Standpunkt255 an (23,2: ἐπὶ τῆς Μωϋσέως καθέδρας ἐκάθισαν οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι) oder holt im Umkehrschluss die erlebte in die erzählte Wirklichkeit. Keine andere Gruppierung kommt aus der Feder des Matthäus schlechter als die der Pharisäer und der Schriftgelehrten weg. Um sie häufen sich die bedrohenden Gerichtsvorstellungen und die aggressiven weltlichen Schimpfwörter. Nur mit ihnen als negative Bezugsgruppe werden ‚die Seinen‘ an zwei Stellen in Bezug auf zwei eng verwandte Konfliktthemen – die Gerechtigkeit und die Titelsucht als mangelnde Nächstenliebe – direkt verglichen256 (5,20: ἐὰν μὴ περισσεύσῃ ὑμῶν ἡ δικαιοσύνη πλεῖον τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων bzw. 23,8–12: ὑμεῖς δέ und weiter noch siebenmal σύ im Plural; vgl. auch 6,3.6.13). Sie bilden die Bezugsgruppe aus der Gegenwart der Gemeinde und dominieren das polemische Register. Auch alleinstehend oder in anderen Kombinationen nehmen die Pharisäer und die Schriftgelehrten im Hauptkorpus des Evangeliums als wichtigste Opponenten Jesu eine bedeutende Rolle ein, verschwinden aber mit einigen Ausnah-

bes known to him were Pharisaic“. Diese Meinung ist jedoch von Schwartz, Scribes, 89–101, der die Grammateis mit den Leviten identifiziert und dadurch von den Pharisäern deutlich unterscheidet, in Frage gestellt worden: „The Phrase ‚scribe of the Pharisees‘ may indicate that not all scribes are Pharisees; indeed, it may even imply that most scribes, without additional description, are not Pharisees“ (91). 254 „Die Weherede identifiziert beide so sehr, […] dass auch die Vorwürfe an sie austauschbar werden“ (Luz, Mt III, 366; vgl. auch Schulz, Q, 96); zugleich dient die einheitliche Anrede der Aktualisierung und Anpassung der Invektiven an die Zeit nach 70 (vgl. Marguerat, Le jugement, 350; Viviano, World, 10; Davies / Allison, Mt III, 267: „The unified front against Matthew’s Jesus reflects a unified Jewish front in Mathew’s experience“; Harrington, Mt, 320). Vgl. auch 4.3.2.3.2. 255 Vgl. auch Garland, Intention, 47: „The context indicates that v. 2 can only mean that scribes and Pharisees now sit on the seat of Moses“; Hummel, Auseinandersetzung, 31; Luz, Mt III, 299; Gnilka, Mt II, 273; Saldarini, Matthew, 46, zusammen mit vielen anderen Auslegern. Zu der Gegenmeinung, dass Matthäus hier eine vergangene Zeit oder nur eine allgemeine Wahrheit andeutet, vgl. Tilborg, Leaders, 134; weitere Literatur bei Garland, Intention, 47, Anm. 43. 256 Auf diesen Aspekt verweisen z. B. auch Nolland, Mt, 862; Sand, Matthäus-Evangelium, 153; Gielen, Konflikt, 76 („paränetische Negativfolie“) oder 85: „Noch bevor Schriftgelehrte und Pharisäer szenisch mit Jesus zusammentreffen, zieht Mt bereits […] eine scharfe Grenze“. Vgl. auch 3.2.1.

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men, auf die ich später zu sprechen komme, nach der Abrechnung in Mt 23 von der Erzähloberfläche.257 Schon in 7,29, am Ende der Bergpredigt wird die Aufmerksamkeit auf die Schriftgelehrten als eine kontrastierende Lehrautorität im Volk (οἱ γραμματεῖς αὐτῶν) gelenkt; einem von ihnen, der mit διδάσκαλε den falschen Ton traf (vgl. dazu 2.1.2), verweigert Jesus in 8,19 f die Jüngerschaft,258 wobei in der Q-Perikope eine genaue Zugehörigkeit fehlt (vgl. Lk 9,57: εἶπέν τις πρὸς αὐτόν). Bald darauf treten einige aus den Schriftgelehrten Jesus entgegen, indem sie ihm in ihren Herzen den schwerwiegenden Vorwurf der Gotteslästerung machen (9,3: οὗτος βλασφημεῖ).259 Die Kontroverse ist bei Matthäus heißer,260 schon das erste Streitgespräch gibt eine deutlich größere Spannung zu erkennen und schlägt den Bogen zur Passion. Denn dieselben γραμματεῖς sind auch am Prozess Jesu beteiligt (26,57), dort wo der Hohenpriester mit ähnlichen Worten dasselbe Urteil wiederholt  – ἐβλασφήμησεν (26,65[red.])261. Dieser Vers, wie 257 Dieser Tatbestand wurde manchmal als störend für die Kontinuität der Konfliktsgeschichte und als Spannung zwischen Passion und Haupterzählung empfunden (vgl. Buck, Anti-Judaic, 168; Fiedler, Israel, 63; darauf weist auch Repschinski, Stories, 324, hin). 258 Aus diesem Grund bleibt der Schriftgelehrte vom Heil ausgeschlossen; manchmal wird er jedoch positiv als „potentieller Jünger“ verstanden (vgl. Przybylski, Setting, 191). 259 Die Anschuldigung ist nicht leicht; nur Gott konnte im AT Sünden wegnehmen (Ex 34,6 f; Num 14,19; 2Sam 12,13; Ps 32,1–2; 78,38; 85,3; Jes 43,25 f; 44,22), dass Jesus als einfacher Mensch sich diese Fähigkeit zuschreibt, war in ihren Augen ein schwerwiegendes Delikt; sich selbst mit Gott zu vergleichen oder seinen Namen auszusprechen war eine todeswürdige Blasphemie (vgl. Ex 22,27; Lev 24,10–16; Philo, VitMos II 203–206; mSan 6,4; 7,5 bzw. Philo, Somn II 130–131; Decal 13–14; 61–64); die Todesverurteilung schwingt also in den beiden Fällen (9,3; 26,65) mit und verbindet aufs Engste Anfang und Ende des öffentlichen Konfliktes miteinander. Zur Blasphemie im antiken Judentum vgl. Bock, Blasphemy, 30–112. 260 Vgl. Repschinski, Stories, 73 („heightening of the controversial aspect“); Gielen, Konflikt, 93. 261 Vgl. Kingsbury, Conflict, 72; Konradt, Israel, 117; Sand, Mt, 193. Auch ein Rückbezug auf 16,16 ist gesichert (vgl. Mowery, Differences, 195: „Matthew seems to have deliberately used the same verbiage in both 16,16 and 26,63“; Dupont, Assis, 361). Ein ironischer Zug kommt dadurch zum Ausdruck, dass Matthäus Mk 14,61: ὁ υἱὸς τοῦ εὐλογητοῦ zu ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ (26,63) korrigiert und den Hohenpriester zweimal (auch 26,65) Gotteslästerung begehen lässt, indem er den Namen Gottes aussprechen lässt; vgl. dazu auch Gerhardsson, Con­fession, 57; Tilborg, Leaders, 80 („the question […] is accomanied by the most abominable blasphemy“); Gundry, Mt, 544. Die Antwort Jesu – σὺ εἶπας – erscheint in diesem Kontext als die eigentliche Verurteilung. Dass Matthäus dadurch das direkte Bekenntnis ersetzt (vgl. Mk 14,62; Lk 22,70: ἐγώ εἰμι), soll aber nicht bedeuten, dass er die Antwort offen lässt, „ob unter dem himmlischen Menschensohn er selbst oder ein anderer zu verstehen sei“ (Lohmeyer, Gottesknecht, 60; Tilborg, Leaders, 80; Gnilka, Prozess, 22; Kraus, Passion, 423). Der Angeklagte erweist sich als „der Richter seiner Richter“ (Meier, Beobachtungen, 213). In der markinischen Formulierung ist es schwierig auszumachen, worin der βλασφημία-Vorwurf (Mk 14,64) überhaupt besteht (Evans, Blasphemy, 407–434; das Gleiche fragt sich auch Strobel, Stunde, 92 f, und kommt zu dem Ergebnis: Indem er sich als „Richter auch über dieses hohe Gericht“ ankündigte, hat er einen „Affront gegen die auf der Thora basierende Staatsgrundlage und gegen die daraus abgeleitet Heilstheologie“ ausgesprochen).

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auch 16,21 und 20,18, ist deswegen wichtig, weil Matthäus die Schriftgelehrten aus der Passionsgeschichte vermutlich heraushalten will.262 Er hat aber seine Gründe, es nicht sehr konsequent zu machen (dazu weiter). Die Schriftgelehrten erscheinen wieder in der Gesellschaft der Hohenpriester und, ergänzt um dieselben πρεσβύτεροι (Mk  15,31 kennt nur οἱ ἀρχιερεῖς … πρὸς ἀλλήλους μετὰ τῶν γραμματέων), verspotten Sie den Gekreuzigten nach der Vollstreckung der Todesstrafe (27,41). Aus einem redaktionellen Vergleich lässt sich eine Regel für das redaktionelle Verhalten gegenüber den Schriftgelehrten ableiten: Es ist unklar, warum überall, wo οἱ πρεσβύτεροι τοῦ λαοῦ vorkommen, οἱ γραμματεῖς konsequent ausgeklammert werden.263 Hingegen werden sie genau dort nicht gestrichen, wo das Attribut τοῦ λαοῦ264 fehlt, obwohl ein deutlicher Bezug auf die Passion vorhanden ist. Es ist deswegen eine Frage wert, ob dieser anscheinend launischen Verwendung nicht nur die Absicht zu Grunde liegt, die Schriftgelehrten möglichst wenig mit der Kreuzigung in Verbindung zu bringen, sondern auch ein ungeklärtes, aber vermutlich wichtiges Verhältnis, zu πρεσβύτεροι τοῦ λαοῦ, worauf ausnahmslos alle positiven und negativen Belege hinzuweisen scheinen. Gehören für Matthäus die Ältesten des Volkes so selbstverständlich zu dem Stand der Schriftgelehren, dass ihre zusätzliche Erwähnung pleonastisch geklungen hätte?265 Die genaue Antwort bleibt im Dunkeln. Die Pharisäer sind aber mit Abstand die Hauptträger der Polemik gegen Jesus. Sie scheuen keine Mittel und verpassen keine Gelegenheit, ihm während dessen öffentlichen Wirkens kräftig entgegenzutreten,266 wobei die Schrift­ gelehrten oft weggelassen oder ersetzt werden. So z. B. beim Mahl des Zöllners 262 An Stellen wie 26,3 // Mk 14,1; 26,47 // Mk 14,43; 27,1 // Mk 15,1 mit einem direkten Bezug auf den Tod Jesu werden sie weggelassen (vgl. auch Garbe, Hirte, 51). 263 Vgl. zusätzlich zu den eben angeführten Versen aus der Passionsgeschichte auch 21,23 // Mk 11,27 // Lk 20,1 in den Jerusalemer Konfrontationen. 264 Wie in 16,21 // Mk 8,31 // Lk 9,22; 26,57 // Mk 14,53 und 27,41 // Mk 15,31. 265 Hummel, Auseinandersetzung, 21 f, versteht die Ältesten als „Sammelbegriff für die Vertreter des Laien-Patriziats und die Gruppe der Schriftgelehrten“. Vgl. auch Bornkamm, Art. Πρέσβυς, 659. 266 Vgl. Strecker, Weg, 139: Die Pharisäer gelten als „Initiatoren von Schriftgesprächen“ (mit Hinweis auf 9,11[red.]; 12,2; 15,1; 19,3; 22,15[red.]; 22,34[red.]; 22,41[red.]) und als „die theologischen Repräsentanten des Judentums“, die „gänzlich abgelehnt werden“; Ogawa, L’histoire, 468, Anm. 11; Yieh, Teacher, 86; Repschinski, Stories, 323; Przybylski, Setting, 189. Gegen diese postulierte Präponderenz wehrt sich Gielen, Konflikt, 8 f; es ist aber eher eine Warnung vor einer Tendenz, „die Darstellung der Gegner Jesu im Mt allzu rasch (Hervorhebung von R. P.) auf die mutmaßlichen aktuellen pharisäischen Gegner der mt Gemeinde und ihre Schriftgelehrten zurückzuführen“ (9), um nicht ohne eine ausführliche Analyse des Textbefundes einem Zirkelschluss zum Opfer zu fallen (8). Schließlich stimmt die Autorin selbst dieser These mit „einigen Modifikationen“ zu (413). Der redaktionelle Einsatz der Pharisäer als hartnäckige Opponenten (Mt 3,7; 5,20; 9,34; 12,24; 15,12; 16,11.12; 21,45; 22,34.41; 27,62) und Zielscheibe der einseitigen Polemik in Mt 23 gehen mit einem entsprechend düstereren Bild einher; „there is no sign in Matthew of the friendly Pharisees“ wie in Lk 7,36; 13,31; 14,1 (vgl. Stanton, Gospel, 127; auch Saldarini, Pharisees, 163 f).

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Matthäus, bei welchem die Anwesenheit der Sünder die Reaktion der Pharisäer (9,11 simplifiziert Mk 2,16: οἱ γραμματεῖς τῶν Φαρισαίων) hervorruft. Auch in der Fastenfrage der Johannesanhänger sind die Pharisäer (9,14 und nicht die οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων wie in Mk 2,18 // Lk 5,33) mit den eigenen Jüngern kontrastiert. In den beiden parallel gestalteten Berichten über die Heilung eines Besessenen formulieren die Pharisäer den Vorwurf der Mitarbeit mit dem Obersten der bösen Geister (9,34; 12,24; Mk  3,22 liest οἱ γραμματεῖς).267 Das ‚laxe‘ Verhältnis Jesu zum Sabbat gibt wieder Anlass zum Angriff (12,2 // Mk  2,24 // Lk  6,2) und, auch wenn sie in der nächsten Perikope über die Heilung der verdorrten Hand am Sabbat nicht mehr namentlich erwähnt werden, kann man in 12,10 (ἐπηρώτησαν αὐτόν … ἵνα κατηγορήσωσιν αὐτοῦ) ebenfalls das matthäische Profil der Pharisäer erkennen, welches am Ende der Perikope (12,14; Mk  3,6 hat neben den Pharisäern auch die Ἡρῳδιανοί) in ihrem Entschluss, Jesus umzubringen, eine düstere Bestätigung erhält. Durch die Pharisäer wird Jesus auch bezüglich der Ehescheidung in 19,3 (vgl. auch Mk 10,2) versucht, und im letzten, abschließenden Streitgespräch adressiert Jesus in 22,41 ausgerechtet an sie (Mk 12,35: οἱ γραμματεῖς) direkt die entscheidende christologische Frage nach der Gottessohnschaft des Messias. Über die redaktionell aufgebaute, enge Beziehung der Pharisäer mit den Saddu­zäern in 22,34 war früher schon die Rede; noch zwei andere Kombinationen bringen das vielseitige Bild der Pharisäer und ihren flexiblen268 Einsatz in der Konfliktgeschichte mit den oder gegen die Quellen zum Vorschein. Erstens zu 22,15 f: Der Redaktor hat zwar schon bei Mk 12,13 die Herodianer vorgefunden,269 da er aber die in seiner Zeit verschwundene Gruppe schon einmal in 12,14 gestrichen hat, dürfte ihm ihre Aufnahme hier, im Kontext der brisanten politischen Steuerfrage ein wichtiges Anliegen gewesen sein.270 Ein weiteres Beispiel ist dem synoptischen Vergleich von Mt  21,45 mit Mk  12,12 zu entnehmen. Wer am Ende des Gleichnisses über die bösen Winzer gemeint ist, muss man bis Mk  11,27 zurückblättern (οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ

267 Zur Bedeutung der Pharisäer in der Beelzebul-Perikope vgl. Cope, Scribe, 50–51; ausführlicher dazu S. 145–147; 207–208. 268 Stemberger, Pharisäer, 28, bezeichnet sie als „allgegenwärtig“. 269 Religionsgeschichtlich ist diese Kombination zurzeit Jesu nicht unmöglich, vgl. Bowker, Jesus, 42. „Unter dem Zwang der Verhältnisse“ (Stemberger, Pharisäer, 20) kann Josephus sie gemeinsam agieren lassen – Vita 21. Vgl. zu diesem Verhältnis Wahlde, Relationship, 507–513. 270 Die Anhänger der Familie des Herodes waren wegen ihrer engen Allianz mit den Römern hinsichtlich Steuereinnahmen besonders empfindlich (vgl. Rowley, Herodians, 19: „For the question would seem to have been intended to put Jesus on the horns of a dilemma, so that He would be bound to put Himself in the wrong, either with the Jewish patriots or with the Roman masters“); siehe auch Winter, Trial, 128 f; Bruce, Render, 251; Nolland, Mt, 895; Carter, Margins, 438; Bickerman, Herodians, 668 f.

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γραμματεῖς καὶ οἱ πρεσβύτεροι; Lk  20,19 verkürzt, indem er die Ältesten weglässt). In 21,45 hat Matthäus bewusst redigiert und von seiner Grundlage nur οἱ ἀρχιερεῖς beibehalten, ihnen zur Seite aber die Pharisäer hinzugefügt. Diese Kombination dürfte nicht zufällig sein. Im Gleichniss wurden gerade die Passion und die Auferstehung bildhaft thematisiert. Damit könnte der Redaktor zugleich auf das Jona-Zeichen (12,40) verweisen, wie auch auf die Auferstehungsszene.271 In 27,62272 verlangen dieselben Akteure (οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι) von Pilatus wegen Betrugsverdacht (V. 63: ἐκεῖνος ὁ πλάνος; V. 64: ἡ ἐσχάτη πλάνη) die Genehmigung, das Grab zu bewachen. Es geht um die einzige Erwähnung der Pharisäer in der Passionsgeschichte. Offensichtlich konnten die Autoritäten die Ereignisse nicht im Lichte des Jonas Zeichens (12,40; 16,4) deuten273 (als alttestamentlicher Hintergrund hat vielleicht Dtn 13,1–6 gedient). Dabei reden sie den Machtinhaber mit der Formel an, die sie Jesus konsequent verweigert haben – κύριε (27,63). Jesus bezeichnen sie aber als „Irrlehrer“ (vgl. 27,63 f: ὁ πλάνος; ἡ πλάνη) – vielleicht ein zusätzlicher Grund, warum die Pharisäer hier auftauchen: Sie waren die wichtigsten Gegner Jesu in Lehrangelegenheiten. Nur aus ihrer geringen Rolle in der Passionsgeschichte die Möglichkeit „of rapprochement“ der Gemeinde mit den Pharisäern und „that even Jewish leaders might join the new group“274 abzuleiten, wäre jedoch ein exegetisch zu gewagter Schritt. Matthäus ist offensichtlich daran interessiert, den Schuldanteil der Pharisäer zu betonen.275

271 Hummel, Auseinandersetzung, 16. 272 Den ganzen Passus 27,62–66 und implizit die Erwähnung der Pharisäer in der Passionsgeschichte hat schon Bultmann, Geschichte, 297, als „apologetisch motivierte Legende“ bezeichnet (vgl. auch in EvPetr 8,28–9,34). Vgl. auch in Bezug auf die Paarerzählung 28,11–15 Michel, Polemik, 208 („polemische Geschichtslegende“). 273 Zur engen Beziehung der beiden Szenen und zu ihrem Bezug auf gegenwärtige Debatten um die Auferstehung Jesu vgl. auch Geist, Menschensohn, 289; Luz, Mt II, 278; Strecker, Weg, 105. 274 Levine, Anti-Judaism, 33. 275 Hummel, Auseinandersetzung, 13 f; Fiedler, Israel, 63. Die Tendenz kommt im Johannesevangelium sogar verstärkt vor (Joh  11,47.57; 18,3). Saldarini, Pharisees, 171, vermutet bei Matthäus auch einen theologischen Grund: „The point at issue, resurrection, fits perfectly the Pharisees’ theological position and explains why Matthew uses them in this story“ (so auch Wahlde, Relationship, 520). Vgl. auch Gielen, Konflikt, 414, Anm. 6: Die Anwesenheit der Pharisäer an diesen Stellen (21,45; 27,62) erklärt sich auch aus „erzählstrategischen Gründen“, sie stellen „die personale Kontinuität zu den thematisch verwandten Szenen in 12,14 und 12,38 her“; auch Zumstein, La condition, 70 f. Sonst beruht ihr Fehlen in der Passion auf „solide tradition historique“ (Mora, Le Refus, 141; vgl. auch Weiss, Pharisäismus, 97, Anm. 1; Bowker, Jesus, 42).

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2.2.1.2 Der Tod Jesu und die Gegner Die dominierende Zweiergruppe der Passionsgeschichte bilden aber eindeutig οἱ ἀρχιερεῖς und οἱ πρεσβύτεροι (τοῦ λαοῦ). Gleich nachdem Jesus das letzte Wort am Ende der eschatologischen Rede ausgesprochen hat (26,1: καὶ ἐγένετο)276 und sein bevorstehende Schicksal in der (nur bei Matthäus) fast formelhaften Wendung παραδίδοται und σταυρωθῆναι zusammengefasst hat (26,2), versammeln sich die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes und setzen buchstäblich die ‚prophetische‘ Äußerung277 Jesu um, indem sie beschließen, ihn zu ergreifen und ihn zu töten. Die matthäisch konstruierte Verbindung ‚ProphezeihungErfüllung‘ wiederholt sich am Ende der Getsemani-Szene, eines der Stichworte – παραδίδοται (26,45 // Mk 14,41) – taucht hier wieder auf, bevor die Gesandten der Hohenpriester und Ältesten des Volkes eingreifen und Jesus tatsächlich gefangen nehmen. Am Scheinprozess Jesu beteiligen sie sich einzeln, gruppiert oder verbunden im Hohen Rat (26,57.59.62.63.65). Die Hohenpriester scheinen aber im Vergleich zu den Ältesten, insgesamt eine wichtigere Rolle zu spielen.278 Die Hohenpriester können auch allein handeln (26,14; 28,11) und gewinnen durch die Figur des Kaiphas zusätzlich in ihrer narrativen Frontstellung an Bedeutung, wobei die verbündeten Parteien in der Passionsgeschichte besonders einträchtig zusammenarbeiten.279 Die πρεσβύτεροι (τοῦ λαοῦ) agieren nie selbstständig. Dass sie aber für Matthäus wichtige Akteure der Passionsgeschichte waren, erkennt man 276 Die Lehrtätigkeit Jesu ist in dieser Weise viel enger mit der Passionsgeschichte, die gerade anfängt, verbunden. Dann (26,3: τότε) fassen die Gegner Entschluss Jesus zu ergreifen; als er lehrte (21,23), forderten sie ihn auch mit der Fangfrage nach dem Ursprung seiner Vollmacht heraus und bei der Festnahme bezieht sich Jesus selbst auf seine tägliche Lehre im Tempel, wobei Matthäus auch den terminus technicus καθέζομαι (26,55) redaktionell einfügt. „Matthew draws an intimate connection between Jesus’ teaching and his passion“ (Matera, Passion, 87, auch 99, 143); vgl. auch Senior, Passion Narrative, 9–10; Dahl, Passionsgeschichte, 29: „Die Passion Jesu kann erst anfangen, wenn Jesus seine gesamte Lehrtätigkeit beendet hat“. Nach dem Schluss aller seiner Reden (πᾶς in 26,1) „there remains only one lesson, that of his obedient death“ (Senior, Passion, 50; auch Meier, Vison, 181). 277 Der Tötungsplan kommt nicht überraschend, Jesus sagt erneut im Auftakt der Passion seine Kreuzigung voraus (26,2: σταυρόω; Matthäus hat schon in 20,19 // Mk 10,34 durch dasselbe Verb die Leidensankündigung präzisiert, vgl. auch Mt 23,34); sein Tod ist kein Zufall sondern Erfüllung (vgl. auch Matera, Passion, 87; Strecker, Weg, 183; Yieh, Teacher, 61; Luck, Mt, 279: „Jesus ist Herr seines Geschickes auch auf seinem Weg an das Kreuz“). Die Freiwilligkeit der Hingabe Jesu wird z. B. auch in 26,52–54 betont (vgl. Bultmann, Geschichte, 305). 278 Klijn, Scribes, 266 ; Zumstein, La condition, 74. Trotzdem sind die Ältesten Matthäus wichtig, denn an mehreren Stellen werden sie red. hinzugefügt (vgl. 26,3; 27,12.20.41). 279 Ihre Austauschbarkeit ist hier besonders groß, wie man z. B. dem Vergleich der beiden Judas-Episoden entnehmen kann: Um Jesus zu verraten geht Judas zu den Hohenpriestern (26,14 // Mk 14,10), bringt aber die dreißig Sieberlinge den Hohenpriestern und den Ältesten zurück (27,3), nur die Hohenpriester bekommen aber schließlich das Geld (27,6). Dar Hohe Rat (26,59: συνέδριον) als einstimmige Handlungsinstanz zeigt auch die enge Verbundenheit unterschiedlicher Gruppierungen jenseits jeglicher Differenzen.

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an den zahlreichen redaktionellen Einfügungen (26,1; 27,12.20.41) oder in den Stücken über das Ende des Judas (27,3) und über die Leugnung der Aufer­stehung (28,11 f). Den Todesbeschluss hinter verschlossenen Türen setzten sie erfolgreich auch in der Öffentlichkeit durch. Zuerst wird das Ziel nochmals ins Auge gefasst (27,1), dann überantworten sie Jesus dem Statthalter und tragen entscheidend dazu bei, seine endgültige Beseitigung zustande zu bringen: Sie verklagen ihn aus merklichem Neid vor Pilatus (27,12.18), manipulieren die versammelte Volksmenge (27,20)280 an der entscheidenden Stelle, in dem Augenblick, in dem vielleicht ein Quäntchen Hoffnung, dass Jesus auf freien Fuß kommen kann, immer noch bestand, und bereiten der Konfliktgeschichte ein finsteres Ende. Ihr letzter Versuch, durch Lug und Trug (28,11–15) dem nun auch für sie offensichtlichen Einwirken Gottes durch die Auferstehung seines Sohnes entgegenzusteuern, scheitert trotz der Verbreitung ihrer ‚rationalistischen‘ Erklärung παρὰ Ἰουδαίοις (28,15). Das starke Zeugnis, welches das Evangelium selbst und dadurch die jüdischen Jesusanhänger aus der Gegenwartsperspektive ablegen, macht theologisch und narrativ ihr listiges Unternehmen zunichte, andererseits wird hiermit auch eine Ätiologie der gegenwärtigen Turbulenzen und Konfrontationen auf dem Feld der Mission entworfen.281 2.2.1.3 Tendenzen der matthäischen Redaktion Zwei Grundtendenzen der matthäischen Redaktion können festgestellt werden. Wie schon am Anfang erwähnt, lässt Matthäus die Gegner Jesu oft in Gruppen282 auftreten und unterstreicht dadurch ihre blockartige, lückenfreie Opposition. Vorwiegend erfolgen diese Verbindungen womöglich aufgrund praktischer Kompetenzen. Aus historischer Sicht sind z. B. die Sadduzäer und die Pharisäer ideologisch sehr unterschiedliche Religionsparteien.283 Bei Matthäus kommen die Sadduzäer nie mit den ideologisch nahestehenden Hohenpriestern und Ältesten zusammen; sie gehören hingegen eher zur Gruppe der Gegner, die Jesus in Bezug auf die Lehre und Verkündigung angreifen, wie die Pharisäer und die Schriftgelehrten, die die Kerngruppierungen in den Auseinandersetzungen rund um die Tora darstellen.284 Auf der anderen Seite besetzen die Hohenpriester

280 Zu dieser Auslegung vgl. weiter Abschnitt 3.1.3. 281 Vgl. Ogawa, L’histoire, 211 („resonances profondes des expériences malheureuses“). 282 Eine stilistische Vorliebe für Zweier-Gruppen (Trilling, Israel, 90; Garbe, Hirte, 52; Poplutz, Welt, 114) braucht man nicht unbedingt zu vermuten, die weiter skizzierten redaktionellen Linien genügen als Erklärungen für die jetzige Textgestalt. 283 Zur schwierigen Kombination vgl. oben Anm. 244. 284 „Matthäus konzentriert seine Polemik auf die Pharisäer und Schriftgelehrten“ (Vahrenhorst, Ihr sollt, 304). Die Pharisäer passen hervorragen in diese Rolle, sie werden auch sonst als akribische Gesetzeslehrer bezeichnet, vgl. Josephus, Bell II 162 (οἱ μετὰ ἀκριβείας δοκοῦντες

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und Ältesten als Haupthandlungsträger die Passionsgeschichte.285 Die Besten aus ihren Reihen, je nach dem thematischen Schwerpunkt und nach den Macht­ befugnissen, treten Jesu entgegen. Ihre überlegten Angriffe lassen nichts außer Acht, wenn es um Effektivität ihrer Handlungen geht. Noch zwei Einzelbeispiele erhärten diesen Befund. Ich habe schon früher auf den Einsatz der Herodianer in politischen Fragen hingewiesen. Hinzufügen kann man auch noch eine andere redaktionelle Auffälligkeit in Bezug auf die Schriftkompetenz der Pharisäer: Im Vorfeld der ersten Entscheidung, Jesus umzubringen (12,14), als Jesus in ihre Synagoge kommt, greifen ihn die Pharisäer286 an, indem sie ihm eine grundsätzliche Gesetzesfrage (12,10[red.]: εἰ ἔξεστιν) über die Sabbatpraxis stellen, um ihn anzuklagen. Auch im Auftakt des Streitgespräches287 über das oberste Gebot in der Tora (22,36[red.]: ἐν τῷ νόμῳ; 22,40[red.]: ὁ νόμος κρέμαται καὶ οἱ προφῆται) weist der Pharisäer, der die Frage stellt, eine besondere Kompetenz auf, er ist nämlich ein Gesetzgelehrter – νομικός (Mt 22,35; Mk 12,28: εἷς τῶν γραμματέων; Lk 10,25: ein an sich freundlich gesonnener νομικός, vgl. das Schlusswort Lk 10,28). Nach diesem Kompetenzkriterium erscheinen die Gegner Jesu kleine ‚spezialisierte Arbeitsgruppen‘ zu sein, die nach Plan und Effizienz agieren.288 Deswegen lassen sich die Auseinandersetzungen im Gesamtbild nach zwei thematischen, eng verbundeten Hauptrichtungen strukturieren: Polemik um die richtige Auslegung der Tora und die Planung der Tötung Jesu (Leidensthematik), wobei οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι bzw. οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ πρεσβύτεροι ἐξηγεῖσθαι τὰ νόμιμα); Ant XVII 41; Vita 191; Act 22,3; 26,5; Phil 3,5. Baumgarten, Name, 411–428, will sogar ihren Namen etymologisch mit diesem Ruhm in Verbindung bringen. Auch im Talmud sind die Pharisäer „always mentioned in connection with legal, ritual or ethical matters“ (Gertner, Terms, 264). Jedoch ist, was die Aussage über die Tragfähigkeit der rabbinischen Quellen über die Pharisäer vor 70 n. Chr. anbelangt, Vorsicht geboten (vgl. Schäfer, Pharisäismus, 125–175). 285 Vgl. auch Baumbach, Sadduzäerverständnis, 31: „Die Hohenpriester gehören ausschließlich in das letzte Stadium von Jesu Leben, in sein auf die Tempel Jerusalems lokalisiertes Leiden und Sterben“; Senior, Passion Narrative, 24 („standard throught the Passion narrative“); Sand, Gesetz, 81; Gielen, Konflikt, 415. 286 Im Lichte von 12,2.14 ist es anzunehmen, dass dieselben Pharisäer unter ihnen sind (vgl. auch Hagner, Mt I, 333; Nolland, Mt, 487). Verseput, Rejection, 178 f, weitet das indeterminierte ἐπηρώτησαν auf „a stubborn and hostile people“ aus. 287 Über die matthäische Gestaltung der Frage nach dem höchsten Gebot als Streitgespräch vgl. Garland, Intention, 24; Kiilunen, Doppelgebot, 35; Saldarini, Pharisees, 170. Für mehr Literatur vgl. 3.2.4. 288 Geist, Menschensohn, 287, weist darauf hin, dass die Anwesenheit der Schriftgelehrten oft von einem Schriftwort begleitet wird: „Es scheint Matthäus darum zu gehen, die pharisäischen Schriftgelehrten von der Schrift her zu widerlegen“. Auf den Spezialisierungsgrad der Gespräche macht auch Yieh, Teacher, 184, aufmerksam: „These scholars of the law are good at making legal argument with sophisticated casuistry“; Sim, Gospel, 118: „Matthew aims for consistency“.

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als wichtigste Handlungsträger vorkommen.289 Diese Einteilung hat aber m. E. jenseits der erzählerischen Oberfläche auch eine symbolische Funktion. Die beiden Angriffslinien haben eine Entsprechung im matthäischen Christusbild. Das Wirken Jesu in Israel stößt auf zweierlei Widerstand: Einerseits steht er unter dem ständigen Beschuss der (vermeintlichen) Schriftexperten  – die Hüter der ‚Orthodoxie‘ im Volk gegen den „Irrlehrer“ (vgl. 27,63 f: ὁ πλάνος; ἡ πλάνη); andererseits fällt er der Tempelaristokratie zum Opfer,290 den Vollziehern von Sühneriten291 am Heiligtum, die an seiner Autorität Anstoß nehmen. Diese Gruppierung nach theologischen Schwerpunkten könnte den rätselhaften („puzzling state of affairs“)292 redaktionellen Doppelzug in der Passionsgeschichte erklären, demzufolge die Schriftgelehrten vermieden, aber die Ältesten eingebracht werden. Richtige Toraauslegung, Aufhebung der Krankheit und Vergebung der Sünden machen aber den Kern des göttlichen Auftrags Jesu aus; Polemik und Passion des Gottessohnes sind zwei distinkte aber untrennbare christologische Dimensionen der Jesuserzählung. Aus historischer Sicht besitzen beide Aspekte im noch uneinigen und zerstrittenen Umfeld des Judentums ohne Tempel eine brisante Aktualität. Zum einen versucht die matthäische Toraauslegung dem pharisäischen Angebot aus seinem

289 Vgl. auch Klijn, Scribes, 266; auf diese Differenzierung weisen auch Carson, Leaders, 168; Garbe, Hirte, 53 f; Trilling, Israel, 91 hin. Auch Walker, Heilsgeschichte, bezeichnet die zwei Gegnerblöcke die „doctores“ Israels (23) bzw. „Oberen der Tempelhütter“ (30) oder „jerusalemische Körperschaft“ (31), obwohl er sich ansonsten für die Ähnlichkeiten zwischen den Gegnern stark macht. 290 Matthäus macht sich vielleicht eine sprachliche Konsonanz zunutze und stellt einen engen Zusammenhang zwischen dem Passafest (πάσχα) und dem Leiden Jesu (πάσχω  – vgl. 16,21; selbstreferenziell in 17,12[red.]; in 26,2 durch zwei typische Verben vertreten: παραδίδωμι und σταυρόω) her, obwohl die Begriffe völlig unterschiedliche Etymologien haben; vgl. auch Senior, Passion, 51: „Matthew […] exploits the connection between the Passover and the passion“. 291 Nach Koch, Sühne, 217–239, sind in der Zeit des zweiten Tempels sämtliche Opfer den Sühneriten beigeordnet, vielleicht sogar die Opfer zum Passafest und Sabbat (vgl. auch Hahn, Motive, 359 f). Zur zunehmenden Bedeutung der kultischen Sühne in der Zeit des zweiten Tempels vgl. 1Chr 6,34; 23,13; 2Chr 29,20 ff; 30,17; Esra 8,35; 1Bar 1,10.13; 1QS 5,6; 8,10; 9,4; zur sakramentalen Bedeutung der Blutriten vom Paschafest, vgl. Füglister, Heilsbedeutung, 103 f. Ausgehend von diesem Hintergrund gewinnt die matthäische Betonung der Sündenvergebung in einer Posttempelzeit eine besondere Aktualität und Brisanz. Auch wenn die direkte narrative Identifizierung Jesu mit dem Passalamm wie in Joh 1,29; 18,28; 19,14.31.36 (vgl. auch 1Kor 5,7; 1Petr 1,19) bei den Synoptikern fehlt, wird die Verbindung zwischen dem Passafest und dem Tod Jesu bei Matthäus besonders hervorgehoben (vgl. Harrington, Mt, 371; Gnilka, Mt II, 402, zieht die Möglichkeit in Erwägung, dass für Matthäus selbst „das Paschalamm als Vorbild gedient haben kann“). Matthäus lässt zwar in 26,17 ὅτε τὸ πάσχα ἔθυον aus Mk 14,12 weg, dies war aber eine nötige Korrektur, weil „self-evident to Matthew and his readers“ (Nolland, Mt, 1061; vgl. auch Gundry, Mt, 523). 292 Buck, Anti-Judaic, 168.

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Umfeld standzuhalten, zum anderen findet die nun hinfällige Sühnefunktion des Tempels in der Praxis der Sündenvergebung der matthäischen Gemeinde ihre rechtmäßige und von Gott legitimierte Fortsetzung.293 Konsequenterweise sorgt Matthäus dafür, dass auch die Gegner sich nach demselben christologischen Prinzip einteilen lassen. Dadurch spiegeln die beiden thematisch angeordneten Charaktere, auch wenn ihre Gruppierung anachronistisch wirken kann, Umstände der zeitgenössischen Streitigkeiten der Gemeinde wieder. Das ganze Evangelium ist durch und durch auf der Ebene der Ethik und der Christologie, bis auf die Verteilung und Funktion der Gegner, an der Gegenwart orientiert, nur erfolgt diese Verbindung zwischen der narrativen und erlebten Zeit nicht durch ‚photo­ graphische Aufnahmen‘. Die Echos aus dem Alltag sind in einer autonomen literar-theologischen Konstruktion eingebettet und verschlüsselt, und lassen sich eher an einer „Tiefstruktur“ des Evangeliums ablesen.294 Die Geschlossenheit der gegnerischen Front im Matthäusevangelium macht die verschiedenen Gruppierungen austauschbar. Sie treten trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte zusammen in die Öffentlichkeit, handeln in Eintracht und bringen auch im Hinblick auf die Gegnerschaft die zwei Großdimensionen der Erzählung  – spannungsvolles Wirken Jesu in Israel bzw. Heilsvermittlung und Passion des autoritären Gottessohnes  – nebeneinander.295 Dies wirkt uniformisierend. Zugleich sorgt die Verknüpfung der Labels für narrative Kohärenz und verhindert, dass Polemik und Passion, Todesbeschluss und Beschlussausführung auseinanderfallen. Trotzdem ist die Nebeneinanderstellung nicht mit Identifizierung zu verwechseln. Die unterschiedlichen Gruppen bilden eine ‚funktionale‘ Einheit, sie treten für die gleiche Sache ein. Die jeweiligen unterschiedlichen Akzentuierungen in

293 Matthäus akzentuiert stark die kultische Seite (vgl. Leroy, Vergebung, 32; Lohmeyer, Mt, 356) vom Blutvergießen für die anderen. Schenk, Sprache, 15, bemerkt wie sehr τὸ αἷμα (ἀθῷον) auf den Todesgedanken bezogen wird (vgl. auch Gundry, Mt, 554; Tilborg, Leaders, 88 f; Senior, Passion Narrative, 255 f; zur möglichen Anspielung auf Jeremia vgl. auch Menken, References, 5–24). Wie die Priester durch den Vollzug der Opfer, so bewirkt der blutige Tod Jesu am Kreuz, der im Abendmahl repräsentiert wird, die Sündenvergebung (vgl. Knöppler, Sühne, 280). Im Lichte von 1,21; 9,6.13; 20,28; 26,28 ist das sogar seine „raison d’être“ (vgl. Powell, Plot, 195); Fiedler, Die Passion, 305: „Die in der Mahlfeier verkündete Sündenvergebung, die durch das Vergießen des Blutes Jesu bewirkt wird, [erscheint] als Einlösung dieser im Namen Jesu stets präsenten Verheißung“. Hingegen bestreitet Strecker, Weg, 181, die Sühnefunktion des Todes Jesu im matthäischen Bericht überhaupt. 294 Zu einer „Text-Tiefstruktur“ als Denomination der Identität eines Sprechers, die sich im Verlauf der Textproduktion explizit manifestiert, vgl. wiederum Schmidt, Text, 21. 295 Markus bietet an Stellen wie Mk 8,31 (vgl. Mt 16,21); 10,33 (vgl. Mt 20,18); 11,18 (vgl. Mt 21,15); 12,13; 14,1.43.53 (vgl. Mt 26,57); 15,1.31 eine günstige und inspirierende Ausgangslage. Bei Mt werden die Hohenpriester z. B. 21,15 in einem polemischen Teil red. hinzugefügt; die Pharisäer werden in 21,45[red.] und 27,62[trad.] mit der Passion in Verbindung gebracht; zu 27,62 vgl. auch oben Anm. 272.

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Lehre und Wirken gibt Matthäus nicht auf, ihr gemeinsamer Widerstand gegen Jesus hält sie aber zusammen: „They are one in opposing Jesus“.296

2.2.2 Gegnerbild nach Wort und Tat Wie schon gezeigt, beeinflussen die Kontroversen um die richtige Toraaus­legung und die Leidensthematik auch die Verteilung der Gegnergruppen. Im Folgenden versuche ich umgekehrt, die Grundzüge der gegnerischen Hauptdarsteller nach ihren Stellungnahmen zu den Brennpunkten der Konfliktgeschichte zu systematisieren – das einflussreiche Wirken Jesu durch Wort und Tat, besonders unter Berücksichtigung der Volksmenge, und schließlich die überlegene aber für die Gegner anstößige und todbringende Autorität des Messias (vgl. dazu 3.1, 3.2 und 3.3). Ihre Schriftkompetenz stellen die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes im Prolog des Evangeliums unter Beweis, als sie ironischerweise297 mit Genauigkeit den Geburtsort des Messias unter Bezug auf die Schrift bestimmen (2,4–6). Jedoch sollte die Authentizität ihrer Expertise schon jetzt Zweifel aufkommen lassen, denn dabei verhelfen sie dem König gegen den Willen Gottes zu handeln. Als Experten des Buchstabens verfehlen sie vollkommen den Geist der Schrift und versagen wegen Ignoranz.298 Unüberbrückbare Unterschiede mit den Opponenten in Bezug auf den Inhalt und die Ausrichtung der eigenen Lehre Jesu kommen dann gleich am Anfang der Bergpredigt vor. Zwei unterschiedliche Lehrangebote stehen sich gegenüber  – Lehre gegen Lehre. Die Schriftgelehrten und die Pharisäer erweisen sich trotz ihrer Beschäftigung mit dem Wort Gottes als zu schwach für den Eintritt ins Himmelreich (5,20). Sie schaffen nicht nur es selber nicht, sondern hindern auch andere daran (23,13) oder machen ihre Proselyten sogar zu Kindern der Hölle (23,15). Den Schriftgelehrten fehlt eindeutig die lehrende ἐξουσία (7,29), die Pharisäer kennen die Schrift überhaupt nicht (vgl. 9,13: πορευθέντες δὲ μάθετε; 12,3: οὐκ ἀνέγνωτε; 12,5[red.]: οὐκ ἀνέγνωτε ἐν τῷ νόμῳ; 12,7: εἰ δὲ ἐγνώκειτε; 19,4[red.]: οὐκ ἀνέγνωτε; vgl. auch 21,16[red.].42 zu den Pharisäer und Hohenpriester) oder übertreten sie bewusst (15,3[red.]: παραβαίνετε; 296 Davies / Allison, Mt III, 221. 297 Howell, Matthew, 240; Nolland, Mt, 112: „Their inactivity […] may imply criticism“; Patte, Mt, 35. 298 Vgl. Orton, Scribe, 161 („lacking understanding“); Olmstead, Trilogy, 65: „As experts in the Scriptures, the Jewish leaders none the less remain blind to their true significance“; Konradt, Erfüllung, 146; Bauer, Structure, 71: „This false understanding of the will of God leads to legislative hair-splitting […] and an emphasis upon minor concerns with a lack of attention to the most significant demands (23,23–24)“; vgl. auch Yieh, Teacher, 57; Bornkamm, Enderwartung, 22; zum Kontrast in Bezug auf die Tora-(In)Kompetenz vgl. Freyne, Vilifying, 119–123; Carter, Storyteller, 231 f; Konradt, Israel, 149: „Der Vorwurf der Schriftunkenntnis durchzieht die Auseinandersetzung […] wie ein roter Faden“; Powell, Do and Keep, 433.

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Mk 7,8 liest ἀφέντες). Dies gilt auch allein für die Sadduzäer (22,29: μὴ εἰδότες τὰς γραφὰς … τοῦ θεοῦ), ausgerechnet in einer ihrer Herzensangelegenheiten.299 Vor ihrer Lehre und derjenige der Pharisäer müssen sich die Jünger in Acht nehmen (16,12), „d’une autre manière cette mentalité sera mortelle pour Jésus lui-même“.300 Auch die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes spielen in ihrer Frage nach der ἐξουσία bei Matthäus eindeutig auf die Lehrtätigkeit Jesu (21,23[red.]: διδάσκοντι) an und dieselben ergreifen die ersten konkreten Maßnahmen gegen ihn ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς πάντας τοὺς λόγους τούτους (26,1–5).301 Der Kreis derer, die an der Lehre Jesu Anstoß nehmen, wird also redaktionell auch um die Jerusalemer Tempelhüter erweitert. Das ganze Spektrum der Gegnerschaft kommt in einer oder einer anderen Weise Punkto Lehre zu Wort. Auch die Sorge um die Gesinnung des Volkes beschäftigt wiederholt die zerstreuten Autoritäten. Matthäus arbeitet diesen Aspekt viel besser aus.302 Damit die jüdischen Volksmengen nicht von ihrer Linie abweichen, werden ihnen von den verschiedensten Gruppierungen als Mittel gegen die Anziehungskraft, die Jesus ausübt, irreführende Erklärungen angeboten. Für die Schriftgelehrten (9,3.8), Pharisäer (9,33 f; 12,13 f), Hohenpriester und Schriftgelehrten (21,15 f), Hohenpriester und Pharisäer (21,45) sowie für die Hohenpriester und Ältesten (des Volkes) (21,23.26; 26,3–5; 27,20), ist die positive Einstellung des sie umgebenden Volks gegenüber Jesu ein ernstzunehmender Unruhefaktor. Die ihnen unpassende Lage motiviert, ja zwingt sie zur Handlung, auch wenn ihre schein­baren Erfolge sie noch tiefer in Selbstwidersprüche verwickeln. Was die messianische Autorität Jesu anbelangt, beschränke ich mich hier lediglich auf einige Stellen; detaillierter habe ich das angespannte Verhältnis an verschiedenen anderen Stellen behandelt. Ob durch die Zeichenforderung (12,38: τινες τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων; 16,1: οἱ Φαρισαῖοι καὶ Σαδδουκαῖοι) oder durch die Fehlattribution der Wundertätigkeit (9,34; 12,24: οἱ Φαρισαῖοι) und Infragestellung seiner ἐξουσία (9,3: οἱ γραμματεῖς; 21,23: οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ πρεσβύτεροι τοῦ λαοῦ), oder durch direkte Bekämpfung seines messianischen Auftritts (21,15: οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ γραμματεῖς; 26,65: ὁ ἀρχιερεύς) versuchen die Autoritäten einhellig, unabhängig von ihrer ‚ideologischen‘ Farbe, die Mission Jesu von Anfang bis zum Ende der Geschichte zu erschweren. Der Konflikt ist in allen seinen Schichten christologisch gefärbt, Christus wird mit allen 299 Vgl. Josephus, Bell II 165; Ant XVIII 16; Act 23,8; vgl. dazu Saldarini, Matthew, 56. Die thematische Verbindung musste Matthäus wie Mk 12,18 beibehalten, ansonsten wäre „die Pointe beseitigt worden“ (Baumbach, Sadduzäerverständnis, 31). 300 Hoet, Omnes, 55. 301 Vgl. auch Gielen, Passionserzählung, 37: „Sachgemäß fügt Mt daher hier ein ‚alle‘ ein und ruft dadurch noch einmal kurz alle fünf Redekompositionen seiner Jesusgeschichte in Erinnerung“. 302 Dazu vgl. ausführlicher 3.1.1.3.

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Mitteln, ausnahmslos von allen Parteien, bis zum Tode verfolgt. Der polemische Teil enthält bei Matthäus, viel deutlicher als bei den Seitenreferenten, einen Vorgeschmack des Leidens und des Todes. In zwei Hinsichten wird die Passion verstärkt vorweggenommen: Die Entschlossenheit der Gegner, Jesus zu töten, ist ausgeprägter und die Fähigkeit Jesu, seinen eigenen Tod zu antizipieren und soteriologisch, aber auch ekklesiologisch, zu deuten, tritt stärker zutage. Zahlreiche narrative Signale und wiederholten und typisch formulierten Todesbeschlüsse und Leidensankündigungen fungieren wie eine Art ‚Passion vor der Passion‘. Das Leben Jesu steht bei Matthäus von Anfang an unter dem Zeichen des Todes. Leiden und Tod werden in den Gottesplan hineingeholt und zu Grundzügen der messianischen Biographie gemacht. Der Messias muss sterben!303 Der Zusammenhang liegt schon bei Markus vor: Die erste Leidensankün­digung 16,21 // Mk  8,31 bringt das gewaltsame Ende in Verbindung mit dem unveränderlichen Willen Gottes  – δεῖ (vgl. auch Mt  26,54[red.]);304 in der Passionsgeschichte selbst sehen beide diese Angelegenheit schon in der Schrift begründet 26,24 // Mk 14,21: καθὼς γέγραπται περὶ αὐτοῦ. Doch wird in einer Reihe von redaktionellen Eingriffen dieser Aspekt bei Matthäus stärker untermauert und erweitert:305 17,12 υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου μέλλει306 πάσχειν; 17,22 μέλλει ὁ υἱὸς τοῦ

303 Wie Senior, Passion, 18, ausdrückt: „The death and triumph of Jesus are not an unexpected or arbitrary ending to the Gospel drama but its inner core“; auch Gurtner, Torn Veil, 130 („expected and necessary“); Strecker, Weg, 183: „Der Gehorsam Jesu [ist] wesentlicher Anlass zur typologischen Interpretation seines Leidens“; McConnell, Law, 134 („the absolute necessity of Jesus passion“). 304 Δεῖ ist bei Matthäus mit der Schrifterfüllung verbunden, vgl., Davies / Allison, Mt II, 656; Hagner, Mt II, 479; France, Mt, 631; Senior, Passion Narrative, 147 f. Δεῖ und γέγραπται sind Synonyme „but only in the sense that they are both circumlocutions of ‚God wills it‘“ (Bennet, Son of Man, 128; ebenfalls dort zum apokalyptischen Hintergrund von δεῖ). Ähnliches wird auch mit ἤγγικεν ἡ ὥρα (26,45) ausgedrückt: ὥρα steht für das unausweichliche Moment des Todes (Joh 5,25; 12,23; 2Bar 36,9; TestAbr 20,2), hat aber auch eine eschatologische Bedeutung wie auch in 24,36.44.50; 25,13, Röm 13,11; 1Joh 2,18 usw. (vgl. Davies / Allison, Mt III, 501). 305 Vgl. dazu auch Carter, Storyteller, 212 f; France, Mt, 631 f; auch Nolland, Mt, 820; Frankemölle, Mt II, 438; Fiedler, Mt, 291,383; Gerhardsson, Jésus livré, 211; Senior, Lure, 108–109. Powell, Plot, 194, spricht von „predictions“ (16,21; 17,22–23; 20,17–19), „allusions“ (9,15; 17,9–12) und „foreshadowings“ (2,16–18; 14,1–12; 17,12). Zu ihren Gemeinsamkeiten und zu ihrer Rolle für die Charakterisierung der Autoritäten „even before those events occur“ vgl. Anderson, Matthew, 110 f. Allison, Kap.  11: „Foreshadowing the Passion“, in: Ders., Studies, 217–235, zählt auch 5,38–42; 10,17–23; 14,1–12; 17,1–8 und 20,20–23 dazu. 306 Zur μέλλειν bei Matthäus als Ausdruck für die „im göttlichen Ratschluss begründete Notwendigkeit eines Geschehens“ vgl. auch Radl, Art. μέλλω, 994; Bauer / Aland, Wörterbuch, Kol. 1016; France, Mt, 663, Anm. 2 – das Verb bezeichne „what must happen, what is intended or destined“. Zur matthäischen Präferenz für μέλλειν vgl. Thompson, Matthew, 32, Anm. 22; zu δεῖ und μέλλει in der synoptischen Tradition vgl. Bayer, Jesus, 201–205.

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ἀνθρώπου παραδίδοσθαι, vgl. Mk 9,31;307 hinblickend auf die Passion fügt Matthäus in 20,22 wiederum das Moment der Notwendigkeit ein (τὸ ποτήριον ὃ ἐγὼ μέλλω πίνειν // Mk 10,38: τὸ ποτήριον ὃ ἐγὼ πίνω) und bringt schließlich selbstständig in 26,54 das Leiden als Erfüllung der Schrift nochmals ins Spiel (vgl. auch die Ankündigung während des Abendmahls Mt 26,31 // Mk 14,27: γέγραπται). Besonders nach dem Petrusbekenntnis wird das Leiden christologisch reflektiert, indem Jesus selbst beginnt, prophetisch über seinen bevorstehenden Tod zu sprechen.308 Die Gottessohnschaft ist ein Attribut, das in der matthäisch theologischen Sinnbildung mit dem Tod aufs Engste verbunden ist, und taucht deswegen vermehrt in der Passionsgeschichte auf.309 Die göttliche Vorbestimmung seines Todes entlastet aber keineswegs seine Ankläger und Feinde (vgl. 26,24). Vielmehr ist schon die erste Leidensankündigung bei Matthäus deutlich mehr als Vorwegnahme, nämlich auch als Schuldzuweisung, aufzufassen. In Mt 16,21 (vgl. auch Mk 8,31 // Lk 9,22) bringt Matthäus das Leiden (πάσχω) in direkte Verbindung mit den Autoritäten. Sie tragen im Endeffekt die Verantwortung für den hier angekündigten Tod. Bestätigt wird diese Annahme in 17,10–13, indem Matthäus die markinische Vorlage (Mk 9,11–13) über das gemeinsame gewaltsame Geschick Jesu und des Täufers (der Täufer wird in Mk 9,13 nur angedeutet, Mt 17,13 nennt ihn beim Namen) stark bearbeitet. Da οἱ γραμματεῖς im Vorfeld (Mt 17,10 // Mk 9,11) schon eingeführt wurden, sollte ihnen der red. Zusatz in 17,12: μέλλει πάσχειν ὑπ’ αὐτῶν gelten.310 Ein weiteres Argument für diese Identifikation der Täter ist die red. Erweiterung: καὶ οὐκ ἐπέγνωσαν αὐτόν. Erkennen könnten hier nur derjenigen, die aufgrund ihrer Gelehrsamkeit die Abfolge der Ereignisse im Voraus kannten. Das Verb bezieht sich demnach offensichtlich auf die Schriftgelehrten. Anders bei Mk 9,13, wo nur die buchstäbliche Bestätigung der Schrift vermerkt wird, die Handlungsträger aber unbestimmt bleiben. Matthäus ergänzt schließlich kurz vor der sich anbahnenden Passion die Zahl der Leidensankündigungen um eine weitere (26,1–2);311 die Hohenpriester und 307 Matthäus hat an dieser Stelle dieselbe Lesart wie Lk 9,44: μέλλει + Inf., wodurch die Möglichkeit einer gemeinsamen Tradition eröffnet wird (Bayer, Jesus, 193 f). 308 Vgl. Gibbs, Jerusalem, 106 f; vgl. dazu auch weiter S. 336 f. 309 Zu diesem Aspekt siehe 3.3.2. 310 Im Hinblick auf den unmittelbaren Kontext ist hier eine Partikularisierung der Schuld (Nolland, Mt, 709; Patte, Mt, 239; Tilborg, Leaders, 110 f) wahrscheinlicher als „a sense of generalized opposition“ (France, Mt, 655); Davies / Allison, Mt II, 716 („the identity of the subjects is not specified“). 311 In dieser Weise wird der ganze Passionsbericht zu einem „record of a fulfillment“ (Gundry, Mt, 517) und der Plan wird trotz der besorgten (26,5: ἵνα μὴ θόρυβος γένηται) Autoritäten am Festtag verwirklicht werden. Nur Gott kann den „Todestermin Jesu“ (vgl. 16,18[red.]: ὁ καιρός μου) bestimmen (vgl. Wiefel, Mt, 442; Patte, Mt, 357; Meier, Vison, 181; G ­ ielen, Passionserzählung, 38; Fiedler, Passion, 302: „Die Datumsangabe [wird] zum Erweis des Vorauswissens der Passion“; Senior, Passion, 19: „It is this words which set in motion the events that are to follow“; Heil, Death, 18: „The Jewish authorities play their roles as Jesus has predicted“).

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die Schriftgelehrten schreiten hier unmittelbar ein (26,3–4), nachdem sie auch in der letzten synoptischen Leidensankündigung (Mt 20,18 // Mk 10,33) als Hauptakteure angegeben wurden. Die Autoritäten beschließen wiederholt den Tod Jesu; dies macht ihre Handlung im Verlauf des Evangeliums zu einem ritualisiertem Todesbeschluss. Schon die Kindheitsgeschichte verzeichnet den ersten Versuch der Autoritäten (2,4: οἱ ἀρχιερεῖς καὶ γραμματεῖς τοῦ λαοῦ), den Messias zu beseitigen. Ihr Ver­halten definiert an dieser Stelle in der Ursprungsgeschichte eine Grundtendenz,312 die auch weiter im ständigen Trachten, den nun erwachsenen Jesu um jeden Preis zu gefährden, Niederschlag findet.313 Ihr musterhaftes Zusammenkommen (2,4: συνάγω) wird im Laufe der Geschichte oft wiederholt und lässt jedes Mal eine Bedrohung für Jesus ausgehen.314 Sinnverwandt ist auch ihre ‚offizielle‘ Tätigkeit, immer wieder Beschlüsse zu fassen (συμβούλιον λαμβάνω), mit der Absicht Jesus eine Falle zu stellen, ihn umzubringen oder seiner Auferstehung entgegenzuwirken. Dies tun die Pharisäer (12,14315; 22,15[red.]), wie auch ihre Verbündeten, die Hohenpriester und Ältesten (des Volkes) (26,4[red.]: συμβουλεύω; 27,1; 28,12[trad.]). 312 Man kann die Episode als „character-shaping incident“ bezeichnen (Edwards, Characterisation, 1310); in Bezug auf diese Stelle vgl. Bauer, Structure, 66: „This segment is paradigmatic for Matthew’s presentation of the enemies of Jesus“; Garbe, Hirte, 30 (eine Konstellation, „die den ganzen weiteren Verlauf des MtEv prägen wird“); Howell, Matthew, 119. 313 Abgesehen von Hauptverben wie ἀποκτείνω (16,21; 17,23; 21,38.39; 26,4) und θανατόω (26,59; 27,1[red.]) ist der Sachverhalt mit einem ganzen Netz von Ausdrücken umschrieben, das Matthäus teilweise auch ausbaut: zu ζητέω vgl. S. 62; σταυρόω in 20,19[red.]; 26,2[red.]; 27,22.23.26.31.35.38; 28.5; κατακρίνω in 20,18; 27,3[trad.]; κρατέω in 26,4.48.50.55.57[red.]; παραδίδωμι in 10,4; 17,22; 20,18.19; 26,2[red.].15.16.21.23[red.].24.25[red.].45.46.48; 27,2.3 [trad.].4[trad.].18.26. Typisch für Matthäus ist die bewusst konstruierte Gegenwartsbezogenheit derselben Begriffe: Als Christ wird man dasselbe Geschick wie der Herr erleiden müssen. Das Selbstverständnis der matthäischen Gemeinde als gefährdete und verfolgte Gruppe in Israel trägt daher deutliche christologische Züge; vgl. dazu 4.2.3.2. 314 Wie im Fall der Pharisäer in 22,34.41; der Hohenpriester und Ältesten (des Volkes) in 26,3; 28,12; der Schriftgelehrten und Ältesten in 26,57; der Hohenpriester und Pharisäer in 27,63. 315 Die Meinung, dass in diesem anfänglichen Stadium der Konfliktgeschichte wegen der fehlenden Vorbereitung kein Todesbeschluss vorliegen kann, sondern nur ein Versuch, Jesus „als Lehrer auszuschalten“ (Feneberg, Erwählung, 234, 239; ähnlich auch Nolland, Mt, 489), muss abgelehnt werden. Die Absicht der totalen Vernichtung Jesu schon in dieser frühen Konfliktphase sehen hier auch Garbe, Hirte, 57 f; Stemberger, Pharisäer, 27; Anderson,­ Matthew, 111, Anm. 2; Carter, Storyteller, 234. Luz, Mt II, 240, urteilt, dass „der Todesschluss der Pharisäer endgültig ist“, und sieht hier einen direkten Vorverweis auf die Passion. Das Verb ἀπόλλυμι wird auch an zwei anderen wichtigen Stellen mit derselben Bedeutung verwendet: in 2,13[trad.] in Bezug auf Herodes und in 27,20[red.] in Bezug auf die Hohenpriester und die Ältesten; außerdem ist ἀναχωρέω (12,15) auch sonst mit Todesgefahr verbunden (2,12.13.14.22; 4,12; 14,13, vgl. dazu auch Good, ΑΝΑΧΩΡΕΩ, 1–12; Gundry, Mt, 228; Metzner, Rückzug, 262). Dieser Beschluss mag den Lesern sogar „biblisch konsequent“ (Frankemölle, Mt II, 136) erscheinen (vgl. Ex 31,14; Num 15,32–36), Jesus treibt aber mit seiner Gegenfrage die Pharisäer in die Enge und macht ihre ‚Gelehrsamkeit‘ zunichte.

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Bemerkenswert sind bei Matthäus das enge Verhältnis Beschluss – Tötungsgedanke,316 die große Erregung der Gegner und ihre plötzliche, aber konsequente Tötungsbereitschaft. Die unterschiedlichsten Gründe können als Auslöser dienen: Zuerst hat eine Heilung am Sabbat bei den Pharisäern (12,14), dann das Gleichnis über die bösen Winzer, in welchen sich die Hohenpriester und Pharisäer erkennen (21,45 f), diesen Gedanken ausgelöst; nach der allerletzten Rede Jesu und als unmittelbare Bestätigung seiner Prophezeiung (26,4) tun die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes wieder das Gleiche. Der Kulminationspunkt wird im Prozess vor dem Hohen Rat erreicht. Die Tötungsabsicht ist bei Matthäus besonders profiliert, er lässt die Hohenpriester und den Hohen Rat von Anfang an nach einem falschen Zeugnis suchen (Mt 26,59[red.]: ἐζήτουν)317 und am Ende des Verhörs sind ebenfalls sie die­jenigen, die Jesus ins Angesicht spucken (τότε ἐνέπτυσαν in V. 67 bezieht sich auf die Agenten in V. 66; anders Mk 14,65, der unbestimmt τινες dafür verantwortlich macht).318 Das Kernereignis macht aber das letzte Wort des Kaiphas aus. Nachdem er ironischerweise selbst durch die Beschwörung κατὰ τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος und durch die Formulierung der Anklage – εἰ σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ –, das Bekenntnis des Petrus buchstäblich aufnimmt,319 verkündet er das Todesurteil (26,63–66). Der Neid (27,18) der Autoritäten verwandelt sich in Todeswahn. Als ob es nicht genügt hätte, entscheiden sie in 27,1[red.] (θανατόω) erneut Jesus hinrichten zu lassen.320 Sie verklagen ihn demzufolge (27,12) und hetzen die Volksmenge gegen ihn auf (27,20[red.]: ἀπόλλυμι). Die iterativen Todesbeschlüsse der verschiedenen Gegnergruppen muten stark ‚ritualistisch‘ an. Sie helfen sich gegenseitig auf die Sprünge, übernehmen voneinander die Initiative und treiben die Geschichte mit zusammengesetzten Kräften in dieselbe Richtung. Durch solche Wiederholungen wirkt ihr boshafter kol­lektiver Charakter fest und stabil wie in Stein gemeißelt. Ihre koordinierten Handlungen und vor allem die unifizierende, gemeinsam geteilte Jesus-Feind 316 Der Zusammenhang entsteht zusätzlich durch eindeutige red. Arbeit in: 26,4 συμβουλεύω + ἀποκτείνω // Mk 14,1 ζητέω + ἀποκτείνω; 27,1 συμβούλιον λαμβάνω + θανατόω // Mk 15,1 συμβούλιον ποιέω + ---; auch 22,15[red.] ist relevant: Die Fangfrage der Pharisäer zielt auf die Tötung Jesu – παγιδεύω (vgl. 1Sam 28,9 und Koh 9,12 an beiden Stellen ist das Verb mit dem Tod verbunden); viel harmloser wirken Lk 20,20 ἐπιλαμβάνομαι und Mk 12,13 ἀγρεύω. 317 Vgl. Tilborg, Leaders, 78: „they have broken the Decalogue“; Broer, Prozess, 89 f: „Dem Synedrium ging es um den Tod Jesu – koste es, was es wolle“ (90). 318 Vgl. auch Kraus, Passion, 415; Harrington, Mt, 383; Tilborg, Leaders, 81. 319 Matera, Passion, 100 f; Senior, Passion, 175; Anderson, Matthew, 126; Brown,­ Death, Bd. 1, 465; Gielen, Passionserzählung, 130; Nolland, Mt, 1129; Broer, Prozess, 93; Moberly, Jesus, 217: „The trial scene is thus an ironic counterpart to Peter’s confession“. Noch mehr lässt der durch εἶ eingeleitete Satz (vgl. 4,3.6) auch den Aspekt der Versuchung anklingen (vgl. Holtz, Herrscher, 125; Kraus, Passion, 424). 320 Vgl. auch Kraus, Passion, 415: „Im Unterschied zu Markus wird nicht nur beschlossen, Jesus auszuliefern, sondern Jesus töten zu lassen“.

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schaft lässt sie trotz der sonst beibehaltenen Unterschiede sehr nahe aneinander rücken. In dieser Hinsicht bilden sie eine einheitliche und fast undifferenzierte, feindliche Kohorte,321 die unentwegt um dieselben bösen Absichten kreist. Wie weiter zu zeigen bleibt, entstehen aus dem matthäisch komplexen narrativen Netz mit flexiblen, sogar ‚flüssigen‘ Charakteren, aber mit starren, stereotypisierten Intentionen und Handlungsweisen ausgeprägte, pauschalisierende Gegnerbilder, hinter denen die verschiedenen individuellen Eigenschaften sich leicht zu Prototypen bündeln lassen. Für die Textrezipienten sollte dieses düstere Bild jedoch nicht unbedingt angsteinflößend gewirkt haben. Ein restlos negatives Gegnerbild verstärkt die Zuversicht, dass man auf der guten Seite steht; ihre geballte, aber im Endeffekt wirkungslose Bosheit, entlarvt auch ihre strukturelle Schwäche. Sie konnten nicht verhindern, dass Jesus seinen göttlichen Auftrag erfüllt, sondern sie trugen selbst durch ihre Feindseligkeit dazu bei.322 So entbehrt auch ihrem Überfall gegen die Gemeinde jeder Legitimität und Effektivität.

2.2.3 Πονηρία als Grundmerkmal der Gegner Der Grundtenor der Gegnerdarstellung im Matthäusevangelium jenseits der zahlreichen Details wird hier noch erörtert und schließlich aus sozialpsychologischer und soziolinguistischer Sicht beleuchtet. Grundlegende kognitive Mechanismen beeinflussen und verzerren die Wahrnehmung der Opponenten. Das Resultat hat mit der objektiven Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun, ist aber ein authentischer Zeuge der erlebten Wirklichkeit und der darin involvierten, psychologischen Kräfte. Sie unter dem dichten Textmaterial zu verorten und auf-

321 Sehr oft als Hauptmerkmal der Gegnerdarstellung bei Mt erkannt: Kingsbury, Conflict, 58 („monolithic front“); Ders., Story, 115; Walker, Heilsgeschichte, 13 („homogene Einheit“); Trilling, Israel, 91; Freyne, Vilifying, 132: „The tendency seems to be to tar all the different groups with the same brush while nevertheless retaining some sense of their variety“; Zumstein, La condition, 65; Hummel, Auseinandersetzung, 20; Garbe, Hirte, 53; Tilborg,­ Leaders, 1, 6; Anderson, Matthew, 98 („no sharp distinctions“); Howell, Matthew, 236; Garland, Intention, 44 f; Poplutz, Welt, 78: „Matthäus verzichtet weitgehend auf innere Differenzierungen zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen“; Carter, Storyteller, 229; Gielen, Konflikt, 414: Matthäus bemüht sich „die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen […] religiösen und politischen Autoritäten Israels dramaturgisch ebenso wirkungsvoll darzubieten wie ihre sich über alle Unterschiede hinwegsetzende Kooperation im Dienst des gemeinsamen Ziels, Jesus zu beseitigen“; Duling, Brotherhood, 167; Hoet, Omnes, 48; Franke­mölle, Pharisäismus, 137 („Tendenz der Typisierung und plakativen Vereinheit­ lichung der theologisch unterschiedlichen Gesprächspartner Jesu“); Davies, Stereotyping, 428; Reinbold, Matthäusevangelium, 59; Overman, Matthew, 142: „they are essentially the same“. 322 Vgl. auch Powell, Plot, 200: „The religious leaders of Israel hinder the accomplishment of the first part of God’s plan but then, ironically, assist in the accomplishment of the second part“.

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zudecken, heißt, ein Stück des genuinen und dynamischen Innenlebens der matthäischen Gemeinde freizulegen. Die Gegner haben bei Matthäus durch und durch nur negative Eigenschaften, er gewährt ihnen keine freundlichen Charakterzüge, wie es manchmal seine Seitenreferenten tun.323 Durch eine typisch pauschalisierende Sprache und konsequente Wiederholungen324 verwandelt er seine Feinde in boshafte Wesen, deren einzige Absicht nur zu sein scheint, Jesus rücksichtslos und hinterhältig außer Gefecht zu setzen. Die Ähnlichkeiten mit dem Teufel aus der Versuchungsgeschichte sind auffällig und Teil der polemischen Strategie.325 Es scheint, dass die matthäische Konfliktgeschichte dort nicht nur präludiert wird, sondern, dass sie aus diesem ursprünglichen, mythologischen Versuch Jesus zu Fall zu bringen, ihre erneuerbare Treibkraft, bis hin in den Passionsbericht,326 erhält. Ist der Ursprung Jesu durch den Geist Gottes gewirkt, so sind seine Gegner offensichtlich nicht vom selben Geist getrieben, denn der Teufel spricht dieselbe Sprache wie die gängigen Feinde Jesu. Der Teufel ist ihr Portparole in der direkten Konfrontation. Ihrerseits schlüpfen sie im Laufe der Geschichte in die Rolle des Versuchers. Das Grundmerkmal und die Wurzel aller anderen Eigenschaften der Jesusfeinde ist ihre Bosheit.327 Schon bei der ersten Begegnung Jesu mit den Schrift 323 Wie in Lk 7,36; 14,1; 13,31; Mk 12,28; auch Joh 3,1 ff; Act 15,5. Vgl. Stanton, Gospel, 127; Russell, Image, 442: „No account is taken of any Pharisees that might be sympathetic“; Carter, Storyteller, 240: „They have no redeeming traits“; Konradt, Israel, 147: „Das Bild, das Matthäus von den Autoritäten zeichnet, ist ohne jegliche Aufhellungen“; Przybylski, Setting, 187–190. 324 Anderson, Matthew, 102: „Particularly interesting is the way in which general statements about wicked behavior or attitudes early in the Gospel are specifically applied to the Jewish leaders later in the Gospel“. Zu Wiederholungen im Mt vgl. auch Howell, Matthew, 256. 325 An einigen Beispielen kann man den Parallelismus veranschaulichen: überlegene Torakompetenz (4,4.7.10 = 9,13; 12,7; 15,3–9); Autoritätskonflikt (4,9 = 7,29; 9,6–8); Versuchung (4,1.3 = 16,1; 19,3; 22,15.18.35); Verlangen nach einem Zeichen (4,3.6 = 12,38; 16,1; 27,39–43); die (konditionale)  Frage nach der Gottessohnschaft (4,3.6 = 26,63; 27,40); die Bosheit (4,1; 13,19.38.25[ὁ ἐχθρός].39[ὁ ἐχθρὸς; ὁ διάβολος] = 9,4; 12,34.39.45; 13,38[οἱ υἱοὶ τοῦ πονηροῦ]; 23,15[υἱὸς γεέννης]; 16,4; 22,18). Vgl. auch Kingsbury, Story, 19: „Satan is the evil one with whom they have affinity“; Poplutz, Welt, 126: Die Autoritäten „partizipieren“ an der Bosheit Satans (13,38 f); Olmstead, Trilogy, 66: „This narrative highlights the ties between Jesus’ Jewish opponents and Satan“; Anderson, Matthew, 104, 116 f; Bauer, Structure, 69; Powell, Plot, 201 f; Ders., Narrative Criticism, 49; Carter, Margins, 112 („the uniting of the devil with the political and religious leaders“); Sim, Strategies, 492, 494; Ders., Gospel, 117. 326 Die Frage des Hohenpriesters nimmt die Frage des Teufels auf: εἰ σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ. „Die Beziehungen zur Passionsgeschichte sind mit Händen zu greifen“ (Wilkens, Versuchung, 487; Konradt, Israel, 323 f – der Ausdruck im Munde des Teufels ist „Vorausweis auf die Passion“; vgl. auch Branden, Satanic Conflict, 56; Howell, Matthew, 125 f. 327 Vgl. vor allem Tilborg, Leaders, 27–38; 38: „The jewish leader ist the prototype of the wicked man“; Kingsbury, Story, 19 („root trait“); Ders., Developing, 60; Konradt, Israel, 147 f; Poplutz, Welt, 125; Repschinski, Stories, 324; Baumbach, Verständnis, 85 f; Garbe, Hirte, 55; Powell, Literary, 68: „In a nutshell, they are ‚evil‘“.

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gelehrten verleiht Matthäus (9,4; vgl. Mk  2,8) ihrer Grundeinstellung ein eindeutiges und von nun an auch für ihre Gefährten unverwechselbares Kolorit: Jesus erkennt ihre bösen (πονηρὰ ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν328) Gedanken, die sie aufgrund seiner Worte zu dem Gelähmten haben. An der folgenden relevanten Stelle werden die Pharisäer (12,24; Mk 3,22: οἱ γραμματεῖς) eingeführt; der lange Monolog Jesu wird von ihren wiederum verborgenen, aber von Jesus durchschauten Gedanken ausgelöst (12,25[red.]: εἰδὼς δὲ τὰς ἐνθυμήσεις αὐτῶν; vgl. auch 9,4) und kulminiert in einer harschen und deutlich ausgebauten Charakterisierung. Die ‚Baum-Frucht‘-Metapher,329 die in einfacher Sprache auf die Tiefendimension des menschlichen Handelns (vgl. die Anhäufung der anthropologischen Begriffe: καρδία in 12,34.35) hinweist, hat Matthäus vorgefunden (Q 6,43–45) und schon in 7,16–20 polemisch eingesetzt. Einige sprachlichen Auffälligkeiten in Bezug auf die syntaktische Konstruktion der καρπός-Sätze330 verdienen aber hier eine genauere Betrachtung. Erstens gewinnt Q 6,43 seine Pointe durch Kontrast  – οὐ γάρ ἐστιν δένδρον καλὸν ποιοῦν καρπὸν σαπρόν; Mt 7,17.18; 12,33 betont hingegen, dass ein fauler Baum als natürliche („by the law of nature“)331 Konsequenz immer (vgl. 7,17: πᾶν) eine analoge faule Frucht hervorbringt. In 12,33 nimmt Matthäus sogar im Gegenüber zu 7,17 f eine weitere Veränderung vor: In Q 6,43, wie auch in Mt  7,17.18 wird das Verhältnis δένδρον – καρπός durch das finite Verb ποιέω ausgedrückt; mit der elliptischen Konstruktion – τὸ δένδρον σαπρὸν καὶ τὸν καρπὸν αὐτοῦ σαπρόν – wird nun auch das indefinite Moment des ‚Seins‘ ins Spiel gebracht.332 Eine weitere, signifikante Ergänzung zeigt eindeutig, worauf die matthäische Intention hinausläuft: 328 Dupont, Le paralytique, 946: „Le souci d’ être bref n’ empêche pas Matthieu de qualifier moralement les pensées des assistants“. Hier geht es mit Sicherheit um mehr als „the usual claim that all humans are evil or sinful“, wie z. B. in 15,19; die religiösen Autoritäten werden mit dem Teufel assoziiert (Carter, Margins, 275: „inner evil character“). Vgl. auch Hummel, Ausein­ andersetzung, 37; Sand, Gesetz, 65 („im Kern schlechtes Verhalten“). Das prophetische Vorbild ist eindeutig, vgl. Nah 1,11; Jes 7,5; Ez 11,2 zu ‚bösen Absichten‘; Jer 3,17; 16,12; 18,12; 1Bar 1,22; 2,8 zu ‚bösen Herzen‘; Tilborg, Leaders, 37: „πονηρία of the Jewish leaders is not a thesis which has to be aproved, but it is a presupposition underlying all his thoughts“. 329 Dieses Bildwort fügt Matthäus hier absichtlich in die Polemik gegen die Pharisäer ein (vgl. Bultmann, Geschichte, 55; Schulz, Q, 316, Anm. 414). 330 Zur alttestamentlichen ‚Frucht‘-Metaphorik siehe Jes  3,10; Jer 17,10; 21,14; 32,19; Hos 10,13; Sir 27,6. 331 Verseput, Rejection, 244. 332 Die Form ε῏σται wird an dieser Stelle elidiert, vgl. Blass / Debrunner, Grammatik, 106 (§ 1285). Zur Ellipse als Stilmittel vgl. Bullinger, Figures, 4: „The omission of words or terms which must be supplied only from the nature of the subject“. Der Aspekt wird bei der Analyse dieser Stelle kaum berücksichtigt; vgl. jedoch Wiefel, Mt, 461 („wesensmäßig zugehörigen“ Früchte); Steinhauser, Doppelbildworte, 314: „Das Logion Mt  12,33a spricht […] von der Beschaffenheit des Baumes“. Das ursprünglich finite Verb wird zu einer formelhaften Wendung ποιήσατε („nehmt an, haltet für“) und hat mit „a summons to the Pharisees to repent“ (Charette, Theme, 129) nichts zu tun.

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Dem Schimpfwort γεννήματα ἐχιδνῶν333 in 12,34 folgt die redaktionelle Charakterisierung der Pharisäer als wesenhaft334 böse – πονηροὶ ὄντες. Verdichtet wird diese Tendenz in der nominalen335 Form πονηρία (22,18[red.]) – für Matthäus an einigen Stellen eine ‚genetisch‘ verwurzelte Eigenschaft, wie den Worten über γενεὰ336 πονηρά: 12,39.45[red.]; 16,4 (vgl. Mk 8,12; Q 11,29) entnommen werden kann. Der Gebrauch von γενεά und die Reichweite seiner Bedeutung337 ist mit dem umstrittenen Problem der Verwerfung Israels verbunden.338 Das Augenmerk gilt hier vor allem der Verwendung zur Charakterisierung der Gegnergruppen. Gefragt wird deswegen, inwieweit das Wort eine ‚ContainerKategorie‘, d. h. ein Oberbegriff für dazugehörende Menschen (von einer zahlbegrenzten Gruppe bis zu einer Generation) oder eine Wesensbezeichnung ist.339 Die attributiv determinierte Wendung γενεὰ πονηρά (erweitert um μοιχαλίς340) 333 Angesichts der pharisäischen Disqualifizierung aus 12,24 liegt hier eine Gegenattacke von der Seite Jesu vor. „The logic seems to be that their accusation against Jesus reaveals them as being evil“ (Repschinski, Stories, 130; vgl. auch Hummel, Auseinandersetzung, 127: „Matthäus gibt ihn [den Vorwurf] zurück“; auch Gielen, Konflikt, 132). 334 Vgl. auch Gielen, Konflikt, 132 („‚ontische‘ Qualität“); Fiedler, Mt, 256, Anm.  74: „Für die Bosheit werden sie ‚natürlich‘ verantwortlich gemacht“; Verseput, Rejection, 245 („destructive and evil nature“); Hummel, Auseinandersetzung, 126 („grundsätzlich böse“); allgemein zum Gegnerbild Saldarini, Matthew, 47: „assigning it [the other group] a lower ontological status“. 335 Tilborg, Leaders, 27, macht besonders darauf aufmerksam: „Mt accentuates in a special way the substantival use of the word“; vgl. auch Baumbach, Verständnis, 56: „Die Besonderheit des matthäischen Sprachgebrauchs von πονηρία dürfte in dieser substantivischen Verwendung zu erblicken sein“; Gielen, Konflikt, 248; Branden, Satanic Conflict, 68. 336 Der vielfältige Begriff γενεά (vgl. Bauer / Aland, Wörteruch, Kol. 308) dürfte in 11,16; 17,17; 24,34 kontextgemäß bestimmte menschliche Gruppen bzw. allgemein die zeitgenössische Generation, und nicht das ganze Geschlecht Israels, bezeichnen (vgl. Luz, Mt II, 187 f; Konradt, Israel, 225, Anm. 220). 337 Angenommen, dass Mt 12,38–42 dem Q-Bericht näher steht (Edwards, Sign, 102 f; Luz, Mt II, 273; Bayer, Jesus, 119 f), hat Matthäus selbst den Kreis der Adressaten auf die Schrift­ gelehrten und Pharisäer eingeengt. 338 Vgl. Konradt, Israel, 224–263. 339 Abgesehen von der Debatte, ob das gesamte Israel oder nur ein Teil  davon in γενεά enthalten ist, kann man angesichts von Stellen wie 13,38 (οἱ υἱοὶ τοῦ πονηροῦ) oder 23,31 (vgl. auch Jer 8,3; Jub 23,15 f; bSan 98a; 1QS 3,13 f: ~twrwd b [„in ihren Generationen“] in un mittelbarer Nähe von yva ynb [„Menschensöhne“] durchaus auch eine ‚Tiefendimension‘ des γενεά-Begriffes mit in Betracht ziehen (vgl. auch Luz, Mt II, 188, Anm. 36 [„qualitative Nuance“]), die ihn zum Ausdruck einer inneren Verfassung (vgl. Gielen, Konflikt, 142, in Bezug auf die Zeichenforderung in 12,39) macht. An Stellen wie 12,39.45; 16,4; 23,36 (zuletzt nur γενεά, ohne attributive Bestimmung, die ‚genetische‘ Verwurzelung ist aber durch υἱοί ἐστε in 23,31 vorhanden) ist diese Sicht der Dinge durchaus berechtigt. Somit ist die Bosheit als stabiles, internes, ‚genetisches‘ und nicht nur zeitbedingtes Charakteristikum etabliert. Jedoch ist es auf die Eingrenzung dieser Lesart auf die Gegner zu verweisen. 340 Diese Verbindung ist schon in der prophetischen Sprache vorhanden, vgl. Hos 3,1; auch Jer 3,2: πορνεία und κακία; zur Ehemetaphorik als Ausdruck der Beziehung Gott-Volk vgl. Hos 1–3; Jes 57,3; Jer 3,9; Ez 16,38 (vgl. Gundry, Use, 83–84).

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wird den Gegnern vorbehalten. Matthäus übernimmt und multi­pliziert diesen Ausdruck aus seinen beiden Quellen, aber wendet ihn konsequent auf zwei definierte Gruppen – τινες τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων (12,38 f und implizit 12,45 im Unterschied zum ursprünglichen Q 11,14.15: οἱ ὄχλοι bzw. τινές) und οἱ Φαρισαῖοι καὶ Σαδδουκαῖοι (16,4[red.]) an.341 Die gravierende Dimension der internen Verdorbenheit ist also Teil  der Gegnerbeschreibung und enthält eine intrinsische Gerichtsankündigung. Durch die Wortwahl steigert Matthäus erheblich die Abstraktheit der verwendeten Sprache und verleiht den Gegenmächten stabile, dispositionale Züge. Auf einer konkret-abstrakt Achse nehmen die Zustandsverben, die Adjektive und die Nomina die höchsten Plätze ein.342 Mit der zunehmenden Abstraktheit sinkt aber erheblich der reale, informative Wert eines Berichtes über Personen oder Ereignisse.343 Wegen der starren, abstrakten Beschreibung kann der Objektivitätsgehalt nicht mehr einer kritischen Überprüfung unterzogen werden, er wirkt weniger akkurat und verallgemeinernd.344 Vermittelt werden nur noch typische, leicht einprägsame Verhaltensweisen. Der Sprachgebrauch besitzt also nicht nur eine stilistische, sondern auch eine sozialpsychologische Relevanz,345 die je nach Gruppenzugehörigkeit variiert. Im Intergruppenkontext hat dieser linguistische Tatbestand zur Folge, dass sozial widriges Outgroup- und günstiges Ingroupverhalten auf einer höheren Abstraktionsstufe kommuniziert wird. Hingegen tendiert man dazu, positives Benehmen der Fremdgruppe und unerwünschte Handlungen der Eigengruppe durch Kontextualisierung und Kodierung in konkreter Sprache zu relativieren. Damit geht auch die Tendenz einher, die, wie oben gesehen, auch Matthäus an den Tag legt, die Gruppen als ‚natürliche Arten‘346 mit einer – im Fall der Gegner – 341 Matthäus grenzt die Bezeichnung auf die Gegner ein (vgl. auch Gielen, Konflikt, 143 f; Tilborg, Leaders, 33; Carter, Margins, 277: „While the religious and political elite bring about Jesus’ death, God will thraw their intention“; Walker, Heilsgeschichte, 35 f; Repschinski, Stories, 140; Saldarini, Matthew, 45, 234, Anm. 5); hingegen tendieren andere Kommentatoren an der Stelle zu einer Ausweitung der Reichweite dieses Ausdrucks (Baumbach, Verständnis, 87; Luz, Mt II, 276; Strecker, Weg, 105, Anm. 4; Hummel, Auseinandersetzung, 126–127; Garbe, Hirte, 119). 342 Das ist die Grundannahme des sogenannten linguistischen Kategorienmodells (LCM), ein bewährtes Instrument zur Erforschung der Sprache in sozialen Zusammenhängen. Zum Thema vgl. Fiedler / Semin, Kategorienmodell, 334–351; Semin / Fiedler, Linguistic, 1–29; Wigboldus u. a., Categorization, 147–163; Wigboldus / Douglas, Language, 79–107. 343 Semin / Fiedler, Linguistic, 7. 344 Hamilton u. a., Stereotypes, 118–119. 345 Das Linguistic Intergroup Bias (LIB)-Modell wendet das LCM auf die soziale Interaktion an. Zu den experimentellen und theoretischen Prämissen und Ergebnissen vgl. Maass u. a., Linguistic, 512–526; Maass u. a., Language Use, 981–993; Hippel u. a., Linguistic, 490–509. 346 Ein Forschungszweig der kognitiven Sozialpsychologie beschäftigt sich mit dem Phänomen des „psychologischen Essentialismus“ (vgl. Haslam, Art.  Essentialism, 243; Rothbart / Taylor, Category Labels, 12, 21).

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boshaften Essenz zu betrachten. Dem psychologischen Essentialismus gemäß werden Elemente, die ähnlich aussehen, so wahrgenommen, als hätten sie tief liegende Eigenschaften und eine gemeinsame biologische Grundlage; sie weisen dadurch die Regelmäßigkeit und den inneren Zusammenhalt der natürlichen Arten auf.347 Zusätzlich zu dem natürlichen Prozess der Strukturierung ingroup – outgroup werden die essentialistischen Tendenzen einen Prozess der Homogenisierung und der Übertreibung der Unterschiede begünstigen. Wir und ihr sind völlig verschiedene Entitäten und schließen sich gegenseitig aus.348 Diese starren Unterschiede konkretisieren sich in Stereotypen.349 Die Verhältnisse zwischen Gruppen werden in dieser Weise streng stereotypisch normiert, die Wirklichkeit wird in gut unterscheidbare Bereiche gegliedert und mit einem unverwechselbaren Label versehen. So bündelt und reduziert auch Matthäus durch das knappe Label der πονηρία eine ganze Handlungsbandbreite auf ein einziges Etikett, das „bei jedem neuen Auftreten der betreffenden Person als ‚Leitmotiv‘ wiederkehrt“.350 Von Anfang bis Ende der Geschichte werden die unterschiedlichen Gegnergruppen keine Veränderung in Einstellungen oder Verhalten durchlaufen, sie bleiben in einem uniformisierenden, narrativen Schema gefangen. Mit Recht werden sie als „flache“ Charaktere351 bezeichnet, der Autor „stellt einen einzigen Zug heraus, der als der hervorstechende oder gesellschaftlich offensichtliche gesehen wird“,352 und lädt den Leser ein, ihr ganzes Verhalten unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Die Haltbarkeit der Stereotypen353 steht in einem engen Zusammenhang mit der Abstraktheit der Sprache, in der sie formuliert werden: Ein stereotypenkongruentes Verhalten wird eher in abstrakten Worten gefasst und somit 347 In Wirklichkeit sind diese ‚psychologischen Essenzen‘ nur soziale Konstrukte und besitzen keine natürliche universelle Gültigkeit (vgl. Corneille / Leyens, Catégories, 53; Jost /  Hamilton, Stereotypes, 213). Sie erschweren aber wegen ihrer Hartnäckigkeit die soziale Interaktion. 348 Rothbart / Taylor, Category Labels, 25–27; Corneille / Leyens, Catégories, 54; Yzerbyt u. a., Stereotypes, 42. 349 Yzerbyt / Rocher, Essentialism, 49 f, 57 f; Haslam, Art. Essentialism, 245. 350 Wellek / Warren, Theorie, 247–248; in Bezug auf Matthäus vgl. Kingsbury, Plot, 348: „Matthew works in stereotypes. For him, there is no middle ground: Whereas Jesus is righteous, the religious authorities are evil“; zu „Labelling“ vgl. Malina / Neyrey, Calling, 35 f. 351 Der literaturtheoretische Fachbegriff geht auf Forster, Aspects, 46–51, zurück (vgl. auch Wellek / Warren, Theorie, 248, die das Gleiche unter „statische Charakterisierung“ verstehen) und wurde von der narrativ orientierten Exegese oft aufgegriffen (vgl. Anderson,­ Matthew, 98; Kingsbury, Story, 19; Ders., Conflict, 59; Repschinski, Stories, 324; Poplutz, Welt, 127). 352 Wellek / Warren, Theorie, 248; Forster, Aspects, 47: „They are constructed around a single idea or quality“. 353 Stereotypen weisen eine erstaunliche Hartnäckigkeit gegen Widerlegung auf und eine besondere Kraft sich selbst aufrechtzuerhalten (Maass / Arcuri, Language, 204–208; Maass /  Arcuri, Role, 129–143; Fiedler / Schmid, Language, 261–280).

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bestätigt; ein unerwartetes Verhalten wird hingegen durch eher konkrete Ausdrücke relativiert.354 Der Prozess wurde als „Verdinglichung“ gekennzeichnet – eine fortdauernde Tendenz, die sozialen Informationen auf einer immer abstrakteren und generelleren Ebene zu formulieren und zu speichern.355 Schreibt man diesem Text eine wichtige Funktion in der Gemeindebildung zu, dann ist es selbstverständlich, dass narrativ vermittelte Bilder, die schon bei ihrer Entstehung von der angespannten Wirklichkeit beeinflusst waren, nun zusätzlich die Beziehungen zwischen den Parteien weiter verschlechtern. Denn Stereotypen sind in einem dynamischen intergruppalen Kontext eingebettet und haben deswegen eine nicht zu unterschätzende soziale Relevanz – sie formen das menschliche soziale Verhalten um.356 Das realitätstreue Gruppenbild wird durch einen künstlichen Prototyp ersetzt. Somit wird die Aufmerksamkeit auf eine begrenzte Zahl von Attributen eingeengt.357 Man neigt aber dazu, diese Attribute als grundlegende und unwandelbare Eigenschaften aufzufassen.358 Das mag eine Stabilisierung der intergrup­palen Verhältnisse bedeuten,359 geschieht aber auf Kosten einer realitätsträchtigen sozialen Interaktion. Die Bosheit wird von Matthäus im Fall der Jesusgegner ihrer internen Verfassung angehaftet. Ihr Herz ist fern von Gott (15,8), ihre Unreinheit ist interner Art (23,27). Der Redaktor schafft mehr Raum für die Entfaltung der inneren Seite ihrer Verfassung und lässt sie kräftiger als Mk und Lk zu Wort kommen. Ihre verborgenen Absichten kann Jesus aber durchblicken und entlarven.360 Sie selbst formulieren ihre Gedanken deutlicher als bei den anderen Synoptikern.361 Den Aspekt kann man kurz an einigen Stellen exemplarisch verdeutlichen. Im Bericht über Johannes den Täufer schreibt Mt 3,9: μὴ δόξητε λέγειν ἐν ἑαυτοῖς; 354 Maass / Arcuri, Role, 131. Allgemein zum Verhältnis Sprache – Stereotype siehe Stangor / Schaller, Stereotypes (2000), 68–69. 355 Fiedler / Bolten, Language, 271–295. 356 In diese Richtung argumentieren Haslam u. a., Pictures, 157–185, oder Ellemers /  Knippenberg, Stereotyping, 208–235; Stangor / Schaller, Stereotypes (2000), 71. 357 Hogg, Uncertainty, 36. 358 Hogg, Categorization, 207; Hogg, Uncertainty, 36; McGarthy u. a., Categorisation, 70. 359 Vgl. Cantor / Mischel, Prototypes, 42: „Knowledge about person prototypes not only makes information processing easier, it also helps the perceiver to plan behaviour in social interactions“. 360 Im alttestamentlichen Sprachgebrauch wird diese Eigenschaft nur Gott zugesprochen (vgl. auch Harrington, Mt, 121; Luck, Mt, 150); dafür sprechen zahlreiche Belegstellen, vgl. 1Sam 16,7; 1Kön 8,39; Jer 11,20; 12,3; 17,10; Ps 7,9; 94,11; Hiob 21,27; 2Chr 6,30; Sir 43,18–19; vgl. auch Jub 1,22; 1Hen 84,3; PsSal 9,3; 14,8; EpArist 132–133; TestSeb 5,2 und im NT: Mt  12,25; 16,8; 22,18; Lk  16,15; Act 15,8; 1Thess  2,4; Apk  2,23). Interessanterweise wird bei Matthäus diese Fähigkeit Jesu immer mit dem πονηρός-Begriff gerahmt: 9,4; 12,25.34; 22,18. 361 Gundry, Mt, 47 („an emphasis on inner thoughts“). Zur Verwendung des Reflexivpronomens ἐν ἑαυτοῖς „to the Jewish leaders (3,9; 9,3; 16,7.8; 21,25) with  a hostile connotation against Jewish“, vgl. Tisera, Universalism, 221.

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neutral ist hingegen Lk 3,8: μὴ ἄρξησθε λέγειν ἐν ἑαυτοῖς. Weil Matthäus καρδία aus Mk 2,8 in 9,4 brauchte,362 um die strukturelle Bosheit der Schriftgelehrten hervorzuheben, lässt er sie reflexiv ἐν ἑαυτοῖς (9,3, vgl. auch 21,25 // Mk 11,31 //  Lk 20,5; 21,38) sprechen; in 12,38 formulieren sie in direkter Rede die Frage nach einem Zeichen, indem sie Jesus mit δίδασκαλε ansprechen. Auch in 21,25b–26 führt Matthäus ihren Monolog363 bis zum Schluss: φοβούμεθα τὸν ὄχλον, dort wo Mk 11,32b unpersönlich formuliert (ἐφοβοῦντο); in 21,45 wird ihre Fähigkeit, sich in den bösen Winzern selbst zu erkennen, dem Entschluss, Jesus zu ergreifen, vorangestellt; in 23,30 wird ihre heuchlerische Unschuldbeteuerung red. sogar zitiert; in 26,5 und 27,63[trad.] (μιμνῄσκομαι, vgl. auch 9,4;364 12,25: ἐνθύμησις; auch als Verb 9,4[red.]: ἐνθυμέομαι)365 entwickeln sie selbstständig Strategien und ergreifen selbstschützende Initiativen. Matthäus will ihr Benehmen durchgehend als intern motiviert und vollständig überlegt darstellen. Weder Zufall, noch momentane Aufregung bestimmen die Handlung, sondern ihre feste innere Struktur.366 Das gravierende Moment der Intentionalität ist im matthäischen Feindbild besonders ausgeprägt; ihre Taten sind überlegt und konsequent durchgeführt, denn sie beruhen auf widrigen ideologischen Gründen und tiefgehenden inneren Merkmalen. Narratives und reales Gegnerbild überlappen sich, die gegenwärtige Sichtweise fließt (un)bewusst in die Darstellung der literarischen Figuren ein. Durch den größeren Spielraum, den Matthäus für die Überlegungen und die Absichtsbildung der Gegner eröffnet, ist mehr als eine bloße Beschreibung angeboten, auch wird eine Erklärung für die narrative Entwicklung geliefert. Das Verhalten der Opponenten wird eindeutig intern attribuiert.

362 Vgl. auch Sand, Gesetz, 65, Anm. 72. 363 Frankemölle, Mt II, 321: „Diese doppelte Rückfrage Jesu wird mit einem inneren Monolog der Gegner beantwortet“. Powell, Characterization, bes. 171–177, macht mit Recht auf die differenzierte Charakterisierung der religiösen Autoritäten durch die eigene (direkte und indirekte) Phraseologie aufmerksam; hier geht es eher darum, dass Matthäus überhaupt ihrer inneren Seite viel mehr freien Raum zuteilt, und sie innerlich, d. h. wesentlich, in der Feindschaft gegen Jesus verstrickt. Dujardin, Le monolog,  definiert die direkte Rede als Mittel zur „direkten Einführung des Lesers in das Innenleben eines Charakters ohne irgendwelches Dazwischenstehen von Seiten des Autors mit Erklärungen und Kommentaren“. 364 Repschinski, Stories, 69: „Thus Matthew is concerned with the inner thoughts of the Scribes“. 365 Der Sprachgebrauch ist typisch für Matthäus (vgl. auch Rolland, Jésus, 118). In Bezug auf 9,4: „There is something wrong with their fundamental orientation, and this orientation is born from the heart“ (Hendrickx, Miracle, 138). 366 Vgl. auch Russell, Image, 436: „This hostility is not an intermittent thing but continues throught the whole Gospel“; Olmstead, Trilogy, 66 („mortal enemies“). In diesem Punkt unterscheide ich mich von der Meinung von Dormeyer, Rollen, 127: „Die wiederholten Ver­ härtungen in den beiden [sic] Todesbeschlüssen der Gegner sind spontan; sie sind keine notwendigen, zwingenden Entscheidungen“.

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Negatives Benehmen der Outgroup durch intrinsische Merkmale zu erklären, ist im Rahmen der kausalen Attributionsforschung gut untersucht worden.367 Ungeachtet der kontextuellen Bedingungen wird das negative Verhalten der Fremdgruppe eher auf undifferenzierte interne Dispositionen zurückgeführt. Intern attribuiert wird eine Handlung zur natürlichen Manifestation der Handlungsperson; die dauerhaften, negativen Stereotypen werden in ihrer delegitimierenden Funktion unangefochten weiter untermauert.368 Matthäus entwickelt aus seinem Alltag heraus ein Feindbild (enemy image369), das nun, in der Gegenwart der Gemeinde, durch den literarischen Niederschlag in seiner ‚Gemeindeschrift‘ das kognitive, emotionale, aber auch das soziale Verhalten370 seiner Anhänger auf die Dauer prägt.371 Deswegen ist die Charakterisierung der Gegner auch Teil der konkreten Konfliktaustragung. Im entsprechenden Kapitel (Kap. 4) werde ich zusätzlich zu der hier dargelegten Grundeigenschaft der πονηρία auch weitere Aspekte des Feindbildes im Rahmen der matthäischen Bewältigungsstrategie erörtern.

367 Taylor / Moghadham, Theories, 168; Augoustinos u. a., Cognition, 170; Deschamps /  Beauvois, Attributions, 115 ff; Hewstone, Causal, 171 f; vgl. dazu auch 1.2.3. 368 Vgl. Yzerbyt / Rogier, Blame, 105; Hewstone, Causal, 169. 369 Darunter wird in der Fachliteratur „a cognitive-affective complex, which may or may not have literally iconic, representational aspects“ verstanden (Holt / Silverstein, Enemy Images, 3). Zum Thema Feindenbild in unlösbaren Konflikten vgl Bar-Tal / Teichman, Stereotypes, 67–91. 370 Wie ein festes Gegnerbild die soziale Wahrnehmung beeinflusst, untersuchen Silverstein / Flamenbaum, Biases, 51–72. 371 McNeil, The Nature, 50: „An image of a person or group, once formed, has strong resistance to modification (perceptual constancy)“; Glasl, Konfliktmanagement, 37.

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3. Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte 3.1 Das Volk als ‚kritische Masse‘ der matthäischen Konfliktgeschichte Im Vergleich zu den Seitenreferenten ist Matthäus mehr darum bemüht, die Erzählgrößen deutlich voneinander zu unterscheiden, um dadurch die Voraussetzungen zu schaffen, sie genauer narrativ zueinander zu positionieren. Dies entspricht durchaus dem Konzept von ‚Konfliktgeschichte‘, denn nur Akteure mit klar definierten Profilen und Stellungen können überhaupt ein konfliktreiches Verhalten entwickeln.1 Zugleich dürfte diese Tendenz auch Sachverhalte aus der Gegenwart der Gemeinde widerspiegeln,2 sodass unscharfe Verhältnisse oder unzulässige Vermischungen bewusst redaktionell korrigiert werden, um dem erlebten Wirklichkeitsbild nicht zu sehr zu widersprechen. Eine Doppel­ perspektive, die das Zusammenspiel zwischen der Rolle der Volksmenge auf der Erzählebene und dem realgeschichtlichen Hintergrund in den Blick nimmt, empfiehlt sich von selbst. Die Menge als Akteur der Geschichte und Zielpublikum der realen Gemeinde könnte als eine bedeutugslose Größe erscheinen, die sich schwankend hin und her bewegt; hingegen „far from being a casual and amorphous category, the crowds played a highly positive role as followers and even worshipers of Jesus“.3 Sie signalisiert gewisse Sympathien und übernimmt je nachdem verschiedene theologische Rollen, die dem traditionellen Repertoire Israels4 angehören. Lange haben die ὄχλοι in der Forschung als bloßer Hintergrund des Wirkens Jesu ohne theologische Bedeutung oder besondere erzählerische Relevanz gegolten,5 1 Es ist daher angemessen die Bedeutung der ὄχλοι durch Vergleiche mit anderen Akteuren herauszustellen, wie es oft ja auch geschieht: vgl. Tilborg, Leaders, 142–165; Meiser, Reaktion, 231–246; Kingsbury, Story, 24 f; Poplutz, Welt, 127–131. Die Meinung von Trilling, Israel, 79: „Aufs Ganze gesehen werden die Unterschiede zwischen Volk und Führern […] abgebaut“ ist daher unverständlich. Dem theologischen Bestimmungsort der ὄχλοι kommt man aber erst durch die Einbeziehung der christologischen Konfliktthematik näher. 2 Saldarini, Matthew, 27. 3 Minear, False Prophecy, 78; Runesson, Rethinking, 119 („the object of Matthean­ missionary activities“). 4 Diese Annahme ist der Ausgangspunkt der Untersuchung von Cousland, Crowds, ­22–23: „The paradox of the crowds is, in Matthew’s view, the paradox of the Jewish people, and is expressive of their ongoing ambivalence toward the God of Israel. This ambivalence evidently continues unchanged until Matthew’s own day“. 5 Vgl. z. B. Guelich, Sermon, 49, 417; Strecker, Weg, 107 („applaudierender Hintergrund des Wirkens Jesu“); Suhl, Davidssohn, 77 („den Hintergrund des Wirkens Jesu“); Trilling, Israel, 78 („Statist und ‚Chor‘“); Gnilka, Verstockungsproblem, 125; auch Luomanen, Entering, 125.

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die Sternstunde für eine Neubewertung der Rolle der Volksmenge im Matthäusevangelium brach mit der Studie von Paul S. Minear an.6 Als selbständige Erzählgröße wird aber die Menge noch nicht von allen Exegeten wahrgenommen, ihre genaue theologische Bedeutung in der matthäischen Konfliktgeschichte ist weiterhin umstritten.7 In der hier entworfenen konfliktanalytischen Perspektive stehen οἱ ὄχλοι im Zentrum der Aufmerksamkeit der Kontrahenten, mehr noch, sie bilden die interessierte Zuhörerschaft, der die beiden konkurrierenden Parteien ihr Heilsan­ gebot unterbreiten.8 Diese Bemühung, die Volksmenge möglichst positiv zu affizieren, steigert ihren theologischen [Mehr]wert und macht sie zu einer ernst zu nehmenden Konfliktgröße, ja zu einer ‚kritischen Masse‘, die die Debatte in Gang setzt und ihr einen konkreten Sinn gibt.9 Die Volksmenge ist als Zankapfel zwischen Jesus und den religiösen Autoritäten zu betrachten. Sie nehmen zwar eine mittlere Position („midway“)10 ein, aber nicht im Sinne einer undefinierten, bedeutungslosen Größe, sondern als entscheidendes Puzzelstück in der matthäischen Konfliktkonstellation. Die im Evangelium geäußerten Autoritätsansprüche nehmen die Menge ständig in den Blick, jede Seite will sie für sich als Partner gewinnen. An wichtigen Punkten der Erzählung erfolgt der argumentative Duktus eindeutig mit Rücksicht auf das anwesende Publikum, der Streit nimmt explizit oder implizit auf die umgebende Volksmenge Bezug.

3.1.1 Die Menge als Zielpublikum der Kontrahenten 3.1.1.1 Die ersten Jünger Jesu und das nachfolgende Volk (4,18–22; 4,23–25) Schon unmittelbar nach dem Anfang seiner öffentlichen Verkündigung (4,17) wirkt Jesus eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus – ein Vorspiel des überwältigenden Erfolgs seiner Mission in den nächsten Kapiteln. In den zwei typisch 6 Minear, Disciples, 28–44, der die ὄχλοι sogar direkt mit den späteren „Laien“ der matthä­ischen Gemeinde identifiziert. 7 Ein Überblick über die neueren Entwicklungen verschafft man sich bei Cousland, Crowds, 3–21. 8 Vgl. auch Bauer, Kingship, 318: „The conflict between Jesus and the religious leaders involves a power struggle over the control of the crowds“; Poplutz, Welt, 130: „Das Volk ist als Figurengruppe zwischen den beiden Polen der gegen Jesu opponierenden Autoritäten Israels und den als Jesu Helfer berufenen und ausgesandten Jüngern einzuordnen“; Carter, Construction, 95: „Mostly the crowds are presented as interested in, and at times receptive to, Jesus, in contrast with the elite’s hostility“; Luz, Mt I, 247. 9 Vgl. Minear, Disciples, 32: „The basic conflict between Jesus and his adversaries issued from this concern of God for Israel, his flock“; auch Saldarini, Matthew, 40; Konradt, Israel, 149 f; Ogawa, L’histoire, 222: „Mt se sert de ‚la foule‘ pour souligner le fosse qui s’est creusé­ entre deux camps“. 10 Cousland, Crowds, 48.

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gestalteten und eng verflochtenen11 Perikopen 4,18–22 und 4,23–23 werden zwischen der Ankündigung des Himmelreichs in 4,17b und der ersten umfassenden Rede paradigmatisch zwei Gruppen, die von Jesus nach verschiedenen Graden und mit verschiedenen Folgen bewegt werden, dargestellt bzw. die von zwei Modi der Nachfolge gekennzeichnet sind.12 Am Galiläischen Meer gewinnt Jesus seine ersten Jünger-Paare, die sogleich (4,20.22: εὐθέως) ihre Netze, ihr Boot und ihren Vater verlassen und ihm be­ dingungslos folgen. Sie werden den ‚starken Kern‘ der Jünger-Gruppe bilden (vgl. 16,16; 17,1; 26,37) und stehen hier für die Gesamtheit der Jünger, von denen, obwohl alle die Bergpredigt hören (5,1), die meisten erst später berufen werden (Matthäus in 9,9; alle zwölf werden erst 10,1 erwähnt und 10,2 individuell genannt). Ihnen gilt der ausdrückliche Ruf Jesu in die Nachfolge (4,19a: καὶ λέγει αὐτοῖς δεῦτε13 ὀπίσω μου) und ihre Antwort zeichnet sich vorbildlich durch Radikalität und Selbsthingabe aus. In diesem Sinne ist das deskriptive Kriterium der Nachfolge im übertragenen Sinne von Jack Dean Kingsbury auf den ersten Blick einleuchtend. Zwei Faktoren machen nach ihm die „metaphorische“ Verwendung von ἀκολουθέω aus: „personal commitment“ und „cost“.14 Verstärkend kann man noch hinzufügen, dass Matthäus die Dramatik der Szene in 4,21 f im Vergleich zu Mk 1,19 f sogar steigert, indem er πατήρ nochmals einfügt und die Helfer des Vaters (μισθωτοί) weglässt: Die Zebedäer lassen also nicht ihren Vater zusammen mit den Tagelöhnern zurück, sondern sie verlassen ihn einfach für Jesus.15 11 Vgl. auch Cousland, Crowds, 147: „The conjunction of these pericopae (4,18–22 with 4,23–25) is unique to Matthew.“ Garland, Mt, 47–49, bringt diese zwei Perikopen unter dem Titel „Authority and Compasion“ zusammen. 12 Beide Modi der Nachfolge sind mit Problemen behaftet, wie noch zu sehen sein wird. Der ‚Konflikt‘ Jesu mit den Jüngern wird aber hier nicht weiter thematisiert. Vgl. dazu Kingsbury, Story, 129 f; Powell, Plot, 202 f; Poplutz, Welt, 51–53; über die Vulnerabilität der Jünger vgl. auch Carter, Storyteller, 249–253; auf diesen „Kontrast“ weist auch Bauer, Structure, 65, hin. 13 Δεῦτε bzw. δεῦρο wird bei Matthäus keine weitere große theologische Karriere machen und dient eher als Erzählmittel etwa in 21,38; 22,4; 25,34; 28,6, bzw. in 19,21, der gescheiterten Nachfolge des reichen Jünglings. Eine wichtige Ausnahme stellt jedoch 11,28 dar. 14 Kingsbury, AKOLUTHEIN, 58 (fälschlicherweise wird aber hier auch 4,19 gezählt, wo „follow“ als ἀκολουθέω in der englischen Vorlage aber nicht ebenso in der griechischen Vorlage vorkommt, vgl. oben Anm. 13); zustimmend Barton, Discipleship, 131. 15 Zumstein, La condition, 216 („rupture radicale avec le milieu familial“); Hagner, Mt I, 77 („a heightened emphasis on discipleship“); denselben Effekt hat auch die zusätzliche matthäische Bestimmung μετὰ Ζεβεδαίου τοῦ πατρὸς αὐτῶν schon in 4,21b und nicht erst am Ende der Szene (Barton, Discipleship, 130); auch Sheffield, Father, 61: „Matthew heightens the sense of abandonment“. Anspielung auf und Kontrast zu Elja-Geschichten vermutet hier Riches, Conflicting, 185 (ausführlich mit der Auflistung der Parallelen und Unterschiede bei Landmesser, Jüngerberufung, 80–84; z. B. Elisa darf nach 1Kön 19,19–21 und Josephus, Ant VIII 354, Abschied von seinem Vater nehmen).

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Das Verhalten der ersten Jünger bestimmt hier paradigmatisch die Bedeutung von ἀκολουθέω als terminus technicus16 im weiteren Verlauf der Geschichte. Ihre Bereitschaft zur Selbstopferung17 macht sie zu würdigen Nachfolgern ihres Herrn, auch wenn ihnen auf der Erzählebene nichts über den Ursprung Jesu bekannt ist.18 Bewusstes Abschiednehmen von der weltlichen, gesellschaftlich gesicherten Verhaltens- und Lebensweise, auch wenn das zu Selbstverleugnung und Kreuz führt (vgl. 16,24), gehört nach Matthäus zum Wesen der Jüngerschaft. Der Wortlaut der Anforderung Jesu (δεῦτε ὀπίσω μου) spielt aber, wie schon gesehen (vgl. Anm.  13), keine weitere besondere theologische Rolle mehr. Jesus übernimmt aber die Art der Nachfolge der ersten Jünger, die von Matthäus durch ἀκολουθέω ausgedrückt wird (4,20.22), und wandelt sie in eine stereotypische Formel19 für das volle Eintreten in die Jüngerschaft um20, d. h. in totalem, selbstlosem Gehorsam, wie es in illo tempore mit den ersten Jüngern geschehen ist. Ihre Nachfolge ist in diesem Sinn eine Nachahmung, denn sie vollziehen durch ihr Verhalten genau, was Jesus selbst als Sohn Gottes in den unmittelbar vorangehenden Perikopen im Verhältnis zu seinem himmlischen Vater getan hat: Er hat seine totale menschliche Existenz der Erfüllung seines Auftrags gewidmet (vgl. bes. 3,15; 4,10).21 Jedoch bleibt die Bestimmung von ἀκολουθέω bei Jack Dean Kingsbury auf den zweiten Blick, allein von diesem inhaltlichen Tatbestand ausgehend, aus dem einfachen Grund unzureichend, dass als Grundlage für die Beweisführung die

16 Das Motiv steht in direkter Verbindung mit der Metapher des Volkes als Herde und Jesu als Hirte (vgl. dazu S.  62–66). Dieser Zusammenhang wird z. B. von Chae, Jesus, 297–298; Cousland, Crowds, 169–171, auch religionsgeschichtlich beleuchtet. 17 Zur Nachfolge als ethische Forderung bis zum Martyrium und „Akt menschlicher Leistung“, vgl. Strecker, Weg, 231; Zumstein, La condition, 228–231; Luz, Wundergeschichten, 158–159 („Chiffre des Unterwegsseins mit Christus auf dem Weg des Gehorsams, des Leidens, aber auch des Getragenseins und der Hilfe“). 18 Die Plötzlichkeit, mit der sie ihm folgen (vgl. Kennedy, Interpretation, 103: „they do not have to be persuated, but intuintively recognize him“; Zumstein, La condition, 219: „leur obéissance est instantanée et absolue“), ist nur dann verständlich, wenn die Perspektive des impliziten Lesers mit einbezogen wird, der über die Herkunft Jesu informiert ist. So Howell, Matthew, 245; Edwards, Characterization, 1314: „Since no explanation is offered, the implied reader must fill in the gap“; Carter, Matthew 4, 18–22, 62 f. 19 „So ist es immer wieder, wenn jemand durch Jesu berufen wird“ (Luz, Mt I, 239). 20 Eindeutig wird dieser redaktionelle Zug, wenn man Mt  4,22 mit Mk  1,20 vergleicht:­ Matthäus wiederholt ἀκολουθέω aus 4,20; hingegen liest Markus nur ἀπέρχομαι. Die ganze­ Perikope ist ein „charcter-shaping incident“ und das Verb drückt nicht nur eine Antwort, sondern auch das Verständnis Jesu über ihren Zweck aus. Vgl. Edwards, Narrative, 20; Zumstein, La condition, 216: („signification paradigmatique“); Barton, Discipleship, 128 („paradigmatic quality for the reader of Matthew“). 21 Zum Gehorsam als wesentliches Moment der Gottessohnschaft bei Matthäus vgl. 2.1.3.

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Stellen ausgewählt wurden, wo es schon eindeutig um Jüngerschaft geht.22 Die Wortbedeutung wird durch die vorgenommene Kategorisierung der Stellen festgelegt, die erst ein Kriterium dafür ergeben müssen, wo die Jüngerschaft oder das bloße Hinterhergehen zum Vorschein kommt. Das rein inhaltliche Vorgehen ist in diesem Fall also nichts anders als ein Zirkelschluss. Der Vorschlag von Kingsbury ist daher, was die materielle Beschreibung der Jüngerschaft angeht, zutreffend, er ist aber kein gültiges Kriterium für die Unterscheidung zwischen der eigentlichen und metaphorischen Verwendung von ἀκολουθέω bei Matthäus, so wie der Autor es sich vorgenommen hat. Als hilfreich kann sich weiter eine formale und nicht inhaltliche Unterscheidung erweisen. Die Frage ist: Wann wird das Verb ἀκολουθέω von Jesus selbst weiter verwendet und wann als Darstellung für das Verhalten seiner Adressaten? Jesus ist bei Matthäus konsequent der Initiator der Nachfolge23 und er macht von diesem Verb abgesehen vom Erzähler am meisten und im Unterschied zum Erzähler immer im metaphorischen Sinne Gebrauch.24 Die übrigen Stellen mit übertragener Bedeutung stehen in unmittelbarer Nähe zu diesen: als sich narrativ ergebender Zusatz (8,23; 9,9), wenn Jesus imperativisch spricht, oder, wenn von Jüngern verwendet, auf die ursprünglichen und paradigmatischen 4,20.22 Bezug nehmend (nur 19,27). 8,19 ist ein gutes Argument für das eben eingeführte Kriterium, denn obwohl die Bitte des Schriftgelehrten eine volle Jüngerschaft meint (ἀκολουθήσω σοι), geht der Ruf nicht von Jesus aus, und der Vers spricht letztendlich über eine unmögliche Nachfolge, die durch die Ansprechformel (διδάσκαλε) und durch den Status (εἷς γραμματεύς; Lk 9,57: τις25) kenntlich gemacht wird. Der Gesprächspartner gehört eindeutig zur Gegnergruppe.26 Matthäus zeichnet also durch die ersten Berufungen in 4,18–22 ein ideales Bild der Jüngerschaft, das das Prinzip der Selbsthingabe, wie es im Verhältnis Jesu zum himmlischen Vater zu sehen ist, widerspiegelt. Die Bereitschaft auf sich selbst nicht zu achten und auf menschlicher Ebene „alles zu verlassen“, kommt in der Bildung der anfänglichen Jüngergemeinde besonders deutlich zur Geltung. 22 Kingsbury, AKOLUTHEIN, 58. Die Textbasis für dieses Kriterium machen 4,20.22; 9,9 und 19,27–29 aus. 23 So auch Cousland, Crowds, 156: „The initiative is always seen to rest with Jesus“;­ Hagner, Mt I, 216; Frankemölle, Mission, 98: „Nicht aus eigenem Antrieb wird man Jünger, sondern aufgrund eines Rufes“; Landmesser, Jüngerberufung, 76, 78 f: „Der von Jesus ausgesprochene Imperativ bewirkt also das, wozu er auffordert, und kann somit als ein eminentes Performativ verstanden werden“. 24 Vgl. 8,22; 9,9; 10,38; 16,24; 19,21.28. 25 Bultmann, Geschichte, 55: „Mt 8,19 hat einen γραμματεύς daraus gemacht, offenbar weil er annimmt, dass der Mann sich nicht zur Nachfolge entschließen kann“. 26 Zutreffend vgl. selbst Kingsbury, Story, 133 f; ferner auch Poplutz, Welt, 86–88. Siehe oben auch den Abschnitt über Jesus als Lehrer S. 74.

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Gleich darauf schafft Matthäus in 4,23–25 aus dem Mk-Stoff ein Pendant,27 das durch Parallelisierung28 zugleich Verbindungen,29 aber auch Unterschiede aufzeigt. Die Menge rückt in die Nähe der Jünger,30 wie diese folgt sie Jesus nach (4,25), ihr ‚Nachfolgemodus‘ funktioniert aber nach anderen Gesetzen. Sie ist auf die Lehre Jesus wie auch auf seine heilbringende Kraft angewiesen und von Jesus nicht direkt in die Nachfolge gerufen, sondern vielmehr ist ihre bedürftige, leidende Seite angesprochen. Denn Jesus lehrt in ihren Synagogen,31 predigt das Evangelium des Reiches,32 macht alle Kranken gesund und heilt alle Gebrechen im Volk, was eine große Menge (ὄχλοι πολλοί33) aus allen jüdischen 27 Die vereinzelten Mk-Textteilchen (1,39.28.32.34; 3,7 f – vgl. Luz, Mt I, 245) haben keinen summarienartigen Charakter und standen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ort, an dem Matthäus die Bergpredigt einfügt (Mk 1,21 f). Ansonsten kommt ὄχλος nirgendwo vor, Mk 3,7 führt πλῆθος an. 28 Die Intention, zwei parallele aber unterschiedliche Abschnitte zu bilden, sieht man auch daran, dass die Jünger im zweiten Teil nicht mehr erwähnt werden (vgl. Mk 3,7). 29 Galiläa bildet in den ersten Versen der beiden Unterabschnitte den geographischen Rahmen (4,18 // 4,23, auch 4,25); ἀκολουθέω schließt die beiden Apostelberufungen (4,20.22) ab, wie auch das Summarium, wo die ὄχλοι zum ersten Mal vorkommen (4,25). 30 Russell, Image, 429: „The crowds appear on the fringe of discipleship“; „a suggestion of discipleship“; Konradt, Israel, 98; auch Edwards, Characterization, 1319: „Since the word ‚follow‘, that was associated with the four fishermen is also used to describe crowds, the implied reader is guided to look favorably upon the crowds“; Poplutz, Welt, 129; Garbe, Hirte, 68; Ogawa, L’histoire, 216; Minear, Disciples, 30 („qualitative allegiance“); Barton, Disciple­ ship, 131. 31 Αὐτός kann sich hier nicht auf das Vorangehende beziehen, denn ab V. 18 geht es nur um die Jünger. Gemeint ist natürlich die Menge (wie auch mit προσήνεγκαν in 4,24), die gleich später auftritt (4,25). Das Personalpronomen kann aber kein eindeutiger Hinweis auf eine angebliche gegenwärtige Trennung der Gemeinden sein (vgl. Guelich, Sermon, 44; Luz, Mt I, 246). Zunächst haben die Volksmengen hier ein durchaus positives Bild inne. Vielmehr ist die Synagoge der religiöse und zugleich ethnische Bestimmungsort – die Menge ist jüdisch und Jesus geht selbst auf die Suche genau dort, wo sie hingehört, nämlich in die Synagoge. Über eine bloße örtliche Bestimmung spricht Nolland, Mt, 183. Dass die Synagoge hier „ein Signal an­ bringt, das den gesamten Satz klar auf das Gottesvolk bezogen sein lässt“, vgl. Lohfink, Wem gilt, 204. Für die ethnische Bestimmung der Menge als jüdisch vgl. auch Levine, Social, 202 f; Wilkins, Disciple, 172: „They are the people of Israel of Jesus’ day who are the object of Jesus’ ministry“; Comber, Verb, 434, hält die Menge für „a cipher for Jewish people of Matthew’s time“; Russell, Image, 427 f; sehr ausführlich Cousland, Crowds, 53–73. Für eine gemischte Zusammensetzung der Menge – Juden und Heiden – entscheiden sich Gundry, Mt, 65; K ­ rieger, Publikum, 109. 32 Die Menge wird dadurch auf die unmittelbar folgende Bergpredigt vorbereitet und nimmt den Kernbegriff der ganzen Verkündigung Jesu zur Kenntnis, denn τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας wird mit Recht als „capsule-summary“ der Verkündigung Jesu im Matthäusevange­ liums bezeichnet (vgl. Kingsbury, Structure, 131). 33 Die Tendenz zur Pauschalisierung oder Übertreibung, was die Größe der Volksmenge betrifft, wird hier angelegt: ὄχλοι πολλοί kommt auch noch in 8,1[red.]; 12,15[red.]; 15,30[red.]; 19,2[red.] vor; als Varianten bieten sich πάντες οἱ ὄχλοι (12,23[red.]; πᾶς ὁ ὄχλος (13,2); πολὺν ὄχλον (14,14); ὄχλος πολύς (20,29; 26,47[red.]); πλεῖστος ὄχλος (21,8[red.]) an. In diesem

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Gebieten34 in Bewegung setzt. Die Volksmenge in V. 25 besteht aus dem Volk, das gerade in V. 23 Rezipienten der Tätigkeit Jesu waren.35 Die vereinzelten Textteile aus seinen Quellen bringt Matthäus in dieser Weise in einen für das ganze Evangelium typischen kausalen Zusammenhang:36 Die verlassene und hirtenlose Menge lässt sich von der Botschaft Jesu affizieren, wird durch seine Macht von ihrem Leiden befreit und wird folglich in seinen Sog gezogen. Diese exemplarische Verhältnisbestimmung37 im Auftakt des öffentlichen Wirkens Jesu skizziert den faktischen Rahmen der Zuwendung Jesu zu seinem ermatteten Volk Israel. Die christologische Grundlage aus 1,21 gewinnt hier ihre erste konkrete narrative Vorzeichnung. Der ‚Grundwortschatz‘ dieses erzählenden kommunikativen Vorgehens ist in diesem Passus schon vorhanden.38 Unmittelbar vor der Bergpredigt, wo Volk und Jünger versammelt sind (5,1), führt Matthäus also die zwei Kategorien der Adressaten des irdischen Wirkens Jesu ein: Die Jünger, die in Gehorsam und tapferer Selbsthingabe nachahmend seinen Auftrag fortführen, und die Volksmenge, der wegen ihrer desolaten Lage alle diese Bemühungen gelten.39 Trotz der vielfältigen Verwendung von πολύς ist es nicht ausgeschlossen, dass die Vorliebe des Matthäus für die Pluralform ὄχλοι Sinne baut Matthäus den Befund von Mk deutlich aus, ohne damit eine punktuelle Intention zu verbinden (z. B. ὄχλον πολύν von Mk 9,14 wird in Mt 17,14 nicht übernommen, vgl. auch Mt 9,36 // Mk 6,34). 34 Indem Mt aus Mk  3,7b–8 die geographischen Angaben ἀπὸ τῆς Ἰδουμαίας und περὶ Τύρον καὶ Σιδῶνα streicht und die ἀπὸ … Δεκαπόλεως hinzufügt, vermutet man hier eine Eingrenzung der Wirkungsweite Jesu auf traditionell jüdischen Gebieten: „The regions he men­tions together comprise an idealized Israel, and conform in a rough and ready way to the boundaries of the Davidic kingdom“ (Cousland, Crowds, 67; auch Luz, Mt I, 247; Konradt, Israel, 53 f; Trunk, Heiler, 185; Giesen, Krankenheilungen, 90–91). 35 Cousland, Crowds, 103; Luz, Mt I, 246: „ὄχλοι nimmt λαός (V. 23) auf.“ 36 Vgl. auch Krieger, Publikum, 103: „Das Summarium 4,23–25 lässt sich als eine (logische) Abfolge von Ereignissen begreifen“. 37 Howell, Matthew, 130, bezüglich Mt  4,23–25: „The acts of ministry and response to them are not concrete and specific, but are presented as habitual and recurrent in a manner which is no way dynamic or developmental“. 38 Weitere Vorkommnisse der einschlägigen Begriffe in Bezug auf die explizite oder implizite Volksmenge: ἀκολουθέω in 8,1[red.]; 8,10; 12,15; 19,2[red.] (Mk 10,1: συμπορεύομαι); 20,29[red.]; 21,9; διδάσκω in 5,2[red.]; 7,28–29[red.] (Mk 1,21–22 hat unbestimmte Adressaten); 9,35 (wiederum ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν); 11,1[red.] (leicht verändert – ἐν ταῖς πόλεσιν αὐτῶν); 13,54; 21,23 (die Volksmenge wird in 21,26 als anwesend erwähnt); θεραπεύω – 8,16 (die Menge wird in V. 18 nur bei Mt wörtlich eingefügt); 9,35; 12,15; 14,14; 15,30 f; 19,2[red.] (Mk 10,1 liest διδάσκω). 39 Vgl. auch Bauer, Major, 363: „Matthew portrays the crowds as recipients of the eschatological ministry of Jesus“; Runesson, Rethinking, 119: Die Volksmenge als „literary character representing the object of Matthean missionary activities“. Was die Mission der Jünger betrifft, ist das stereotypische πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν (4,23; 9,35) der Menge zu heilen ausdrücklich im ihrem Wirkungsbereich verortet (10,1). Auch in den Speisenvermehrungsgeschichten fingieren die Jünger „as helpers, as intermediaries to the crowds“ (Brown, Disciples, 100); dazu auch S. 65 f.

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πολλοί40 nicht nur den Zweck hat, den unerhörten Erfolg der jesuanischen öffentlichen Wirkung zu unterstreichen41, sondern durch solche Konsonanzen auch an eine Subgruppe von πολύς-Stellen anschließt, wo die soteriologische Dimension kräftig hervortritt: πολλοὶ ἀπὸ ἀνατολῶν καὶ δυσμῶν ἥξουσιν (8,11), ὁ μὲν θερισμὸς πολύς (9,37), aber besonders λύτρον ἀντὶ πολλῶν (20,28) und ὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης τὸ περὶ πολλῶν ἐκχυννόμενον εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν (26,28).42 Den Volksmengen kommt von diesem Hintergrund her die bedeutende Funktion der Begünstigten dieser Rettungsaktion Jesu und seiner Jünger zu. 3.1.1.2 Jesus behält das Volk im Blick (5,1; 9,36) In 5,1 wird die Menge zum Zuhörer der Bergpredigt gemacht43 und damit Zeuge der Inauguralrede Jesu, in der „die Bedingungen für den Eintritt“ in die schon in 4,17 angekündigte Basileia dargelegt werden.44 Wesentliche Züge der Lehre gelten ohne Unterschied auch den zuströmenden Volksmengen, die hier keineswegs als ‚Bürger zweiter Klasse‘ des Gottesreiches gemeint sind. Bevor die Zuhörerschaft sich in 7,28 f aktiv äußert (mit diesen sorgfältig gestalteten Reaktionen der Menge in Kontrast zur Feindseligkeit der Autoritäten werde ich mich später beschäftigen), steht das Volk einfach da und erweckt die Aufmerksamkeit Jesu durch seine bloße Anwesenheit wie eine ungesättigte Masse. Jesus beginnt zu sprechen45 als Antwort auf diese rührende Nachfolge.46 Nach ἠκολούθησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί in 4,25, bindet der typisch matthäische Partizip Aorist  – 40 Vgl. 4,25; 8,1; 13,2; 15,30; 19,2. 41 Nolland, Mt, 184: „The frequency of the Matthean use of the plural suggests nothing more than a desire to emphasize the large number involved“. 42 Auf den Aspekt macht auch Howell, Matthew, 222–223, aufmerksam. 43 Οἱ ὄχλοι sind sehr wahrscheinlich ein matthäischer Zusatz (vgl. Tilborg, Leaders, 160; Luz, Mt I, 266, Anm.  2; Dupont, Le point, 257, Anm.  83: Matthäus „a énlargi l’auditoire“). In diesem Sinne sind 4,18–22 und 4,23–25 auch knappe Vorstellungen der Adressaten der Bergpredigt. 44 Diese grundlegende Funktion der Predigt für das Evangelium macht den Aspekt unwesentlich, dass narrativ betrachtet nur vier Apostel anwesend sein konnten. Auch ihre Berufung war paradigmatisch und mehr als eine Episode unter anderen gewesen (vgl. auch Wouters, Willen, 275). 45 Die Formuliereung ἀνοίξας τὸ στόμα drückt die fundamental revelatorische Funktion der beginnenden Rede aus (vgl. Hiob 3,1; 33,2; Ps 77,2LXX; Dan 10,16; Act 8,35; 10,34). 46 Wegen der Singularform ἀνέβη kann der Eindruck entstehen, dass Jesus den Volks­ mengen entwich (wie etwa in ebenfalls red. 8,18) und nur die Jünger als Adressaten zu ihm treten (προσῆλθαν). Das wird z. B. von Hagner, Mt I, 86; Burchard, Versuch, 414: „Offenbar wendet er sich von den Massen ab“; Carter, Crowds, 58; Edwards, Characterization, 1319, als eine bewusste klare Differenzierung zwischen Jüngern und Menge verstanden. Die Kette von Verben in Aor. (ἰδὼν, ἀνέβη, καθίσαντος, προσῆλθαν, ἀνοίξας) als Vorbereitung auf die Rede, abgeschlossen mit dem Partizip Präsens λέγων verstärkt aber die Zusammengehörigkeit der beiden Verse. Trotz der gewissen Unklarheit halten die meisten Exegeten im Lichte von 7,28 f die Menge als gleichberechtigter Zuhörer der Predigt – vgl. Luz, Mt I, 266, der sich dezidiert gegen eine Zwei-Stufen-Ethik äußert; Minear, Disciples, 33, 40; Ders., When Jesus, 74 f; Til-

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ἰδὼν47 δὲ τοὺς ὄχλους – in 5,1 Sprecher und Adressat jenseits der Wörter in eine dynamische gegenseitige Zuwendung. Das Volk, das in 9,36 einer Herde ohne Hirte ähnelt, gibt Jesus unmittelbar vor der Berufung der zwölf wiederum Anlass (ἰδὼν δὲ τοὺς ὄχλους) seine Betroffenheit (σπλαγχνίζομαι48) und aktive Hilfsbereitschaft zu manifestieren.49 Auch die zweite große Rede erfolgt also in Anbetracht der umgebenden Menge, die Jesus ‚provoziert‘, seine Jünger als unermüdliche Helfer zu seinem Volk zu schicken. Matthäus macht deutlich, dass die Rolle und die Vorbereitung der Jünger auf die Bedürfnisse der Menge zugeschnitten sind. Im Unterschied zu Mk 6,34, der die Metapher πρόβατα μὴ ἔχοντα ποιμένα ohne direkten Bezug auf die Hirtenfunktion der Jünger verwendet, schiebt Matthäus dieses Bruchstück programmatisch unmittelbar vor der Berufung der Apostel in 9,36 ein. Im Rahmen der schon vorgezeichneten narrativen Kommunikation zwischen Jesus und dem Volk ist die konkrete Antwort Jesu auf die hoffnungslose Lage der Menge die Aussendung seiner Jünger.50 Dadurch findet eine Art „Ausweitung des messianischen Projekts Jesu“51

borg, Leaders, 160; Strecker, Weg, 106; Donaldson, Jesus, 105–106; Cousland, Crowds, 243, Anm.  12; Kingsbury, Story, 107; Krieger, Publikum, 101–102; Riches, Conflicting, 186; Nolland, Mt, 191. Stanton, Origin, 188, spricht hier über „‚dual‘ audience“ wie auch in Kap. 13 und 23. Wouters, Willen, 279, der auch das Verhältnis zwischen den beiden Adressatengruppen präzisiert, meint: „Wenn die Jünger bei Jesus stehen, so repräsentieren sie das, was aus dem Volk werden soll“. Eine Zwischenlösung vertritt z. B. Byrskog, Only Teacher, 225: „The reference of the crowds in 5,1 and 7,28 forms an inclusio implying their constant presence as the audience of the Sermon. However, they are not addressed by the Sermon in the same sense as the disciples are“. 47 Dieser ‚Augenkontakt‘ kann als Auslöser der Bergpredigt gelten: „Der Blick auf das Volk eröffnet eine Reihe von einzelnen Zügen, die gleichsam feierlich zu der Höhe ‚des Lehrens‘ hinaufführt“ (LOHMEYER, Mt, 75); vgl. auch Minear, Matthew, 46: „It was with them ‚in view‘ that he assumed the authoritative posture of a teacher“. Das typische matthäische Partizip ist also nicht „ambiguous“ (Cousland, Crowds, 243), sondern es signalisiert eine erhöhte und bewusst gerichtete Aufmerksamkeit. 48 Vgl. das gleiche Schema auch in 14,14 // Mk 6,34; 15,32 // Mk 8,1 f; andere Belege: 18,27; 20,34. 49 Auch Minear, Disciples, 34: „It is Christ’s compassion for ochloi […] that motivates him to authorize the Twelve to extend his own activity“; Donaldson, Jesus, 115; Beare, Mission, 7–8: „In Mark, the compassion of Jesus impels him to teach the multitudes and then to feed them; in Matthew, it leads him to organize the group mission – to enlist the aid of his twelve disciples“; der Zusammenhang wird auch von Garland, Mt, 48,109 f, beleuchtet. 50 Vgl. auch Hoffmann, Studien, 256: „Die Bitte, Arbeiter in die Ernte zu senden, [wird] in der Einsetzung der Zwölf (10,1–4) und ihrer Sendung zu den ‚verlorenen Schafen des Hauses Israel‘ (10,5 f) erfüllt“; Konradt, Israel, 82; Willitts, Shepherd-King (2007a), 119; Ders., Shepherd-King (2007b), 368; Luomanen, Entering, 247; Heil, Ezekiel 34, 700–701; Trunk, Heiler, 193: „Der erbarmungswürdige Zustand des Volkes erfordert eine neue Strategie Jesu: die Sendung der Jünger“; Wilkins, Disciple, 138. 51 Trunk, Heiler, 193; siehe auch Davies / Allison, Mt II, 153: „The disciples do what their master did“; auch Nolland, Mt, 417; France, Mt, 383.

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statt; auch die Jünger werden Sorge um Israel tragen, auf diese Fortsetzung der irdischen Tätigkeit Jesu zielt der missionarische Auftrag in 10,7 f. 3.1.1.3 Die taktische Rücksicht der Gegner auf die Menge (12,2452; 21,26.46) Von einer rücksichtsvollen Aufmerksamkeit gegenüber dem Volk kann im Fall der Gegner bei Matthäus keine Rede sein. Die Volksmenge hat für das Verhalten und das Handeln der Gegner in einem ganz anderen Sinn eine gewisse lenkende Funktion. Sie wollen vor allem das Volk gegen den unwiderstehlichen Einfluss Jesu abschirmen und ein Gesichtsverlust vor dem Volk in den ständig verlorenen Auseinandersetzungen mit Jesus möglichst vermeiden. Die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes in 21,26 nehmen als Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Taufe, sorgfältig auf die Erkenntnis und Einstellung der umgebenden Menge Rücksicht und wollen ihr durch ihre unbedachten Äußerungen keinerlei Grund zum Anstoß geben. Angenommen, die Antwort Jesu hätte ihnen einen juristisch tauglichen Grund gegeben, ihn wegen Blasphemie schon jetzt anzuklagen, dann ist ihre Entscheidung, die Antwort zu meiden und in dieser Weise ihr Gesicht um jeden Preis vor dem Volk zu wahren (auch die erste Alternative zielt eigentlich auf eine mögliche Delegitimierung vor dem Volk; vgl. auch 21,45), sehr auffällig.53 Umgekehrt gesagt: Der Vorfall zeigt noch einmal deutlich, welch wichtige Rolle die Menge in der matthäischen Konfliktgleichung einnimmt. Einem Gesichtsverlust ist jede andere Variante vorzuziehen, auch wenn sie eine neue Gelegenheit verpassen, Jesus im Wort zu fangen. Das höhere Ziel ist die Kontrolle über das schwankende Volk beizu­ behalten; dem ist sogar die Verhaftung Jesu an Bedeutung unterlegen. Denn die Frage nach seiner Vollmacht hat ihre Pointe und Motivation genau in der Bewunderung, die Jesu Fähigkeiten beim Volk ständig auslöst, und es von seinen Autoritäten entfernt. In diesem Licht ist auch die matthäische Erweiterung in 21,23 (τοῦ λαοῦ) zu verstehen: Das Volk als religiös bedürftige, aber unbefriedigte

52 Der Vers ist wegen ἀκούσαντες ein klares Zeichen für die interessierte Empfindlichkeit der Pharisäer an der Reaktion der Volksmenge (vgl. Hummel, Auseinandersetzung, 123: „Der Beelzebulvorwurf ist von vornherein polemisch gegen das Bekenntnis zur Messianität Jesu gerichtet“; Laufen, Doppelüberlieferungen, 128; Gielen, Konflikt, 128: „Der fiktive Erzähler signalisiert, dass der nachfolgende Kommentar der Pharisäer als unmittelbare und korrigierende Replik auf die Deutung des Volkes zu verstehen ist“). Weil aber der ganze Passus eine wichtige Rolle für die steigende Erkenntnis der Menge über die Davidssohnschaft Jesu einnimmt, werde ich die beiden Aspekte unten (3.1.2.3) gemeinsam behandeln. Das Gleiche gilt auch für 21,15 (ἰδόντες). 53 Das Motiv gewinnt nur bei Matthäus ansonsten ein gewichtiges Profil: vgl. 6,1–3.5.16; 23,6–7. Vgl. Patte, Mt, 294: „They are not seeking the truth but a face-saving argument“; auch Saldarini, Matthew, 55: „Jesus […] hangs them up between their rejection of the legitimity of John the Baptist ant their desire to influence the people“.

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Größe ist ihren nachlässigen Lehrern zugewiesen, die nun wegen Jesus ihren­ Status quo und ihre Einflussnahme sogar mitten im Tempel bedroht sehen.54 Wie in Lk 20,6 und im Unterschied zu Mk 11,32 ist die Furcht vor dem Volk (φοβούμεθα) in Mt 21,26 das Resultat ihrer eigenen Überlegung und nicht ein erklärender Einschub des Evangelisten.55 Die wörtliche Übereinstimmung mit der Feststellung des Herodes in Bezug auf Johannes in Mt 14,5 ist bei Matthäus sehr groß (anders Mk 6,20; 11,32). Ein politisches Kalkül mit der Menge im Zentrum als zu verführende Größe steht auch hinter ihrer Entscheidung, die faktische Ablehnung der Taufe zu verschweigen. Der Tötung des Täufers durch den Tetrarchen fügen sie auch noch die bewusste Entwertung seiner Taufe zu. Eine ähnliche Konstellation entsteht auch in 21,45–46 durch die Reaktion der Hohenpriester und Pharisäer auf das Winzergleichnis. Dabei verstellen sie sich, nachdem sie genau hingehört haben (21,45[red.]: ἀκούσαντες),56 und halten sich zurück, Jesus zu ergreifen. Furcht (ἐφοβήθησαν) macht hier Sinn nur als Sorge, um die Beziehung zum Volk. Sie wollen die Menge nicht aus ihrem Einflussbereich verlieren und ihre wiederholten Angriffe auf Jesus haben genau in diesem unerhörten Erfolg Jesu beim Volk ihren eigentlichen Grund.57 Diese gesuchte Nähe zum Volk ist nach dem matthäischen Konzept nur heuchlerisch gespielt:58 Die Autoritäten nutzen ihre religiösen Befugnisse (vgl. 23,2) aus, um ihre führende Stellung zu festigen, ungeachtet ob die leidenden Volksmassen zu ihrem Recht kommen (vgl. 23,23) oder unter den unerträglichen Bürden, die ihnen auferlegt werden, verkommen (23,4). Matthäus erweitert die Begründung der erneuten Verschiebung ihrer ge­ planten Untat, indem er das Schicksal des Täufers mit dem Schicksal Jesu bis in den Tod verschmelzen lässt – nun ist Jesus selbst der vom Volk verehrte Pro 54 Hagner, Mt II, 610 („weakening their leadership“). 55 Dass sie bei Matthäus selbst dieses Bedenken formulieren  – φοβούμεθα τὸν ὄχλον //  Mk 11,32 ἐφοβοῦντο τὸν ὄχλον –, steigert sogar ihre Schuld (so Gundry, Mt, 420). Der Wechsel von indirekter zu direkter Rede und seine Konsequenzen für die Kommunikationssituation entgeht der Analyse von Mudiso Mbâ Mundla, Jesus, 11, der meint: „Mt und Lk nehmen hier lediglich stilistische Verbesserungen vor“. 56 Olmstead, Trilogy, 148: „The Jewish leaders do perceive the intent of Jesus’ parable, but their hearing nevertheless fails as their opposition to Jesus only intensifies“. 57 Das ist ein definitorisches Merkmal der matthäischen Davidssohn-Christologie. Hier seien nur einige Beispiele angeführt: Die einmal nicht titularische (9,33: οὐδέποτε ἐφάνη οὕτως ἐν τῷ Ἰσραήλ), einmal titularische (12,23: μήτι οὗτός ἐστιν ὁ υἱὸς Δαυίδ;) Verwunderung des Volkes versuchen die Pharisäer (9,34; 12,24) konsequent durch ihre Widerrede zu rela­ tivieren; die Frage der Hohenpriester und der Ältesten des Volkes nach der Vollmacht Jesu in 21,23 nimmt indirekt auf seine ganze heilsame und lehrende Zuwendung Bezug. 58 Vgl. Luz, Mt III, 210: „Die Führer taktieren also und verstricken sich in Heuchelei“;­ Gielen, Konflikt, 226: Matthäus gibt zu erkennen, „daß die Mitglieder des Hohen Rates das Volk nur nominell, nicht aber der Sache nach repräsentieren“, er betont also eher „den Graben zwischen ihnen“. Das Gleichnis bestätigt „the distinction between faithless Jewish leaders and faithful Jewish crowds“ (Levine, Social, 209).

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phet.59 Die hohe Wertschätzung der Menge für Jesus als Prophet hemmt ihre mörderischen Versuche.60 Das Volk für sich zu gewinnen, ist ihnen so wichtig, dass sie ihren Vorsatz vorläufig einstellen müssen. Das Volk steht zwischen ihnen und Jesus wie eine Schutzmauer und vereitelt konkret ihre Pläne.61 Die durchaus positive Rolle der Menge in diesem Fall und der Propheten-Titel, der im Lichte der Parabel ebenfalls auf das durch die Autoritäten provozierte Leiden anspielt, machen die Meinung von Marlis Gielen: „Die ὄχλοι […] fallen somit hinter ihren Erkenntniszustand in 12,23 zurück“ unverständlich.62 Das Hauptaugenmerk in diesem Vers liegt nicht auf der Meinung des Volkes, sondern auf dem düsteren Bild der Gegner, das im Kontrasteffekt gerade durch die Erwähnung dieser Meinung unterstrichen wird. Durch kleine redaktionelle Eingriffe erzielt Matthäus einen großen Effekt in der Präzisierung seiner Konfliktkonstellation: Jesus zieht wie ein Magnet die zerstreuten Menschenmassen an, denen die religiösen Autoritäten den zugewiesenen und benötigten Beistand verwehrt haben. Gerade diese Tatsache hindert sie daran, gegen Jesus vorzugehen, denn sie würden dadurch die positive Gesinnung der Menge Jesus gegenüber verletzen. Sie wollen ihrerseits das Volk als Stütze für ihre illegitime Macht auf ihre Seite bringen, verlieren aber an Boden zugunsten ihres Feindes, den sie nicht beseitigen können, ohne sich noch mehr Schaden zuzufügen und an politischem Einfluss einbüßen zu müssen. Der ironische Redaktor zeigt mit weniger Aufwand, wie die Pharisäer und Hohenpriester wegen ihrer Bosheit und List in Konflikt mit sich selbst geraten sind. Der Autoritätskonflikt, der das ganze Evangelium wie ein roter Faden durchdringt, dreht sich also um die Einflussnahme auf die jüdische Volksmenge. Weil in den Augen des Erzählers nur Jesus der Gewinner sein kann, ist es für M ­ atthäus ein wichtiges Anliegen, die Narration so zu steuern, dass die Menge und die Autoritäten möglichst oft als kontrastierende Figuren erscheinen. Diesem Punkt ist im nächsten Abschnitt nachzugehen.

59 Schnider, Prophet, 53: Bei Matthäus wird im Unterschied zu Markus die Geschichte von dem Ende des Täufers „der Passion angeglichen“. Zur Parallelität zwischen Jesu und dem Täufer im öffentlichen Wirken und im Todesschicksal bei Matthäus, vgl. Lentzen-Dies, Taufe, 90, bes. Anm. 142; Cousland, Crowds, 218 f. 60 Vgl. auch Sand, Gesetz, 142. Das hängt auch damit zusammen, dass das vorangehende Gleichnis bei Matthäus deutlicher den Charakter einer prophetischen Gerichtsankündigung hat (Schnider, Prophet, 107; vgl. auch S. 211–215). 61 Ähnlich argumentiert Bauer, Structure, 69; Ders., Major, 364, in Bezug auf 21,46; 26,4 f: „They [die Volksmenge] serve as a ‚buffer‘ between the religious authorities and Jesus, prevent­ ing the authorities from arresting and destroying Jesus.“; vgl. auch Nolland, Mt, 881. 62 Gielen, Konflikt, 220.

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3.1.2 Die Differenzierung Autoritäten – Menge63 als mt Erzählkonzept 3.1.2.1 Durch die Lehre kommt die Zwietracht (7,28–29)64 Unmittelbar vor dem Beginn der Bergpredigt hat Matthäus die zwei unterschiedlich nahestehenden Kreise der Zuhörerschaft eingeführt. Durch das Nahetreten der Jünger (5,1: προσῆλθαν αὐτῷ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ) wird vor allem ihre enge Beziehung zu Jesus und nicht ihr Unterschied zur Menge hervorgehoben. Da das Volk schon in 5,1 als anwesend erwähnt wurde, gilt es auch in 5,2 als Adressat (vgl. 3.1.1.2). Zu Wort kommt die erwähnte Menge (οἱ ὄχλοι, im Unterschied zu Mk 1,22, wo das Subjekt der Reaktion unbestimmt bleibt) jedoch erst am Ende der Rede, und ihre Verwunderung bezieht sich nicht wie in Mk 1,22 auf eine unbekannte, nur angedeutete Predigt in der Synagoge, sondern auf ein umfang­ reiches und repräsentatives Korpus der Lehre Jesu. ‚Das Programm‘ Jesu findet ein positives Echo bei der Menge, die einen unüberbrückbaren Unterschied zur Lehre ihrer Schriftgelehrten feststellt. Auch wenn Mt  7,29 abgesehen von αὐτῶν die markinische Fassung wortwörtlich übernimmt, ist die Aussage bei Matthäus viel relevanter. Oἱ γραμματεῖς tauchen in Mk  1,22 zum ersten Mal auf, hingegen sind sie bei Matthäus schon aus einem früheren Stadium der Erzählung bzw. vom ersten Teil  der Rede als negative Bezugsgruppe bekannt: In 2,4 stehen sie zusammen mit den Hohenpriestern im Bündnis mit Herodes und planen bewusst die Ermordung des­ Messias und in 5,20 wirft Ihnen Jesus selbst eine unzureichende Gerechtigkeit vor. Erst in matthäischer Sicht ist es also passend zu sagen, dass die Menge als unabhängige Größe Stellung innerhalb der Konfliktgeschichte nimmt, und

63 Gegen die Auffassung, dass „die Unterschiede zwischen Volk und Führer […] abgebaut [werden]“ (Trilling, Israel, 79), wird hier ganz besonders auf die gezielte Gegenüberstellung der beiden Gruppen hingewiesen; vgl. auch Wong, Theologie, 126: „In der Darstellung des MtEv werden die Jesus feindlich gesinnten jüdischen Autoritäten durchgängig dem ὄχλος entgegengesetzt“; Russell, Image, 428: „Matthew makes a clear contrast between the ‚crowds‘ and their leaders“; Olmstead, Trilogy, 68. 64 Auch in 22,33 wird eine Reaktion der Menge auf die Lehre (επὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ) Jesu bemerkt (nach Gründen für die spätere Platzierung von Mk 11,18 fragt Zimmermann, Lehrer, 155). Der Kontrast mit den verschiedenen Gegnergruppen ist ebenfalls gegeben: In 22,23–33 provozieren ihn die Sadduzäer zur Stellungnahme; unmittelbar danach in 22,34 schließen (ἀκούσαντες) sich die Pharisäer mit einer neuen Provokation daran an (vgl. Tilborg, ­Leaders, 148; Konradt, Israel, 99; Sand, Gesetz, 158 f). Dasselbe Verb wie in Mt 7,28: ἐκπλήσσω wird angewendet, um das durchaus positiv bewertete Erstaunen der Menge in Worte zu fassen (vgl. Schenk, Sprache, 352). Gielen, Konflikt, 257, 260, sieht hier hingegen den Anfang einer allmählichen Lösung des Volkes von Jesus. Byrskog, Only Teacher, 269, bestreitet den konfliktären Charakter dieser Äußerung überhaupt („22,33 does not fill the crowds’ reaction with connotations of conflict“).

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zwar im doppelten Sinn: Erstens ist sie von der Lehre Jesu positiv überwältigt; zweitens distanziert sie sich65 von einer Gruppe, die sich schon als Feind Jesu profiliert hat. 3.1.2.2 Das Wunder als Unterscheidungskriterium (9,1–8)66 Nach demselben Schema und mit derselben Absicht erfolgen die hervorgehobene Reaktion der ὄχλοι (Mk  2,12: πάντες) Jesus gegenüber (diesmal durch φοβέω ausgedrückt) und die Differenzierung Menge  – Autoritäten (9,3: τινες τῶν γραμματέων) auch in Bezug auf das heilende Wirken Jesu.67 9,1–8 ist in diesem Sinn ein Pendant zu 7,28–29. Das Ziel wird erst dann erreicht, wenn man die Akklamation der Menge am Ende der Perikope (9,8) liest. Beides, sowohl die Bosheit der Kontrahenten68 als auch die Begeisterung der Volksmenge, ist bei Matthäus gesteigert und setzt dasselbe redaktionelle Programm fort. Nach der matthäischen Reformulierung erkennen die Leute hier, diesmal im Rahmen einer Wundererzählung, aber besonders in Anbetracht der außergewöhnlichen Vergebung der Sünden,69 die eigentlich Gott vorbehalten

65 Diese Gegenüberstellung verdankt sich der Intervention des Erzählers; dass die Menge solche Gedanken pflegt, ist, wie auch in Mk 1,22, ein zusätzlicher Kommentar zur erzählten Welt und führt dadurch auch eine Gegenwartsperspektive ein. 66 Hier beschränke ich mich auf eine einzige Perikope, die Aussage aus dem Titel gilt für den ganzen Block von Wundergeschichten Kap. 8–9: „Am Ende des Wunderzyklus Mt 8–9 ist zur Spaltung in Israel gekommen. Die negativen Reaktionen der Pharisäer, die für Matthäus die wichtigsten und repräsentativsten der Jesu ablehnenden jüdischen Führer sind, stehen der neutral-positiven Reaktionen der Volksmassen auf Jesus gegenüber. Die Wunder Jesu in Kap. 8–9 haben im Makrotext des Evangeliums die Funktion, diese Spaltung in Israel zu bewirken. Sie bilden die Exposition des später ausbrechenden Konflikts“ (Luz, Wundergeschichten, 153). 67 Comber, Verb, 433: „The healing ministry is a method used by Matthew to differentiate sharply between Jewish leaders and Jewish crowds“, Chae, Jesus, 296. Über die Hervorhebung der Menge in dieser Perikope vgl. Park, Sündenvergebung, 153; Hummel, Auseinander­ setzung, 37: „Den Chorschluss sprechen nicht alle, sondern nur die ὄχλοι“. 68 Die Gegner sind im Unterschied zu Mk  2,6 dem Leser bei Matthäus schon bekannt (aus der Kindheitsgeschichte; aus der Einfügung in 3,7 und aus 5,20); der knappe Dialog ist der Ausdruck einer schon bestehenden Feindseligkeit. Die Schriftgelehrten stellen keine Frage mehr sondern konstatieren apodiktisch die Gotteslästerung (9,3), wobei sie „auf Distanz gehen“ (Gielen, Konflikt, 87). Ein Demonstrativpronomen (οὗτος in 9,3, wie auch in 12,24) ist ein geeignetes Sprachmittel, um Abstand zum Ausdruck zu bringen (vgl. Van Dijk, Prejudice, 137: „demonstrative of distance“) oder noch mehr um das Gegenüber sogar abzuwerten (Nolland, Mt, 498: „dismissive“). Zugleich quittiert Jesu selbst ihre Überlegungen als grundlegend schlecht (πονηρός) – ein Begriff, der in der Gegnerdarstellung und in der Konfliktaustragung bei Matthäus eine wichtige Rolle spielt (vgl. besonders Tilborg, Leaders, 27–45), und hier eine Steigerung im Vergleich zu Mk bedeutet (Hummel, Auseinandersetzung, 37; Konradt, Israel, 148; Gielen, Konflikt, 93; Repschinski, Stories, 68). Vgl. auch den Abschnitt 2.2. 69 Für Matthäus gilt in der ganzen Perikope eine schon in Mk 2,1–12 angelegte Schwerpunkt-Verschiebung von der eigentlichen Heilungsgeschichte zum Streitgespräch über die Sün-

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ist,70 die übermenschliche Kraft, die in der ἐξουσία Jesu zutage tritt. Die Kompetenz Jesu Sünden zu vergeben, wird bei ihrem ersten Vorkommen in der Perikope mit der ἐξουσία in Verbindung gebracht; somit lässt Matthäus das Volk anders als Mk 2,12 eher über diesen Zusammenhang und nicht über die Heilung selbst staunen (Mt 9,8).71 Die christologischen Bezüge sind durch die Einbettung in das matthäische theologische Netz nach hinten und nach vorne gut gesichert (1,21; 26,28; 28,18)72 und unverkennbar polemisch ausgerichtet (vgl. auch die Vollmachtfrage in 21,23–27). Das vermindert aber keinesfalls die Bedeutung der Wunder im Umgang Jesu mit dem Volk. Durch die Verbindung der Krankheit mit der Sünde kann aber ein Deutungsmuster für die Heilungen entstehen, das folgendes besagt: Die Vergebung der Sünden tritt auch dort ein, wo sie nicht explizit erwähnt wird.73 Eine solche Schlussfolgerung ist aber erst wegen der herausragenden Rolle in Erwägung zu ziehen, die Matthäus dieser Thematik im Rahmen seiner Christologie zuschreibt. Dieser redaktionelle Zug74 kann seinen Ursprung darin haben, dass Matthäus die Vergleichslinie zwischen Autoritäten und Volk in zwei grundlegenden Themen des Evangeliums ziehen will, die an keiner anderen Stelle zusamdenvergebung (vgl. Held, Matthäus, 166 f; Hummel, Auseinandersetzung, 36; Tilborg, ­Leaders, 143; Sand, Gesetz, 65; Nolland, Mt, 383; Repschinski, Stories, 72; Hendrickx, Miracle, 137). Anders behauptet Gielen, Konflikt, 87, Anm. 3, dass hier eine explizite Reaktion des Volkes auf das Wort der Sündenvergebung fehle. Dagegen spricht aber die bloße Tatsache, dass sich die Bewunderung des Volks in 9,8 redaktionell eben auf die ἐξουσία bezieht, die in 9,6 explizit im engen Zusammenhang mit der Vergebung steht. 70 Das Subjekt der Sündenvergebung ist sowohl im AT als auch im NT immer Gott, vgl. Bultmann, Art.  ἀφίημι, 507, 508; Park, Sündenvergebung, 9.  Als wichtiger Bezugstext gilt Jes 43,25; vgl. auch 1Kön 8,39; Jes 59,20; Jer 31,34; Ez 11,17–19; 36,25. Die Überzeugung ist auch außerhalb des Alten Testaments verbreitet, vgl. Jub 1,22–23; PsSal 9,6–7; TestGad 7,5; Josephus, Ant II 23; Philo, VitMos II 147; mAv 2,1 erfolgt aber meistens in einem kultischen Rahmen (vgl. Philo, SpecLeg I 190.237.215). Zur Verbindung Sünde  – Krankheit vgl. Kee, Medicine, 20, 24–25; siehe auch Anm. 74, S. 68. 71 Hummel, Auseinandersetzung, 36; Repschinski, Stories, 71; Hendrickx, Miracle, 140: „It ist he miracle of forgiveness that the crowds react“; Park, Sündenvergebung, 152–153; Luomanen, Entering, 221. 72 Luz, Wundergeschichten, 152, meint: „Die matthäischen Wundergeschichten von Kap. 8–9 sind im Wesentlichen der Anfang eines Erzählgefüges, das auf ein Ende zuläuft und erst von diesem Ende her verstanden werden kann“. In diesem Sinne ist der ἐξουσία-Begriff (9,6; 28,18) ein konkretes Beispiel für die tiefe christologische Verankerung dieser Wundergeschichte (zu dieser Verbindung vgl. auch Hendrickx, Miracle, 141). 73 So Novakovic, Messiah, 73: „It is therefore highly likely that Jesus’ healing ministry is viewed by Matthew as saving his people from their sins“; Gerhardsson, Mighty, 81; Heil, Aspects, 277: „A significant distinction or separation between forgiveness and physical healing would not be made by the first-century Jews“. 74 Vgl. z. B. die wichtige Auslassung von Mk  2,4  – die „höchst anschauliche Szene“ des Glaubens, der Wunder wirkt (Held, Matthäus, 165); zur extremen narrativen Verarmung der mt Version vgl. auch Dupont, Le paralytique, 940.

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men kommen, nämlich der Gotteslästerungsvorwurf – der Kreuzigungsgrund – und die grundlegende göttliche Zielsetzung der Sündenvergebung (1,21; 26,28). An dem Punkt – die Vergebung der Sünden –, an dem die Menge75 das überwältigende Einwirken Gottes als ein solches identifiziert und preist (δόξασαν76), bringen die Schriftgelehrten schon die schwerwiegende Anschuldigung Jesu als Gotteslästerer zum Ausdruck (9,3: οὗτος βλασφημεῖ), ihretwegen Jesus letztendlich am Kreuz sterben wird. Sie erscheinen in dieser Perikope als unfähig, die Sündenvergebung als tatsächliche Folge der angekündigten Zuwendung Gottes zu den Menschen (vgl. Jes 1,18) anzunehmen. Dass diese Möglichkeit besteht, ist für sie von vornherein ausgeschlossen; „der Vorwurf der Gotteslästerung ist damit Ausdruck der innersten Schlechtigkeit“,77 wie auch im Fall des Hohen­priesters in 26,65 (ἐβλασφήμησεν). Der Verweis auf die Passion ist dadurch zweifach untermauert: sprachlich durch den identischen Wortlaut von 9,3 mit der Verurteilungsszene78 und soteriologisch durch die Sündenvergebung als Wirkung der Passion (vgl. 26,28), die hier im Voraus exemplifiziert wird. Denn was in 9,1–8 an einem einzelnen

75 Wegen der betreffenden Kontrastierung gebraucht Matthäus die wichtige Subjekt-Veränderung in 9,8 // Mk 2,12; indem er nicht die πάντας sondern die ὄχλοι Gott loben lässt, wird die positive Reaktion auf das Volk eingegrenzt: „Während man Mk 2,12 so verstehen kann, dass auch sie (πάντες!) [die Schriftgelehrten] ins Gotteslob einstimmen, ist das bei Matthäus nicht der Fall; sie sind Jesu Feinde“ (Luz, Mt II, 37; vgl. auch Konradt, Israel, 100; Hummel, Auseinandersetzung, 37; Gielen, Konflikt, 92; Repschinski, Stories, 73). 76 Der Lobpreis der Menge fasst die Perikope, wie schon erwähnt, eher als Sünden­ vergebung zusammen. Dass die ἄνθρωποι (9,8) hier ins Spiel gebracht werden, im Vergleich zum markinischen οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν, muss nicht als ‚christologisches Defizit‘ verstanden werden, sondern als „Nähe Gottes zu seinem Volk, die in dieser Vollmachtübertragung sich ereignet“ (Meiser, Reaktion, 246). Manche Kommentatoren gehen davon aus, dass die Gemeinde als Verwalter der Sündenvergebungsgewalt hier gemeint sein kann, vgl. z. B. Luz, Mt II, 38; Ders., Wundergeschichten, 159; Strecker, Weg, 221 f; Hummel, Auseinandersetzung, 37, 102; Harrington, Mt, 124 f; Dupont, Le paralytique, 957–958; Schnackenburg, Mt II, 85; Hendrickx, Miracle, 141: „Matthew’s reformulation […] no longer reflects the controversy between Jesus and the scribes as such, but rather the contemporary opposition­ between the Matthean community, which claimed the power to forgive sins, and the synagogue“. Gielen, Konflikt, 92 f, stellt diesen Forschungskonsens in Frage und macht eher auf den Erkenntniszuwachs der Menge im Anschluss an 7,28 f; 9,33; 12,23 aufmerksam: „Positiv lässt sich Mt 9,8 dagegen als eine Etappe eines noch unvollkommenen, aber wachsenden Verständnisses der Person Jesu durch die ὄχλοι verstehen, wodurch die Volksmenge zugleich in einen sehr wirkungsvollen Kontrast zu den Gegnern tritt“. 77 Sand, Gesetz, 67; Feneberg, Erwählung, 240: „Die Schriftgelehrten haben sofort die theologische Dimension dieser Aussage erfasst und eine Gotteslästerung unterstellt“. 78 Repschinski, Stories, 68: „The first accusation also indicates in retrospect that the conflict between Jesus and the Jewish leaders was irreparable right from the beginning. The lines are clearly drawn“; Konradt, Israel, 117: „Diese Querverbindung unterstreicht, dass es bei der ersten Konfliktszene gleich um den Kern der Feindseligkeit der Autoritäten geht“; Heil, Death, 16; Hendrickx, Miracle, 137; Gerhardsson, Mighty, 75.

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Menschen ausgeübt wird (9,2.5: ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι), macht das Ziel der irdischen Mission Jesu insgesamt aus (1,21).79 Mit den Schriftgelehrten und der Menge werden hier also die zwei profilierten Erzählfiguren als Träger von zwei (Un)Heilsperspektiven kontrastiert: die vom Heil Ausgeschlossenen, die Jesus in den Tod treiben, und das Volk, dem der heilbringende Tod Jesu zu Gute kommt. In diesem Sinne dürfte man sagen, auch wenn auf erzählerischer Ebene eine Steigerung natürlicherweise durchaus vorhanden ist, dass die matthäische Jesusgeschichte von der ersten Konfliktszene an stark eskaliert ist, oder besser gesagt, aus einer eskalierten Perspektive eines realen und nicht nur fiktiven Konflikts erzählt wird. Die Perikope gehört zu den ersten narrativ exemplarischen Konflikterfahrungen und zeichnet das Modell, nach dem auch die folgenden direkten Konfrontationen ablaufen. 3.1.2.3 Der Zuwachs an Erkenntnis über die Davidssohnschaft Jesu (9,32–34; 12,22–24; 21,9–17) In den bisherigen Fällen war die Unterscheidung der ὄχλοι von den Autoritäten mit einer bestimmten inhaltlichen Thematik verbunden. Die Lehre Jesu (7,28 f; 22,33) bzw. die Wunder als Vergebung der Sünden, waren die Dimensionen, auf Grund derer sich der Kontrast herausgebildet hat. An den nächsten drei Stellen lässt sich der Israelbezug genauer herausarbeiten und eine Menge erkennen, die durch ihren Umgang mit Jesus nicht unverändert bleibt, sondern ständig an Klarheit und Einsicht darüber gewinnt, was die Botschaft und die irdische Wirkung Jesu ausmacht. 9,33; 12,23 und 21,9 zeigen eine lernfähige Menge, die unter der Fülle von Ereignissen und trotz der und gegen die ‚Empfangsstörungen‘ von Seiten der Autoritäten allmählich ihren davidischen Messias erkennt. Ihr Erkenntniswachstum wird von Matthäus konsequent durch eindeutiges redaktionelles Eingreifen markiert. In 9,33 ist die Äußerung der Menge eine Eintragung des Evangelisten, obwohl Mk 2,12 hier in οὐδέποτε … οὕτως anklingt.80 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Menge selbst im Stande ist, wie Jesus selbst (vgl. 8,10), Urteile über Ereignisse in Israel zu formulieren. Durch die Art der redaktionellen Erwähnung Israels – οὐδέποτε ἐφάνη οὕτως ἐν τῷ Ἰσραήλ – bezeichnet sich die Menge als

79 Ausgehend von dieser Stelle, an der ungewöhnlicherweise σῴζω mit ἁμαρτία kombiniert wird, macht Novakovic, Messiah, 73 f, auf den angesprochenen Zusammenhang aufmerksam: „It is therefore highly likely that Jesus’ healing ministry is viwed by Matthew as saving his people from their sins“. Vgl. auch Hagner, Mt II, 232: „The primary mission of Jesus is the overcoming the sin through the cross (cf. 1,21; 20,28; 26,28); the healing are only a secondary indication of this fact“. 80 Cousland, Crowds, 137; Konradt, Israel, 101; Burger, Jesus, 77. Ein weiteres sprachliches Element von dieser markinischen Stelle (ἐξίστημι) wird in der matthäischen Dublette 12,23 noch aufgehoben.

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Teil  des auserwählten Volks und ordnet die Wundertaten Jesu und sich selbst in der ihr bekannten und hier vergegenwärtigten Heilsgeschichte ein, erkennt aber auch die relevante Israelbezogenheit der Zuwendung Gottes in Jesus zu den Menschen.81 Die Verwunderung (θαυμάζω) sagt somit eher etwas über die Menge selbst und ihre wachsende christologische Einsicht aus als über die schon (an)erkannte Vollmacht Jesu (7,28 f; 9,8). Durch diese positive ‚Rückmeldung‘ zeigt die Volksmenge auch auf emotionaler Ebene ihre Bindung an die gesamte Wundertätigkeit, auf die sie wegen ihrer geistigen und materiellen Dürftigkeit angewiesen ist und von der sie schon tatsächlich profitiert. Parallel gestaltet ist Mt 12,23, für den Mt 9,33 in Bezug auf die messianischen Inhalte eine Sprungbrettfunktion einnimmt.82 Wegen der eindrücklichen heilbringenden Tätigkeit Jesu wächst bei der israelitischen Menge induktiv die Erkenntnis, dass Jesus der erwartete Messias sein könnte. Dass diese Vorgehensweise ein legitimiertes und von Jesus selbst unterstütztes Erkenntnismodell ist, sieht man an der Antwort, die Jesus den Täuferjüngern in 11,4 gibt: πορευθέντες ἀπαγγείλατε Ἰωάννῃ ἃ ἀκούετε καὶ βλέπετε. Auch ihre Frage betraf die Messianität Jesu; die konkreten Heilungen, wie auch die Verkündigung des Evangeliums werden als ‚empirische‘ Stützen empfohlen, um Unsicherheit und Zweifel zu beseitigen. Die Menge, der ein unmittelbarer Zugang zur Identität Jesu, wie nur die Zwölf ihn haben, ebenfalls fehlt, geht ähnlich wie die Jünger des Täufers vor. Die unvergleichbare Hilfsbereitschaft und Autorität Jesu zeichnen ein Bild, das dem messianischen Bild sehr nahe kommt, welches das Volk bei Matthäus zu haben pflegt.83 So erfolgt der Sprung vom Ereignis – wie in 9,33 – zur Person, und die Menge erahnt unter der Oberfläche der unzähligen Wunder eine mögliche Identität:

81 Im Vergleich zu 9,8, wo die ἄνθρωποι als allumfassender Bezugsrahmen der Fähigkeiten Jesu genommen wurden, wird hier das Wunder durch den auf Israel eingegrenzten Hinweis in die Richtung der matthäischen Davidsohn-Christologie gedeutet, die an den nächsten Stellen schrittweise von der Menge konkret aufgenommen wird. Ein christologischer Hinweis sieht an dieser Stelle Held, Matthäus, 235. Cousland, Crowds, 140, lässt hingegen hier kaum ein christologisches Interesse durchleuchten: „If there is a christological interest on the part of the crowds, it is certainly a veiled one“. Ähnlich auch Luz, Mt II, 63: „Mehr als ihre [der Wunder] äußere Fassade wird aber den Volksmassen nicht verstehbar“, bezeichnet den Text auf jeden Fall wegen der „gespalteten Reaktion“ auf die Wunder Jesu als „Schlüsselstelle“, die „variiert“ auch in 12,23 f und 21,10 f.14–17 anklingt (Luz, Wundergeschichten, 152). 82 Von Mt 9,33 zu Mt 12,23 ist eine deutliche Steigerung zu bemerken (vgl. auch Burger, Jesus, 78; Gielen, Konflikt, 127). Es ist angemessen die Verwendung des Davidssohn-Titels im Munde der Menge von den anderen Belegen zu unterscheiden, denn nur in diesem Fall ruft er stets den Protest der Autoritäten auf den Plan (Suhl, Davidssohn, 70). Exemplarisch wird diese Steigerung von Bornkamm, Vollmacht, 287, auf den Punkt gebracht: „Was hier (Mt 9,33 – Anmerkung von R. P.) noch unausgesprochen ist, wird im Munde des Volkes in 12,23 zur offenen Frage und in 21,9.11(15) zum jubelnden Zuruf dem Sohn Davids“. 83 Es ist als ob, „für Mt Heilungswunder quasi automatisch beim jüdischen Volk die Frage nach dem Davidssonschaft entstehen lassen“ (Broer, Versuch, 1261).

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μήτι84 οὗτός ἐστιν ὁ υἱὸς Δαυίδ;.85 Zugleich sind aber die ὄχλοι in einen Prozess der Selbsterkenntnis involviert: Sie als Gruppe oder Einzelne aus ihren Reihen werden gezielt von Jesus ausgesucht und geheilt. Indem Jesus allmählich mit der Figur des Davidssohns identifiziert wird, besetzt die Menge folglich die Rolle des heiligen Volkes,86 dem Gott Hilfe und Zuwendung versprochen hat. Christologische Aussagen der ὄχλοι sind deswegen immer auch israelbezogene Selbst­ offenbarungen.87 Auffällig sind in diesen Versen auch die Identität und das Verhalten der Gegner. In den beiden Parallelberichten treten die Pharisäer als Widersacher auf, obwohl dies in Anbetracht der beiden Quellen nicht naheliegend ist (Mk 3,22: οἱ γραμματεῖς; Lk 11,15 schreibt diese Aussage sogar der Menge selbst zu – τινὲς δὲ ἐξ αὐτῶν [unter der Menge, vgl. 11,14]).88 Durch das Schaffen dieser Dublette hat Matthäus die Gelegenheit, wie auch im Fall der Menge, Entwicklungen im 84 Wegen μήτι, ein Partikel, der allgemein eine negative Antwort erwarten lässt, wird manchmal behauptet (vgl. z. B. Kingsbury, Son of David, 600; Ders., Rhetoric, 374; Carter, Crowds, 61), dass die Volksmenge in ihrer Unwissenheit verharrt und die Messianität Jesu nicht erkennt. Vgl. am deutlichsten Carter, Crowds, 61: „They are ‚amazed‘ at Jesus’ healing (12,22), but their amazement does not amount to understanding“. Doch es wird eingeräumt, dass μήτι auch offene Fragen und in Verbindung mit anderen Partikeln sogar positive Antworten ausdrücken kann (vgl. Légasse, Art. μήτι, Kol. 1049). Diese Tatsache, wie auch der intendierte Kontrast mit den Pharisäern, wird oft in der Exegese dieser mt Stelle fruchtbar gemacht, vgl. z. B. Davies / Allison, Mt I, 335, Anm. 6; Stanton, Christology, 110 f; Strecker, Weg, 118; Konradt, Israel, 102; Duling, Therapeutic, 401; Hummel, Ausein­andersetzung, 118; Nolan, Royal, 183; Gibbs, Purpose, 458. Cousland, Crowds, 139, und Tilborg, Leaders, 145, weisen auch auf die parallele Formulierung der Pharisäer (οὗτος … εἰ μή) hin, die der für sie störenden Überzeugung der Menge mit ähnlichen sprachlichen Mitteln entgegenzusteuern versuchen: „The parallelism of the two replies helps to emphasize their antithetical disparity“ (Cousland, Crowds, 139); siehe auch Chae, Jesus, 309 („positive link between healing and the title“). Eine mittlere Position nimmt Suhl, Davidssohn, 72, an („fragende Vermutung“); ähnlich auch Novakovic, Messiah, 82 („an inquiring statement with certain measure of uncertainity“). 85 Auf den ‚kognitiven‘ Sprung der Menge wird oft aufmerksam gemacht. Vgl. z. B. Luz, Mt II, 258; Cousland, Crowds, 138; Konradt, Israel, 103; Münch, Gleichnisse, 116 („tastendes Suchen“); Burger, Jesus, 78; Meiser, Reaktion, 256, Anm. 146; Gielen, Konflikt, 127: Der Erzähler zeigt, „wie sich das Volk ohne Hilfe seiner Führer und ganz auf sich gestellt langsam vortastet und eine Verbindung zwischen der macht Gottes […] und der Identität Jesu herstellt“. 86 Das Wirken Jesu in Israel als gnädige Zuwendung Gottes bildet den Vorstellungshorizont, in dessen Rahmen die Davidssohn-Bezeichnung als titularische Verdichtung ihren theologischen Ort bei Matthäus einnimmt (vgl. Strecker, Weg, 120; Gnilka, Mt I, 351–352; Konradt, Israel, 52). Zum engen Verhältnis ὄχλος – λαός bei Mt vgl. weiter Anm. 119, S. 152. 87 Gnilka, Mt I, 347: „In ihrer Rede offenbaren sie sich als Israeliten, zu denen Jesus gesandt ist“; Cousland, Crowds, 46: „In identifying Jesus, the crowds raise for the reader the question of their own identity“. 88 Die Pharisäer hier zu Gegenläufer Jesu zu machen ist ein wichtiges Anliegen von Matthäus (Twelftree, Jesus, 104). Zum Thema Gegner im Matthäus vgl. 2.2.

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Verhalten der Pharisäer durch sorgfältige Wortwahl zu verzeichnen. Auch die matthäische Textgestaltung lädt zu einer synoptischen Lektüre ein, um dem Text die eigentliche Pointe abzugewinnen.89 Bezieht sich in 9,34 die schroffe Gegenrede der Pharisäer (ἐν τῷ ἄρχοντι τῶν δαιμονίων ἐκβάλλει τὰ δαιμόνια) auf die konkrete Dämonenaustreibung90 durch Jesus, so mischen sie sich in 12,24 primär wegen (ἀκούσαντες91) der Begeisterung der Menge ein, die schon auf messianisches Gedankengut zurückgreift.92 Die steigende Einsicht des Volkes geht mit der unüberbrückbaren Ablehnung der Pharisäern einher und steigert zugleich inhaltlich ihre Stellungnahme:93 Jesus wird ein Bündnis mit dem hier beim Namen erwähnten Fürst der Dämonen vorgeworfen: οὗτος οὐκ ἐκβάλλει τὰ δαιμόνια εἰ μὴ ἐν τῷ Βεελζεβοὺλ94 ἄρχοντι τῶν δαιμονίων. Die Benennung weist auf eine enge Beziehung zwischen den beiden hin. Durch den Dativus instrumentalis (ἐν + D) wird Jesus, der von der Macht des Obersten Gebrauch macht, sogar eine gewisse Überlegenheit eingeräumt. Diese haftet ihn aber an die boshafte, dämonische Handlungsweise. Die Pharisäer bemühen sich, indem sie sich

89 Wegen der feinen Unterschiede haben solche Doppellungen eine große informative Funktion, „the placement and arrangement of these stories are crucial to the development of both plot and character in Matthew“ (Anderson, Double, 72). 90 Ihr Vorwurf nimmt trotzdem die ganze Wundertätigkeit Jesu wie in den Kap. 8–9 geschildert, in den Blick (vgl. Gnilka, Mt I, 347). Auch in diesem Fall aber bleibt die Menge nicht unberücksichtigt, vgl. Davies / Allison, Mt II, 139: „The Pharisees’ statement is to be closely associated with the utterance of the crowds […] trying to convince them that their assertion is wrong“; bestätigend Nolland, Mt, 404. 91 Das Partizip deutet darauf hin, „dass die Pharisäer bewusst auf das Urteil des Volkes­ Bezug nehmen und es korrigieren wollen“ (Gielen, Konflikt, 126, 128). Vgl. auch Konradt, Israel, 123 f; Hare, Mt, 138; Trunk, Heiler, 64; Branden, Satanic Conflict, 61, 77 (Anm. 119): „The Pharisees obviously take the crowd’s question as a threat“; Repschinski, Stories, 122: „It is no longer the miracle that provokes a mixed reaction, as in Q, but the positive reactions of the crowds that upsets the Pharisees“; Novakovic, Messiah, 82: „The question of the crowd is the source of the conflict and not the miracle itself “. 92 In Bezug auf die Wunder Jesu haben die ὄχλοι auch bisher eine Sonderstellung ein­ genommen. Schon 8,1[red.] – ἠκολούθησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί – begleiten sie Jesu auf dem Weg zur ersten Heilung; 8,18[red.] tauchen sie wieder auf; auch das Gotteslob in 9,8[red.] wird der Volksmenge in den Mund gelegt, Mk 2,12 (πάντων); Lk 5,26 (ἅπαντας); 9,36 ist die Menge selbst die bedürftige Herde Israels. 93 Die matthäische Formulierung verschärft die Antwort im Vergleich zu 9,33; dazu trägt auch die semitische Konstruktion οὐκ … εἰ μή bei. Vgl. Luz, Mt II, 254; Davies / Allison, Mt I, 335; Gnilka, Mt I, 457; Gielen, Konflikt, 127–128; Nolland, Mt, 498; Repschinski, Stories, 121 f; Hummel, Auseinandersetzung, 123. 94 „Beelzebul“ ist einfach ein möglicher Name des Satans aus einer ganzen Reihe (vgl.­ Davies / Allison, Mt II, 195); er taucht hier als Eigenname vor, ist aber möglicherweise durch ἄρχοντι übersetzt. Über die knifflige Etymologie des Wortes vgl. MacLaurin, Beelzebul, ­156–160; Gaston, Beelzebul, 247–255. Ein Bündnis mit Beelzebul, d. h. Zauberei, war mit dem Tode bestraft (mSan 7,4, vgl. Hagner, Mt I, 342).

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der für die damalige, jüdische Weltvorstellung möglichst deklassierenden mythologischen Sprache95 bedienen, die Menge von ihrer gradlinigen Bahn auf die Anerkennung der Messianität Jesu hin abzubringen. Zwei Punkte bestimmen bereits eine Gerade: Die anbahnende messianische Erkenntnis der Menge von 9,33 und 12,23 reift im Bericht über den Einzug Jesu in Jerusalem in 21,9. Matthäus schreibt der jubelnden Menge im Vergleich zu Markus eine klare Identität zu (21,8: ὁ πλεῖστος ὄχλος // Mk 11,8: πολλοί; Mt 21,9 ergänzt Mk  11,9: οἱ προάγοντες καὶ οἱ ἀκολουθοῦντες um das vorangestellte οἱ ὄχλοι). Es ist anzunehmen, dass Jesus hier als der zu Israel gesandte Sohn­ Davids96 erkannt und akklamiert wird,97 sodass der Leser einsieht, dass die verzweifelten Versuche der Pharisäer, das positive Echo des Wirkens Jesu herunterzuspielen, zum Scheitern verurteilt sind. Jesus geht direkt in den Tempel und praktiziert summarienartig, was eigentlich schon für größer als der Tempel erklärt wurde  – Barmherzigkeit in Wort und Tat, indem er die Blinden und Lahmen heilt (21,14). Jesus bricht aber nicht das Gesetz, sondern heilt sie, sodass „those who are excluded […] may enter“.98 Die polemische Pointe von 21,9, die durch den Rückbezug auf 9,33 und

95 Die Dämonisierung der Gegner ist ein breit bezeugtes Topos in der Konfliktsprache der Antike wie auch heute noch. Wenn Autoritätsansprüche aufeinanderprallen ist dies ein gängiges Mittel die Kontrahenten zu diskreditieren (Malina / Neyrey, Calling, 28 f). Hier seien nur einige Stellen aus der jüdisch-hellenistischen Literatur erwähnt. Vgl. z. B. Jub 1,20 f; 15,33 (als Söhne Beliars); 48,15 (als der Prinz Mastema); TestDan 5,6 („ihr Prinz ist Satan“) vor­wiegend in der Antivölker-Polemik; 1QM 17,5–6: Fürst „der Herrschaft des Frevels“ ist der Anführer der Feinde Israels im mythologischen Krieg der Gemeinde, in einem Passus, in dem die ‚Sie / Ihr‘Rhetorik dominiert (1QM 17,4.8, vgl. dazu entsprechend Mt  23,5 ff / 23,8 ff: ὑμεῖς δέ). Über Beliar und seinen Anstieg zum eschatologischen Feind Gottes und des Volkes vgl. Osten-­ Sacken, Gott, 73–78; dualistisch in Joh 14,30 (ὁ τοῦ κόσμου ἄρχων, vgl. auch Eph 2,2); nicht zuletzt Joh 8,44 (ὑμεῖς ἐκ τοῦ πατρὸς τοῦ διαβόλου ἐστέ). 96 Inhaltlich führt Matthäus eine Verschiebung vom Reich (Mk  11,10: εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ) zum König (Mt 21,9: ὡσαννὰ τῷ υἱῷ Δαυίδ) durch; so auch Lohfink, Messiaskönig, 193: „Zweifellos hat Mt stärkere christologische Akzente“; Patsch, Einzug, 11: „Das Interese des Matthäus lag also auf der Niedrigkeit des Einzugs“. 97 Diese Proklamation wird mit Recht als Erkenntniszuwachs verstanden, vgl. Cousland, Crowds, 194: „This pericope represents the crowds finally coming to more of an awareness of who Jesus is“; Baxter, Healing, 40 („a move from uncertainty [in 12,23] to conviction“); Konradt, Israel, 105; Menken, Psalms, 70 („positive answer of the crowds“); vgl. weitere positive Einschätzungen bei Luz, Mt III, 183; Meiser, Reaktion, 249; Loader, Son of David, 579 („appropriate response“); Trilling, Einzug, 69–70. Trotzdem wird dieses Bekenntnis manchmal als mangelnde Erkenntnis aufgefasst (vgl. wiederum Carter, Crowds, 59: „lack of understanding“, aber auch Gielen, Konflikt, 202: Das Erkennen und Bekennen Jesu als dem Sohne Davids sei „richtig“, aber „unzureichend“). 98 Gerhardsson, Mighty, 30. Jesus macht die Kranken sozusagen ‚tempeltauglich‘ (Lohfink, Messiaskönig, 193: „Sie werden geheilt und damit auch im alten Sinn tempelfähig gemacht“; Gurtner, Matthew, 139 f; Chae, Jesus, 320; Beaton, Isaiah’s Christ, 183–185).

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12,23 entsteht, wird im matthäischen Einschub 21,14–17 buchstäblich bestätigt. Nur treten jetzt die Hohenpriester und Schriftgelehrten99 an die Stelle der Pharisäer. Ihre Entrüstung (ἀγανακτέω) wird einerseits von den Heilungen, andererseits von den Akklamationsrufen der Kinder100 hervorgerufen (21,15: ἰδόντες) und nicht wegen der Tempelreinigung wie in Mk 11,18.101 Folglich fordern sie Jesus auf, die Knaben zum Schweigen zu bringen. Die Autoritäten beklagen sich quasi bei Jesus über die herausfordernde messianische Bekanntgabe der Kinder / Menge und geben zu verstehen, dass sie, obwohl sie für religiöse Fragen zuständig sind, sogar weniger als das ‚einfache‘ Volk von der göttlichen Ökonomie in Israel mitbekommen haben. Sie müssen feststellen, dass die Lage völlig außer ihrer Kontrolle geraten und der generalisierte messianische Zuruf durch ihre gewöhnlichen Einflussmechanismen nicht mehr zu verhindern ist. Ihre hilflose ‚Zuwendung‘ zu Jesus wird für die Erstleser äußerst ironisch102 geklungen haben. Ihre Ratlosigkeit steht in einem schrillen Kontrast zur mutigen Anerkennung der Messianität Jesu mitten in der heiligen Stadt – ihrem Zuständigkeitsbereich. Denn in der Einzugsperikope kommen die unabhängigen ὄχλοι dem Wesen Jesu am nächsten und bezeugen öffentlich, ungehindert trotz der mürrischen und widrigen Autoritäten, ihren erreichten Erkenntnisstand.103 Man kann bei der Lektüre leicht den Eindruck gewinnen, dass dieser Passus als

99 Eine „ungewöhnliche Kombination“, die nur noch in 2,4 bei der Geburt des Messias und in 20,18, der letzten Leidensankündigung vorkommt (vgl. Hare, Mt, 242). 100 Die Akklamation nach den Heilungen im Tempel unterscheidet sich im Grunde genommen, was die Protagonisten und die Substanz angeht, nur geringfügig von dem vorangehenden Jubelruf bei dem Einzug in die Stadt. Anstatt der Kinder könnten hier durchaus auch die ὄχλοι stehen: Die Kinder treten als Teilgruppe der ὄχλοι auf (Gielen, Konflikt, 203; Miler, Les ­Citations, 214: „L’ acclamation du Fils de David, pris en relais par les enfants, se prolonge jusqu’au coeur du Temple“; Lohfink, Messiaskönig, 190; Mullins, Jesus, 119: „The children picked up the phrase“; Novakovic, Messiah, 86 [„parallel between the cry of children in the Temple and the cry of the crowd“]; Weren, Entry, 135; Menken, Psalms, 72). Matthäus fügt die Kinder deswegen ein, weil er sie als Vorbereitung auf Ps 8,3 (vgl. auch SapSal 10,21) in 21,16 brauchte (so Luz, Mt III, 188; auch Konradt, Israel, 103–104, Anm. 49; Burger, Jesus, 87). Das bestimmt entsprechend auch das Verhalten der Kontrahenten, die sich direkt an Jesus wenden, und den Unmündigen, wie auch den Jüngern in 15,2, keine Aufmerksamkeit schenken. In 12,24 war ihre Widerrede direkt an ihr Zielpublikum adressiert. 101 Auf diese auffällige Abweichung wird oft hingewiesen, vgl. z. B. Novakovic, Messiah, 87–88; Gibbs, Purpose, 460; Konradt, Israel, 145; Lohfink, Messiaskönig, 191; Trilling, Der Einzug, 68; Ebersohn, Nächstenliebegebot, 183. 102 Repschinski, Stories, 191: „The whole scene achieves an ironic twist in which the children arrive at some truth about Jesus while the Jewish leaders, who showed themselves knowledgeable about the King of the Jews in 2,2–6, do not recognize the Son of David here“. Über die jüdischen Autoritäten als bevorzugte Zielscheibe der matthäischen Ironie vgl. Howell, Matthew, 238–242. 103 Cousland, Crowds, 194; Konradt, Israel, 105; Gielen, Konflikt, 203; Repschinski, Stories, 191 f.

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Zusammenfassung und Sprungbrett für den letzten Konfliktanlauf konzipiert ist.104 Matthäus zieht jetzt positive Bilanz und gewährt Jesu eine ruhige Nacht – die Ruhe vor dem Sturm. 3.1.2.4 Schlussfolgerung (23,1) Nach wiederholten Lehrdurchgängen werden die ὄχλοι in 23,1 reif, um sich die eindrückliche polemische Rede Jesu gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten anzuhören.105 Bisher haben sie ständig gelernt, von den Autoritäten Abstand zu nehmen und sind auf eigene Faust zu der ihnen entsprechenden Identität Jesu vorgedrungen.106 Zentrale christologische Themen der matthäischen Konfliktgeschichte  – Lehre und Wunder als Erscheinungen der zuletzt erkannten davidischen Messianität  – waren die Vergleichslinien, nach denen sich die wachsende Distinktheit der Volksmenge profiliert hat. Die Trennungslinien zwischen ihnen und der Führungsschicht verlaufen also nicht über beliebige Kategorien und sind auch kein bloßer literarischer Zweck an sich, sondern berühren Brennpunkte des grundlegenden Konflikts Jesu mit der versteiften Gegenfront. Die ὄχλοι sind durch ihre Stellungnahmen tief in den Streit hineingeraten. Nun stehen sie wieder an der Seite der Jünger als Zeugen der Abrechnung Jesu mit ihren ‚illegitimen‘ religiösen Führern. Dass sie dies dürfen,107 ist zugleich ein Zeichen dafür, dass der Abstand zwischen ihnen und den Autoritäten noch nie so groß war, aber auch eine Warnung108 davor, sich von ihnen beeinflussen zu lassen.

104 Repschinski, Stories, 192: „With this first brief controversy story set in Jerusalem­ Matthew has established his narrative perspective“. 105 Der matthäische Jesus „wirbt bei den Scharen für seine Botschaft vom Erbarmen Gottes“, sodass man Mt 23 mit Feneberg, Erwählung, 321, durchaus auch als „Werberede“ bezeichnen kann; Freyne, Vilifying, 137: „Disciples and the crowds, that is, real and potential members of the community“; Wilkins, Disciple, 141 („some kind of openness to instruction from Jesus“). Die Meinung, dass die Anwesenheit der Volksmenge darin begründet ist, „dass sie die Adressaten der Gerichtsankündigung repräsentieren“ (Garbe, Hirte, 92), verleiht der Rede eine unangemessene Stoßrichtung. 106 Parallel wird auch der christologische Lernvorgang der Jünger geschildert, die zwischen 8,27; 14,33 und 16,16 ähnlich wie die Menge zwischen 9,33; 12,23 und 21,9 die ihnen entsprechende Identität Jesu erkennen – die Gottessohnschaft. 107 Der Vers gilt in der Bearbeitung als vorwiegend matthäisch (Tilborg, Leaders, 163; Luz, Mt III, 296; Garland, Intention, 35; Brooks, Community, 60; Pesch, Aussagen, 287). ὄχλοι ist jedoch eine Reminiszenz von Mk  12,37 (dort Sg., Davies / Allison, Mt III, 267; Hoet, Omnes, 43). 108 Vgl. Saldarini, Matthew, 40; Levine, Social, 216; Konradt, Israel, 145, 244; Gnilka, Mt II, 273; Zimmermann, Lehrer, 159; Combrink, Shame, 10 („to warn the real rhetorical­ audience“); Hoet, Omnes, 76 („avertissment aux foules et aux disciples contre l’autorité abusive des scribes et des Pharisiens“); in Bezug auf die Wehesprüche auch Riniker, Gerichtsverkündigung, 132; Minear, Disciples, 36 f.

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Vor einem allzu positiven Bild der Menge muss jedoch gewarnt werden, denn die Geschichte Jesu mit und in Israel ist eine kompakte Neuauflage der spannungsvollen Beziehung Gottes mit dem heiligen Volk im alten Bund. Ob die liebevolle Zuwendung Gottes an der ‚Verstockung‘ des Volkes scheitert, ist im nächsten Abschnitt zu überprüfen.

3.1.3 Das Verhältnis Jesu – Menge auf dem Prüfstand (27,24 f)  Schon im Prolog entgeht Jesus nur knapp dem Versuch des Jerusalemer Establishments seiner Mission, das Volk zu retten und zu weiden (1,21: σῴζω; 2,6: ποιμαίνω), ein blutiges Ende zu bereiten. Da aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten schon damals als vermeintliche Repräsentanten des Volkes fingieren, obwohl sie unter dem Befehl des Herodes stehen (2,4: καὶ συναγαγὼν πάντας τοὺς ἀρχιερεῖς καὶ γραμματεῖς τοῦ λαοῦ), der offensichtlich das messianische Kind beseitigen will, entsteht eine Spannung darüber, was das Volk109 selbst in diesen scheinbar unstimmigen Angaben zu bedeuten hat. Steht das Volk den religiösen Machthabern in ihrer Entscheidung, Herodes bei der Suche mit ihrer biblischen Expertise zu unterstützen, auch zur Seite, dann sollte das Volk selbst ein an sich widersprüchlicher Begriff sein, das einerseits einen unschätzbaren Wert besitzt, der nicht weniger als das Einwirken Gottes herbeiruft, andererseits sich, fremdbestimmt durch ihre Anführer, auf die falsche Seite stellt und sich selbst Schaden zufügt. Das meint z. B. Frankemölle,110 der in 1,21b ein neues Gottesvolk, das „an die Personen und die Nachfolge Jesu und an sein Heilswerk gebunden [ist]“, eingeführt sieht. Hingegen sei der λαός an Stellen wie 2,4; 21,23 usw. durch „die Verbindung mit seinen Führern […], die als kollektiv vorgestellte Repräsentanten des ungläubigen Judentums von Anfang an gegen Jesus eine geschlossene Front bilden“, disqualifiziert. Das veranlasst ihn, einen inhomogenen λαός-Begriff gekennzeichnet durch „Kontinuität“ und „Diskontinuität“111 zu entwerfen. Das ist eine mögliche, aber unzureichende Lösung des Widerspruchs zwischen 1,21 und 2,4, die auf Kosten des jüdischen Volkes, das an seinen religiösen Führern angeblich festhält, von einer untrennbaren Größe ausgeht. Stellen wie 26,5 oder 27,64, die Spannungen zwischen Volk und Autoritäten zutage kommen lassen, kann aber dieses Modell nicht erklären.

109 Unter den 14 λαός-Belegen hat Matthäus die beiden markinischen übernommen (Mt 15,8 // Mk 7,6; Mt 26,5 // Mk 14,2 // Lk 22,2). Er hat aber mit Lukas, abgesehen von dem synoptischen Vers 22,2, keine weiteren gemeinsamen Stellen. Vier von ihnen sind in Erfüllungszitaten enthalten: 2,6 aus 2Sam 5,2 und 1Chr 11,2; 13,15 aus Jes 6,10; 15,8 aus Jes 29,13; 4,16 aus Jes 9,1 übernommen. Fünfmal werden sie mit Zweiergruppen von Autoritäten attributiv verbunden (2,4; 21,23; 26,3; 26,47; 27,1). 110 Frankemölle, Bund, 217 f. 111 Vgl. den ganzen entsprechenden Abschnitt: Frankemölle, Bund, 193–220.

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Ist aber diese aktive Unterstützung Herodes in den Augen des Volks unangemessen, dann muss man die Stärke dieser attributiven Verbindung hinterfragen. In diesem Sinne hat der Lösungsvorschlag von Frankemölle112 zusätzlich auch die Ereignisabfolge gegen sich: Die Geschichte verläuft schon in eine von Gott selbst bestimmte Richtung (1,20 f) und wird mit der Schrift unanfechtbar unter­ mauert (1,22 f). Nicht das Volk rebelliert gegen seinen Gott, das würde schon am Anfang die Initiative Gottes selbst in Frage stellen; ὁ λαός wird zuerst unter den Rettungsschirm Gottes, dann unter die Obhut der Autoritäten gestellt, agiert aber selbst in diesem Textabschnitt überhaupt nicht.113 Die Schwachstelle muss woanders gesucht werden, nämlich bei den aktiven Beteiligten an den Ereignissen. Der Erzählgang steuert bei näherer Betrachtung sogar der Genitivform τοῦ λαοῦ entgegen. Durch ihre Parteiergreifung handeln die Herodes gleichgesinnten Hohen­priester und Schriftgelehrten selbst ihrem eigenen Anspruch, sich um das Wohl des Volks zu kümmern, zuwider. Die Bezeichnung kann daher nur einen inhaltlosen und trügerischen Anspruch zum Ausdruck bringen. Οἱ ἀρχιερεῖς und οἱ γραμματεῖς sind von Matthäus keineswegs als rechtmäßige Repräsentanten des Volks Israel gemeint und das Volk wird weder explizit noch implizit als eine ihnen treue Anhängerschaft eingeführt.114 Das angefügte Attribut τοῦ λαου dient eher dazu, ihren eigentlichen Verantwortungsbereich in der gegebenen gesellschaftlich-politischen Struktur der Zeit abzustecken, damit auch ihr Versagen und ihre gottwidrigen Interessen deutlicher werden. Der hier angedeutete Riss zwischen Volk und Oberschicht hat ihren Ursprung in und ist eine logische Konsequenz der entschlossenen Handlung Gottes, durch die die Verschlagenheit der religiösen ‚Fürsorger‘ schon jetzt am Anfang der Geschichte entlarvt wird. Denn die Qualität der Genitivverbindung ist nur vom erzählerischen Hintergrund her sachgemäß zu verstehen: Die Reprä­ sentanten des Volkes alliieren sich absichtlich mit Herodes und beteiligen sich

112 Diese Meinung wird aber auch von anderen Exegeten geteilt: vgl. nur Gibbs, Purpose, 451; Walker, Heilsgeschichte, 31; Tilborg, Leaders, 4. 113 Vgl. auch Levine, Social, 266 f: „In these examples, however, the ‚people‘ do not ‚do‘ anything; they serve merely as a frame of reference“. 114 Saldarini, Matthew, 29; Gielen, Konflikt, 385: „Bei nüchterner Betrachtung […] muss festgehalten werden, dass dem Zusatz τοῦ λαου […] keinerlei theologisch überhöhte Konnotation zukommt“; Garbe, Hirte, 56: Durch den Zusatz „des Volkes“ werden die Hohenpriester und die Ältesten „zugleich mit dem Volk verbunden und von ihm unterschieden“; Konradt, Israel, 152; Levine, Social, 103, fasst den Genitiv als partitiven auf, sodass es als „reinforcing the separation between ruled and ruling“ dient; Gundry, Mt, 28; Wouters, Willen, 373–374. Selbst der spätere Frankemölle, Antijudaismus, 89, erkennt: Die religiösen Führer können „nur als angemaßte Führer verstanden werden, keineswegs als dessen wahre Repräsentanten“; Ders., Frühjudentum, 304; Poplutz, Welt, 128: Der Zusatz „erhellt mehr ihren formalen Führungsanspruch als ihre tatsächliche Führungsqualität“.

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‚logistisch‘ an der Fahndung nach Jesus, das Volk aber ist im Lichte von 1,21 und 2,6 dadurch selbst betrogen, denn durch die ‚unheilige‘ Allianz mit Herodes gefährden sie die Rettung des Volkes selbst, indem sie seinen Messias missachten und verfolgen;115 nur πᾶσα Ἱεροσόλυμα erschrak einstimmig (2,3: μετ’ αὐτοῦ) mit dem König. Wenn dies der Schlüssel der Attributverbindung ist, dann sprechen auch weitere Stellen wie 21,23; 26,3116.47; 27,1 (οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ πρεσβύτεροι τοῦ λαου)117 dieselbe Sprache, und stehen für keine Solidarität zwischen den Verbündeten, sondern berichten über eine bewusst konstruierte und ausgenutzte Zu­ atthäus sammenzugehörigkeit mit dem Volk. Der ironische ‚Titel‘,118 mit dem M die Gegnergruppen an den angegebenen Stellen benennt, warnt eher angesichts des Prologs davor, Volk und Autoritäten als narrative Einheit zu betrachten. Der Kampf um das von Jesus bedrohte politische Überleben, macht die religiöse Hierarchie sowie Herodes für gottwidrige Machenschaften anfällig, für die aber das einfache Volk, das ihnen anvertraut ist, keine Mitschuld tragen muss. Dies ist auch der Grund, warum sie das Volk vor (26,5) und auch nach der Passion (27,64) immer noch fürchten, wie auch der Nachfolger Herodes selbst in 14,5 (hier als ὄχλος angegeben). Man kommt dadurch zu einer auffällig ähnlichen Konstellation wie bei der Untersuchung der ὄχλοι-Stellen, und es ist daher nicht überraschend, dass Matthäus die beiden Begriffe ohne große Bedenken nebeneinander stellt und sogar als Synonyme verwenden kann.119 Der λαός in Jerusalem ist aber in von Matthäus redigierten 27,25 Träger einer theologisch schwerwiegenden Aussage, die anscheinend der hier vorgezeichneten Tendenz widerspricht. Wie die Selbstbeteuerung des Volks in der Jerusa­ lemer Verurteilungsszene in die matthäische Konfliktkonstellation einzuordnen

115 Vgl. Carter, Storyteller, 230: „These religious leaders show no recognition that in Jesus’ birth Jesus the Christ has come“; Senior, Matthew 2, 1–12, 397: Sie wissen, wo er geboren ist, aber „they do not go to give homage“; Matera, Passion, 131: „Jesus the Messiah is ignored by Herod […] and by the religious leaders“. 116 In 26,3–5 ist der Unterschied sogar deutlich angemerkt, denn die Führer „in ihrer Iso­ lierung vom Volk“ (Sand, Mt, 518) haben seine Reaktion nicht im Griff, sondern sie fürchten sogar einen Aufruhr (θόρυβος) im Volk. 117 Auch eine Stelle wie 7,29: οἱ γραμματεῖς αὐτῶν fügt sich in diese Rubrik ein und zeigt nochmals, dass die Genitivverbindung bei Matthäus durchaus auch als paradoxe Denkfigur ‚Trennung durch Annäherung‘ funktionieren kann. 118 Gielen, Konflikt, 415 („ironische Note“); auch Konradt, Israel, 152. 119 Z. B. 4,23–25; 13,2.15 oder bei der Verurteilung Jesu in 27,15.20.24: ὄχλος; 27,25 und weiter 27,64: λαός. Aufgrund solcher Stellen meint Cousland, Crowds, 75, mit Recht: „One of the reasons why the crowds need to be associated with the λαός is that Matthew himself does so“; vgl. auch Saldarini, Matthew, 29; Levine, Social, 201; Poplutz, Welt, 107–109; Luomanen, Entering, 125 („overlap in the terminology“); Hummel, Auseinandersetzung, 145: „Ὁ λαός steht in 4,23; 26,5; 27,25.64 im Sinne von ‚Volksmenge‘ und ist synonym mit οἱ ὄχλοι“; zu 27,25 auch Kosmala, Blood, 96.

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ist, soll jetzt in Anbetracht der bisherigen Konfliktentwicklung kurz erörtert werden. Der Passus stellt ohne Zweifel einen Wendepunkt in der Konfliktgeschichte dar, weil der frühere Entschluss Jesus zu töten, nachdem die Gegner in ihren listigen Versuchen, Jesus zu fangen, immer wieder gescheitert sind, dieses Mal nach einem absehbaren Gerichtsverfahren sehr wahrscheinlich ausgeführt werden kann. Die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes überantworten120 ­Jesus dem römischen Statthalter, um so noch die letzte ‚juristische‘ Formalität121 zu erfüllen. Pilatus122 – der eigentliche Machtinhaber – überlässt seinerseits die Entscheidung mit Hilfe der Tradition (27,15: εἰώθει ὁ ἡγεμών), wegen des merklichen Neids der Kläger (Mt 27,18 // Mk 15,10: διὰ φθόνον), indem er sich eines jüdischen Brauchs bediente123, dem versammelten Volk. Nun haben die Hohenpriester endlich die Möglichkeit, der bisher angestauten Feindseligkeit freien Lauf zu lassen. So mischen sich die Drahtzieher124 der gan 120 Das Verb παραδίδωμι verbindet wie ein Faden in Verfolgung, Leiden und Tod die Schicksale Jesu (17,22; 20,18.19; 26,2.24.45.46; 27,2.18.26), des Täufers (4,12) und der Gemeinde (10,17.19; 24,9) miteinander. Dadurch entsteht ein „half-metaphorical“ Begriff in der christlichen Sprache (Bammel, Trial, 415 f, Anm. 7). 121 Carter, Pontius Pilate, 83, behauptet aufgrund des gewöhnlichen römischen Rechts­ verfahrens: „Jesus’ death is inevitable in this judicial system when one part of the elite hand a low-status, powerless, and poor provincial over to another part of the elite“. 122 Das Pilatus-Bild von Matthäus wird oft als Versuch verstanden, die Verantwortung der Römer in der Verurteilung Jesu zu vermindern, was im damaligen politischen Kontext auch natürlich ist (vgl. Harrington, Mt, 390). Eine Übertreibung der Unschuld (vgl. z. B. Walker, Heilsgeschichte, 47; Gundry, Mt, 561–564; Sand, Mt, 553; Bonnard, Mt, 398) ist aber vor allem bei einer leserorientierten Lektüre fraglich – sie wäre nämlich für die LeserInnen unglaubwürdig (vgl. Luz, Antijudaismus, 314), denn sie wissen vermutlich Bescheid über die übliche Vorgehensweise der römischen Behörden (vgl. in Bezug auf Pilatus Josephus, Bell II 175 f). Man kann dadurch bei den Rezipienten eventuell einen Kontrast mit anderen Erzählfiguren er­ zielen (vgl. Patte, Mt, 380), oder sogar einen Gegeneffekt erzeugen, um Anlass dafür zu geben, die einzelnen Handlungen und Worte ‚gegen den Strich‘ zu interpretieren. In der neueren Forschung hat sich besonders Carter (vgl. Kap. 9 in: Empire, 145–168; Margins, 523–527) für eine römischkritische Lektüre der Pilatus-Szene stark gemacht: „Far from exonerating Rome, christianizing or minimizing Pilat’s role, these verses offer a terse and scathing indictment of Roman justice ‚from below‘“ (Carter, Margins, 524); auch Holtz, Herrscher, 121; Senior, Mt, 339 („cynical and laconic“); Feneberg, Erwählung, 364 („kein Unschuldslamm“); Carson, Leaders, 173 („moral cowardice“); Duling, Gospel, 304 („indecisive and vacillating“); Broer, Prozess, 102. Zur Ambiguität der Pilatus’ Darstellung in den Evangelien, vgl. auch Winter, Trial, 55–57. Schließlich vgl. Weaver, Power, 193 (Pilate „the powerless puppet“); Kvalbein, Matthäus, 305 („Feigling“). 123 Als Bezugstellen wären zu nennen: Dtn 21,6–9; Ps 25,6LXX; 2Sam 3,28; Sus 46LXX (zum alttestamentlichen Hintergrund vgl. Reventlow, Sein Blut, 311–327; Koch, Spruch, 396–416). Luz, Antijudaismus, 314, fragt sich mit Recht, ob die Szene bei den matthäischen Adressaten wirklich gut ankommen konnte: „Ich weiß nicht, ob Matthäus erwartete, seine Leser / innen nähmen dies als bare Münze“. 124 Viele Kommentatoren weisen ausdrücklich auf die Rolle der Autoritäten hin, die wesentlich an der Lenkung der an sich neutralen Menge entscheidend beteiligt sind. Vgl. Davies /  Allison, Mt III, 588: „On the literary level the crowd’s methamorphosis […] serves to empha-

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zen Szene an dieser Stelle nochmals aktiv ein, überreden (Mt 27,20: πείθω; vgl. Mk 15,11: ἀνασείω)125 die Volksmenge (in 27,20 immer noch ὁ ὄχλος) von der Richtigkeit ihrer Forderung und bewegen sie dazu, die Befreiung von Barabbas zu verlangen, um dadurch den Tod Jesu zu bewerkstelligen (27,20[red.]: τὸν δὲ Ἰησοῦν ἀπολέσωσιν).126 Das Volk, wie im Grunde genommen auch Pilatus, wird im matthäischen Bericht geschickt instrumentalisiert und in die listige Strategie einbezogen. Im Ruf der ‚verführten‘127 Volksmenge kommt der bereits früh aufgekommene und wiederholt gescheiterte Todesbeschluss der religiösen Autoritäten voll zum Zuge. Nicht „das Volk handelt in seinen Autoritäten“,128 sondern umgekehrt: Die Volksstimme verleiht im wiederholten bei Matthäus passivischen σταυρωθήτω (27,22.23) dem langen Trachten der wechselnden Gegner nach dem Leben Jesu (2,16: Herodes; 12,14: die Pharisäer; 21,46: die Hohen-

size the wickedness of the Jewish leaders, for they are responsible for the new reality“; Konradt, Israel, 173: Es bedarf noch „der ‚Überzeugungsarbeit‘ der Autoritäten“; Carter, Empire, 167: „Jesus is crucified not because the people call for it“ sondern „because the elite engineer it“; Gielen, Konflikt, 380, Anm. 26: Die Volksmenge ist letztlich das „Sprachrohr“ der Jerusalemer Offiziellen; Patte, Mt, 379; Cousland, Crowds, 236 f; Buck, Anti-Judaic, 170. Tilborg, Leaders, 149, formuliert suggestiv, sogar ‚matthäisch‘: „They are led astray and make the wrong choice“. Andere aber erwähnen diesen wichtigen Zug überraschenderweise überhaupt nicht (vgl. Wiefel, Mt, 473). 125 Mit dieser Wortwahl hebt Matthäus „statt des emotionalen den rationalen Aspekt hervor“ (Gielen, Konflikt, 380; auch Sand, Mt, 553; Ogawa, L’histoire, 221: „Les autorités n’ont pas incité la foule à exiger la crucifixion de Jésus, mais elles ont trompé la foule par leur ruse et leur éloquence“). Gundry, Mt, 562, meint sogar: „The new verb lightens the crowd’s burden of guilt“. Identisch wird auch nach der Kreuzigung (28,14) in ihrem Versuch durch Trug die Auferstehung zu verleugnen, gehandelt (zum Überreden im Sinne von Verführen vgl. TestDan 1,8; grLAE 21; Josephus, Ap II 201). Das entspricht dem sonstigen Gegnerbild, es geht um eine strukturelle, vollends überlegte und konsequent durchgeführte Gegnerschaft. 126 Damit wird an die Linie 2,13  – 12,14  – 21,46 erinnert und direkt an 26,4 (ebenfalls ἀποκτείνω) angeknüpft (vgl. Nolland, Mt, 1172–1173; Gundry, Mt, 563). Mora, Le Refus, 141 und Garbe, Hirte, 57, machen auf das Problem aufmerksam, dass im früheren Teil besonders die Pharisäer diejenigen waren, die den Tod Jesus wiederholt beschlossen haben, nun aber sind die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes die Vorantreiber dieser Entscheidung. Ohne diese Verknüpfung würde aber die ganze Konfliktgeschichte zusammenbrechen. Mehr zu diesem Thema im Abschnitt 2.2 über die Gegner Jesu. 127 Zahn, Mt, 712 („missleitete Nation“); Carter, Margins, 529 („manipulated crowd“); Carter, Construction, 96 („the narrative unmasks the elite’s extensive control“); Levine, Social, 265; Gundry, Mt, 562 („victims of evil persuasion“); vgl. auch den späteren Franke­ mölle, Antijudaismus, 100 („Opfer politischer und religiöser Lüge und Verführung“). Das Motiv der Verführung (πλανάω) ist in Mt fest verwurzelt, mit Anwendung im ethischen (vgl. z. B. 18,12.13) aber auch im eschatologischen (24,4.5.11.24) Bereich. „Verführt sein“ ist ein Ausdruck und eine Folge einer schlechten Führungskompetenz und schlägt sich auch in der verleumderischen Charakterisierung der religiösen Autoritäten als ὁδηγοὶ τυφλοι (vgl. 15,14; 23,16.24) nieder. 128 Walker, Heilsgeschichte, 31.

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priester und die Pharisäer; 26,4: die Hohenpriester und die Ältesten des ­Volkes) einen schaudernden Ausdruck. Die Erzählung erreicht durch τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ’ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν in 27,25 einen Höhepunkt. Die bisherige Ablehnung Jesu durch verschiedene Gruppen wird hier konsequent fortgeschrieben, und zwar wiederum durch die Einbeziehung der umgebenden Volksmenge (zum ständigen Bezug der Autoritäten auf die ‚richtige‘ Einstellung der Volksmenge vgl. 3.1.1.3). Keine Dissonanz durchbricht die bisher maßgebende matthäische narrative Struktur. Im Lichte dieser bislang linearen Entwicklung ist nun zu fragen, ob es ge­ nügend Anhaltspunkte im Text gibt und ob es wirklich in der Intention der Szene liegt, über die Schilderung der letzten Konsequenzen dieser versteiften Feindschaft mit den gewöhnlichen Gegnern hinaus auch eine Neubestimmung im Sinne einer Diskontinuität in der bisher positiven Beziehung Jesu zum Volk einzuführen. Die narrative und theologische Bedeutung der Äußerung wie auch die genaue Identität des Publikums in der Verurteilungsszene sind entscheidend für die Beantwortung dieser Frage, und es ist nicht verwunderlich, dass sie wegen einer gewissen Doppeldeutigkeit einiger Termini das Objekt einer langen Debatte in der Matthäusforschung geworden ist. Schematisch formuliert, dreht sich die Problematik um die (Nicht)Beteiligung des ganzen Volks Israel an der Verurteilung Jesu und um die entsprechenden Konsequenzen der Szene für die Stellung des Gottesvolks in der Heilsgeschichte. Zwei Hauptströmungen haben sich herausgebildet; zwischen den hier vermerkten Lösungen (‚kontextbezogen‘ und ‚radikal heilsgeschichtlich‘), werden in der Forschung auch ‚gemischte‘ Lösungsversuche129 vertreten. Eine besondere Meinung, die das ganze Volk in den Blick nimmt, bezieht τὸ αἷμα aus 27,25 auf 26,28 und versteht den Vers als Ruf des Volkes nach Vergebung durch „aplication of­ Jesus’ blood upon them and their children“.130

129 ‚Gemäßigt heilsgeschichtlich‘ kann man sie bezeichnen: Vgl. Schelkle, Selbstverfluchung, 152, 154 f, der obwohl davon ausgeht, dass das ganze Israel sich an Jesus vergangen hat, wird diese Blutschuld durch den Untergang Jerusalems gestraft, sodass „Schuld und Fluch Israels in der eschatologischen Heilszeit Vergebung und Erlösung finden“ (152); Cousland, Crowds, 236 f, grenzt ebenfalls τὰ τέκνα ἡμῶν auf die jüngste Geschichte ein, und lässt den missionarischen Weg zu Israel offen; Senior, Mt, 321: „Matthew probably […] considered that generation as absorbing the terrible consequences“; Harrington, Mt, 392 („representative function“) aber Matthäus „is dealing with this problem in light of the destruction of the Jerusalem Temple“; Repschinski, Stories, 331 f; Garbe, Hirte, 115, 117; Wiefel, Mt, 471, 474;­ Hummel, Auseinandersetzung, 83; Carson, Leaders, 174; Schenk, Sprache, 129; Schnackenburg, Mt II, 277; Steck, Israel, 295 f. 130 Cargal, Blood, 112. Zur Widerlegung dieser Position vgl. Davies / Allison, Mt III, 529; Konradt, Israel, 177, Anm. 420; Nolland, Mt, 1179, Anm. 382; Repschinski, Stories, 331, Anm. 127.

156

Der subjektive Status der Gemeinde

Räumlich

Zeitlich

Begrenzt /  Kontext­bezogen131

Nur die Volksmenge in Jerusalem

Befristet aufgrund der Tempelzerstörung /  Naherwartung

Unbegrenzt /  Radikal heilsgeschichtlich132

Das ganze Volk

Auf ewig

131 132 Auf der Textmikroebene werden die problematischen Hauptbegriffe von 27,25 in den vorangehenden Versen vorbereitet: Unmittelbar aus 27,22 stammt der typische verallgemeinernde Begriff πᾶς133; ὁ λαός knüpft an die wiederholten ὄχλος-Stellen (27,15[red.], 27,20.24[red.]) an, ohne dass auf irgendeine Weise narrativ ein Sprung oder eine signifikante Bedeutungsverschiebung signalisiert wird.134 131 Vgl. Davies / Allison, Mt III, 529; Haacker, Sein Blut, 47 f; Saldarini, Matthew, 32 f; Konradt, Israel, 172, 178; Levine, Social, 268; Dies., Anti-Judaism, 34; Carter, Margins, 528; Gielen, Konflikt, 383, 386; Kosmala, Blood, 96 f, 118; Feneberg, Erwählung, 366–368; auch eine jüdische Stimme: „Das Gebrüll eines aufgestachelten Mobs kann niemals als offizielle Meinungsbekundung eines ganzen Volkes gelten“ (Stern, Kommentar, Bd. 1, 153). An sich gehört auch die Stellungnahme von Luz zu dieser Kategorie, vgl. Luz, Mt IV, 279: „Matthäus will also nicht sagen, dass das ganze damalige Gottesvolk, d. h. alle einzelnen Israelitinnen und Israe­ liten, Jesus verurteilt hätte“; idem, Jesusgeschichte, 152: „Bei ‚unsere Kinder‘ denkt er natürlich nicht an alle kommenden Generationen Israels […], aber an die Nachkommen des Volkes, die es in der kurzen verbleibenden Zeit bis zum Ende der Welt noch geben wird“. Auf konnotativer Ebene im Hinblick auf die bitteren Erfahrungen der Gemeinde lässt Luz aber auch die radikalere Variante als Deutungsmuster der Erstleser offen (vgl. Luz, Mt IV, 279; radikaler in der früheren Studie Luz, Antijudaismus, 314: „Zusammen mit den jüdischen Führern, die Jesu Tod betreiben, übernimmt daraufhin das ganze heilige Volk (λαός) die Schuld für den Tod“. 132 Vgl. Lohmeyer, Mt, 386; Walker, Heilsgeschichte, 47 f, im Anschluss an Trilling, Israel, 71 f; Dahl, Passionsgeschichte, 27; Sand, Mt, 553 f; Frankemölle, Bund, 210; ­Strecker, Weg, 116 f; Gnilka, Mt II, 458 f („unheilsgeschichtliche Dimension“); Kingsbury, Story, 124; France, Jerusalem, 121 f: „This is the voice of a representative group of Israel“; Matera, Passion, 109; Kraus, Passion, 417. Diese Richtung findet einen prägnanten Ausdruck in Formulierungen wie z. B.: Israel hat „sein Privileg als Bundesvolk für immer verloren“ (Frankemölle, Bund, 354); „Die Möglichkeit einer Wiedererlangung der heilsgeschichtlichen Prärogative [wird] nicht in Erwägung gezogen“ (Strecker, Weg, 117) oder „Gott weilt nicht mehr in Israel“ (Trilling, Israel, 85). 133 So Luz, Mt IV, 275; Gundry, Mt, 565. Die angemerkte Tendenz zur Pauschalisierung ist auch ansonsten im Evangelium anzutreffen, vgl. 2,4: πάντας τοὺς ἀρχιερεῖς καὶ γραμματεῖς τοῦ λαοῦ; 27,1: πάντες οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ πρεσβύτεροι τοῦ λαοῦ in Bezug auf die Gegner; auf die Stadt als Oberbegriff für die eindeutig negativ konnotierten Einwohner in 2,3: πᾶσα Ἱεροσόλυμα; 21,10: πᾶσα ἡ πόλις; auf die Volksmenge in 12,23: πάντες οἱ ὄχλοι; 13,2: πᾶς ὁ ὄχλος; 21,26: φοβούμεθα τὸν ὄχλον, πάντες. Aus ansonsten nimmt das Attribut bei Matthäus eine statistisch wichtige Stellung ein (129 Mal im Vergleich zur Hauptquelle Mk – 68 Mal). 134 Vgl. Gielen, Konflikt, 384; Kosmala, Blood, 96: „The people mentioned in Mat 27,25 are still the same crowds as those in the immediately preceding verse 24“; Levine, Social, 267. Auch die unscharfe Unterscheidung von ὄχλος und λαός gehört zum matthäisch redaktionellen Instrumentarium. Λαός wird zwar „insgesamt an fast allen Stellen“ (Luz, Mt IV, 279) als dichte

Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte

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Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass mit ὁ λαός hier auf die attributive Verbindung Volk – Autoritäten (21,23; 26,3.47; 27,1) angespielt wird; gemeint könnten diejenigen sein, die sich von den Hohenpriestern und Ältesten bevormunden lassen. Mit τὸ αἷμα wird auf 27,4 zurückgegriffen und unmittelbar ein Motiv aus der Rede von Pilatus (27,24) wieder aufgenommen.135 Die sprachlichen Bausteine der betreffenden Aussage waren also in ‚harm­ loser‘ Form schon vorhanden; das Ergebnis der matthäischen Redaktion setzt den gleichen narrativen und theologischen Horizont fort, weicht nicht von vorgegebenen Sprachkonventionen ab und fügt sich nahtlos in das gesamte Bild ein. Von diesem Hintergrund her betrachtet verliert πᾶς ὁ λαός das außerordentliche Gewicht in der Beurteilung der Episode. Denn nicht die semantische Reichweite des λαός-Begriffs,136 sondern die feierliche Formulierung πᾶς ὁ λαός als Begriff für Israel (vgl. bes. Ex 19,8; Dtn 27,14–26; Num 11,11 usw.) gibt an dieser Stelle am meisten zu denken.137 Im (extra)biblischen Sprachgebrauch ist aber diese Identifizierung keineswegs zwingend,138 wobei die bloße Anhäufung von Belegstellen im matthäischen Kontext kaum etwas zu beweisen vermag. Erst eine narrative Betrachtung verdeutlicht die matthäische redaktionelle Intention. Auf Textmakroebene lässt sich eine direkte, bewusste Verbindung der Ereignisse in 27,24–25 mit einer anderen Jerusalemer Szene ganz am Anfang der Konfliktgeschichte (2,1–18, besonders 1–6) vermuten. Auf deutliche GemeinsamBezeichnung für Israel als Gottesvolk gebraucht, wird aber in 4,23.25 durch die Annäherung zu ὄχλος ‚verdünnt‘ in die Richtung ‚Volksmenge‘, ‚Menschenhaufen‘. So auch in 13,2.34.36: ὄχλος bzw. 13,15[red.]: λαός. Nichts anderes geschieht auch in 27,15–26. Vgl. auch oben Anm. 119, S. 152. 135 Vgl. Trilling, Israel, 69; Senior, Passion Narrative, 252; Matera, Passion, 103 f; Tilborg, Leaders, 88. 136 Konradt, Israel, 171 f, Anm. 391, 392, 393, 394, zählt unnötig zahlreiche Belegstellen zu λαός auf, die die Argumentation in keinerlei Weise unterstützen. Zudem wird dort (Konradt, Israel, 170) auf die semantische Nähe λαός – ὄχλος im lukanischen Doppelwerk hingewiesen, die möglichen Übergänge im matthäischen Sprachgebrauch selbst (vgl. dazu hier Anm. 134, S. 156 f) werden völlig außer Acht gelassen. Dies wird jedoch mittlerweile von Konradt, Mt, 436, verbessert. 137 Vgl. Tilborg, Leaders, 149; Gnilka, Prozeß, 24; Frankemölle, Bund, 204; Harrington, Mt, 392; Hummel, Auseinandersetzung, 83; Strecker, Weg, 107, 116; Walker, Heilsgeschichte, 47; Trilling, Israel, 72; Cousland, Crowds, 81–83; Sand, Mt, 554; Carson, Leaders, 174; Steck, Israel, 295; Suhl, Beobachtungen, 348 f; Becker, Zerstörung, 69; zusammenfassend Gnilka, Verstockung, 101: „Matthäus [will] natürlich nicht die historische Situation wiedergeben, sondern andeuten, dass das jüdische Volk durch den Tod Jesu belastet ist“. 138 Vgl. nur einige Stellen, an denen die Sprachwendung mit neutraler Bedeutung – Kriegsvolk, Teil  des Volkes, anwesende Menschen an einem Ort, übriggebliebene Leute, Bewohner einer Stadt usw. – vorkommen kann: Dtn 2,32; 20,11; Jos 8,5.11; 10,5; Jdc 7,1.7; 9,34.48; Rut 4,11; 1Sam 14,20.23LXX; 2Sam 6,2; 12,31; 16,6.14; 17,2.22; 18,4.5.6; 20,12; 2Chr 8,7; 2Esra 10,9; Jer 43,9LXX; 48,13LXX; Sus 1,47.50Th; TestSim 6,4; Josephus, Ant XIII 201 (oder als ἅπας λαός in VI 199; VII 63.211; VIII 101); Lk 7,29; 18,43; 21,38; Joh 8,2; Act 3,9.11. Die Stellenliste, die sich leicht erweitern lässt, bestätigt durchaus die Aussage von Luz, Mt IV, 278, Anm. 78: „Πᾶς ὁ λαός ist eine viel zu häufige biblische Wendung, als dass diese Engführung erlaubt wäre“; vgl. auch Kosmala, Blood, 97–99.

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Der subjektive Status der Gemeinde

keiten unter verschiedenen Gesichtspunkten wird in der Forschung da und dort hingewiesen.139 Dort (2,4) wird anfangs das Volk den Autoritäten zugewiesen; in 27,1 passiert dies zum letzten Mal. Πᾶς ὁ λαός (27,25) ist als Pendant zu πᾶσα Ἱεροσόλυμα (2,3, vgl. auch 21,10) zu betrachten. Die getöteten (2,16: πάντας τοὺς παῖδας) und die wegen ihrer Eltern schuldtragenden (27,25: ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν) Kinder als Opfer fehlerhafter Entscheidungen rahmen ebenfalls die beiden Texte. Wer aber am stärksten die beiden Episoden in seiner messianischen Biographie vereinigt und zugleich deutet, ist der schon damals zum Tode bestimmte Knabe, der erst jetzt in den Fallstrick seiner Verfolger gerät.140 Das ist aber keineswegs ein Sieg seiner Jerusalemer Feinde, denn auch die Passion wie einst die Geburt verläuft nach dem Gottesplan: Schon in der ersten Passionsankündigung fügt Matthäus die Stadt als Ort des Leidens und des Todes ein (Mt 16,21: δεῖ αὐτὸν εἰς Ἱεροσόλυμα ἀπελθεῖν), eine Angabe, die bei den Seitenreferenten fehlt (vgl. Mk  8,31 und Lk  9,22). Durch das göttliche Einwirken wird in der Kindheitsgeschichte der neu geborene Jesus davon verschont. Nun wird die ganze Welt durch seinen Tod von der Sünde gerettet. Die erzählte Welt gewinnt dadurch eine erhöhte Kohärenz, indem die zwei einander entsprechenden Szenen einen großen Bogen über die ganze Konfliktgeschichte spannen. Herodes zusammen mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten und ganz Jerusalem entsprechen dem verklagenden Chor samt allen, die das Volk aufstacheln. Je mehr man dazu neigt, den Passus als geschickten er­ zählerischen Streich aufzufassen, desto stärker verliert er an heilsgeschichtlicher Dramatik. Die schwerwiegenden Konsequenzen können als gezielt formuliertes rhetorisches Mittel im Rahmen der Konfliktgeschichte auf die Autoritäten und die von ihnen gewonnene städtische Versammlung eingeengt werden. Diese teilen in der matthäischen Delegitimierungsstrategie die Verantwortung für die Zerstörung der Tempelstadt.141 Die nächste Generation der erzählten Welt – καὶ 139 Vgl. Gielen, Konflikt, 378 f; Luz, Mt IV, 266; Gundry, Mt, 28; Konradt, Israel, 173 („Exposition und Zielpunkt der Konfliktgeschichte“); Nolan, Royal, 104–106; z. B. 106: in Bezug auf συνάγω in 2,4 wie auch in 26,3.26; 27,26; 28,12, mit demselben „sinister meaning“; 133: mit Hinweis auf die Solidarität der Stadt mit Herodes; Levine, Social, 269; Dies., Anti-Judaism, 34; Davies, Jewish Sources, 507; Poplutz, Welt, 119; Brown, Birth, 183; Green, Structure, 57 f; Kingsbury, Figure, 9; Bauer, Kingship, 316. 140 Vgl. auch Howell, Matthew, 119: „In chapter 2 Herod sought to kill Jesus, but in chapter 27 Jerusalem succeeds“. Der Traum der Frau von Pilatus (27,19) ist auch ein Indikator dieser Korrespondenz zwischen den beiden Szenen; Joseph (1,22; 2,19.22) und die Magier (2,12.23) haben infolge der Anweisungen κατ’ ὄναρ das Leben des Kindes gerettet, „now Pilate has an opportunity to save the adult King of the Jews if he obeys his wife’s heavenly dream. He does not“ (Matera, Passion, 108; vgl. auch Broer, Prozess, 104; Poplutz, Welt, 79; Levine, ­Social, 264, 269). 141 So z. B. auch Frankemölle, Antijudaismus, 101; Poplutz, Welt, 128. Nicht „die Ätiologie für das Ende Israels“ ist hier in Szene gesetzt (Zitat nach Frankemölle, Bund, 210), sondern eher eine christologische Erklärung für die Zerstörung der Tempelstadt. Vgl. auch­

Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte

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ἐπὶ τὰ τέκνα142 ἡμῶν – ist in diesem Sinne die zerschlagene Bevölkerung Jerusalems in der realen Welt, die im Jetzt die Folgen jener Verschwörung ihrer verleiteten Eltern gegen Jesus zu spüren bekommen. Matthäus lässt also zum Aufbau seines schlagkräftigen, narrativen und theologischen Arguments zwei Zeitebenen ineinander verschmelzen, und hat dabei als Plausibilitätsmittel nichts weniger als die von den beiden Parteien gut gekannte reale Geschichte auf seiner Seite (vgl. dazu 4.2.3.1). Dass Matthäus bewusst Jerusalem als abgekommene heilsgeschichtliche Größe von einer Jesus gut gesinnten Menge zu unterscheiden weiß, ist auch an der Schnittstelle zu beobachten, an der diese zwei Welten  – das ländliche, unterdrückte Volk, die die Gefolgschaft Jesu unterwegs ausmacht, und die politisch, aber auch religiös privilegierte Stadtbevölkerung  – am Stadttor aufeinander treffen und tatsächlich ins Gespräch kommen, nämlich beim Einzug in Jerusalem. Die personifizierte Stadt gerät ganz in Erregung (21,10: ἐσείσθη πᾶσα ἡ πόλις, so wie auch in 2,3: ταράσσω) und befragt die einziehende Volksmenge über die Identität ihres umjubelten Messias. Die Menschenschar, die Jesus unterwegs begleitet hat, ist mit seiner galiläischen Herkunft und seinem prophetischen Geschick vertraut,143 den Jerusalemern ist er aber unbekannt. Dies kommt auch vorher im nur von Matthäus eingeführten Mischzitat (Mt 21,5 zusammen­ gesetzt aus Jes  62,11 und Sach 9,9)144 deutlich zum Ausdruck: Jemand (im Levine, Anti-Judaism, 34: „Matthew establishes a pattern of condemning Jerusalem and those associated with it“; Viljoen, Matthew, 669; Luz, Antijudaismus, 324 f; Hummel, Auseinandersetzung, 83. Auf den unmittelbaren Bezug auf 23,37–39 weise ich hier nur hin, Genaueres dazu im Abschnitt 4.2.3.3 über die Instrumentalisierung der Tempelzerstörung. Für eine analogische Erklärung der Ereignisse bei Flavius Josephus sei hier bes. auf Bell II 293–333 hingewiesen, wo die außer sich geratene Menge Jerusalems (jedoch mit anderer Begrifflichkeit: ὁ δῆμος in II 294.324 usw., τὸ πλῆτος in II 317.320 usw.) ebenfalls den Ausbruch des Krieges mit zu verantworten hat. 142 Zu derselben Auffassung von TZ vgl. auch: France, Jerusalem, 122; Garbe, Hirte, 120; Gielen, Konflikt, 383; Gielen, Passionserzählung, 160 f; Hare, Rejection, 38 („an allusion to the generation, which […] had bear the terrible suffering of the war with Rome“); Hummel, Auseinandersetzung, 83; Konradt, Israel, 178; McKnight, Critic, 76, Anm.  79; Schelkle, Selbstverfluchung, 152; Wong, Theologie, 133. 143 Die Bezeichnung ὁ προφήτης Ἰησοῦς ὁ ἀπὸ Ναζαρὲθ τῆς Γαλιλαίας (21,11), eine Art „Definition“ (Trilling, Einzug, 71) soll keineswegs so verstanden werden, als würde sie den zuvor gebrauchten ‚Sohn Davids‘-Titel abschwächen. Es handelt sich eher um einen Hinweis auf das zu erwartende Auftreten Jesu in der Stadt als Prophet (Feneberg, Erwählung, 304). Dass die Volksmengen das gewaltsame Geschick der Propheten mit der Laufbahn Jesu assoziieren, soll aber nicht heißen, wie Cousland, Crowds, 223, es meint, dass sie das tragische Ende „unwittingly initiate“ (auch Gibbs, Jerusalem, 118: „Naming of Jesus as a ‚prophet‘ is an indication that they are rejecting him“; negativ urteilen hier auch Kingsbury, Story, 81: „seeing in him but a prophet“; Strecker, Weg, 106–107). Hingegen bedeutet das Verhältnis „intimations or approximations of the messiah’s true identity as one who suffers“ (Knowles, Jeremiah, 91). 144 Zur Zusammensetzung des Zitates vgl. Menken, Bible, 108; Ham, Coming King, 40–42; Luz, Mt III, 178; Novakovic, Messiah, 86–87; Moss, Zechariah, 61–62.

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Der subjektive Status der Gemeinde

matthäischen Kontext kann damit nur ὁ ὄχλος gemeint sein, der in 21,10 f den Auftrag auch tatsächlich ausführt145) wird aufgefordert, die Tochter Zions über den sanftmütigen, einreitenden König zu unterrichten. Den herbeiziehenden Festpilgern und den stolzen Stadtbewohnern werden, wenn ein deutlicher Kontrast nicht festzustellen ist, zumindest unterschiedliche religiöse Ortsbestimmungen zugeschrieben.146 Die weit verbreitete Überzeugung, dass dasselbe Volk einer Laune unterliegt, und Jesus zuerst akklamiert, um ihn wenig später in den Tod zu schicken,147 abgesehen davon, dass man dabei mit demselben flüssigen λαός-Begriff operiert (in der Einzugsgeschichte ist durchgehend von ὄχλος die Rede  – 21,8.9.11; in 27,25 hingegen von λαός), wird aus der skizzierten Perspektive den matthäischen Bemühungen, Jerusalem und das einfache Volk auseinander zu halten, nicht gerecht. Eine solche redaktionelle Inkonsistenz kann man Matthäus nicht zuschreiben, besonders, wenn die zielgerichtete Gestaltung des Verhältnisses Jesu zur Volksmenge, wie vorhin geschildert, nicht völlig übersehen wird. Es wäre unverständlich und erzählerisch unökonomisch, nach langer Vorbereitung und aufwändiger redaktioneller Bearbeitung dieser Annäherung, unerwartet die Verhältnisse umzukehren und die Ergebnisse, die beim Einzug in Jerusalem durch die vollmundige Anerkennung der Menge ‚ratifiziert‘ wurden, nun aufzu­ geben.148 Umso mehr, weil diese vermutete narrative ‚Pirouette‘149 im weiteren Bericht der Vita Jesu keine bemerkbaren Spuren hinterlässt. 145 Menken, Bible, 109: „The crowd executes this command“; Weren, Entry, 125: „This­ order is carried out in vv. 10–11 by the crowd“. Darin sollte auch der Sinn der Kombination dieser zwei Zitate stehen (Lohfink, Messiaskönig, 188: „Das Zitat aus Sach 9,9 [ist] durch den abgewandelten Anfang genau auf das abgestimmt, was jetzt erzählt werden soll“). Auch­ Novakovic, Messiah, 87 („short exchange between the citizens of Jerusalem and the accompanying crowds“); Konradt, Israel, 104 f; Verseput, Pilgrimage, 116: „They loudly proclaim to the inhabitants of the holy city the ascent of its kingly Messiah in keeping with Matthew’s carefully reformulated fulfillment quotation“. Patsch, Einzug, 10 f, weist auf die enge Parallelität von Prophetie und Handlung hin: Matthäus hat nicht nur „diesen Text [gemeint ist der Mischzitat in 21,5] aufgeführt, sondern auch in die Handlung umgesetzt“; auch Ham, Coming King, 39 f: „The formula […] may be taken proleptically […] since it primarily concerns the actions recorded in Mt 21,6–11“. Dies gilt sowohl für die sanfte königliche Reitergestalt, als auch für die Handlung der Volksmenge in 21,10 f. 146 Vgl. auch Levine, Anti-Judaism, 32: „The Gospel narrative separates the leaders from the people, Jerusalem from the outlying regions, the center from the periphery“; Garleff, Urchristliche, 70; France, Jerusalem, 117; Patsch, Einzug, 7: Matthäus hebt die Volksmenge „als galiläische Pilgerschar von der Stadtbevölkerung Jerusalems“ ab. 147 Vgl. z. B. Gibbs, Jerusalem, 117; auch Cousland, Crowd, 223: Die Identifizierung Jesu als Prophet sei „a bridge that connects their acclamation of Jesus with their later repudiation of him“. 148 Vgl. auch Konradt, Israel, 179 f. 149 Die Episode wurde schon als „volte face of the crowd from enthusiastic support of Jesus to betrayal“ bezeichnet (vgl. Maccoby, Jesus, 57; auch Cousland, Crowds, 227).

Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte

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Das vielfältige Verhältnis zu Jesus der verschiedenen narrativen Akteure wird auch während und nach der Kreuzigung thematisiert:150 In 27,39–43 lästern den gekreuzigten Jesus weiterhin οἱ δὲ παραπορευόμενοι und οἱ ἀρχιερεῖς ἐμπαίζοντες μετὰ τῶν γραμματέων καὶ πρεσβυτέρων, indem beide das GottessohnschaftMotiv anklagend vorbringen.151 Zugleich aber kommt am Abend Josef aus Arimathäa, der in Mt  27,57 kein εὐσχήμων βουλευτής (vgl. Mk  15,43; Lk  23,50) mehr ist152 – was kaum noch überrascht – und verlangt den Leib Jesu von Pilatus. Auch das angespannte Verhältnis Volk – Autoritäten ist von Matthäus in der Überlieferung über die Grabbewachung aufbewahrt (27,64: λαός, vgl. 26,5)153 und in der logischen Fortsetzung 28,11–15 nochmals bestätigt:154 In typischer, enger Zusammenarbeit versuchen die Hohenpriester und die Ältesten (28,12: συναχθέντες … συμβούλιον) die Verkündigung der Auferstehung (von 27,64 her ist die Verbreitung der Nachricht im Volk gemeint) zu verhindern. Anstoß nimmt man manchmal an 28,15 (παρὰ Ἰουδαίοις)155 und hält den Andruck für eine abwertende Äußerung eines außerhalb des Judentums stehenden Auto 150 Saldarini, Matthew, 29; Kingsbury, Conflict, 72; Levine, Social, 266: „There is in fact no development either positively or negatively in their role“. 151 Zum Gottessohn in der Passionsgeschichte vgl. 3.3.2. 152 Vgl. Senior, Account, 1444: „A clear line is drawn between, on the one side, the religious leaders […] and, on the other, faithful followers such as the disciple Joseph“; Meiser, Reaktion, 240; Levine, Social, 265. 153 Indem sie sich mit ihrem Anliegen an Pilatus schon am Tag „nach dem Rüsttag“ (27,62) wenden, begehen sie auch einen flagranten Sabbatbruch. Dies geschieht im Unterschied zu den christlichen Frauen, die erst „beim Aufleuchten zum Ersten der Woche“ zum Grab hinaufgehen (vgl. Weiss, Sabbath, 16; Garbe, Hirte, 72, Anm. 158: „Das ist eine polemische Spitze gegen die Pharisäer“). 154 Mt 27,62–66 und 28,11–15 stehen in einem sachlich und literarisch engen Zusammenhang, als Zeuge der erstarrten Opposition auch nach der und ausdrücklich gegen die Auferstehung (vgl. Walker, Heilsgeschichte, 73: „Zunächst zeigen diese legendären Stücke, dass die Repräsentanten Israels auf ihrem Weg des ‚Messiasmords‘ auch zum Kampf gegen den Auferstandenen entschlossen sind“; Giblin, Structural, 408; Senior, Account, 1447; Heil, Structure, 427–429; Senior, Mt, 343; Garbe, Hirte, 72; Fiedler, Passion, 311; Anderson, Matthew, 115, 119; Gollinger, Lehre, 359 f). Sie weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit den red. gestalteten θόρυβος-Passagen auf: 26,5 bzw. 27,24, wo der Bericht ebenfalls über den λαόςBegriff läuft. Zu den implizit ironischen Zügen der beiden Serien vgl. Mora, Le Refus, 132; Weaver, Matthew, Senior, Matthew 2, 1–12, 399 f bzw. Cousland, Crowds, 233; Konradt, Israel, 175; Feneberg, Erwählung, 367; Lohmeyer, Mt, 385. Im zweiten Fall tritt das Befürchtete ein, im ersten versuchen die Autoritäten als Träger einer „aktiven Gegenpropaganda“ (Meiser, Reaktion, 241) durch Bestechung der Soldaten der Auferstehungsbotschaft entgegenzuwirken. Ihre Ratlosigkeit ist grenzenlos, durch ihre übereilten Entscheidungen zeigen sie sich nicht mehr als Herren der Dinge. 155 Burnett, Exposing, 175, sieht den Ausdruck παρὰ Ἰουδαίοις als Indiz für „a negative topos“ und „an ideological construction“; diese Einschätzung und die Meinung, Matthäus hätte so nur von außerhalb des Judentums schreiben können, ist in der mt Forschung oft anzutreffen (vgl. nur Viljoen, Matthew, 668 [„critical use“]; Menninger, Israel, 35; Hummel, Ausein­ andersetzung, 146).

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Der subjektive Status der Gemeinde

ren gegenüber einem in der narrativen Volksmenge verurteilten Israel. An sich ist aber Ἰουδαῖος eine verbreitete Selbstbezeichnung im antiken hellenistischen Judentum156 und ist kontextgemäß ohne jegliche negative Konnotationen zu lesen.157 Abgesehen vom Tod- und Auferstehungsereignis,158 das bei Matthäus apokalyptische Züge annimmt (vgl. besonders 27,51–53 bzw. 28,2–4: ἡ γῆ ἐσείσθη //  εισμὸς ἐγένετο μέγας als gemeinsamen Nenner),159 ist das Weltbild von Matthäus, wie man seiner weiteren Erzählung entnehmen kann, durch den Ruf in 27,25 überhaupt nicht ‚erschüttert‘. Die Beziehungen zwischen den Erzählfiguren verlaufen in bekannten Bahnen, die ‚Frontlinien‘ sind nach wie vor ähnlich gezeichnet, und dass die ὄχλοι nicht mehr erwähnt werden, widerspricht kaum den vertrauten matthäischen Sprachkonventionen.

3.2 Die Nächstenliebe und die Polemik über die richtige Gesetzesauslegung Der ausgeprägt lehrhafte Charakter des Matthäusevangeliums, das fünf große Reden Jesu160 einschließt und den Willen Gottes in zahlreichen (Streit)Gesprächen dialogisch und polemisch auslegt, wirft wichtige Fragen über Jesus als Lehrer und sein Verhältnis zum Gesetz auf. Seine Lehrtätigkeit ist bei Matthäus sehr torazentriert und seine Unterweisung schöpft aus dem gemeinsamen jüdischen 156 Als Argument für die neutrale Bedeutung vgl. einige Beispiele aus Philo und Josephus: Virt 65.212; VitMos I 1; II 17; Decal 96; Flacc 43.45; SpecLeg I 97; II 163; bzw. Ant I 4.6.146.214.240; XI 173; XII 253 f; XIII 257; XX 38; Bell I 371, II 80–81.103; VI 17; Vita 50.54 f.113. Harvey, Israel, 46, 61, zieht in Bezug auf die genannten antiken Autoren die folgenden Fazits: „The name does not have derogatory overtones“, bzw. „It is neutral name“. 157 Frankemölle, Frühjudentum, 303 f; Gollinger, Lehre, 371: „So ist dem Verfasser schwerlich eine abwertende Tendenz zu unterstellen“; Richardson, Israel, 190; Davies / Allison, Mt III, 672 („among Jews“); auch Konradt, Israel, 232, Anm. 254; Gielen, Konflikt, 403 f („nicht theologisch zu überfrachten“); Gundry, Mt, 593, sieht darin sogar eine positive Stoßrichtung: „not only to help explain the unbelief of most of them, but also to bring them out of their unbelief by an exposé of the fraud it rested on“; auch Harrington, Mt, 413, räumt eine apologetische Absicht ein („to combat their explanation“). 158 Bei Matthäus stellen Tod und Auferstehung ein einheitliches, eschatologisches Ereignis dar (vgl. Meier, Vison, 179; Dahl, Passionsgeschichte, 25 und hier S. 193–194). 159 Zu den apokalyptischen Motiven der Auferstehung Jesu bei Matthäus vgl. Hagner, Apocalyptic, 61 f; Matera, Passion, 116 f; Kraus, Passion, 418–422; Wright, Resurrection, 632–636; Senior, Death, 312–329. 160 Man hat in der Forschung auf den Gegenwartsbezug dieser matthäischen Reden hin­ gewiesen: Luz, Jesusgeschichte, 90: Sie seien „zum Fenster hinausgesprochen“ und würden „direkt die Leser / innen“ anreden; Beare, Jesus, 32: „These discourses […] are declarations of Christ upon matters of contemporary importance to his church. […] The entire tradition of his teaching […] is transposed into instruction for the church of the time of St. Matthew“; Hahn, Mission, 108: „Alle großen Reden des Evangeliums [gelten] unmittelbar der Gemeinde“.

Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte

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Traditionsgut, das eigentlich beide Parteien, die hier streiten, eher hätte verbinden sollen.161 Die verschiedenen hermeneutischen Annäherungen zum Gesetz werden zum Zankapfel zwischen dem autoritativen Lehrer Jesus und den jüdischen Autoritäten. Die Auseinandersetzung entwickelt sich also zu einem Kampf um die echte Interpretation der Tora. Bemerkenswert ist aber dabei, dass die Lehre eine solche Bedeutung annimmt, dass sie weit über den begrenzten Rahmen eines Streits zwischen Schriftgelehrten hinausgeht, und auch eschatologische Folgen nach sich zieht: An einer falschen Lehre zu hängen, kann den Eintritt in die Basileia gefährden (5,19)162 bzw. in die ewige Verdammnis führen (15,23; 23,15). Dieser absolute Anspruch, die wahre Lehre zu besitzen, beruht auf der übermenschlichen Vollmacht Jesu, die sich sowohl in Wundern, als auch in seinen Reden manifestiert. Ein identitäres Kontinuum verbindet den lehrenden irdischen Jesus mit der eschatologischen Gestalt, die im Weltgericht nach dem Tun der Gebote fragt (25,31–46). Dem wohlwollenden Tun als Ausdruck der Erfüllung des Gesetztes kommt bei Matthäus eine große Bedeutung zu (5,19; 7,21.24; 23,23), und genau die fehlende oder die verkehrte Praxis wird den Pharisäern stets und betont vorgeworfen (Kap. 23; 6,2.5.16).

3.2.1 Die Grundlagen (Mt 5,17–20) In der ersten öffentlichen Predigt auf dem Berg163 lässt Matthäus Jesus programmatisch sein Verhältnis zur Tora in einem viel kommentierten Text (Mt 5,17–20) an einer prominenten Stelle, in einprägsamen Worten zusammenfassen.164 Vers 17 gibt durch im Satzgefüge zweimal vorangestellten Negationen (μὴ νομίσητε, οὐκ ἦλθον) und den adversativen Partikel (ἀλλά), die emphatische Aussage Jesu 161 Hummel, Auseinandersetzung, 157: „Besitz und Auslegung der Tora sind das ent­ scheidende Kennzeichen sowohl Israels wie der Kirche“. 162 Vgl. Strecker, Weg, 40: „Als einziger Evangelist übernimmt er ein Logion, das sich mit der eschatologischen Bedeutung der rechten Lehre befasst“; der Didache kommt „eschatolo­ gische Bedeutung“ zu (ebd., 126); Gielen, Konflikt, 76. 163 Jesus setzte sich (καθίζω) am Anfang der Rede wie die Lehrer seiner Zeit und lehrte (διδάσκω), vgl. Zimmermann, Lehrer, 151. Vgl. aber auch 15,29, wo sich Jesus ebenfalls auf einem Berg (τὸ ὄρος red.) setzt (κάθημαι [red.]) und heilt (θεραπεύω [red.]). Diese Stellung ist also für Matthäus ein Mittel, die volle Autorität Jesu zum Ausdruck zu bringen, die sich nicht nur in der Lehre, sondern auch in Wundertaten manifestiert. Die positive Reaktion des Volkes ist in den beiden Fällen angegeben (7,29; 15,31). 164 Das ist die erste Ich-Aussage Jesu im ganzen Evangelium und sollte sowohl für den Autor wie auch für die intendierten Leser ein besonders Gewicht gehabt haben: Hier wird Grundlegendes über die Selbstbestimmung Jesu direkt durch seine eigene Stimme vermittelt. Diese Ausdrucksweise taucht nun, nachdem Jesus vier Kapitel keinen selbstreferenziellen Bezug nahm in großer Dichte auf (4mal in 5,17–20). Ab V. 21 schmelzen in den Antithesen die IchAussagen und die adversativen Töne von 5,17 in die stereotypische Formel ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν zusammen (6mal – 5,22.28.32.34.39.44 und in 5,26 unvollständig).

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Der subjektive Status der Gemeinde

als Antwort auf einen den Jüngern  – auf der Erzählebene  – und dem Primär­ leser vermutlich anderweitig bekannten Vorwurf zu erkennen.165 Dadurch wird klargestellt, dass das Toraverständnis Jesu und der Gemeinde als Teil einer Kontroverse weiterer Erklärungen bzw. Abgrenzungen bedarf und dass die folgende ausführliche Auslegung auch von Kritiken und Vorwürfen veranlasst wurde. Gegen diejenigen, die meinen, Jesus will das Gesetz und die Propheten auflösen (καταλύω), wird in 5,17–18 vorab die grundlegend „positive Stellung Jesu zum Gesetz“166 festgelegt. Das Fehlen eines direkten Objekts in 17b, wobei der Rückbezug auf τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας167 selbstverständlich ist, lässt den asyndetisch168 angereihten Satz auch als allgemeine Aussage über das Wirken Jesu erscheinen.169 Jesus tritt als einer auf, der dem Gesetz grundsätzlich seinen wahren Sinn verleiht und in und durch sein Leben verwirklicht. Es ist umstritten, was 165 Es ist unwahrscheinlich, dass diese plötzliche Positionierung an dieser vorrangigen Stelle primär deswegen vorgenommen wurde „in order to avoid any misconceptions about what the antitheses are saying“ (Meyer, Law, 66; vgl. auch Luz, Mt I, 66: „Matthäus argumentiert grundsätzlich und nicht polemisch“). Die Stellungnahme Jesu konnte angesichts der folgenden polemischen Debatten nicht aus heiterem Himmel kommen. Der red. Vers „rebuts a real misunderstanding“ (Davies / Allison, Mt I, 483; vgl. auch Bultmann, Geschichte, 146: „μὴ νομίζητε zeigt, dass V. 17 aus Debatten entstanden ist“; Charles, Garnishing, 8). Die Bestimmung der Hintergründe dieses Verses schwankt in der Forschung zwischen zwei Hauptvarianten: Die ältere Deutung vermutet eine Gruppe von ‚Antinomisten‘ innerhalb der Gemeinde denen der matthäische Jesus nun entgegentritt, um ihnen die bleibende Gültigkeit des Gesetzes entgegenzuhalten (vgl. vor allem Barth, Gesetzesverständnis, 87; auch Arens, ΗΛΘΟΝ, 94; Hummel, Auseinandersetzung, 66–71). Die neuere Forschung sieht den ganzen Passus gegen die in V. 20 erwähnten Schriftgelehrten und Pharisäer gerichtet, von denen auch der Vorwurf, Jesus würde das Gesetz auslösen, ausgegangen sein könnte (vgl. Gielen, Konflikt, 82; Burchard, Versuch, 418, 422; Martin, Matthew, 69; Overman, Matthew, 88; Eckstein, Gerechtigkeit, 302; Broer, Antithesen, 131; Foster, Community, 154: „the form of synagogue based Judaism with which Matthew is contending“; auch S. 183). Der Text wurde auch als „hermeneutischer Schlüssel zum Verstehen der folgenden Antithesen“ verstanden (Repschinski, Nicht auflösen, 85). Rein kontextbezogen sieht Deines, Gerechtigkeit, 258 f, den Vers als an die Jünger adressiert. 166 Vgl. Vahrenhorst, Ihr sollt, 246 f; Broer, Freiheit, 44, McConnell, Law, 28; L ­ oader, Jesus, 166; Sim, Gospel, 129. Grundsätzlich wurde diese Sicht der Dinge in der neueren Forschung durch die Schriften von Deines, Not the Law, 53–84; Ders., Gerechtigkeit, 335 f, in Frage gestellt: „Sicher scheint mir, dass das Bekenntnis zu Jota und Häkchen keinen eindeutigen Beleg für eine halachisch observante Frömmigkeit darstellt, sondern eher im Sinne eines Bekenntnisses zur Unzerbrechlichkeit und Unbegründbarkeit der Offenbarung Gottes in der Schrift verstanden werden muss“. 167 Vgl. 2Kön  17,13; Neh 9,26; Thr 2,9; Sir 1,1; 2Makk  2,2; 15,9; 4Makk  18,10; Joh  1,45; Röm 3,21. 168 Blass / Debrunner, Grammatik, 391. 169 Von daher ist ein Bezug auf die Erfüllungszitate, die die Wirkung Jesu systematisch mit der Prophetie in Verbindung bringen, naheliegend (vgl. Hahn, Mt 5,17, 43 f; Broer, Freiheit, 34; Repschinski, Nicht auflösen, 87; Snodgrass, Matthew, 107; Konradt, Erfüllung, 131). Es ist möglich, dass durch προφήτης so eine Verbindung sogar suggeriert wird, denn ab V. 18 wird die Prophetie nicht mehr berücksichtigt.

Konfliktgegenstände: Die christologisch bestimmten Streitpunkte

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mit πληρόω gemeint ist.170 Ein Blick auf die Parallelkonstruktion in 5,19 (ὃς ἐὰν οὖν λύσῃ … καὶ διδάξῃ // ὃς δ’ ἁν ποιήσῃ καὶ διδάξη) zeigt, dass „Auflösen“ als Gegensatz zum „Lehren“ und „Tun“ auftaucht. Wenn man umgekehrt formuliert: Das Gesetz auflösen bedeutet es nicht angemessen zu lehren und zu tun, kann man die Intention der Aussage nicht völlig verfehlen,171 und in diesem Sinne liegt hier ferner ein Vorverweis auf das Liebesgebot vor.172 Im nächsten Vers 5,18 wird die gesteigerte und uneingeschränkte Gültigkeit auch des kleinsten Gebots173 bis ins Eschaton174 als Begründung angeführt und in 5,19 paränetisch ausgelegt: Das Übertreten der kleinen Gebote wird zwar den Eintritt ins Himmelreich nicht verhindern, aber der Kleinste zu sein ist auf keinen Fall wünschenswert.175 Radikalisiert wird der ethische Ton in 5,20. Einmal die Attacke abgewehrt, wird gleich darauf der Spieß umgedreht und die Selbstverteidigung schlägt nun in einen impliziten Gegenvorwurf um: Den Pharisäern und Schriftgelehrten176 wird ausgerechnet wegen ihrer mangelnden Gerechtig 170 Vgl. für die breite Meinungsverschiedenheit Broer, Freiheit, 26 f. 171 Vgl. Repschinski, Nicht auflösen, 90; Burchard, Versuch, 421–422; Hahn, Mt 5,17, 45: Es wird ein „anderes Verhalten gefordert“; Luz, Mt I, 314 („Handlungsmodell“); Vahrenhorst, Ihr sollt, 238: „Das Gesetz / Die Tora wird durch das ihr entsprechende Handeln des Menschen gefüllt“ (mit Hinweis auf Philo, Praem 83; Sib 3,244–246; 1Makk 2,55; TestNaf 8,7). 172 Arens, ΗΛΘΟΝ, 105; Giesen, Handeln, 144; McConnell, Law, 9. 173 Ein gewisser hyperbolischer Charakter ist in V. 18 nicht wegzudenken, die Unterscheidung kleine / große Gebote fußt aber auf gängige Debatten innerhalb der pharisäischen Kreise (vgl. Meyer, Law, 90 f). Die thetische Unterscheidung kleine / große Gebote erhält aber kontextuell „von dem Konflikt der Gemeinde mit dem pharisäischen Gegenüber her sein spezifisches Kolorit“ (Konradt, Erfüllung, 133). 174 ἕως ἁν πάντα γένηται (5,18b) hat Anlass zu verschiedenen Erklärungen gegeben. Der Versteil wird z. B. auf die Tora bezogen (Luz, Mt III, 313; Broer, Freiheit, 48; Sand, Gesetz, 38); auf die Passion und Auferstehung Jesu (Meyer, Law, 64, 89) oder auf das Weltende (vgl. Burchard, Versuch, 421; Konradt, Erfüllung, 132, Anm. 17; McConnell, Law, 23; Martin, Matthew, 68 f). Eine (in)direkte Kritik an dem Gesetz ist hier nicht anzunehmen (wie z. B. Meyer, Law, 61: „Law’s validity within a limited time period“; Luomanen, Entering, 81: „temporally restricted position“; Strecker, Weg, 147: „kritische Sichtung der alttestamentlichen Forderungen“). Seine uneingeschränkte Gültigkeit wird hier m. E. zum Ausdruck gebracht (Loader, Jesus, 169; Frankemölle, Mt I, 220: „die unbedingte Gültigkeit der Tora“; Sim,­ Gospel, 125 f; Gundry, Mt, 80; Foster, Community, 194; Vahrenhorst, Ihr sollt, 245: „Die Tora hat Bestand und ist vollständig zu tun“). 175 Im gegebenen polemischen Kontext stimme ich Loader, Jesus 170, 171 f zu, dass der Vers keineswegs als „evidence of a concessional attitude“ zu verstehen ist; auch Foster, Community, 196: „not […] a moderate statement“. 176 Sie bilden von Anfang an eine einheitliche Gruppe, „wie der nur einmalige Gebrauch des Artikels ausweist“ (vgl. Giesen, Handeln, 79); ihre Praxis wird programmatisch gegenüber­ gestellt (Frankemölle, Mt I, 218). Als Gegner Jesus in den gesetzlichen Debatten tauchen weiter die folgenden Gruppen auf: Schriftgelehrte und Pharisäer (5,20; Kap.  23); Pharisäer und Schriftgelehrten (15,1.20); Schriftgelehrten (7,29); Pharisäer (9,10.13; 12,1; 19,3; 22,34); Pharisäer und Sadduzäer (16,6.11.12) und die Sadduzäer allein (22,23); zu den Gegnern Jesu insgesamt vgl. 2.2.

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keit177 der Zugang ins Himmelreich verwehrt. Nach der unpersönlichen Ausdrucksweise in 5,19 (ὃς) ist 5,20 direkt an die Gemeinde adressiert (ὑμῖν / ὑμῶν). Gegnerkritik und Gemeindeparänese treten auch sonst zusammen (vgl. vor allem 23,8–12), in 5,20 ist nur eine kurze, aber prägnante Gegenüber­stellung vorhanden, verdeutlich durch einen Vergleich (πλεῖον). Weil hier auch ein Kontrast zwischen Gruppen gemeint ist, liegt auf der komparativen Konstruktion ein großes Gewicht. Die Vergleiche sind aus sozialpsychologischer Sicht identitätsstiftend, indem sie den Gruppen dabei verhelfen, deutliche Grenzen zu ziehen und ihr Proprium besser zu profilieren. Der Vergleich ist ein praktisches Instrument dafür, eigene Werte, Einstellungen und Fähigkeiten gegen die der Fremdgruppe abzuwägen. Aus den Vergleichen wird natürlich erwartet, dass die Ergebnisse für die Eigengruppe günstig ausfallen, und eben daraus entsteht auch die positive soziale Distinktheit: „To achieve positive social identity, ingroup-outgroup comparison must yield perceived differences which favour the ingroup“.178 Das Bedürfnis besser als die anderen in Hinsicht auf eine für die eigene Identität wichtige Vergleichsdimension abzuschneiden, ist ein kräftiger Beweggrund in der sozialen Interaktion. Darin muss der Leser sofort die entscheidende Differenz erkennen. Angesichts der übrigen Verwendung in den Evangelien und besonders bei Matthäus erfüllt περισσεύω179 zusammen mit πλεῖον diese Funktion gut. Darum sollte man sich nicht unbedingt fragen, ob es um ein qualitatives oder quantitatives „Mehr“ geht, weitere Stellen erlauben es an beides zu denken: Die verschärfte Toraauslegung in den darauf folgenden Antithesen spricht für eine qualitative Steigerung, aber Verse wie 15,3 oder 23,23 machen auch auf das Quantitative aufmerksam. Es ist zu fragen, ob in Tora-Angelegenheiten die Spezifikationen „qualitativ“ und „quantitativ“ nicht einfach ineinander gehen. Bei Matthäus scheint es, der Fall zu 177 Vom Kontext her ist es hier zwingend, die Gerechtigkeit in Verbindung mit der Tora als der zu erfüllende Gotteswille zu bringen (McConnell, Law, 35; Eckstein, Gerechtigkeit, 303). Den Schriftgelehrten und Pharisäern mangelt es an Tun, sie halten nicht das Gesetz (23,3) (vgl. Broer, Freiheit, 59). Vielmehr aber halten sie sich an eine falsche Gebotenhierarchie und vernachlässigen das Wichtigste am Gesetz – Recht, Barmherzigkeit und Treue (23,23). Von hier aus bekommt δικαιοσύνη auch ihre inhaltliche Bestimmung  – das Liebesgebot (vgl. Barth, Gesetzesverständnis, 74; Luz, Mt I, 319). Auf eine polemische Note des Begriffs bei Matthäus macht Przybylski, Righteousness, 113–114, aufmerksam: „δικαιοσύνη thus appears to be a crucial term in Jesus’s polemical encounter which the contemporary religious leaders of the Jews, notably the Pharsiees“; zustimmend Foster, Community, 201. 178 Vgl. Turner, Comparison, 236; vgl. auch 1.2.2. 179 Neben Mt  13,12 und 25,29, bringen auch die Belege in den Speisungsgeschichte (14, 20; 15,37) den Überfluss zum Ausdruck (vgl. Schneider, Art. περισσεύω, 181). Einen gewissen hyperbolischen Zug an allen diesen Stellen kann nicht übersehen werden. Er würde auch zu 5,20 gut passen. Wenn die religiöse Gruppe der Pharisäer besonders darum bemüht war, die Tora mit großer Ausführlichkeit auf alle Lebensbereiche anzuwenden, dann ist eine noch größere Anstrengung das Gesetz zu praktizieren offensichtlich eine Form der Überbietung (vgl. auch Thielman, Law, 50).

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sein (vgl. besonders 23,23). Ingo Broer drückt den Sachverhalt als „Vorverlagern der Scheidelinie zwischen Gut und Böse“ nach dem Schema „nicht erst – sondern schon“ aus.180 Dadurch entsteht eine quantitativ größere ethische Fläche, die abzudecken ist, die qualitative Steigerung ist dabei eine logische Konsequenz. Eine gewisse quantitative Bedeutung sollte man auf jeden Fall, so nehmen die meisten Kommentatoren an, dabei behalten.181 Der Vers ist umso wichtiger, weil der Vergleich mit den Pharisäern und Schriftgelehrten schon beim ersten Mal von Jesus selbst durchgeführt wird. Sie werden also schon am Anfang paradigmatisch als Bezugsgruppe für die matthäische Gemeinde etabliert: Sie sind die signifikante Größe, zu der man sich immer wieder kritisch ins Verhältnis zu setzen hat. Auch in 6,1–4.5–8.16–18 können dieselben Figuren ohne Mühe unter ὑποκριταί identifiziert werden, als konkurrierende Gruppe treten sie in den Streitgesprächen, in Reden (vor allem im Kap. 23) auf, werden aber auch in Gleichnissen angedeutet. Die Erfüllung des Gesetzes als ausgesprochenes Ziel der Mission Jesu, wie schon in 5,17–20 angelegt, entwickelt sich im Laufe des Evangeliums zu einem veritablen Kampf um die richtige Toraauslegung, der auch aktuelle Erfahrungen aus dem Leben der Gemeinde widerspiegelt.182 Der autoritative und zugleich polemische Hauptton (z. B. 5,18.20: γὰρ λέγω ὑμῖν)183 findet seinen Widerhall nicht nur in den darauf folgenden Antithesen,184 sondern angewandt auch in den 180 Broer, Freiheit, 63; ferner auch Bornkamm, Jesus, 95. 181 Vgl. z. B. Przybylski, Righteousness, 85: „It would be surprising if the two terms just mentioned were used without any reference to a quantitative distinction“; sogar exklusiv­ Vahrenhorst, Ihr sollt, 248 („einen eindeutig quantitativen Sinn, einen qualitativen Unterschied im Ansatz sieht Matthäus offenbar nicht“). Giesen, Handeln, 137, begründet diese Doppeldeutigkeit philologisch: Es geht um „ein quantitatives Mehr, das jedoch nach semitischem Sprachgebrauch qualitativ zu verstehen ist“. Diese Doppeldeutigkeit ist von Foster, Community, in zwei Ausdrücken eingefangen: „quantitative superiority“ (199 f); „qualitative difference“ (209). Die Betonung der qualitativen Seite vertreten z. B. McConnell, Law, 38: „the qualitative sense is predominant“; Hagner, Holiness, 175: „Although the language here sounds quantitative […], the contrast is really qualitative“; Eckstein, Gerechtigkeit, 307; Deines, Gerechtigkeit, 426 f. 182 Sim, Gospel, 127: „Many of these passages reveal that the interpretation of the law was a major source of conflict between Matthew’s group and the scribes and Pharisees“. 183 Diese Einleitungsformel gewährleistet auch Kohärenz zwischen den beiden Abschnitten 5,17–20 und 5,21–48 (vgl. Broer, Freiheit, 73; Repschinski, Nicht auflösen, 81). 184 Es ist zu fragen, ob die Antithesen aus dem Bedürfnis einer grundsätzlichen Ausein­ andersetzung mit dem Gesetz an sich entstanden sind (vgl. Zeller, Jesus, 305; Jeremias, Theologie, 240–242), oder ob sie einen Reflex der gesetzlichen Konfrontation mit dem Toraverständnis der Pharisäer und Schriftgelehrten darstellen (vgl. grundlegend Schaller, Character, 70–88; Burchard, Versuch, 422–426; anschließend auch Konradt, Erfüllung, 136 f). In diese letzte Richtung vgl. auch Frankemölle, Mt I, 225; Wick, Antithesen, 175; Broer, Antithesen, 133; Loader, Jesus, 172: „Matthew sees Jesus citing commandments as they were being heard, ie. interpreted“; Bachmann, Antithese, 95; Charles, Garnishing, 8: „It is not the­ Torah itself that Jesus rejects, rather the halakah, the oral tradition and interpretation, that have come to surround the law“; annähernd auch Deines, Gerechtigkeit, 429: „in Anlehnung an

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zahlreichen Streitgesprächen,185 die, abgesehen von 12,38–42; 16,1–4; 21,23–27, wo die Autorität Jesu problematisiert wird, oder vom einzigen Fall 13,53–58, wo die Kontrahenten Jesu andere als die religiösen Führer Israels sind, immer zwischen denselben Parteien (mit leichten Variationen auf der Seite der Gegner) verlaufen und um das richtige und angemessene Verstehen und Tun der Tora ringen.186 Die folgenden Beispiele sollten besonders den Maßstab und die Richtlinien der matthäischen Gesetzesauslegung verdeutlichen: „Die Nächstenliebe […] Eben das ist die ‚bessere Gerechtigkeit‘, die in den folgenden Versen verkündigt wird“.187 Das Kriterium der Nächstenliebe, die in 5,20 angedeutet wird, muss nun episodenhaft in seinen praktischen und polemischen Konsequenzen verfolgt werden. Die steigende Feindseligkeit der Gegner, besonders der Pharisäer, ist eine ständige Begleiterscheinung des jesuanischen Toraverständnisses.

3.2.2 Reine Speise und (un)reine Menschen (Mt 9,10–13; 15,1–20) Mk 2,16 lässt οἱ γραμματεῖς τῶν Φαρισαίων188 eine fragende Konstatierung (ὅτι) über Jesu Mahl mit den Zöllnern und Sündern zum Ausdruck bringen, während Matthäus die gesamte Gruppe der Pharisäer verallgemeinert, die den Jüngern nun eine vorwurfsvolle Frage stellen (διὰ τί).189 Sie erkennen Jesus als Lehrer, was sie der typisierten matthäischen Sprache190 gemäß schon disqualifiziert, und distanzieren sich zugleich von ihm und von seiner Begleitung (9,11[red.]: διδάσκαλος ὑμῶν). Mit δίκαιοι (9,13) als mögliche Anspielung auf ihre ungenügende Gerechtigkeit (5,20)191 und auf die Begründung des Liebesgebots (5,45) die mosaische Tora (und ihre Fortführung im Kreis der pharisäischen Schriftgelehrsamkeit)“; Hummel, Auseinandersetzung, 50. 185 Dass die Streitgespräche auch im Bann dieser programmatischen Aussagen stehen, meint auch Meier, Law, 41. 186 Mt 9,9–13; 12,1–8.9–14; 15,1–14; 19,3–12; 22,15–22. Im letzen Fall ist es umstritten, ob die Steuerfrage wirklich zu den gesetzlichen Debatten im Frühjudentum gehörte (vgl. Repschinski, Stories, 203), Matthäus und Markus zählen sie trotzdem dazu (ἔξεστιν in 22,17 bzw. 12,14). In 9,9–13 wird das Mahl mit den Zöllnern erst nach der matthäischen Redaktion durch die Einfügung von Hosea 6,6 und durch die Umformulierung der Frage der Pharisäer (ὁ διδάσκαλος ὑμσ˜ ν in Mt 9,11 // Mk 2,16 // Lk 5,30) um die Schriftproblematik ergänzt. 187 Schweizer, Matth. 5,17–20, 167; vgl. auch Hill, Use, 110, 117; Furnish, Love, 75; Giesen, Handeln, 145; Overman, Matthew, 89; Schneider, Neuheit, 181: „Die Liebe ist die Auslegungsnorm des ganzen Gesetzes und der Propheten“. 188 Die markinische Formulierung grenzt die Gruppe auf einen Berufsstand ein (Gielen, Konflikt, 97). 189 Es ist gerade eine „Anklage“ (Landmesser, Jüngerberufung, 101). 190 Diese Anrede kommt nie bei den Jüngern auf, sondern nur bei meistens feindlich gesonnenen Außenstehenden 8,19[red.] (εἷς γραμματεύς); 12,38[red.] (τινες τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων); 17,24[trad.] (οἱ τὰ δίδραχμα λαμβάνοντες); 19,16 (εἷς); 22,15 (οἱ Φαρισαῖοι); 22,24 (Σαδδουκαῖοι); 22,36[red.] (εἷς ἐξ αὐτῶν [νομικός]). Vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 98 f, 101 („unüberbrückbare Distanz“); siehe auch oben S. 73–75. 191 Auch Nolland, Mt, 386, sieht hier einen Rückverweis auf die Bergpredigt.

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vergrößert auch die Antwort Jesu den Abstand zwischen den Gesprächspartnern und macht klar, worin diese tiefen und unüberbrückbaren Unterschiede liegen: Sie haben nicht verstanden, was Hos 6,6 bedeutet (πορευθέντες δὲ μάθετε τί ἐστιν) und gerade ihre Schriftunkenntnis macht sie zu Feinden des Willens Gottes,192 der sich erst in der barmherzigen Zuwendung zu den Verlorenen richtig erschließt. Sie verstoßen gegen das höchste Gebot, wie es in der Bergpredigt, aber auch sonst bestimmt wird (5,44 f; 22,39), indem sie an ihren begrenzten Reinheitsvorstellungen hängen bleiben193 und den helfenden Umgang mit den Außenstehenden der Gesellschaft meiden. So entpuppen sie sich als selbstzentrierte und den Menschen abgewandte Autoritäten. Hingegen bleibt Jesus in seiner abschließenden ἦλθον-Aussage (9,13b) die einzige Hoffnung für Kranke und Sünder, die von ihren Führern verlassen und abgewiesen wurden. Er verwirklicht gerade die Gebote Gottes durch die Mahlgemeinschaft mit den Verworfenen, indem er „das übliche und religiös gut begründete Urteil des frommen Menschen“194 auf den Kopf stellt. Seine hilfsbereite Zuwendung und sein Tod, wie vom weiteren Verlauf der Erzählung bekannt, sind als natürliche und unvermeidbare Folge seiner Sendung zu verstehen.195 Die Vergebung der Sünden gehört zu seiner messianischen Bestimmung196 und dies ist nur möglich, indem Jesus auf die Sünder und Kranken197 zugeht. Das lässt die Pharisäer implizit in einem zweifelhaften Licht erscheinen, als diejenigen, die sich von menschlicher 192 Vgl. Repschinski, Stories, 80 f; Davies / Allison, Mt II, 105; Landmesser, Jünger­ berufung, 123: „Sie verkennen […] das, was wirklich Gottes Wille ist“; Hill, Use, 111. 193 Ihre Zurückhaltung beruht auf der Vorstellung, dass man sich durch Kontakt mit Sündern verunreinigt (Nolland, Mt, 386; vgl. auch Gielen, Konflikt, 99; Luz, Mt II, 44; Sand, Gesetz, 57). Weder Heiden (Jub 22,16; JosAs 7,1; 8,5; Act 10; Gal 2,11–14), noch Sünder (vgl. Sir 9,16) durfte ein frommer Jude zum Tischgenossen haben (Belege nach Landmesser, Jüngerberufung, 93 f), denn die irdische Mahlgemeinschaft ist ein Vorverweis auf das himmlische Festmahl Gottes (Jes 25,6; 1Hen 62,14; Mk 14,25; Apk 19,9 – dazu Sung, Vergebung, 238 f). 194 Landmesser, Jüngerberufung, 91; vgl. auch Bolyki, Tischgemeinschaften, 108: „So wurde seine Tischgemeinschaft mit den Sündern zu einer demonstrativen Provokation“. 195 So Giesen, Handeln, 145; Landmesser, Jüngerberufung, 91, 137; ἦλθον ist eine LXX Botenformel (Dan 9,23; 10,14.20; 11,2; Tob 12,18) und stammt vermutlich aus Jes 61,1 (Sung, Vergebung, 235 f). 196 Jesus ist als Davidssohn ein Heiler par excellence, Krankheit und Sünde stehen aber in einem engen Verhältnis (vgl. 9,5), deswegen ist das Miteinander mit den Sündern und Zöllnern ein Reflex derselben messianischen Dimension; dass zugleich Jesus als Gottessohn die Sündenvergebung bewirkt, zeigt, wie eng die christologischen Titel bei Mt miteinander verknüpft sind. Die Verbindung Sünde  – Krankheit ist im Judentum belegt (Jes  1,4 f; Jes  53,4 f;­ TestGad 5,11; TestSeb 5,2; TestSim 2,12; Philo, Virt 162; Imm 135) und auch sonst im NT vorhanden (Joh  5,14; 9,2; 1Petr 2,24; Jak 5,14–16); zu diesem Verhältnis vgl. auch S.  68. Bei Matthäus ist im Rahmen seiner ausgeprägten Hirtenmetaphorik auch eine Anspielung auf Ez 34,4 möglich. Zur Hirtenmetaphorik siehe S. 62–66. 197 Die ‚Gott als Arzt‘ – Metaphorik steht hier im Hintergrund: Ex 15,26; Jes 30,26; 57,17 f; Jer 30,17; 33,6; Ps 103,3; 147,3; Sir 38,9. Für weitere Belege und Literatur vgl. Klauck, Heil, 23 f; Sung, Vergebung, 236 f.

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Not und Leiden eher eitel abgrenzen und ihre Aufgabe als religiöse Autoritäten nicht erfüllen können. Das Gespräch läuft also im Vergleich zu Markus auf eine grundlegende christologisch aufgeladene Kontroverse hinaus.198 Die Pharisäer praktizieren Reinheit durch soziale Ausgrenzung, während Jesus den Sündern die Heilsmöglichkeit eröffnet.199 Die Reinheitsfrage gibt im komplexen Text 15,1–20 erneut Anlass zu offenen Auseinandersetzungen zwischen Jesus und diesmal einer Gruppe von Phari­ säern und Schriftgelehrten aus Jerusalem – Ort der Schriftkundigen, aber auch der Bedrohung (vgl. 2,3 f). Schon die präzise matthäische Lokalisierung weist auf eine verschärfte Lage hin: Menschen setzen sich in Bewegung (Mt  15,1: προσέρχονται // Mk  7,1: συνάγω), verbinden sich zu einer „unheiligen Allianz“,200 um Jesus von allen Seiten zu bekämpfen; die Passion rückt mit jeder neuen Niederlage seiner Gegner näher.201 In 9,11 waren die Jünger wegen Jesu Verhalten angesprochen, nun (15,2) stellen die Kontrahenten Jesus wegen der Übertretung202 der Satzungen der Ältesten (ἡ παράδοσις τῶν πρεσβυτέρων) durch seine Jünger direkt zur Rede. In den beiden Fällen ist aber offensichtlich Jesus selbst die Zielscheibe; auch seine heftige Reaktion lässt bei Matthäus nicht lange auf sich warten (διὰ τί in 15,2 und gleich darauf in 15,3[red.]).203 Inhalt 198 Vgl. auch Repschinski, Stories, 81; Arens, ΗΛΘΟΝ, 59; Park, Sündenvergebung, 156. Diese Stoßrichtung ist in der mt Perikope von Anfang an vorhanden. Landmesser, Jünger­ berufung, 53, macht auf die „betonte Einführung des Subjekts ὁ Ἰησοῦς“ in 9,9 aufmerksam, während in Mk 2,13 // Lk 5,27 Jesus nur implizit weiterhin Subjekt der Erzählung bleibt. 199 Die Barmherzigkeit Jesu wirkt sich auch „auf die soziale Deklassierung“ aus (Park, Sündenvergebung, 158; vgl. auch Garland, Mt, 107: „Jesus discounts the demarcation of society along purity lines“. Und manche ergreifen wirklich diese Chance, wie der (unreine)  Zöllner Matthäus in 9,9, der dem stereotypischen Ruf Jesu ἀκολούθει μοι blitzartig und bedingungslos folgt. Die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des Umkehrs ist schon festgestellt worden (3,2; 4,17). Zutreffend in Bezug auf die Heilung des Aussätzigen in 8,1–4, sagt Heil, Aspects, 280: „Jesus heals not only the individual ailment, but the social rupture caused by the disease“. 200 Gielen, Konflikt, 164. 201 Vgl. Luz, Mt II, 419; Nolland, Mt, 609: „The visitors from Jerusalem […] anticipate the orientation to the coming Passion“; Gnilka, Mt II, 21. 202 In der Formulierung der Anklage ist der Iterativ der Gegenwart (ὅταν + ἐσθίωσιν) der kleine, aber wichtige Hinweis auf eine übliche und verbreitete Praxis innerhalb der matthäischen Gemeinde (vgl. Repschinski, Stories, 156). Auch die Anklage selbst ist schwer­ wiegender: παραβαίνω [red.] steht bei Mt anstatt des neutralen Mk 7,5: περιπατέω (Loader, Jesus, 213 f; Meier, Vision, 101; Davies / Allison, Mt II, 519; Dobbeler, Auf der Grenze, 65 f; Broer, Freiheit, 118). 203 Matthäus nimmt in seiner Redaktion wichtige Eingriffe in dem Aufbau der Perikope vor: Der lange Passus (Mk  7,2–4) ist bei ihm gegenstandslos; wichtiger ist die spätere Einfügung des Jesajazitats erst in 15,7–9 am Ende des ersten Perikopenteils. Das verleiht einerseits dem Schriftbeweis eine abschließende Funktion, wie auch in 9,13 und 12,7, und dadurch eine größere argumentative Wirkung (vgl. Gielen, Konflikt, 160; Repschinski, Stories, 155; Luz, Mt II, 423), andererseits lässt der Redaktor Jesus freien Raum gleich auf den Angriff der Pharisäer seine kräftige Gegenanklage auszusprechen. Zu vermerken ist auch der wichtige matthäische Einschub 15,12b–14.

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lich ist der Vorwurf Jesu noch schwerwiegender, denn er bringt das Gebot Gottes204 (ἡ ἐντολὴ τοῦ θεοῦ – Gen. Sub.) ins Spiel, das von Pharisäern und Schriftgelehrten um ihrer Satzungen willen (διὰ τὴν παράδοσιν ὑμῶν) aufgegeben ist.205 Diese unzulässige Hierarchie mit den menschlichen Gesetzesbestimmungen an der Spitze und der Verdrängung des Willens Gottes will Jesus am Beispiel der Korban-Praxis verdeutlichen. Der Vorwurf sagt aus, dass das Gebot Gottes,206 den Vater und die Mutter zu ehren (Ex 20,12; Dtn 5,16), mit Hilfe eines Gelübdes für den Tempel relativiert werden kann.207 Dadurch ist aber ein Dekalog-Gebot den menschlichen Interessen und Schwankungen angepasst und praktisch außer Kraft gesetzt. Sekundäre Überlieferungen (nach 15,2 gehören sie den Ältesten, nach 15,6 den Pharisäern selbst) laufen durch die Anwendung der Pharisäer dem göttlichen Gebot zuwider208 und lassen ein gesetzwidriges Verhalten zu. Angeprangert wird also das schlaue Unternehmen, Gesetz und Überlieferung gegeneinander auszuspielen, um Letzteres zum Maßstab für das eigene Verhalten zu machen; so konnte man das Gebot umgehen und dem Sohn gestatten, sich der Versorgungspflicht gegnüber den Eltern zu entziehen.209 Matthäus illus­triert hier keine inneren Risse oder Widersprüche zwischen dem Kerngesetz und dessen Auslegung innerhalb der religiösen Überlieferung, sondern ihre bewusste Pervertierung, um wahrscheinlich unangenehme Teile des Gesetzes aufs Abstellgleis zu schieben. Die Übertretung ist absolut, die Pharisäer verstoßen gegen die beiden Teile des höchsten Gebots der Liebe: Die engsten Verwandten werden abgestoßen und ihrer Grundrechte beraubt, aber auch die Würde des Gesetzesurhebers wird angetastet. Den Sachverhalt nennt Matthäus mit einem Vorzugswort im Vokativ (ὑποκριταί) und fasst ihn im Jesajazitat 29,13 zusammen. Die Weissagung Jesa 204 „Indem er ganz von der Tora her argumentiert, zeigt er, wie sie für ihn nach wie vor in Geltung steht“ (vgl. Zimmermann, Lehrer, 153). 205 Nolland, Mt, 616; Repschinski, Stories, 159: „The implicit accusation […] is, then, not just between Law and tradition, but it is between God and them“; Berger, Gesetzesauslegung, 499: „Der Gegensatz zu den Angeredeten [ist] noch erheblich verschärft“; Hübner, Gesetz, 176. Matthäus macht aus der Konfrontation eine Sache des Prinzips (so Collins, ΕΝΤΟΛΑΙ, 1333). 206 Matthäus verschärft die Antithese, indem er Μωϋσῆς γὰρ εἶπερ (Mk 7,10) durch ὁ γὰρ θεὸς εἶπερ (Mt 15,4) ersetzt; dadurch entsteht auch ein Kontrast zu V. 5a: ὑμεῖς δὲ λέγετε; vgl auch Gnilka, Mt II, 19 („der schärfste Gegensatz“); Sand, Gesetz, 69 („grundsätzliche Diskussion“); Wong, Theologie, 83. 207 Gnilka, Mt II, 22 („die Entartung der Religion“); Moo, Jesus, 13. Den polemischen Charakter des Textes kann man nicht übersehen. Der Vorwurf steht auf dünnem Eis und erlaubt keine zuverlässigen Schlüsse auf die historische Wirklichkeit (vgl. Luz, Mt II, 423). 208 Wobei es nicht sehr klar ist, wie das Händewachen vor dem Essen dem göttlichen Gesetz widerspricht, wie Luz, Mt II, 422, mit Recht bemerkt; vgl. auch Konradt, Rezeption, 155, Anm. 95: „Ein allgemeines Gebot zum Waschen der Hände für Laien beim Essen gibt es nicht“; Avemarie, Jesus, 264 f; Saldarini, Matthew, 135 f. 209 Vgl. Luz, Mt II, 420; Gielen, Konflikt, 157; Sand, Gesetz, 69; Nolland, Mt, 617 („the sidestepping of obligations“).

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jas210 über die menschlichen Lehren (διδασκαλία) und Gebote (ἔνταλμα211) fand im ehrenlosen Umgang der Pharisäer und Schriftgelehrten mit dem Gesetz, wie Jesus ihn darstellte, vollkommene Bestätigung.212 Sie praktizieren eine Scheinfrömmigkeit (vgl. auch 6,1.5.16), ihr Herz, also ihre Entscheidungsinstanz, ist verschlossen und Gott und den Menschen abgewandt. Die Nebeneinanderstellung der Schriftzitate (V. 4 bzw. V. 8) erlaubt die Parallelisierung Eltern – Gott ehren (τιμάω), auch wenn die beiden Texte nichts direkt miteinander zu tun haben. Matthäus leitet also Folgendes als logische Schlussfolgerung dieses Abschnittes in die Wege: Am Fehlverhalten gegenüber den Menschen zeigt sich das Versagen, Gott zu dienen (V. 9: σέβονται). Dass diese Feststellung sofort durch den Aufruf des Volkes gefolgt wird, ist bestimmt nicht zufällig. Jesus wendet sich aber nicht erst jetzt dem Volk zu,213 sondern holt es wieder vom Ort ab, an dem der Streit angefangen hat, und teilt ihm nach einer zusätzlichen kognitiven Mobilisierung (15,10: προσκαλέω) seine punktuelle Stellung zum strittigen Thema mit. Matthäus streicht das markinische πάλιν (Mk 7,14 // Mt 15,10), um zu zeigen, dass Jesus die Menge nie aus den Augen verloren hat und dass seine Argumentation schließlich darauf zielt, die Zuhörer vorzuwarnen und ihnen die eigentlichen Konsequenzen der Lehre der Pharisäer einzuschärfen: Sich ihrer Gesetzesauslegung anzuschließen, bedeutet im Endeffekt, dem Gottesgericht anheimzufallen.214 210 Durch den geänderten Aufbau  – zuerst die Ereignisse, dann das prophetische Wort  – steht Jes 29,13 am „Schluss als Kommentar nach der Art der Reflexionszitate“ (Berger, Gesetzesauslegung, 498). 211 Außer der markinischen Parallele ist in dieser Form im ganzen NT nur noch Kol 2,22 belegt und bildet bei Matthäus zusammen mit der üblichen Variante in 15,3 (ἐντολή) die Rahmung der Antwort Jesu, was wiederum bei Markus wegen der unterschiedlichen Reihenfolge nicht der Fall war. Der Abschnitt steht also zwischen den göttlichen und den menschlichen Geboten. 212 Eine gewisse Ambiguität entsteht hinsichtlich der Adressaten: Obwohl das Zitat vom ganzen Passus her die Pharisäer und Schriftgelehrten ins Visier nimmt (15,7: περὶ ὑμῶν) und die Menge (ὄχλος) in 15,10 direkt angesprochen wird, ist es schon durch Jesaja an das ganze Volk (λαός) adressiert. Matthäus schiebt das Demonstrativpronomen οὗτος nach, dadurch kommt aber keine Sinnänderung zustande, nur steht der Text der LXX-Vorlage näher (vgl.­ Repschinski, Stories, 161, Anm. 64; Frankemölle, Bund, 201, Anm. 42). Luz, Mt II, 423 f, entscheidet sich für Volk als Gesamtheit und liest vermutlich Mt 15,8 von Mt 27,25 her. Wobei zu fragen ist, ob in der Passionsgeschichte das heilige Volk oder die Jerusalemer (vgl. 3.1.3) gemeint sind. Gielen, Konflikt, 157, Anm. 18, setzt für sich unter Berufung auf Frankemölle, Art. λαός, Kol. 837–848, auf Bedeutung „Gruppe von Menschen“, nämlich die Pharisäer und Schriftgelehrten, die natürlichen Adressaten in diesem Kontext, fest. 213 Die Stelle wird allgemein anders gedeutet, als würde die Volksunterweisung erst jetzt anfangen (vgl. Repschinski, Stories, 161; Gielen, Konflikt, 157; Luz, Mathäus II, 424; Meier, Vision, 101). 214 Matthäus sieht eindeutig die Volksmenge und die Autoritäten als zwei unterschiedliche Menschengruppen (Davies / Allison, Mt II, 526; vgl. auch 3.1.2) und nicht als eine einheitliche verdammte Masse (Walker, Heilsgeschichte, 41: negatives „Kollektivurteil über Israel“).

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In der matthäischen Formulierung der Antwort Jesu wird die Radikalität der markinischen Version über die Unreinheit, die sich von außen in den Menschen einschleicht, abgeschwächt.215 Der Gedanke, dass nichts von außen den Menschen unrein machen könnte (Mk  7,15.18: ὃ δύναται κοινῶσαι αὐτόν) ist­ Matthäus ebenfalls fremd. Die zweite Hälfte seiner Stellungnahme, darüber, was den Menschen unrein macht, nimmt einerseits einen polemischen Bezug auf die Vorwürfe der Pharisäer am Anfang der Perikope, findet andererseits erst in 18 f eine vollständige Erklärung. Bis dahin schaltet Matthäus noch ein kurzes Gespräch mit den Jüngern ein. Sie, die in 15,2 von den Pharisäern und Schrift­ gelehrten getadelt wurden, zeigen sich nun über ihren Anstoß an dem Wort Jesu besorgt. Dass nur noch die ersten Ankläger (οἱ Φαρισαῖοι) auftauchen, wird als ein direkter Bezug auf aktuelle Auseinandersetzungen der Gemeinde in ihrem jüdischen Umfeld gedeutet.216 Die nur durch die Worte der Jünger bekannte Re­aktion der Autoritäten dürfte nicht nur inhaltliche, sondern auch taktische Gründe haben: Es ging auch um die Unterminierung ihrer Lehrautorität gegenüber dem Volk,217 denn die Reinheitstora will Jesus nicht aufheben.218 Mt 15,11 bleibt aber trotz der matthäischen Bearbeitung relativ doppeldeutig.219 Spuren des markinischen Verständnisses sind noch greifbar, aus anderen Richtungen kommen aber klare Signale, dass Matthäus nicht an den Reinheitsregeln rütteln will: Die Jünger essen nicht mit unreinen, sondern mit ungewaschenen Händen (Mk 7,5: κοινός; Mt 15,2[red.].20[red.]: νίπτω). Die Unreinheit des Essens von dem man spricht, entsteht also durch den Kontakt mit den schmutzigen Händen; weder das Brot, noch die Hände sind kultisch unrein.220 215 Mk 7,15: negativer Existenzsatz, „in den Menschen“; Mt 15,11: negierter Partizip, „in den Mund“. 216 Vgl. Luz, Mt II, 425; Gielen, Konflikt, 163; Davies / Allison, Mt II, 538. 217 Die Pharisäer reagieren, als sie hörten (ἀκούσαντες), was Jesus der Menge vermittelt hat. Man vermisst hier eine Rückmeldung der Zuhörerschaft (vgl. auch Gielen, Konflikt, 160), aber vom Kontext her, sollte sie positiv gewesen sein, sonst wäre der Ärger der Pharisäer nicht ganz verständlich (anders Gielen, ebd.). 218 So sehen die mt Berabeitung auch Loader, Jesus, 216 („does not seek to abolish, but does call into question the kind of emphasis which these Pharisees espoused“); Davies / Allison, Mt II, 517; Konradt, Erfüllung, 144 (keine „prinzipielle Abrogation der Reinheitstora“); Dobbeler, Auf der Grenze, 64; Saldarini, Matthew, 134: Sim, Gospel, 132 f. Das Gegenteil behaupten: Meier, Vision,103: „Jesus has gone beyond reinterpreting the Mosaic Law; he simply abolished it“; Walker, Heilsgeschichte, 141 f. 219 Vgl. grundsätzlich Luz, Mt II, 424 f. 220 In diesem Sinne waren die Korrekturen auch nötig, denn das Essen von unreinen Speisen ist vor allem im Gesetz und nicht in den Überlieferungen der Ältesten verboten. Markus hat die Überlieferung über ungewaschene Hände und das Gesetz über das unreine Essen gleich­ gesetzt. Obwohl er von den ersten ausgeht, zielt er auf das zweite (Mk 7,19b). Matthäus, indem er κοινός ersetzt, behält durchgehend die Unterscheidung bei. Klawans, Impurity, 147, betont mit Recht: „In Matthew, the dispute from beginning to end concerns not the food laws, but the issue of ­eating with unwashed hands“.

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Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden Kontrahenten auf zwei verschiedene Sachebenen Bezug nehmen. Die Pharisäer verhalten sich, als ob die matthäische Gemeinde sich gegen etwas Grundsätzliches – die Reinheitsvorschriften als Ganzes221 – zur Wehr setzen würde. Matthäus aber bejaht sie im Grunde genommen und deutet redaktionell darauf hin, dass die Jünger dagegen nicht verstoßen haben. Er hält trotzdem das Verhalten der Gegner für verwerflich, aber aus anderen Gründen. Die matthäischen Differenzierungen, die man hier ohne das ganze Evangelium als Hintergrund, für haarspalterisch halten kann, erfolgen auf einem sehr schmalen Grat. Das Gesetz hat er im Großen und Ganzen gemeinsam mit den Pharisäern. Unterschiede um jeden Preis zu schaffen, ist ein typisches Phänomen, wenn Gruppen mit ähnlichen Grundausrichtungen miteinander streiten. Der hermeneutische Schlüssel ist natürlich verschieden, man kann aber an diesem Beispiel sehen, dass es Matthäus selbst schwer fällt, ihm stringent zu folgen. Man muss eher andere Inhalte heranziehen und die Lücken mit Erkenntnissen füllen, die anderorts gewonnen werden. Ginge es hier grundsätzlich um das Verzehren von unreinen oder durch Hände verunreinigte Speisen, dann hätte bestimmt auch Matthäus nichts einzuwenden,222 und so erklärt sich auch die Ratlosigkeit der Jünger in 15,12 und 15,15,223 der sich Matthäus wohl sehr bewusst war. Die Pointe seiner recht rätselhaften Argumentation ist dem Verständnis der Jünger mit gutem Grund entgangen. Darum bringt er zusätzliche Argumente ein. Das erste kann man eigentlich kaum Argument nennen, es geht um eine disqualifizierende, teils apokalyptisch gefärbte Aussage über die Gegner (15,13 f) in Form von zwei kleinen Gleichnissen, mit einer Aufforderung Jesu dazwischen, von ihnen Abstand zu nehmen (ἄφετε αὐτούς).224 Die erste Parabel über die Pflanzen, die der Vater ausreißen wird, ist dem Leser vertraut (13,24–30), nur wird das Bild nun auf die Pharisäer übertragen: Ihr abwegiges Toraverständnis ist mit einer göttlichen Erwählung einfach unvereinbar; 221 Gnilka, Mt II, 21. 222 Bei Matthäus verschwindet das recht anstößige Mk 7,19b: καθαρίζων πάντα τὰ βρώματα (vgl. Houlden, Puzzle, 121: „a conservative reaction to Mark“). Trotzdem vgl. Strecker, Weg, 245: „Dass Speisen nicht verunreinigen können, kann daher schwerlich der matthäischen Konzeption abgesprochen werden“; auch Thielman, Law, 68. Broer, Freiheit, 120, führt die mt Verkürzung auf den Wunsch zurück, „den Abschnitt zu straffen und von störenden Wiederholungen zu befreien“. 223 Man kann fragen, ob es zufällig ist, dass ausgerechnet Petrus die Frage nach der Reinheit der Speisen stellt. Tritt er hier nur als Sprecher der Apostel auf oder ist seine Person im Urchristentum mit der Reinheitsfrage besonders verbunden? Auch in Act 10,9–16; Gal 2 ist er als sehr gesetzestreu bezüglich der Reinheitsgebote dargestellt (vgl. erwägend Davies / Allison, Mt II, 534). 224 Das Wort ist umso verständlicher, wenn man mit Repschinski, Stories, 163, annimmt, dass die pharisäische Bewegung in der Zeit nach der Tempelzerstörung eine gewisse An­ ziehungskraft auf das Volk allgemein aber auch auf Mitglieder der matthäischen Gemeinde ausüben konnte.

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nur im Endgericht wird so ein großes Vergehen angemessen bestraft.225 Das zweite Gleichnis gehört schon zum festen Topos der matthäischen polemischen Sprache. Als Antwort auf die zweite Verständnisfrage von Seiten der Jünger226 fügt­ Matthäus nach der ‚physiologischen‘ Erklärung in 15,17 einen Textblock mit direk­ ten Verweisen auf die Dekalog-Gebote (15,19) ein, der so am Ende der Perikope zu einem grundlegenden Moment für die Auslegung der wahren (Un)Reinheit227 wird. Er trifft nur eine Auswahl aus dem markinischen Lasterkatalog und zieht diejenigen Sünden vor, die der zweiten Dekalogstafel entsprechen.228 Das Liebesgebot wird hier zwar nicht zitiert, aber die sozialen Gebote des Dekalogs können im Gebot der Nächstenliebe zusammengefasst werden (vgl. z. B. TestGad 4,2; TestDan 5,1–3; TestIss 7,6). Die Nächstenliebe scheint daher das Zentrum zu sein, von dem aus die restlichen Teile des Gesetzes auszulegen sind. Ihre anthropologische Entsprechung ist das menschliche Herz (καρδία229), dessen Hervorbringungen das ganze menschliche Wesen durchdringen. Mord, Ehebruch, Unzucht oder Diebstahl als Folgen der fehlenden Liebe ziehen unlöschbare persönliche und soziale Spuren hinter sich: Sie prägen dauerhaft den Status der Täter und gefährden vor allem das Leben, die Würde und das Wohl der Opfer. Die Reinheit ist also bei Matthäus ein relationaler Begriff. Die Unreinheit, wie es dem ­matthäischen­ 225 Vgl. dazu S. 209–210. 226 Man kann hier kaum annehmen, dass Petrus nach der Rolle der Pharisäer als blinde Führer im Gleichnis fragt, auch wenn seine Frage daran anschließt. Matthäus nimmt den Faden von 15,11 eindeutig wieder auf (anders Repschinski, Stories, 163). Die etwas ungewöhnliche Reihenfolge ist eine unerwünschte Nebenfolge der red. Umbaueingriffe. 227 Gielen, Konflikt, 165, macht die wertvolle Bemerkung, dass Matthäus zwischen zwei Reinheitstypen unterscheidet: der Reinheit, „die durch das Einhalten ritueller Bestimmungen zustande kommt, und der Reinheit, die sich der praktizierten Gottes- und Nächstenliebe verdankt“. Illustriert wird hier (15,19) allerdings als Gegenfolie nur die ethische Unreinheit. Das Praktizieren des Liebesgebotes als Ursprung der wahren Reinheit bietet sich aber als natürliche Ergänzung an. 228 Gnilka, Mt II, 19: „Die Auswahl erfolgt im Blick auf die zweite Tafel des Dekalogs“; Vouga, Jésus, 86: „La seconde table du Décalogue devient clé d’interprétation de la Torah“; Konradt, Rezeption, 157; Davies / Allison, Mt II, 536; Berger, Gesetzesauslegung, 503. Drei Begriffe tanzen aus der Reihe: διαλογισμοί; πονηροί und βλασφημίαι. Der erste kann als Oberbegriff den Moment bezeichnen, wenn im Tiefsten des menschlichen Herzens die keimende Sünde hervorsprießt: „der Sündhafte Wille“ (Vögtle, Tugend, 35; diese Grundtendenz zur Überbietung ist auch in der Bergpredigt Mt 5,22.28, aber auch 9,4 mit direktem Hinweis auf die Schriftgelehrten vorhanden; auch Gnilka, Mt II, 26: „weil sie dem Herzen am nächsten sind“). Der typisch matthäische πονηρός kann ohne weiteres auch auf die religiösen Autoritäten bezogen werden, denen in diesem Fall die Gesetzesübertretungen zur Last gelegt werden (vgl. auch Collins, ΕΝΤΟΛΑΙ, 1335 f); der dritte Begriff ist christologisch relevant (vgl. 9,3; 26,65; 27,39). 229 Mt 15,8 funktioniert eindeutig als Vorverweis auf 15,18, wo Mt καρδία als Quelle des menschlichen Übels einfügt. Als zentrale Schaltstelle des menschlichen Verhaltens ist die Reinheit des Herzens entscheidend für die gesamte ethische Ausrichtung (Gen  20,5–6; 4Q525 Frgm. 3 2,1; TestNaf 3,1; TestJos 4,6). Zur Funktion des Herzens in Mt siehe auch 5,8; 6,21; 9,4; 11,29; 12,34; 13,15.19; 18,35; 22,37. Die eigentliche Reinheit ist innerlicher Art (Philo, S­ pecLeg III 209; PseudPhok 228).

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Konzept zu entnehmen ist, beeinträchtigt auf Dauer die gesellschaftliche Anbindung des Menschen. Sie zu vermeiden ist ein wirklicher Dienst (vgl. 15,9) an den Menschen und an der von Gott gestifteten religiösen und sozialen Ordnung. Angesichts der verheerenden Folgen, die durch die Vernachlässigung des Liebesgebots eintreten können, lässt Matthäus die alarmierte Sorge der Pharisäer um das Essen mit ungewaschenen Händen einfach als lächerlich erscheinen. Aus dieser Perspektive ist das Liebesgebot unendlich wichtiger, ja unvergleichbar mit der selbstbezogenen, skrupulösen Engführung der Reinheitsrituale. In diesem Licht ist auch 9,9–13 zu verstehen, wie auch die allgemeine Zuwendung Jesu zu den Deklassierten und Außenstehenden. Darin kommt genau dieses matthäische sozialrelevante Reinheitsverständnis zum Zuge: Das Liebesgebot schützt nicht nur den Menschen vor extremer gegenseitiger Verunreinigung, sondern kann sie, einmal eingetreten, durch vergebungsvolle Zuwendung auch überwinden. Dass die Jünger nur die Reinheitsvorschriften der Ältesten vernachlässigen und dass die matthäische Gemeinde das Gesetz grundsätzlich bejaht, gehören zu den Nebentönen dieser Perikope. Sonst ist sie ein mit großem redaktionellem Aufwand verbundener Versuch zu veranschaulichen, was Erfüllung des Gesetzes (vgl. 5,17230) für Jesus bedeutet. Die Hervorhebung in 15,20a (ταῦτά ἐστιν τὰ κοινοῦντα τὸν ἄνθρωπον) lenkt die Aufmerksamkeit abschließend auf das Wichtigste (vgl. auch 23,23), man wird aber als logische Schlussfolgerung nach einem so eindrücklichen Argumentationsvorgang annehmen müssen, dass nicht nur die Halacha über das Händewaschen, die die Jünger übertreten, sondern die Reinheitsrituale insgesamt von Jesus dem Liebesgebot untergeordnet werden.231 Das matthäische Schlusswort (15,20b), das die Position der Pharisäer wieder aufnimmt, zeigt nur noch einmal ironisch den tiefen Kontrast zum kleinlichen Gesetzesverständnis der Gegner.232

3.2.3 Gutes tun, wann auch immer (Mt 12,1–14) Im Kap.12 bilden die beiden Erzählungen um die Übertretung des Sabbatgebots einen Textblock, in dem Matthäus durch tägliche Gegebenheiten aus dem Leben Jesu (das Ährenraufen der Jünger am Sabbat [12,1–8] und die Heilung in der Synagoge eines Menschen mit verdorrter Hand [12,9–14]) seine an Liebe orientierte Toraauslegung ebenfalls von seiner polemischen Seite zeigen will. 230 Für einen Verweis auf die Bergpredigt, vgl. auch Gnilka, Mt II, 26 231 Loader, Jesus, 216: „The butt of Matthew’s critique appears rather to be the quality of their interpretation of the Law“. 232 Die Tendenz die Auseinandersetzung zu personalisieren, ist übrigens am matthäischen Text verstärkt abzulesen. Neben dem red. ὑμῶν in 15,3 oder dem Vokativ ὑποκριταί in 15,7 trägt der ganze Einschub 15,13 f entscheidend dazu bei. Mit seiner Rede will er sie keineswegs überzeugen, sondern mit ihrer Gesetzauslegung will Matthäus die Pharisäer vollkommen delegitimieren.

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Die Dreieckkonstellation ist ähnlich: Die Jünger ziehen wieder die kritische Aufmerksamkeit der Pharisäer auf sich,233 indem sie gegen das Sabbatgebot Ähren rupfen, was die Gegner zu vorwurfsvollen Bemerkungen, die direkt an Jesus gerichtet sind, übergehen lässt (12,1 f).234 Von diesem Punkt an sind die anderen Akteure nur noch positive (die Jünger 12,7) bzw. negative (die Pharisäer 12,3.5.7) Bezugsgrößen, im weiteren Verlauf stellt sich in verschärften polemischen Zügen das souveräne Toraverständnis Jesu heraus. Matthäus verändert teilweise die Grunddaten der Ausgangssituation und liefert eine Begründung für das Ver­halten der Jünger: οἱ δὲ μαθηταὶ αὐτοῦ ἐπείνασαν.235 Die Folgen sind nicht zu übersehen. Damit werden drei Effekte erzielt: Innerhalb der Perikope wird die Situation der Jünger an die von David angepasst (12,3);236 innerhalb des Evangeliums schlüpfen die Jünger in die Rolle der Hungrigen vom Weltgericht (25,35.42); über den Text hinaus werden die Leser dazu bewegt, den Jüngern schon von Anfang an ihre Gunst zu schenken. Sie müssen für unschuldig erklärt werden. Angesichts der Notsituation ist ihre Verurteilung unmenschlich. Es geht nicht um die Aufhebung des Sabbatgebots, das im Grunde genommen gar nicht in Frage gestellt wird,237 sondern um den angemessenen Umgang mit dem Buchstaben der Schrift, damit ihr Geist nicht verfehlt wird. Der Angriff der Pharisäer erfolgt nach einer Überlegung (12,2: ἰδόντες; vgl. auch 21,15[red.]), also ganz bewusst und gezielt und er enthält keine Frage mehr, wie in Mk 2,24 (τί), sondern ist eine direkte Anklage238 gegen Jesus und seine Jünger. Die Gegenrede Jesu setzt mit der wiederholten, anklagenden Formel οὐκ ἀνέγνωτε (12,3.5) ein. Die Gegner haben Zugang zu denselben Quellen,239 ihnen fehlt aber offensichtlich die Fähigkeit sie richtig anzuwenden. Die Beweisführung Jesu ist dreigliedrig und besteht aus zwei halachaartigen Belehrungen und einem Prophetenzitat (Hos 6,6). 233 Das red. Partizip ἰδόντες (12,2) kann man realgeschichtlich als Hinweis auf eine gezielte Beobachtung von Seiten der religiösen Führer, „die wahrscheinlich die religiöse Praxis der christlichen Gemeinden misstrauisch verfolgen“ (Aichinger, Quellenkritische, 125); auch Loader, Jesus, 202; ferner Hill, Use, 116. 234 Das von Gott Erlaubte (ὃ οὐκ ἔξεστιν in 12,2.4) steht hier zur Debatte (vgl. Est 4,2; Esra 4,14; 1Makk 14,44; 3Makk 1,11; 4Makk 5,18; Josephus, Ant XX 268). In diesem Sinne liegt hier eine „Verschärfung des Tons gegenüber der Markusvorlage“ vor (Konradt, Israel, 119). 235 Die matthäische Konkretisierung (ἐσθίειν) unterstreicht noch zusätzlich die Notlage und macht die Parallelisierung zu V. 4 noch straffer (vgl. Gielen, Konflikt, 111–112). 236 Vgl. Luz, Mt II, 230; Gielen, Konflikt, 113; Verseput, Rejection, 160; Yang, Jesus, 172; Gundry, Mt, 221; Konradt, Erfüllung, 142. 237 So auch Davies / Allison, Mt II, 315; Saldarini, Matthew, 131; Loader, Jesus, 204; Wong, Theologie, 79; Moo, Jesus, 11; Sigal, Halakhah, 165; Vouga, Jésus, 46; Hill, Use, 114; Broer, Anmerkungen, 141 („die Perikope als Ganze setzt die Gültigkeit des Sabbats voraus“); Sim, Gospel, 137; McIver, Sabbath, 232; Gale, Redefining, 134, 138 („The Gospel does not violate Jewish law, it reaffirms it“) gegen die Meinung von Stanton, Pray, 17–30. 238 Aichinger, Quellenkritische, 125; Verseput, Rejection, 159; Davies / Allison, Mt II, 306; Yang, Jesus, 170; Gundry, Mt, 222. 239 Der red. ἐν τῷ νόμῳ in 12,5 entspricht dem ἔξεστιν in 12,2.

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Das erste Beispiel betrifft nicht direkt die Sabbatvorschriften, sondern den Verzehr der Schaubrote durch den dazu unbefugten David.240 Der Erzählung ist für den matthäischen argumentativen Gang die Idee des Übertretens einer Regel im Notfall zu entnehmen, mit Hinweis auf die Barmherzigkeit Gottes, der den Hungrigen in seinem Haus zu essen gibt.241 Konkreter geht Matthäus im zweiten nur von ihm eingeführten Beispiel darauf ein (12,5). Begriffe wie σάββατον, βεβηλόω, ἀναίτιος aus der matthäischen Anspielung auf Num 28,9 f242 (vgl. auch Ez 46,1–4; 1Chr 23,31; 2Chr 2,3; 8,13; 31,3) verbinden den redaktionellen Einschub thematisch eng mit dem übrigen Text. Die Grundaussage ist: Die Priester entweihen den Sabbat im Tempel und werden dabei nicht schuldig. Man befindet sich also immer noch auf der Ebene der Erklärung, wie die Schuld im Umgang mit dem Gesetz entsteht, und implizit, wie flexibel und auslegungsbedürftig das Gesetzt selbst ist. Was das richtige Toraverständnis ausmacht, wird erst in 12,7 dargelegt. Dazwischen steht aber die rätselhafte Aussage in V. 6 (τοῦ ἱεροῦ μεῖζόν ἐστιν ὧδε), die durch eine aus der Bergpredigt vertraute emphatische Formel eingeführt wird: λέγω δὲ ὑμῖν. Der Vers dient auch als Übergang zum V. 7 und kann nur von ihm her verstanden werden. Wenn man Opfer in 12,7 mit „Opfer im Tempel“ und den Tempel in 12,6 mit Tempelwesen (inklusive Opfer) gleichsetzt,243 dann sagt V. 6 eigent 240 Die Erzählung von 1Sam 21,1–7 ist von Mk 2,25 f fehlerhaft übernommen: Das Vergehen passiert zur Zeit Ahimelech und David war allein. Matthäus korrigiert teils durch Streichen, teils durch Umstellung (für Details vgl. Luz, Mt II, 230 f). 241 Daher mit Recht Verseput, Rejection, 162: „Matthew does not use David’s situation as a halachic argument for Sabbath freedom, but rather as a haggadic example of divine compassion“. 242 Der vorherrschende Begriff in Num 28,9 f ist „Opfer“ in seinen verschiedenen Formen (θυσία = Speisopfer, σπονδή = Trankopfer, ὁλοκαύτωμα = Brandopfer). Matthäus behält die erste Sorte im Hinterkopf und fügt assoziativ in V. 7 den Hoseatext über das Verhältnis Opfer (wiederum θυσία) – Barmherzigkeit (ἔλεος) ein. Ein enger logischer Zusammenhang zwischen den beiden at Texten wäre sonst nicht möglich, auch bei Matthäus dient das in Num 28,9 f gebotene Opfer als Beispiel für die Kontextbezogenheit und die Relativität der Sabbatregelung; in V. 7 ist das Opfer der Barmherzigkeit untergeordnet. Der Begriff „Opfer“ wechselt also von einer positiven zu einer negativen Funktion in der matthäischen Argumentation. Der Zu­sammenhang ist zu straff konstruiert, um Matthäus auf einem so kleinen Fleck einen so schwerwiegenden logischen Fehler zu unterstellen. Mit einer Überbietungsintention entkommt man viel einfacher der Schwierigkeit: 1. Im Tempel können die Priester wegen des Opfers den Sabbat brechen (V. 5); 2.  Gott zieht dem Opfer im Tempel die Barmherzigkeit vor (V. 7a); 3. Ergo: Um so mehr kann man wegen der Barmherzigkeit den Sabbat brechen und die Jünger sind dadurch unschuldig (V. 7b) (vgl. auch Luz, Mt II, 231). Deswegen ist auch der Sprung von 12,5 zu 12,7 über 12,6 nur innerhalb der matthäischen theologischen Standardsprache (vgl. auch 9,13) und nur im gegebenen narrativen Duktus verständlich, sonst würde Num 29,8 formal eher gegen Hos 6,6 sprechen. Das Opfer ist so wichtig, dass um seinetwillen sogar der Sabbat gebrochen wird (vgl. auch Sand, Gesetz, 44). 243 Und das ist von Matthäus selbst angelegt, weil er in 12,5, wo eigentlich vom Opfer die Rede ist, nur über das Brechen des Sabbats im Tempel spricht, ersetzt also die lange Reihe von verschiedenen Opferarten mit einem Oberbegriff: ἐν τῷ ἱερῷ. Erst diese Identifizierung macht

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lich das Gleiche wie V. 7, nur sparsamer formuliert.244 Zugespitzt kann man behaupten, dass V. 6 eher eine verbindende Funktion zwischen den Versen und eine Kontrastfunktion durch einen direkten Vergleich zwischen den Werten erfüllt und vom Inhalt her nichts Neues bringt. Nur wird durch diese Vorwegnahme des Gedanken in V. 7 auf seine Bedeutung hingewiesen und die Formulierung gewinnt dadurch auch an Spannung und rhetorischem Eklat. Denn 12,7 kommt in der ganzen Perikope das Hauptgewicht zu. Das Hoseazitat bringt die bisherige Argumentation auf den Punkt und postuliert wiederum in einem polemischen Kontext die Barmherzigkeit als Prinzip und Maßstab einer dem Willen Gottes angemessenen Toraauslegung.245 Der einführende Teil  εἰ δὲ ἐγνώκειτε nimmt direkt auf πορευθέντες δὲ μάθετε (9,13) Bezug und skizziert einen gescheiterten kognitiven Prozess: Die Pharisäer waren nicht fähig, obwohl sie von Jesus dazu aufgefordert worden sind, sich den wahren Sinn des Gesetzes durch Lernen (μανθάνω) anzueignen. Ihr Versagen beruht schließlich auf ihrem bewussten Widerstand gegen die göttliche Ordnung, in der das Gebot der Liebe als primäres Handlungsprinzip gilt. Aus diesem Grund tragen sie und nicht die Jünger die Schuld, gegen den Willen Gottes durch ihr schroffes Verhalten (καταδικάζω) verstoßen zu haben.246 Mit 12,8 nimmt Matthäus den markinischen Faden (2,28) wieder auf, seine Formulierung klingt aber nicht mehr wie ein Fazit (ὥστε wird gestrichen, καί den Übergang von V. 6 zu V. 7 überhaupt möglich, weil Matthäus bis zum V. 7 stricto sensu noch nicht vom Opfer gesprochen hatte. Das Fazit von Repschinski, Stories, 100, Anm. 30: „Mercy cannot be greater than the temple, because it is never compared with the temple“ scheitert daran, dass dadurch der Tempel vom Opferwesen getrennt wird. So eine Trennung macht den ganzen Passus (V. 5–7), inklusive dem Verweis auf Num 28,9 f, unverständlich. Man kann verstärkend hinzufügen, dass sich μεῖζον im Neutrum mit ἔλεος gut verträgt (vgl. Luz, Mt II, 231; Konradt, Erfüllung, 142), obwohl man einwenden kann, dass auch πλεῖον in 12,41.42 im Neutrum steht, wo Jesus eindeutig mit Jona und Solomon verglichen wird. Für die ἔλεοςVariante spricht deswegen vor allem eher ein logisches als ein sprachliches Argument: „The analogy is between two obligations: love of humans and the cult“ (Sigal, Halakhah, 161). 244 Im V. 6 wird ἔλεος durch ὧδε umgeschrieben; der Tempel steht für alle Opferrituale; in μεῖζον ist deshalb die göttliche Einschätzung aus θέλω enthalten. Hier wird also der Bezug von μεῖζον auf die Barmherzigkeit vertreten (vgl. auch Ham, Prophets, 47: „One greater than the temple is present in Jesus’ ministry of mercy“). Die christologische Lösung findet in der älteren (vgl. Barth, Gesetzesverständnis, 76; Aichinger, Quellenkritische, 129) wie auch in der neueren Forschung Adepten (vgl. Repschinski, Stories, 100; McIver, Sabbath, 238; Gundry, Mt, 223; Verseput, Rejection, 164; Vouga, Jésus, 47, Anm. 19; Loader, Jesus, 204; Nolland, Mt, 484; Yang, Jesus, 180 f). 245 Hays, Gospel, 182 („a hermeneutical lens through which the entire Torah is to be interpreted“); Moo, Jesus, 11 („the priority of love within the law“); Snodgrass, Matthew, 109 f; Giesen, Handeln, 145; Overman, Matthew, 81; Sim, Gospel, 137. 246 Hübner, Gesetz, 125 f; Yang, Jesus, 186; Hagner, Jesus, 237; Carson, Jesus, 67: „The tables are turned; the accusers (12,2) are being accused (12,7)“. Auf die Verbindung der Heilungstraditionen mit dem Motiv der Barmherzigkeit bei Mt machen Nielsen, Heilung, 130 f; Gerhardsson, Mighty, 47, aufkmersam.

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ebenfalls; γάρ wird eingefügt und lässt den Schlussvers eher als Begründung erscheinen), sondern schärft den Lesern die christologischen Hintergründe247 der Debatte wieder ein:248 Durch Christus, in seiner Lehre, kommt die Tora wirklich zur Geltung und den Menschen zugute. V. 9, mit dem eine neue Erzählung mit ähnlicher Problematik anfängt, schließt sich direkt an V. 8 an, sodass Jesus als Protagonist vorausgesetzt wird. Da Jesus gerade mit den Pharisäern im Kornfeld gestritten hat, und sie ihm jetzt wieder in ihrer Synagoge entgegenkommen, entsteht der Eindruck, dass sie überall lauern und als feindliche Gruppe bereit sind, neue Fallen zu stellen. Das Sabbatgebot bleibt auch in diesem Fall der brennende Streitpunkt, wobei sich die neue Frage nach der entschiedenen und allgemeingültigen Antwort in 12,7 f erübrigt.249 Es ist, als ob die andere Episode nicht stattgefunden hätte. Die Kommunikationskanäle zwischen den Kontrahenten sind verstopft, sie sprechen und argu­mentieren aneinander vorbei. Die neue Variation desselben Themas ist aber keine unnötige Fortsetzung sondern ein Hinweis auf eine Verschärfung der Verhältnisse.250 Die Beharrlichkeit der Pharisäer, die bei Matthäus wieder die Initiative ergreifen251 (12,10[red.]: ἐπηρώτησαν), um Jesus direkt, nicht durch seine Jünger, zu provozieren und in Verlegenheit zu bringen, lässt keine positiven Entwicklungen erkennen. Zunächst ist ihre Frage auch der Auslöser des Problems, denn der Mann mit verdorrter Hand steht einfach nur im Raum. Er bringt seinen Wunsch geheilt zu werden überhaupt nicht zum Ausdruck, und auch Jesus wendet sich ihm nicht zu, wie in Mk 3,3. Die Gegner kennen aber den üblichen Umgang Jesu mit dem menschlichen Gebrechen und versuchen zynisch, ihn genau bei der Ausübung seiner barmherzien Hilfe zu Fall zu bringen.252 Sie fordern also Jesus heraus, wieder zum Sabbat in der Synagoge öffentlich Stellung zu nehmen. Sie entdeckten wahrscheinlich im autoritativen V. 8 eine Schwachstelle, mit der er als Sabbatbrecher ertappt werden kann. Die Antwort Jesu ist dreigliedrig. In einer rhetorischen Frage nimmt er ein konkretes Beispiel aus dem Leben der Bauern auf: Wird der Sabbat jemanden hindern, seinem Schaf aus einer Grube herauszuhelfen? Die Frage läuft durch ihre Formulierung (τίς ἔσται ἐξ ὑμῶν) auf eine selbstverständlich negative Antwort hinaus. Anschließend wendet Jesus mittels eines Qal-wa-homer-Schlusses 247 McIver, Sabbath, 240 („a strongly christocentric focus“); Broer, Anmerkungen, 141 („christologische Perspektive“); Lybæk, Matthew, 493. 248 Die verallgemeinernde sabbatkritische Bemerkung von Mk 2,27 wird dabei übersehen; nicht der Mensch als solche steht über dem Gebot, sondern nur Jesus. „Matthew avoids this saying because it might promote general laxity in keeping the Sabbath“ (Saldarini, Matthew, 131). 249 Vgl. Gielen, Konflikt, 118; Yang, Jesus, 212. 250 Vgl. Repschinski, Stories, 109. 251 Weiss, Sabbath, 19; Hübner, Gesetz, 136; Verseput, Rejection, 177; Yang, Jesus, 212. 252 Gundry, Mt, 225: „They deliberately egg him on to break the Sabbath in order that they may accuse him“.

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das Gleichnis auf den Menschen (V. 12a) an, sodass die Pharisäer selbst in die Falle tappen.253 Der matthäische Jesus stellt dann keine Frage mehr, sondern zieht ein verkürztes, aber dichtes Fazit (V. 12b): ὥστε ἔξεστιν τοῖς σάββασιν καλῶς ποιεῖν. Diese Verkürzung geht aber mit einer Erweiterung der Auswirkungen einher. Jesus schafft nun eine neue Regel mit einem klar definierten und nicht nur angedeuteten (vgl. Mk 3,4a) Inhalt. „Das Gute tun“254 gehört zur matthäischen ‚Hermeneutik der Liebe‘, und ist dem Sabbatgebot nicht nur vom Zusammenhang her, sondern grundsätzlich übergeordnet.255 Die logische Schlussfolgerung demontiert Schlag um Schlag die anfänglich scheinbar vorteilhafte Position der Gegner; sie sind nun wegen der zwingenden Argumentation Jesu in Konflikt mit sich selbst geraten.256 Matthäus streicht aber sowohl die Erwähnung ihrer Verstummung als auch die emotionale Reaktion Jesu über ihr verstocktes Herz (Mk  3,4b–5a)  und gibt Jesus die Gelegenheit, seine göttliche Würde nochmals unter Beweis zu stellen.257 Es folgt ein neues souveränes Zeichen des Lehrers Jesus: Erst jetzt spricht er den kranken Menschen an und heilt ihn mit einem einzigen Wort.258 Bisher bleibt dem Leser unbekannt, wie die Pharisäer259 mit den Ereignissen umgehen. Sie werden von der eindrücklichen, argumentativen Leistung Jesu völlig in den Schatten gestellt. Durch die Platzierung ihrer Reaktion erst am Ende der Perikope entsteht eine erzählerisch konstruierte Spannung: Bleiben sie bei

253 Sand, Gesetz, 62: „Eine solche Frage konnten auch die Gegner nur mit bejahendem Schweigen beantworten“; vgl. auch Verseput, Rejection, 174; Lohse, Worte, 87. 254 Vgl. Lev  5,4; Jer 4,22; Sach 8,15; 2Chr 6,8; Mk  7,37; Lk  6,27; Act 10,33; 1Kor  7,37 f; Phil 4,14; Jak 2,8.19; 2Petr 1,19. 255 Vgl. Luz, Mt II, 239; Gielen, Konflikt, 123; Repschinski, Stories, 111; 106: „Matthäus bringt die Diskussion von der Erwägung eines Einzelfalles hin zu einer generellen Regelung“; Hendrickx, Miracle, 163; Verseput, Rejection, 182; Yang, Jesus, 213; Davies / Allison, Mt II, 321; Lybæk, Matthew, 496, 494: „Mercy […] fulfils the Sabbath commandment“; ferner Hagner, Jesus, 244. 256 Verseput, Rejection, 180: „The hearer is confronted with himself and compelled to provide a response“; Westerholm, Jesus, 101 („to challenge his hearers to take a position in the matter“); Lohse, Worte, 89. 257 Yang, Jesus, 208: „In order to emphasize the intimate link between Jesus’s pronouncement of the principle (v. 12b) and his subsequent deed of healing (v. 13)“. 258 Dieses ist alles, was aus einer Heilungsgeschichte übrig geblieben ist; hier ist die Wundertätigkeit Jesu wirklich sekundär: „Vielmehr ist die Heilung ein konkreter Modellfall der Liebe“ (Luz, Mt II, 240; auch Hendrickx, Miracle, 163; Verseput, Rejection, 179). Sonst entspricht Mt 12,9–14 „eher der Standardform eines Streitgespräches“ (Hübner, Gesetz, 130). 259 Matthäus übernimmt nicht οἱ Ἡρῳδιανοί von Mk  3,6. Verantwortlich für den Todesbeschluss sind nur die Pharisäer. Das kann auch mit der Ursache der Eskalierung zusammenhängen: Jesus als Tora-Lehrer bedroht ihren Existenzgrund. Die Herodianer – eine wahrscheinlich eher politisch involvierte Gruppe  – sind von der Sabbatdebatte weniger betroffen (vgl. Gielen, Konflikt, 124; Davies / Allison, Mt II, 322: „focus on religion instead of politics“; Overman, Church, 180). Vgl. dazu auch S. 105.

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ihrer Feindseligkeit oder können sie sich dem Lehrangebot Jesu öffnen? Umso grausamer erscheint ihr überstürzter Beschluss, Jesus umzubringen (12,14).260 Die unwiderstehliche Autorität Jesu, seine mächtige Lehre und seine wunderbaren Taten lassen sie ohne Antwort. Von ihrer Schriftgelehrtheit ist nichts übrig geblieben, ihr Angriffsziel ist nicht mehr die Lehre Jesus, sondern der Lehrer selbst. Die Taktik wird gewechselt: Sie sind von Jesus in ihrer Identität grundsätzlich verunsichert worden und ein Mord scheint nun der einzige Weg zu sein, sich selbst zu retten.

3.2.4 Liebe über alles (Mt 22,34–40) Die Frage nach dem Doppelgebot der Liebe ist nur bei Matthäus in ein Streitgespräch eingebettet.261 Diesem Sachverhalt tragen die starke Kürzung der Perikope,262 aber auch punktuelle Eingriffe oder intertextuelle Bezüge Rechnung.263 Auf der anderen Seite fehlen die formalen polemischen Eigenschaften und erst solche feinen Abänderungen des Textes machen den kurzen Dialog zum eigentlichen Streitgespräch. Das Thema des Liebesgebotes hat sich in einer langen Reihe von Kontroversen (9,10–13; 12,1–14; 15,1–20) als wichtiger Konfliktstoff etabliert und schließt hier gegen Ende der heftigen Auseinandersetzungen um die Tora einen Kreis, der in 5,17–20 seinen Anfang nahm.264 Schon der Übergangsvers 22,34 lässt einige polemische Töne anklingen: Die Sadduzäer wurden zum Schweigen gebracht (φιμόω) und das gibt den Pharisäern Anlass, sich selbst für einen erneuten, verstärkten Anlauf gegen Jesus zu versammeln (vgl. auch 2,4; 22,41; 26,3; 26,57; 260 Yang, Jesus, 211: „By bringing the wholeness of life which the kingdom offers, Jesus puts his own life at stake“ (auch Davies / Allison, Mt II, 322); die pharisäische Gesetzauslegung hat auch in Bezug auf Jesus tödliche Konsequenzen. Der Vorverweis auf die Passionserzählung ist direkt (Overman, Church, 178; Hagner, Mt I, 334); ein Seitenblick auf die verfolgte matthäische Kirche ist hier durchaus möglich (Gundry, Mt, 228). 261 Vgl. auch Sand, Gesetz, 41; Brooks, Function, 7; Repschinski, Stories, 215; Kiilunen, Doppelgebot, 35; Meier, Vision, 158; Gerhardsson, Program, 133; Bornkamm, Doppelgebot, 44; Furnish, Love, 31; Hultgren, Love, 378; Overman, Matthew, 84. 262 Die positive Bemerkung in Mk  12,28, wie auch Mk  12,32–34 mit der wohlwollenden Antwort des Gesprächspartners hätten bei Matthäus überhaupt nicht gepasst. Damit hängt auch die Auslassung der Schema vom Mk 12,29 zusammen. So zentriert Matthäus seinen Text auf das Gesetz. 263 Für die verschiedenen Erklärungsansätze der Entstehung dieser Perikope vgl. Hultgren, Love, 374–375. 264 Vgl. Gielen, Konflikt, 263; Loader, Jesus, 235; Gerhardsson, Program, 141 f; W ­ iefel, Mt, 386; Davies / Allison, Mt III, 247; Gnilka, Mt II, 262. Die matthäische Sprachwendung ὁ νόμος κρέμαται καὶ οἱ προφῆται (5,17; 7,12; 22,40) weist hier auf die vorhergehenden Stationen zurück. Die Liebe als Bedingung für das angemessene Verstehen der Tora, ausgelegt im Handeln Jesu im Laufe des Konflikts, füllt nun inhaltlich den am Anfang noch offenen Begriff δικαιοσύνη. Vgl. Anm. 177, S. 166.

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27,62; 28,12). Die Absicht (πειράζω265 und ἐπερωτάω) ist eine Kombination von Lk  10,25 (ἐκπειράζω und λέγω) und Mk  12,28 (ἐπερωτάω) und erhält durch Querbezüge auf 4,1.3 usw. eindeutig bedrohliche Bedeutung.266 Die Anrede (διδάσκαλε) erlaubt nur im Rahmen der matthäischen Jesusgeschichte die direkte Verbindung mit der Gegnergruppe (vgl. 2.1.2). Ein Gesetzeskundiger (νομικός267) tritt als Herausforderer Jesu auf. Gefragt wird nach dem größten Gebot im Gesetz.268 Geantwortet wird zweifach: Zuerst zitiert Jesus das Gebot der Gottesliebe aus Dtn 6,5.269 Der fehlenden Reaktion der Gegner kann man entnehmen, dass die Antwort Jesu scheinbar eine volle Wirkung hatte: Sie haben sich zurückgezogen, sie mussten eine neue Niederlage einstecken; die Antwort sollte auch nach ihrer Einschätzung richtig und lückenlos gewesen sein.270 Hier setzt der matthäische Jesus zunächst einen Punkt und nimmt auf die anfängliche Frage Bezug: αὕτη ἐστὶν ἡ μεγάλη καὶ πρώτη ἐντολή (22,38). Damit gibt er zu ver­stehen, dass auch aus seiner Sicht die Debatte beendet ist. Was nun folgt (22,39) ist ein polemischer Neuansatz und richtet sich direkt gegen die unbarmherzigen Pharisäer. Die red. bearbeitete Einführungsfor-

265 „Satanic role“ (Gundry, Mt, 448; vgl. auch Kiilunen, Doppelgebot, 38 f); „hostil intent“ (Furnish, Love, 30). Wobei es nicht auf den ersten Blick deutlich ist, was an der Frage so versucherisch ist (vgl. Luz, Mt III, 277: „Worin das Böswillige seiner Frage bestehen soll, ist allerdings für die Leser / innen kaum erkennbar“; vgl. auch Hummel, Auseinandersetzung, 52). Eine falsche Hierarchisierung oder eine auch nur im Geringsten problematische Zusammenstellung hätte dem Gegner etwas in die Hand gegeben. Furnish, Love, 32, vermutet z. B., dass die versucherische Frage darauf hinausläuft „whether Jesus accepts all the statutes of the Torah as of equal importance“; Konradt, Israel, 143, sieht den Zweck der Pharisäer eher darin „Jesus eine ausdrückliche Stellungnahme zur Tora zu entlocken, die zeigt, dass bei ihm der Verehrung Gottes nicht die oberste Priorität zukommt“. 266 „Aggressive Aussage“ (Kiilunen, Doppelgebot, 36); „böse Absicht“ (Repschinski, Nicht auflösen, 126). 267 Auf eine gewisse Steigerung an der Stelle macht Collins, ΕΝΤΟΛΑΙ, 1339, aufmerksam: εἷς ἐξ αὐτῶν, νομικὸς, πειράζων. Es ist, als ob jemand sich von der massiven Gegenfront herablöst, um Jesus als Anfechter schrittweise gegenüberzutreten. Der matthäische Gesetzeskundige fragt nach dem höchsten Gebot im Gesetz (Mt 22,36: ποία ἐντολὴ μεγάλη ἐν τῷ νόμῳ; vgl. Mk 12,28: ποία ἐστὶν ἐντολὴ πρώτη πάντων); zu dieser Verbindung vgl. auch Kiilunen, Doppelgebot, 37. Mit Recht Burchard, Liebesgebot, 60: „Matthäus hat also den ursprünglich einzelnen Gelehrten zum Glied der Gruppe gemacht […] und das Gespräch findet nicht mehr mit ihm allein, sondern vor dem Auditorium […] statt und wird damit zur Grundsatzdebatte“. 268 Die Frage ist bei Matthäus von 5,18 her betrachtet verständlich. Das Interesse an Grundprinzipien in der Tora ist dem antiken Judentum nicht fremd (vgl. Luz, Mt III, 278). Die Frage hat für die matthäische Gemeinde eine umso größere Relevanz, „weil sie sich von der unterschiedslosen und dadurch niederdrückender Gesetzauslegung der Pharisäer zu distanzieren begann“ (Sand, Gesetz, 42). 269 Matthäus lässt gegen seine Seitenreferenten ein Glied der Aufzählung (ἐξ ὅλης τῆς ἰσχύος σου) weg (Luz, Mt III, 279; Foster, Shema, 314–315). Die möglichen Gründe listet Menken, Deuteronomy, 60, auf. 270 Vgl. auch Gielen, Konflikt, 262.

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mel – δευτέρα271 δὲ272 ὁμοία αὐτῇ – leitet vorwurfsvoll zum Gebot der Nächstenliebe über, das die Gegner im Laufe der Erzählung immer wieder übertreten haben: ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν (22,39).273 Dies wird auf die gleiche Ebene mit dem ersten gestellt, sodass sie ungetrennt und ganz abhängig voneinander gelten.274 Das Verhältnis dieser zwei zu einem gewordenen Gebot bestimmt Matthäus anhand eines Terminus technicus, der Parallelen in den rabbinischen Schriften aufweist: κρέμαται.275 Dabei ändert Matthäus signifikant seine markinische Grundlage (Mk 12,31): Das Liebesgebot steht nicht mehr in einem komparativen Verhältnis zu den anderen Geboten, sondern ragt aus ihnen heraus und bildet das Zentrum wohin sie alle tendieren und von dem sie ihren richtigen Sinn bekommen. Die Liebe wird so zur Norm des menschlichen Verhaltens.276 Darin kommen die früheren Kontroversen um die Auslegung der Tora und um das Tun des Willens Gottes voll zur Geltung. Indem sie die Bedürftigen, die Leidenden und die Verlorenen in ihrem sozialen Milieu vernachlässigen, haben sich die Gegner von Gott entfernt.277 Bestätigend wirkt schließlich das in Mt  22,40 abgebrochene Gespräch: Die markinische Wiederholung des Gesetzes durch den Schriftgelehrten und die zustimmende Antwort Jesu in Mk 12,34 wären hier ‚fehl am Platz‘.278 271 Mit Recht Gundry, Mt, 449: „‚Second‘ refers, then, to order of quotation, not to order of importance“; auch Kiilunen, Doppelgebot, 41; Davies / Allison, Mt III, 243. 272 Die adversative Formulierung kommt bei Mt voll zum Tragen, er will hier eindeutig „eine Kritik an den Pharisäern“ ausüben (Konradt, Israel, 143 f; vgl. dazu auch Burchard, Liebesgebot, 61). 273 Matthäus hatte scheinbar ein redaktionelles Interesse an Lev 19,18, wie auch in 5,43 und 19,19. (vgl. Collins, ΕΝΤΟΛΑΙ, 1328, 1342). 274 Die beiden Texte bilden eine „organische Einheit“ (vgl. Collins, ΕΝΤΟΛΑΙ, ­1342–1343). Die beiden Gebote kommen auch an anderen Stellen zusammen vor, vgl. Sir 13,14–15; TestIss 5,2; 7,6; TestDan 5,3; TestGad 4,2; TestJos 11,1. 275 Vgl. rabb. Belege bei Strack / Billerbeck, Kommentar, Bd.  1, 907–908; auch Repschinski, Stories, 219 f; Brooks, Function, 15 f, Gerhardsson, Program, 137 f. Donaldson, Law, 689–709, sieht in dieser Übernahme eines rabbinischen Begriffs eine Kompromisslösung einer Gemeinde, die von entgegengesetzten Tendenzen hingerissen war, und ein Mittel, die Dissonanz zu reduzieren. 276 Overman, Church, 318 („hermeneutical principle“); Gerhardsson, Program, 135 („hermeneutic program“); Burchard, Liebesgebot, 61 („hermeneutisches Prinzip und kritischer Kanon“); Furnish, Love, 33 („key to the right interpretation“); Eckstein, Gerechtigkeit, 313; Wick, Antithesen, 173; Sim, Gospel, 128 f. 277 Kiilunen, Doppelgebot, 47: „Im Kontext des Evangeliums steht das Stück im Dienst der konsequent eingehaltenen antipharisäischen Polemik des Verfassers“; Overman, Church, 319; Sim, Gospel, 128. 278 Ebersohn, Nächstenliebegebot, 194: „Denn diese für den Evangelisten offensichtlich besonders wichtige Aussage muss sich für die Gemeinde gerade im Kontrast zum Judentum erweisen“; Loader, Jesus, 235; Wiefel, Mt, 386; Davies / Allison, Mt III, 237; Konradt, Israel, 144: „Das Doppelgebot der Liebe […] wird exklusiv für die eigene Gruppe reklamiert“; Bornkamm, Doppelgebot, 44.

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In niedrigen Tönen und ohne ein großes polemisches Instrumentarium verbindet der kurze Text 22,34–40 bedeutende Linien des matthäischen narrativen Konfliktes und lässt zugleich auch die Sorgen und die Bedrängnis einer gefährdeten Gemeinde in ihrem harten Kampf mit dem feindseligen Umfeld durchschimmern. Die Mitglieder werden dadurch vergewissert, dass sie auf der Seite Gottes stehen, solange sie von seinen Geboten nicht abweichen, und finden in Jesus und in seiner Lehre eine zuverlässige Stütze, die sich schon einmal gegen dieselben Feinde so souverän bewährt hat.279

3.3 Göttliche Autorität vs. menschliches Versagen: Die Gottessohnschaft Jesu als Kern des matthäischen Machtkonflikts 3.3.1 Die Vollmacht des Gottessohnes als Bestandteil der Konfliktgeschichte Mit der Gottessohnschaft nähert man sich noch mehr dem Kern der matthäischen Christologie und zugleich den tiefen theologischen Motivationen, die so einer heftigen Konfliktgeschichte zugrunde liegen. Ständig bot das außerordentliche Wirken Jesu durch Wort und Tat als Sohn Davids und Lehrer Konfliktstoff in den Streitereien mit den immer wechselnden, blockartigen Gegnergruppen. In diesem Abschnitt ist nach dem Grund zu fragen, der dem öffentlichen Auftritt Jesu Autorität und Legitimität verleiht; ebenso ist sein Verhältnis zu Gott in dem Spannungsfeld seines irdischen Wirkens in Israel abzuklären. Die Darstellung der Begriffsgeschichte280 soll vor allem als Hintergrund dienen, der eigentliche Fokus liegt auf dem matthäischen Gebrauch. Der Titel „Sohn Gottes“ ist in keinen Auseinandersetzungen direkt erwähnt281 und bleibt bis zur Passion nur innerhalb des engsten Kreises der Jünger Jesu geläufig. Aber von 26,63 her, da allein diese Titulatur im absoluten Gebrauch (ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ) das Todesurteil herbeiführt, lässt sich erahnen, dass die göttliche Herkunft Jesu unterschwellig immer der wahre Grund der Feindschaft im Laufe der Erzählung war.282 Nur muss man auch von anderen Begriffen ausgehen 279 Vgl. auch Gielen, Konflikt, 271: „Damit ist nicht zuletzt eine Bewältigungsstrategie greifbar, die Matthäus notwendig erschienen sein durfte im Blick auf die Belastungen seiner realen Erstleser“; Menken, Deuteronomy, 60: „the story reflects real controversy“. 280 Dazu vgl. Hengel, Sohn; Hahn, Hoheitstitel, 281–333; Kruijf, Sohn, 3–24; Verseput, Role, 537 f. Vgl. dazu 2.1.3. 281 So mit Recht Verseput, Role, 537: „In contrast to the Davidic Messiahship, however, the divine Sonship of Jesus is the object of no such directly apologetic motif “; auch Stanton, Christology, 99. 282 Vgl. auch Buck, Anti-Judaic, 172: „It is evident that for Matthew the title ‚Son of God‘, more than any other, constitutes the point of conflict between Jesus and the Jewish opposition“; Powell, Plot, 199 f; Gerhardsson, An ihren Früchten, 114; Hurtado, Opposition, 40; Hare, Theme, 134 („the central point at issue“).

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und an das Problem mit einer veränderten Sichtweise herangehen, um die Reichweite der Gottessohnschaft auch außerhalb der direkten Erwähnung des Titels zu umschreiben. Deswegen werde ich zuerst nach der Wahrnehmung der Macht Jesu bei den anderen Protagonisten fragen und eine Art ‚Phänomenologie‘ der Reaktionen von verschiedenen narrativen Figuren auf die ἐξουσία des Gottessohnes skizzieren. Denn die Tätigkeit Jesu bringt mehr als menschliche Kraft zum Ausdruck.283 Die außerordentlichen Phänomene, die mit oder durch Jesus geschehen, sind anthropologisch zuerst nicht begreiflich, sie provozieren bei verschiedensten Erzählgrößen284 Staunen, Erschrecken oder Bewunderung und zwingen unmittelbar auch zu einer Stellungnahme seiner Identität gegenüber. Nach einer natürlichen Erstreaktion auf solche ‚ominösen‘ Ereignisse entwickelt sich auch eine ethische Einstellung.285 Diese zwei Phasen fallen meistens zusammen; vorgeprägte Begriffe verbinden das Anthropologische und das Ethische zugleich oder der Kontext selbst gibt einen eindeutigen Hinweis darauf, wie die jeweilige emotionale Antwort zu bewerten ist. Wie in einem Spiegelbild kann an der Qualität der jeweiligen Reaktion  – manchmal auch mit Äußerungen und konkreten Handlungsvorhaben verbunden  – einerseits die unerhörte Macht Jesu, andererseits die Größe der Loyalität bzw. der Feinseligkeit gemessen werden. Matthäus bedient sich einer Reihe von vorgefundenen Begriffen und setzt auch einige neue Akzente, um die Unterschiede oder die Spannungen in Bezug auf die Vollmacht und Gottessohnschaft Jesu nach Gruppen und Themen differenziert zu markieren. Die Bandbreite der verwendeten Begrifflichkeit werde ich hier nicht gänzlich erfassen können; nur einige wichtige Ausdrücke (wie z. B. ἐκπλήσσω, θαυμάζω, ἐξίστημι, φοβέω286 und προσκυνέω) lege ich im Weiteren zuerst als positive, dann als negative Reaktionen kurz dar. Am Ende der Bergpredigt (7,28 f)  stehen ἐκπλήσσω und ἐξουσία nebeneinander. Dies war die Art und Weise, wie das Volk287 der Lehre Jesu entgegenkam. Diese Stelle bestimmt bei Matthäus auch die weitere Verwendung von ἐκπλήσσω, das nur noch in Bezug auf die Unterweisung Jesu vorkommt (13,54; 283 Vgl. 7,29; 13,54; 22,22.33 in Bezug auf die Lehre und 8,27; 9,6–8; 9,33 f; 12,23 f; 14,32 f; 15,31; 21,20 in Bezug auf die Wundertaten. 284 Bei dem Volk (7,28; 9,8.33; 12,23; 15,31; 22,33); bei den Jüngern (14,33; 17,6; 21,20); bei den Bewohnern von Nazareth (13,54); bei den Gegner (9,3.34; 12,24; 22,22). 285 Es ist die Schnittstelle „zwischen Erfahrung und Deutung“ (Schenk, Sprache, 281). 286 Wie προσκυνέω findet auch der Begriff φοβέω eine vorwiegend ekklesiologische Verwendung, deswegen werde ich die beiden Begriffe im Abschnitt 4.3.3 behandeln (bes. S. 339–340). 287 Der Begriff wird bei Matthäus präziserer auf ὄχλος bezogen (vgl. Mk 1,22 und Lk 4,32 ἐξεπλήσσοντο – nämlich die Synagogenbesucher in Kapernaum); zugleich grenzt Mt diese Reaktion nur auf die Lehre ein (7,28 // Mk 1,22; 13,54 // Mk 6,2; 19,25 // Mk 10,26; 22,33[red.]). Schon 7,28 f, der ein Rest von Mk  1,22 ist, deutet auf eine Konfrontation hin, als „rejection of a client-centered legal casuistry as arbiter of morality“ (siehe Dillon, Authority, 96; auch France, Mt, 298–299; Hagner, Mt I, 194: „unmistakable polemical tone“; Nolland, Mt, 346).

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19,25; 22,33[red.]288).289 Als vorherrschendes matthäisches Verb des Staunens290 wird θαυμάζω vielfältiger angewendet,291 die Gruppe der Stellen, an denen die Wundertaten zum Schauder Anlass geben, bildet aber die Mehrheit: θαυμάζω in Mt 8,27[red.] (gegen φοβέω in Mk 4,41 und Lk 8,25) nach der übernatürlichen Stillung des Sturmes; Mt 9,33 // Lk 11,14 nach der Dämonenaustreibung, in der Parallelgeschichte aber ἐξίστημι (Mt 12,23); 15,31 in einem Summarium über die Heiltätigkeit Jesu (hingegen schreibt Mk 7,37 ἐξεπλήσσοντο), wobei die Menge (ὄχλος) als Subjekt ausdrücklich angegeben wird. Dazu kommt schließlich auch noch Mt 21,20[red.]. Die mk Vorzugsvokabel in Bezug auf Wundertaten – ἐξίστημι (Mk 2,12; 5,42; 6,51) – kommt bei Matthäus nur ein einziges Mal (12,23) vor. Die Gegner haben es hingegen nicht leicht mit diesen erstaunlichen Fähigkeiten Jesu; sie bestreiten und karikieren ständig diese offenkundige Autorität, indem sie seine Macht nicht auf Gott, sondern auf eine teuflische Herkunft zurückführen. Matthäus verdoppelt und baut die Geschichte über die Austreibung des bösen Geistes in Mk 3,22 // Lk11,14–15 aus, dort wo die Verteufelung Jesu durch die Pharisäer (anders Mk 3,22: οἱ γραμματεῖς; Lk 11,15: τινὲς ἐξ αὐτῶν) mit der Reaktion der erstaunten Menge kontrastiert wird (9,33: θαυμάζω mit dem Kommentar οὐδέποτε ἐφάνη οὕτως ἐν τῷ Ἰσραήλ; 12,23: ἐξίστημι mit der fragenden redaktionellen Bemerkung μήτι οὗτός ἐστιν ὁ υἱὸς Δαυίδ;). Ihre Verwunderung in 22,22 (θαυμάζω) hat auch keine positive Seite (wie Mk 12,17 // Lk 20,26), sie verlassen Jesus gleich darauf empört und gehen weg – eine Notiz, die Matthäus von Mk 12,12b übernimmt292 –, um die nächste Konfrontation vorzubereiten. 288 Dass es hier um eine positive Reaktion geht (France, Mt, 841: „positive sense“), ist auch aus dem unmittelbaren Textzusammenhang ersichtlich: In dem redaktionellen 22,34 wird die Niederlage der Sadduzäer ausdrücklich vermerkt (ἐφίμωσεν τοὺς Σαδδουκαίους), sodass 22,33–34 genau dasselbe Kontrastbild Volk-Autoritäten wie 7,28–29 wiedergibt, nur mit einer noch schärfern Note. 289 Vgl. auch Lattke, Art.  ἐκπλήσσομαι, 1023: „Bei Matthäus immer in Verbindung mit dem Lehren Jesu“ (auch Schenk, Sprache, 185; France, Mt, 298; Hagner, Mt I, 193; Davies /  Allison, Mt I, 726), wobei man einwenden kann, dass in Mt 13,54 // Mk 6,2 auch die δυνάμεις visiert sind. Deutlich wird die Tendenz aber in Mt  15,31, dort wird der mk ἐξεπλήσσοντο (Mk 7,37) als Ende einer Heilung durch θαυμάσαι ersetzt. Genauso wichtig für die matthäische Redaktion und die Konfliktkonstellation scheint mir aber, dass sowohl in 7,28 als auch in 15,31 und 22,33[red.] das Volk als Medium dieser positiven Verwunderung (vgl. Schenk, Sprache, 185: „Die Erkenntnis und die Anerkennung der einmaligen ethischen Lehrautorität Jesu als göttlich“) auftaucht. 290 Vgl. auch Annen, Art. θαυμάζω, 334; Schenk, Sprache, 281. 291 Z. B. in 8,10, wo Jesus selbst über den Glauben der Kannanäerin erstaunt ist; aber auch die Jünger in 21,20[red.] über den verdorrten Feigenbaum oder die Pharisäer und Herodianer in 22,22 // Mk  12,17 // Lk  20,26 über die Klugheit der Antwort Jesu und Pilatus in Mt 17,12 // Mk 15,3 über sein Schweigen. 292 Die Stoßrichtung ist auch im matthäischen Kontext die gleiche: Bei Markus hatten sie selbst sich gerade in den bösen Weingärtnern erkannt, sodass ihr plötzliches Weggehen einen demonstrativen Affront gegen Jesus darstellt. Wie dort geht es auch hier um „a similar departure of Jesus’ opponents in frustration“ (Hagner, Mt II, 636–637).

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Die grundlegende Ablehnung tritt schon bei dem ersten Kontakt mit Jesus zutage: In 9,2–7, dort wo die Menge seine Vollmacht erkennt und bewundert (9,8), bringen die Schriftgelehrten genau das Wort über die Lippen, das Matthäus dem Hohenpriester bei der Verurteilung Jesu (26,63 f) in den Mund gelegt hat (βλασφημέω in 26,652[einmal red.]). Ein großer Bogen verbindet diese zwei Stellen: Zuerst schimmert die göttliche Vollmacht Jesu in der Öffentlichkeit nur in seinen Wundertaten bzw. in der Sündenvergebung durch und stößt schon von der Seite der Autoritäten auf Widerstand; dann führt das für den Hohenpriester unerträgliche Zugeständnis Jesu direkt zu dem lange vorbereiteten Todesurteil. Die Art und Weise wie Jesu in Vollmacht handelt, ist eine natürliche Manifestation seiner Teilhabe an der göttlichen Sphäre. Bei den Gegnern löst dieser überwältigende Eindruck Hass, Feindschaft und Ratlosigkeit aus, denn sie vermochten nicht, obwohl sie in religiösen Angelegenheiten das Sagen haben, Jesus standzuhalten. Die Lage entwickelt sich unausweichlich zu einem grundlegenden Autoritätskonflikt.293 Was für einige Trost und Rettung bedeutet, nimmt den anderen die Lebensgrundlage weg. Die theologische Grundlage der Exousia Jesu ist seine Gottessohnschaft, denn sie ist deren sichtbarer Reflex.294 In 21,23–27 wird die Vollmacht Jesu zum ersten Mal zur öffentlichen Debatte. Die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes295 fragen Jesus im Tempel nach dem Ursprung seiner Autorität.296 Damit bringen sie „die Wurzel des Konflik-

293 Saldarini, Matthew, 178: „According to Matthew, the cause of Jesus’ execution was a conflict over authority and power with the Jerusalem officials“. 294 Vgl. auch Gerhardsson, Gottes Sohn, 82; Kingsbury, Son of God, 15; Konradt, Israel, 313: „Die Handlungseinheit Jesu mit dem Vater [kommt] […] in dem Moment der – vom Gott stammenden – ἐξουσία Jesu zum Ausdruck“. Die Frage nach der Autorität Jesu (21,23–27) ist also durchaus zu den Gottessohn-Perikopen zu zählen (so auch Kingsbury, Structure [Anm. 31], 61; anders Broer, Versuch, 1279, der meint: „Hier wäre die Nennung des Gottessohnschaft unbedingt nötig, wenn eine Beziehung zwischen der Anfrage und diesem Titel nach Ansicht des Mt vom Leser hergestellt werden sollte“). 295 Das ist einer der wenigen redaktionellen Eingriffe in diesen Passus (οἱ γραμματεῖς von Mk 11,27 wird gestrichen). Matthäus fügt genau die Gruppen ein, die am deutlichsten redaktionell die Passion Jesu instrumentalisiert haben (vgl. auch Nolland, Mt, 586 f; Gnilka, Mt II, 216; Fuchs, Frage, 39): Mt 26,3 (der Rat ihn durch List zu fangen, vgl. Mk 14,1); Mt 26,47 (die Gefangennahme, vgl. Mk 14,43); Mt 27,1 (der Beschluss Jesus zu töten – θανατόω [red.], vgl. Mk 15,1); Mt 27,3 mt Sondergut (Judas bringt die 30 Silberlinge zurück); Mt 27,12 (Beschuldigung vor Pilatus, vgl. Mk 15,3); Mt 27,20 (die Barabasszene, vgl. Mk 15,11). Dazu sind sie für den Tempel zuständig und das lässt „das Gespräch um einen Grad amtlicher“ (Gnilka, Mt II, 216). 296 Schon 9,34 und 12,24 hatten die Gegner die Heilfähigkeit Jesu auf teuflische Mächte zurückgeführt. Sie ahnen zugleich, dass Jesus selbst seine Mission dem göttlichen Auftrag unterordnet (vgl. 9,6). Ihre Frage sollte man also als Fangfrage betrachten, als Versuch, Jesus schon jetzt zu einem öffentlichen Eingeständnis seiner göttlichen Macht zu verleiten (vgl. Davies / Allison, Mt III, 159). Der Entschluss ihn zu töten, ist schon längst (vgl. 12,14) gefällt, nur brauchen sie gewichtige Beweise, um Jesu Tod zu bewerkstelligen. Vgl. auch Turner,

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tes, aus der sich alle vorausgehenden Konfliktszenen nähren, zur Sprache“297 und legen in einer Doppelfrage den eigentlichen Grund ihrer Feindseligkeit offen: ἐν ποίᾳ ἐξουσίᾳ ταῦτα ποιεῖς; καὶ τίς σοι ἔδωκεν298 τὴν ἐξουσίαν ταύτην;.299 Das redaktionelle διδάσκω in 21,23 nennt den Auslöser des Streitgespräches300 und füllt zusammen mit den Ereignissen im Tempel inhaltlich das unbestimmte ταῦτα (Plural!) aus.301 Darunter soll man auf jeden Fall auch die paradigmatischen Heilungen im Tempel erwähnen (21,14), umso mehr, weil ποιέω sich dafür gut eignet.302 Über den unmittelbaren Kontext hinaus aber gewinnt die Frage an dieser Stelle, gegen Ende des öffentlichen Wirkens Jesu – in 21,18–22 ist das letzte Wunder Jesu gerade geschehen – eine grundlegendere Bedeutung: „Die Legitimation seines gesamten Wirkens“303 wird in Zweifel gezogen. Jesus tappt aber nicht in die Falle und übernimmt die Gesprächsführung, indem er für seine Antwort eine Bedingung stellt. Seine fast ‚sokratische‘ Rückfrage304 über den Ursprung der Taufe hätte die Kontrahenten dazu gebracht, ihre eigene Frage selbst zu beantworten. Denn die nahe liegende Antwort – die Johannestaufe war vom

Mt, 507: „The leaders ‚question is motivated by animosity and probably by the desire to trap Jesus into saying something that could be constructed by blasphemy“; Hagner, Mt II, 609 („an­ attempt to gain more ammunition to be used against Jesus“); Harrington, Mt, 299: „They hope to force Jesus to a public admission of his power“. 297 Gielen, Konflikt, 213. 298 So wie die Frage formuliert wird, enthält sie auch eine Andeutung auf die Antwort  – δίδωμι steht hier als Kürzel für zwei schlüssige Stellen: πάντα μοι παρεδόθη ὑπὸ τοῦ πατρός μου (11,27) und ἐδόθη μοι πᾶσα ἐξουσία ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ [τῆς] γῆς (28,18). Die Gegner ahnen, wie eine direkte Antwort lauten würde. Ihre Frage kommt nicht aus Neugier, sondern aus List. 299 Obwohl man ἐν ποία und τίς separat betrachten kann, ist es wahrscheinlicher, dass mit den beiden Fragehälften das Gleiche gemeint ist: Gefragt wird nach der Identität Jesu im um­ fassendsten Sinne (vgl. Davies / Allison, Mt III, 160; Konradt, Israel, 136). Das sieht man auch daran, dass Jesus in 21,24fin, wo er die Frage seiner Kontrahenten aufnimmt, nur noch von ἐν ποίᾳ ἐξουσίᾳ redet. 300 Sand, Mathäus, 428; Fuchs, Die Frage, 33 („unmitelbar auslösendes Element für das Einschreiten der Jerusalemer Behörden“); Byrskog, Messianic Teacher, 91; Daube, New Testa­ ment, 221 („the immediate reason of the interrogation“). Dass Jesus hier lehrt, ruft aber seine gesamte autoritative Lehrtätigkeit in Erinnerung (Gnilka, Mt II, 216; Davies / Allison, Mt III, 159). 301 Davies / Allison, Mt III, 159; Harrington, Mt, 299; Byrskog, Only Teacher, 280. 302 Dazu auch Luz, Mt III, 209, Anm. 36. Für die matthäische Verwendung des Hauptverbs vgl. nur 9,7; 13,58; 20,32; besonders 21,15[red.]: ἰδόντες δὲ οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ γραμματεῖς τὰ θαυμάσια ἃ ἐποίησεν, wobei ποιέω sich hier primär auf die Ausrufungen der Kinder und die Heilungen und nicht auf die Austreibung der Händler und Wechsler bezieht. Ein mindestens indirekter Rückbezug auf 21,15 dürfte in 21,23 vorhanden sein. 303 Gielen, Konflikt, 214; Gnilka, Mt II, 216: „Die Frage ist umfassend und darf nicht auf seinen Tempelprotest eingeschränkt werden“; Davies / Allison, Mt III, 159. 304 Nolland, Mt, 858: Die richtige Antwort „would naturally result in […] having no need to ask the initial question“.

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Himmel  – hätte auch „die Qualifizierung der Vollmacht Jesu als ἐξ οὐρανοῦ impliziert“.305 Dabei gibt er den Autoritäten Anlass, sich mit der eigenen vergangenen Erfahrung und ihren heilsgeschichtlichen Überzeugungen auseinanderzusetzen. Denn diese Annahme würde hier natürlich einen göttlichen Ursprung der Taufe implizieren. In 3,7 hatte Matthäus die Pharisäer und Sadduzäer als Anwesende eingeführt, nun sollten die Hohenpriester und die Ältesten öffentlich ihre Meinung über den Ursprung der Taufe abgeben: War sie vom Himmel oder von den Menschen? Beide Alternativen sind für sie ungünstig, denn sie würden entweder ihr bewusst feindliches Verhalten gegenüber dem Gottgesandten einräumen oder sie hätten sich vor dem Volk fürchten müssen, bei dem Johannes ein hohes Ansehen genoss (21,25 f). Das bewusste (διαλογίζομαι) Nicht­ antworten (21,27)306 ist also strategisch und erlaubt einen kurzen Blick in die skrupulöse politische Interessenwelt der religiösen Machthaber bei Matthäus, für die Jesus als unbedingt zu beseitigen galt.307

3.3.2 Der leidende Gottessohn und der erhöhte Christus Jesus ist sich dieser Gefahr ganz bewusst. Seine paradoxe Präsentation als dienender Gottessohn308 erreicht in der Leidensthematik, die mit dem Konflikt in einem unmittelbaren Verhältnis steht, einen Höhepunkt. Schon in 17,9–13 ordnet sich Jesus selbst in die Reihe der leidenden Gottesgesandten ein, die auf Ablehnung und Verfolgung bei den religiösen Führern gestoßen sind.309 In 21,25 schafft er durch seine Gegenfrage wiederum eine Parallelisierung mit dem ge­töteten Täufer, sodass sie ein gemeinsames „Todesschicksal“310 teilen. Im

305 Gielen, Konflikt, 214; vgl. auch Nolland, Mt, 858: An die Taufe zu glauben hätte bedeutet: „finding one’s way from John to Jesus and therefore having no need to ask the initial question“; Davies / Allison, Mt III, 160: „Our pericope implies the same source for John’s­ authority and for Jesus’ authority“. Der Ausdruck ist in gut jüdischer Tradition eine Umschreibung des göttlichen Namens wie in Dan 4,26; 1Makk 3,18; Lk 15,18.21; Joh 3,27 (vgl. Shae, Question, 6). Der Himmel ist zugleich die Wohnstätte Gottes: Hiob 22,13 f; Koh 5,1; Ps 115,16; 90,1LXX (ἐν σκέπῃ τοῦ θεοῦ τοῦ οὐρανοῦ); 1Makk 4,10; 12,15 usw. 306 Repschinski, Stories, 196: „They evade the question“; Konradt, Israel, 137: „Ihr ‚NichtGlauben‘ (V. 25fin) ist ein bewusstes Sich-Verweigern“; Nolland, Mt, 859. 307 Das Ereignis verdeutlicht im Hinblick auf die Passion, dass der Tod Jesu nicht die Folge eines Missverständnisses war, sondern „brought about by the ploting of self-serving men of ill will“ (Davies / Allison, Mt III, 163); vgl. auch Overman, Church, 296: „The tension between the religious and political officials and Jesus is fast moving past the point of no return“. 308 Vgl. dazu 2.1.3. 309 Als religionsgeschichtlicher Hintergrund vgl. 2Chr 24,20–21; 36,15–16; Jer 7,25–26; 20,2; 25,4; 26,20–24; 35,15; Neh 9,26; Dan 9,6; VitProph 2,1; Jub 1,12–13. Zur Notwendigkeit des Leidens in der matthäischen Jesusgeschichte vgl. S. 114–115. 310 Gnilka, Mt II, 217; auch Davies / Allison, Mt III, 160.

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Gleichnis von den bösen Weingärtnern (21,33–39)311 verknüpft Matthäus das Thema des Leidens deutlich mit der Gottessohnschaft und thematisiert es als ‚Erzählung in der Erzählung‘. Das Gleichnis  – an sich eine geschlossene Geschichte – kombiniert vertraute Motive aus dem Alten Testament in einer Weise, dass der Verlauf der Handlung für die Zuhörer transparent wird. Es wird dadurch zur Allegorie,312 die unter literarischen Fiktionen reale Sachverhalte schildert und sie für die Zuhörer deutet.313 Die Erzählung wird von der Verweigerung der Pächter vorangetrieben, dem Hausherrn und Weinbergbesitzer zur Erntezeit den ihm zustehenden Teil314 abzuliefern, wobei im wiederholten Einsatz des Herrn sein Recht einzufordern, eine klar signalisierte Steigerung zu beobachten ist.315 Zuletzt wird mit der Sendung des Sohnes die höchste Stufe der Geduld erreicht.316 Der Sohn tritt mit der ganzen Vollmacht des Vaters ausgestattet am Ende einer Reihe von Knechten ebenfalls als dienende Figur auf,317 die ihren Ruhm nur aus dem privilegierten Verhältnis zum Vater (ὁ κληρονόμος) erhält.318 Diesem widerfährt aber das gleiche 311 Hier werden nur die leidenstheologischen Aspekte berücksichtigt; ab V. 40 äußert sich sehr stark die Gerichtsthematik, was ich als Teil der Konfliktaustragung in 4.1.2 analysiere. 312 Über das Verhältnis Parabel – Allegorie in diesem Fall vgl. Klauck, Gleichnis,120 f. 313 Die Nähe zu Jes 5,1–7 deutet schon von Anfang an auf den allegorischen Charakter, aber „Matthäus ist den Weg der Allegorisierung konsequent zu Ende gegangen“ (Jeremias, Gleichnisse, 70, 75; vgl. auch Crossan, Parable, 455; Robinson, Parable, 451). 314 Zu vermerken ist aber, dass der matthäische Herr nicht seinen Teil (ἀπὸ τῶν καρπῶν in Mk 12,2) der Früchte fordert, sondern seine Früchte (τοὺς καρποὺς αὐτοῦ in Mt 21,34), d. h. den ganzen Ertrag des Weinberges. Der Bezug auf die restlosen Forderungen Gottes an den Menschen wird in dieser Weise verstärkt (Klauck, Gleichnis, 123). 315 Bei Matthäus ist nur in dieser Hinsicht eine (typisiert dreischrittige) Steigerung – nach Zahl und nach Rang – vorhanden: zuerst οἱ δοῦλοι αὐτοῦ, dann ἄλλοι δούλοι πλείονας τῶν πρώτων und schließlich ὁ υἱὸς αὐτοῦ (21,35–37), während die angewandte Aggression der Weingärtner immer auf der höchsten Ebene vom ersten Mal konstant bleibt  – καὶ ἐποίησαν αὐτοῖς ὡσαύτως (21,36, vgl. auch V. 39; so z. B. auch Nolland, Mt, 872–873; Konradt, Israel, 187). Die zunehmenden Bemühungen des Herrn werden also besonders hervorgehoben und zugleich seine Güte, im erneuten Versuch, die Weingärtnern doch zur Vernunft zu bringen (Tisera, Universalism, 221: „The generosity of the sending even exceeds the rejection“). Auf der anderen Seite haben die unzuverlässigen Winzer von Anfang an ein vollkommen negatives Bild, das sie nicht erst im Laufe der Zeit gewinnen, und sind von ihrer versteiften, tödlichen Bös­willigkeit nicht abzulenken. Anders bei Mk 12,2–8 // Lk 20,10–15a, wo es erst nach anfänglichen, harmlosen Abschreckungen zur Tötung der Knechte und anschließend des Sohnes kommt; vgl. Olmstead, Trilogy, 147 („a polemical heightening in Matthew’s depiction of the reception of the servants“). 316 Auch Luz, Mt III, 223; Erlemann, Bild, 233; Hagner, Mt II, 620 f, lesen hier einen Hinweis auf die Langmut des Besitzers; siehe auch Carter / Heil, Parables, 162 („patient owner“); Akpunonu, Vine, 109 („commendable forbearance“). 317 Vgl. Oldenhage, Spiralen, 220: „The fate of the servants is in parallel to that of the son“. 318 Die Stelle ist wichtig für die Entfaltung der Gottessohnschaft, denn „Jesus’ narration of this parable is the place where the claim that he is the Son of God is for the first time pointedly advanced in public“ (Kingsbury, Parable, 646; vgl. auch Konradt, Israel, 319).

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Schicksal, denn sie stoßen ihn hinaus, töten ihn dort319 und versuchen dadurch die Macht des Herrn zu usurpieren.320 Die Passionserzählung ist eine ausführliche Darstellung des schon hier angekündigten Szenariums.321 Das Motiv der Gottessohnschaft kommt bei Matthäus im Passionsbericht entsprechend vermehrt vor, wie ein synoptischer Vergleich hinreichend zeigt.322 Bei allen Evangelisten ist die Passion im Lichte des Gethsemane-Gebetes ein Beschluss des Vaters.323 Unmittelbar vor der Verhaftung betet Jesus dreimal, damit ihm der Kelch des Todes erspart bleibt. Matthäus wiederholt ausdrücklich in 26,42 die Anrede πάτερ μου (schon in V. 39 ergänzte Matthäus um die pronominale Bestimmung μου und ließ αββα aus Mk 14,36 weg) und fügt hinzu, dass Jesus auch zum dritten Mal dasselbe Wort redete (26,44: πάλιν). Diese innige Beziehung zum Vater bringt Jesus bei der Verhaftung erneut zum Ausdruck, wenn ein Jünger ihn mit dem Schwert zu verteidigen versucht (26,51–54). Die erneute redaktionelle Erwähnung des Vaters (26,53: τὸν πατέρα μου) wird auch durch die entsprechende Macht ausgelegt, die dem Sohn zusteht (δώδεκα λεγιῶνας ἀγγέλων). Wie auch sonst geht es aber Matthäus nicht darum, die Gottessohnschaft Jesu durch eine Machtdemonstration unter Beweis zu stellen.324 Die Überlegenheit des Sohnes fasst man besser in seinem Verzicht auf Macht auf, um die Schrift und den Willen Gottes zu erfüllen (26,54: πληρωθῶσιν αἱ γραφαί; οὕτως δεῖ γενέσθαι; vgl. auch 26,56 // Mk  14,49).325 Diese zwei Aspekte treten in der Verurteilungsszene wieder auf: Matthäus räumt dem Sohn durch die fal 319 Dieses minor agreement Mt  21,39 // Lk  20,15a verdeutlicht die proleptische Funktion der Parabel, mit ihrem direkten Hinweis auf die Kreuzigung Jesu außerhalb von Jerusalem (Gielen, Konflikt, 224; Jeremias, Gleichnisse, 71; Akpunonu, Vine, 115; Crossan, Parble, 453; Robinson, Parable, 449; Kingsbury, Son of God, 23 [„to adumbrate the events he portrays in 27,32–54“]; Yieh, Teacher, 280; Hagner, Mt II, 621; Luz, Mt III, 224; Sand, Mt, 434;­ Nolland, Mt, 875; Dodd, Parables, 130). 320 Vgl. Erlemann, Bild, 226: „Sie [die Winzer] sind nunmehr  – ihrer Ansicht nach  – selbst die Herren des Weinbergs, der Rollentausch zwischen κύριος und γεωργοί ist perfekt“; France, Mt, 814 („an act of defiance to the father“). 321 Kingsbury, Figure, 18: „The parable of the wicked husbandmen points ahead to the­ periscope of Jesus’ trial before Sanhedrin“. 322 Zur Bedeutung dieses christologischen Titels für die matthäische Passionsgeschichte vgl. Kraus, Passion, 423–425; Kingsbury, Son of God, 24–47; Hummel, Auseinandersetzung, 115–116; Verseput, Role, 547 f; Strecker, Weg, 182; Konradt, Israel, 322–328; Gerhardsson, Gottes Sohn, 94–102; Senior, Death, 322 („a major theme of Matthew’s crucifixion narrative“); Moberly, Jesus, 217–219. 323 Heil, Death, 45 („divine necessity“); Strecker, Weg, 183; Gerhardsson, Jésus livré, 217; Moberly, Jesus, 213 („Jesus’ praying displays a process of coming to acceptance of his Father’s will“); Davies / Allison, Mt III, 502; France, Mt, 1014. 324 Siehe auch Gielen, Passionserzählung, 113 f: „Seine christologische Hoheit [wird] greifbar, und zwar nicht zuletzt durch seinen Verzicht auf die Demonstration seiner Anteilhabe an der göttlichen Macht“. 325 Die Notwendigkeit, dass die Schrift erfüllt wird, ist auch in Verbindung mit der Passion von Bedeutung (Hagner, Mt II, 790; Rothfuchs, Erfüllungszitate, 176).

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sche Aussage der Zeugen die unerhörte Macht ein, den Tempel in drei Tagen aufzubauen (vgl. δύναμαι in 26,61), er macht aber davon keinen Gebrauch; auch in Bezug auf den Hohenpriester nicht, der nach seiner Antwort326 das Todesurteil ausspricht. Jesus hat aber das richterliche Machtwort Gottes über sie schon ausgesprochen (26,64),327 ihr Sieg ist deswegen nur scheinbar. Die Episode hat ein Nachspiel nach der Kreuzigung, wenn die Vorübergehen­ den, die Hohenpriester und die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren, ihn lästern und in ihren Vorwürfen das Gottessohn-Motiv erneut aufnehmen: 27,40[red.].328 43[red.]. Die spöttische Aufforderung κατάβηθι ἀπὸ τοῦ σταυροῦ (27,40.42), durch die der Anspruch Jesu „ad absurdum“ geführt wird329 und die programmatische Mission von 1,21 (σῴζω) ironisch verdreht wird (27,40.422.49[red.]), bleibt unbeantwortet; die Größe des Sohnes zeigt sich im Vertrauen auf seinen Vater. Auf dieses Vertrauen nehmen ironisch die Ankläger selbst im matthäischen Vers 27,43 Bezug und, da eine Intervention des Vaters ausbleibt, sprechen sie Jesus implizit in (nur vom Mt eingeführtem) Ps 21,9LXX330 die Gottessohnschaft ab. In dem weiteren Verlauf der Geschichte kommt die paradoxe Gestalt des Gottessohnes voll zum Tragen, denn im tiefsten Punkt seiner irdischen Existenz wird Jesus gegen den anklagenden Chor eindrucksvoll bestätigt.331 In 27,51–53 326 Dass die rätselhafte Antwort Jesu in Mt 26,64 (σὺ εἶπας) als positiv zu interpretieren gilt, wird in 27,43 durch die Aussage der Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten bestätigt (εἶπεν γὰρ ὅτι θεοῦ εἰμι υἱός). Vgl. dazu Catchpole, Answer, 226; Moberly, Jesus, 216; Kingsbury, Figure, 18. 327 Zum gerichtlichen Aspekt dieser Aussage siehe S. 228–229. 328 Alle diese drei Gruppen zielen auf den Gottesanspruch hin (Fiedler, Passion, 312). Durch den Zusatz εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ entsteht bei Mt ein direkterer Rückbezug auf die Versuchungsszene (Gielen, Passionserzählung, 201; Brown, Death, Bd. 2, 988; Heil, Death, 80; Gerhardsson, Jésus livré, 221; Donaldson, Mockers, 8; Graham, Strange, 506. 329 Hummel, Auseinandersetzung, 116. Dadurch „[versuchen] die jüdischen Autoritäten […] Gott selbst“ (Gielen, Passionserzählung, 202). 330 Mt verwendet jedoch πείθω anstatt ἐλπίζω (zu einer revidierten LXX als mögliche Er­ klärung dafür, vgl. Menken, Psalms, 77 f). Das Zitat ist (vgl. auch V. 7–8) für Matthäus eine Gelegenheit, den Stoff zu deuten (Hummel, Auseinandersetzung, 116 [„Interpretament“]; Cope, Scribe, 106 f). Erwägenswert ist eine Anspielung auf den Passus über den leidenden Gerechten in SapSal 2,12–20, so z. B. Senior, Passion Narrative, 287 („strong possibility of influence“); siehe auch Graham, Strange, 507; Tilborg, Leaders, 78, mit dem Vermerk „one should not think of a literary dependency, but rather of a ‚traditionsgeschichtliche‘ layer“; identisch auch Konradt, Israel, 324 f, Anm. 213; Donaldson, Mockers, 9, Anm. 3. Der Vorwurf, die Gottessohnschaft in Anspruch genommen zu haben, taucht dort dreimal (V. 13.16.18) auf, einmal in einem konditionalen Satzgefüge (V. 18) wie in Mt 4,3.6; 27,42. 331 Kraus, Passion, 423: „Gott selbst erweist Jesus im Augenblick seines Todes als den Gottessohn“; Verseput, Role, 547 („affirming the validity“); Konradt, Israel, 325 („von Gott selbst als sein Sohn ausgewiesen“); Kingsbury, Son of God, 26 („the immediate response of God“). Angesichts des exemplarischen Gehorsams Jesu bis zu diesem Punkt ist diese Bestätigung, leserorientiert betrachtet, ein „ethischer Beweis für Jesu Messianität“ (Gerhardsson, Gottes Sohn, 104).

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werden Ereignisse geschildert, die traditionsgeschichtlich durch die mächtige Intervention Gottes am Weltende geschehen.332 Der überwältigte Hauptmann (καὶ οἱ μετ’ αὐτοῦ) spricht in seiner „counter-assertion“333 nun genau das aus, was die Ankläger wegen ihrer Verblendung nicht sehen konnten: ἀληθῶς θεοῦ υἱὸς ἦν οὗτος (27,54). Die Einsetzung Jesu zum Weltherrscher beginnt schon jetzt. Mit der Vorwegnahme einiger Stichwörter der Auferstehungsgeschichte (σείω // σεισμός in 27,51b // 28,2a; φοβέω // φόβος in 27,54 // 28,4; die Öffnung der Gräber in 27,52 // 28,2b),334 macht Matthäus den Tod und die Auferweckung „zu einem Geschehenszusammenhang“.335 Der dienende Sohn Gottes erleidet den Tod als letzte Konsequenz seines Gehorsams gegenüber dem Vater. Was aus menschlicher Perspektive ein totales Scheitern bedeutet, ist in Wirklichkeit die verborgene Seite derselben Vollmacht, die Wunder wirkt und am Ende der Zeiten die Welt richtet. Nach der matthäischen Darstellung verkennen die Autoritäten336 völlig diese göttliche paradoxe Logik, indem sie Jesus und die Gemeinde337 verfolgen, und sie fallen daher dem Gericht anheim.

332 Hagner, Mt II, 848: „There is an air both of judgment and of eschatology in this material“. Erdbeben als „Begleiterscheinungen der Offenbarung Gottes“ (Gielen, Passionserzählung, 220)  – Jdc 5,4–5; 2Sam  22,8; Ps  68,8–9; 77,19; Jes  5,25; 13,9–13; 24,19; Hab 3,7; Hag 2,6.21; Ez 38,19–20; Jer 4,23–24; 8,16; 10,10; Am 8,8; Joel 2,10; 4,15–16; Hiob 26,5; Jdt 16,15; TestMos 10,4; TestLevi 3,9; 1Hen 1,3–7; 4Esra 3,17–18; 6,14; 8,23; 2Bar 27,7; LAB 11,5; 1QH 11,32–36; zur Spaltung der Steine  – Ex  14,16.21; Num 16,31–32; Jdc 15,19; Jes  35,6; 48,21; Jer 23,29; 1Kön 19,11–12; Sach 14,4; Hab 3,9; Nah 1,5–6; TestLevi 4,1; das Öffnen der Gräber – Ez 37,12–13; Auferstehung der Toten – Hos 6,1–3; Ez 37,12; Dan 12,2, 2Makk 7,9.11.14.22– 23.29; 12,43; 4Esra 5,45; 7,32; 1Hen 62,13–16; 2Bar 50,2; Sib 4,180; TestBenj 10,6–9; TestJuda 25,1–4; TestSeb 10,1–3; LAB 51,5; 19,12; 1QH 14,29 f. Die Spaltung des Tempelvorhanges trifft die Jerusalemer Autoritäten als Strafe Gottes für ihr Fehlverhalten (vgl. TestLevi 10,3) oder indem ihnen die Vorrangstellung als sühneschaffenden Vermittler endgültig weggenommen wird (Hagner, Mt II, 848 f). Für eine nichtapokalyptische Auslegung des Passus vgl. Herzer, Auferstehung. 333 Kingsbury, Figure, 19; Nolland, Mt, 1197 („positive counterpart“). 334 Auf diese Parallelen (Mt  27,51b–55 // 28,2–5) verweisen auch Riebl, Auferstehung, ­63–65; Senior, Death, 314. 335 Konradt, Israel, 327. Riebl, Auferstehung, 75, zieht das Fazit: „Matthäus zieht keine straffe Trennung zwischen dem Tod und der Auferstehung Jesu; er sieht darin zwei Aspekte eines einzigen Geschehens: Jesus stirbt in seine Auferstehung hinein“ (75); auch Schneider, Sicht, 301; Fiedler, Passion, 312 („österliche Dimension des Todes Jesu“); Dahl, Passionsgeschichte, 25: „der Bericht […] ist von kirchlicher Gläubigkeit durchleuchtet. Die Auferstehung schließt sich wie selbstverständlich an“; ferner Kingsbury, Son of God, 27; Moberly,­ Jesus, 219–220. 336 Schnackenburg, Knecht, 222: „In der Niedrigkeit des Gottesknechtes ist seine Hoheit vorgezeichnet. Die Gegner können diese Entwicklung nicht aufhalten“; Kingsbury, Conflict, 71. 337 Fiedler, Passion, 315: „Ihre Auseinandersetzung mit jüdischen Opponenten […] ist von Mt […] in die Synhedrialverhandlung mit der anschließenden Verspottung [hinein­ projiziert]“.

4. Symbolische Gewalt: Gott, Geschichte und Gemeinde – drei Horizonte der Konfliktaustragung im Matthäusevangelium Theoretische Vorüberlegungen: Hate Speech und kommunikatives Versagen „Konflikt“ und „Aggression“ sind recht ähnliche Begriffe. Es gibt jedoch wichtige Unterschiede zwischen den punktuellen aggressiven Ausbrüchen und Konflikten, die eher einen prozessualen Charakter innehaben. „Der Konflikt“ ist also ein breiterer Begriff, der eine ganze Reihe von Handlungen in einem komplexeren Prozess bindet. Zudem sind Konflikte nicht immer aggressiv, sie können durchaus auch aufgabenorientiert verlaufen.1 Die beiden sozialen Phänomene haben aber ein ähnliches und vielfältiges Verhältnis zur Sprache. Ausgehen sollte man von dem Begriff der „Kommunikation“. Mit diesem Begriff steht nicht nur die Entstehung, sondern auch die Schlichtung von Konflikten und Gewalt in Verbindung. Aus systemtheoretischer Sicht sind Konflikte gerade eine Folge einer misslungenen Kommunikation: Immer dann, wenn ein Handlungsangebot mit einem Nein beantwortet wird, entsteht ein Konflikt. Wird einer Kommunikation widersprochen, so liegt ein Konflikt vor. Der Konflikt entsteht aus einer Widerspruchshandlung.2

Zugleich sind die Kommunikationsvorgänge die besten Methoden, um Konflikte beizulegen, wie auch die verfügbare Literatur in diesem Bereich vorwiegend zeigt.3 Als untergeordnete Begriffe werden oft „Sprache“ und „Diskurs“ verwendet. Sie sind beide für ihre Anwendbarkeit in Strategien der Konfliktregelung sehr gefragt, stehen aber bestimmten Forschungsrichtungen und -interessen sehr nahe. „Sprache“ wird häufig im Rahmen der so genannten Kontaktlinguistik eher im ethnischen Sinne verwendet,4 während dem facettenreichen Begriff „Diskurs“ oft die Bedeutung von sprachlicher Konfliktaustragung in der Öffentlichkeit beigemessen wird.5 Dies ist letztendlich auch der Punkt, der hier im Zentrum des 1 Raver / Barling, Aggression, 221 f. 2 Nollmann, Konflikte, 100; vgl. auch Schank, Konfliktanalyse, 30: „Gewalt ist Sprachlosigkeit“. 3 So wie viele konflikttheorethische Ansätze auf das Konfliktmanagement hin ausgerichtet sind, haben auch die meisten linguistischen Studien solche praktisch orientierten Ziele. Vgl. z. B. De Matos, Language, 158–175; Smith, Language, 16– 40; Nelde, Language, 285–300. 4 Nelde, Research, 1346–1353, aber auch Smith, Language. 5 Kakavá, Discourse, 650–670. Mit dieser Bedeutung verwendet Vetter, CDA, 102, auch den Begriff „Spracahkonflikte“: Konflikte, „die über das Sekundärmerkmal Sprache ausgetragen werden“.

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Interesses steht: die Sprache als Ausdrucksmittel für die Ausgestaltung der Konflikte. Das linguistische Verhalten – in mündlicher oder schriftlicher Form – ist die Hauptquelle für die Verortung und Beschreibung des Konfliktstoffes und -verlaufs. Die Dialoge, Monologe oder die öffentlichen Appelle enthalten in einmal deutlicher, ein anderes Mal kryptischer Form den Kern und die Ursache des Versagens der zwischenmenschlichen Kommunikation.6 Es lassen sich verschiedene diskursive Muster der Konfliktverwaltung oder sprachliche Eigenschaften durch die Analyse der konfliktären Diskurse ablesen, die gewisse Schlüsse auf die Welt der Konfliktbeteiligten erlauben. Man spricht deswegen von einer „Konfliktrhetorik“7 oder versucht durch Gesprächsanalyse Phasen in der Organisierung der sprachlichen und ideologischen Konfrontation zu verdeutlichen. Solche Strukturlinien in der Gestaltung der matthäischen Konfliktgeschichte werden mich ausführlich beschäftigen. Darüber hinaus müssen sprachbezogene Detailfragen wie die folgenden beantwortet werden: Wie funktioniert sprachlich der konfliktäre Austausch? Wie behandelt man mittels der Sprache seine Gegner? Wie wird Sprache jenseits von ihrer primären sozialen Funktion, die Kommunikation zu erleichtern, zu einem Mittel, andere soziale Akteure zu bekämpfen?8 In diesem Zusammenhang ist besonders auf die verbale (manchmal auch symbolisch genannte) Aggression hinzuweisen. Wenn besonders soziale Kategorien wie ethnische Herkunft, Religion, Alter, Geschlecht als Grund für sprachliche Verunglimpfung einbezogen werden, dann wird oft die Bezeichnung „Hasssprache“ (hate speech) verwendet.9 Diese Art sozialer Interaktion geht weiter als die bloße sprachliche Beleidigung und ist selbst eine Modalität der Gewaltausübung auf symbolischer Ebene.10 Die verbale Aggression ist eine Manifestation der offenen und aktiven Feindseligkeit. Die Wirkungsweise der konfliktären Diskurse spielt sich im Grunde genommen auf zwei Ebenen ab. Zuerst geht es darum, wirksame Argumente einzubringen und seine eigene Stellung und Glaubwürdigkeit entweder positiv, durch verschiedene innere und äußere autoritative Stützen, oder negativ, durch die Delegitimierung der Gegner, zu stärken. Die ‚Kampftechnik‘ der Worte blickt auf eine lange Geschichte zurück und verfügt über ein beeindruckendes und aus-

6 Vetter, CDA, 105: „Texte aus Sprachkonfliktsituationen [geben] Hinweise auf sich verändernde und in außersprachlichem Kontext noch nicht feststellbare Phänomene“. Treffend für unseren Fall: „In der Geschichte kann der Konflikt aber auch individuell oder interaktiv – z. B. durch Berichte oder Erzählungen – verarbeitet werden“ (Fiehler, Konstitution, 302). 7 Blackwell, Identities, 196 f; Kakavá, Discourse, 653 f. 8 Windisch, K. O., 2 f. 9 Leets / Giles, Words, 261 f; Whillock / Slayden, Introduction, 13. Weitere verwandte Bezeichnungen fehlen nicht, z. B.: „Kampfworte“ (fighting words), „Verleumdung“ (defamation) usw. 10 Infante, Aggressiveness, 164.

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differenziertes Arsenal.11 Die Verleumdungen, die Anklagen, die Bedrohungen, die Ironie12 oder die allfälligen Schimpfwörter oder Flüche sind eindeutige Signale für Spannungen und Konflikte. Sie entstehen unter konkreten sozialen Umständen und sollten demensprechend als soziale Produkte betrachtet werden. Sie tragen auch die Prägung der jeweiligen Gruppenkultur in sich und sind von den Identitätsbildungsprozessen nicht zu trennen. Von ihrem ‚Sitz im Leben‘ her werde ich solche sprachlichen Erscheinungen auch bei Matthäus untersuchen und ihnen die Funktion beimessen, die zu dem sozialpsychologischen und kulturellen Milieu am besten passt. Diesen methodischen Rückweg von der vorhandenen Textgestaltung über die Struktur der kommunikativen Ereignisse in die Verborgenheit der menschlichen Motivation und damit in die Vielfalt der sozialen Umstände zu wagen, ist eine bleibende Aufgabe der Exegese, die im Fall des Matthäusevangeliums eine besondere Relevanz besitzt. Das Matthäusevangelium entfaltet eine Konfliktgeschichte aus der Perspektive einer eskalierten Konfliktphase. Wie der Konflikt bis zu diesem Punkt ver­laufen ist, lässt sich nicht mehr erörtern. Die jetzige Textgestalt ist eine Bestandaufnahme einer sehr elaborierten und theologisch ausgefeilten Konfliktaustragung. Drei Dimensionen (Horizonte) strukturieren meiner Meinung nach die matthäische Konfliktaustragung. Ich werde zuerst die Strategie verdeutlichen, apokalyptische Vorstellungen als Mittel der Polemik einzusetzen – der matthäische Jesus ist der Weltrichter und wird unausweichlich das Urteil Gottes über die Gegner der Gemeinde fällen (4.1). Als Teil des anbahnenden eschatologischen Szenariums dient dann die Tempelzerstörung als konkreter Beweis für den unaufhaltsamen Verlauf der Geschichte und für die immense Verantwortung der direkten Kontrahenten, die selbst die nationale Katastrophe durch ihr Fehlverhalten herbeigeführt haben (4.2). Schließlich werde ich zeigen, wie Matthäus die Verunglimpfung der Pharisäer und Schriftgelehrten als Korrelat und im Kontrast zum eigenen ethischen Grundsatz konstruiert (4.3).

11 Knapp zum Oberbegriff „Polemik“ in der Antike, vgl. Stauffer, Art. Polemik, 1404– 1406; zur rhetorischen Gattung der Invektive (ψόγος; vituperatio), vgl. Neumann, Art. Invektive, 549–556; ausführlich die umfassende Analyse von Koster, Invektive. 12 Zur Ironie vgl. Lausberg, Elemente, 78 f: „Die Ironie […] ist die Benutzung des parteiischen […] Vokabulars der Gegenpartei […] im festen Vertrauen darauf, dass das Publikum die Unglaubwürdigkeit dieses Vokabulars erkennt, wodurch dann die Glaubwürdigkeit der eigenen Partei um so mehr sichergestellt wird, so daß die ironischen Wörter im Enderfolg in einem Sinne verstanden werden, der ihrem eigentlichen Sinn entgegengesetzt […] ist“; vgl. auch Windisch, K. O., 41–44.

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4.1 Gottes Gericht über die Gegner: Die Macht der Machtlosen 4.1.1 Gerichtssprache als Kampfsprache in Schriften des Frühjudentums: Religionsgeschichtliche Vorüberlegungen Die eschatologische Sprache eignet sich hervorragend zur Konfliktaustragung. Das liegt vor allem daran, dass ein wichtiger Teil des Endszenariums darin besteht, Gott zu veranlassen, seine Gegenspieler (die Sünder, die Frevler usw.) zu vernichten oder zu richten und diese zur ewigen Strafe zu verurteilen. Mit starker Hand und unbändigem Zorn führt Gott seinen endgültigen Sieg am Ende der Zeiten herbei. Diese dynamische Vorstellung stellt ein ganzes Instrumentarium an Bildern und Motiven zur Verfügung. Sie auf angespannte oder konflikthafte zwischenmenschliche Beziehungen anzuwenden, liegt nicht nur auf der Hand, sondern ist für religiös geprägte Gruppen auch sehr effektiv. Der apokalyptischen Literatur als Produkt einer Gruppenkultur werden verschiedene soziale Funktionen zugeschrieben.13 Der Zweck dieser kurzen Einführung ist es, auf die verbreitete Praktik im antiken Judentum hinzuweisen, die bedrohliche und bunte Bildersprache der endzeitlichen Abrechnung Gottes mit seinen Gegenspielern auch auf die eigenen Gegner der jeweiligen Gemeinden oder Autoren zu übertragen. Das geschieht m. E. auch im Matthäusevangelium als ein Teil  der Konfliktaustragung gegen die aktuellen Feinde, was im nächsten Unterabschnitt (4.1.2) an einigen ausgewählten Texten zu beweisen sein wird. Matthäus stellt ein günstiges Beispiel dar, denn die Forschung hat sich in weiten Teilen mindestens auf einige Grundannahmen der sozialen Konstellation geeinigt. Die feindliche, pharisäisch geprägte Synagoge bildet den sozialgeschichtlichen Hintergrund; eindeutige polemische Akzente des Evangeliums sind im Rahmen dieses Austausches zu verorten, teilweise auch die bedrohliche Gerichtssprache. Anders verhält es sich, wenn es um Schriften des antiken Judentums, besonders um Apokalypsen, geht, die einen besonderen Stellenwert für diese Fragestellung einnehmen. Solche bewusst fiktiven und verschlüsselten Schriften geben wenig von ihrem ursprünglichen sozialen Milieu preis.14 Die methodischen Schwierigkeiten, die mit einem solchen Unternehmen verbunden sind, können deswegen nicht unterschätzt werden. Aus diesem Grund besteht nun die Gefahr, dass Elemente, die einfach einem genuinen symbolischen Universum angehö 13 Sim, Coping, 29–45; Ders., Apocalyptic, 62–69: „identification and legitimation“; „explanation of current circumstances“; „encouragement and hope for the future“; „vengeance and consolation“; „group solidarity and social control“. 14 Vgl. Grabbe, Setting, 29: „We know little or nothing about the background of most­ ancient Jewish apocalypses“; Münchow, Ethik, 143; optimistischer ist Sim, Setting, 9: „In many apocalypses the general circumstances are quite clearly expressed in the text“.

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ren und keinen Bezug auf gegenwärtige Angelegenheiten nehmen, hier als Teile einer angespannten sozialen Kommunikation falsch eingeordnet werden. Deswegen werde ich gezielt verschiedene Komponenten der bedrohlichen Bildsprache herausheben und nur dann Vermutungen über reale Gegner anstellen, wenn die Quellenlage und die bisherigen Ergebnisse der Forschung es einigermaßen erlauben. Außerdem ist hier eine ausführliche und vollständige Behandlung des Themas unmöglich; der pragmatische Zweck ist dabei, einige Textzusammenhänge herauszunehmen, in denen in einem kommunikativen Vorgang dem Gegner, sei es konkret oder abstrakt, ‚sein Lohn‘, d. h. das unparteiische Urteil Gottes, angesagt wird. Dadurch wird ein ähnliches Denkschema wie bei Matthäus beleuchtet, wenn der vernichtende Zorn Gottes zum Medium für den Ausdruck des eigenen Kampfs und der literarische ‚Frevler‘ zur Projektion des persönlichen Feindes wird. Alles andere würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. Ein leicht zu identifizierender Gegner lässt sich in apokalyptischen Schriften ausmachen, die als Reaktion auf die Tempelzerstörung entstanden sind. Sie stehen übrigens, was den Versuch betrifft, den Tempelverlust zu bewältigen, Mt relativ nahe.15 Die verantwortlichen Römer werden am Ende wegen ihrer Freveltaten dem göttlichen Gericht anheimfallen. Die tröstende Vorstellung, dass sie die Rache Gottes zweifellos spüren werden, teilen z. B. 2Bar 39,1–40,4; 72,2–6; 82,2–9; 4Esra 11,1–12,34; ApkAbr 29,15–17; 30,2–8; 31,1–3; Sib 3,51–54; 4,130– 136; 5,160–178; 386–396. Der Zorn Gottes (Sib 3,51) wird sich durch das „Feuer“ (ApkAbr 31,3; Sib 3,53–54; 5,177.396 usw.)16 oder das „Schwert“ (2Bar 72,6; Sib 3,673.685–691)17 manifestieren. Verbreiteter und traditionell zutiefst verwurzelt18 ist die Vorstellung des eschatologischen Gerichts Gottes gegen alle Heiden und Widersacher Israels, wie z. B.

15 Vgl. dazu auch Abschnitt 4.2.2. 16 Das Feuer kommt oft als Agent der Vernichtung in der eschatologischen Ära vor (Jes 10,16–19; 66,24; Jer 11,16; Ez 21,2 f.36; 38,22; 39,6; Am 7,4; Zef 1,18; Nah 1,6; Mal 3,19; Sach 11,1; Ps  20,10LXX; Jdt 16,17; 4Makk  9,9; Jub 9,15; TestLevi 3; TestSeb 10,3; 2Bar 27,10; 37,1; 44,15; 48,39.43; 70,8; 4Esra 7,38; 13,10 f; 1Hen 10,6; 48,9; 54,1.5–6; 90,24–27; 91,9; 102,1; ApkAbr 15,5; 31,1–3; PsSal 15,4–5; Sib 3,72–92.618; 4,171–192; 5,274; Josephus, Ant I 70; LAE 49,3; 1QS 2,8; 4,12–14; CD 2,5 f; 1QpHab 10,5; 13,2 f; 4QpNah Frgm. 1–2 10 f; 1QpMi Frgm. 1–5,4 f. Vgl. dazu Horst, Elements, bes. 277–285; Mayer, Vorstellung, bes. 114–125; Volz, Eschatologie, 318 f. 17 Ähnliche Belegstellen: 1Hen 90,19; 91,11.12; 94,7; 2Hen 63,4; SapSal 5,20; 18,16; Jub 5,9; 9,15; Sib 3,287.690 f; CD 1,17; 1QpHab 11,15; 4QpPsa 2,17. Zum Schwert als Vernichtungsmittel vgl. auch Volz, Eschatologie, 320. 18 Die endzeitliche Bestrafung der Feinde Israels gilt als „die älteste Konzeption des eschatologischen Gerichts im Judentum“ (Reiser, Gerichtspredigt, 134; vgl. auch Volz, Eschatologie, 89 f). Wendebourg, Tag, 73, macht auf eine Entwicklung in der Adressaten-Frage aufmerksam: Erst nach dem Exil, werden die fremden Völker zunehmend als Ziel der hwhy ~wy – Ankündigungen wahrgenommen (vgl. auch Schunck, Strukturlinien, 319–330). Wichtige Texte zur endzeitlichen Abrechnung mit den Völkern: Ps 2; Ez 38–39.

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in TestMos 10,7–10; 2Bar 13,5; 72,6; 82,2; 4Esra 7,37 f (den Völkern – „Feuer und Pein. Das wird er zu ihnen am Tag des Gerichts sagen“); 13,37–38 („Und er wird sie mühelos vernichten durch das Gesetz, das dem Feuer gleicht“); ApkAbr 31; Sib 5,52 ff; 111 ff; 179 ff; 333 ff, PsSal 17,3.21–25; 1Hen 25,4; 90,19; 91,9; 2Hen 50,4; TestMos 9,7; Jub 5,10; in den Schriften von Qumran nimmt die endgültige Abrechnung mit den Völkern und Feinden Israels im eschatologischen Krieg eine wichtige Rolle ein.19 Starke parteiische Töne vermutet man an manchen Stellen in den Psalmen­ Salomos. Es ist jedoch inzwischen nicht mehr unumstritten, dass diese Schrift aus pharisäischen Kreisen stammt und gegen die Sadduzäer gerichtet ist.20 Deswegen lassen sich die Adressaten der Vorwürfe und Bedrohungen nicht sehr genau verorten. Angesichts der erkennbaren geschichtlichen Situation21 werden aber ‚die Frevler‘ meist mit jüdischen Kollaborateuren der Römer oder einfach mit der Führungsschicht identifiziert.22 Unter der typischen Figur der Sünder23 neigt man dazu, auch wenn eine nähere Bestimmung schwierig ist, eine einigermaßen soziologisch definierte Gruppe zu vermuten. Die deutlichen Gerichtsworte haben also möglicherweise eine klare Zielscheibe: Die Feinde werden ἐν ἡμέρᾳ κρισέως κυρίου (PsSal 15,12; vgl. auch 2,35) zugrunde gehen; sie sind wegen (vgl. den typischen δὶα τοῦτο in 14,9) ihrer Übertretungen zu ewiger Vernichtung und Verdammnis (PsSal 3,11; 9,5; 13,11; 14,9) zum Feuer und Zorn Gottes (PsSal 15,4: πυρός + ὀργή) prädestiniert. Was die Eschatologie betrifft, ist auf jeden Fall von einem ausdifferenzierteren Bild auszugehen: Den ethischorientierten Gerichtsaussagen gegen die ‚Frevler‘ steht besonders in den letzten zwei Ps 17 und 18 auch eine grundsätzliche Scheidung zwischen Israel und Völkern zur Seite.24 19 Vgl. z. B. CD 7,20 f; 1QpHab 10,3–5; 12,14, aber vorwiegend in 1QM (dazu Collins, Apocalypticism, 93–99). 20 So z. B. Schürer, History, Bd.  3.1, 193; De Jonge, Expectation, 5, Anm.  5; Schüpphaus, Psalmen, 131 f; Zager, Gottesherrschaft, 102. Diese Annahme galt auch für Reiser, Gerichtspredigt, 136, als „opinio comunis“ ist aber heute in Frage gestellt worden. Zur kritischen Überprüfung der Hypothese vgl. Wright, Psalms, 7–9; Schreiner / Kampling, Der Nächste, 68. 21 Meistens dienen dazu Ps 2; 8; 17; dort glaubt man den ersten Sieg der Römer über Jerusalem und die darauf folgenden Ereignisse zu erkennen (vgl. Schürer, History, Bd. 3.1, 193 f; De Jonge, Expectation, 7 f; Wright, Psalms, 1). 22 Wendebourg, Tag, 115 f; Overman, Matthew, 22. In ähnlicher Art und Weise ordnet Schüpphaus, Psalmen, 129, die Situation ein: „Die Gegner der Frommen sind demnach als die Vertreter der hasmomäischen Monarchie und deren hauptsächlich der Jerusalemer Aristokratie unter Einfluss der Priesterschaft entstandene Anhänger einzustufen“. 23 Mit ἁμαρτωλός (1,1; 2,1; 17,5 usw.) oder ὁ ἄνομος (17,11.18) bezeichnet; zu den „Gottlosen“ vgl. Schüpphaus, Psalmen, 97–99; eine Skizze des Feindbildes in den Psalmen Salomos bieten auch Schreiner / Kampling, Der Nächste, 69, 71. 24 Reiser, Gerichtspredigt, 33 f; Wendebourg, Tag, 121 f; Schüpphaus, Psalmen, 124, spricht ebenfalls über zwei Themenkreise des Eingreifens Gottes: die „unmittelbare Reaktion

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Eine ähnlich scharfe Kritik gegen Sünder, Mächtige und Reiche mit einem sozialen und eschatologischen Kolorit ist auch quer durch alle Schichten von 1Hen anzutreffen.25 Der Versuch, diese Kategorie genauer zu beleuchten, ist auch angesichts der Entstehungsgeschichte von 1Hen gewagt. Relativ konkret wird es z. B., wenn denjenigen das Gericht angesagt wird, die die Gemeinde unterdrückt haben (vgl. 1Hen 46,8; 47,1–2; 26,11: „Und er wird sie den Strafengeln ausliefern, damit sie Vergeltung an ihnen üben [dafür], dass sie seine Kinder und Auserwählten unterdrückt haben“).26 George W. Nickelsburg27 meint auch in der Kritik der luxuriösen Lebensweise auf Kosten der Gerechten und der Armen in dem Brief Henochs (vgl. z. B. 1Hen 96,5–6.8) eine Polemik gegen die priesterliche Aristokratie erkennen zu können. Er vermutet also einen realen Hintergrund,28 gibt aber zugleich zu: „We must exercise caution if we wish to use this biased document as a source of information that constitutes a building block for historical reconstruction“.29 Etwas anders verhält sich dies in den Qumran-Schriften. Dort sind neben einer allgemeinen Gerichtsverkündigung im Rahmen einer jedoch uneinheitlichen eschatologischen Lehre30 an verschiedenen Stellen unübersehbare Seiten­ hiebe gegen direkte gegenwärtige oder vergangene Gemeindegegner zu erkennen. Man vermutet, dass die Zukunftserwartungen der Qumrangemeinde in Bezug auf ein konkretes geschichtliches Ereignis konstruiert wurden. Die Gemeinde erwartete, „dass Gott die Hasmonäer beseitigte und wieder ein Saddoqid als Hoherpriester amtieren würde“.31 Am Ende werden nur die „Söhne Zadoks“, „die Priester“ und „die Männer ihres Bundes“, d. h. die Gemeinde als „persecuted auf die gegenwärtige Notlage“ und die „erst für die weitere Zukunft zu erwartende Maßnahme Gottes“. Das hängt in Ps 17 womöglich auch mit der seltenen davidischen Messias-Vorstellung zusammen (vgl. dazu Davenport, Anointed, 67–92; Zager, Gottesherrschaft, 103 f). 25 Vgl. 1Hen 53,2; 56,8; 62,2; 69,27; 90,25 (gegen „siebzig Hirten“); 94,9; 95,2 f; 96,8; 100,9; 102,1 (als rhetorische Frage im Sinne von Mt 23,33b); 103,5.8. 26 Vgl. Zager, Gottesherrschaft, 91. Die s.g. „Tierenapokalypse“ (1Hen 85–101) wird ebenfalls als „political allegory“ bezeichnet: „It criticizes not only enemy regimes, but even the propriety of any political, ethnically based regime“ (Tiller, Israel, 120). 27 Nickelsburg, Apocalyptic, 327; vgl. auch Horsley, Politics, 139 f; Argall, 1 Enoch, 47. 28 Nickelsburg, Social Aspects, 651: „Surely they were concrete circumstances and incidents that gave rise to these accusations“; Sim, Coping, 41; Argall, 1 Enoch, 245 („some degree of personal contact with the adversaries“); konkreter Horsley, Relations, 111: „The Epistle of Enoch thus appears to be a scribe / sage addressing a circle of others scribe / sages, pronouncing woes of destruction in the divine judgment against the ‚rich / sinners‘ for oppressing the righteous / pious, who will be vindicated and rewarded in the divine judgment“. 29 Nickelsburg, Social, 651. 30 Davies, Eschatology, 39; Collins, Expectation, 86: „The various models of eschatology found in the Scrolls do not yield a fully coherent system“. Für einen Überblick der Eschatologie in den verschiedenen Schriften der Qumran-Gemeinde vgl. Hogeterp, Expectations, 43–75; systematischer Art vgl. Collins, Expectation; knapp nach zwei Ansätzen strukturiert – „speculative“ und „inspirational“ – bei Vermes, Eschatological, 479–487. 31 Stegemann, Bedeutung, 521; vgl. auch Schubert, Entwicklung, 7.

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minority“, Bestand haben;32 alle Opponenten aber werden von Gott vernichtet. Diesen Bezeichnungen der Eigengemeinde33 stehen düstere Aussagen über die Opponenten gegenüber. Weil 1QS 1,16.24; 2,10 über diejenigen sprechen, die gerade in den Bund eintreten, ist anzunehmen, dass „die Männer des Loses Belials“ (1QS 2,4–5) als pauschale Bezeichnung der Außenstehenden bzw. der Gegner zu lesen ist. Sie sind verdammt, an ihnen wird Gott Rache vollstrecken: Verflucht bist du ohne Erbarmen entsprechend der Finsternis deiner Taten und verdammt bist du im Dunkel ewigen Feuers […]. Er erhebe Seines Angesichts Zorn zur Rache an dir (1QS 2,7–9).

Noch konkreter wird dies in 1QpHab 10,5 ff, dort wird der Wehe-Ruf aus Hab 2,12–13 auf den „Lügenprediger, welcher viele irregeleitet hat“ (1QpHab 10,9) und seinen Verbündeten gedeutet. Anschließend (1QpHab 10,13) wird ihnen „das Feuergericht“ angesagt, wie auch dem Priester, „dessen Schmach größer wurde als seine Ehre“ (1QpHab 11,12 f).34 Ps 37,7 wird in 4QpPsa 1,25–27 ebenfalls auf „den Mann der Lüge“, der mit Lügenworten gegen „den Erkenntnismittler“ gewirkt hat, bezogen; ihm wird deswegen (![ml) anschließend in 2,1 die Vernichtung angekündigt („sie [werden] zugrunde gehen […] durch Schwert, durch Hunger und durch Pest“, vgl. auch 4QpPsa 2,17 f; 3,14–17; 4,7–10). Dieselbe Konstellation wiederholt sich auch in 1QpHab 9,9–12, wonach Gott wegen der Feindschaft zwischen dem Lehrer der Gerechtigkeit und dem Lügenpropheten eingreifen wird und den letzten wegen der Verschuld[ung] am Anweiser der Gerechtigkeit und (an) den Männern seines Rates Gott in die Ha[nd] seiner [Fe]inde gegeben hat, um ihn zu demütigen durch Pein (bis) zu Vernichtung in Seelenbitternissen, weil er frevelhaft gehandelt hat gegen Seine Erwählten.35 32 Schiffman, Community, 12, mit Hinweis auf 1QSa 1,1–5 (V. 1: „am Ende der Tage“); ums Bestehen im Gericht geht es auch in 1QH 3,11 ff. 33 Wie auch in 1QS 5,2; CD 4,3–4 (vgl. Hogeterp, Expectations, 55); CD 3,20–4,4; CD 5,3–5; 1QS 5,1–3.8–10. Zu „Söhne Zadoks“, als Selbstbezeichnung, vgl. Vermes, Leader­ ship, 375–381; Liver, Sons, 10: „The present status of the Zadokite priests within the sect may be interpreted as resembling that of the sect in its entirely as the elect of Israel within the overall framework of the latter-day Israel“. 34 Hier geht es offensichtlich um den Frevelpriester, der „den Anweiser der Gerechtigkeit verfolgt hat“ (1QpHab 11,5), der auch den „Besitz der Armen (~ynwyba) geraubt hat“ (1QpHab 12,10); er wurde von Gott „in die Hand“ seiner Feinde gegeben (1QpHab 9,9–12). Auch die „Glattheiten-Anweiser“ haben die Gemeinde verfolgt (1QH 10,31–35); ihnen wird ebenfalls die Vernichtung angekündigt (vgl. 4QpNah Frgm. 3–4 1,7; 1QpJes Frgm. 23 2,10). 35 Vgl. zur „clear exegetical relationship“ zwischen 1QpHab und 1QpPs37 Callaway, History, 161 f. Die gemeindeorientierte Auslegung und die Gestaltung der Eschatologie mit deutlichem Bezug auf die eigene Konfliktaustragung („der Lehrer der Gerechtigkeit“ gegen den „Frevelpriester“) in 1QpHab 8–9 und 4QpNah Frgm. 3–4 unterstreicht Hogeterp, Expectations, ­70–74. Zu dieser Feindschaft vgl. auch CD 1,14 ff.

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Es ist deutlich geworden, dass die Gemeinde die eschatologische Perspektive der Vernichtung durch das Einwirken Gottes oft in Verbindung mit den eigenen Opponenten als möglichst große Strafe für ihre feindliche Einstellung bringt. Dieses Denkschema kommt im Matthäusevangelium häufig zum Einsatz und wird durch die redaktionelle Bearbeitung sogar deutlich verschärft.

4.1.2 Am Gottesgericht gescheitert: Entmachtete Gegner im Matthäusevangelium Das Matthäusevangelium weist eine eindeutige Tendenz auf, eschatologische Vorstellungen in seine symbolische Welt in verschiedenen literarischen und theologischen Kontexten gezielt einzubeziehen und bedient sich bewusst einer vielfältigen apokalyptischen und forensischen Sprache.36 Diese auffällige Eigenschaft hat das Interesse der Exegeten nach einer langen Zeit einer eher dürftigen Forschungslage in jüngster Zeit geweckt, sodass die Inhalte und die Funktionen der matthäischen Eschatologie zuletzt mehrmals in verschiedenen Studien untersucht wurden.37 Dieser Tatbestand und der gezielte Schwerpunkt meiner Fragestellung zwingen mich zu einer Auswahl der zu betrachtenden Texte und zu einer Vorgehensweise, die vor allem Erkenntnisse für eine akkurate Analyse dieser Linie der Konfliktführung liefert. Die sozialen Spannungen stellen einen idealen Hintergrund für die Anwendung der stark dualistischen und bedrohlichen Bilder des apokalyptischen Denkens dar. Von diesem Vorteil hat auch der Redaktor Matthäus profitiert und daraus ein bedeutendes Mittel für den Aufbau seiner Konfliktstrategie gemacht. Die Rolle der Eschatologie lässt sich natürlich in seinem Evangelium nicht darauf reduzieren; weitere wichtige Zusammenhänge (vor allem die warnende Funktion in dem gemeindeorientierten Diskurs Kap.  24 und in den anschließenden Gleichnissen, oder die ethische Anwendung der forensischen Sprache38) bleiben somit zwangsläufig unberücksichtigt.39 Eine ausführliche Beschäftigung 36 Auf den „judgmental tone of Jesus in Matthew“ weist z. B. Garland, Intention, 82–86, hin; theologisch durchzieht die Erwartung des kommenden Gerichts das ganze Evangelium, vgl. Bornkamm, Enderwartung, 13–21; Cope, Role, 116: „The Gospel of Matthew breathes apocalyptic“; Balabanski, Eschatology, vgl. den Abschnitt „The prominence of eschatology in Matthew’s Gospel“, 139–143; Sim, Jesus, 12: „His eschatological material is in fact the most developed in the New Testament with the possible exception of the book of Revelation“; zum „vocabulaire eschatologique proper à l’evangelist“ (22) vgl. besonders Marguerat, Le jugement, 17–31. 37 Vgl. Rölver, Existenz; Balabanski, Eschatology; Sim, Apocalyptic; Marguerat, Le jugement. 38 Vgl. dazu grundlegend Luz, Mt III, 549–551; Balabanski, Eschatology, 146 f; Bornkamm, Enderwartung, 29; Sand, Gesetz, 115–120. 39 Einige kurze Überblicke zur matthäischen Eschatologie findet man bei Luz, Mt III, ­544–561; Baarlink, Eschatologie, 67–121; Hagner, Apocalyptic, 53–82; sehr lesenswert für einen Forschungsüberblick zur matthäischen Eschatologie siehe Macaskill, Revealed, 241–248.

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mit der matthäischen Eschatologie würde aber im Rahmen einer Konfliktanalyse wenig Sinn machen. Es ist wegen der Eingrenzung der Thematik naheliegend und für die Analyse sehr hilfreich, einen gezielten Blick exklusiv auf die Texte zu werfen, in denen das gerichtliche Instrumentarium zu einer effektiven Waffe im Kampf gegen die verschiedenen Gegnergruppen wird, umso mehr, weil dieser Aspekt in der eindeutig von Streit gekennzeichneten Schrift bisher kaum die verdiente Aufmerksamkeit bekommen hat.40 Nur sporadisch hat man die Verbindung zwischen der wuchernden eschatologisch-forensischen Sprache bei Matthäus und der eskalierten Konfliktstufe gezogen.41 Eine der Grundvoraussetzungen dieser Untersuchung ist es, dass das Interesse des Redaktors an Ausdrücken, Vorstellungen der apokalyptischen Welt, mindestens teilweise durch den Wunsch motiviert war und ebenso die Funktion innehatte, den in seinem Umfeld mächtigen Pharisäern das vernichtende Gericht Gottes entgegenzuhalten. Der eschatologische Topos wird dadurch als Konfliktmittel instrumentalisiert; die soziale Schwäche der belagerten Gemeinde erhält auf diskursiver Ebene eine symbolische Verstärkung im Horizont des bevorstehenden göttlichen Gerichts.42 Eine erklärende Absicht drückt sich also darin aus, diesen Sprachgebrauch sozial in der Konfliktsituation zu verorten. Anhand einiger einschlägigen Texte gilt es nun deskriptiv die matthäische Strategie von Fall zu Fall zu verdeutlichen. Einige Beobachtungen an dem Wortfeld und an den narrativen Kontexten, in denen Matthäus die apokalyptisch-eschatologische Begrifflichkeit und Metaphorik einsetzt, erlauben die Annahme, dass die Gegner oft selbst direkt oder durch die möglichen Assoziationen zwischen verschiedenen Szenen der Verurteilung Gottes anheimfallen (werden).

40 Unter den Funktionen der Apokalyptik in Mt, die Hagner, Apocalyptic, 74–76, listet („Instruction“, „Encouragement“, „Paraenesis“, „Readiness“), findet die polemische Role keine Beachtung. 41 Angedeutet wird das z. B. bei Glasson, Anti-Pharisaism, 319: „Matthew has exagerated the anti-pharisaic element and emphasized the eschatology“; auch Freyne, Vilifying, 135: „Only  a rhetoric inspired by apocalyptic hatred could achieve the desired effect“; Hummel, Auseinandersetzung, 152: „Die Gerichtsbotschaft des Matthäus darf freilich nicht vom historischen Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem pharisäisch geprägten und geleiteten Judentum gelöst werden“; Sim, Strategies, 492. Stanton, Judaism, 264–284, hat als erster diese zwei Charakteristika der matthäischen Redaktion exemplarisch dargelegt und in ein kausales Verhältnis zueinander gestellt: „I am suggesting that the heightened anti-Jewish polemic and the greater proeminence given to apocalyptic are both related to the particular circumstances of Matthew’s community“ (281); dieses Interesse, die matthäische Eschatologie mit den konkreten sozialen Umständen in Verbindung zu bringen, nimmt dann Sim, Apocalyptic, erneut wieder auf. 42 Das Gericht als „one of the most forceful pragmatic techniques in the vilifying process“ ist auch sonst im NT verwendet – 2Kor 11,15; Gal 5,10; 2Petr 3,16; 1Thess 2,16; 2Thess 1,8 usw., vgl. Du Toit, Vilification, 410.

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Die Rede des Täufers (Mt 3,7–12) ist ein Bündel von apokalyptischen Vorstellungen und bringt zum ersten Mal eine Reihe von Bildern und Motiven, die auch in den Diskurs von Jesus aufgenommen werden, in Umlauf. 3,7–10 steht seiner Q-Vorlage 3,7–9 sehr nahe, nur führt Matthäus durch den Adressatenwechsel eine auffällige Richtungsänderung ein. Johannes beginnt seine Rede bei dem Anblick der kommenden Pharisäer und Sadduzäer (3,7: ἰδὼν δὲ πολλοὺς τῶν Φαρισαίων καὶ Σαδδουκαίων) und spricht nicht wie Lk  3,7 (ἔλεγεν οὖν τοῖς ἐκπορευομένοις ὄχλοις)43 die Menge an. Die veränderte Kommunikationssituation macht schon hier auf die gezielte Differenzierung zwischen den Autoritäten und der Volksmenge aufmerksam (vgl. dazu 3.1.2). Die Autoritäten kommen zum Ort des Geschehens (3,7: ἐπὶ τὸ βάπτισμα) vermutlich aus Jerusalem, geraten aber sofort unter Kritik des Täufers. Schon die Anrede (γεννήματα ἐχιδνῶν44) bildet einen Höhepunkt  – mit ähnlichen Worten beendet Jesus in 23,33 die Weherufen. Die rhetorische Frage in 3,7b (τίς ὑπέδειξεν ὑμῖν φυγεῖν ἀπὸ τῆς μελλούσης ὀργῆς;), die ursprünglich einen guten Ausgang nicht ausschloss, gewinnt deswegen bei Matthäus neue Konnotationen: Es scheint, dass die Rettungschance schon verspielt wurde, daher klingt die Frage eher wie ein

43 Es besteht kein Zweifel daran, dass Matthäus an der Stelle modifiziert hat – vgl. Meier, John, 389; Luz, Mt I, 206 („auf die Pharisäer und Sadduzäer [beschränkt], die er vom buß­ fertigen Volk [V. 5 f] unterscheidet“); Kienle, Feuermale, 52; Marguerat, Le jugement, 45; Balabanski, Eschatology, 140; Seveich-Bax, Israels, 28 f. Angesichts dieser Eindeutigkeit ist die Behauptung von Walker, Heilsgeschichte, 87, unverständlich: „Obgleich bei Matthäus die Verse 3,7b–9 an die Repräsentanten Israels von 3,7 a, die Pharisäer und Sadduzäer (red.), adressiert sind, gibt er dem Stoff dieselbe Stoßrichtung, die er schon in Q besaß: das Täuferwort ist ganz auf Israel und seine Erschütterung ausgerichtet“. 44 Vgl. Dtn 32,33; Sir 39,30; 1QH 5,27; CD 19,22. In der LXX steht an keiner einzigen Stelle ἔχιδνα als Übersetzung für h[pa (vgl. aber Jes 59,5Th, nach Hatch / Redpath, Concordance, Bd. 1, 591). Das Motiv wird allgemein ethisch als durch und durch böse (vgl. Konradt, Israel, 238: „abgrundtiefe Bosheit“), als „Verstellung und Falschheit“ (Gnilka, Mt I, 68–69), mit Bezug auf die gefährliche Einflussnahme der angesprochenen Führer („These leaders have been poisoning the people“, vgl. Charette, Theme, 122, Anm.  2) oder schon als Bedrohung am Jesu Leben (Nolland, Mt, 143) aufgefasst. Auffällig an den drei Stellen 3,7; 12,34; 23,33 ist jedoch der unmittelbare forensische Kontext. Diesem Tatbestand kommt die Motivanalyse von­ Dobbeler, Gericht, 132–135, entgegen. Ausgehend von Jes 59,1–20 und 1QH 11,7–18 wird verständlich, „dass der Begriff ‚Schlange‘ (vgl. Jes 59,5) im Kontext von Gerichtsankündigungen verwendet werden konnte und zwar als eine Metapher für die Personengruppe, die im Gericht nicht bestehen wird“ (ebd., 135); das könnte aber nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn h[pa tyrhw in 1QH 11,12 als „pregnant with a serpent“ (Martínez / Tigchelaar (Hg.), Dead Sea Scrolls, 165) und nicht als „Wahn-Schwangere“ (Maier, Die Qumran-Essener, Bd. I, 69, der in der Anm. 216 die vorhin erwähnte Übersetzung ablehnt) übersetzt wird. Diese Exegese macht aber erst dank der matthäischen Redaktion durch die Eingrenzung des Adressatenkreises Sinn, denn die Predigt des Täufers war an sich eine Umkehrpredigt (vgl. 3,2); auch Kingsbury, Conflict, 60, Garland, Intention, 170 f, sehen diese Sprachwendung in unmittelbarer Beziehung mit dem Gericht.

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Urteil. Das wirkt sich auch auf V. 8 (ποιήσατε οὖν καρπὸν45 ἄξιον τῆς μετανοίας) aus – die Aufforderung wird zur Bedrohung.46 Dieser Eindruck befestigt sich in 3,10b, dort scheint das Gericht unvermeidlich und nur noch konstatiert zu sein. Das Motiv der Axt (3,10a), die schon an der Baumwurzel liegt,47 wird variiert auch später erneut verwendet (7,16–20) und nimmt die traditionale Vorstellung der Pflanzung Israels auf. Nur durch das Früchtebringen kann sich der Baum noch vor dem Feuer retten. Πῦρ (+ βάλλω)48 ist ein ständiger Begleiter in den Passagen, in denen ethisches Verhalten eingeschärft wird (Mt  5,22; 18,8–9; 25,41), kommt aber als persönliche Bedrohung direkt in 3,10.12 // Lk 3,9.17 und assoziativ in 13,40.42 vor, wobei mit οἱ υἱοὶ τοῦ πονηροῦ in 13,38 möglicherweise die Gegner selbst gemeint sind.49 Dazu ist auch κατακαίω zu erwähnen  – 3,12 // Lk  3,17; 13,30[trad.].40[trad.]. Damit aufgrund der Vegetationsmetaphorik eng verwandt ist auch 15,13 (vgl. ἐκριζόω [red.]; auch in 13,29[trad.]). Dort ‚entgleist‘ die Rede des matthäischen Jesus unerwartet und geht von der Toraauslegung zu vernichtenden Endzeitvorstellungen über. Auf die Frage, ob die Autoritäten die Bedingung erfüllen, um sich vor dem Gerichtsfeuer zu retten, liefert Mt  21,43 eine eindeutig negative Antwort. An­ gesichts des angegebenen Kriteriums ist die aus der Zugehörigkeit zu dem Volk Israel abgeleitete Heilssicherheit (3,8: πατέρα ἔχομεν τὸν Ἀβραάμ) unbegründet und schädlich. Diese Ankündigung ist nicht an ganz Israel gerichtet, auch nicht 45 Καρπός (+ ποιέω) erhält vor allem im ethischen Bereich im Sinne der persönlichen Anstrengung in Anbetracht des nahestehenden Gerichts die Hauptbedeutung (Vgl. Mt 7,16–18.20; 13,8; 13,26; 21,41.43; dazu Sand, Gesetz, 114: „Die redaktionelle Verschärfung der Aufforderung zum ‚Frucht bringen‘ bei Matthäus [dient] dem Zweck, das Tun des Menschen notwendige Erfüllung der Forderung Gottes herauszustellen und diese Forderung zu kennzeichnen vor dem Hintergrund des Gerichtes“; Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 179: „Mt verschärft das Fruchtbringen durch den Gerichtsgedanken“). Es wird die Dringlichkeit der Taten mit der Nuance ausgedruckt, dass die Geduld Gottes schon aufgebraucht ist, wird aber z. B. in 3,8.10 // Lk 3,8.9; 7,19[red.]; 12,33 // Lk 6,43 f in Bezug auf die Kontrahenten verwendet. 46 „Insinuating command“ (Gundry, Mt, 46); vgl. auch Carter, Margins, 97 f: „John’s preaching and baptism divides the repentant and unrepentant. The religious leaders belong to the latter“; Gnilka, Mt I, 69; Patte, Mt, 47. 47 Vgl. Jes 10,33–34; Jer 11,19; Ez 31,12 f; Dan 4,11. 48 Religionsgeschichtlich ist das Feuer ein vernichtendes Mittel gegen die Ungerechten am Tag des Gerichtes, vgl. S. 199. Dazu auch Reiser, Gerichtspredigt, 159; Rölver, Existenz, 519 f; Dobbeler, Gericht, 141; Kienle, Feuermale, 50: Matthäus ist dabei „der profilierteste Zeuge für die Belege der Dimension von πῦρ“ unter den Synoptikern; Luz, Mt I, 209: „‚Feuer‘ ist ein zentrales Stichwort der ersten und der letzten Verkündigung im Matthäusevangelium“ (3,11 und 25,41). Die Analyse von Rölver, Existenz, 517–52, hat ergeben, dass mit πῦρ als metaphorischer Begriff bei Matthäus „ausschließlich die vernichtende Seite des eschatologischen Geschehens bezeichnet wird“ (520). 49 Die stereotypische Formel ὁ κλαυθμὸς καὶ ὁ βρυγμὸς τῶν ὀδόντων (8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30) wird in 24,51 red. mit αὐτοῦ μετὰ τῶν ὑποκριτῶν verbunden – ein eindeutiger Hinweis auf die Gegner.

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an die große Menschenansammlung, sondern gezielt an die religiösen Verantwortlichen, die ihren Status ausnutzen und die auch für das Volk selbst zum Verhängnis werden können. In einem weiteren eschatologischen Bild wird dasselbe Verhältnis nochmals festgehalten: „Der Kommende“ (V. 11: ἐρχόμενος)50 ist gerade dabei, Spreu und Weizen voneinander zu trennen (vgl. auch 13,25.29 f). Deutet der markinische Bericht rein wegen der Reihenfolge auf die Identifizierung des „Stärkeren“ mit Jesus hin (Mk 1,8 f), so enthält das redaktionelle Gespräch in Mt 3,13–15 direkte Hinweise dafür: Indem Johannes sich weigert, Jesus zu taufen, entsteht in V. 14 durch den Rückbezug auf die Feuer- und Geisttaufe in V. 1151 eine logische Identifizierung der eschatologischen Gestalt mit Jesus. Die Eschatologie trifft also an dieser Stelle zum ersten Mal auf die Christologie; das zukünftige Gerichtsverfahren wird dadurch ‚geerdet‘ und knüpft an die narrative Konfliktgeschichte an – Jesus ist der eigentliche Gerichtsagent und durch ihn werden die Kontrahenten der Gemeinde das Urteil Gottes zu spüren bekommen. Die endzeitlichen Ereignisse nehmen ihren Anfang in der erzählten Welt und überlappen sich mit dieser, ohne, dass das Evangelium zu einem fiktiven Ort der eschatologischen Konfrontation wird. Die Gegner fallen aber von Anfang an schon in der Predigt des Täufers in die ungünstige Kategorie der Verurteilten. Umso mehr wird Jesus selbst dieses Urteil bestätigen und auf symbolischer Ebene als Weltrichter es schon durchführen, denn „the conflict between John and the unrepentant Pharisees foreshadows, Jesus’ own confrontation with them“.52 Die Antwort Jesu auf die ablehnende Haltung der Pharisäer gegenüber seinen Wundertaten (12,24) gewinnt am Ende verschärft eschatologische Töne. Mt 12,33–35 übernimmt mit kleinen Veränderungen und Umstellungen Q 6,43– 45. Das Motiv des „Früchtebringens“ erinnert dank der red. Zufügung in 12,34 (γεννήματα ἐχιδνῶν) noch mehr an die Gerichtsrede des Täufers. Der matthäische Jesus selbst verschärft seine Rede in den folgenden zwei Versen mit der 50 Wer damit ursprünglich gemeint war, ist umstritten. Für die Gestalt des Menschen­ sohnes argumentieren Becker, Johannes, 35 f; Arnal, Fabrication, 171, 173 (mit Hinweis auf Dan 7,13Th); Geist, Menschensohn, 55; Gnilka, Mt I, 72 f. Mehr Unterstützung hat die Iden­ tifizierung mit Gott selbst erhalten, vgl. nur Reiser, Gerichtspredigt, 171–173; Dobbeler, Gericht, 147. 51 Das Feuer ist hier als Hinweis auf den Tag des Gerichtes zu deuten (vgl. Cullmann, Baptism, 10; Luz, Mt I, 208: „Der Menschensohn ist der irdische und in seiner Gemeinde präsente Jesus und zugleich der kommende Gerichtsherr“) und nicht als eschatologische Reinigung der Sünden (Kienle, Feuermale, 62: „Heilsansage“) oder als „anderes Wort für den Heilgen Geist“ (Wilkens, Täuferüberlieferung, 556). 52 Gelpi, Born, 204. Johannes der Täufer und Jesus haben dieselben Gegner (vgl. Meier, John, 389). Somit stehen Johannes und Jesus auch die Gegnerschaft betreffend „im analogen Verhältnis“ (Frankemölle, Johannes, 213; vgl. auch Nepper-Christensen, Taufe, 193;­ Russell, Image, 437: „Both John as well as Jesus received the same hostile treatment“; zum engen Verhältnis Jesus  – Johannes der Täufer in Mt, vgl. Enslin, John, 5 f; Wainwright,­ Reading, 34, 36).

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ausdrücklichen Erwähnung der ἡμέρα κρίσεως (V. 36)53 gegen die murrenden Pharisäer54 und der bevorstehenden Verdammung (V. 37: καταδικάζω). Diese Intensivierung der Gerichtsthematik55 erleichtert den Übergang zu den nächsten Textabschnitten. Die Reihenfolge der Logien ist erheblich von redaktionellen Interessen geprägt. Matthäus ordnet seine Quellen (Q 11,16.24–26.29–32)56 neu an, damit die Zeichenforderung der Schriftgelehrten und Pharisäer (12,38–42) unmittelbar als Fortsetzung des polemischen Gesprächs57 erscheint. Nicht nur die selbstgewählte Perikopenordnung, sondern auch der temporale Anschluss (V. 38[red.]: τότε) mit Bezug auf das gerade Geschehene sorgt für einen nahtlosen Übergang. Der weitergeführte Gerichtsgedanke strukturiert ebenfalls wie auch in Lk 11,30–32 thematisch die nächsten Textblöcke. Die Antwort Jesu auf die Frage nach einem Zeichen (V. 39–40) und das JonaLogion (V. 41) verschmelzen bei Matthäus dank der intrinsischen Verbindung zu einem einheitlichen Gedankengang. Matthäus redigiert einerseits assoziativ und nimmt Jona als Bindeglied für seine neugeschaffene Logienordnung,58 aber auch die Gerichtsthematik trägt und motiviert seine Umstellung – mit dem Begriff ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου „ist der Hinweis auf das Gericht gegeben“.59 Dadurch wird an den redaktionellen Verweis auf die Auferstehung Jesu aus V. 40b in V. 41a auch eine gerichtliche Konsequenz angehängt: Die Männer von Ninive werden ἐν τῇ κρίσει aufstehen60 und dieses Geschlecht richten (vgl. 12,36[red.], bzw.

53 Wie auch in 10,15; 11,22.24; vgl. Jes 34,8; 2Hen 39,2; Jub 4,19; PsSal 15,12. 54 Erneut ἐν τῇ κρίσει μετὰ τῆς γενεᾶς ταύτης in 12,41.42 // Lk 11,32.31, als dieselben Pharisäer zusammen mit den Schriftgelehrten ein Zeichen fordern. 55 Vgl. auch Gundry, Mt, 240: „Matthew composes the last two sayings in this section to emphasize the judgment of persecutors“. 56 Zur mt red. Tätigkeit vgl. Laufen, Doppelüberlieferungen, 139 f: Der Einschub von 12,32 und 12,33–37 wie auch weiter die Umstellung von Lk 11,24–26.29–32 gehen auf ihn zurück; Gundry, Mt, 241 f. Einen leichten Einfluss von Mk 8,11 f auf Mt 11,38 nehmen Walker, Heilsgeschichte, 90, Anm. 60; Davies / Allison, Mt II, 333 an („this makes Mt 12,38–42a a testing or conflict story“, ebd., 351). 57 Vgl. Hummel, Auseinandersetzung, 126; Konradt, Israel, 238: „Die Zeichenforderung erscheint als ihre Replik“; Gundry, Mt, 242 („an antagonistic riposte to Jesus’ foregoing­ warning of eternal judgment“). 58 Reiser, Gerichtspredigt, 193 („Stichwortverbindung“). 59 Geist, Menschensohn, 282; vgl. auch Luz, Mt II, 280; Schenk, Menschensohn, sieht darin eine matthäische Charakteristik: „Erst Mt machte den MS zum ‚Richter‘“ (127); noch mehr wird diese Bezeichnung in eine Konfrontation eingebracht (139); zum MS als Gerichtsagent in Mt  12,38–42 vgl. auch Maddox, Function, 66. Walker, Heilsgeschichte, 54, sieht V. 40 ebenfalls als Vorbereitung der Gerichtsverkündigung. 60 Gemeint ist nicht die Auferstehung, sondern das Auftreten in dem Gericht gegen jemanden (vgl. Reiser, Gerichtspredigt, 197 f). Selbst Jona ist hier Gerichtsverkünder, vgl. Nolland, Mt, 511 (Jona „in his role as a preacher of judgment“; vgl. auch Giblin, Structural, 415–416; zur Jona-Rezeption als Gerichtsprophet im Frühjudentum vgl. Bryan, Jesus, 43: „a sign of unavoidable Judgement“).

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12,37[red.]);61 das wiederholt sich mit identischen Begriffen, aber mit anderen Protagonisten,62 auch in 12,42. Schließlich wird auch der Passus von dem Rückfall (12,43–45 // Lk 11,24–26) wegen der red. Zufügung (οὕτως ἔσται καὶ τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ πονηρᾷ) zur Gerichtsaussage gegen die Kontrahenten. Zum dritten Mal ab V. 38 kommt also der Gerichtsgedanke in diesem Streitgespräch vor63 und verleiht dieser ständigen Auseinandersetzung zuerst um die Wundermacht Jesu mit den Pharisäern, dann um die an sich überflüssige Zeichenforderung64 der Pharisäern und Schriftgelehrten in V. 45 einen vorläufigen Abschluss. Mt  12,43–45 geht mit der Vorstellung von bösen Geistern, die nach einem Rückschlag erneut und vermehrt wiederkehren, wegen der eher metaphorischen parabelhaften Ebene, auf der er spielt, sehr vage um. Dieses entwurzelte Logion kann man m. E. nicht mehr sehr genau auf den unmittelbaren narrativen Kontext beziehen, ohne diesen auf das Logion hin nötigen zu müssen.65 Durch die 61 Dies dürfte der eigentliche Grund für die vorgenommene Umstellung sein: „Weil diese [die Erläuterung des Jona-Zeichens] aber weder Drohwort-Charakter besaß noch das Stichwort ‚dieses Geschlecht‘ enthielt, nahm Matthäus innerhalb des Doppelspruchs eine Umstellung vor“ (Reiser, Gerichtspredigt, 193); die meisten Kommentatoren nehmen hier einen red. Eingriff an; die schwierigere Reihenfolge aus Lk 29–32 gilt als primär (vgl. Geist, Menschensohn, 278; Strecker, Weg, 103; Luz, Mt II, 273: „Die mt Umstellung hängt mit der neuen Deutung zusammen“). Die mt 2. Person Sing. „lässt das Drohwort noch direkter erscheinen“ (Wiefel, Mt, 239). 62 Die Geschichte von „Königin des Südens / von Saba“ befindet sich in 1Kön 10,1–13 und 1Chr 9,1–12; auch TestSal 19,3; 21,1 erwähnt ihren Namen; von dem König des Südens als Ptolemäer spricht Dan 11,5.6 (vgl. Reiser, Gerichtspredigt, 198). 63 Vgl. Luz, Mt II, 282: „Nach V. 41 f hat Matthäus damit das Jüngste Gericht vor Augen“. 64 Und zwar ist dies aus dem Grund überflussig „that they already have access to adequate sources of insight if they truly want it“ (Carter, Margins, 276). 65 Angenommen, wie die ganze Kontroverse durchgehend naheliegt, dass „dieses Geschlecht“ narrativ die Kontrahenten als verbale Angreifer benennt (vgl. dazu Konradt, Israel, 239 f; Repschinski, Stories, 135 f, Anm. 176; Sand, Gesetz, 91), ist es entscheidend, mit wem man diese Formel innerhalb der kurzen abschließenden Parabel identifiziert. Eine erste vorgeschlagene Variante wäre der Rückbezug auf das unmittelbar Vorangehende: καὶ γίνεται τὰ ἔσχατα τοῦ ἀνθρώπου ἐκείνου χείρονα τῶν πρώτων – Die Autoritäten lassen sich durch Jesus von ihren bösen Einstellungen nicht abbringen und werden zuletzt im Gericht scheitern, wie (οὕτως) es dem besessenen Menschen am Ende deutlich schlechter als zuvor geht. Diese Variante wird mit Recht aus dem Grund strittig gemacht, dass auf der Makrotext-Ebene weder die Pharisäer noch andere Gegner an keiner Stelle von Jesus geheilt werden (vgl. Repschinski, Stories, 140: „It does not make sense to speak of them being exorcized“). Deswegen versucht man dieses Rätsel anders zu lösen, indem man „dieses Geschlecht“ mit den vertriebenen Geistern identifiziert (Repschinski, Stories, 140; Konradt, Israel, 241); die gute Voraussetzung dabei ist, dass auch sonst die Autoritäten in Beziehung mit dem Teufel gebracht werden. Auch diese zweite Variante steht aber bei näherer Betrachtung mit der matthäischen Applikation in V. 45c in einem eklatanten Widerspruch: Den Geistern, die in das leere, gekehrte und geschmückte Haus (V. 44b)  zurückkehren, geht es eigentlich besser als zuvor, nur der erneut besessene Mensch hat darunter noch mehr zu leiden. Matthäus sagt also in V. 45c genau das Gegenteil: οὕτως ἔσται καὶ τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ πονηρᾷ ist eine negative Aussage über „dieses Geschlecht“. Somit können die Geister in der Parabel nicht die Autoritäten symbolisieren, denn den Geis-

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ses ­Logion soll einfach der Gegnergruppierung abschließend angesichts ihrer Lernunfähigkeit und strukturellen Bosheit die unausweichliche Verdammung im Endgericht (τὰ ἔσχατα V. 45b) angekündigt werden.66 Die Botschaft ist also: Den Autoritäten kann es nur noch schlechter gehen; πονηρός (V. 45a) und γενεὰ (πονηρά) (V. 45c[red.]) stehen in dieser Hinsicht am Ende einer ganzen Reihe (12,34.353. bzw. 12,39.41.42) und zeigen eindeutig, dass an dieser Stelle im bedrohlichem Gerichtswort der entbrannte Zorn Jesu sein Ziel erreicht hat. Ein weiteres Motiv aus der Rede des Täufers baut Matthäus mitten in eine Tora-Debatte ein (15,12–14; zum ganzen Streitgespräch über das Händewaschen vgl. 3.2.2). Auf die besorgte Bemerkung der Jünger über den Unmut der Pharisäer folgt in Form von zwei kleinen Gleichnissen, mit einer Aufforderung Jesu dazwischen, eine disqualifizierende, teils apokalyptisch gefärbte Aussage über die Gegner (15,13 f), von ihnen Abstand zu nehmen (15,14a: ἄφετε αὐτούς67). Die erste Parabel übernimmt in kompakter Form den Inhalt und die Pointe der trad. Überlieferung von 13,24–30.36–43, steht aber auch Mt 3,10 sehr nahe und ebenso der ‚Frucht-Thematik‘ allgemein:68 Gott wird alle Pflanzen ausreißen,69 tern geht es am Ende besser; so eine Annahme würde den Sinn der Parabel völlig verdrehen. Ein weiteres Problem dieser Lösung ist ihre logische Konsequenz: Wenn man die Parabel so interpretiert, dass es der Menge wegen des gesteigerten bösen Einflusses der Autoritäten im Endeffekt schlechter gehen wird (‚die bösen Geister = die Autoritäten‘ ergo ‚der geheilte Mensch = die israelitische Menge unter dem irreführenden Einfluss der Pharisäer‘, vgl. Repschinski, Stories, 141: „Israel has become possessed by evil spirits, by an evil and adulterous generation, by the opponents of Jesus“; Konradt, Israel, 241: „Das Gleichnis thematisiert die Gefahr, dass die Autoritäten erneut Einfluss auf die Menschen gewinnen“; Trunk, Heiler, 101: „das jüdische Volk“), dann bezieht man den negativen Schluss V. 45c nicht mehr auf die Autoritäten, sondern auf die Volksmenge selbst und dadurch wird der ursprünglich festen Annahme widersprochen, mit γενεὰ πονηρά seien die Autoritäten gemeint. Auch diese Variante endet also, wenn man mit Recht an der Identifizierung von γενεὰ πονηρά mit den Autoritäten festhalten will, in einer logischen Aporie. V. 43–45b sind wegen ihrer abgesonderten Verwendung fern von jeder Geisteraustreibung m. E. nicht mehr als ein eng kontextbezogener Passus zu betrachten, sie veranlassen vor allem Matthäus wegen der konklusiven Komparativform γίνεται … χείρονα in V. 45b die redaktionelle Gerichtsankündigung an die Autoritäten in V. 45c („eschatologische Färbung“ von οὕτως ἔσται, wie auch in 13,40.49; 20,16, vgl. Trunk, Heiler, 101) anzuschließen. Vgl. auch Davies / Allison, Mt II, 362: „It seems preferable to think less concretely (Hervorhebung von R. P.) of the sorry state of ‚this generation‘ in general“. 66 Dass dies der Grund für diese Umstellung sein dürfte, meint auch Geist, Menschensohn, 288: „Er verwendet es [gemeint ist Lk 11,24–26] hier als Gerichtsdrohung, indem er es […] eschatologisch umdeutet“; Kosch, Tora, 179 („Gerichtsankündigung“). 67 Das Wort ist umso verständlicher, wenn man mit Repschinski, Stories, 163, annimmt, dass die pharisäische Bewegung in der Zeit nach der Tempelzerstörung eine gewisse Anziehungs­kraft auf das Volk allgemein aber auch auf Mitglieder der matthäischen Gemeinde ausüben konnte. 68 Charette, Theme, 131. 69 Vgl. zu ἐκριζόω – Jes 5,5 (διαρπαγή); Jer 1,10; PsSal 14,4 (negativ – ὀυκ ἐκιλήσονται). Zu Israel als Pflanzung Gottes: Jes 5,1–5; 60,21; 61,3; Jer 39,41LXX;1Hen 10,16; 62,8; Jub 1,16; 7,34; 1QS 8,5; 11,8; CD 1,7; 1QH 14,15; PsSal 14,3 f; MarJes 4,3.

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die er nicht gepflanzt hat. Mit Recht sieht Petra von Gemünden70 an dieser Stelle eine Verschärfung der Fruchtmetaphorik, weil „der Bildgebrauch […] nicht auf eine Verhaltensänderung abzielt […], sondern den Pharisäern die Zugehörigkeit zur Pflanzung Gottes abspricht“. Die Androhung des Gerichtes ist dem neuen Kontext entsprechend auf die Pharisäer zu übertragen. Ihr abwegiges Tora­ verständnis ist mit einer göttlichen Erwählung einfach unvereinbar; nur im Endgericht wird ein solches Vergehen angemessen bestraft. Das zweite Gleichnis hat Matthäus in Q 6,39 in einem neutralen Kontext vorgefunden. Dieses wandelt sich aber jetzt in ein schmähendes Wort gegen dieselben Pharisäer. Durch den Vorwurf der Blindheit (15,14b: τυφλοί εἰσιν ὁδηγοί) wird ihnen jede Führungskompetenz abgesprochen.71 Um dem unglücklichen Ende auszuweichen, ist es nach der Meinung von Matthäus geboten, die Gesellschaft und vor allem die irreführenden Anweisungen der Pharisäer um jeden Preis zu vermeiden. Erneut geraten die Pharisäer und die Hohenpriester unter dem apokalyptischen verbalen Angriff Jesu im Anschluss an der Parabel über die bösen Weingärtner (21,40–46, vgl. dazu auch 3.3.2). An dem Punkt, in dem die überheblichen Winzer ihren Plan den Sohn selbst zu töten, durchführen, womit die Erzählung die höchste Spannungsstufe erreicht hat, bricht Jesus ab und fordert seine Kontrahenten dazu auf, den Erzählfaden weiter zu spannen.72 Matthäus lässt sie selbst die Antwort formulieren, und in ihrem angeblich rechtliebenden Urteil machen die Anvisierten nichts anderes, als über sich selbst  – ironischer Weise – naiv und unwillentlich im Spiegel der Parabel das Urteil zu sprechen:73 κακοὺς κακῶς ἀπολέσει αὐτούς (21,41a [red.]). Erst jetzt, nachdem ausschließlich die handelnden Personen lange Zeit die Akteure des Geschehens waren,

70 Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 175. 71 Das ist im Grunde genommen die Applikation von τυφλὸς δὲ τυφλὸν ἐὰν ὁδηγῇ, ἀμφότεροι εἰς βόθυνον πεσοῦνται; vgl. Kingsbury, Conflict, 62; Luz, Mt II, 426; Charette, Theme, 132. Wenn manchmal βόθυνος auch für Sheol stehen kann (vgl. Davies / Allison, Mt II, 533, mit Hinweis auf Hiob 33,18; Ps 16,10; 30,9; Jes 38,18), dann tritt das eschatologische Kolorit noch stärker hervor; vgl. dazu auch 23,15. Als ganze ist der Satz eine profane Redensart (vgl. Schrage, Art. τυφλός, 270–294); zu einer ziemlich genaueren Entsprechung vgl. Philo, Virt 7, ferner LegAll III 109 f; TestRub 2,8 f; verschiedene Varianten von „in die Grube fallen“ mit unterschiedlichen Pointen in Dtn 27,18; Jes 24,18; 43,8; Jer 31,44; Prov 22,14; 26,27; Koh 10,8; Sir 27,26; Ps 7,16; zu „blinden Führern“ Xen.mem. I 3,4 (ἡγεμόνα τυφλὸν καὶ μὴ εἰδότα τὴν ὁδὸν) (vgl. Hor.ep. I 17,3 f); zum Wandeln in der Finsternis vgl. Jes 59,10; 1QS 4,11; TestJuda 18,3; CD 1,9 („wie Blinde und Weg Tastende“); zum Irreführen vgl. CD 5,20; 1QpMi Frgm. 11,1; 4QpNah Frgm. 3–4 2,8; 3,5 f; 11,1; 4QpPsa 1,26; TestLevi 10,2. 72 Nur Matthäus fügt ausdrücklich λέγουσιν αὐτῷ (V. 41) ein, in Mk 12,9 // Lk 20,15 ist die Frage Jesu nur rhetorisch und er beantwortet sie selbst. 73 Vgl. Luz, Mt III, 224; Gielen, Konflikt, 217; Repschinski, Stories, 315; Konradt, Israel, 188; Klauck, Gleichnis, 125; Olmstead, Trilogy, 89, 114 („by issuing their own condem­nation“); Nolland, Mt, 875 („self-condemning“); Carter / Heil, Parables, 163 („selfcondemnation“).

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kommt durch ihre Antwort auch der Weinberg wieder in das Gespräch: καὶ τὸν ἀμπελῶνα ἐκδώσεται ἄλλοις γεωργοῖς, οἵτινες ἀποδώσουσιν αὐτῷ τοὺς καρποὺς ἐν τοῖς καιροῖς αὐτῶν (21,41b). Jesus übernimmt das Thema und macht daraus ein Scheltwort, welches zahlreiche biblische Zitate und Anspielungen beinhaltet.74 Schon das Kommen (V. 40: ὅταν οὖν ἔλθῃ ὁ κύριος τοῦ ἀμπελῶνος) des Besitzers „suggests a judgment that is eschatological in tone“,75 aber besonders ab V. 43, wird die bloße erzählimmanente Intervention der Gegner (V. 41) zu einer echten Gerichtssprache gesteigert (vgl. 21,43: διὰ τοῦτο). In diesem Sinne muss man zwischen V. 42 und V. 43 eine Zäsur setzten, nach der die eher harmlosen, weltbezogenen bisherigen Motive in die entsprechenden Gerichtsmetaphern umschlagen. Fortgeführt werden die Zitate in V. 43 f mit einer negativen Anspielung auf Dan 2,44Th (ἡ βασιλεία αὐτοῦ λαῷ ἑτέρῳ οὐχ ὑπολειφθήσεται76), indem Jesus die Prophezeiung auf den Kopf stellt und sie mit dem Motiv des Früchtebringens ergänzt. Die matthäische Ergänzung im red. V. 43: ἀρθήσεται ἀφ’ ὑμῶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ καὶ δοθήσεται ἔθνει ποιοῦντι τοὺς καρποὺς αὐτῆς hat eine nachhaltige Debatte darüber veranlasst, ob es an der Stelle um die Ersetzung Israels durch die Heidenvölker geht. Eigentlich werden in V. 43 die Autoritäten selbst an-

74 Bereits in 21,40b klingt in der matthäischen Ergänzung Ps 1,3 an (vgl. Marguerat, Le jugement, 314; Konradt, Israel, 188); in V. 42 übernimmt er von Mk 12,10 f das ganze Psalmzitat 118,22 f (vgl. auch Mt  21,9, der ebenfalls auf Ps  118,26 zurückgreift). Der polemische Charakter wird in V. 42 mit der Frage Jesu sehr deutlich: οὐδέποτε ἀνέγνωτε ἐν ταῖς γραφαῖς, die die Schriftkenntnisse seiner Gesprächspartner wiederum in Zweifel zieht (vgl. auch 12,3.5[red.]; 19,4[red.]; 21,16[red.]; 22,31). Der Eckstein (κεφαλή) ist „the final stone which serves to complete the corner of the house, binding two walls together, and which serves also as an ornament“ (Derrett, Stone, 181) wie in Hiob 38,6; Jes 28,16; in Sach 10,4 schon messianisch gedeutet; „top stone of a fortified wall or battlements“ – Cahill, Cornerstone, 356. Interessant ist die Beobachtung, dass hN"Pi in Jdc 20,2; 1Sam 14,38; Jes 19,13; Sach 10,4; Jes 28,16; 1QS 8,7 (vgl. Derrett, Stone, 185, Anm. 2; Nolland, Mt, 878, mit Hinweis auf CD 4,19; 8,12) „Anführer“ oder „Haupt“ bedeuten kann, was Derrett, Stone, 185, dazu veranlasst, „die Bauarbeiter“ als „Schriftgelehrter“, „Aufbauer in der Tora“ zu verstehen (vgl. auch Snodgrass, Parable, 96, Anm. 102; auch über γεωργός Bayer, Jesus, 102 f; Wilcox, Peter, 86). Die mt Ergänzung οὐδέποτε ἀνέγνωτε ἐν ταῖς γραφαῖς bietet für eine solche Auslegung einen zusätzlichen Anknüpfungspunkt. Somit ginge es buchstäblich darum, dass die Hohenpriester und Pharisäer Jesus abgelehnt hätten. 75 Hagner, Mt II, 621; Gundry, Mt, 428 („an allusion to the parousia as fulfilling the judgmental aspect of the parable“); Lambrecht, Treasure, 119; auch ἀρθήσεται in V. 43 verweist auf das Endgericht (Hummel, Auseinandersetzung, 148). 76 Swales, L’ arrière-fond, 312; Nolland, Mt, 879; Snodgrass, Parable, 68; das Argument stützt sich hauptsächlich auf λικμάω – hapax legomenon (Mt 21,44 = Dan 2,44Th) aber auch auf den unmittelbaren Kontext; in diesem Fall hätten wir eine bewusste Vermeidung von λάος in Mt 21,43. Sonst ist das Gottesreich (ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ) bei Matthäus relativ ungewöhnlich, nur noch in 6,33; 12,28; 19,24; 21,3 aufzufinden und fingiert hier als Parallele zu dem Wein­ garten in V. 41b.

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gesprochen, also „The vineyard is taken from the leaders of the Jews“77 und nicht von dem ganzen Volk Israel.78 Denn ἀφ’ ὑμῶν (V. 43) bezieht sich textimmanent vor allem auf dieselbe Größe wie in V. 41 und 42, nämlich auf die schon in 21,23 eingeführten Hohenpriester und Ältesten des Volkes. Allein diese Textbeobachtung stellt grundsätzlich in Frage, ob ἔθνος hier überhaupt „Heidenvölker“ bedeuten kann; denn die eindeutige Referenz an eine definierte Gruppe sollte dazu führen, dass die Ersatzgruppe einen vergleichbaren Charakter hat.79 Das Gottesreich wegnehmen, ist hier doppeldeutig und bringt eine neue Nuance ins Bild: Einerseits heißt es der Parabel entsprechend, dass den Führern ihre Autorität über Israel entzogen wird, andererseits aber, wie auch anderorts bei Matthäus zu finden,80 dass sie im bevorstehenden Endgericht nicht bestehen werden.81 „Fruchtbringen“ in V. 43 bedeutet die ethische Bemühung, seine Pflichten 77 Snodgrass, Parable, 91. 78 Ob man hier eine Erweiterung im Sinne der Verwerfung Israels vornehmen und auch das Volk Israel mit einbeziehen darf, ist umstritten. Dafür: Luz, Mt I, 226; Childs, Theologie, 400; Marguerat, Le jugement, 319 („Son statut privilégié de peuple choisi est révoqué“); Olm­stead, Trilogy, 91: „The judgement that has fallen on the tenants has national implica­ tions for Israel. He has surrendered the national privilege that was hers“; Hagner, Mt II, 623; Charette, Theme, 37 f; Gielen, Konflikt, 218: „das Volk [bleibt] vom Verhalten seiner Führer nicht unberührt“, vgl. auch 228. Dagegen: Saldarini, Matthew, 60: „Thus the ethnos being rejected is the Jerusalem leadership“; Konradt, Israel, 193–194, 198; Repschinski, Sories, 316: „Israel remains outside of the judgment of the housholder“; Gundry, Mt, 430: „The church does not take the place of Israel as a whole, but of the Jewish leaders“; Snodgrass, Parable, 92: ὑμῖν / ἀφ’ ὑμῶν in V. 43 „is the same group of people who responded in V. 41“. 79 Zur Übersetzung von ἔθνος in der Antike als „kleine Gruppe“, vgl. Saldarini, Matthew, 59 f; Sim, Gospel, 149; Konradt, Israel, 195–200. Oft wird angenommen, dass wegen des Versagens der Autoritäten die Jünger und die Kirche selbst die Führungsbefugnis in Israel über­ nehmen. Vgl. dazu Lambrecht, Treasure, 119: „With ‚nation‘ […] Matthew does not point to the Gentiles […], but to the ideal church, a people which should produce fruits“; Saldarini, Matthew, 60: „The author of Matthew almost certainly refers to his own group“; Ogawa, Paraboles, 139: „ecclesia postulata, c’est-à-dire l’Eglise qu’il faut réaliser“; Roloff, Deutung, 261 („Ekklesiologie der Hoffnung“); Konradt, Israel, 199 („ideale Kirche“); Hare, Rejection, 39; Dillon, Towards; 21: „The statement of 21,43 is […] a most characteristic statement of the selfawareness of the Church of St. Matthew“. Vorsichtiger urteilen Rölver, Existenz: Es handelt sich „um einen theologisch nicht näher qualifizierten Kollektivbegriff “ (232) aber kein „Ablösungsmodell“ (234). Auch Snodgrass, Parable, 94 :„The identification of this new group is left imprecise“; Jones, Parables, 389: „ἔθνος […] refers to an obedient people“. 80 Schon in der Predigt des Täufers rettet das Himmelreich vor dem zukünftigen Zorn (3,2.7); in 8,12 und 25,41 ist das Ausgeschlossensein von der Basileia identisch mit den ewigen Qualen (σκότος, κλαυθμός, βρυγμὸς τῶν ὀδόντων bzw. τὸ πῦρ τὸ αἰώνιον). 81 Infolge dieser eschatologischen Umwandlung / Färbung der Motivik wird die Basileia hier zu einer „‚dritten‘ Größe“, ohne eine genaue Zuordnung im Bildprogramm der Parabel (vgl. Gielen, Konflikt, 227–228; Rölver, Existenz, 228: „unvorbereiteter Wechsel in der Terminologie“). In V. 43 deckt sich das Reich in der Tat nur noch teilweise mit dem Weingarten (= Israel) ab, und der Vers entspricht viel mehr der Argumentationsfunktion von V. 41b. Eine gewisse Unschärfe im matthäischen Argumentationsgang ist offensichtlich (vgl. Rölver, Existenz, 223: Die Anwendung der Parabel stehe „in einer gewissen Diskrepanz zum Parabeltext selbst“) und

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zu erfüllen82 aber nun gehört es im Munde Jesu ebenfalls zur matthäischen Gerichtssprache (vgl. auch 3,8.10; 7,19).83 In V. 44 kehrt das Motiv des Steines zurück, es hat aber dieses Mal seinen Ursprung aus Dan 2,34 f.44,84 wobei auch der Eckstein der Bauleute zum vernichtenden Gerichtsinstrument wird.85 Der Vollbringer dieses Gerichtes ist der erhöhte Sohn Gottes, mit dem sich Jesus hier über die Steinmetaphorik eindeutig identifiziert.86 Man muss aber von zwei unterschiedlichen Bildern ausgehen, die wegen der gemeinsamen Gerichtsthematik eng nebeneinander geraten sind, ansonsten würde diese Reihenfolge keinen Sinn ergeben: „To liken a cornerstone on a parapet to a stumbling-block (which is naturally placed in or upon a path or passage) is to stretch the imagination too far“.87 Dabei geht Matthäus äußert assoziativ vor und konstruiert eine geschickt durchkomponierte Kreuzstruktur von biblischen Motiven: V. 41 ἀμπελών // V. 42 das nicht nur in Bezug auf die βασιλεία τοῦ θεοῦ; eine andere Inkonsequenz wäre z. B., dass in V. 41 der Herr des Weinbergs den bösen Winzern den Garaus macht, in V. 44 aber ist der Stein = der Sohn der eigentliche Richter. Ich meine, dass ab V. 43, mit dem eschatologischen Sprung, die Elemente des Gleichnisses einfach in die übrige Gerichtsmetaphorik des Evangeliums überwechseln, ohne dass man sich besondere Gedanken über einen sanften Übergang macht. Die logischen Unstimmigkeiten sind nur die natürlichen Nebeneffekte eines Versuchs facettenreiche, vielschichtige biblische Symbole in einen argumentativ-linearen Diskurs zu zwängen. 82 Vgl. Weder, Gleichnisse, 161: Das Früchtebringen „verrät eindeutig das paränetische Interesse des Matthäus“. Matthäus erweitert die Wendung καρποὺς ποιεῖν im Vergleich zu seinen Vorlagen erheblich (vgl. Frankemölle, Bund, 279 f). 83 Olmstead, Trilogy, 114 f („connection with judgment“); Marguerat, Le jugement, 310 („la norme du jugement“). 84 Hier ist ferner auch die Annäherung ‚Stein – Reich‘ angelegt, die die begriffliche Brücke darstellt, die den Übergang von V. 42 zu V. 43 und wiederum zu V. 44 durchaus verständlicher macht  – der Zusammenhang wird allgemein als „not immediately logical“ empfunden (vgl. Repschinski, Stories, 317); auch Roloff, Deutung, 252: Die Bilder dürfen „nur für Leserinnen und Leser, die bereits über die hier verhandelte Thematik ‚Jesus, der Stein‘ mehr wussten, verständlich gewesen sein“. 85 Snodgrass, Parable, 99: „One can easily see […], that both stone sayings would have heightened the eschatological flavor of the parable“; Rölver, Existenz, 237: „Der Stein lässt sich auf den Sohn beziehen, der im Gericht zum Entscheidungskriterium wird“; Roloff, Deutung, 251. Vgl. neben den schon erwähnten Dan 2,34 f.44 f auch Jes 8,14; ferner 28,16; Ez 36,19. Eine Anspielung auf Dan 2,34–35.44–45 nehmen hier auch Gielen, Konflikt, 230; Charette, Theme, 139; Rölver, Existenz, 236 f an. 86 Die Identifizierung des Steines mit dem getöteten Sohn von V. 39 ergibt sich aus der (vor)matthäischen / markinischen Darstellung (vgl. dazu Luz, Mt III, 225). Der Schlußstein ist auch sonst eine beliebte Metapher für die Auferweckung und Erhöhung des verworfenen Christus an Stellen wie Act 4,11; 1Petr 2,4–5.7; Eph 2,20; Herm sim IX 12.1 ff; Barn 6,2 ff; EvThom 66 (vgl. Jeremias, Gleichnisse, 71; Derrett, Stone, 183). Zum Motiv ‚verworfener Stein – Eckstein‘ in der frühen Christologie, vgl. Longenecker, Christology, 50–53. Nach der einmaligen Position von Stanton, Judaism, 269, sei der „Stein“ nicht christologisch, sondern ekklesiologisch zu deuten, und damit gleichbedeutend mit dem neuen ethnos, d. h. mit der verfolgten matthäischen Gemeinde. 87 Derrett, Stone, 184.

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λίθον (= υἱός) // V. 43 βασιλεία (≅ ἀμπελών) // V. 44 λίθον.88 Der Gerichtsgedanke wird in V. 44 in zwei adressatenlosen, parallel konstruierten Sätzen veranschaulicht, wodurch oft die Vermutung aufgekommen war, dass nun dem Gericht zweifelsohne auch Israel und die Gemeinde anheimfallen.89 Zu beachten ist aber, dass die Aussage eine interne Konditionierung enthält, nämlich gilt sie nur für ὁ πεσὼν ἐπὶ τὸν λίθον τοῦτον […] δ’ ἁν πέσῃ und kann daher keine unausweichliche und allumfassende Gerichtsansage andeuten, sondern schließt auch ein ethisches Moment mit ein.90 Sie ist vor allem gegen die Kontrahenten gerichtet, denn sie vergehen sich an dem Sohn und erfüllen also die Bedingung der Gerichtsaussage. Für Israel und die Gemeinde dürfte die Gerichtsaussage im Lichte der nächsten Perikope (besonders ab 22,11) eher eine Warnung vor der Heilsgewissheit sein.91 Bestätigend begreifen auch die Hohenpriester und die plötzlich aufgetauchten Pharisäer erst nach diesem eschatologischen Einschub, dass die Gleichnisse auf sie zugeschnitten sind und die Weingärtner nichts anders als ihr literarisches alter ego darstellen (21,45).92 Dementsprechend ziehen sie die noch nicht durchführbare Konsequenz, Jesus zu ergreifen (V. 46). Somit ist die Passionsthematik nicht nur in der erzählten Welt von Jesus angesprochen, sondern gewinnt konkrete Konturen im sich anbahnenden Angriff der Autoritäten. Jesus wird aber bis zur Passion nochmals mit den Gegnern in Kap. 23 abrechnen und geht nach der andauernden Verfolgung selbst in die Offensive.93 Der 88 Anspielungen einerseits auf Jes  8,14–15 (vgl. auch Jes  28,16; 1QS 8,7), andererseits auf Dan 2,31–45; 7,13–27 liegen hier vor (vgl. Derrett, Stone, 183). Auch eine Neigung dazu, die antike Alltagswelt als Vorstellungshintergrund seiner eschatologischen Ausführungen einzubeziehen, ist an der Stelle zu vermerken, wie die beiden Verben συνθλάω, aber besonders λικμάω nahe legen. Der Stein der Bauleute in V. 42 verwandelt sich möglicherweise in V. 44 in den unteren (V. 44a)  bzw. oberen Stein (V. 44b)  einer Steinmühle; zur zerstörerischen Wirkung eines Mühlsteins vgl. den Bericht über den Tod Abimelechs in 2Sam 11,21; Jdc 9,53 (ebenfalls συνθλάω, wobei das Bild dort umgekehrt ist, der Stein fällt von oben; als Strafe Gottes in Ps  57,7LXX; 67,22LXX [ὁ θεὸς συνθλάσει κεφαλὰς ἐχθρῶν αὐτοῦ]; 73,14LXX; Mi 3,3); λικμάω (ursprünglich „worfeln“ wie in Rut 3,2; Sir 5,9; Philo, Jos, 112) oft als Gerichtsbild – SapSal 11,20; Am 9,9; Jes  17,13; 41,16; Ez  36,19 usw. Zu diesem Aspekt aber in Bezug auf Mt 24,40 f // Lk 17,34 f vgl. Friedl, Gericht. 89 Bornkamm, Enderwartung, 18, 40 – das kommende Gericht gilt auch der Jüngerschaft Jesu. 90 Die Ethisierung ist ein Charakteristikum der matthäischen Fassung als Ganze (vgl. Klauck, Gleichnis, 145). 91 Vgl. auch Weder, Gleichnisse, 161: „Die Situation der matthäischen Gemeinde verlangte es offenbar, dass mit jedem heilsgeschichtlichen Selbstverständnis gegebene Gefahr der securitas als solche herausgestellt und bekämpft wurde“; Bornkamm, Enderwartung, 40. 92 Mit dieser Erkenntnis bekommen sie bestimmt auch etwas von der Gottessohnschaft Jesu mit, auf die aber die Gegner erst in 26,63 entscheidend rekurrieren. Die Hohenpriester und Ältesten gehören zu den Adressaten des Winzergleichnisses, sodass die Frage nach der Gottessohnschaft Jesu im Sanhedrin ihren Ursprung hier haben kann (vgl. Kingsbury, Parable, 654; Konradt, Israel, 319). 93 Rölver, Existenz, 301 („Rollentausch“).

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christologische Auftakt der Gerichtsrede befindet sich schon in der vorangehenden Perikope über die Davidssohnschaft (22,41–46). Matthäus gestaltet die Szene zu einem kleinen Dialog und gebraucht sie vor dem Hintergrund der beiden deutlich narrativ-christologischen Linien als Synthese seines christologischen Ansatzes. Jesus unterhält sich aber nicht mehr mit der Volksmenge (Mk 12,37) über die Meinung der Schriftgelehrten (Mk 12,35a), sondern direkt mit den Pharisäern über ihre messianischen Vorstellungen (Mt 22,42a: τί ὑμῖν δοκεῖ περὶ τοῦ χριστοῦ;). Neu kalibriert ist bei Matthäus „aus der Streitfrage Jesu […] ein Streitgespräch geworden“.94 Der Psalmverweis in V. 44 (Ps 110,1) ist, wie es erst von Mt  26,64 her deutlich wird, selbstbezogen und der Sprecher präsentiert sich, ohne dass die Gesprächspartner es merken, als der zukünftige erhöhte Herr, der zur Rechten Gottes sitzend der Vernichtung aller seinen Feinde beiwohnt und an dieser mitwirkt. Auch, wenn besonders der erste Teil des Zitats im Zusammenhang mit der Erhöhung Jesu in den neutestamentlichen Schriften Beachtung gefunden hat,95 muss hier unmittelbar vor der Rede im 23. Kapitel96 nachdrücklich auf das kriegerisch-eschatologische Moment97 in 22,44b (ἕως ἁν θῶ τοὺς ἐχθρούς σου ὑποκάτω98 τῶν ποδῶν σου) hingewiesen werden. Angesichts des vorangehenden Kontextes (mit 21,12 beginnt die lange Reihe der Jerusalemer Streitgespräche) bekommen die erwähnten Feinde (οἱ ἐχθροὶ σου) bei Matthäus wiederum, wie ursprünglich im Psalmzitat,99 eine sehr konkrete erzählerische und historische Gestalt. So wie zuletzt ersichtlich wird, dass Jesus in kodierter Psalmensprache über seine Gottessohnschaft spricht, fallen die versammelten 94 Neugebauer, Davidssohnfrage, 82; Sand, Gesetz, 148; Burger, Jesus, 87 (wirkliche Auseinandersetzung „mit Rede und Gegenrede“); Nolan, Royal, 182 („climax of controversy in Matthew“). 95 Vgl. Hengel, Psalm 110, 44: „Vorrangstellung hat das Motiv vom Sitzen zur Rechten […]; dazu kommt in zweiter Linie die Wendung Ps 110,1b, wonach dem von Gott Inthronisierten die endgültige Unterwerfung der Feinde zugesagt wird“; Hahn, Hoheitstitel, 127 f; Hay, Glory, 122, vgl. dort S. 123 auch die Übersicht mit den entsprechenden nt Belegen. 96 Mit den Worten von Luz, Mt III, 286: „Wir stehen hier an der Schwelle zu Kap. 23“; vgl. auch Repschinski, Stories, 229; Hagner, Mt II, 650: „This prepares the way for the sharp criticism of the Pharisees in chap. 23“. 97 Vgl. auch Hebr 10,12 f; 1Kor15,25–28, an beiden Stellen geht es um die „endgültige Unterwerfung der Widersacher“ (vgl. Hahn, Hoheitstitel, 131), die Feinde sind also vollkommen enthistorisiert. Weitere ähnliche eschatologische Anwendungen in Mk 14,62 // Mt 26,64; Mt 19,28; 25,31. 98 Dass hier ὑποκάτω und nicht ὑποπόδιον steht, kann auf eine Beeinflussung durch Ps 8,7 hindeuten (vgl. Luz, Mt III, 287, Anm. 14; Gundry, Use, 25; Nolland, Mt, 916). 99 In Ps 110,2 ging es ganz konkret darum, „dass der Inthronisierte von Feinden ‚eingekreist‘ ist (vgl. Ps 2,1 ff; 48,5; 83,3 ff). Er soll seine Herrschaft inmitten der Feinde beginnen – und siegreich vollenden“ (Kraus, Psalmen, 2. Teilband, 933). Nach Hossfeld / Zenger, Psalmen, 207, betont das hier aus der Königsideologie aufgenommene Motiv „die Unterwerfung sowie Bändigung der Feinde und damit zugleich den Schutz des Königreiches vor ihnen zum Wohl des vom König regierten Volkes“; vgl. auch Dahood, Psalms, 114.

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Pharisäer100 samt allen anderen Gegnergruppen unter die Kategorie der Feinde, die dem unausweichlichen Gericht nicht mehr entgehen können. Ein Rückbezug auf 21,44 und 22,7 – beide Gerichtsaussagen mit dem „Sohn“ im Zentrum der Ereignisse – empfiehlt sich von selbst. Die markinische Notiz aus Mk 12,34 (καὶ οὐδεὶς οὐκέτι ἐτόλμα αὐτὸν ἐπερωτῆσαι), die ursprünglich die Frage nach dem höchsten Gebot beendete, setzt Matthäus deswegen in 22,46 als Schlusspunkt jeder weiteren öffentlichen Konfrontation mit den nun total besiegten Gegnern. Das Verstummen am Ende der Perikope ist eine Mischung von extremer Verwirrtheit und Ratlosigkeit,101 aber auch ein schon spürbarer Zug des Gerichtes Gottes, dem niemand zu widerstehen vermag. Aus ihrem jetzigen Schweigen wird im Verhör (Mt 26,63) die Frage des Hohenpriesters entstehen, der aus der für die Pharisäer rätselhaften Antwort Jesu die logische Konsequenz ziehen wird. In diesem Sinne ist mit dem letzten Streitgespräch tatsächlich alles gesagt: „Jesu Davidssohnfrage steht genau zwischen der Zeit des Fragens und des Tötens“.102 Dies beleuchtet aber nur eine Seite, denn im kurzen Gespräch wird offenkundig, welches Geschick auch auf die Kontrahenten wartet. Der matthäische Jesus bezieht das Psalmzitat auf die Gegenwart; die vorgegebene Gerichtsvorstellung ist, die Feinde betreffend, vom Redaktor rehistorisiert und in einer konkreten Situation nicht zufällig gegen die Pharisäer eingesetzt. Die dahinter stehende Gemeinde fühlt sich dadurch in ihrer bedrückenden und von Niederlagen gekennzeichneten Gegenwart, auch wenn nur in einer sublimierten, symbolischen Art, gerechtfertigt und ermutigt.103 Kap. 23 entspringt aus dieser Vorstellung einer totalen Niederlage der Gegner und vergegenwärtigt diese schon auf diskursiver Ebene;104 denn die Rede ist nach einem durchdachten Muster als Gerichtsrede aufgebaut. Mit der Ankündigung der Machtverhältnisse und der Erwähnung der γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι in 23,2 ist die Stoßrichtung schon vorgegeben. Mit der Einführung in 23,3b des ὑπόκρισις-Motivs wird inhaltlich das Hauptthema angedeutet, das ab V. 13 den Text prägt. Da Matthäus hier vorwiegend ethische Inhalte in die Form einer Gerichtsrede gießt, ist der Argumentation in 23,1–28 im ethisch-ekklesiologischen Teil 4.3.2.3 nachzugehen; ebenfalls empfiehlt es sich, die Thematik der Tempel 100 Auch ein Rückgriff auf Ps  2,2 ist möglich, der auch ein Gottessohn-Kolorit mit sich bringt (vgl. Ps 2,7), vgl. Nollan, Royal, 182; Hay, Glory, 116, Anm. 40; Bons, Version, 141. 101 Repschinski, Stories, 229: „Their failure to understand the messianic teaching of the scripture paints them as leaders without legitimacy“. 102 Neugebauer, Davidssohnfrage, 84. 103 Stark machen sich hier für einen direkten Bezug auf die soziale (auch wenn anders bestimmte) Lage der Gemeinde Gielen, Konflikt, 277, und Repschinski, Stories, 229 f – als fortlaufende Konfliktgeschichte mit der Synagoge, bzw. Luz, Skizze, 226 – als schmerzhaftes, zurückliegendes Ereignis. Hingegen sieht Frankemölle, Bund, 169, an der Stelle „keinerlei ‚tagespolitische‘ Tendenzen aus aktuellem Anlass“. 104 Clifford, Use, 464: „Promise of destruction was the destruction“.

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zerstörung und ihre ‚empirische‘ Beweiskraft als entscheidende Station auf dem Weg zum letzten Gericht in einem separaten Abschnitt über 23,29–39 unter dem Motto ‚Tempelargument‘ (4.2.3) zu behandeln. Somit bleibt hier nur noch die Aufgabe übrig, die traditionellen Ressourcen und die literarische Fähigkeit in Grundzügen zu erläutern, die Matthäus für den Aufbau seiner letzten Abrechnung mit den Gegnern einsetzt. Vor allem gilt es zu bestimmen, wie der Redaktor seine Quellen dosiert und bearbeitet, um den gewünschten Effekt zu erreichen und welche literarischen und bildlichen Bausteine Mt 23 wirklich zu einer Gerichtsrede machen.105 Der narrative Ort, an dem Matthäus die Rede einfügt – ethische Mahnungen gegen die Schriftgelehrten (Mk 12,38–40), die Ankündigung der Tempelzerstörung (Mk 13,1 f) und die anschließende Endzeitrede106 – gibt die thematischen Linien vor und bildet die Kristallisationspunkte, die weitere thematisch verwandte Textteile aus unterschiedlichen, anderen Kontexten angezogen haben. Matthäus vermehrt und konzentriert die Vorwürfe, bearbeitet und verbindet die hinzugezogenen Textteile zu einem dichten, homogenen Geflecht miteinander, wodurch kaum noch eindeutige Brüche und Risse festzustellen sind. Die Absichten des Redaktors aber werden, wenn man ansatzweise den Vorgang aufgrund der vorgegebenen oder nur vermuteten Quellen zu wiederholen versucht, einigermaßen sichtbar. Mit Blick auf 23,13–32 gleicht Matthäus zuerst die unterschiedlichen οἱ γραμματεῖς und οἱ Φαρισαῖοι an; eine Zusammenstellung, die, gleich wie man V. 2 insgesamt betrachtet, einen red. Ursprung haben dürfte. Die mt Pharisäer und die mk Schriftgelehrten (Mk  12,38; Q 11,46 liest νομικός) sind die Zielpunkte der ganzen Rede, auch wenn sie gemäß V. 1[red.] nicht zu den direkten Adressaten gehören. Eine mögliche literarische Abhängigkeit besteht zwischen καὶ οὐ ποιοῦσιν (V. 3c) und πάντα δὲ τὰ ἔργα αὐτῶν ποιοῦσιν (V. 5a).107 Matthäus umhüllt möglicherweise den sozialkritischen trad. Q-Weheruf108 (V. 4: δεσμεύουσιν δὲ φορτία βαρέα … ἐπὶ τοὺς ὤμους τῶν ἀνθρώπων) mit eigenem 105 Als Grundaussage gelten hier die Worte von Pesch, Aussagen, 296: „Matthäus 23 wird zusammengehalten von der Polemik gegen den Missbrauch der Autorität, der in vielfältiger Form von christlichen Gruppen und Gemeinden den Führern des Judentums zum Vorwurf gemacht wurde und der ihnen als eine Erklärung der furchtbaren Ereignisse um das Jahr 70 n. Chr. dienen konnte“; Vaage, Woes, 602: „In Matthew the woes from Q are made to serve a full-scale attack“. 106 Dabei wird Perikope über „das Scherflein der Witwe“ (Mk 12,41–44) gestrichenen; plastisch erklärt France, Mt, 857, diese Auslassung: „It drops out under the pressure of other, more weighty material. Matthew has more important fish to fry“. 107 Hartin, Woes, 268: „These verses [es geht um 2–3 und 5] form a unity in themselves“; anders ausgedrückt – zwischen V. 4 und 5a „wird eine Naht sichtbar“ (Haenchen, Matthäus 23, 41). 108 Q 11,46 ist ein ursprünglicher Weheruf, der hier als allgemeiner Vorwurf dem schwierigen V. 3 folgt.

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Material zur ὑπόκρισις-Thematik109 und bestimmt schwerpunktmäßig am Anfang der Rede die weiteren Ausführungen. Wahrscheinlich landet der Auslöser Mk  12,38b–39 aus diesem Grund erst an dieser Stelle (V. 5b–6), weil sein zu konkreter Charakter sich für den Beginn der Rede nicht als grundsätzliche und allumfassende theologisch-ethische Anklage eignete. Aus Mk  12,38b bleibt jedoch in 23,5b kaum noch eine Wendung übrig; ἐν στολαῖς hat Matthäus vielleicht assoziativ dazu veranlasst, die eher selbstverliebte Haltung der Schriftgelehrten bei Mk durch das traditionelle religiös-spöttische Bild der vergrößerten Gebetsriemen und Quasten zu ersetzen. Assoziativ fährt Matthäus auch weiter: Mk 12,39 und Q 11,43a (ebenfalls als Weheruf tradiert) weisen eine eindeutige thematische Nähe auf, worauf Q 11,43b in 23,7a natürlich folgt. Anschließend schafft Matthäus selbst in V. 7b einen red. Übergang110 zum nächsten Abschnitt (V. 8–12), indem er mit dem Stichwort ῥαββί die grundsätzliche Kritik an der Titel- und Selbstsucht auch innerhalb der Gemeinde einleitet. V. 8–10 kennen keine synoptische Parallele, jeder Vers weist aber eine ähnliche Struktur auf, die wohl teilweise Matthäus selbst zu verdanken ist: Auf eine Aufforderung im Konj. Aor. Pass. folgt jeweils eine Begründung V. 8.9: γάρ, V. 10: ὅτι (vgl. dazu mehr in 4.3.2.3.1). Möglicherweise fängt Matthäus in dieser straff komponierten Texteinheit Regeln und Sprüche ein, die in seiner Gemeinde kursieren,111 gibt ihnen aber nun als Worte Jesu eine zusätzliche Legitimität. Hingegen sind V. 11.12 in der synoptischen Tradition mehrmals belegt und von Matthäus selbst doppelt überliefert (auch 20,26–27 bzw. 18,4). Ihre Platzierung nebeneinander bringt verstärkt sein red. Anliegen zum Ausdruck. Einerseits zeigen die beiden Verse eine symmetrische Gedankenbewegung auf, die von der Hauptthematik her ihre Logik erhält und sie einprägsam zusammenfasst: Nur wer sich selbst als Diener erniedrigt, entspricht der christologisch (V. 10b[red.]: ὁ Χριστός in einem absoluten Gebrauch) bestimmten Gruppenkultur. Andererseits vergisst Matthäus keineswegs, worum es in diesem Kapitel geht; die Mahnungen in V. 8–10 verlieren nicht die Gruppe aus dem Visier, die genau das Gegenteil dessen tut, was Jesus sagt. Durch die Darlegung des brüderlichen Ethos der Gemeinde sammeln sich also weiterhin feurige Kohlen auf den Häuptern der Schriftgelehrten und Pharisäer; V. 12 bringt in diesem Sinne zum ersten Mal den 109 In V. 3 macht Luz, Mt III, 297, auf matthäische sprachliche Eigentümlichkeiten aufmerksam; ansonsten wird der Vers auch einer M-Quelle zugeschrieben (vgl. Hartin, Woes, 268). 110 Vgl. auch Gnilka, Mt II, 272; Nolland, Mt, 926; Sand, Mt, 455. 111 Luz, Mt III, 298, betrachtet V. 8a.b und V. 9 als die älteste Schicht, V. 8c als sicherlich matthäisch und V. 10 als mögliche Parallelbildung zu V. 8 (so auch Gnilka, Mt II, 272;­ Gundry, Mt, 459). Für Sand, Gesetz, 158, ist V. 9 ein „‚störender‘ Einschub des Matthäus“, V. 8.10 gehören hingegen zur Tradition. Ich halte eher den einzigen ὅτι-Satz (V. 10) für mt; möglicherweise nimmt der Redaktor hier dieselbe Argumentationsstruktur aus den Weherufen vorweg, die durgehend genauso konstruiert vorliegen (in V. 13.15) oder erst von Matthäus konstruiert werden (V. 25.27.29 [ὅτι-red.]).

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Gerichtsgedanken112 als vorläufigen Kulminationspunkt in die Rede hinein und bereitet somit den unmittelbaren Beginn der Weherufe vor.113 Damit kehrt Matthäus zu den vorgegebenen Weherufen114 in Q 11,39b–44.46b– 48.52115 zurück, die zwar nicht in dem Zusammenhang mit der Tempelzerstörung standen, aber günstiges Material für die beabsichtigte steigende Anklage enthalten. Matthäus ordnet offensichtlich den Stoff neu und zwar nach einem Muster, das aber nicht sehr eindeutig wirkt.116 Mehrfach wurde als Gliederungsprinzip die Bildung einer Gruppe von drei Weherufen in der Mitte vertreten. M. E. könnten weder die Gesetzesproblematik noch die Stichwortverbindungen117 eindeutig für eine mittlere „Dreiergruppe“118 sprechen, denn die ToraKontroversen sind in diesem Kapitel eigentlich allgegenwärtig: nicht nur im 3., 4., und 5. WR, sondern schon in 23,13, wo der Eintritt in die Basileia schließlich wegen einer falschen Gesetzeshermeneutik ausbleibt,119 wie auch weiterhin in V. 28 (‚der Anomia-Vorwurf ‘).120 Im ethisch-ekklesiologischen Teil  (4.3) gehe ich von einer Gegenüberstellung der Gemeinde und der Gegner nach kognitiven (Schriftkompetenz, einsichtige Führung, kompetente Heilsvermittlung) und ethischen (Übereinstimmung 112 Die alttestamentlichen Parallelen können einen gerichtlichen Beigeschmack haben; vgl. 1Sam 2,7; Prov 15,33; 29,23; Hiob 22,29; Jes 3,17; 10,33; Ez 17,24; 21,31 (vgl. Gnilka, Mt II, 277 f: „Ausblick auf das Gericht“; Davies / Allison, Mt III, 279: „We have hier not worldly wisdom but God’s judgement“). 113 Vgl. auch Rölver, Existenz, 319: Mit dem passivum divinum werde hier „die eschatologische Paränese der folgenden Kapitel“ vorbereitet; Garland, Intention, 80: „It marks the transition to the woes […]. This ist the basic point of attack“; Davies / Allison, Mt III, 284: „The judge of the last day humbles the exalted in illustration of v. 12“; ferner Sand, Gesetz, 89 („ernste Mahnung“). 114 Die Zahl Sieben soll das vollkommene Gericht bedeuten (vgl. Gen 4,24; Lev 26,18; Prov 6,31; 4Q511 Frgm. 35,1–2). 115 Die Rekonstruktionsversuche weisen jedoch manche Unterschiede sowohl in der Reihenfolge als auch inhaltlich auf; vgl. einige Vorschläge: Asgeirsson / Robinson, Project, 504 f; Hoffmann / Heil (Hg.), Spruchquelle, 70–73. Für einen dichten Forschungsüberblick zur möglichen Reihenfolge vgl. Luz, Mt III, 318, Anm. 10. 116 Davies / Allison, Mt III, 282, entscheiden sich für ein 2+2+2+1 – Modell, mit dem letzten Weheruf als Klimax (so auch France, Mt, 868; Hagner, Mt II, 666); Nolland, Mt, 932, bevorzugt ein 2+3+2 – Schema; vgl. auch Konradt, Israel, 245; Saldarini, Delegitimation, 673. 117 Red. Stichwortverbindungen gibt es ja nicht nur zwischen V. 16.17.19.24.26 (‚der Blindheitsvorwurf ‘), sondern auch zwischen V. 26 und V. 27 (‚der innen-außen-Kontrast‘) und auch V. 27.29 (‚das Grab-Motiv‘); das würde ebenfalls WR 5 und 6 bzw. 6 und 7 eng verbinden. 118 So z. B. Konradt, Israel, 245: „Es folgt in V. 16–26 eine Dreiergruppe von Weherufen, in denen die Halacha bzw. das Toraverständnis der Schriftgelehren und Pharisäer angegriffen wird“. 119 Vgl. dazu selbst Konradt, Israel, 204: „Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind es, die – aufgrund ihrer falschen Lehre […]  – das Himmelreich vor den Menschen verschließen und selbst nicht hineingehen werden“. 120 Dazu mehr S. 329–330.

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Wort / Tat; Barmherzigkeit) Kriterien aus. Wenn man eine ähnliche übergreifende Einteilung der Weherufe jenseits der punktuellen „Stichwortassoziationen“121 vornimmt, wobei alle Weherufe (mit der namhaften Ausnahme des 7.  Weherufs, durch den die Tempelproblematik eingeleitet wird) von der Gesetzesthematik geprägt sind,122 käme man auf zwei Hauptgruppen und zwar: 3 (mangelnde hermeneutische Fähigkeiten veranschaulicht durch 1. Verschließen des Himmelreiches wegen falscher Lehre; 2.  Irreführen der Proselyten; 3.  falsches Schwören) + 3 (Sozialkritik exemplifiziert durch 4.  fehlenden, sozial-ethischen Einsatz; 5.  Gleichgültigkeit / Raub und Ausbeutung; 6.  innere Verdorbenheit) + 1 (der Kulminationspunkt  – Prophetenmord / Verfolgung der Gemeinde). Die meisten Kommentatoren sind sich darin einig, dass die matthäische Redaktion auf die Gerichtsworte hin orientiert ist und eine zunehmende Steigerung erkennen lässt.123 Dieser Eindruck entsteht primär aus der Anordnung des Stoffes,124 wird aber auch durch einige Charakteristika der οὐαί-Gattung unterstützt, die sich Matthäus, inspiriert von Q, im Aufbau seiner Rede zunutze macht. Der letzte Weheruf (V. 29–33) spielt bei Matthäus die wichtige Rolle, die gegenwärtigen Bedrängnisse der Gemeinde als Klimax der pharisäischen Schuld einzuleiten. Es ist deswegen wahrscheinlich, dass er selbst den eher antiklimaktischen Q 11,52 an die erste Stelle in 23,13 platziert hat.125 Der 2. WR, als Bestandteil einer hypothetischen M-Quelle, schließt sich wegen der thematischen Ähnlichkeit natürlich an. Die V. 16–22 fallen in vielen Hinsichten aus der Reihe (Anrede, Länge, Komplexität, durchdachte Struktur), bringen aber den Vorteil mit sich, Gesetzkontroversen in das Zentrum zu rücken. Nach dem Thema „Schwören“ folgt das Thema „Zehnten“ (V. 23 f // Lk 11,42; selbstgeschaffene Verbindung in V. 22 / V. 24: ὁδηγοὶ τυφλοί). Darauf folgen die Reinheitsvorschriften 121 Gnilka, Mt II, 282; Luz, Mt III, 317. 122 Auch Garleff, Urchristliche, 73 („halachische Antithetik der ersten sechs Wehe­ sprüche“). 123 Vgl. Luz, Mt III, 318 („eine zunehmende Steigerung der Vorwürfe und eine zunehmende Verdunkelung des Bildes der Gegner“); Gnilka, Mt II, 268; Hagner, Mt II, 672 („rising ­crescendo“); Rölver, Existenz, 320 („klimaktische Struktur“); Saldarini, Delegitimation, 673, 678; Frankemölle, Pharisäismus, 175 f; Combrink, Shame, 14; Haenchen, Matthäus 23, 58 („dramatische Steigerung“); Hartin, Woes, 273 („progressively stronger attack“). 124 Die Rekonstruktion der genauen Form und Reihenfolge der Weherufe in Q ist äußerst problematisch; d. h. auch der matthäische redaktionelle Vorgang bleibt rätselhaft. Besonders wegen V. 15 und V. 16–22 muss man eine zusätzliche (schriftliche)  Quelle postulieren;­ Davies / Allison, Mt III, 283, schließen sogar die Existenz einer Wehe-Reihe als Teil dieser Quelle nicht aus, die mit Q verschmolzen ist. Sie verzichten aber darauf, eine mutmaßliche Reihenfolge zu entwerfen. Luz, Mt III, 319, macht einen Versuch, gibt aber zu, dass abgesehen von einigen Standpunkten (Q 11,52; Q 11,43.46; Q 11,39–41) die Argumente sich gegenseitig aufheben. 125 Vgl. auch Schmithals, Geschichte, 475; Kosch, Tora, 89.

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(V.  25 f // Lk 11,39–41126), Φαρισαῖε τυφλέ (V. 26) führt auch das sprachliche Kolorit weiter. Neue Konsonanzen (V. 25.27.28: ἔξωθεν…ἔσωθεν, wie auch V. 27.29: γέμουσιν) erleichtern den Übergang von V. 25 f zu den letzten zwei Weherufen mit den Vorwürfen „übertünchte Gräber“ (V. 27,8 // Lk 11,44) bzw. „Prophetenmörder“ (V. 29–32 // Lk 11,47 f). Damit wäre auch keine weitere Steigerung mehr möglich, der red. platzierte V. 33 (vgl. 3,7b)  bereitet das unausweichliche göttliche Urteil ab V. 34 vor, das trotz der Erwartungen so lange ausgeblieben ist. Diesem Aspekt, und zwar der bewusst abweichenden Verwendung von Οὐαι-Aussagen (ohne Drohwort bis V. 34), ist im folgenden Exkurs nachzugehen, bevor ich dann abschließend das Gerichtswort selbst kurz mit einbeziehe. Der Weheruf der Synoptiker ist das Ergebnis einer langen Gattungsentwicklung, die es nun, um die Besonderheiten der matthäischen Verwendung herauszustellen, kurz und gezielt zu skizzieren gilt. Man rechnet mit einem doppelten Ursprung des Weherufes, der mit zwei verschiedenen Interjektionen verbunden ist: yAh bzw. yAa.127 Die beiden Grundformen unterscheiden sich durch grammatikalische Merkmale und ihren Anwendungsbereich. yAa wird mit der Präposition l. + Personalsuffix und einem begründenden Nachsatz konstruiert und bezieht sich wegen der direkten Adressierung „immer auf ganz bestimmte Personen“, „die deshalb nicht näher charakterisiert zu werden brauchen“.128 Verwendet wird diese Variante als „Angst- und Klageruf “, kann aber in wenigen Fällen, und zwar in Verbindung mit der 2./3. Person sekundär auch als Drohung fungieren (vgl. Num 21,29 // Jer 48,46; Jes 3,9; 13,27; Hos 7,13; 9,12). Anders verhält es sich mit yAh, die Interjektion, die im Bereich der „Totenklage“ beheimatet ist129 und eine weniger einheitliche Bedeutung aufweist. Eine besondere Rezeption hat diese Variante in den prophetischen Schriften gefunden und in diesem Rahmen sich zu einem festen Muster als Gerichtswort, zumeist in Wehe-Reihen130 entwickelt. Formal fehlt diesem Typus jegliche verbindende und bestimmende Partikel, das anvisierte Verhalten wird vorwiegend durch Partizipien, aber auch 126 Die Frage, ob der Spruch über die Reinigung des Bechers ursprünglich wie bei Mt als ‚Wehe‘ gestanden hat, oder wie bei Lk als freies Logion stand ist schwer zu beantworten. Gnilka, Mt II, 282, vermutet, dass Lk selbst die erste Wehe aufgrund der Tafelszene aufgelöst haben dürfte; vgl. auch Schulz, Q, 95. 127 Grundlegend dazu vgl. Wanke, yAa, 215–218; Janzen, Cry, 26, stimmt im Grunde genommen zu, schließt aber ein früheres Stadium nicht aus, als die beiden Wörter dieselbe Bedeutung hatten; Sato, Q, 183–201, übernimmt die Unterscheidung und zeichnet die Entwicklung bis zum Q-Stadium weiter. 128 Wanke, yAa, 216. 129 Janzen, Cry, 3–6; Sato, Q, 184; Clifford, Use, 459; Wanke, yAa, 217. Vgl. 1Kön 13,30 (yxi(a' yAh); Jer 22,18; 34,5; Am 5,16, wobei „das Verhältnis des Klagenden zu den Toten mit einem Substantiv“ beschrieben wird (Wanke, yAa, 217). Damit gelten als unbegründet die Ableitungen der Wehe-Gattung aus den deuteronomistischen Fluchen (Dtn 27) (Westermann, Grund­formen, 137–140) und aus dem weisheitlichen Milieu (Gestenberger, Woe-Oracles, 249–263). 130 Vgl. z. B. Jes 5,8–11; 18–22; 10,1–6; Am 5,16–18; Hab 2,6–19; 1QS 2,5–9. Zur Zahl Sieben in Verbindung mit Rache oder Züchtigung für Sünden vgl. Gen 4,24; Lev 26,18; Prov 6,31.

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­ djektive oder Substantive ausgedrückt (vgl. Am 5,18; Mi 2,1; Hab 2,6; Jes 5,20; Jer A 22,13 usw. – nach Gunther Wanke131 werden in dieser Weise 33 prophetische Scheltworte eingeleitet). Die unmittelbare Folge ist: „Die scharfe persönliche Zuspitzung [fehlt], menschliche Emotionen spielen in ihnen keine wesentliche Rolle. Die Kritik menschlichen Verhaltens setzt in den yAh-Worten vielmehr Überlegung, Reflexion voraus, ganz im Gegensatz zu der Unmittelbarkeit der Reaktion in den meisten yAa-Worten“.132 Waldemar Janzen133 nuanciert jedoch diese Meinung, die besonders auf dem ziemlich abstrakt wirkenden Einsatz der Partizipien basiert; die Möglichkeit einer bestimmten Adressaten-Bezeichnung (wie in Jes 10,5; 29,1; Ez 34,2; Nah 3,1; Sach 2,5.11) ließe auch andere Folgerungen offen: „It is very likely that at least some of the participles following upon hôy are intended as vocatives in a life context of direct confrontation“.134 Eine Unheilsankündigung gehört noch nicht zum Grundtypus des prophetischen Wehespruches – nur an wenigen Stellen ist dies der Fall;135 das könnte nach Migaku Sato mit dem Ursprung selbst zusammenhängen: Der Tod gehöre zum nicht überhörbaren Vorstellungshorizont von yAh und mache eine zusätzliche Drohung überflüssig.136 Wenn sie vorkommen, unterstreichen sie den Kontrast zwischen der Jetzt- und der Dann-Zeitstufe, das Gericht ist im jeweiligen Verhalten schon in nuce enthalten: „The immediate hôy-context shows the contrast between the pinacles of haughty self-reliance and the depths of humiliation on Yahweh’s Day“.137 Auf die matthäische Redaktion angewendet, beleuchtet diese Überlegung nochmals die Brückenfunktion, die 23,12 als die direkte Hinführung zu den Weherufen einnimmt. 131 Wanke, yAa, 218. 132 Wanke, yAa, 218. Die formalen und inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Linien vermischen sich schon auf der Ebene der hebräischen Bibel ab dem 7./6. Jh., verschwinden aber völlig unter der nivellierenden Übersetzung οὐαί (seltener auch ὦ und οἴμμοι) in der LXX (vgl. wiederum Sato, Q, 186–188; Janzen, Cry, 25). 133 Janzen, Cry, 23. 134 Die Eingrenzung der Weherufe auf eine bestimmte Gruppe, die die angegebene Bedingung erfüllt, unterstreicht auch Westermann, Grundformen, 138: „Das Wehe gilt denen, die jetzt gerade etwas Bestimmtes tun“. 135 Vgl. z. B. Jes 5,8 f.11–13 (V. 13.14: !kel').22–25 (V. 24: !kel'; V. 25: !Ke-l[;); 28,1–4; Jer 23,1 f (V. 2: !kel; gegen die Hirten, die sich nicht um die Schafe gekümmert haben); 30,1–5LXX; 31,1–3LXX; Ez 34,2–10; Am 6,7; Mi 2,1–3 (V. 3: !kel'); Hab 2,15–16; Zef 3,1–5; Nah 3,1–7. Wolff, Begründungen, 5, bezeichnet diese Art „als die drohende Form der Begründung“. Diese Alternanz steht aber noch nicht fest, vgl. Westermann, Grundformen, 138: „Eine Reihe von WeheWorten sind ohne Ankündigung überliefert oder es hat den Anschein, dass die Ankündigung sekundär angefügt wurde“; Gerstenberger, Woe-Oracles, 253 („in some cases with renewed threat or judgment“). 136 Sato, Q, 186; auch Wanke, yAa, 218: „Das wohl ursprünglich der Totenklage zugehörige yAh soll deutlich machen, dass einem bestimmten Verhalten der Keim des Todes innewohnt“; Marguerat, Le jugement, 349: „L’imprécation en οὐαι n’évoque pas seulement une menace de jugement, elle prononce contre eux une condamnation qui s’accomplit déjà dans le présent de discours“. 137 Janzen, Cry, 82. Die loci classici für den ‚Tag Yahwes‘ sind Jes 2,12; 13,6.9; 22,5; 34,8; Jer 46,10; Ez 7,19; 13,5; 30,3; Joel 1,15; 2,1.11; 3,4; Am 5,18–20; Obd 15; Zef 1,7.8.14–18; 2,2.3; Sach 14,1; Mal 3,23; Thr 2,22. Vgl. Rad, Origin, 97–108; Černý, Day.

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Die typische Gestalt mit obligatorischer Gerichtsankündigung erreicht aber der Weheruf erst in der zwischentestamentlichen Zeit; als eine wichtige Station bis zu dem synoptischen Weheruf wird hier vor allem auf 1Hen 94–104 hingewiesen.138 Dort ist der Gerichtsgedanke zum notwendigen Horizont der Gattung geworden. Die Wehe-Reihen139 stehen auch von deren Komposition her in einem unmittel­baren eschatologischen Kontext: Aus ihnen geht in 1Hen 93,1–10; 91, 11–17 die „Zehnwochen-Apokalypse“ hervor; das „feurige Gericht“ (vgl. 101,1– 102,3) schließt dann diesen Abschnitt ab;140 die letzten zwei „Wehe“ 103,5–8 folgen noch danach in einem ermutigenden Textteil. Alle bestehen formelhaft aus zwei kausal verknüpften Gliedern141 – „Sünde“ und „Vergeltung“ –, wobei „the retribution is almost always eschatological, that is, it comes into effect at the time of the final judgement“.142 Der Autor bedient sich also nicht nur einer schon bestehenden literarischen Form, sondern befestigt durch zahlreiche Wiederholungen die zweiteilige Struktur mit der Gerichtsankündigung als deren fester Bestandteil. Die Adressaten sind allgemein „die Sünder“; trotz des gelegentlichen Wechsels von der dritten zur zweiten Person (vgl. z. B. 1Hen 94,7b–8a), bleiben die Betroffenen aber fiktiv.143 Im Zentrum steht eine kleine Gruppe von Auserwählten, die im kommenden Gericht bestehen werden, direkte Gegner sind aber schwer auszumachen; vielmehr bemüht sich der Autor die toraorientierte144 ethisch-soziale Ordnung mit dem Hinweis auf das ausgleichende Moment des Endgerichtes aufrechtzuerhalten,145 ohne ein bestimmtes Ziel festzulegen.

In der matthäischen Wehe-Reihe treffen die ethisch-weisheitliche Sozialkritik und das drohende Gericht wieder aufeinander. Formell ist auf zwei wichtige Unterschiede zu dem herausgebildeten Grundtypus hinzuweisen, die besonders in der sekundären matthäischen Bearbeitung ihre volle Wirkung entfalten. Erstens fehlt die Strafankündigung,146 zweitens werden die Angeklagten stereotypisch jedes Mal als bestimmte Gruppe genannt und mit einer knappen ethischen Cha 138 Vgl. aber auch Sir 2,12–14; 41,8–9; Jdt 16,17 – die letzte Stelle mit einem deutlichen Hinweis auf ἡμέρᾳ κρίσεως; dazu Sato, Q, 160 f; Argall, 1 Enoch, 196–209, 235–239. 139 1Hen 94,6–95,2; 95,4–7; 96,4–8; 97,7–10; 98,9–99,2; 99,11–16; 100,7–9; 103,5–8. 140 Hoffmann, Gesetz, 189, spricht in diesem Zusammenhang von einer „apokalyptischen Transformation weisheitlicher Traditionen“. 141 Nickelsburg, Apocalyptic, 310 („the bipartite structure […] is always present“); Stuckenbruck, 1 Enoch, 193; Sato, Q, 188 f; zur Struktur vgl. auch Coughenour, Woe-Oracles, 193. 142 Stuckenbruck, 1 Enoch, 197. 143 Stuckenbruck, 1 Enoch, 262: „The address to the wicked […] are ‚fictive‘, that is, the text does not envisage that these words are being heard or read by those who are being denounced“. 144 Zum Toragehalt der ethischen Mahnungen (1Hen 99,2: „ewiges Gesetz“) und ihre Bestätigung im Endgericht vgl. Hoffmann, Gesetz, 189 f. Auch die matthäischen Weherufe sind von der Gesetzesthematik zutiefst geprägt, vgl. dazu S. 321–331. 145 Coughenour, Woe-Oracles, 194; Becker, Heil, 33–35. 146 Vgl. Luz, Mt III, 317; Gnilka, Mt II, 281; Rölver, Existenz, 319 f; Kosch, Tora, 129.

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rakterisierung (V. 13.15.23.25.27.29: ὑποκριταί)147 zusätzlich pauschalisierend versehen,148 damit sie direkter mit dem abwegigen Verhalten, das darauf als Begründung dargelegt wird, in Verbindung gebracht werden.149 Der erste Aspekt führt dazu, dass die Spannung wegen der erwarteten Strafe ständig steigt; der zweite Aspekt grenzt die Reichweite der Weherufe auf eine einzige klar definierte und von den Zuhörern gut gekannte Gruppe. Das unausweichliche Kommen des Gerichtes ist zusätzlich redaktionell in V. 33 durch Aufnahme von Elementen aus der Rede des Täufers (3,7b)  unterstrichen:150 ὄφεις, γεννήματα ἐχιδνῶν151, πῶς φύγητε ἀπὸ τῆς κρίσεως τῆς γεέννης.152 Die Kommunikationssituation lässt auch dank der genauen Adressatenangabe (vgl. V. 1) keine Zweifel darüber aufkommen, wen die Gerichtsausagen treffen und mit welchem Zweck sie dies tun. Die Gerichtsaussagen sind dann gleich darauf nach prophetischem 147 Assoziativ kann man in 6,2.5.16 mit οἱ ὑποκριταί die Pharisäer gemeint sehen, die ihren eschatologischen Lohn (μισθός) schon bekommen haben. Vgl. 5,12 // Lk 6,23; 5,46 (vgl. Lk 6,33: χάρις); 6,1[red.].2[red./trad.].5[red.].16[red.], ab V. 2 in der refrainartigen Formel ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ἀπέχουσιν τὸν μισθὸν αὐτῶν; 10,412[trad.]; 10,42 // Mk  9,41; 20,8[trad.]. Vgl. dazu vor allem Marguerat, Le jugement, 25 f; auch Sand, Gesetz, 117–120; zum Lohngedanken als „integrierender Bestandteil der Gerichtserwartung“, siehe Bornkamm, Lohngedanke, 74. 148 Die Verleumdung ὑποκριταί fehlt in den Q-Weherufen und befindet sich möglicherweise nur in Q 6,42 = Mt 7,5. Die Vermutung, dass Lk selbst wegen des von ihm geschaffenen Rahmens den Ausdruck bewusst vermieden hat, stellt Kosch, Tora, 65, Anm. 5, an: „Man wird sich deshalb mit der Auskunft begnügen müssen, dass die Bezeichnung der Gegner als hypo­ kritai möglicherweise bereits in der Q-Vorlage von Mt  23 enthalten war, aber von Matthäus deutlich verstärkt und zu einer grundsätzlichen red. Charakterisierung der Gegner Jesu gemacht wurde“. 149 Mit der Ausnahme von V. 16, wodurch der Schuldaufweis partizipial eingeleitet wird (οἱ λέγοντες), erfüllt ὅτι diese Funktion. Häufig kommt dieses sprachliche Muster in 1Hen 94–104 vor; wegen der akzentuierten eschatologischen Ausrichtung hat Sato, Q, 188 (Anm. 259), 252, den Ausdruck „ὅτι-eschatologicum“ geprägt. 150 „Creative copying“ (Meier, John, 390; Chow, Sign, 77). Über die Gewissheit der Strafe Gottes geht es auch in den folgenden Texten: 2Kön  1,3–4; Jes  10,3 (ebenfalls als rhetorische Frage); 1Hen 62–63; 94,9; 96,8 (als Weheruf); PsSal 14,9; TestLevi 15,2; 1QH 11,11–18; 12,18–20; 1QpHab 10,12–13; 11,14–15; 1QS 2,7–9. 151 Zu γεννήματα ἐχιδνῶν als Metapher für hinterhältige Menschen wären aus religionsgeschichtlicher Sicht die folgenden Stellen zu erwähnen – Gen 49,17; Philo, Somn II 89; LegGai 166; PsSal 4,9; 1QH 13,27. Wegen der Identifizierung Satans mit einer Schlange (SapSal 2,24; Apok 12,9; 20,2) wäre γεννήματα ἐχιδνῶν mit Joh 8,44 (ὑμεῖς ἐκ τοῦ πατρὸς τοῦ διαβόλου ἐστέ) equivalent (vgl. Davies / Allison, Mt I, 304). 152 Vgl. die zahlreichen Belege von γέεννα in Mt 5,22.29.30; 10,28; 18,9; 23,15.33 – die letzten zwei gegen die Pharisäer. Für einen forschungsgeschichtlichen Überblick siehe Kienle, Feuermale, 114–119. Auch in 23,15 (υἱὸς γεέννης) ist die ausweglose Situation der Pharisäer deutlich gemacht; der mt Ausdruck  – κρίσεως τῆς γεέννης  – verbindet aufs Engste Gericht und Gerichtsausgang; das unausweichliche Gericht in einer rhetorischen Frage kommt auch in Jes 10,3; Hab 2,13 vor. Der ursprüngliche konkrete Ort (vgl. Jer 7, 32) wird mit der Zeit zum Element einer Jenseitstopographie als Symbol der Vernichtung durch das Feuer im End­gericht (1Hen 17,1–2; 54,1–6; 63,10; 90,26; 99,11; 2Bar 85,13; 4Esra 7,36); dazu Milikowsky, Gehenna, 238–249; Reiser, Gerichtspredigt, 136.

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Stil deutlich mit διὰ τοῦτο (V. 34, entsprechend zu !kel') eingeleitet.153 Es fängt aber nicht sofort mit den Drohworten an; ἰδού scheint die Auflistung der Schuld weiter zu führen: Gott selbst wird die Geschichte so lenken, damit das Maß der Sünden bald voll wird. Die ausführliche Darstellung der Verbrechen in V. 34b (ἀποκτενεῖτε / σταυρώσετε / μαστιγώσετε / διώξετε)154 erweckt tatsächlich diesen Eindruck. Das Urteil (mit ὅπως) ist nicht mehr aufzuhalten; das pauschalisierende πᾶν αἷμα δίκαιον (V. 35) und wiederum ταῦτα πάντα (V. 36) entsprechen der nicht mehr erträglichen Schuld. Eine überraschend genaue Entsprechung findet dieser Aufbau auch in V. 38–39. Wie in V. 34b werden auch hier zuerst in V. 37 die Taten der widerspenstigen Jerusalemer dargestellt (ἀποκτείνουσα /  λιθοβολοῦσα / οὐκ ἠθελήσατε) und erst darauf folgt endlich das Gericht. Die konkrete Gerichtsverkündigung erfolgt also in zwei Schritten:155 zuerst in V. 35 f, dann in V. 38 f. Davies / Allison156 unterteilen die beiden Drohworte weiter in „Punishment“ (V. 35 bzw. V. 38) und „Eschatological Conclusion“ mit ἀμὴν λέγω ὑμῖν als Gliederungsmerkmal (V. 36 bzw. V. 39). Dies dürfte keine wesentliche Veränderung des ‚klassischen‘ Wehe-Musters bedeuten, sondern hängt m. E. mit der matthäischen Strategie zusammen, die Tempelzerstörung als Teil des eschatologischen Szenariums und als eindeutiges Indiz für das kommende Gericht über die Gegner zu betrachten. Sowohl 23,35 mit der Erwähnung des zwischen Tempel157 und Altar ermordeten Secharja, als auch 23,38, wobei ὁ οἶκος im matthäischen Kontext auf den Tempel hindeutet,158 unterstützen diese 153 Nolland, Mt, 944, ringt darum, worauf διὰ τοῦτο in V. 34a zu beziehen ist: auf V. 29– 31, V. 32, oder selbst auf V. 34b oder V. 35; Haenchen, Matthäus 23, 54, bezeichnet ebenfalls das verbindende „darum“ ebenfalls als „schwierig“, denn es hätte „die Beschreibung des kommenden Gerichts“ einführen müssen. Angesichts der Funktion von διὰ τοῦτο in den prophe­ tischen Texten, die Gerichtsankündigung nach den Weherufen-Reihen (vgl. Jes 5,13.14.24.25; Jer 22,18; 23,2; Mi 2,3) einzuführen, ist V. 34a auf den ganzen Textblock ab V. 13 zu beziehen. An dieser Stelle geschieht in amplifizierter Form, was bei jedem einzelnen Weheruf gefehlt hat. 154 Mt baut die Q 11,49 Vorlage kräftig aus, indem er Textstücke aus 10,17(ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν μαστιγώσουσιν).23(διώκωσιν ὑμᾶς ἐν τῇ πόλει ταύτῃ, φεύγετε εἰς τὴν ἑτέραν) und 20,19(μαστιγῶσαι καὶ σταυρῶσαι, vgl. auch 27,26) einfließen lässt. 155 Die beiden Textblöcke stammen aus Q 11,49–51 und 13,34–35 und wurden absichtlich von Mt selbst nebeneinander gestellt (vgl. auch Anm. 341, S. 268); der letztere weist nur geringfügige Abweichungen auf. 156 Davies / Allison, Mt III, 311; vgl. auch Gnilka, Mt II, 296 f: Drohspruch + Bekräftigung. 157 Abgesehen von μεταξὺ τοῦ ναοῦ καὶ τοῦ θυσιαστηρίου dient dazu auch V. 35a (ὅπως ἔλθῃ ἐφ’ ὑμᾶς πᾶν αἷμα δίκαιον) als Vorverweis auf die Verurteilungsszene 27,25, indem die versammelten Jerusalemer durch ihr Urteil eine Ätiologie der Tempelzerstörung herstellen (vgl. dazu 3.1.3). 158 Religionsgeschichtlich kann ὁ οἶκος auch noch für die Stadt (Jer 22,1–6; Tob 14,4; 1Hen 89,50 f.56.67; TestLevi 10,5) oder das ganze ‚Haus‘ Israel (Jes 5,7; Jer 12,7; Ez 8,6.12; 9,9) stehen; hier ist kontextbedingt die Bedeutung ‚Tempel‘ zu bevorzugen – vgl. 1Kön 9,6–9; Jes 26,21; 56,7; 60,7; 64,11; Jer 7,10–14; Ez 9,3; 10,18; Hag 1,9; Ps 22,6LXX; 64,5LXX; 117,26LXX; Esra 6,22; Jub 49,19; 2Bar 8,2–4; 1Hen 89,50–56; TestLevi 15,1; Josephus, Bell V 19.412–413; VI 295–301; auch die Anm. 348, S. 270.

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Zweistufen-Eschatologie, mit dem Tempelfall als innergeschichtlichen Teil,159 der narrativ vorhergesagt wird. Für die Erstleser aber scheint dies schon eine Bestätigung ihrer Geschichtsdeutung und ein starkes Argument in der antipharisäischen Polemik zu sein. Über sie wird hyperbolisch das ganze gerechte Blut kommen, das von Anbeginn der Welt auf der Erde vergossen wurde: ἔλθῃ ἐφ’ ὑμᾶς πᾶν αἷμα160 (V. 35). Die Art der Sünde und die göttliche Reaktion stehen in einem symmetrischen Verhältnis zueinander: Die blutige Verfolgung der Gesandten Gottes setzt die Täter der unaufhaltsamen blutigen Strafe aus. Der Tempelverlust als Zeichensetzung läutet schon das bevorstehende Ende der Geschichte ein und verdeutlicht auch die Seite, auf der Gott selbst steht. Die eigentlichen eschatologischen Teile (V. 36 bzw. V. 39) bestätigen den eingeschlagenen Lauf der Geschichte und demnach wird das endgültige göttliche Urteil über „dieses Geschlecht“161 kommen.162 Die Machverhältnisse werden zu Ungunsten der Jerusalemer Autoritäten durch die Intervention des Weltrichters selbst herumgedreht. Zu jenem Zeitpunkt, an dem die Verfolger entmachtet am Tag des Gerichtes ihm zitternd begrüßend entgegenkommen (V. 39),163 erfüllt sich das mahnende Wort von 23,12 und erst mit diesem letzten bedrohlichen Ton endet auch die Weherufen-Reihe.164 159 Konradt, Israel, 252 („Die Zerstörung Jerusalems als innergeschichtliches Gerichtshandeln Gottes“); Balabanski, 137: „the horizon of the pronounced woes against the scribes and Pharisees is both the eschatological future judgement and the (for Matthew) present destruction of the Temple“; vgl. dazu 4.2.3.3. 160 Zum ‚Kommen des Blutes‘ als Bild für die Vergeltung, vgl. Lev 20,9–13.16.27; Dtn 21,8; 22,8; Jos 2,19; 2Sam 1,16; 1Kön 2,32–33.37; Jer 28,35LXX; 33,15LXX; Ez 18,13; 33,4 f; Jona 1,14; TestLevi 16,3. 161 Davies / Allison, Mt III, 324: „The text does not plainly implicate Israel as  a whole, only the leaders of Israel and Jerusalem“; Nolland, Mt, 948 („present generation“); Hartin, Woes, 280: „‚This generation‘ refers not to the whole of Israel, but to those who hold positions of­ authority within Israel“. 162 Auf die eschatologischen Konnotationen von ἥκω machen Davies / Allison, Mt III, 319, aufmerksam; vgl. z. B. Hos 9,7; Am 8,2; Mi 7,4.12; Joel 1,15; Sach 14,5; Jes 47,11; 59,20 usw., oft mit dem „Tag Yahweh“-Topos verbunden. Q 11,51 liest ἐκζητηθήσεται, was direkt auf αἷμα zurückverweist. 163 Für andere Deutungsmöglichkeiten in der Forschung, vgl. Anm. 351, S. 270. 164 Für das Zusammenspiel zwischen vergeblicher Begrüßung und Anerkennung in 23,39 als Abschluss und der Erniedrigung der Mächtigen in 23,12 als eine Art „Motto“ der WeheReihe besitzt 1Hen 62,3.9–12 eine besondere religionsgeschichtliche Relevanz: „Und an jenem Tage werden alle Könige, Mächtigen, Hohen und die, die die Erde besitzen, sich erheben, und sie werden ihn sehen, und sie werden ihn erkennen, wie er auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt und vor ihm Gerechtigkeit (= recht) gerichtet wird, und eine leere Rede wird niemand vor ihm führen können […]. Und alle Könige und Mächtigen und Hohen und die, die das Festland beherrschen, werden vor ihm auf ihr Angesicht niederfallen und anbeten, und sie werden ihre Hoffnung auf jenen Menschensohn setzen und ihn anflehen und von ihm Barmherzigkeit erbitten. Und jener Herr der Geister wird sie treiben, dass sie eilen und sich entfernen von seinem Angesicht, und ihre Angesichter werden mit Scham (oder: Schande) erfüllt, und auf ihre

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Die letzte Konfrontation  – nämlich der Prozess Jesu vor dem Synedrium  – wird an dieser Stelle durch geschickte redaktionelle Eingriffe (ἀπ᾿ ἄρτι [red.] in 23,39 und 26,64165; ὁ ἐρχόμενος in 23,39; ἐρχόμενον in 26,64) angedeutet und auch die Brücke zurück zu dem Vorstellungshorizont vom Mt 23 (22,44) wird geschlagen. Die matthäische Harmonisierung der Szenen ist noch auffälliger, wenn man die Umstellungen betrachtet, durch die sie zustande kommt: Ursprünglich stand Q 13,34 f in keinem Zusammenhang mit den Weherufen, Matthäus macht ihn zum Teil einer umfassenden Gerichtsankündigung. Hierdurch entsteht eine Entsprechung mit Mt  26,64 // Mk  14,62, die seinerseits durch die gemeinsame Anspielung auf Ps 110,1 auch Mt 22,44 in diese Kette mit einbezieht. Im Hinblick auf diesen letzten öffentlichen Akt der narrativen Konfliktgeschichte muss jetzt noch nach der eschatologischen Relevanz für die reale Konfliktaustragung gefragt werden. Mt  26,63 f stellt einen Höhepunkt dar, der die Enthüllung der christologischen Identität Jesu außerhalb der Gemeinde betrifft. In 26,63bc macht der Hohenpriester die Gottessohnschaft Jesu  – eine Erkenntnis, die den Jünger vorbehalten war – zum Thema der öffentlichen Debatte. Wie er dazu gekommen ist, kann man nur vermuten: Die Winzerparabel hören sich bei Matthäus die Hohenpriester und die Pharisäer an, die offensichtlich die implizite Selbstidentifizierung Jesu mit dem Sohn aus der erzählten Parabel als Pendant ihrer Selbstidentifizierung mit den Weingärtnern (21,45) nachvollziehen können.166 Auch der unmittelbare Zusammenhang, nämlich die Möglichkeit, dass Jesus die außergewöhnliche Macht besitzt, den Tempel zu zerstören und wieder aufzubauen, konnte den Übergang zur Gottessohnschaft veranlasst haben.167Anscheinend steht nun Jesus mit dem Rücken an der Wand, denn die zu erwartende Zustimmung würde für ihn automatisch den Tod bedeuten.168 Durch seine deutlich Angesichter wird Finsternis gehäuft werden. Und er wird sie den Strafengeln ausliefern, damit sie Vergeltung an ihnen üben (dafür), dass sie seine Kinder und Auserwählten unterdrückt haben“; vgl. auch 1Hen 63,1–12. Ein ähnliches Bild befindet sich auch in Apk 1,7 – es geht um „ein Gerichtsspruch über die schuldige Menschheit. Von einer Trauer der Völker um das Schicksal des gekreuzigten Christus […] ist keinesfalls die Rede“ (Müller, Offenbarung, 77). Für das Heranziehen der 1Hen-Vorstellung über das Kommen des Menschensohnes setzt sich Luz, Mt III, 384 f, sehr stark ein; die Möglichkeit einer trad. Verbindung zwischen der Begrüßung in Ps  118,26 und dem kommenden Menschensohn als richterliche Gestalt zieht auch Steck, Israel, 236 f, in Erwägung; vgl. auch Gnilka, Mt II, 305. Die engen red. Verknüpfungen mit 26,64 und 22,44 macht diese Annahme für Matthäus recht wahrscheinlich. 165 Senior, Mt, 313: ἀπ’ ἄρτι „heightens the eschatological aura of the Passion story“. 166 In diese Richtung tendiert Kingsbury, Parable, 654; Lambrecht, Treasure, 121; Saldarini, Matthew, 63: „Here Jesus for the first time reveals in public his sonship, even though he does so in a veiled way through this allegorical parable“; France, Mt, 1025. 167 Luz, Mt IV, 178, mit Hinweis auf die spontane Assoziierung der übernatürlichen Mächte Jesu mit dem Gottessohntitel in 4,3.6; 8,29; 14,33; 27,40–43; ähnlich Heil, Aspects, 284 f. 168 Vgl. zur Blasphemie Anm. 259, S. 103.

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abgehobene Antwort169 nimmt aber das Ereignis eine plötzliche Wende: Der Angeklagte wird zum Ankläger; noch mehr präsentiert er sich selbst als der göttliche Richter selbst. Der kommende (ἐρχόμενος) und zur Rechten Gottes sitzende (καθήμενος) Menschensohn, der die Welt richten wird, steht nun schon vor dem Synedrium und kündigt den Untergang an. „Die Fronten kehren sich also um“,170 der zuvor schweigende Jesus zeigt sich als göttlicher Richter.171 Die Synedristen werden wegen ihrer Ablehnung der Gottessohnschaft nur noch das Gericht Gottes über sie kommen sehen (ὄψεσθε).172 Die Gottessohnschaft Jesu, die aufs engste mit der Gruppenidentität verbunden ist (vgl. 4.3.3), stößt nicht nur bei den Autoritätsträgern auf Ablehnung, sondern ruft auch schroffe Gegenmaßnahmen hervor. Der aufgebrachte Ruf der Ankläger (26,66: ἔνοχος θανάτου ἐστίν) gilt Jesus, aber auch den Christen, die ihre Gruppenidentität und ihren von Leid und Verfolgung gekennzeichneten Lebenswandel aufgrund der Überzeugung entwerfen, dass Jesus der Gottessohn sei. Das bedrohliche Bild des kommenden Menschensohnes ist alles, was sie entgegenzusetzen haben: Ihre Ohnmacht ist durch die Vollmacht Gottes gestützt und so können sie auch die scheinbar übermächtigen Gegner symbolisch besiegen.173 169 Davies / Allison, Mt III, 529 („solemn introduction“). Der mt. σὺ εἶπας (26,64a) schiebt mehr Schuld auf die Schultern des Hohenpriesters als die direkte mk. Antwort ἐγώ εἰμι (14,62); der feierliche πλὴν λέγω ὑμῖν lenkt adversativ noch stärker die Aufmerksamkeit auf die folgende Aussage, die seinen Anklägern noch nicht bekannt ist (Geist, Menschensohn, 335; Catchpole, Answer, 222: „the contrast […] between Jesus, the helpless accused, and what he will be ἀπ’ ἄρτι the glorified judge“). 170 Luz, Mt IV, 180; Gielen, Passionserzählung, 131 („Umkehr der Rollen“). 171 Angesichts der Gedankenassoziationen mit 19,28; 25,31; 24,29–31; 23,39 liegt am nächsten, dass es hier um eine Gerichtsvorstellung geht, und zwar: „Der Hohenpriester lehnt einerseits die von ihm selbst ausgesprochene christologische Identifizierung Jesu ab, muss sich aber andererseits sagen lassen, dass gerade deshalb nur noch das machtvolle Kommen zum Gericht […] in Aussicht steht“ (Geist, Menschensohn, 336); vgl. auch Walker, Heilsgeschichte, 70: „Mit 26,64 sagt sich der Messias Israels […] als künftiger Gerichtsherr und Rächer an“; Luz, Mt IV, 180; Kingsbury, Son of God, 24; Fiedler, Passion, 307 („richterliche Vollmacht“); Gielen, Passionserzählung, 130 f; Davies / Allison, Mt III, 531 („figure of judgement“). Die Auslegung, dass diese Worte an die Gemeinde gerichtet sind und vor allem einen Erhöhungsgedanken zum Ausdruck bringen, wird mit guten Gründen von Geist, Menschensohn, 337 f, widerlegt. 172 So Geist, Menschensohn, 336–338, der hier die Deutung auf den Erhöhungsgedanken ablehnt: „Es wird das hoheitliche Kommen des Menschensohnes angedroht, das für sie nur Gericht bedeuten kann“ (338). Der Text setzt sich aus Ps 110,1 und Dan 7,13 wie auch in Mk 14,62, zusammen (vgl. Bormann, Ps  110, 202); die matthäische Redaktion  – ἐπὶ τῶν νεφελῶν (wie Dan 7,13) anstelle von μετὰ τῶν νεφελῶν (Mk 14,62) – wie auch die Struktur καθήμενον vor ἐκ δεξιῶν τῆς δυνάμεως (vgl. Ps 109,1LXX: κάθου ἐκ δεξιῶν μου) weisen aber eine deutlichere Nähe zur LXX, vgl. Gundry, Use, 60 f; Senior, Passion, 183. 173 Vgl. Overman, Church, 326: „Their only recourse and hope was to wish the judgement of their God upon those who, in their view, has corrupted the law and the covenant, persecuted their people, and brought destruction upon Jerusalem“.

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Damit wurde deutlich, dass die Gerichtsthematik unter anderem auch als polemisches Mittel reichlich Verwendung findet. Matthäus sucht die Gelegenheit, den verbreiteten Topos in die narrative Konfliktentwicklung einzubauen. Die verschiedenen Gruppierungen, die in den erwähnten Kontexten ins Visier genommen werden, stehen für die aktuellen Gegner der Gemeinde, womit die bestehende soziale Feindschaft und die Herausforderungen der realen Welt kräftigen Einfluss auf die thematische Wahl und die sprachliche Gestaltung der literarischen Auseinandersetzung in der fiktiven Welt ausüben. Die Feinde werden Bestandteil des eschatologischen Szenariums  – das universale Gerichtsereignis und die äußerst subjektive und sozialbedingte Abrechnung der Gemeinde mit den Pharisäern rücken in der konstruierten Welt sehr nah aneinander. Der Autor nimmt den kommenden Zorn (3,7: ὀργή) Gottes als Medium, um seinem eigenen Unmut Sprache zu verleihen. In einigen ausgewählten Texten wurde dieser Aspekt neben den christologischen Implikationen im narrativen Zusammenhang genauer veranschaulicht.

4.2 Pragmatische Geschichtsdeutung: Die Instrumentalisierung der Zerstörung Jerusalems im Matthäusevangelium Es ist schwierig einer Schrift wie das Matthäusevangelium, die keine historiographischen Ansprüche stellt, sondern an eine bestimmte Gemeinde gerichtet ist und darum einer konkreten Lage Rechnung trägt, reale Gegebenheiten aus ihrer Entstehungszeit zu entnehmen. Die Umrisse des zeitgeschichtlichen Hintergrundes wird man nur anhand von vermuteten Anspielungen und durch viel Interpretation einigermaßen abstecken können. Eine ‚Rekonstruktion‘ der realen Umstände  – seien sie gemeindebezogen oder Ereignisse der jüngsten Geschichte  – aufgrund des matthäischen Berichtes, wäre also eine falsch formulierte Aufgabe.174 Vielmehr geht es um Deutungen von vergangenen Ereignissen

174 Zum Thema ‚Tempelzerstörung‘ als Ereignisgeschichte ist Josephus, Bell, die beste historische Quelle. Auch der Geschichtsschreibung gilt aber keine ‚absolute‘ Unparteilichkeit der Darstellungen. Historiker verfassen oft „gefärbte“ (biased)  Berichte, die auch ihrer eigenen Überzeugungen oder Interessen entsprechen. Z. B. malt Josephus ein glorifiziertes Bild des Kaisers (vgl. nur Bell VI 324: διὰ τὸ φιλάνθρωπον φύσει), das zwar im Einklang mit der römischen Sicht der Dinge steht (vgl. Suet.Tit. 1,1: amor ac deliciae generis humani), aber in einem totalen Gegensatz zur sonstigen jüdischen Rezeption (zur jüdischen Rezeption vgl. Smallwood, Jews, 324, Anm. 138; zum Titus-Bild als „Frevler“ und „Tempelschänder“ in der rabbinischen Literatur vgl. Stemberger, Beurteilung, 351–358, besonders unter Verweis auf ARN b.7; vgl. auch Hadas-Lebel, Jerusalem, 144–150). Josephus steht nicht allein unter diesem Verdacht; zu der selbstwertdienlichen Geschichtsschreibung in der Antike, vgl. Luce, Ancient, 291–311 bzw. 314–336. Schließlich sind die ‚historischen‘ Berichte über die Tempelzerstörung ebenfalls

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im Lichte der gegenwärtigen Erfahrung. Das ist zugleich weniger als Geschichtsschreibung, weil die vorgenommene (aber nie vollständig erreichte) Objektivität dieser Gattung im matthäischen, kerygmatischen Schreiben fehlt, aber auch mehr als Geschichtsschreibung, denn die Zielsetzung nimmt von Anfang an verschiedene Zeitebenen ins Visier und bezieht sie aufeinander. Es handelt sich demnach um eine doppelte Geschichte, die zusätzlich auch eine stark pragmatische Dimension innehat und einen direkten Einfluss auf die Gegenwartsebene erzielen will. Wenn die Vergangenheit für den Erzähler keine entfernte Abfolge von Ereignissen darstellt, sondern als Teil der eigenen Geschichte mit erheblichen, unmittelbaren Folgen auf das jetzige Geschick seiner Bezugsgruppe angesehen wird,175 dann sind die bloße Aufnahme und Deutung als rein intellektuelle Vorgänge nicht hinreichend. Die Geschichtsdeutung als Herstellung von kausalen Zu­ sammenhängen zwischen sonst vielleicht völlig unabhängigen Fakten, um sie gegenseitig zu erklären, geht in eine subjektiv intensivere Stufe über und wird zur Bewältigung der Gegenwart oder der Vergangenheit, zum ‚therapeutischen‘ Versuch mit dramatischen und folgereichen Ereignissen subjektiv fertig zu werden. Mit dem konkreten Faktum der Tempelzerstörung verbindet Matthäus zugleich den Tod Jesu und die Erfahrung der Verfolgung seiner Gemeinde, sodass eine komplexe Konstellation mit sogar drei aufeinander bezogenen geschichtlichen Strati entsteht, die auch ein entsprechendes Deutungsmuster verlangt. In diesem Zusammenhang wird hier weiter gefragt, was im Matthäusevangelium hauptsächlich bewältigt werden soll: Ist es der Tod Jesu, die Zerstörung der Tempelstadt oder die Verfolgung der Gemeinde? Sinnvoll ist es, die matthäische Strategie in das Verhältnis zu verschiedenen, anderen zeitgenössischen Reaktionen auf dieselben Ereignissen zu setzen, um ihr Proprium besser zu profilieren (vgl. unten 4.2.2). Vorweggenommen ist festzustellen, dass Matthäus sein Buch keineswegs als eine Art geschickt selbst gebastelte Erzählung erscheinen lässt, um der Geschichte Trost und Zuversicht für die Gemeinde abzugewinnen, sondern er setzt seine Sicht der Dinge mit Hilfe eines weiter genannten Tempel-Argumentes aktiv als ein Mittel zum Zweck ein. Die Zerstörung Jerusalems war ihm ein besonders günstiger Ausgangspunkt, um den realen Kontrahenten einen für sie katastrophalen historischen Ablauf als greifbares Argument für ihr Versagen als Führer Israels entgegenzuhalten. Die Geschichtsdeutung wird in demselben Schritt verzerrt und in ihren Ausrichtungen und Erklärungsansätzen unterschiedlich. Kirschner, Apocalyptic, 28, stellt sogar Mt und Bell auf die gleiche Ebene, was ihren Wert als Quellen betrifft: „problematic sources of evidence owing to their respective partisan agenda“. 175 Und das trifft für Mt völlig zu: „Die Matthäusgeschichte war für ihre Leser / innen in den matthäischen Gemeinden nie eine bloß vergangene Geschichte, sondern sie war immer auch ihre eigene Geschichte, die sie selbst […] miterlebt hatten“ (Luz, Antijudaismus, 311).

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(synchronisch also) auch instrumentalisiert und in den Dienst der laufenden Polemik zur Delegitimierung der pharisäisch geprägten Gegner gestellt. Wie es mir scheint, stellt sich entsprechend ein passendes Modell in diesem Fall aus drei Komponenten zusammen: intellektuelle Deutung der Ereignisse, affektive Bewältigung einer bedrückenden Erfahrung (im Fall von Matthäus ist das gedeutete Objekt mit dem bewältigten Objekt nicht identisch, d. h. nicht der Verlust des Tempels wird hier verarbeitet, sondern die Verfolgung der Gemeinde) und pragmatische Instrumentalisierung. Den Umgang Matthäus mit dem Thema „Tempelzerstörung“ allein als „Deutung“ zu bezeichnen, trifft für die gegebene Textkonstellation nicht zu.

Tod Jesu

Verfolgung

Tempelzerstörung (diachronisches Ereignismodell – die drei aufeinander bezogenen Geschehnisse befinden sich auf unterschiedlichen Zeitstufen)

Deutung

Bewältigung

Instrumentalisierung (synchronisches Operationsmodell – die drei Operationen finden gleichzeitig statt)

Bis zum Kernpunkt dieses Kapitels  – die Instrumentalisierung der Tempelzerstörung – werde ich aber zuerst das differenzierte Bild von Stadt und Tempel bei Matthäus skizzieren und damit die Basis für die weiteren Ausführungen legen.

4.2.1 Mörderische Stadt und heiliger Tempel Matthäus bietet auch im Hinblick auf die Darstellung der Tempelstadt ein differenziertes Bild, was in der Gegebenheit angelegt ist, dass Jerusalem eine doppelte Funktion erfüllt: durch den Tempel als den Ort der Heiligkeit und Raststätte Gottes auf der Erde (vgl. 2Sam 7,13; 1Kön 5,17; 8,12 f; 9,3; Ps 132,13 f), aber zugleich als politisches Zentrum und Residenz der weltlichen Machtinhaber.176 Ihre Be 176 Herodes amtiert in Jerusalem (Mt  2,1–3); die priesterliche Aristokratie hat ihren Sitz ebenfalls dort; eine Komplizität mit Rom war angesagt; wer die Kontrolle über Stadt und Tempel besaß, war Herr über das ganze Land (vgl. Overman, Church, 294, mit Hinweis auf Josephus, Ant XV 248). Zugleich war die Hauptstadt durch den Tempelbetrieb auch eine wichtige Einnahmequelle; das privilegierte Kultpersonal profitierte von dem System der Opfer und Abgabepraxis, wodurch Jerusalem zum wirtschaftlichen Zentrum und politischen Faktor gemacht wurde (Stegemann / Stegemann, Sozialgeschichte, 117 f; zum Reichtum des Tempels vgl. 2Makk 3,6; Tac.hist. V 8.1; Josephus, Ant XIV 110). Zur politischen und finanziellen Be-

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wertung bekommt die Stadt entsprechend dem Zusammenhang, in dem sie steht, und nach den Kräften, durch die sie sich bestimmen lässt.177 Denn Matthäus verleiht auch der Stadt, bzw. ihren Bewohnern als personifiziertes Kollektiv, eine eindeutige Sprache und stattet sie mit der Fähigkeit aus, Stellung zu beziehen. Die Stadt ‚spricht‘ schon sehr früh in der Konfliktgeschichte, nämlich in dem Augenblick, als das neugeborene Kind den amtierenden König Herodes in Schrecken versetzt (ταράσσω).178 Die Stadt fühlt solidarisch mit – πᾶσα Ἱεροσόλυμα μετ’ αὐτοῦ (Mt 2,3) – und schätzt offensichtlich die Lage sehr ähnlich ein. Auch οἱ ἀρχιερεῖς und οἱ γραμματεῖς τοῦ λαοῦ treten auf Befehl des Königs sofort auf den Plan (2,4): König, Stadt und religiöse Autoritäten bilden im Lichte der unmittelbar folgenden Entscheidungen und Ereignisse eine zusammenhängende Handlungsgröße. Deswegen dürfte die anfängliche „Bestürzung“ nicht einfach, wie bei den Aposteln in Mt 14,26, eine bloße subjektive Sorge um die jeweils eigenen Leben bedeuten, sondern markiert, schon in der Form einer negativ konnotierten Betroffenheit,179 den weiteren Handlungsablauf, im Versuch die neue Gefahr zu bannen. Dies gipfelt letztendlich in einem Blutbad.180 Das Bild einer bedrohlichen Gegend, in der das Leben Jesu grundsätzlich gefährdet ist, untermauert Jesus selbst in der ersten Leidensankündigung: δεῖ wird nicht nur auf das Leiden, sondern auch auf die Reise nach Jerusalem – εἰς Ἱεροσόλυμα ἀπελθεῖν – bezogen. In 20,17 (ἀναβαίνων ὁ Ἰησοῦς εἰς Ἱεροσόλυμα) ist der knappere matthäische Reisebericht sehr auf Jesus zentriert (vgl. Mk 10,32: Ἦσαν δὲ ἐν τῇ ὁδῷ ἀναβαίνοντες εἰς Ἱεροσόλυμα);181 die düsteren Töne des bevorstehenden Schicksals werden in 20,18 f auch in der dritten Leidensankündigung fortgeschrieben und weiter präzisiert und personalisiert (vgl. σταυρόω anstatt von ἀποκτείνω in Mk 10,34). Die eigentliche Begegnung mit der Stadt ist in Mt  21,10 im Vergleich zu Mk  11,11 dramatischer geschildert: Die ganze Stadt erregt sich (σείω), erkundeutung des Tempels und dadurch des Hohenpriesters zur Zeit Jesu, vgl. Paesler, Tempelwort, 138–141. „The Temple establishment and the Jewish ruling aristocratie were virtually one and the same“ (Evans, Jesus’ Action, 322). Matthäus streift diese Thematik in 27,3–10. 177 Jesus selbst kann Jerusalem, ein AT-Motiv aufnehmend (vgl. Ollenburger, Zion), als πόλις τοῦ μεγάλου βασιλέως (5,35) bezeichnen; eine prinzipielle Ablehnung ist nicht vor­ handen, die unheile Rolle der Stadt profiliert sich aber sehr früh in der Konfliktsgeschichte. 178 Die Magier fragen nach dem neugeborenem βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων (Mt 2,2), Herodes selbst ist aber nach Ant XVI 311 auch unter diesem Titel bekannt (vgl. Carter, Margins, 76). Das Konfliktpotenzial ist schon gegeben. Vgl. dazu auch 2.1.1. 179 Auffällig umso mehr, weil die Jerusalemer einen neuen König eher begrüßt hätten (vgl. Luz, Mt I, 119; auch France, Jerusalem, 108–127: „unpopular Idumaean king“); die ideo­ logische Intention Jerusalem als „place of opposition and rejection for the true Messiah“ zu präsentieren, ist evident (France, Mt, 70; Garbe, Hirte, 30; Rölver, Existenz, 337: „tödliches­ Milieu“; Howell, Matthew, 119). 180 Zur Parallelisierung und Aufeinanderbezogenheit der Kindermordgeschichte mit einer anderen Jerusalemer Szene bei der Verurteilung Jesu 27,24 f vgl. S. 157 f. 181 Vgl. auch Kraus, Passion, 413: geringfügige Veränderungen mit großer Wirkung.

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digt sich (λέγω) nach der Identität des Reiters und zeigt in dieser Weise eine besondere Aufmerksamkeit für die neueinziehende messianische Gestalt. Dies ist kein eindeutig feindlicher Empfang,182 die plötzlich entstandene Anspannung wird aber steigen, und unter dem Einfluss der Autoritäten wird es in 27,24 f zu einer für Jesus tragischen Entwicklung kommen. Jerusalem ist noch nicht als ein öffentlicher Feind Jesu aufgetreten, aber die matthäischen Anspielungen auf die Tradition der ermordeten Propheten in 21,11 (und weiter auch in 22,6 f und 23,37–39) stellen diesen Einzug in die Tempelstadt unter ein schlechtes Omen.183 In der neueren Forschung wird kaum noch bestritten, dass in 22,7 auf die Zerstörung Jerusalems angespielt wird.184 Die Heere, die die Stadt der Mörder zugrunde richten, beschreiben allegorisierend die einmarschierenden römischen Truppen; der zornige König macht den Mördern den Garaus und vernichtet ihre Stadt. Die plötzliche dramatische Eskalation ist in V. 5 kaum zu erahnen. Der eingeschaltete V. 6, der über die Tötung der Knechte berichtet, bereitet nicht nur den Racheakt vor und macht diesen narrativ verständlich, sondern schafft auch die nötige Querverbindung zu 21,35–41 und stellt auch das Gleichnis der königlichen Hochzeit unter denselben Vorstellungshorizont,185 damit der redaktio 182 Jerusalem befindet sich gerade unter römischer Regierung, wegen des Einzuges eines Königs der Juden sind die Bewohner der Stadt „understandably worried“ (France, Mt, 781). 183 Cousland, Crowd, 223; Schnider, Prophet, 105 f. Sprachlich können auch die Zusätze im Mischzitat aus Jes 62,11, die mit Jes 40,10 und 63,1–6 eng zusammenhängen, auch kriege­ rische Untertöne verlauten lassen, sodass „the modification may reflect Matthew’s knowledge of Jerusalem’s negative response to Jesus’ entry“ (Ham, Coming King, 40; vgl. auch Meiser, Reaktion, 253: „Mt 21,11 als kompositorische Vorbereitung für Mt 23,37 […]; Mt 21,11 ist dann ein Jerusalem-kritisches Zeugnis“). 184 Vgl. Frankemölle, Antijudaismus, 84; Hummel, Auseinandersetzung, 85; Gnilka, Verstockung, 100; Konradt, Deutung, 195; Garbe, Hirte, 85; Tilborg, Leaders, 60; Gnilka, Verstockungsproblem, 126; Ogawa, L’histoire, 280; Brandon, Fall, 36; Howell, Matthew, 219; Luz, Mt III, 242; Konradt, Israel, 211; Taylor, Destruction, 288: Die Zerstörung durch Feuer (καὶ τὴν πόλιν αὐτῶν ἐνέπρησεν) ist ein aussagekräftiges Element (vgl. Josephus, Bell VI 353–404; 2Bar 7,1; 80,3; Sib 4,125–127). Prominenter Vertreter einer anderen Richtung ist Rengstorf, Stadt, 106–129, der hier aufgrund eines vermuteten literarischen „Topos“, eine Anspielung auf die Tempelzerstörung verweigert. Vgl. die Kritik bei Luz, Mt III, 242, Anm. 56; Lampe, A. D. 70, 165 f, mit dem Ergebnis: „Matthew sees in this parable […] an opportunity to develop the theme of the parable of the wicked tenants (21,41 ff) and to drive home its point by an actual allusion to the fall of Jerusalem“ (166). Reicke, Synoptic, 123, bestreitet, dass Mt und Mk nach 70 n. Chr. entstanden sind und nimmt daher an, dass sie gar keine Anspielungen auf die Tempelzerstörung enthalten können. 185 Die beiden Parabeln wurden gegenseitig angeglichen (Steck, Israel, 301: „Die Allegorie vom Hochzeitsmahl muss […] als Ergänzung der Weingärtnerallegorie angesehen werden“; Garland, Intention, 31; Tilborg, Leaders, 59; Gnilka, Verstockung, 99 f; Roloff, Kirchenverständnis, 349). Es ist jedoch umstritten, ob 22,7 ursprünglich zu Matthäus gehört, oder schon in einer früheren Traditionsstufe eingefügt wurde. Die Verbindung ist direkt: „Was sich die ahnungslosen jüdischen Gegner Jesu in der Parabel von den bösen Pächtern selbst angekün-

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nelle Eingriff überhaupt Sinn machen kann. Die Zerstörung ist durch die Misshandlung und Ermordung der zum wiederholten Mal gesandten Boten Gottes (21,34 f.36.37–39) zu Israel gerahmt und motiviert. Die Parallelisierung mit den geschichtlichen Ereignissen sprengt aber den Rahmen des Gleichnisses und ist auch nicht konsequent, denn die Jerusalemer haben keinen römischen Gesandten getötet. Die Koppelung ist nur dann möglich, wenn man neben dem Topos des gewaltsamen Geschicks der Propheten, der hier erneut aufgenommen wird,186 auch die Anspielung auf ein anderes alttestamentliches Thema sieht, nämlich auf die Bestrafung des widerspenstigen Israels durch fremde Mächte.187 Eine direkte Linie führt von 22,7 zur Wehklage über Jerusalem, wodurch der Zusammenhang Tötung der Propheten (23,37)  – Zerstörung Jerusalems (23,38: ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν ἔρημος) in aller Klarheit zum Ausdruck kommt. Jerusalem erscheint als der Ort, in dem der Wille Gottes selbst (23,37b: ποσάκις ἠθέλησα) am hartnäckigen Widerstand der gottlosen Jerusalemer scheitert (23,37c: καὶ οὐκ ἠθελήσατε).188 Im Vergleich zum Stadtverständnis ist die Stellung des Matthäus zum Tempel viel positiver.189 Das Heiligtum als Haus und Kultstätte Gottes behält seine volle Berechtigung bei. Umso gravierender ist die Schuld derer, die wegen ihrer Gottlosigkeit seine Zerstörung herbeiführen. Auf diese Hervorhebung der Schuld wird in digt haben – κακοὺς κακῶς ἀπολέσει αὐτούς –, wird hier geschildert“ (Luz, Mt III, 242; auch Tilborg, Leaders, 49; ferner Hummel, Auseinandersetzungen, 83). Vgl. verstärkend ἀπόλλυμι in 22,7 wie auch in 21,41 // Mk 12,9. 186 Vgl. Tilborg, Leaders, 61; Luz, Mt III, 242; Steck, Israel, 300. 187 Jahwe selbst kann die feindlichen Völker veranlassen, als Strafe gegen Israel zu ziehen, vgl. Lev  26,16 f.25.32–39 (V. 33: αἱ πόλεις ὑμῶν ἔσονται ἔρημοι).41 f; Num 14,42–45; Dtn 28,25.62–64; Jer 6,22–26; 12,7; 15,9; 25,9; Jes 9,10 f; 10,5–11; 44,28–45,7; Hos 8,3; 10,10; 13,11; Am 3,11 f; 9,4; Thr 1,5.7.16 f.21 (vgl. Schreiner / Kampling, Der Nächste, 41 f; France, Mt, 825; Carter, Margins, 436); als Schlüsselstelle vgl. 2Chr 36,15–19, wo die Abweisung der Boten Gottes (V. 16: ἐμπαίζοντες ἐν τοῖς προφήταις αὐτοῦ), der göttliche Auftrag der fremden Mächte (V. 17: ἤγαγεν ἐπ’ αὐτούς), die Zerstörung und Verbrennung des Tempels (V. 19) zusammen vorkommen (vgl. auch Neh 9,30). Das Heiligtum kann in die Hände der Feinde nur dann fallen, wenn Gott selbst es bewirkt: Thr 1,10; Josephus, Bell VI 250; 4Esra 3,27; 2Bar 5,3; 6–8; 64,4 f; 77,8–10. Die Römer selbst erscheinen bei Flavius Josephus in Bell III 293; V 412 (τὸ θεῖον hat den Tempel verlassen und steht auf römischer Seite); II 360 und V 367 (ἡ τύχη ist zu den Römern übergegangen) als Werkzeug der Strafe Gottes (vgl. Lindner, Geschichtsauffassung, 42 f; Stemberger, Herrschaft, 35 f; Hadas-Lebel, Jerusalem, 100–105). 188 Für einen engen Zusammenhang mit den drei Gleichnissen in 21,28–22,10 spricht das gemeinsame Leitmotiv der Ablehnung des Willens des Vaters: 21,29: οὐ θέλω; 21,34–39; 22,3: καὶ οὐκ ἤθελον ἐλθεῖν (vgl. Kwaak, Klage, 161); auch Garland, Intention, 204. Vgl. unten 4.2.3.3. 189 Zur durchgehend positiven Haltung von Matthäus gegenüber dem Tempel vgl. vor allem Hummel, Auseinandersetzung, 78–82; auch Gurtner, Torn Veil, 100 („remarkably consistent and positive portrayal of the temple“); Ders., Matthew, 130; Runesson, Rethinking, 116; Luz, Jesusgeschichte, 26: Der Tempel konnte „in positiver Erinnerung bleiben“; Davies / Allison, Mt III, 143.

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einem weiteren Abschnitt eingegangen. Nun werde ich die grundsätzlich positive Haltung gegenüber dem Tempel anhand einschlägiger Texte unterstreichen. In 5,23 f, als Erweiterung der ersten Antithese, hätte Matthäus durchaus die Gelegenheit gehabt, den Tempelbetrieb in ein schlechtes Licht zu rücken. Der Opfervorgang wird vorausgesetzt, auch wenn das Opfer im Großen und Ganzen zur Szenerie gehört, dabei geht es vor allem um die Akzentuierung der Nächstenliebe.190 Trotzdem macht die Versöhnung mit dem Bruder die Opfergabe nicht hinfällig, sondern sie wird schließlich sogar geboten: τότε ἐλθὼν πρόσφερε τὸ δῶρόν σου.191 Dass die Versöhnung den Vorrang hat (πρῶτον), macht die eigentliche Pointe aus; dass das Opfer mit voller Würde dargebracht werden muss, d. h. erst wenn im Vorfeld auch die kleinste Zwietracht beseitigt wurde, zeigt nochmals indirekt die hohe Wertschätzung für den Tempelkult.192 Eine ähnliche Stellung ist auch der Antwort an den geheilten Aussätzigen (8,4) zu entnehmen. Der Priester ist in seiner Funktion als Vermittler unangetastet193 in seiner Autorität, am Altar Gottes, derjenige, der die befohlene Gabe aufnimmt, auch wenn nicht er, sondern Jesus die Heilung gewirkt hat. Jesus ver-

190 Luz, Mt I, 344 f; zustimmend auch Paesler, Tempelwort, 232; Konradt, Deutung, 214; Gaston, No Stone, 94 f, im Sinne von Did 4,14 und Bar 19,12: „The saying, far from indicating an approval of sacrifice, does not say anything different from the Hosea word […] quoted in Mt 9,13 and 12,6[sic!]“. Für Schenk, Sprache, 207, ist τὸ δῶρον hier nur ein historisierendes Element; eine radikale Meinung vertritt Strecker, Weg, 31, Anm. 1, demnach 5,23 f, wie auch 17,24–27 „für eine Bejahung des Kultgesetzes durch den Evangelisten nicht ausgewertet werden dürfen“, Matthäus habe hier eher an den christlichen Gottesdienst gedacht. Für Sand, Mt, 77, ist in 5,23 f „zweifellos eine deutliche Kultkritik nicht zu übersehen“. Mit Recht bemerken Theissen / Merz, Jesus, 529, die Mt 5,23 f eine tendenzielle „Überordnung des Sittlichen über das Kultische“ zuschreiben, dass die in der prophetischen Tradition verankerte kritisch-kultische Haltung (vgl. 1Sam 15,22; Jes 1,11 ff; Hos 6,6; Ps 40,5; 51,18 ff; Prov 21,3) „mit der grundsätzlichen Anerkennung kultischer Institutionen einhergehen“ kann. 191 Vgl. vor allem Jeremias, Laß, 154: Die Auffassung, dass „der Kultus das Minderwertige sei gegenüber der sittlichen Haltung (vgl. Mt 9,13; 12,7), trifft nach dem Gesagten schwerlich das Richtige“; Barth, Gesetzesverständnis, 84 („konservative Haltung gegenüber dem Zeremonialgesetz“); auch Ådna, Tempel, 436; Luomanen, Entering, 227 („positive attitude towards the temple sacrifice“); Brooks, Community, 77. Hummel, Auseinandersetzung, 80 f, nuanciert zwar gewissermaßen die Meinung von Jeremias, nimmt aber an dieser Stelle ebenfalls eine „konservative Haltung“ an: „Eine antikultische Tendenz kann auf keinen Fall in ihm [in diesem Wort] gesehen werden“; neutral spricht sich Söding, Tempelaktion, 57, aus – der Opferkult werde hier nicht problematisiert. 192 Inzwischen versteht auch Matthias Konradt diese Stelle ähnlich (vgl. Konradt, Mt, 85), nachdem in seinen früheren Studien Mt 5,23 f als Zeichen für das „Obsoletwerden des Tem­ pelkultes“ und für die „Relativierung seiner Bedeutung“ angesehen wurde (Konradt, Deutung, 214). 193 Hummel, Auseinandersetzung, 82: „Der Kult ist auch hier die kritiklos hingenommene Voraussetzung“, wie auch in Mt 5,23–24; Matthäus schafft damit eine enge Verbindung, indem er τὸ δῶρον red. hinzufügt; Nolland, Mt, 350, Anm.  14, weist auch auf den gemeinsamen ὕπαγε hin.

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stößt in seiner Wundertätigkeit nicht gegen das Gesetz des Moses (vgl. die Regelung in Lev 14), sondern betrachtet die Wundertaten als Teil des bestehenden religiösen Gefüges.194 Diese Tendenz wird in der Tempelreinigung bestätigt. Schon in Mk 11,15–17195 hatte die Tempelaktion keine ausgeprägte antikultische Intention. Nicht der Tempel an sich oder der Tempelbetrieb,196 sondern seine Degradierung zum Ort der Manifestation menschlicher Habsucht und weltlicher Interessen erweckte den Zornausbruch Jesu. Mt 21,12 verzeichnet sogar eine bestimmte Steigerung in der Handlung Jesu  – er vertreibt πάντας τοὺς πωλοῦντας καὶ ἀγοράζοντας ἐν τῷ ἱερῷ. Auch die Aoristform ἐξέβαλεν wirkt im Vergleich zu Mk  11,15: ἤρξατο ἐκβάλλειν entschlossener und effektiver.197 Die vorgenommene Umstellung macht den Tempel sogar zum Reiseziel Jesu in Jerusalem:198 Durch die Verschiebung der Verfluchung des Feigenbaums (Mt  21,18 f // Mk  11,12–14) nach hinten werden die Tempelaktion und die Heilungen unmittelbar nach der Einkunft ins Heiligtum angesetzt.199 Gerade angekommen, setzt Jesus schon ein deutliches Zeichen für die hohe Wertschätzung des Tempels als Bethaus (21,13: οἶκος προσευχῆς, vgl. Jes 56,7), indem er die Händler austreibt. 194 Man befindet sich hier eindeutig „im Raum Israels und seines Gesetzes“ (Luz, Mt II, 10); Jesus zeigt sich in dieser Wunderheilung als „Erfüller der Schrift“ (Held, Matthäus, 243 f); von „Korrektheit in kultischen Fragen“ spricht Wenschkewitz, Spiritualisierung, 90. 195 Die Aktion Jesu richtet sich gegen die ökonomischen Aspekte des Heiligtums und nicht gegen den an sich guten Tempel (vgl. Lücking, Zerstörung, 151 f). „Anti-cultic implications of Jesus’ action in the temple“ sehen hier Gaston, No Stone, 88; Rowland, Temple, 470; Trocmé, L’expulsation, 4 („un jugement entièrement négatif sur le Temple et sur son culte“). Ådna, Tempel, 286, versteht die Übernahme von Jes 56,7 in Mk 11,17 metaphorisch und dementsprechend auch kultkritisch: „Das unzeitgemäße Beharren auf der alten Kultordnung ist“ es, was „die Angesprochenen in ihrem Verhalten zum Tempel wie Räuber ihrer Höhle gegenüber erscheinen lässt“; auch Juel, Messiah, 134. 196 Vgl. auch Meier, Beobachtungen, 181: „Der Tempel selber steht […] gar nicht zur Debatte“; Söding, Tempelaktion, 42, Anm.  42; Wenschkewitz, Spiritualisierung, 91; Kraus, Passion, 413: Jesus hat sich die Tempelreinigung „keineswegs usurpatorisch“ vorgenommen; Davies / Allison, Mt III, 134: „The disfavour is not directed against the temple as such but against those who have corrupted the institution“; Hummel, Auseinandersetzung, 96 („gegen den Mißbrauch des Tempeldienstes zur persönlichen Bereicherung“). 197 Ådna, Tempel, 169 f; Davies / Allison, Mt III, 137. 198 Luz, Mt III, 184: „Mit V 12 hat Jesus sein Ziel erreicht, den Tempel“; Trilling, Einzug, 68; Söding, Tempelaktion, 42; Garbe, Hirte, 61; Konradt, Israel, 252–253; Gurtner,­ Matthew, 139; Weren, Entry, 135 („continuous movement that ends only after the temple has been entered“). 199 Diese Umstellung mag auch damit zu tun haben, dass für Matthäus nicht mehr die eigentliche Austreibung der Händler, wie in Mk  11,15–19, sondern die anschließenden Heilungen und der Lobgesang den Gipfelpunkt der Aktion Jesu im Tempel darstellen. Das erkennt man auch deutlich an der Ausrichtung der Gegenreaktion ab  – die Hohenpriester und die Schriftgelehrten fühlen sich nicht durch die Tempelreinigung, sondern durch die messianische Akklamation provoziert (vgl. für viele Garbe, Hirte, 62).

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Die Auslassung von πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν aus Mk 11,17 wird oft als tempelkritisch gedeutet. Es ist nicht zufällig, dass dieselben Autoren auch die heidenchristliche Bestimmung der mt Gemeinde vertreten.200 Inzwischen geht man vom Judentum als Lebenskontext der mt Gruppierung aus, die tempelkritische Exegese von Mt 21,13 hält aber durch.201 Die Schwäche dieser Argumentation liegt darin, dass man die Differenzierung ‚Stadt – Tempel‘ in der matthäischen narrativen Entwicklung, wie sie hier im ganzen Kap. 4.2.1 vorgenommen wird, nicht wahrnimmt. Dieser redaktionelle Eingriff ist m. E. eher durch die christologische Struktur des Evangeliums zu begründen: 21,5.9.14.15 verbinden die Tempel­ thematik aufs engste mit der mat­thäischen Davidssohn-Christologie. Da die Zuwendung zu den Völkern bei Matthäus einer anderen christologischen Kategorie (der Gottessohnschaft) zugeordnet ist, geht es hier um konsequente Christologie und nicht um Tempelkritik. Dadurch schafft Jesus freien Raum für Blinde und Lahme,202 die gleich zu ihm strömen. Darin findet seine messianische Berufung einen natürlichen Ausdruck, aber auch der Tempel seine angemessene Verwendung – der Messias gehört in den Tempel.203 Die paradigmatischen Heilungen Jesu (21,14[red.]) wie auch die Lehrtätigkeit (διδάσκω: 21,23[red.]; 26,55 // Mk  14,49) ἐν τῷ ἱερῷ geben dem heiligen Ort seine göttliche Bestimmung als „der Manifestation göttlicher Barmherzigkeit“ zurück.204 Der Tempelreinigung ist also, dank der matthäischen redaktionellen Bearbeitung, zusätzlich keine Kultkritik anzumerken.205 200 Vgl. Trilling, Einzug, 71–72; Strecker, Weg, 110. 201 Vgl. Konradt, Israel, 346; Hagner, Mt II, 600 f. In diesem Zusammenhang fallen bei Matthias Konradt Formulierungen wie „obsolet“ oder „der Tempel (…) [hat] seine Rolle verloren“. Diese Auslassung sei „eine theologische Deutung“ (Konradt, Deutung, 213–214). Neulich schlägt jedoch Ders., Mt, 85, mildere Töne an: „Der Kult [ist] keineswegs prinzipiell verneint“, vgl. auch 133, 324–325. 202 McKelvey, Temple, 63: „Matthew describes the purged court as the scene of such eschatological actions as the opening of the eyes of the blind and the making of the lame to walk“. Gerade diesen zwei Kategorien (τυφλοὶ καὶ Χωλοί) ist in Lev 21,18 und 2Sam 5,8 verboten, das Tempelareal zu betreten (Heil, Aspects, 283 f). 203 Wegen dieser neuen Ausrichtung der Szene kann man vielleicht bezweifeln, dass die Tempelreinigung für Matthäus im engen Sinne eine Vorwegnahme der Tempel-Zerstörung ist (so meinen z. B. Cousland, Crowd, 218; Nolland, Mt, 844). So lässt z. B. im Fall von Mk  11,15–19 die rahmende Perikope über die Verfluchung des Feigenbaums (Mk  11,12–14 + 11,20–21) diesen Schluss zu. Vgl. Gaston, No Stone, 70: Markus sieht „the cleansing of the temple as a proleptic sign of its destruction; vgl. auch McKelvey, Temple, 63; Gibbs, Jerusalem, 118; Telford, Fruit, 265; Juel, Messiah, 198. 204 Künzel, Studien, 116. 205 Vgl. zusammenfassend Gurtner, Torn Veil, 110–114: „Matthew, while clearly escalating Mark’s polemic against the Jewish leaders, softens his polemic against the temple“ (114); Overman, Church, 294; Catchpole, Answer, 225 f; Young, Temple, 337; Jones, Matthew, 63; Gurtner, Matthew, 138: „Jesus is not rejecting or downplaying the sacrificial cult“. Hingegen Crosby, House, 200: „Turning over the tables was a judgment on the temple that prefigured its destruction (24,4)“.

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Das enge Verhältnis Gottes zum Tempel ist besonders in dem antipharisäisch ausgerichteten Passus 23,16–22206 gut dokumentiert. Im längsten Weheruf setzt sich Matthäus mit der Schwurpraktik seiner Gegner – dieses Mal ausnahmsweise mit Οὐαὶ ὑμῖν, ὁδηγοὶ τυφλοί angesprochen – auseinander. Variiert kommt die Anrede innerhalb desselben Weherufs auch weiter in V. 17: μωροὶ καὶ τυφλοί und V. 19: τυφλοί vor und verleiht dem Text zusammen mit anderen Stichwörtern wie ναός (V. 162.17.21), θυσιαστήριον (V. 18.19.20), χρυσός (V. 16.172), δῶρον (V. 18.192) und dem thematischen Verb ὀμνύω (V. 162.182.202.212.222) eine harmonisch-chiastische Struktur.207 Angesichts der inhaltlichen Symmetrie fallen umso mehr die abweichenden Elemente auf: In 21b würde man χρυσός erwarten.208 Der Gottesgedanke als Quelle der Heiligung (vgl. ἁγιάζω in V. 17 und V. 19) taucht aber plötzlich am Ende der chiastischen Konstruktion auf; ἐν τῷ κατοικοῦντι αὐτόν209 wird erneut im Schluss-Vers 22 aufgenommen (ἐν τῷ θρόνῳ τοῦ θεοῦ καὶ ἐν τῷ καθημένῳ ἐπάνω αὐτοῦ) und fasst das Hauptanliegen von Matthäus zusammen.210 Gottes Anwesenheit im Tempel füllt mit seiner Heiligkeit jeden Teil des Tempels und macht jeden Schwur bindend. Den kasuistischen Spekulationen der Gegner hält Matthäus eine konsequent theozentrische Tempelkonzeption entgegen. Dadurch richtet sich auch die Aufmerksamkeit von der ursprünglichen Angelegenheit – dem Schwören – auf das umfassendere Thema der Tempelauffassung hin und schließlich auf die Gottesverehrung. Die Verse 16 und 18, in denen die Meinungen der Kontrahenten zitiert werden, wollen nicht nur Beispiele einer abwegigen Logik vermitteln, sondern entlarven auch ein gottloses Handeln. Die Gegenwart Gottes im Tempel ist das, was die Führer ‚nicht sehen‘,211 und gerade darauf kommt es nach der matthäischen Konzeption an. Der Versuch, durch menschliche Überlegungen die direkte Verbindung Gottes zum Tempel als Ganzem zu umgehen, macht auch hier den eigentlichen Vorwurf aus.212 206 Die Adressaten dieses trad. Stückes sind wahrscheinlich matthäisch (vgl. Tilborg,­ Leaders, 106); nicht ausgeschlossen ist es, dass der Vorwurf ursprünglich gegen die Sadduzäer gerichtet wurde, wie Westerholm, Jesus, 109; Baumbach, Sadduzäerverständnis, 32, es in Erwägung ziehen. 207 Luz, Mt III, 325. 208 Auch Hummel, Auseinandersetzung, 79: „Statt dessen biegt die Argumentation überraschend in eine andere Richtung um“; siehe auch Luz, Mt III, 326. 209 Damit zählt Matthäus zu den Zeugen der manchmal angezweifelten Anwesenheit Gottes im zweiten Tempel. Vgl. dazu Davies, Presence, 35; Klein, Bewährung, 206: Die Reihe „setzt voraus, was Stephanus bezweifelte (Act 7,48), dass nämlich Gott im Tempel wohnt, hat also zum Tempel und seinem Kult kein gebrochenes Verhältnis“. 210 Der Vers ist möglicherweise sogar eine matthäische Bildung (Luz, Mt III, 326; Gundry, Mt, 463; Davies / Allison, Mt III, 290; Gielen, Konflikt, 328; erwägend auch Gnilka, Mt II, 283; unentschlossen ist Brooks, Community, 68). 211 Hoet, Omnes, 66: „Ils ne voint pas le critère unique et ultime, qui est Dieu“. 212 „Das Absehen von Gott“ wird hier den Schriftgelehrten vorgeworfen (Haenchen, Matthäus 23, 47 f; Saldarini, Delegitimation, 674: „perverting the true meaning of Scripture“). Es gibt gute Gründe, den Schlussteil (V. 22) mit der ausgeprägten theologischen Dimension als

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Die vordergründige polemische Pointe lässt die Wertschätzung des Tempels als Teil und Voraussetzung der Argumentation zum Vorschein kommen.213 Auch die matthäische Fassung des Tempelwortes (26,61) geht in dieselbe Richtung. Mit der Auslassung eines wichtigen Elements der innerjüdischen Tempelpolemik214 (τὸν χειροποίητον / ἄλλον ἀχειροποίητον) zeigt Matthäus eine eigene redaktionelle Intention, die mit der neuen attributiven Bestimmung τὸν ναὸν τοῦ θεοῦ einhergeht215 (die leicht abwertende Ausdrucksweise Mk  14,58: τὸν ναὸν τοῦτον wird von Matthäus vermieden).216 Das Zeugnis gegen Jesus gemäß Mt 26,59[red.] ist von Anfang an falsch; bei den letzten beiden Zeugen (26,60[red.]: δύο) scheint es zwar, dass ihre Aussage aufgrund der Anspielung auf Dtn  17,6–7; 19,15 gültig ist217 (Mk  14,57: ἐψευδομαρτύρουν; auch matthäisch zu betrachten (vgl. Westerholm, Jesus, 111; Tilborg, Leaders, 105; Luz, Mt III, 326, zählt auch V. 21fin dazu; dagegen hält Strecker, Weg, 133, Anm. 4, den gesamten Passus für trad.). In 15,3–6 wird der Gedanke in Bezug auf das von Gott gebotene ethische Verhalten noch deutlicher formuliert (nicht zufällig ist auch die Anrede τυφλοί gemeinsam – 15,14; 23,16.17.19; auch Garland, Intention, 136). 213 Vgl. auch Hummel, Auseinandersetzung, 80 f: „In diesem Vers (23,21) wird der Tempel als Wohnstatt Gottes ganz ernst genommen“; Klawans, Purity, 218; Young, Temple, 337; Ådna, Tempel, 438; Wenschkewitz, Spiritualisierung, 90; Brandon, Fall, 37 („venerated position which the Temple had in the Jewish Christian mind“); Klinzing, Umdeutung, 204 („Bejahung des Tempels“); Gurtner, Torn Veil, 116; Rölver, Existenz, 323: „Die Auffassung, Gott wohne im Jerusalemer Tempel (V. 21), [ist] für das Matthäusevangelium offenbar ein noch nicht zu hinterfragendes Faktum“. Eine kultkritische Tendenz sehen hier Gaston, No Stone, 95 f; Garland, Intention, 132. 214 Im Sinne der Tempelkritik der Hellenisten, vgl. Paesler, Tempelwort, 208 f; Gnilka, Prozeß, 18; Suhl, Beobachtungen, 341; χειροποίητεος beim Tempel begegnet in LAB 22,5; Philo, VitMos II 88, vgl. Klinzing, Umdeutung, 203. Zur (ἀ-)χειροποίητεος-Tradition als Teil  der Tempelpolemik in Sib 4,6–17.27–30, vgl. Fassbeck, Tempel, 98 f. Bei Matthäus fällt damit auch die Kontrastierung zwischen den beiden Gebäuden weg (Ådna, Tempel, 126). 215 Vgl. Siegert, Tempel, 115; Gurtner, Matthew, 148; Paesler, Tempelwort, 43, der auch in 21,12 die Lesart ἱερὸν τοῦ θεοῦ (C, D, W, f1, M, lat und sy) annimmt. Für den Tempel gilt, was Matthäus auch in Bezug auf das Gesetz betont – Gott ist der Autor (vgl. Mk 7,10). Μωϋσῆς γὰρ εἶπεν wird durch ὁ γὰρ θεὸς εἶπεν (15,4) ersetzt. 216 Das Demonstrativpronomen kann durchaus auch die Radikalität der markinischen Variante unterstreichen: „Mark wants to emphasize the difference between old and new“­ (Gaston, No Stone, 70; auch Gärtner, Temple, 112; Hummel, Auseinandersetzung, 92). Dies ist aber noch kein hinreichender Grund dafür, Markus unbedingt eine dezidierte tempel­ kritsche Tendenz zu unterstellen (obwohl dies möglich wäre); schließlich ist diese Aussage auch für ihn falsch (14,56.57), vgl. Brandon, Fall, 39: „they represented such  a suggestion [dass­ Jesus den Tempel zerstören würde] in their official tradition as a lying calumny perpetrated by the enemies“. 217 So urteilen z. B. Gnilka, Prozess, 22; Senior, Passion Narrative, 166–168; Catchpole, Answer, 223; Bryan, Jesus, 229; Broer, Prozess, 90; Hummel, Auseinandersetzung, 92; ­Hagner, Mt II, 798; Ogawa, L’histoire, 273 f; Fiedler, Passion, 307; Nolland, Mt, 1119: „Two witnesses finally agree“; Heil, Death, 59 („apparently true testimony“); Dschulnigg, Zerstörung, 56 („nicht mehr ausdrücklich als Falschzeugnis abqualifiziert“). Der Bericht ist jedoch ziemlich konfus; ob Mt das Zeugnis für wahr oder für falsch hält, lässt sich nicht mit aller

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Mk 14,59 ist vollständig gestrichen), aber das zitierte Tempelwort ist weniger radikal: Mit δύναμαι καταλῦσαι τὸν ναὸν τοῦ θεοῦ (26,61) verzeichnet Matthäus also eher eine Vollmachtäußerung und keine direkte Absicht, den Tempel zu zerstören.218 Mitzuhören ist aber auch das Niedrigkeitsmotiv, der bewusste Verzicht Jesu auf die göttliche Macht in der Passionsgeschichte:219 Er kann es, er tut es aber nicht. Die Leser wissen von 22,7 her, wer tatsächlich Stadt und Tempel niedergerissen hat; die (falsche?) Behauptung der Zeugen bewahrheitet sich aber ironischerweise, wenn man die ganze matthäische Ätiologie der Tempelzerstörung in Betracht zieht: Im Endeffekt bewirken diejenigen, die jetzt gerade den Tod Jesu beschließen, dass diese Ankündigung als göttliche Strafe für ihre Tat wahr wird. Die positive Stellung zum Tempel und Tempelkult ist neben der grundlegenden Bejahung des Gesetzes eine andere Seite der deutlichen jüdischen Prägung der matthäischen Theologie. Die positive Einstellung zum Tempel kann man als Reflex des traditionell matthäischen Toraverständnises (vgl. 5,17) betrachten.220 Seine Torahermeneutik (vgl. die Verwendung von Hos 6,6 in 9,13 und 12,7) ist aber paradoxerweise auch ein Mittel zur Kultüberwindung. Vielleicht liegt deswegen Eindeutigkeit sagen. Es gibt Argumente dafür und dagegen (Tilborg, Leaders, 78). Vgl. z. B. Gielen, Passionserzählung, 129, zu den beiden Zeugen: „Allerdings sind auch sie durch den Kontext als Falschzeugen ausgewiesen, so dass schon dadurch die Bestimmung ‚Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen‘ (Dtn 19,15) auf den Kopf gestellt wird“; Broer, Bemerkungen, 33 f. 218 Hummel, Auseinandersetzung, 93 („Hocheitsaussage über Jesus“); Schlosser, La Parole, 404: Die matthäische Reformulierung wäre „la mise en relief du pouvoir de Jésus“; Tilborg, Leaders, 82; Paesler, Tempelwort, 41; Tilborg, Leaders, 82. Im Großen und Ganzen wahrt die matthäische Variante die Würde des Tempels, „sowie die Identität von gegenwärtigem und neu zu errichtendem Heiligtum“ (Paesler, Tempelwort, 41 f); vgl. auch Ådna, Tempel, 117: „Die modale Fassung des Mt 26,61 (δύναμαι καταλῦσαι) ist im Vergleich zu der futurischen Ausdruckweise bei Mk  14,56 (οἰκοδομήσω) als eine redaktionelle Abschwächung aufzufassen“. Die Richtung ist von einer eindeutig „positiven Stellung des Mt zum Tempel“ bestimmt (Kraus, Tod, 212; Gurtner, Matthew, 149; Klinzing, Umdeutung, 204). Siehe auch Catchpole, Answer, 224: „Jesus is therefore reverential, not radical, in his attitude to the Temple“; Moo, Old Testament, 340: („Noting Matthew’s alteration of the Temple word as over against Mark’s“); Gurtner, Torn Veil, 121 f; Howell, Matthew, 240; Luz, Mt IV, 176: „Jesus hat als gesetzestreuer Messias nichts gegen den Tempel“; Davies / Allison, Mt III, 143. 219 Wie in 26,39.53 – vgl. Luz, Mt IV, 176; Broer, Prozess, 91; Gurtner, Matthew, 149. Das herausgehobene Schweigen Jesu (vgl. S. 272) kann seinerseits auf Jes 53,7 anspielen (Moo, Old Testament, 149 f; Gerhardsson, Jesus, ausgeliefert, 123 f). 220 Schließlich ist die Tempelordnung ein Teil der Tora (zum engen Verhältnis Tora-Heiligtum, vgl. Jes 2,3; Thr 2,9; Sir 24,10; Josephus, Ant IV 209–211; LAB 12,9–10; 2Bar 84,8; auch in 1Makk 14,29 werden Heiligtum und Gesetz in einem Atemzug erwähnt). Nach Maier, Beobachtungen, 187, wird „eine Kritik an veräußerlicher Kultpraxis […] grundsätzlich erst zum Stein des Anstoßes, sobald es um Ablehnung der Kultpraxis überhaupt und somit der Ab­ lehnung eines Wichtigen Teils der Thora-Vorschriften geht“. Vgl. auch Goodman, Temple, 461: „The rules of the sacrifices carried out by the priests on behalf of the nation were divinely ordained in the Torah“; Hummel, Auseinandersetzung, 78: „Das Bekenntnis zur bleibenden Gültigkeit der Tora forderte im Grunde ein positives Verhälnis zu Tempel und Opferkult“.

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der Hauptakzent in der Tempelaktion Jesu nicht mehr (wie bei Mk) negativ auf der Vertreibung der Händler aus dem Tempelareal, sondern eher positiv auf der Neubestimmung durch Jesus, der im Tempel Blinde und Lahme gesund macht.221 In Christus hat die matthäische Gemeinde einen neuen Kristallisationspunkt gefunden. Der inzwischen zerstörte Tempel verliert deswegen an theologischer Zentralität, ohne eine ideologische Abwertung zu erfahren. Wie andere nichtchristlichen jüdischen Gruppierungen haben aber auch die matthäischen Christen einen Prozess der Bewältigung des dramatischen Verlustes durchgemacht. Die Ergebnisse dieser theologischen Verarbeitung haben sich teilweise in der christologischen und ekklesiologischen Neubestimmung niedergeschlagen. Die jetzige matthäische Redaktionsstufe wird aber von einem anderen Hauptanliegen bestimmt. Der neue geschichtliche Bezugspunkt wird im Unterabschnitt 4.2.2. näher betrachtet. Im Folgenden werde ich anhand einiger punktuellen Stellungnahmen in der jüdisch-hellenistischen Literatur der Zeit die (geschichts-)theologischen Antworten auf die Tempelzerstörung typologisch skizzieren und schließlich im Vergleich dazu die vagen Spuren einer Bewältigung der Tempelzerstörung bei Matthäus kurz erörtern.

4.2.2 Bewältigung der zweiten Tempelzerstörung in der jüdisch-hellenistischen Literatur und im Matthäusevangelium Der katastrophale Verlust des Tempels in 70 n. Chr. hat die Fundamente der jüdischen Existenz erschüttert.222 Das plötzliche Ende einer Ära mit dem schrecklichen ‚Déjà vu‘ eines niedergebrannten Tempels hat erneut einen heftigen Prozess der Bewältigung ausgelöst.223 Man hat sich durch literarische Reflektion darum bemüht, das Unvorstellbare224 unter Rückgriff auf vertraute Denkkatego 221 Söding, Tempelaktion, 43, Anm 29: „Die Tempelaktion setzt in Handlung um, was Matthäus im Rückgriff auf Hos 6,6 als Kernsatz jesuanischer Kritik an jüdischer Gesetz­observanz und Tempelfrömmigkeit […] formuliert“; Konradt, Deutung, 214: „Ordnet Jesus in Mt 12,6 f die Barmherzigkeit dem Tempelkult vor, so findet dies auf eigene Weise in 21,12–14 seine Entfaltung“. 222 Neusner, Formation, 21 f: „When the Temple was destroyed […] the foundations of the country’s religious-cultural life were destroyed. […] The destruction of the Temple meant not merely a significant alteration in the cultic and ritual life of the Jewish people, but also a profound and far-reaching crisis in their inner and spiritual existence“; die größere Bedeutung des zweiten Tempels im Vergleich zum ersten im „Gefüge des Gesamtgeschehens im Volke in all seinen faktischen und emotionellen Auswirkungen“ vermerkt Safrai, Volk, 55–56; vgl. auch Brandon, Fall, 167. 223 Als knappe Darstellung der Ereignisse auf der Basis von Josephus, Bell, vgl. Schäfer, Geschichte, 145–156. Als theologische Antworten auf die nationale Tragödie kommen vor allem 2Bar, 4Esra, ApkAbr, LAB in Frage, aber auch 3Bar, 4Bar, teilweise Sib IV und V (vgl. Jones, Reactions; Collins, Imagination, 195; Nickelsburg, Jewish Literature, 265–288). 224 Vgl. 2Bar 44,6: die Wege Gottes sind „unerforschlich“, in Bezug auf die Tempelzerstörung; 4Esra 3,30–31; 5,28.40.

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rien225 erklärbar und verkraftbar zu machen. Man kommt um das Problem der Theodizee226 nicht herum. Die Frage, warum Gott es zugelassen hat und worin der menschliche Schuldanteil liegt – der Sieger wie auch der Besiegten – drängt sich schmerzhaft auf. Eine Reihe von jüdisch-hellenistischen Schriften bietet sich wegen ihrer vermuteten Entstehungszeit als gutes Vergleichsmaterial zum matthäischen Gedankengut an.227 Der Zweck dabei ist, ähnliche Denkkategorien im Umgang mit der Katastrophe zu beleuchten und den matthäischen Weg in seiner Eigenart genauer hervorzuheben. Dieser Versuch bleibt zwangsläufig nur skizzenhaft und kann nicht mehr als ein Survey über in Frage kommende Texte bieten, wobei besonders Themenkreise aufgenommen werden, die anschließend für eine knappe Gegenüberstellung mit matthäischen Denkansätzen verwendbar sind. Die Pseudepigraphen als mögliche Quellen der römischen Geschichte wurden lange vernachlässigt,228 die Problematik der Tempelzerstörung wurde aber schon mehrmals aufgegriffen.229 Interessieren werden mich vor allem die Erklärungs 225 2Bar und 4Esra z. B. reflektieren die gegenwärtige Bezugsgeschichte in einem literarischen Setting, das die babylonische Zerstörung im Mittelpunkt stehen hat, vgl. 2Bar 32,2–4, dazu Döpp, Deutung, 92 f; Hadas-Lebel, Jerusalem, 455; Leuenberger, Ort, 234, bezeichnet die Schilderung als „transparent“ für die Vorgänge im 70 n. Chr. Zu 4Esra vgl. Esler, First Christians, 110: Der Autor „uses the dramatic garb of the earlier catastrophe to address i­ssues thrown up by the destruction wrecked on Jerusalem and its population by the Romans in 70 CE“; Jones, Reactions, 58; Collins, Imagination, 212, 223; Kirschner, Apocalyptic, 29 („frame of reference“); Bogaert, La ruine, 123: „L’absorbtion d’une destruction par l’autre, constitue une clé fondamentale d’ interprétation“. In diesem Sinne erweisen sie sich als doppelbödige Schriften, die einen geschichtlich-literarischen Rahmen als Vorwand nehmen, um aktuelle Angelegenheiten zu verarbeiten. 226 Stone, Reactions, 196: „Theodicy became the central issue“; Collins, Imagination, 200 (über 4Esra); Desjardin, Law, 33. 227 Im Folgenden werde ich besonders 2Bar, 4Esra, LAB, ApkAbr heranziehen, die in der Forschung im Zusammenhang mit der Zerstörung des zweiten Tempels in Verbindung gebracht werden. Alles spricht dafür, dass 4Esra gegen Ende des ersten Jh. abgefasst wurde (Hallbäck, Fall, 270 f). Die im 2. Jh. n. Chr. verfasste griechische Vorlage der slavischen ApkAbr geht wahrscheinlich auf ein Ende des 1.Jh. entstandenes Original zurück (vgl. Hahn, Frühjüdische, 87); Nickelsburg, Jewish Literature, 269 („a date close to the year 70“); Rubinkiewicz, La vision, 137, rechnet sogar als Autor mit einem Augenzeuge der Tempelzerstörung. 2Bar lässt sich ungf. Ende des ersten Jh. n. Chr. (Nickelsburg, Jewish Literature, 283) oder auf den Anfang des 2. Jh. n. Chr. datieren (vgl. Klijn, Einleitung, 114). Kurz vor oder wahrscheinlicher kurz nach der TZ wird die Entstehung von LAB angesetzt (Nickelsburg, Jewish Literature, 269). 228 Jones, Reactions, 19 („underexploited“). 229 Die Untersuchung von Jones ist eine der wenigen Monographien, die das ganze Spektrum der Pseudepigraphen hinsichtlich der Tempelzerstörung beleuchtet; unter dem Aspekt der Trauer und ihrer Bewältigung für die beiden Zerstörungswellen, vgl. Daschke, City; unter Berücksichtigung eines größeren Zeitraumes Döpp, Deutung; noch einige weitere Aufsätze und Buchkapitel verschaffen (mit Eingrenzungen) einen Überblick  – Knowles, Jeremiah, ­265–284; Hadas-Lebel, Jerusalem, 111–126; Kirschner, Apocalyptic, 27–46; Stone, Reactions, 195–204.

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angebote der jeweiligen Autoren wie auch die intendierten Lösungs­versuche. Schuldzuschreibung, Gegnerbild, die Rolle der Tora in der Zwischenzeit, der Trost der Wiederherstellung der einstigen Größe wie auch der Gegnervernichtung in der Endzeit werden die Linien ausmachen, denen ich weiter folgen werde. Abgesehen von Flavius Josephus, der als direkt Beteiligter eine umfassend historiographische Darstellung des Krieges verfasst hat, sind die jüdischen Autoren nach der Zerstörung des zweiten Tempels viel weniger an den Fakten selbst interessiert als die Generation der babylonischen Zerstörung in 586 v. Chr.,230 weswegen auch ihre Vorgehensweise nicht systematisch ist. Vielmehr stehen ‚die Lektion der Geschichte‘ und die teleologische Interpretation im Vordergrund, wobei eine apokalyptisch geprägte Denkweise in der Darlegung der Geschehnisse Oberhand gewinnt.231 Josephus Flavius entwickelt als Historiker selbst eine ‚Ätiologie der Zerstörung‘ und schreibt vorwiegend den Zeloten die Schuld zu, weil sie den Tempel verunreinigt hätten.232 Das Resultat dieser Erklärung ist das übertrieben positive Bild der Römer und ihrer Anführer, denen Josephus sich natürlich tief ver­ pflichtet fühlt. Was die Berichte über die Tempelzerstörung betrifft, begründen die Varianten von Josephus und die römische Propaganda auf sich widersprechende Weise den römischen Angriff und die anschließende Inbrandsetzung des Tempels.233 Die ‚milde‘ Lesart von Josephus über die Involvierung von Titus (der Kaiser hätte die Tempelzerstörung vermeiden wollen – Bell VI 252–266.324)234 ist im Lichte der flavischen Religionspolitik, die dem Sieg auch eine religiös-symbolische Komponente verleihen dürfte,235 umso unwahr­scheinlicher. Im Unterschied zu Josephus, der den Römern möglichst viel des Schuldanteils abnehmen wollte, um ihrem positiven Bild nicht zu schaden, ohne aber die 230 Hadas-Lebel, Jerusalem, 111 f. 231 Nicht zufällig ist das Thema in apokalyptischen Schriften behandelt worden, in denen der Spielraum für die Entwicklung von Deutungsmustern und kompensatorischen Endzeitvorstellungen viel größer ist; vgl. Hallbäck, Fall, 291: „Apocalyptic literature is a literature of crises“. Der Zusammenhang zwischen sozial-religiöser Krise und Apokalyptik wird auch von Wright, Setting, 82 f, angesprochen; zum Bedürfnis nach metahistorischen Vorstellungen vgl. auch Stone, Reactions, 197–199; nach Schmid, Zerstörung, 198, lässt sich die Apokalyptik „als theologische Reaktion auf Evidenzverluste theokratischer Konzeptionen begreiflich machen“; vgl. auch Leuenberger, Ort, 27: „Das religiöse Symbolsystem“ soll dadurch aufrecht erhalten werden; Nickelsburg, Social Aspects, 645: „The response of apocalyptic movements allows the community to maintain a sense of identity and a vision of their ultimate vindication in the face of social structures and historical events that deny that identity and the plausibility of that vision“. 232 Vgl. z. B. Josephus, Bell II 423; V 380.416–418; zum Thema siehe Regev, Josephus, besonders 279–284; Mader, Josephus, 10–17. 233 Barnes, Sack, 132–133. 234 Zur clementia der Flavier vgl. Hadas-Lebel, Jerusalem, 76–84. 235 Vgl. die Ausführungen von Rives, Flavian, 145–166; Schwier, Tempel, 308–317; Ben Zeev, Between, 53–63; Smallwood, Jews, 325 f; vorsichtig urteilt Goldenberg, Destruction, 194 f („the question cannot be declared settled“).

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Größe ihres Sieges zu vermindern, sind nach 2Bar die Sieger nur Akteure zweiter Klasse.236 Der Fall Jerusalems und der Tempelbrand wurden eigentlich durch Engel verursacht. Die Römer vollziehen nur, was im Himmel vorherbestimmt wurde, und dürfen sich dessen überhaupt nicht rühmen und sagen – „Wir haben es so überwunden, dass wir sogar das Haus des Höchsten im Krieg verwüstet haben“ (2Bar 80,3).237 Das wirkt dem Siegesrausch der Römer und der flavischen Propaganda238 entgegen und leitet zugleich die eigentliche Argumentationslinie ein: Alles geschieht mit dem göttlichen Willen und trotz des Eindruckes, die Geschichte sei aus den Fugen geraten, hält der Höchste das Schicksal der Welt fest in seinen Händen. In dem Unglück, das über das heilige Volk gekommen ist, zeigt sich die Unparteilichkeit Gottes (2Bar 13,8: „Denn das Recht des Höchsten ist unparteiisch“, auch 44,4; als Vergleichstexte Röm 2,9–16 und Act 10,34–35),239 der alle Völker ohne einige zu bevorzugen nach ihren Taten richtet. Die Gerechtigkeit Gottes ist nicht ins Wanken geraten, das Leiden wie auch der Lohn werden rechtmäßig kommen (vgl. 2Bar 5,2; 52,3–7).240 Die Zerstörung ist nur ein 236 Gott ist die eigentliche Ursache der Zerstörung, vgl. 2Bar 80,1–5; auch 5,3; 6,4; 7,1; auch 4Esra 3,30; 5,28. „To see the destruction of Jerusalem as an act of the Gentiles would be to misunderstand its true nature. It is an act of God“ (Murphy, Temple, 678). In der Gesamtkonzeption von 4Esra wird sogar eine bewusste Wiederlegung der positiven, heldenhaften Präsen­ tation der Römer durch Josephus vermutet: „The main political point of 4 Ezra is to controvert the positive portrait of Rome that finds expression in the works of Josephus“ und „to combat the notion that Roman prosperity was divinely granted“ (Jones, Reactions, 75). 237 Eine andere Art der Delegitimierung der Römer und zwar durch die Betonung der Grausamkeit ihrer Taten betreibt ApkAbr 27,1–4, wonach „eine Schar der Heiden“ Männer, Frauen und Kinder töteten oder versklavten, den Tempel in Brand steckten und die heiligen Gegenstände plünderten. 238 Esler, Honour, 246, spricht von einer „counter-ideological mythopoiesis“ mit dem Zweck „to subvert the reality of Roman domination“. Interessanterweise werden in der Liste mit Tempelgeräten, die von den Engeln gerettet wurden (2Bar 6,6 f: „den Vorhang, den heiligen Efod, den Sühnedeckel, die zwei Tafeln, das heilige Priesterkleid, den Räucheraltar, die 48 Edelsteine, die der Priester trug, und alle heiligen Geräte des Zeltes“), ausgerechnet die Menora und der Schaubrotetisch, die durch Abbildung auf dem Titusbogen fester Bestandteil der imperialen Propaganda geworden waren, nicht direkt erwähnt (Josephus listet in Bell VII 148–150 die Gegenstände, die im Tempel geraubt und während der Feierlichkeiten in Rom gezeigt wurden); zur Menorah als Symbol des Judentums in der Antike vgl. die informative Studie von Levine, History, 131–153. 239 Jones, Reactions, 100. 240 Der ratlose Autor will unbedingt wissen, wie Gott die Feinde zurechtweisen wird (2Bar 24,4). Tröstlich wirken die Antworten in 2Bar 40,1–4; 72,2–6: Eine Art „inversion of the Roman process of violence and their redirection against those who had originally imposed them“ (Esler, Honour, 246); auch 4Esra 7,37–38 spricht von der Bestrafung der Völker im Endgericht, die das Gebot Gottes verachtet haben; vgl. auch ApkAbr 29,17–18; die antirömischen Sib IV und V kündigen wegen der Tempelzerstörung ebenfalls eine eschatologische Rache an: Sib 4,130–136; 5,150.394–397 (vgl. Hadas-Lebel, Jerusalem, 122–126; Collins, Imagination, 235: „Sib. Or. 5 reacts to the fall of the temple not by pondering divine justice [like 4Ezra] or seeking to fill the gap it left in religious life [like 2Baruch] but by venting its outrage against the­ heathen power that was responsible“).

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Teil dieses umfassenden Planes, nach dem Gott die Welt verwaltet.241 Im Großen und Ganzen fehlt in 2Bar der Rechtstreit mit Gott: „an die Stelle der Anklage tritt hier die Klage und das Gebet“.242 Schriller sind die Töne in 4Esra,243 wo die desolate Lage des heiligen Volkes und der Triumph der Angreifer Gott direkt vorgeworfen wird – vgl. 4Esra 3,28: „Handeln die Bewohner Babylons besser? Und hat er deswegen Zion gezüchtigt?“; 30–31: „weil ich sah, wie du sie, die Sünder, erträgst und die Frevler verschonst, dein Volk aber vernichtet, deine Feinde am Leben erhalten […] hast“. In diesem Zusammenhang ist auch die Schilderung über den zerstörten Tempel eine eindrückliche Wehklage.244 Gott hat aber die Katastrophe als „soteriologische Letztmaßnahme“ und „Heilsparadox“ zugelassen, um „das menschliche Herz aus seiner Sündenverstrickung“ zu lösen.245 Er selbst wird das Böse ins Gute wenden, die Trauer nach dem verlorenen Tempel war ein notwendiger Schritt. Exemplarisch bemerkt man die Entwicklung vom ‚kognitiven Schockzustand‘ zur Ein-

241 Aufgrund von 2Bar 52,6b: „Denn warum schau ihr (danach) aus, dass eure Feinde untergehen?“ – kann man spekulieren, ob nun nicht nur die Zerstörung selbst unverständlich war, sondern noch mehr das Ausbleiben einer entsprechenden Strafe für den ungebrochenen Stolz der Übeltäter. So z. B. auch 4Esra 3,2 („weil ich die Verwüstung Zions und den Überfluss der Bewohner Babylons sah“), vgl. Jones, Reactions, 57: „The author’s distress is caused by Rome’s continued domination of Israel, of which the destruction of Jerusalem and the suppression of the revolt is only one part“; vgl. ApkAbr 31,1. Die Zion-Problematik spielt in 2Bar trotzdem eine zentrale Rolle, vgl. dazu das Kapitel „Zion“, in: Murphy, Structure, 71–116. Auch 4Esra ist von den ungünstigen Machtverhältnissen im Heiligen Land geplagt, vgl. Murphy, Structure, 101: „This is a problem which is at the forefront of concern in 4E“; Döpp, Deutung, 126: „Das drückende Problem ist vielmehr die Fremdherrschaft im eigenen Lande“ (vgl. 4Esra 6,59). 242 Hahn, Frühjüdische, 82. 243 Harnisch, Verhängnis, 74 f; Stone, Reactions, 200: „4Ezra did question the very axiom of God’s justice in permitting the Romans to wreak their will on Mount Zion“. 244 Vgl. 4Esra 10,7–8; oder die einfühlsame, untröstliche Beschreibung des verwüsteten Heiligtums in 10,21–24: „Denn du siehst doch, dass unser Heiligtum verwüstet ist, unser Altar niedergerissen, unser Tempel zerstört, unsere Harfen auf den Boden geworfen, unser Lobgesang verstummt, unser Jubel verschwunden, das Licht unseres Leuchters erloschen, die Lade unseres Bundes geraubt, unsere Heiligtümer entweiht, der Name, der über uns ausgerufen wurde, entehrt, unsere Edlen misshandelt, unsere Priester verbrannt, unsere Leviten in die Gefangenschaft geführt, unsere Jungfrauen befleckt, unsere Frauen vergewaltigt, unsere Gerechten verschleppt, unsere Kinder entführt, unsere jungen Männer zu Sklaven und unsere Helden schwach geworden sind. Aber mehr als all das: Zion ‚ist versunken‘. Denn es ist jetzt seiner Herrlichkeit beraubt, und in die Hände derer ausgeliefert, die uns hassen. Daher schüttle deine große Trauer ab und tu deine vielen Schmerzen ab, dass dir der Gewaltige gnädig sei und der Höchste dir Ruhe schenke, ein Ausruhen von deinen Leiden“. Zur Betrübnis und Trauer als wichtige Komponente des 4Esras vgl. Daschke, City, 114: „Even more than the Book of Ezekiel, 4Ezra presents mourning and lamentation in its manifest content“. Eine eindrückliche Beschreibung der Geschehnisse findet sich auch in Sib 5,398–413. 245 Schmid, Begegnung, 273; Kirschner, Apocalyptic, 38 („hidden design of God“); 44 („sign of the divine economy“).

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sicht in der Szene mit der Frau Zion in der vierten Vision (9,26–10,59).246 Mit der im Eschaton neu erbauten „Stadt des Höchsten“ (4Esra 10,54) kehrt wieder Hoffnung und Zuversicht ein, und im Hinblick auf das Theodizee-Problem, dass sich mit der Zerstörung aufgetan hat, ist auch das Ansehen Gottes gerettet.247 Die Schuld des Volkes wird als Grund und Hintergrund der Katastrophe unterschiedlich ins Gespräch gebracht.248 Der Verweis auf die menschliche Schuld ist theologisch betrachtet der schmale Grat, wodurch Gott von der Verantwortung für ein Ereignis, das er selbst zugelassen hat, los gesprochen wird: In 4Esra 3,25.34; 4,24 wird schon am Anfang die Sündhaftigkeit der Bewohner der Stadt vermerkt; in 8,17 werden Fehltritte zugestanden. 2Bar koppelt an mehreren Stellen sogar stärker die Sünde der Stadt und das Versagen der Söhne Israels mit der Zerstörung (2Bar 1,2–5: „Hast du das alles gesehen, was dieses Volk mir antut“; 4,1; 13,9–10; 77,9–10; 79,2249; 85,2–3). Dementsprechend tritt auch die Frage nach dem Grund der über Zion hereinbrechenden Katastrophe völlig hinter die Frage nach dem Zeitpunkt der endgültigen Erfüllung der göttlichen Verheißung

zurück.250 Nach ApkAbr 27,5 haben die Gottlosigkeit und die Idolatrie des Samens Abrahams den Zorn Gottes entfacht (ähnlich auch LAB 19,7; 26,13).251 In Zusammenhang mit der Schuldzuschreibung möchte ich auf 2Bar 10,18 verweisen. Dort sind die Priester aufgefordert die Schlüssel des Heiligtums252 dem Herrn zurückzugeben, weil sie sich als „trügerische Haushalter“ erwiesen haben (vgl. auch 4Bar 4,4–5; ARN b.4), wobei „diese Aufforderung […] mit einer deut 246 Gliederung nach Hahn, Frühjüdische, 65. 247 Harnisch, Verhängnis, 308, mit Verweis auf 2Bar 20,2 und 4Esra  4,26c: „Die Katastrophe Zions beweist also keineswegs die Ohnmacht des göttlichen Wortes […], sondern entspricht vielmehr der Absicht des Höchstens, das Ende nun beschleunigt herbeizuführen“. Ein Spezialfall, der die Wiederherstellung der Würde Gottes nach der Tempelzerstörung betrifft, ist 3Bar, der weit von komplizierten theologischen Konstruktionen als Antwort auf die Frage „Wo ist ihr Gott?“ (vgl. Ps  79) eine Art theologia naturalis anbietet: „God’s activity and wise governance of the cosmos can be seen all around us“ (Jones, Reactions, 142; Collins, Imagination, 250). 248 Der enge Zusammenhang zwischen Sünde und Katastrophe ist breit bezeugt (vgl. 2Kön 17,13–14; 2Chr 36,15–16; Jer 14,10; Thr 1,5; Sach 7,12; Neh 9,30) und wird auch in der rabbinischen Literatur als Erklärungsversuch für den Verlust des zweiten Tempels herangezogen, vgl. Goldenberg, Explanation, 517–526. „The biblical pattern of thinking […] is therefore also at the heart of rabbinic thounght in which the gravity oh the punishment assumes the corresponding gravity of the fault“ (Hadas-Lebel, Jerusalem, 152, vgl. den Überblick mit den rabbinischen Erklärungen zur Tempelzerstörung: ebd., 152–157). 249 Im Schlussteil werden durch die erneute Erwähnung der Verantwortung des Volkes und der Gottesbeteiligung an der Tempelzerstörung (2Bar 80,1–4) wichtige Anliegen aus dem Teil 1–77 rekapituliert (Murphy, Structure, 114; Hahn, Frühjüdische, 80). 250 2Bar 21,19; 24,4; 81,3; vgl. Harnisch, Verhängnis, 73. 251 Zum Thema Idolatrie in LAB, vgl. Murphy, Pseudo-Philo, 252–254. 252 Vgl. zu diesem Motiv Döpp, Deutung, 92–99; auch Evans, Jesus’ Action, 326.

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lichen Kritik an den Priestern verbunden [ist]“.253 Die Rolle der Volksführer in Krisensituationen hat auch den Autor von LAB beschäftigt. George W. E.­ Nickelsburg hat gezeigt, wie in der selektiven Neuerzählung der Schrift dem Anführer des Volkes ein besonderes Augenmerk gilt.254 Darunter sind Korah, Jair und Micah (LAB 16; 38; 44,5–10) schlechte Leiter, die das Volk irreführen. Vielleicht hat die chronische Orientierungslosigkeit im Gewirr der Nachkriegszeit das Bedürfnis nach zuverlässigen Führern besonders aktiviert. Die Priesterschaft wird auch in TestLevi 16,1–2255 für ihren ehrenlosen Umgang mit dem göttlichen Kult, wie auch für Vernachlässigung des Gesetzes und Verfolgung der gerechten Männer, scharf kritisiert und für den Verlust des Heiligtums verantwortlich gemacht: „Darum wird euer Heiligtum öde sein bis auf den Boden“ (16,4).256 Das Ringen um Schuldgefühle wird aber von einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft überboten.257 Abgesehen von der erbarmungslosen Bestrafung der Feinde werden positiv die Perspektive des eschatologischen Wiederaufbaus258 und die Tora als „temporal substitute for the ruined Temple“ in das Zentrum gestellt.259 Die prophetische Vorstellung des himmlischen Jerusalems260 wird sowohl in 2Bar als auch in 4Esra als Trost aufgenommen.261 Noch weitere zwei Argumentationsstränge bestimmen das Tempelbild in der Bewältigungsstrategie: der zukünftige Bau eines neuen irdischen262 und die Neubewertung des gerade ver 253 Döpp, Deutung, 93–94; anders Murphy, Temple, 681 („an accusation that is not developed“); in Bezug auf ApkAbr vgl. Nickelsburg, Jewish Literature, 288: „It is likely that the­ author believes that the events of 70 C. E. were caused by wrong cultic activity, which he construes as idolatry“. 254 Nickelsburg, Leaders, 60: „His narrative is focused mainly on Israel’s leaders and their good and bad characteristics“. Vgl. auch das Kapitel „Leaders – Good, Bad and In-Between“, in: Murphy, Pseudo-Philo, 233–241. 255 Vgl. Döpp, Deutung, 85. 256 Zum christlichen Zusatz TestLevi 16,3, der ohne ihn direkt zu nennen, die Tötung Jesu sehr ähnlich mit Matthäus in die Ätiologie der Tempelzerstörung einbezieht (auch 15,1), vgl. Jervell, Interpolator, 44 f; Hollander / De Jonge, Testaments, 171 f. 257 Der Schuldgedanke ist da, es stellt sich aber heraus, dass im Großen und Ganzen eine „explicit reference to the destruction as a punishment […] extremely rare“ ist (vgl. Jones, Reactions, 103 – in Bezug auf 2Bar, S. 61 – über 4Esra). Das Leiden ist eher „eine Notwendigkeit im Blick auf das Heil“ (2Bar 13,9 f – vgl. Hahn, Frühjüdische, 82). 258 Stone, Reactions, 203: „The longing for a new Jerusalem and a new Temple become particularly poignant after the destruction of the old“. 259 Knowles, Jeremiah, 277; Nickelsburg, Jewish Literature, 265. 260 Als wichtige atl. Belegstellen: Ez 40–48; Jes 54,11–17; Hag 2,7–9; Sach 2,6–17 (vgl. Schürer, History, Bd. 2, 529); sie fingierte ebenfalls als Trostvision (vgl. Jes 54,11: hm'x'nU aol). 261 Vgl. 2Bar 4,3–7; 4Esra 8,53; 10,25–28; ApkAbr 25. 262 Der Wunsch nach dem konkreten Neubau des Tempels dürfte sehr stark gewesen sein (Goodman, Temple, 463–466; Juel, Messiah, 200). In Frage kämen vor allem 2Bar 6,8 f; ­32,2–4: „Denn Zions Bau wird kurze Zeit danach bewegt, um wiederaufgebaut zu werden. Doch dies Gebäude wird nicht bleiben, vielmehr wird es nach einiger Zeit entwurzelt werden und dann verlassen sein bis auf die (vorbestimmte)  Zeit. Nachher muss es erneuert werden

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lorenen Tempels. Es ist nicht ganz deutlich, ob die Vision des himmlischen Jerusalems als Verweis auf einen Neubau zu verstehen ist. Manches könnte vielleicht für eine solche Erwartung sprechen (himmlischer Tempel als Baumodell263), es ist aber zugleich möglich, dass der ewige Tempel nun ohne eine irdische Entsprechung bleibt. Was man aber mit Sicherheit behaupten kann, sind die ebenfalls traditionell verwurzelte Kritik und die Unterbewertung264 des zweiten Tempels, einerseits im Vergleich zum ersten,265 andererseits allgemein wegen Übertretungen und Gottlosigkeit des Tempel­establishments.266 dann in Herrlichkeit, vollendet aufgebaut bis in die Ewigkeit“ (die Prophezeiung wird durch den Trostgedanken in 2Bar 32,5 f gerahmt); vielleicht implizit auch 2Bar 4,2: („Diese Stadt wird eine Zeitlang preisgegeben“); 59,4. Als sicherer Beweis für den Neubau des Tempels ist die Stelle jedoch problematisch, vgl. Bogaert, La ruine, 132; Murphy, Temple, 682. Vielleicht wird die Idee eines neuen irdischen Tempels in 4Esra, vor allem in der Frau-Zion Allegorie, etwas deutlicher: 10,42.44; die Trostfunktion wird wiederum vermerkt in V. 50: „Da nun der Höchste sah, dass du im Gemüt betrübt bist und von ganzem Herzen um sie Leid trägst, zeigte er dir den Glanz ihrer Herrlichkeit und die Schönheit ihrer Pracht“. Die „Stadt des Höchstens“ wird sich zeigen (V. 54); es bleibt trotzdem unklar, ob es hier um eine konkrete neuerbaute Stadt nach dem himmlischen Modell geht (wie auch in LAB 11,15; SapSal 9,8), oder um die himmlische Erscheinung am Ende der Welt (vgl. auch Bogaert, La ruine, 133: „Tous n’est pas limpide dans cette allégorie“), so wie in 4Esra 7,26: „Dann wird die unsichtbare Stadt erscheinen“; 13,36 – wichtiger Hinweis „ohne Menschenhände“. Mit einem Tempelneubau kann man in Sib 5,414–433 rechnen (vgl. Chester, Sybil, 37–69, 47–51; Nolland, Mt, 1128). 263 Vgl. einige Belegstellen Ex 25,8 f; 1Chr 28,19; Ez 40–48; Sach 2,5–9; 1Q 32; (nach Stone, Reactions, 199). 264 Wenn der vor kurzem fertiggestellte Tempel so plötzlich verschwindet, entsteht natürlich ein großer Bedarf an ‚Dissonanzreduktion‘; die Abwertung des Tempels ist in unserem Fall nur eine Möglichkeit. Die Dissonanztheorie sagt drei Modalitäten zum Abbau der Dissonanz voraus: Reduktion der Bedeutsamkeit der dissonanten Elemente (z. B. die schon erwähnte Entwertung des Tempels); Veränderung (Uminterpretation) eines oder mehreren dissonanter Elemente (z. B. die Scheckinah hat vor dem Ansturm der Römer den Tempel verlassen, die Tempelgeräte wurden auch gerettet, sodass das Wesentliche unversehrt geblieben ist; im Eschaton wird es einen neuen Tempel geben); Addition neuer konsonanter Kognitionen (Torastudium, Liebeserweisungen haben dieselbe Wirkung wie das Opferkult im Tempel); zur Dissonanztheorie vgl. Fischer / Wiswede, Grundlagen, 305; Frey / Gaska, Theorie, 245. Wie es scheint, finden in der jüdischen Literatur nach 70 alle diese möglichen psychologischen Mechanismen einen Platz. Esler, First Christians, 128, wendet die Theorie der kognitiven Dissonanz in die Untersuchung der sozialen Funktion auf 4Esra an: „The primary social function of 4 Ezra was to provide a means of managing or eliminating this dissonance“, konzentriert aber seine Ausführungen auf Eschatologie und Gesetz und lässt die Problematik des Wiederaufbaus des Tempels unberücksichtigt. 265 Vgl. 2Bar 68,6; Hag 2,3; Esra 3,12; Tob 14,5; 1Hen 89,73; TestMos 4,7–8 (nach Murphy, Temple, 682; auch Juel, Messiah, 201). Zur „eschatologischen Unzulänglichkeit“ des herodianischen Tempels vgl. Evans, Predictions, 134 f. 266 2Bar 4,2–3: „Oder meinst du vielleicht, dies sei die Stadt, von der ich gesagt habe: ‚In meine Handflächen habe ich dich gezeichnet‘? Nicht ist es dieser Bau, der nun in eurer Mitte auferbaut“; 1Hen 89,74 (die Hirten sind blind); vgl. auch die scharfe Kritik an die Autoritäten Israels, besonders an die korrupte Priesterschaft in TestMos 5–7; TestLevi 9,9; 17,8. Ausnahmsweise findet man in den Sib IV und V kaum kritische Töne gegen Israel oder seine Repräsentanten, vgl. jedoch Sib 4,114–118.

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Das Gesetz bleibt für das betroffene Volk (2Bar 85,3: „Nichts haben wir jetzt mehr, nur den [All]mächtigen noch und sein Gesetz“), das Beharren auf die Gebote des Allmächtigen soll weiterhin sein Leben bestimmen (2Bar 84,7 ff),267 denn „mit Recht gehen auch die zugrunde, die dein Gesetz nicht lieben“ (2Bar 54,14).268 Die Gesetzesübertretungen waren auch der Grund für den Untergang des Tempels (4Esra 9,32 f.36), das Gesetz selbst aber bleibt in Ewigkeit unantastbar.269 Noch mehr ist die Gesetzeserfüllung die vorhandene Möglichkeit, um das eschatologische Heil zu erlangen. Das Gesetz macht lebendig (2Bar 38,2; 45,2; 46,3; 57) und „dient als eine Brücke zwischen diesem und dem kommenden Äon“,270 vgl. 4Esra 14,22 als wichtige Bezugsstelle: Dann will ich alles, was in der Welt von Anfang an geschehen ist, was in deinem Gesetz geschrieben war, niederschreiben, damit die Menschen den Weg finden können und die, welche leben wollen, in der Endzeit das Leben erlangen.

Nicht nur die hervorgehobene Rolle des Gesetzes an sich ist (besonders in 4Esra) signifikant, auch die pragmatische Ausrichtung, dass Gebote sich unbedingt in Werken materialisieren lassen müssen (4Esra 9,7; 13,23; vgl. aber auch 2Bar 32,1: „des Gesetzes Früchte“; 14,7 u. a.: „gute Werke“), erinnert an die matthäische Tora­ hermeneutik.271 Die außer­ordentliche Bedeutung der Tora für das tempellose Israel ruft, wie auch im Mt, die Figur von Mose als Gesetzgeber auf dem Plan:272 Esra wird im letzten Abschnitt als neuer Mose dargestellt (vgl. 4Esra 14,1–9), der 267 Vgl. Collins, Imagination, 221: „The central message of Baruch is quite clearly the need to observe the law“; Murphy, Structure, 114, 115: „2B relativizes the Temple altogether and sees the Law as a way to move safely from this transitory world to the eternal world of heaven“; Leuenberger, Ort, 22, sieht das Ziel der Visionen im zentralen Teil von 2Bar darin, „die in der Gegenwart gebotene Gesetzobservanz plausibel und einsichtig“ zu begründen; 29: Das Gesetz „fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen dieser und jener Welt“. 268 In demselben Geiste unterrichtet das Volk auch Josua in LAB 22,5 – anstatt einen Altar zu machen, „warum habt ihr eure Söhne nicht gelehrt die Worte des Herrn, die ihr von uns gehört habt? Denn wenn eure Söhne im Bedenken des Gesetzes des Herrn wären, würden ihre Sinne nicht verführt hinter einem von Hand verfertigten Altar her“. Für die ApkAbr gilt dieses jedoch: „Totally lacking in the Apocalype is the concern for Torah and teachers as indispensable constituents for reconstruction“ (Nickelsburg, Jewish Literature, 288). 269 4Esra 9,37: „Das Gesetzt aber vergeht nicht, sondern bleibt in seiner Herrlichkeit“. 270 Münchow, Ethik, 89, mit anderen entsprechenden 4Esra-Stellen; auch Hahn, Früh­ jüdische, 72: „Die künftige Heilsteilhabe ist abhängig von der Treue zur Tora“; Hallbäck, Fall, 279; Sacchi, Jewish, 124: „At the center of 4 Ezra’s construction there ist the Law“; Knowles, Moses, 268–274; Desjardin, Law, 28; Schmid, Zerstörung, 195, bezeichnet 4Esra „in seiner Substanz“ als „gesetztheologische Schrift“. 271 Das hat Sanders, Paul, 418 (vgl. auch Desjardin, Law, 26, 36) zur Vermutung gebracht, es ginge in 4Esra um eine Soteriologie der Werkgerechtigkeit: „One has hier the c­ losest approach to legalistic work-righteousness which can be found in the jewish literature of the period“. 272 Knowles, Moses, 273: „The function of the Law within the narrative of 4Ezra is altoge­ther in keeping with the prominence given to Moses and to covenant“; Desjardin, Law, 28: „Beside the seer, Moses is the key human figure in this work“; auch Collins, Imagination, 209–210.

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seinem Volk mit der Weisung Trost spenden soll;273 auch Baruch wird anhand von zahlreichen Anspielungen auf Dtn mit Moses parallelisiert.274 Eine Aufwertung der Tora nach dem Tempelverlust findet man auch in der rabbinischen Literatur, obwohl die Tempelzerstörung dort nie zum Hauptthema geworden ist.275 Die Opfergabe an Gott vollzieht sich nun in der durch die Tora gebotenen Sorge um das Wohl des Nächsten, wobei Hos 6,6 als hermeneutisches Prinzip in diesem Neubewertungsprozess eine zentrale Rolle spielt.276 Der Tempelverlust war sicher auch für die Christen eine Krisenerfahrung,277 die matthäische Agenda ist aber von anderen Themen dominiert. Der Redaktor stellt seine Schrift in den Dienst der jüdisch-christlichen Gemeinde, die mit wenig Erfolg für Akzeptanz in Israel anscheinend kämpft. Was aber überrascht, sind die uns aus verschiedenen zeitgenössischen Schriften bekannten Topoi der Tempelbewältigung, die aufgenommen und in diesem neuen Kontext umfunktioniert werden. Matthäus gehört demselben Zeitgeist278 an, blickt aber mit ande 273 4Esra 14,13: „Daher ordne nun dein Haus, ermahne dein Volk, tröste seine Bedrängten, belehre seine Weisen“. 274 Vor allem Murphy, Structure, 129 f; auch Lierman, Moses, 43, unter Hinweis auf 2Bar 59,4–8; 84,5; auch LAB 19,10–15. 275 Verstreute Reaktionen der Rabbinen auf die Nationalkatastrophe in 70 n.C. systematisieren Stemberger, Reaktionen, 207–236; Goldenberg, Destruction, 199–202; einen Vergleich mit dem matthäischen Ansatz unternimmt Becker, Zerstörung, 59–73, ich bin jedoch der Meinung, dass die Bewältigung der zurückliegenden Katastrophe bei Matthäus nur eine hintergründige Rolle spielt (ebd., 62). 276 Im kurzen Lehrgespräch zwischen Jochanan b. Zakkai und seinem Schüler R. Joschua (ARN 4, vgl. Strack / Billerbeck, Kommentar, Bd. 1, 500) tritt die Wohltätigkeit als sühneschafendes Mittel für Israel anstelle des Tempels unter Rückgriff auf Hos 6,6 ein: „R. Joschua ging hinter ihm (folgte ihm als sein Schüler), und er sah das Heiligtum zerstört, die Stätte, da man für die Sünden Israels Sühnung beschaffte. Er sprach zu ihm: Mein Sohn, es missfalle dir nicht! Wir haben eine Sühne, die jener gleicht; und welche das ist? Das sind die Liebeserweisungen, denn Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer (Hos 6,6)“ (vgl. auch Neusner, First Century, 170: „The new age would endure on the foundation of studying the Torah, doing the commandments, and especially performing acts of compassion“; Schreiner, Tora, 384. Hummel, Auseinandersetzung, 98: vertritt dieselbe Meinung: „Wir dürfen annehmen, dass Hos 6,6 im Judentum nach 70 n. Chr. […] eine erhebliche Rolle bei der theologischen Bewältigung der Katastrophe gespielt hat“; ferner Davies / Allison, Mt I, 135; Lybæk, Matthew, 498. 277 Lücking, Zerstörung, 145: „Mit der Zerstörung Jerusalems hat das Christentum sein Zentrum verloren, so daß auch Christen […] diese Entwicklung als Krise erfahren haben dürfen“ (auch Brandon, Fall, 204, über Mk; ferner auch Neusner, First Century, 160). Lücking deutet auch die markinische Erzählung als „Krisenbewältigung“ (157–161). Nur könnte der Wortschatz der markinischen Strategie – von seinem heidnisch-christlichen Setting bedingt – in eine eher tempelkritische Richtung hinweisen; auch in dieser Hinsicht korrigiert Matthäus seinen Ansatz. Hat Matthäus die markinische Position als tempelkritisch (miss)verstanden und deswegen korrigiert? (vgl. auch S. 239–241). 278 Angemessen reiht Nickelsburg, Jewish Literature (1981), 280–309, Matthäusevangelium neben 2Bar, 4Esra, ApkAbr, 3Bar unter die Antworten zur Tempelzerstörung (weiter wird hier nur auf die zweite Auflage 22005 verwiesen, wo der kurze matthäische Exkurs fehlt);

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ren Augen auf dieselben Ereignisse. Die Fülle an Begriffen und Vorstellungen, das sich ideal für das Thema der Tempelbewältigung eignet, erhält in der Verarbeitung der neuen Krisensituation eine entscheidende Bedeutung, wird aber umgedreht und somit gegen die aktuellen Feinde eingesetzt. Begünstigt wird dieser Zug dadurch, dass Matthäus die Pharisäer – seine zeitgenössischen Feinde – direkt für die vergangene Tempelzerstörung verantwortlich macht. Ein komplexes, theologisches Instrumentarium zur Tempelbewältigung war m. E. in der eigenen matthäischen Tradition schon vorhanden, ist aber in der jetzigen Textgestalt nur ansatzweise auszumachen.279 Nicht auszuschließen ist sogar, dass Merkmale der Christologie und Ekklesiologie erst im Laufe der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Tempelverlust entstanden oder neu akzentuiert worden sind. In der matthäischen Gemeinde führt eine Krise zur anderen und somit findet auch traditionelles Gedankengut aus der Zeit, als man den Tempelverlust theologisch verarbeitet hat, als Rohmaterial polemisch in der neuen Krise Einsatz. Die alten Bewältigungsmechanismen werden angepasst und gehen in neue über. An einigen Beispielen kann man dieser Vermutung eine genauere Kontur verleihen. Vor allem ist auf den in der apokalyptischen Bewältigungsliteratur oft anzutreffenden ‚Mose-Tora‘ – Komplex zu verweisen; in der Präsentation Jesu als vollmächtiger Lehrer bildet die Mose-Typologie das traditionelle Rückgrat. Die Tora macht die Mitte der mt Unterweisung aus. Das Kernstück des matthäischen Toraverständnisses ist der zweimal red. eingeführte Vers Hos 6,6, der im Kontext der Tempelzerstörung bei den Rabbinen Gebrauch fand; an diesen beiden Stellen (9,13; 12,7) hat aber das alttestamentliche Zitat eine neue, antipharisäische Funktion gewonnen.280 Stark ringt Matthäus auch um die Verantwortungsfrage. Anstatt die konkrete Schuld für die Katastrophe pauschalisierend ganz Israel zuzuschreiben, macht vgl. auch Hummel, Auseinandersetzung, 78; Saldarini, Conflict in the Galilee, 24: „The gospel of Matthew should be read along with other Jewish post-destruction literature“; Balabanski, Eschatology, 175–179; Harrington, Mt, 10–16. Jedoch macht Matthäus von dieser Thematik nur gezielt Gebrauch, sein Hauptanliegen ist ein anderes. 279 Was den Tempel konkret betrifft, ließ die matthäische Version des Tempelwortes (Mt 26,61 // Mk 14,58 // Joh 2,19) in der Forschung die Frage aufkommen, ob hier nicht im Einklang mit der sonstigen gegenwärtigen Literatur um eine Art Bewältigung durch die Hoffnung auf einen Neubau nach 70 vorhanden ist, vgl. Hummel, Auseinandersetzung, 93, 106: „Offenbar wollte Matthäus dieses Stück der jüdischen Hoffnung in den Bereich der christlichen Verkündigung einbeziehen“ (gemeint ist der eschatologische Tempelbau); Gnilka, Prozeß, 22, der hier Sach 6,12 im Hintergrund sieht; Broer, Prozess, 91, oder Tilborg, Leaders, 82 (im Hinblick auf den konkreten, nicht eschatologischen Tempel in Jerusalem – δύναμαι „refers both to the demolishing and the building“), auch Paesler, Tempelwort, 46, 47, spricht von einer „erhofften Erneuerung des Tempels“ und dies, obwohl die theologische Konzeption von Matthäus den Tempelneubau mit innerer Notwendigkeit nicht fordert (Hummel, Auseinandersetzung, 107). In diesem Sinne hätte Markus eine andere, anscheinend tempelkritischere Lösung gemäß seiner heidenchrislichen Orientierung bevorzugt, nämlich eine gewisse Abwertung des irdischen Tempels. 280 Zur polemischen Neuausrichtung von Hos 6,6 vgl. 3.2.2 und 3.2.3.

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er eine konkret eingegrenzte Gruppe von „Frevlern“, die von Jerusalem aus Jesus ständig verfolgt und schließlich getötet haben, für eine pauschalisierte Schuld (vgl. 23,35–36) verantwortlich.281 Die Pharisäer stehen nach der matthäischen Darstellung an der Spitze einer bösen Entwicklung. Auch sie erfüllen in ihrer Art und Weise eine Linie der (Un-)Helisgeschichte, indem sie in der Gegenwart, wie in der Zeit Jesu und wie ihre Väter in der Zeit der Propheten, die ‚Gerechten‘ verfolgen. Dabei beschäftigen Matthäus die Römer als eigentliche Verantwortungsträger überhaupt nicht und auch die Theodizee-Frage – sonst, wie gesehen, der Auslöser umfangreicher Erklärungsversuche – kommt nicht vor. Die Frage, die man im Hintergrund unschwer vermuten kann – „Warum stoßen Jesus und seine Nachfolger in Israel auf so viel Widerstand?“ – ist längst geklärt, und es besteht kein Bedarf, Gott irgendwie zu rechtfertigen. Keine Vermittlungsinstanzen (Traum, Vision, angelus interpres usw. wie in der apokalyptischen Literatur) sind nötig. Gott ist ständig innerhalb der Gemeinde, wie einst im Tempel, anwesend und steuert die Ereignisse zu deren Gunsten. Er hat durch die Tempelzerstörung eindrücklich die Mörder Jesu bestraft und auch die pharisäischen Widersacher werden im baldigen Gericht ihrer ewigen Verdammnis erliegen.

4.2.3 Das Tempel-Argument 4.2.3.1 Instrumentalisierung der Zerstörung Jerusalems in der matthäischen antipharisäischen Polemik Das Thema der Tempelzerstörung wird auch von Matthäus keineswegs historiographisch behandelt, sondern wird vor allem im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu erwähnt. In 21,39 hat die kleine Umstellung (ἀπέκτειναν wird erst am Satzende gesetzt) zur Folge, dass der knappe Bericht über die Ermordung des Sohnes aus dem Gleichnis von den bösen Winzern denselben Ablauf wie die Kreuzigung Jesu aufweist: Er wird außerhalb des Weinberges getötet (ἐξέβαλον ἔξω τοῦ ἀμπελῶνος), wie Jesus außerhalb der Stadt (Mt 27,32: ἐξέρχομαι; Mk 15,20b: ἐξάγω) gekreuzigt wird. Die Weingärtner sprechen selbst in 21,41 ironischerweise das Gerichtsurteil über sich aus.282 Dadurch erscheint die Zerstörung ihrer Stadt in 22,7 als direkte Konsequenz ihrer Freveltat.283 Matthäus arbeitet auch in 27,22–25 diesen Aspekt weiter heraus; nachdem die aufgewiegelte Jerusalemer Menge die 281 „Matthäus belastet nicht pauschalisierend ‚ganz Israel‘ mit dem Schuld am Tod Jesu und / oder an der Bedrängnis der Jünger“, sondern „fokusiert die Schuldzuweisung auf die […] feindlich gesonnenen Autoritäten“ (Konradt, Deutung, 209). 282 Repschinski, Stories, 315; Luck, Mt, 236. 283 Vgl. zu dieser durchaus möglichen Beziehung: Hummel, Auseinandersetzung, 83, 148; Lohmeyer, Apostelbegriff, 382, Anm. 174; Lampe, A. D. 70, 165 f; Nolland, Mt, 876: ­„Matthew probably thinks in terms of the coming devastation of the war and the destruction of the temple“; Lambrecht, Treasure, 119; Steck, Israel, 301.

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Kreuzigung Jesu wiederholt fordert (27,22.23: σταυρόω), stellt ihr Ruf in 27,25 (τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ’ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν284) das fehlende Mittelglied in der Verknüpfung der Vorkommnisse vor dem Richterstuhl des Pilatus mit der Zerstörung ihrer Stadt dar.285 Die Verbindung besteht jedoch nur durch eine bestimmte Deutung von τὰ τέκνα ἡμῶν als der unmittelbar folgenden Generation der Stadtbewohner, die den ganzen Schrecken des Krieges und den Verlust des Tempels als Strafe für das gottwidrige Verhalten ihrer Eltern erleiden musste.286 Erneut kommt der Tempel bei der Kreuzigung Jesu in 27,51 ins Spiel, wenn der Tempelvorhang in zwei Stücke zerreißt. Ein direkter Bezug führt zu ­26,62–66, wo der Hohenpriester  – der einzige, der das Allerheilige einmal im Jahr betreten durfte – sein Gewand als endgültiges Todesurteil Jesu zerriss (26,65: διαρρήγνυμι).287 Nun, da das Urteil vollstreckt wurde, spricht auch Gott sein Urteil über ihn und über seine Verbündeten.288 Ihre bis zu einem Mord hin ausgenutzte Autorität wird gebrochen, die Strafe Gottes trifft genau ins Herz ihrer Macht.289 Das in 24,1–2 Prophezeite und in 27,25 Angedeutete, nämlich die radikale Gefährdung des Heiligtums wegen Fehlverhalten, ist hier in nuce schon eingetreten. Die einmarschierenden, römischen Truppen eine Generation später, 284 Ausführlicher zu dieser Stelle vgl. 3.1.3. 285 Diese Interpretation kommt besonders durch die Verbindung mit 23,35 f zustande (vgl. Lampe, A. D. 70, 165), wo das Thema αἷμα δίκαιον in einem engen Verhältnis mit der Tempelzerstörung steht. 286 Gielen, Konflikt, 383; Garbe, Hirte, 206; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 158; vgl. auch 3.1.3. 287 Dieser auffällige Zusammenhang sollte auch ein Hinweis auf τὸ καταπέτασμα τοῦ ναοῦ liefern. Es geht dabei sehr wahrscheinlich um die Trennung, die den Zugang zum Innersten des Tempels sperrte (Ex 26,31; Josephus, Bell V 219; Ant VIII 72; mJoma 5,1). Theoretisch hätte auch der Vorhang am Tempeleingang gemeint sein können (so z. B. Juel, Messiah, 140 f). In jedem Fall ist ein deutlicher Hinweis auf die Tempelzerstörung und das Ende des Kultes gegeben (Kraus, Passion, 421). 288 Vgl. σχίζω (27,51) Aor. Pass. Div. (Luz, Mt IV, 363). 289 Das Zerreißen des Tempelvorhangs kann auch heilbringende Konsequenzen für das Verhältnis der Menschheit zu ihrem Gott herbeiführen (vgl. Gaston, No Stone, 481; M ­ cKelvey, Temple, 73; Sand, Mt, 566 [„neue Heilsökonomie“]; Gurtner, Matthew, 151 [„accesibility of God accomplished by the death of Jesus“]; Moo, Old Testament, 338), die engen Räume durch die Matthäus seine Konfliktgeschichte führt, legen aber den Zusammenhang mit der entwaffneten Gegnerschaft sehr nahe (vgl. auch Konradt, Deutung, 213: „Zeichen für die Entmachtung der Autoritäten bei Gott und für das auf sie zukommende Strafgericht“; ferner Rowland, Temple, 471). Sie tragen die Verantwortung für die Tötung Jesu, der Tempel  – ihr Machtbereich  – wird ihnen nun weggenommen: „Destruction is the direct and immediate consequence of the sinn of Israel’s leadership in mismanaging the Temple“ (Gurtner, Matthew, 146 f). g1, sys,c bewahren zu Lk 23,48 eine Tradition, nach welcher der Tod Jesu und die Tempelzerstörung ausdrücklich in einem kausalen Zusammenhang stehen: „Dicentes: vae nobis quae facta sunt hodie propter peccata nostra; appropinquavit enim desolatio Hierusalem“. Die Schuld übernimmt selbst das zuschauende Volk; in EvPetr 25 sprechen die Juden, die Ältesten und die Priester das Gleiche aus (vgl. Lampe, A. D. 70, 164); vgl. auch Mt 27,25.

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die verheerende Konsequenzen für das Weiterbestehen der Tempelstadt überhaupt haben werden, sind durch diese Stelle nicht nur vorweggenommen sondern auch ermöglicht  – der zerrissene Tempelvorhang290 bedeutet den Verlust göttlicher Anerkennung. Die Stellung des Tempels als Haus Gottes auf der Erde wurde bei der Tötung des Gottessohnes durch die religiösen Autoritäten grundsätzlich unterminiert. Die Kreuzigung mit ihren versöhnenden Folgen (vgl. 20,28; 26,28) ist deswegen theologisch nicht als intendierter Tempelersatz zu verstehen. Die Kette der Er­eignisse selbst und die unglückliche Rolle, die die Stadt in ihrer Zustimmung zu den korrupten Autoritäten gespielt hat, und nicht eine tempelkritische Vor­eingenommenheit führt gemäß der Logik des Gerichts Gottes unausweichlich zum Verderben des Heiligtums. Das matthäische Argument ist also keineswegs ideologisch, sondern historisch: Der Sohn Gottes kam, wie es sich gehört, in den Tempel Gottes und geriet in Konflikt mit den unzuverlässigen Hirten Israels; dass der Tempel selbst in diesem ‚Kreuzfeuer‘ zugrunde geht, macht die Schuld der Verantwortlichen nur umso größer. Das matthäische narrative Argument zur Deutung der Tempelzerstörung ist in seiner christologischen Entfaltung kohärent. Auf der Erzählebene kann Jesus durch die Schuldzuweisung für den Untergang des Tempels seine Gegner souverän dominieren und diese ausgerechnet im tiefsten Punkt seines irdischen Wirkens besiegen. Das historische Motiv ragt aber über die Erzähloberfläche hinaus. Die logische Konstruktion wird durch die Einbeziehung einer weiteren Linie, die auf der engen Verflechtung der matthäischen Gruppierung mit dem tragischen Geschick Jesu beruht, komplexer und gegenwartsrelevanter. Der leidende Messias entspricht genau dem Selbstbild der Gemeinde als verfolgte und gefährdete Minderheit, die ihren Lebensweg in unmittelbarer Nähe ihres Meisters sieht und diesen von ihm aus deutet. So wird das ‚Tempel-Argument‘ weiter ausgebaut und auf die aktuelle Lage angewendet. Die Zeitperspektive ändert sich auch: Die Wirksamkeit des Argumentes bestand in Bezug auf die Kreuzigung in der nachfolgenden Intervention Gottes, der die Ermordung seines Sohnes mit der Tempelzerstörung bestraft. Aus der Gegenwartsperspektive ist aber das brache Gelände, wo einst der stolze Tempel stand, ein Mahnmal und der sichtbare Beweis für die schon verlorene Legitimität der Pharisäer und ihrer Verbündeten im Autoritätskonflikt mit den wachsenden Ansprüchen der jesutreuen Gemeinde. Die Tempelzerstörung als bekanntes historisches Ereignis gewinnt dadurch eine Funktion in der Delegitimierungsstrategie einer konkurrierenden Gruppe, die durch den Mund Jesu und unter Rückgriff auf geschichtliche Gegebenheiten ihre Interessen durchzusetzen

290 Die direkte Ankündigung der Tempelzerstörung wird hier oftmals angenommen, vgl. Chance, Jerusalem, 21; Hummel, Auseinandersetzung, 84; Konradt, Deutung, 213.

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versucht.291 Innerhalb der Erzählung wird dies also auf die Kreuzigung bezogen, außerhalb der Erzählung aber wird es gegen die aktuellen Feinde instrumentalisiert. Hier ist die Aufmerksamkeit und das Deutungsvermögen der Erstleser ganz besonders gefragt. Die Sprengkraft dieses Manövers kommt einerseits durch die Überzeugung zustande, dass die realen und die narrativen Gegner identisch sind, andererseits stützt es sich auf der postulierten und narrativ konstruierten Kontinuität zwischen dem leidenden Jesus und den verfolgten Jesusnachfolgern. Die Parallelität ist, wie weiter gezeigt wird, gewollt; die unablässige Verfolgung gegen Jesus hat ihr Pendant in der durch die Pharisäer gewirkten Gefährdung der Gemeinde. Das klägliche Versagen der Gegner in der Erzählung und der palpable geschichtliche Beweis lassen die matthäischen Christen deswegen auf bessere Zeiten hoffen, wenn die Feindschaft ebenfalls durch die Intervention Gottes ausgeschaltet wird. Der Blick in die Vergangenheit und die Überzeugung, dass Gott im Untergang des Tempels ein Zeichen gesetzt hat, stärkt also das Vertrauen in das immer noch bevorstehende Endgericht. Dieser Versuch, durch Geschichtsdeutung Zuversicht und Trost für die bedrohlich empfundene Gegenwart zu gewinnen, macht aus der Tempelzerstörung mehr als ein Gegenargument in einer harschen Polemik, nämlich auch ein Mittel zum Konfliktmanagement und zur Konflit­ bewältigung. Nur werden weder die Zerstörung selbst, noch der Tod Jesu bewältigt, sondern die verunsicherte Lage einer jüdisch-christlichen Gruppierung, die auf immer größeren Widerstand stößt und dabei um ihr Weiterbestehen in Israel gegen eine erbitterte Konkurrenz kämpft. Dieser Gedankenzusammenhang wird folglich exemplarisch anhand einiger matthäischer Texte und Begriffe ausgeführt. Zuerst steht die Parallelisierung des leidenden Jesus mit der Gemeinde292 im Mittelpunkt und schließlich werden die verschiedenen Argumentationslinien in der Analyse des komplexen Textgeflechtes 23,29–24,2 gebündelt.

291 Overman, Church, 301; Konradt, Deutung, 210: „Die Zerstörung der Stadt wird damit, textpragmatisch betrachtet, im Konflikt der Gemeinde mit der pharisäisch dominierten Synagoge zur Delegitimierung des Gegenübers und zur Legitimation der eigenen Position funktionalisiert“; ferner auch Gurtner, Torn Veil, 99, 137. 292 Hier wird nur dieser Aspekt weiter verfolgt, das enge Verhältnis Jesus-Jünger ist aber im ganzen Evangelium sehr breit angelegt, vgl. Howell, Matthew, 256: „The interrelationship between Jesus and the disciples continues throughout the Gospel as Matthew uses the same terms to describe both Jesus’ life and ministry on the one hand, and the disciple’s life and mission on the­ other“; auch Allison, Structure, 1217 f; dies ist bestimmt auch ein Stück als „imitatio magistri“ im Sinne eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu verstehen (vgl. Riesner, Lehrer, 430 f; Trilling, Israel, 82. Luz, Jünger, 164; Konradt, Israel, 81; Brown, Mission, 79; Lohmeyer, Apostelbegriff, 365, 367 – in Bezug auf das Missionsauftrag und den Aufgabebereich; vgl. auch Frankemölle, Bund, 41: „Ihre Sendung und Aufgabe sowie ihr Schicksal [wird] zu dem Jesu parallelisiert“).

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4.2.3.2 Nachahmung im Leiden Mit seiner Begrifflichkeit des Leidens und des Tötens schreibt Matthäus zugleich das Schicksal Jesu und seiner Gemeindeglieder um.293 Die Beziehung des Herrn mit den matthäischen Christen ist besonderer Art, sie beruht auf gemeinsamen Überzeugungen und konkretisiert sich in einem quasi-identischen Lebensweg. Ihr Dasein in der Welt ist eine treue Nachahmung Christi, ihre Kondition als Christen definiert sich im ständigen Austausch mit dem Vorbild des Meisters. Das enge Verhältnis bringt Matthäus oft formelhaft durch die Konstruktionen ἕνεκεν ἐμοῦ (5,11[red.]; 10,18[red.].39[red.]; 16,25), bzw. ἕνεκεν δικαιοσύνης (5,10[red.])294 und ἕνεκεν τοῦ ὀνόματός μου (19,29) bzw. διὰ τὸ ὄνομά μου (10,22[trad.]; 24,9[red.]; vgl. auch 13,21: διὰ τὸν λόγον) – beide auf Jesus bezogen – zum Ausdruck. Die Infragestellung des traditionellen sozialen Gefüges ist nur die am wenigsten anstößige Folge einer assumierten christlichen Existenz (vgl. 19,29 // Mk 10,29 // Lk 18,29; 10,37 // Lk 14,26 – das Verlassen von Häusern und Familien; 8,21 f // Lk 9,59 f – Vernachlässigung elementar sozialer Pflichten),295 vielmehr verlangt Jesus von seinen Nachfolgern eine radikale Opferbereitschaft bis zur Selbsthingabe, die das Lebensprogramm des Herrn bedingungslos umsetzt: Verfolgungen, Hass, Schmähungen und Tod gehören auch zum Schicksal des treuen Jüngers und des Gesandten Gottes  – 5,10–12; 10,18.38 f; 16,24–26; 23,34.37; 24,9. Das Leiden aber ist christologisch bestimmt, ein breites Begriffsnetz verdeutlicht die tiefe Zusammengehörigkeit des Meisters mit dem Jünger.296 Ich werde weiter nur einige Aspekte dieser über die historische Zeit hinweg linguistisch konstruierten Brücke zwischen der Gemeinde und dem Meister be 293 Diese Intention ist schon in Mk angelegt (vgl. Lücking, Zerstörung, 158–161). Die verwendete Terminologie entspricht der des Leidens Jesu (Sand, Mt, 223; Hagner, Mt II, 676); Betz, Nachfolge, 34; Kraus, Passion, 425 („Passion Jesu als ein Verhaltensmodell“; „Urbild“); Trilling, Israel, 82 f; Howell, Matthew, 256; Strecker, Weg, 182: „Jesu Passion ist Vorabbildung des Leidens der Gemeinde“. 294 Die unmittelbare Nähe zu 5,11 verbindet die Gerechtigkeit sehr eng mit Jesus, „weil sie von ihm letztgültig proklamiert und getan wurde, weil er selbst um dieser Gerechtigkeit willen verfolgt und getötet wurde“ (Sand, Gesetz, 202); die letzte Seligpreisung geht „zweifellos auf matthäische Bearbeitung zurück“ (Satake, Leiden, 4). 295 Die Nachfolge stellt für Matthäus eine dramatische Wende der individuellen Lebensbahn dar: vgl. 10,37–39; 16,24–26. Die Jünger werden den hohen Anforderungen gerecht, wie in 19,27 und red. gesteigert in 4,22 zu lesen ist. 296 Vgl. in diesem Sinne die morphologischen Sprachmittel für die direkte Parallelisierung: ὡς in den stark bearbeiteten 10,24 f2[einmal red.] (vgl. ferner auch 18,32[trad.]; 26,39b[red.]) und ὥσπερ (20,28[red.], Mk 10,45 liest καὶ γάρ; ferner 5,48[red.], Lk 6,36 liest καθὼς [καί] positiv, bzw. 6,16[trad.] negativ konnotiert) als typische Formel für eine Vorbildsethik. 10,24 f als komprimierte Illustration der Verbundenheit nach demselben Geschick zwischen Jünger und dem Meister wird sogar als Mitte des ganzen Kapitels betrachtet (vgl. Kühschelm, Jüngerverfolgung, 277; Brown, Mission, 77: „The principle enunciated in Mt 10,24–25a it what ties together all the variegated materials of this complex section“; auch Ogawa, L’histoire, 239; Beare, Mission, 3).

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leuchten. Die Leidensgeschichte Jesu und die angekündigten Verfolgungen der Jünger sind genau aufeinander abgestimmt und durch sorgfältige redaktionelle Arbeit eng ineinander verflochten. Die gegenwärtigen Strapazen der minoritären Gruppe werden in das Evangelium als vaticinum ex eventu hineinprojiziert und vom Geschick Jesu her gedeutet. Noch mehr: sie sind der eigentliche Auslöser dieses Deutungsprozesses, der durch Systematisierung und Anreicherung der vorhandenen Quellen einen theologischen Ausweg sucht und schafft.297 Die Gemeinde sieht sich in unmittelbarer Kontinuität zum Leben Jesu298 und teilt mit ihm die erbitterte Opposition der jüdischen Autoritäten. Aus diesem Zusammenstoß entstehen, wie auch in Jesu Fall, Leiden und Tod. Der Reihe nach werde ich die wichtigsten Termini kurz erläutern, die für die Zusammenführung der narrativen Passion Jesu mit den geschichtlichen Ereignissen der Gemeinde nennenswert sind. Die düstere Zukunft zeichnet sich durch Verfolgung (διώκω: 5,44; 10,23; 23,34)299 und Hass (μισέω: 10,22; 24,9) von allen Nationen (ἔθνος in Bezug auf Jesus 20,19 und die Jünger 10,18[red.]; 24,9[red.]) aus. Den Verfolgten gilt deswegen besonders das Trostwort Jesu μακάριοι (5,10.11) und χαίρετε καὶ ἀγαλλιᾶσθε (5,11). Denn sie werden den Autoritäten so wie Jesus selbst (10,4; 17,22; 20,18.19; 26,2[red.]; 26,15.16.21.23[red.].24.25[red.].45.46.48; 27,2.3[trad.].4[trad.].18.26) überliefert werden (παραδίδωμι: 10,17.19[red.].21; 24,9[red.].10),300 dann ge­ 297 In der großen ‚Jüngerrede‘ (Kap. 10) baut der Redaktor von 10,17b bis 10,22 das mar­ kinische Verfolgungslogion aus der apokalyptischen Rede (Mk 13,9–13) mit ein; damit wird das Leiden zum Dasein der Jüngerschaft gemacht, aber auch die Mission an sich gewinnt eine gewisse eschatologische Dringlichkeit. Nach der Aussage in 10,23, die auch in 23,34fin als an die Gemeinde adressiert nachklingt, wird das Thema Verfolgung der Missionare durch die Bearbeitung einer Q-Grundlage (vgl. Lk 6,40) weiter ausgeführt und in einem parallel strukturierten Doppelvers „christologisch vertieft“ (10,24–25) (vgl. Luz, Mt II, 105 f, 118). Eine an die Aktualität orientierte Redaktion weist auch Mt 23,29–39 auf: Dem Q-Stock 11,47–51 wird nahtlos die Weheklage über Jerusalem (Q 13,34–35) angehängt; die dadurch eigeholte Thematik der Tempelzerstörung wird unmittelbar in 24,1–2 weiter illustriert und mündet in die eschatologische Rede, wobei eine ganze Mk-Perikope 12,41–44 ausfällt. 298 Zur „Parallelisierungstendenz“ vgl. Hoffmann, Studien, 255–257 („der Auftrag der Jünger [wird] dem Gesamtbild des Wirkens Jesu angeglichen, ebd., 255)“; Kühschelm, Jüngerverfolgung, 273 (die Gegenwart ist für Matthäus „kontinuierte ‚Zeit Jesu‘“). 299 Kühschelm, Jüngerverfolgung, 226, 274. „Mt zeichnet das Verfolgtwerden als bleibendes Existential des Jüngerdaseins“ und „als permanente (Begleit-)Erscheinung gemeindlicher Aktivität in der Welt“ (vgl. auch Wouters, Willen, 266; Barth, Gesetzesverständnis, 94; ­Matera, Passion, 148). „Verfolgung“ erscheint als eine Art Oberbegriff der negativen Erfahrungen von jüdischer Seite (διώκω in 5,10.11.12.44; 10,23; 23,34, vgl. auch Stegemann /  Stegemann, Sozialgeschichte, 208). 300 Vgl. auch Kühschelm, Jüngerverfolgung, 185: „Das Verb παραδίδωμι läßt […] die Passion Jesu anklingen und stellt die angesprochene Jüngergemeinde in die Leidensnachfolge ihres Meisters“; auch Luz, Mt II, 111; Garbe, Hirte, 135; Lohmeyer, Apostelbegriff, 380 f; Park, Mission, 133. Zum παραδίδωμι als terminus technicus für die Passion vgl. Senior, Passion Narrative, 21; Perrin, Use, 208 f.

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geißelt (μαστιγόω in Bezug auf Jesus 20,19; vgl. auch φραγελλόω in 27,26 und auf die Jünger 10,17[red.];301 23,34[red.]), gekreuzigt (σταυρόω302 in Bezug auf Jesus 20,19[red.]; 26,2[red.]; 27,22.23.26.31.35 und auf die Jünger 23,34[red.])303 und schließlich getötet (ἀποκτείνω in Bezug auf Jesus 16,21; 17,23; 21,38.39; 26,4 und auf die Jünger 10,28; 21,35[red.]; 22,6[red.]; 23,34; 24,9[red.]; θανατόω in Bezug auf Jesus 26,59; 27,1[red.] und auf die Jünger 10,21; ἀπόλλυμι in Bezug auf Jesus 2,13[trad.]; 12,14304; 27,20[red.] und auf die Jünger 10,39; 16,25).305 Sie, die sie sich um τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ kümmern müssen, werden selbst wie πρόβατα ἐν μέσῳ λύκων (10,16; vgl. auch 2Clem 5,2–4)306 301 Matthäus ersetzt dadurch δέρω (Mk 13,9) und verwendet einen offiziellen rechtlichen Begriff wie in Act 22,25 (vgl. Kühschelm, Jüngerverfolgung, 216 f). Auf dieser Weise kommt auch die Parallelisierung Jesus-Jünger besser zustande (vgl. auch Garbe, Hirte, 138; Strecker, Weg, 41: „Das Thema [ist] nicht mehr die Aussendung der Jünger Jesu, sondern das Leidensgeschick der Gemeinde“). Mit εἰς συνέδρια καὶ ἐν ταῖς συναγωγαῖς ist deutlich, dass man sich hier immer noch in der Israelmission befindet (Hoffmann, Studien, 257; Konradt, Israel, 88 f; Zumstein, La condition, 446 f). 302 Strecker, Weg, 182: „Jesu Passion ist Vorabbildung des Leidens der Gemeinde“. Auch durch die nominale Form ist diese Verbindung vorgegeben: Jesus – 27,32.40; als Imperativ für die Jünger – 10,38; 16,24 (vgl. Carlston, Christology, 1295). 303 Vgl. auch Tilborg, Leaders, 69; die typische römische Todesstrafe ist hier auffällig, „weil Mt daran interessiert ist, das Jüngerschicksal dem Schicksal Jesu nachzugestalten, hat er die Berichte über den Kreuztod Jesu typologisch verstanden und sie auf die Art des Todes der Jünger bezogen“ (Sand, Propheten, 178, Anm. 34); Kühschelm, Jüngerverfolgung, 240; Kelhoffer, Persecution, 248. Zugleich weist man innerhalb der synoptischen Tradition auch auf eine ‚Vergeschichtlichung‘ des ursprünglichen Bildwortes vom Kreuztragen. „Das Kreuz als allgemeines Sinnbild des schmachvollen Todes wird jetzt auf das persönliche Leiden des einzelnen Christen bezogen“ (vgl. Mk 8,34; Mt 10,38; 16,24; Lk 9,23; 14,27 – Schulz, Nachfolgen, 266, Anm. 50; Betz, Nachfolge, 28; Bultmann, Geschichte, 173). 304 Wie den Todesentschluss zum ersten Mal nach einer Heilung Jesu in der Synagoge gefällt wurde, geht auch für die Jünger immer eine große Gefahr von den Synagogen (10,17; 23,34[red.]) aus (Kühschelm, Jüngerverfolgung, 218). Der Hohe Rat als jüdische rechtliche Instanz (τὸ συνέδριον) ist bei der Tötung Jesu involviert (26,59), der semantische Zusammenhang wird hergestellt, auch wenn hier (10,17) vielleicht eher lokale jüdische Gerichthöfe gemeint sind (vgl. Weaver, Discourse, 94, Anm. 117; Konradt, Israel, 87; Luz, Mt II, 100: „allgemein Gerichtshof “). 305 Vgl. auch Park, Mission, 127, 135; Carter, Margins, 462; 306 Die Metaphorik kippt an dieser Stelle tatsächlich um (vgl. Beare, Mission, 7): das Bild erinnert an 1Hen 89,55; 90,2–4; Sir 13,17 (vgl. Hoffmann, Studien, 294). Das heißt aber nicht, dass das neue Bild dem Volk angelastet wird (Weaver, Discourse, 91 f; Beare, Mission, 7; Seitz, Commission, 236; Uro, Sheep, 46 f, bezieht die Metapher ebenfalls auf Israel, räumt jedoch ein: „his community had not totally abandoned the hope for converting their compatriots“), das würde nämlich die Aussendung selbst sinnlos machen. Die größte Bedrohung, wie sie ansonsten im Evangelium deutlich wird, stellt nicht gerade das verstockte Volk dar (Mt 13,15). Obwohl Matthäus auch scharfe Töne gegen das Volk äußern kann (vgl. die red. Veränderung ὅτι in Mt 13,13 anstatt ἵνα in Mk 4,12, dazu Gnilka, Verstockung, 97; auch weiter in 4.3.1.1), geht vom Volk nie eine Gefahr für Jesus und seine Jünger aus, sondern vielmehr von seiner religiösen Führerschaft. Vgl. auch Lohmeyer, Apostelbegriff, 381: „Da in 23,34–36 die Ablehnung Israels als Vorwurf an die Schriftgelehren und Pharisäer, also an führende Gruppen

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ausgesandt. D. h. einerseits, dass sie teils am gleichen Schicksal wie jeder Israelit teilhaben307 und den Gefahren von der Seite der Autoritäten ausgesetzt sind, andererseits dass ihre Mission als Verkünder der ‚anstößigen‘ Botschaft Christi grundsätzlich mit Widerstand zu rechnen hat. So wie er als Βεελζεβούλ gebrandmarkt wurde (10,25), so wird es auch ihnen nicht besser gehen.308 Das Leiden Jesu wird im Alltag der Gemeinde transparent; die feste Verbindung mit dem Meister ist keineswegs nur auf weiter gepflegte Lehrtraditionen oder ‚kulturelles Gedächtnis‘ beschränkt. Der erhöhte Herr, der die Wunden der Kreuzigung in sich trägt, und bei den Seinen ewig bleibt, wird in den Verfolgungen, denen seine μαθηταί in der Welt ausgesetzt sind, konkret erfahrbar. Nicht nur die Jünger sind für die Gemeindemitglieder Identifikationsfiguren309 (sie kommen schließlich im Evangelium ungeschoren davon), sondern auch Jesus selbst, der im Evangelium Schmach und Tod erleidet und das gleiche auch von ihnen fordert. Verdes Judentums, gerichtet wird, kann man wegen der Parallelität zu Mt 10,17 f die gleiche Thematik in diesem Teil der Aussendungsrede voraussetzen“; Konradt, Israel, 87, Anm. 374: „Vielmehr entsprechen die Wölfe den in 9,36 implizierten Hirten“; Sand, Mt, 222; Gundry, Mt, 191; Tilborg, Leaders, 69; Carter, Margins, 236: „These wolves are the sociopolitical and religious elite who oppress and harass the people“ (vgl. Ez 34,5.10; 1Hen 56,5; zum literarischen Hintergrund siehe Bornkamm, Art. λύκος, 309–311). 307 So mit Gundry, Mt, 191, und gegen Park, Mission, 129. 308 Ich teile nicht die Meinung, dass in 10,24 f eine Begrenzung im Ausmaß der Verfolgung (vielleicht wegen ἀρκετὸν τῷ μαθητῇ) angedeutet wird (Lohmeyer, Apostelbegriff, 389: Die Jünger werden höchstens dasselbe Schicksal erleiden, aber kein schlimmeres; vgl auch Park, Mission, 145: „What the missionaries will have to suffer will not go beyond what Jesus hat to and will have to suffer“). Wie (zweimal ὡς in 10,25) ihr διδάσκαλος und wie ihr κύριος zu sein, obwohl sie als μαθητής und δοῦλος unter (οὐκ … ὑπέρ τόν + οὐδέ … ὑπέρ in 10,24) ihm stehen, ist ihnen Trost und paradoxe Belohnung, denn wenn sie den Herrn angegriffen haben, werden sie um so mehr die Untertanen nicht verschonen (a minore ad maius-Schluß, vgl. Weaver, Discourse, 106). Die Hauptaussage des Passus ist also: „persecution is inevitable“ (Carter, Margins, 239; Ogawa, L’histoire, 239; Zumstein, La condition, 453: „Par ces trois couples, Mt met en relation la condition du maître et celle du disciple pour affirmer leur similitude“; Wilkins, Disciple, 145). Nicht nur die Vollmacht wurde den Jüngern zuteil, sondern auch „die ganze Unsicherheit, Gefährdung und Diffamierung des Meisters“ (Hengel, Nachfolge, 87 f). Die Verbindung zwischen V. 25a und V. 25b ist red. und entspricht der mt Tendez von Seiten der Jünger, die Anredeformel διδάσκαλε durch κύριε zu ersetzen (8,25 // Mk 4,38; 17,4 // Mk 9,5; 20,33 // Mk 10,51 – vgl. Bornkamm, Enderwartung, 38; Zumstein, La condition, 445; dazu auch in 2.1.2). Was V. 25b betrifft, wird an dieser Stelle unterschiedlich beurteilt: matthäische Bildung (Zimmermann, Lehrer, 191 f) oder Tradition (Riesner, Lehrer, 257 f). 309 Die These von Luz, Jünger, 105, 110, dass die Jünger als Indentifikationsfiguren für die Gemeindmitglieder fingieren, erfährt mit Recht große Beliebtheit (vgl. auch Frankemölle, Bund, 41; Zumstein, La condition, 81: „Les compagnons de Jésus sont l’image de la communauté croyante“), ist jedoch dadurch zu erweitern, dass „others also display traits which are approved by the implied author and Jesus“ (Howell, Matthew, 233); „the disciples neither embody all the values and norms commended by the implied author, nor do they know everything about Jesus which would help the Matthean church members and other actual readers respond properly to Jesus“ (ebd., 235).

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folgt-Sein wird deswegen zum Identitätsmerkmal der Gemeinde, weil zuerst Jesus selbst während seiner ganzen Lebensspanne durch widrige Mächte ständig gefährdet und verfolgt wurde. Diese Gewissheit, Jesu Geschick zu teilen, bietet den benötigten Deutungshorizont, aber auch den ersehnten Trost für eine ratlose Gemeinde, die in Israel unerwartet auf starke Ablehnung stößt. Die jüngst tragische Geschichte gibt ihnen noch ein Mittel an die Hand, sodass sie die Verfolgungen über die eigene Christus-zentrierte Gruppenideologie hinaus an die Weltereignisse binden und ihrem Anliegen auch in den Augen der Außenstehenden Plausibilität verleihen. Der künstlich geschaffene Zusammenhang geht auf die matthäische Redaktion zurück und ist an prominenter Stelle im polemischen Kap. 23 integriert. Den Textteil, der mit dem siebenten Weheruf beginnt und mit der Ankündigung der Tempelzerstörung endet (23,29–24,2) betrachte ich als ein sorgfältig konstruiertes Argument, das den Zweck verfolgt, den Feinden die Schuld pauschalisierend für alle Verbrechen der Welt zu geben, das zugleich aber gezielt den Tod Jesu, die Tempelzerstörung, die Verfolgung der Gemeinde und das bevorstehende Endgericht auf eine Linie bringt, um die Konkurrenz als von Gott verworfene Widersacher endgültig zu diskreditieren. 4.2.3.3 Gemeindeverfolgung und Tempelzerstörung (23,29 – 24,2) Mit 23,29 verlässt Matthäus das Feld der gesetzlichen Auseinandersetzungen aus den vorangehenden Weherufen (vgl. dazu 4.3.2.3.2) und setzt mit einem geschichtlichen Thema neu an: „V. 29 moves on from the charge of hypocrisy to that of murder“.310 Der siebte Weheruf fällt aber dadurch nicht aus dem Rahmen. Evidente Textsignale verbinden ihn mit dem bisherigen Redekorpus,311 er leitet 310 Garland, Intention, 95. 311 Mt fügt noch ein Glied dem Vers aus Lk 11,47 hinzu, die kürzere lukanische Variante ist ursprünglich (vgl. auch Riniker, Gerichtsverkündigung, 117; Hoffmann, Studien, 162). Im Endeffekt wird einerseits wegen τοὺς τάφους die Verbindung mit V. 28 gesichert, der Grund für diese Doppelung war aber wahrscheinlich τὰ μνημεῖα τῶν δικαίων, ein Motiv, das wie ein roter Faden die Verfolgungsberichte (vgl. 10,41[red.]3; 23,35[red.]2; 27,19[trad.]) durchzieht. Weiterhin werden προφῆται und δίκαιοι auch in 13,17[red.] (Lk 8,24 liest προφῆται και βασιλεῖς) und 10,41[red.]) erwähnt. Vgl. Nolland, Mt, 941 f, Anm. 97; Hummel, Auseinandersetzung, 158: „Während die Lukasfassung ganz konkret die Propheten im Blick hat, ist der Abschnitt bei Matthäus durch das δίκαιος-Motiv bestimmt“; Descamps, Les Justes, 51 („le répond a ses préoccupations polémiques“); auch δικαιοσύνη als verwandter Begriff kommt in solchen Zusammenhängen vor, vgl. 5,10: οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης; auch ὅ ὅδος δικαιοσύνες, den Johannes der Täufer eingeschlagen hat (21,32[red.]), führt in den Martyrentod. Zum engen Verhältnis δικαίος – δικαιοσύνη vgl. Kretzer, Herrschaft, 268–271. Die Annäherung δικαίοι – προφήται (vgl. auch Josephus, Ant X 38) ist Matthäus angesichts der sonstigen Verwendung wichtig; ich meine jedoch, dass zwischen den beiden Gliedern keine großen Sinnunterschiede bestehen (vgl. Davies / Allison, Mt III, 304: „synonymous twin“). Es geht hier wahrscheinlich nicht besonders darum auf einen bestimmten Personenkreis mit konkreten Funktionen in der Gemeinde anzuspielen, sondern darum, den atl. Topos der leidenden Gerechten aufzunehmen (vgl. SapSal 2,12–20; 5,1–7; Ps 22,8; 35,16.21; 70,4; 102,9; der Tod Jesu ist in Mt tatsächlich

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aber zugleich einen neuen Gedankengang ein, dessen Intention erst durch die Fortsetzung ab 23,37 deutlicher wird. Der siebte Weheruf wird durch dieselbe Formel Οὐαὶ ὑμῖν, γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι ὑποκριταί eingeführt. Dieselbe Kluft zwischen äußerem Verhalten und innerer Einstellung wird auch hier aber mit anderen Mitteln illustriert. Der Heuchelei-Vorwurf kommt aufgrund der Tatsache, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten Gräber für die Propheten bauen, nur dann zustande, wenn in irgendeiner Weise bewiesen werden kann, dass sie selbst wie ihre Väter Prophetenmörder sind. Genau dieses, für eine tragfähige Argumentation nötige, Bindeglied fehlt aber an der Stelle. Den Anvisierten wird nur die Gelegenheit gegeben, in direkter Rede sich selbst von den Gräueltaten der Vergangenheit zu distanzieren. In dem möglicherweise redaktionellen V. 30312 sprechen sie sich vom Verdacht, Anteil an der Schuld der Prophetenmörder zu haben, selbst frei, auch wenn eine Anschuldigung von keiner Seite vermerkt wird. Ausgerechnet dieser Aussage ist aber nach dem matthäischen Verständnis eine unbewusste Schuldübernahme zu entnehmen, und zwar wegen πατέρες ἡμῶν in 23,30a. Die anerkannte Verwandtschaft ist das einzige Indiz, das Matthäus als Beweismaterial bringt (ὥστε μαρτυρεῖτε ἑαυτοῖς ὅτι υἱοί ἐστε).313 Für ihn mag die Schlussfolgerung selbstverständlich sein, für den heutigen Leser ist sie aber ziemlich rätselhaft.314

nach Ps 22 gestaltet; SapSal 2,6–20 klingt in Mt 27,43 an – vgl. zu diesem Aspekt Rupprecht, Jesus, 50–51, Anm.  31; Matera, Passion, 45 f; Gnilka, Prozeß, 14; Hultgren, Elements, 104 f; Verseput, Role, 538; erwägend Konradt, Israel, 324 f, Anm.  213). Anders z. B. Descamps, Les Justes, 50, nach dessen Meinung würde es keinen Sinn machen, wenn „Gerechte“ hier nur eine allgemeine Bedeutung hätten; auch Hill, ΔΙΚΑΙΟΙ, 302 sieht sie als „those in the community who witness, instruct and teach“. In den folgenden Versen 30 und 31 wird aber nur noch προφήται angeführt. Zudem bezieht sich auch in V. 35 das gerechte Blut nicht nur auf eine einizige Gruppe (wie Sand, Propheten, 178, meint, dass „Gerechte“ und „Weise“ bei Matthäus austauschbare „Größen“ seien) sondern pauschalisierend auf die ganze Begriffe-Kette; „gerechtes Blut“ fingiert hier bewusst polemisch als Oberbegriff für alles Leiden und Tod, das verschiedene Menschengruppen in verschiedenen Zeiten erlitten haben (auch der Meinung von Giesen, Handeln, 191, ist nicht zuzustimmen, der in V. 35 nur die alttestamentlichen Gerechten mit einbezogen sieht; hingegen geht es hier vielmehr um einen Bezug auf die Gegenwart, wie Przybylski, Righteousness, 102, meint). 312 Matthäus zeigt auch sonst ein besonderes Interesse daran, dass die Gegner selbst Gedanken artikulieren und aus freien Stücken agieren (vgl. S. 124 f; auch Luz, Mt I, 33; Mt III, 342, Anm. 135; Gundry, Mt, 468: „self-incrimination“ unter Hinweis auf 21,31.41; 22,42). 313 Mt betont in dieser Weise die ‚genetische‘ („of the same nature“) Beziehung mit den Prophetenmördern, das verbindende Element zwischen den Gliedern ist υἱοί. Zu dieser Akzentuierung vgl. Garland, Intention, 165; auch Tilborg, Leaders, 63. 314 Derrett, You build, 68: „There is apparently no logic in these statements“; Garland, Intention, 163 („tortuous logic“); Davies / Allison, Mt III, 303; Tilborg, Leaders, 63: „the real point is shrouded“; Hare, Theme, 83: „It is the logic of polemic, not of reasoned argument“; Newport, Sources, 147: „strange and its intention is not altogether clear“; Schmithals, Geschichte, 477.

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Im Vergleich dazu stützt sich die lukanische Beweisführung (11,48: ἄρα) auf ὅτι οἰκοδομεῖτε τὰ μνημεῖα τῶν προφητῶν (Lk 11,47), verkürzt wird dieser Grund auch in 11,48c wiederholt (ὑμεῖς δὲ οἰκοδομεῖτε). Das verbindende Element ist der Begriff προφῆται – die Väter haben sie getötet, die Söhne bauen für sie Grabmäler. So entsteht eine Handlungseinheit zwischen Vätern und Söhnen.315 Nur richten sich ihre Handlungen an gegensätzlichen Werten aus: die Erinnerung an getöteten Propheten zu pflegen, ist eine Art sie zu ehren, oder sogar „eine Form später Wiedergutmachung für die Opfer der Vorfahren“.316 Lukas bemerkt das Problem – der bloße Gräberbau ohne die entsprechend innere Zustimmung der Prophetentötung reicht nicht aus, um die Söhne ebenfalls als Prophetenmörder zu bezeichnen – und fügt noch ein erklärendes Detail hinzu: καὶ συνευδοκεῖτε τοῖς ἔργοις τῶν πατέρων ὑμῶν317 (wie diese beiden Teile – Gleichgesinnung mit Prophetenmördern und ehrenvoller Gräberbau  – zugleich gelten können, reflektiert Lukas nicht weiter, denn das Heuchelei-Motiv wird bei ihm nicht erwähnt).318 Durch diesen verzweifelten und nur teilweise gelungenen Versuch die Logik in diesem Passus zu retten, schaltet aber Lukas die Möglichkeit eines Gegenwartbezuges aus: Die Schuld der Schriftgelehrten besteht in ihrer Zustimmung zu vergangenen Übeltaten. Genau das will Matthäus vermeiden, nämlich die Aktivität der angeprangerten Autoritäten allein mit längst ausgetragenen Geschichten in Verbindung zu bringen319 und sie dadurch zu verharmlosen. So erklärt sich auch der unterschiedliche Weg, den er in der Bearbeitung dieser Tradition geht. Wie schon gesehen, erfolgt die matthäische Argumentation über die υἱοί / πατέρες-Verbindung; ὥστε (23,31) bezieht sich auf die anerkannte Zusammenzugehörigkeit (23,30a: τῶν πατέρων ἡμῶν) und nicht auf den Bau der Gräber wie bei Lukas. Das ist schließlich die Funktion des red. Einschubs in V. 30, die Begründung unterschiedlich zu verlagern. 315 Vgl. auch Haenchen, Matthäus 23, 51; angesichts von πατέρα ἔχομεν τὸν Ἀβραάμ (3,9), „[besteht] die Ironie darin, dass die Pharisäer nicht erkennen können, wessen Söhne sie eigentlich sind“ (Kienle, Feuermale, 145, zu diesem Rückverweis auf 3,9, vgl. auch Pennington, Heaven, 239). 316 Gielen, Konflikt, 316. Vgl. auch Derrett, You build, 72: „If they truly repent they will not bear their ancestors’ iniquity (Ez 18,13–20)“. Für die Wertschätzung der Propheten, wie sie in den Gräberbau zum Ausdruck kommt, vgl. Fischel, Martyr, 375; Marguerat, Le jugement, 357; Davies / Allison, Mt III, 305: „memorializing prophets does not constitute consent to their murders“. 317 Der Zusatz ist sehr wahrscheinlich lukanisch, in einem ähnlichen Zusammenhang auch in Act 8,1; 22,20 anzutreffen (vgl. Gielen, Konflikt, 337; Gnilka, Mt II, 284), darauf basiert schließlich „die Logik der lukanischen Fassung“ (Steck, Israel, 28; Hoffmann, Studien, 163). 318 Steck, Israel, 281: „Von Heuchelei ist in Q noch nicht die Rede; erst Mt hält den Hiat zwischen pietätsvoller Tat und ausgesprochener, sich emanzipierender Umkehrverweigerung als Heuchelei vor“. 319 Vgl. auch Döpp, Deutung, 22; ferner Gnilka, Mt II, 291.

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Durch diese Entkoppelung schafft Matthäus sich aber ein neues Problem: Dass die Söhne aufgrund ihrer Abstammung zwingend zu den Propheten­mördern zählen, ist einfach ein Trugschluss. Sie tragen als Söhne zwar das Erbe ihrer Väter in sich, das ist aber auch in biblischen Kategorien keineswegs ein hinreichendes Motiv für korporatistische Schuldübernahme. Umkehr und Reue sind möglich (vgl. Dtn  24,16; 2Chr 25,4; Ez  18,2–4), und in diese Richtung würde der Gräberbau verweisen. Mit dem Vorschlag, υἱοί als Gleichgesinnte zu interpretieren,320 kommt man vielleicht ein Stück weiter: Die Pointe besteht dann darin, dass sie trotz ihrer mörderischen Einstellung sich irrsinnig bemühen, schön geschmückte (Mt 23,29[red.]: κοσμέω; vgl. Josephus, Ant XIV 284) Gräber für die Gerechten zu bauen – das wäre im Grunde genommen die lukanische Lösung unter dem matthäischen Dach des Heuchelei-Vorwurfs. Es ist logisch möglich;321 die ewige Strafe, die anschließend (23,33) angekündigt wird, wäre aber allein für diese Schuld disproportioniert und ungerecht. Die Schuld soll hier viel schwerwiegender als eine Inkongruenz zwischen mörderischer Gesinnung und äußerer Frömmigkeit sein; bestimmt geht es um mehr als Meinungen und Einstellungen, nämlich um konkrete Taten; nur wollen sie diese Handlungskontinuität, „die sie in der Ablehnung Jesu verifizieren, um keinen Preis wahrhaben“.322 Der fehlende Teil im Puzzle, das auf einen Schlag das Bild vervollständigt, liegt aber nicht bei dem heutigen Leser, der nichts mehr kann, als von der logischen Unstimmigkeit Notiz zu nehmen, sondern bei den intendierten Erstlesern,323 die die Lücken von ihrem Erfahrungshorizont her füllen.324 Die Γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι sind deswegen Heuchler, weil sie, wie ihre Väter trotz ihrer öffentlichen Scheinheiligkeit die Gerechten der Gemeinde ver­ folgen und töten, weil sie wegen ihrer chronischen Blindheit nicht zu erkennen vermögen, dass in den alten wie in den neuen Propheten, die selben Botschafter Gottes stecken.325 320 Davies / Allison, Mt III, 305: υἱοί „can refer either to literal descendents or to those who share a set of characteristic features“; Konradt, Israel, 246; Nolland, Mt, 942. 321 So, z. B. Marguerat, Le jugement, 359: „Or, cette pseudo-fidélité constitue précisément le crime reproché à leur devanciers“. 322 Kühschelm, Jüngerverfolgung, 295. 323 In diesem Punkt kommt die enge Parallelisierung der Verfolgungen der Gemeinde mit dem leidesvollen Schicksal Jesu (siehe 4.2.3.2) zum Tragen. Vgl. Döpp, Deutung, 21: „Für Matthäus besteht […] eine Art Schicksalsgemeinschaft zwischen Propheten, Jesus und den christlichen Israelpredigern“; Marguerat, Le jugement, 364; Ogawa, L’histoire, 279; Kühschelm, Jüngerverfolgung, 295; Descamps, Les Justes, 50. 324 Aune, Prophecy, 158; Garland, Intention, 166; Luz, Mt III, 344: „Der Weheruf wird nur verstehbar, wenn man diesen Erfahrungshintergrund voraussetzt“; Garbe, Hirte, 89 (das „muss der Leser eintragen“); Garleff, Urchristliche, 73. 325 Kühschelm, Jüngerverfolgung, 232: „Vielmehr geht der Tadel dahin, dass die Adressaten wie ihre Väter unfähig sind, das prophetische Wort in ihrer eigenen Gegenwart zu vernehmen, dass sie die zeitgenössischen ‚Propheten‘ ablehnen, verfolgen, ja wie ihre Väter imstande

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Aus diesem Blickpunkt ist der matthäische Argumentationsduktus lückenlos, nur kommt die innere Kohärenz erst dann zum Vorschein, wenn der gegenwärtige Bezug, im Unterschied zu Lukas, hinzugenommen wird. Dass die Auto­ritäten den Taten ihrer Väter zustimmen, ist nicht mehr erforderlich, ihr konkretes Verhalten als Verfolger verrät sie. Jeder Christusgläubige ist davon überzeugt, dass er in Israel dieselbe Aufgabe, wie alle Propheten und Gerechten der Geschichte erfüllt. Die Gegner der Gemeinde ordnen sich in dieser Weise selbst in die lange Reihe der Widersacher326 und machen „das Maß ihrer Väter voll“ (23,32; vgl. Jer 7,26; 16,12).327 Die Schuldkontinuität der Verfolger geht mit der Leidenskontinuität der Betroffenen einher. Die ununterbrochene Heilsgeschichte wird von den Matthäusjüngern weitergeschrieben, während ihre pharisäischen Opponenten wie in einem engen ‚Vater-Sohn‘ Verhältnis durch ihre Verfolgung in die Fußspuren der Prophetenmörder treten. Mit der ersten Gerichtsankündigung in V. 32 f geschieht die erste Entladung der Spannung aus den vorausgehenden Weherufen. Mit den letzteren Verfolgungen wird τὸ μέτρον gefüllt, d. h. das Maß wird erreicht, die Geduld Gottes ist aufgebraucht und das vernichtende Gericht, dem man nicht mehr entkommen kann, steht vor der Tür – πῶς φύγητε ἀπὸ τῆς κρίσεως τῆς γεέννης;. Auch, wenn das göttliche Gericht als Folge der ganzen Verbrechen, die ab 23,13 aufgelistet sind, eintritt, fügt sich der Gedanke wegen der Schuldsteigerung ab V. 29 viel besser ein. V. 29–31 und V. 32–33 bilden deswegen eine feste Sinneinheit, die Verfolgung der Propheten und Gerechten ruft sofort unausweichliche Konsequenzen hervor.328 Der Wechsel von der Anklage zur Gerichtsund bereit sind, die zu ihnen selbst gesandten Gottes umzubringen“; auch Derrett, You build, 73: „The blood-guiltiness could have been avoided had the scribes and others so acted as to repudiate their ‚parentage‘“; Hoffmann, Studien, 164. 326 Luz, Mt III, 344; Konradt, Deutung, 203: Sie bilden „mit den Mördern der (alttestamentlichen) Propheten ein die Zeiten übergreifendes Schuldkollektiv“; Luck, Mt, 252. 327 Der sarkastische Imperativ καὶ ὑμεῖς πληρώσατε τὸ μέτρον τῶν πατέρων ὑμῶν (V. 32; auch sonst anzutreffen: Jes 8,9–10, Jer 7,21; Am 4,4–5; Apk 22,11; hier eine „redaktionelle Übergangsbildung“, vgl. Hoffmann, Studien, 163), der schon das Gericht einläutet, beruht vermutlich auf der Tradition (vgl. 1Thess 2,16; LAB 26,13), dass Gott der Sünder noch eine Zeit zur Umkehr gewährt, bis die Grenze erreicht wird, darüberhinaus wird das Gericht unvermeidlich (vgl. Hummel, Auseinandersetzung, 87 f; Stuhlmann, Maß, 103 f; Steck, Israel, 291, Anm. 4; Garland, Intention, 168). Zugleich ist es sinnvoll, auch an die festgesetzte Zahl der Gerechten (numerus iustorum) zu erinnern, die die Welt bis zu ihrem Ende noch hervorbringen soll, vgl. 4Esra 4,33–43 (dazu Harnisch, Verhängnis, 276–287; auch ApkAbr 29,15). Die beiden Bilder stehen in einem engen logischen Zusammenhang: Je aggressiver die Pharisäer gegen die Christen vorgehen, desto größer wird die Zahl der Gerechten, die einen Märtyrertod leiden. Die Erwähnung ist umso wichtiger, weil dieses Argument für den verspäteten Eingriff Gottes in 4Esra im Rahmen der Bewältigung der Tempelzerstörung formuliert wird. 328 Die Gattung der Weherufe ist vorgeprägt und besteht aus drei Teilen: Wehe + Anklage + Ankündigung (Westermann, Grundformen, 139). Auffällig ist das Fehlen einer Gerichtsansage in 23,13–32 (Gnilka, Mt II, 281; Luz, Mt III, 317); ab V. 33 (dann V. 35 f; V. 38 f) ist die Entladung umso kräftiger. Vgl. dazu S. 224–225.

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ankündigung,329 einmal eingeführt, wird auf einer immer konkreteren Ebene auch in den folgenden zwei Textabschnitten aufgenommen: Verfolgungsbericht + göttliche Strafe: 23,34 + 23,35–36 bzw. 23,37 + 23,38–39 und gibt schließlich die eigentliche Intention der matthäischen Textgliederung an. Als ein Schnitt am Ende der drei ‚Verfolgungslogien‘ folgen die Gerichtsankündigungen, die an sich auch ihren Deutungshorizont darstellen. Die anscheinend redundante Wiederholung lenkt die Aufmerksamkeit auf ein immer konkreteres Anliegen. Der allgemeine ‚Tun-Ergehen‘-Zusammenhang mit dem deuteronomischen Geschichtsverständnis als Hintergrund aus 23,29–33 knüpft ab V. 34 an zwei gegenwärtige Angelegenheiten an. Erstens wird durch deutliche Querbezüge in 23,34–36 das Leben der Gemeinde direkt eingeholt. In ἐγὼ ἀποστέλλω drückt sich die Überzeugung der matthäischen Christen aus, dass sie das Werk Gottes in Israel fortführen und denselben Gefahren zum Opfer fallen werden wie Jesus und die vergangenen Generationen von Propheten.330 Denn der Akzent liegt jetzt nicht mehr „auf der Sendung (vgl. 10,16), sondern auf der Ablehnung der Boten“.331 Die Verbindung mit der Aussendungsrede und mit der Passionsgeschichte ist aufgrund von Begriffen wie ἀποκτείνω, σταυρόω, μαστιγόω, διώκω ἀπὸ πόλεως εἰς πόλιν (23,34); πᾶν αἷμα δίκαιον332, ἀπὸ τοῦ αἵματος Ἅβελ τοῦ δικαίου ἕως τοῦ αἵματος Ζαχαρίου (23,35)333 zusätzlich greifbar (als nächste Parallelen vgl. z. B. 10,17.23a;

329 Vgl. zu diesem Strukturierungsprinzip des matthäischen sonst heterogenen Materials Gnilka, Mt II, 296; das symmetrische Verhältnis in dem die drei Texteinheiten stehen (V. 32 f; 34–36; 37–39) lässt den Willen des Redaktors erkennen, „die von ihm zusammengefügten Überlieferungseinheiten, soweit dies möglich war, auf eine Linie zu bringen“ (ebd.). V. 34–36 und 37–39 sind intern analog gegliedert: Scheltwort (V. 34 bzw. 37), Drohspruch (V. 35 bzw. 38) und eschatologische Bekräftigung (V. 36 bzw. 39), vgl. Gnilka, Mt II, 296 f; Davies / Allison, Mt III, 311. 330 Der Tempuswechsel (Lk 11,49: ἀποστελῶ) dürfte auf Matthäus zurückgehen und ist ein Hinweis auf die konkrete gegenwärtige Situation (und kein „timeless present“, vgl. Davies /  Allison, Mt III, 315; auch Bonnard, Mt, 343) der Gemeinde (vgl. auch Döpp, Deutung, 23; Luz, Mt III, 370; Marguerat, Le jugement, 362 f; Byrskog, Only Teacher, 244 f; Kühschelm, Jüngerverfolgung, 235; Garland, Intention, 174, 184: „Matthew seemingly has only a negligible interest in the blood of prophets killed in a bygone era; he is more concerned with up­dating this statement to include the immediate past history of the Christian era“; Schulz, Q, 336: „sachlich bedingt, weil er an die Situation der gegenwärtigen Gemeinde denkt“; Sand, Propheten, 173). 331 Gnilka, Mt II, 300. 332 Gemäß der atl. Prophetie macht sich hier „eine Art von Kollektiv-Denken“ bemerkbar; nicht nur die eigene, sondern die gesamte Schuld der bisherigen Geschichte wird den Gegnern zugerechnet (vgl. Sato, Q, 154). 333 Zu αἷμα δίκαιον und αἷμα ἀθῷον (Mt  27,4) in Thr 4,13 bzw. Jer 19,4; 22,3; 26,28LXX; 33,15LXX (in Zusammenhang mit der Tempelzerstörung) als matthäische Intertexte, vgl. ­Moffit, Righteous, 299–320; Konradt, Deutung, 216–226; Knowles, Jeremiah, 72–74; Moo, Old Testament, 195 f.

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16,21; 20,19; 27,4.6.8.19[trad.].24[trad.].25[red.].26).334 Die Tradition der ermordeten Propheten dehnt sich bis in die Gegenwart aus und schließt zugleich Jesus und die Gemeinde ein.335 Bemerkenswert ist hier der doppelte, matthäische Tempuswechsel in V. 34: ἀποστέλλω [Präsens] (vgl. Lk 11,49: ἀποστελῶ [Futur]) und V. 35: ἐκχυννόμενον [Partizip Präsens] (vgl. Lk  11,50: ἐκκεχυμένον [Partizip Perfekt]): Es wird also über aktuelle Ereignisse berichtet,336 wobei die dreifache Selbstbezeichnung der Gemeinde in diesem Fall – προφήτας337 καὶ σοφοὺς καὶ γραμματεῖς (23,34)  – den Zusammenhang noch stärker verdeutlicht.338 Die göttliche Vergeltung für das vergossene gerechte Blut wird erbarmungs-

334 Vgl. auch Gielen, Konflikt, 317; Davies / Allison, Mt III, 316; Weaver, Discourse, 142, 147; Gundry, Mt, 470; Kwaak, Klage, 159; Strecker, Weg, 182: „Die Darstellung des Geschicks der Gemeinde [ist] den Aussagen über die Passion Jesu angeglichen“. 335 Vgl. auch Gaston, No Stone, 323: „The theme of the murder of the prophets is interesting because it unites both motifs: the unrepentant who are being castigated are at the same time those who persecute the church and its prophets“; Garland, Intention, 172. 336 Schulz, Q, 338; Steck, Israel, 31, Anm. 8; Garland, Intention, 176. 337 Zuerst ist an die Propheten des Alten Testamentes zu denken, mit denen sich die Gemeinde tief verbunden versteht (5,12); aber gerade deswegen können hier auch die christlichen Propheten gemeint sein (10,41); vgl. Scheuermann, Gemeinde, 215 f; Hoffmann, Studien, 166 f; auch Kühschelm, Jüngerverfolgung, 236, rechnet hier mit einem „christlichen Personenkreis“. 338 Anders wie Lk  11,49 vermeidet Matthäus auch an dieser Stelle ἀπόστολος, da dies vielleicht zu historisierend gewirkt hätte und leicht nur auf die Zwölf eingegrenzt werden konnte. Das geht mit seiner Tendenz einher, die Jünger als μαθηταί zu bezeichnen (vgl. Schulz, Nachfolgen, 158: „Der urchristliche Terminus μαθητής hat […] auch in der synoptischen Überlieferung Heimatrecht erworben und zwar ausdrücklich nur im Mt-Evangelium“; auch B ­ ornkamm, Enderwartung, 37; 39 f; Strecker, Weg, 192; Trilling, Amt, 88–89). Ein Blick in die Wortstatistik bestätigt diese Annahme: μαθητής Mt: 72; Mk: 46; Lk: 37; ἀπόστολος Mt: 1; Mk: 2; Lk: 6. Die ersten zwei Begriffe standen wahrscheinlich schon in seiner Vorlage: σοφούς passt gut zum weissheitlichen Hintergrund, vgl. auch Luz, Mt III, 368 („das Wort ist als red. Bildung undenkbar“); Davies / Allison, Mt III, 315; Kosch, Tora, 98; ἀπόστολος zählt zu den lukanischen Vorzugsvokabeln und es ist in der Tat schwer anzunehmen, dass er den bei ihm genau besetzten Titel in einen vorchristlichen Text eingefügt hätte (vgl. Schulz, Q, 336 f; Steck, Israel, 30; Gundry, Mt, 469), es sei denn, dadurch hat er, wie ich meine, den fremdwirkenden σοφούς beseitigen wollen, um dem übernommenen Text seine christliche Marke zu verleihen, vgl. auch Garland, Intention, 175, der jedoch auch γραμματεῖς für ursprünglich hält (für lukanisch stimmt auch Haenchen, Matthäus 23); γραμματεῖς ist von Matthäus auch ansonsten auf die Gemeinde bezogen (7,29; 13,52). Zu weit geht vielleicht die Meinung von Strecker, Weg, 37 f: Alle drei Begriffe der Botenliste bezeichnen „christliche Amtsträger“ (auch Sand, Propheten, 181 f; Gnilka, Kirchbild, 139), dagegen z. B. auch Orton, Scribe, 159: es sei eher ein Hinweis auf eine gewisse Strukturierung der Gemeinde. Γραμματεῖς dürfte auch hier auf red. Arbeit zurückgehen (vgl. Luz, Mt III, 370; Nolland, Mt, 944 und viele andere; hingegen Tilborg, Leaders, 68; Orton, Scribe, 155: „There is no compelling reason to assume – as most scholars – that scribes here are merely Christian scribes“) und kann durchaus wie auch der trad. προφήτας konkrete Aspekte vom Innenleben der Gemeinde wiederspiegeln.

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los kommen.339 Dem πᾶν αἷμα δίκαιον (V. 35) entspricht ταῦτα πάντα (V. 36); die Strafe ist gerecht und wird genau die Verantwortlichen treffen: ἐφ’ ὑμᾶς (23,35[red.]) knüpft an den vorangehenden οὐαὶ ὑμῖν (23,29), μαρτυρεῖτε ἑαυτοῖς ὅτι υἱοί ἐστε (23,31[red.]), πῶς φύγητε (23,33), πρὸς ὑμᾶς (23,34[red.], vgl. Lk  11,49: εἰς αὐτοὺς) an und lässt die Pharisäer und Schriftgelehrten als die Adressaten dieser Worte erscheinen.340 Zweitens wird die Tempelzerstörung als zeitgenössischer Bezugspunkt mit der Tradition der Prophetenmörder verknüpft. Eine für das ganze Kapitel entscheidende Schnittstelle ist der Übergang von V. 36 zu V. 37.341 Das Vergießen von unschuldigem Blut mündet unausweichlich in der Tempelzerstörung.342 Die direkte 339 Der Passus beginnt mit διὰ τοῦτο (als Entsprechung zu !kel'), wodurch eine unmittelbare Gerichtsankündigung eingeleitet wird; vgl. Jes  5,24 ebenfalls am Ende einer Weherufenreihe Jes 5,18–23 (Marguerat, Le Jugement, 255 f; Gnilka, Mt II, 297; Luz, Mt III, 367 f); auch sonst als Einleitung der Strafe, die sich aus unmittelbar aufgefürten Freveltaten ergibt: Jes 24,6; 59,9; Jer 5,6.14; 7,20; Ez 5,8; Hos 13,3; Am 3,11; TestLevi 16,4 (in Verbindung mit der TZ: auch 15,1; ferner TestJuda 23,3; TestAser 7,2); TestDan 5,8; TestAser 7,6. Als Fortsetzung der V. 32–34 erscheinen die Boten in V. 35 als Gerichtsagenten, die sich als Opfer anbieten, um das Gericht Gottes zu vollstrecken (Walker, Heilsgeschichte, 58: „Katalysatoren des Unheils“). „Das ganze Blut“ ist ein verdichteter Ausdruck für eine unendliche, pauschalisierte Schuld in Anlehnung an den atl. Sprachgebrauch (vgl. Thr 4,13LXX); die Erwähnung von Abel – der erste ‚Märtyrer‘ – und Sacharja vom letzten Buch des Kanons zeigt, dass diese als Verkörperung der ganzen Heilsgeschichte fingieren (vgl. Garland, Intention, 182 f, Anm. 69; Nolland, Mt, 946 f; Zahn, Mt, 650; Becker, Zerstörung, 67; Ogawa, L’histoire, 278; Davies / Allison, Mt III, 319; Gundry, Mt, 472; Konradt, Israel, 249). Fälschlicherweise wird er von Matthäus als Sohn des Barachias bezeichnet, der Prophet Sach 1,1.7 hat aber keinen Märtyrertod erlitten; am wahrscheinlichsten geht es tatsächlich um Αζαριαν τὸν τοῦ Ιωδαε τὸν ἱερέα von 2Chr 24,20–22; er ist auch der einzige Prophet, der gesteinigt (2Chr 24,21LXX: ἐλιθοβόλησαν; vgl. Mt 21,35[red.]; 23,37) wurde, vgl. Evans, Predictions, 105. Auf den ermordeten Zeitgenosse Zacahrias, dem Sohn des Bareis, wie Josephus in Bell IV 334–344 berichtet, legen sich Gnilka, Mt II, 301 f; Taylor, Destruction, 288; Overman, Church, 323; Schmithals, Geschichte, 483; Steck, Israel, 39, fest; auch Harrington, Mt, 328; Hoffmann, Studien, 165, ziehen diese Variante nur für Mt in Erwägung. 340 Ab V. 30 (εἰ ἤμεθα) beginnt bis V. 39 eine mit der Ausnahme der Anrede Jerusalems in V. 37 ununterbrochene Reihe der 2. Person Plural, vgl. Garland, Intention, 178 („an emphasis on ‚you‘“); auch Davies / Allison, Mt III, 303; Weaver, Discourse, 218, Anm.  62;­ Tilborg, Leaders, 65. Dementsprechend bezieht sich auch V. 36 auf dieselben (Garbe, Hirte, 90; D ­ avies / Allison, Mt III, 318, 324; Tilborg, Leaders, 67); ἐπὶ τὴν γενεὰν ταύτην in V. 36 ist eine nominale Variation auf Basis desselben Themas; es gibt kein Indiz für eine Erweiterung des Adressatenkreises (Konradt, Deutung, 205; Konradt, Israel, 250). 341 Es besteht kein Forschungskonsens, ob V. 37–39 zur ursprünglichen Textgestalt gehört. Ich gehe davon aus, dass erst Matthäus diese für ihn sehr günstige Verbindung zu einem ‚Tempel-Argument‘ zusammenstellt (vgl. auch Döpp, Deutung, 24; Steck, Israel, 48; Luz, Mt III, 377; Gnilka, Mt II, 298 f; Garbe, Hirte, 97; Hartin, Woes, 276; die ausführliche Diskussion mit Argumenten für die matthäische red. Platzierung bei Garland, Intention, 187–197; auch Kosch, Tora, 101–103). 342 Anders wie bei Lk 13,33–34, wo der Verbindungspunkt Jerusalem, das die Propheten tötet, ist, erfolgt bei Mt 23,36–37 der Übergang allgemein über den Gedanken von Töten und Verfolgen der Propheten und Gesandten (Kwaak, Klage, 159).

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Anrede der personifizierten Stadt in 23,37 (Ἰερουσαλὴμ Ἰερουσαλήμ) erhöht die Dramatik der ganzen Szene, die Klage (23,37–39) fügt sich trotz der wahrscheinlich redaktionellen Platzierung in den matthäischen Duktus nahtlos ein. Formell wird diese Reihenfolge vielleicht von Begriffen wie προφήτης (V. 34), ἀποκτείνω (V. 34), ναός und θυσιαστήριον (V. 35) begünstigt; auch die Pronomina 2.  Pl. kommen weiter zuhauf vor – ἀφίεται ὑμῖν (V. 38); λέγω γὰρ ὑμῖν (V. 39). Als logischer Schritt ist aber diese Fortsetzung ausschlaggebend für die intendierte Ausrichtung der ganzen Rede. Das Thema der Prophetenverfolgung wird nun weiter behandelt, aber in einen engeren Kreis integriert. Matthäus fokussiert zunehmend seine Aufmerksamkeit,343 denn Jerusalem (23,37: ἡ ἀποκτείνουσα τοὺς προφήτας) umschreibt den Machtbereich der Gegner. Als von den Pharisäern und Schriftgelehrten beeinflusste Stadt ist Jerusalem die Quelle des Übels, seine zurückliegende Zerstörung gibt nun Matthäus Anlass und Entschlossenheit gegen die Autoritäten vorzugehen. Im Grunde genommen weist 23,37–39 dieselbe Struktur wie die anderen zwei ‚Strophen‘ auf.344 Auf die knappe Beschreibung der Taten in V. 37 (ἀποκτείνουσα … καὶ λιθοβολοῦσα) folgt eine erneute Gerichtsansage (V. 38 f). Die Sprache des treu übernommenen Q 13,34 f-Fragmentes ist ein Stück metaphorischer, sowohl den wiederholt abgelehnten Versuch Gottes, die Stadt für sich zu gewinnen, als auch die Strafe selbst betreffend. Den Kindern Jerusalems wollte Gott liebevoll wie eine Henne ihren Küken (τὰ νοσσία αὐτῆς)345 unter ihren Flügeln346 Schutz

343 Im Unterschied zu Gielen, Konflikt, 319, 342 (vgl. auch France, Mt, 882: „more general hostility“; Luz, Antijudaismus, 314: „Das Jerusalemwort […] bestätigt, dass der Evangelist das ganze Volk im Blick hat“; Hagner, Mt II, 680; Kelhoffer, Persecution, 249 f; ­Garland, Intention, 119) betrachte ich diesen Schritt nicht als Ausweitung der Perspektive von Schrift­ gelehrten und Pharisäern auf ganz Jerusalem oder gesamt Israel, sondern als Eingrenzung des geografischen Horizontes auf ihr Machtzentrum und zugleich, im Lichte der geschichtlichen Ereignisse, als konkrete Veranschaulichung des Einwirkens Gottes; vgl. auch Levine, Social, 219; Konradt, Israel, 251 f; Ders., Deutung, 204–206; Carter, Construction, 84–85:­ „Matthew 23:27 targets an elite, male, Jewish group for which the unmodified term ‚Jews‘ is an inappropriate interpretive category“. Die Iteration Ἰερουσαλὴμ Ἰερουσαλήμ dient hervorragend dazu, vgl. Bullinger, Figures, 189: „Powerful way of emphasizing a particular word, by thus­ marking it and calling attention to it“; „pathetic appel“ (197). 344 Vgl. auch Marguerat, Le jugement, 356: „Autrement dit: 37–39 repète la procédure de 29–36; à nouveau au châtiment est édicté après l’exposé des griefs“. 345 Die Pluralform ist eine der wenigen Abweichungen der matthäischen Variante im Vergleich zu Lk 13,34–35 (vgl. die synoptische Analyse bei Garbe, Hirte, 93–97) und „passt sehr gut zum mt Konzept der Mission in Israel“ (ebd., 96). 346 Das traditionelle alttestamentliche Bild für Schutz und Zuflucht bei Gott (Ps 17,8; 36,8; 57,2; 61,5; 63,8; 91,4; Dtn 32,11; Jes 31,5; Rut 2,12; vgl. auch 2Bar 41,4) lässt hier mitten in der hitzigen Polemik auch Platz für eine gewisse Tristesse (vgl. Marguerat, Le jugement, 367; Zahn, Mt, 651 [„in bewegtem Ton“]; Hoet, Omnes, 39). Für Zion als schützende Mutter vgl. Jes 49,20–22.25; 50,1; 51,18.20; 54,1; Ez 16,20–21.36; Hos 4,25; 4Esra 10,4–8; Gal 4,25–26.

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gewähren. Der Vergleich bildet einen scharfen Kontrast347 und macht die Absurdität der Zurückweisung des Willen Gottes (ἠθέλησα steht dem οὐκ ἠθελήσατε gegenüber; vgl. auch 22,6) besonders klar. Die vorher ausführlich erwähnten Verfolgungen sind mit dem entschlossenen „Nicht-Wollen“ materialiter identisch, das zieht wie auch in den anderen Abschnitten ab V. 38 die letzte Gerichtsankündigung nach sich und bringt eine zusätzliche Präzisierung. Nach den zwei pauschalisierenden Gerichtsansagen in 23,32 f.35 f bezieht Matthäus nun die bei allen Parteien sehr präsente Zerstörung Jerusalems in seine sorgfältig konstruierte Argumentationsstruktur ein, denn ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος348 ὑμῶν ἔρημος349 wird erst in einer Posttempelzeit wirklich relevant. An dieser Stelle wird die Tempelzerstörung direkt ein anschaulicher Beweis350 für die eigene Interpretation der Ereignisse. Das Gericht Gottes ist kein leeres Wort, die Trümmer des Tempels zeugen dafür, dass die gerechte Strafe für die Kreuzigung Jesu (vgl. 27,25) nicht ausgeblieben ist. Da nun seine Nachfolger das gleiche Schicksal von der Seite derselben Gegnerkategorie wie der Herr erleiden müssen, werden die Verfolger dem bevorstehenden Endgericht nicht mehr entrinnen können. V. 39 ist red. als Begründung mit V. 38 verbunden (γάρ, vgl. Lk  13,35b: λέγω [δὲ] ὑμῖν), und somit stehen die Tempelzerstörung und das Endgericht als unterschiedliche Stufen des Gottesgerichts eng beieinander; das erste Ereignis nimmt das zweite vorweg und lässt das Endgericht351 als von nun an unabwendbarer Fluchtpunkt der geschichtlichen Entwicklung den Gegner bedrohlich vor Augen schweben. 347 Söding, Tempelaktion, 54. 348 An sich kann ὁ οἶκος Tempel, Stadt oder das Gemeinwesen Israel bedeuten (Gnilka, Mt II, 303–304: „Die Bedeutungen gehen ineinander über“; Hagner, Mt II, 680 f); angesichts des nachfolgenden V. 24,1: καὶ ἐξελθὼν ὁ Ἰησοῦς ἀπὸ τοῦ ἱεροῦ, der sich offensichtlich auf 23,38 zurückbezieht, und des vorangehenden V. 23,35[red.]: ναός (vgl. Lk 11,49: οἶκος) liegt die Variante ‚Tempel‘ näher (vgl. Gibbs, Jerusalem, 124; Konradt, Deutung, 211, Anm. 66; Kwaak, Klage, 162; Gundry, Mt, 473; Harrington, Mt, 329; Nolland, Mt, 951; Davies / Allison, Mt III, 322, die auch auf mögliche Überlappungen hinweisen). 349 Falls der Zusatz wirklich zum mt Text gehört (Luz, Mt III, 377, Anm.  2: „sicher ursprünglich“; Hoffmann, Studien, 172: „frühe Erläuterung des schwierigen Wortes“; Riesner, Lehrer, 337: „aus rhytmischen Gründen beizubehalten“), dann ist dieser möglicherweise red. und traditionell mit der Tempelzerstörung verknüpft; vgl. 1Kön 9,6–9; Jes 64,10–11; Jer 12,7; 22,5; 26,6; Ez  8,6; 11,22–25; 12,7; Hag 1,9; Neh 2,3; Tob 14,4; 1Hen 89,56; 4Q174 3(=Frgm. 1+21+2),5–6; TestLevi 15,1; Bell VI 300; 2Bar 8,2; Tac.hist. V 13; EvPhil 84,27–28. 350 Vgl. Konradt, Israel, 252: „Die Zerstörung Jerusalems wird von Matthäus also als Beleg interpretiert, dass die Gegner Jesu und seiner Jünger dem eschatologischen Strafgericht Gottes anheimfallen werden“. 351 Ἀπ’ ἄρτι hat an den beiden Stellen „einen bedrohlichen Akzent“ (Gnilka, Prozeß, 22). Weil das Gericht hier den dominanten Vorstellungshorizont darstellt, scheidet die sogenannte ‚konditionale Lösung‘ (vgl. Kwaak, Klage, zustimmend Davies / Allison, Mt III, 323 f; Harrington, Mt, 329–330) aus. Ein temporales Verständnis der ἕως ἅν-Konstruktion vertreten auch Garland, Intention, 207 f; Luz, Mt III, 383; Konradt, Israel, 254.

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Die Tempelzerstörung, auf die man in 23,38 zurückblickt, erscheint im Lichte von 23,39 als entscheidende Station im Gerichtsprozess Gottes, der schon jetzt innergeschichtlich angefangen hat. Den in Herrlichkeit kommenden Herrn werden die Anvisierten wie alle anderen Sterblichen mit dem Lobeswort εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι κυρίου empfangen und (an)erkennen müssen,352 nur können sie der Verdammnis nicht mehr entrinnen (vgl. 23,33). Mit dem demütigen Hirten Israels konnten sie alles machen (wie in 21,9b wird auch hier Ps 118,26a zitiert), was sie wollten (nicht zu übersehen ist hier, dass Jesus diejenigen meint, die im Begriff sind, ihn zu kreuzigen – vgl. 26,2, unmittelbar nach dem Ende der großen eschatologischen Rede), bei seinem zweiten Kommen in Herrlichkeit aber, sind sie entmachtet und dem göttlichen Zorn hilflos ausgeliefert.353 Die Weherede endet also mit dem Bild des letzten Gerichtes. Dies veranschaulicht und bekräftigt, was bereits unmittelbar vor dem Redeanfang in 22,44 (ἕως ἁν θῶ τοὺς ἐχθρούς σου ὑποκάτω τῶν ποδῶν σου) in Bezug auf dieselben Gegner angekündigt wurde.354 Das Moment, das ebenfalls durch ἕως ἅν in 23,39b angespielt wird, bedeutet ihre eschatologische Vernichtung. Als Teil eines Drohwortes355 führt V. 39 also den Gegnern die völlig neue, verkehrte aber geschicht-

352 Im Grunde genommen ist dieser Gedanke mit Mt  26,64 kongruent, auch dort wird die herrliche Wiederkunft des Menschensohnes als Bedrohung für die Ankläger angekündigt (vgl. auch Pesch, Aussagen, 295: „Die Huldigung […] gilt dem Weltrichter“); ἴδητε in 23,39 und ὄψεσθε in 26,64 entsprechen sich; ἀπ’ ἄρτι in beiden Fällen red. lässt die Szenen noch näher aneinanderrücken. Vgl. auch S. 228 f. 353 Vgl. auch Garland, Intention, 208: „The Heilsruf can only be viewed as a greeting for the final judge“; Luz, Mt III, 384 f; Marguerat, Le jugement, 372; Sato, Q, 157 (vergebliches Begrüßungswort); Strecker, Weg, 115: „Nicht die Bekehrung des jüdischen Volkes ist voraus­ gesagt sondern […] die Anerkennung der Tatsache, dass der Messias-Menschensohn am Weltende in Herrlichkeit erscheinen wird, und zwar, um Gericht zu halten“; Gnilka, Mt II, 305 („Anerkennung seiner nunmehr nicht mehr zu leugnenden Herrlichkeit“); Trilling, Israel, 87 f. Mit einem möglichen positiven Ausgang rechnen z. B. Aune, Prophecy, 175 („a promise of final salvation“); Levine, Social, 221; Nolland, Mt, 953; Gundry, Mt, 474 („it also implies a conversion of Israel at the parousia“); Gnilka, Verstockungsproblem, 128; Walter, Kirchenverständnis, 139; Carter, Margins, 464 f; Hagner, Mt II, 680 („an element of hope“), 681; Kvalbein, Matthäus, 311. Unentschieden ist Hummel, Auseinandersetzung, 141 f: „Ob die Wiederbegegnung bei der Parousie Heils- oder Unheilscharakter trägt, lässt sich auf Grund des Textes nicht sagen“, ähnlich auch Sand, Mt, 476. 354 Über die Rolle der Gerichtsvorstellungen und der eschatologischen Sprache in der Austragung und Ausgestaltung des Konfliktes bei Matthäus vgl. 4.1.2. 355 Vgl. auch Steck, Israel, 52, mit Hinweis auf Mi 6,16. Deswegen halte ich eine plötzliche positive Wende, sogar auch die eingeräumte Möglichkeit der Umkehr, wie in der konditionalen Lösung (vgl. Kwaak, Klage, 168; zustimmend Davies / Allison, Mt III, 323 f) angesichts der sonst sehr düster vorgestellten Aussichten eher für unwahrscheinlich; „l’argument contextuel est, à cet égard, déterminant“ (Marguerat, Le jugement, 372, Anm. 107); auch Sato, Q, 158: „Wer in diesem Satz etwas Hoffnungsvolles hören will, nimmt die schmerzvolle Klage ‚Jerusalem, Jerusalem‘ und die Gattung ‚Unheilswort‘ nicht ernst“.

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lich antizipierte Situation vor Augen, die zu ihren Ungunsten am Ende der Geschichte entsteht. Diese Auslegung wird bekräftigt, wenn οὐ μή με ἴδητε ἀπ’ ἄρτι (23,39) nicht nur auf den entscheidenden Wechsel der Äonen und Beginn der eschatologischen Zeit, der mit dem Tod Jesu eintritt,356 interpretiert, sondern auch auf den Plot der Erzählung bezieht,357 und zwar als das Ende des öffentlichen Wirkens (Passion einbegriffen) und seiner Konfrontation mit den Anklägern in der jetzigen Machkonstellation hin auslegt (in diesem Sinne stehen ἀπ’ ἄρτι in 23,39 und 26,64 beides Mal red. auf derselben Zeitstufe).358 Alles wurde gesagt und getan (22,46 unmittelbar vor dem Redebeginn: οὐδὲ ἐτόλμησέν τις ἀπ’ ἐκείνης τῆς ἡμέρας [red.] ἐπερωτῆσαι αὐτὸν οὐκέτι; vgl. auch das allumfassende ποσάκις in 23,37; in 26,55 spricht Jesus selbst über seine Lehre im Tempel als vergangenes Ereignis;359 alle Zeichen wurden gegeben (12,39 f; 16,4), von nun an zieht sich Jesus zurück und wendet sich ausschließlich seinen Jüngern zur; sogar Pilatus antwortet er zu seiner Verteidigung nicht, als er von den Hohenpriester und Ältesten verklagt wurde360 und, wenn er in 26,64 dem Hohenpriester endlich antwortet, spricht er schon als endzeitlicher Richter.361 Von nun an kann sich am Ausgang der Autoritäten im Endgericht nichts mehr ändern, das Urteil Gottes über sie hat sich gefestigt, ebenso deren Entschluss, seinen Sohn zu töten; sie haben gezeigt, dass sie nicht über ihren Schatten springen können und machen tatsächlich „das Maß der Sünden voll“. 356 Beide Texte nehmen den Tod in den Blick und markieren einen tiefen Schnitt in der Biographie Jesu und in der Heilsgeschichte, „die Phase seiner irdischen Präsenz wird ­abgelöst durch seine Erhöhung zum Weltenherrn“ (Konradt, Israel, 322); vgl. auch Kraus, Passion, 421 f; Frankemölle, Bund, 65 („zur Markierung des neuen, eschatologisch bestimmten Äons“). 357 Diese Auslegung ist von Bonnard, Mt, 344, angedeutet: „Dès maintenant: car je quitte toute activité publique pour souffrir“; Hummel, Auseinandersetzung, 141: „Die Wendung weist nicht so sehr vorwärts auf eine Epoche zwischen Auferstehung und Parusie als vielmehr rückwärts auf eine jetzt zu Ende gehende, definitiv abgeschlossene Situation“; Gnilka, Mt II, 304, Anm. 38: „Beide Richtungen sind ernst zu nehmen“. Sonst wird ἀπ’ ἄρτι noch auf die Tempelzerstörung bezogen oder auf die Gegenwart der Gemeinde (Garbe, Hirte, 204). 358 So auch Ogawa, L’histoire, 272: „Jésus ne parle-t-il pas de la même situation en 26,64 qu’en 23,39?“, der aber als Bezugspunkt für diese ἀπ’ ἄρτι-Stellen wie auch für 26,29 die Gegenwart der Gemeinde annimmt; ferner Frankemölle, Bund, 356. 359 Die Geduld Gottes ist aufgebraucht und lässt nun freien Raum für unerbittlichen Zorn (auf diesen „turning point“ der Erzählung verweist auch Gibbs, Jerusalem, 134, Anm. 118) 360 Vgl. 27,12[red.]: οὐδὲν ἀπεκρίνατο; auch in 27,14 ‚verbessert‘ er seine Grundlage und fügt auch πρὸς οὐδὲ ἓν ῥῆμα hinzu; auch die Verwunderung des Stadthalters wegen seines Schweigens wird mit λίαν amplifiziert (vgl. Holtz, Herrscher, zu Mt  119–134, 121; Broer, Prozess, 100 f). 361 Der direkte Adressat dieser Gerichtsankündigung ist die jüdische Führungsschicht, die ἀπ’ ἄρτι dem Gericht nicht mehr entrinnen kann; Luck, Mt, 253: „Die nächste Begegnung mit Jesus geschieht im Gericht“; selbst der herrschende Menschensohn spricht das Gerichtsurteil aus (auch Paesler, Tempelwort, 47; Gerhardsson, Jésus livré, 219).

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Der Rückzug Jesu aus dem Tempel (24,1) und die direkte Verkündigung der Tempelzerstörung (24,2) müssen deswegen als eine unbedingt gewollte Fort­ setzung angesehen werden. Nur das Erste ermöglicht das Zweite; die noch anwesende Herrlichkeit Gottes362 verlässt den Tempelraum363 und gibt ihn den fremden Kräften preis. Abgerundet wird damit auch das öffentliche Wirken Jesu in Jerusalem: das demonstrative Verlassen des Tempels (καὶ ἐξελθὼν ὁ Ἰησοῦς ἀπὸ τοῦ ἱεροῦ) ist ein Pendant seines Einzugs in 21,10 (καὶ εἰσελθόντος αὐτοῦ εἰς Ἱεροσόλυμα); wie in 21,9 wird auch in 23,39 Ps 118,26 zitiert.364 24,1–2 ist deswegen ein narrativ-symbolisches Intermezzo, das den Sinn des Ganzen unmissverständlich illustriert,365 wobei Jesus selbst den Platz der Schekinah übernimmt.366 Diese Vorstellung ist hier am Ende der aufwendigen Argumentation nicht von ungefähr aufgenommen, sondern sie führt abschließend eine entscheidende christologische Pointe ein. Jesus verlässt den Tempel und bleibt bei seinen Jüngern in gegenseitiger Zuwendung (24,1.2[red.]: προσῆλθον οἱ μαθηταί … ἀποκριθεὶς εἶπεν αὐτοῖς [vgl. Mk  13,1: αὐτῷ]; vgl. auch 5,1; 13,36); der ἐκκλησία-Gedanke schwingt hier auch dadurch mit, weil Mk  13,1 (εἷς τῶν μαθητῶν αὐτοῦ) durch ihre Gesamtheit ersetzt wird Mt  24,1 (οἱ μαθηταὶ 362 Vgl. Dtn 12,11; 14,23; Jer 7,11, mAv 3,2 ; MekhJ 14,2. 363 Die Vorstellung ist belegt in Verbindung mit dem Thema Tempelzerstörung in Ez 10,18–22; 1Hen 89,56; 2Bar 8,2; 64,6; Josephus, Bell V 412; VI 295–300; Tac.hist. V 13; 4Bar 4,1. Die Identifizierung Jesu mit dem Schekinah Gottes wird oft an dieser Stelle angenommen (vgl. auch weiter Anm. 370), der Akt des Verlassens ist aber durch ἐξελθὼν … ἀπό (Mt 24,1) betonter (Mk 13,1: ἐκπορευομένου). 364 Auch Garland, Intention, 189, verweist auf V. 37–39 als Klimax des Kapitels und der Szenenreihe, die mit Kap. 21 beginnt; vgl. auch Viviano, World, 7; Marguerat, Le jugement, 347; Weren, Jesus’ Entry, 119 („inclusio framing“); Hoet, Omnes, 81; Trilling, Einzug, 75; darauf weist auch Zahn, Mt, 652, hin. 365 Die innere Zusammenzugehörigkeit der Szenen verbindet auch die beiden Kapitel aufs Engste. Matthäus lässt absichtlich eine ganze Perikope, Mk 12,41–44, weg und verschafft einen glatten Übergang, der den inneren, historisch-theologischen Zusammenhang verdeutlicht. Vgl. Gaston, No Stone, 486: Mt 23 „has been closely connected to Mt 24 in an attempt to explain the reason behind the horrors of the recent war“; McKnight, Critic, 76, Anm. 81: „A serious exegetical error is made when Mt 23 and 24 are read separately“; Gundry, Mt, 474 („unification“); Walker, Heilsgeschichte, 59; Garbe, Hirte, 106 f; Crosby, House, 73 („inseparable“); Cousland, Crowds, 245; Becker, Zerstörung, 60; Howell, Matthew, 153: „The prediction of the forsakenness of the house of Israel (23,38) is fulfilled for Matthew when Jesus departs from Temple (24,1)“; Garland, Intention, 27–29; Konradt, Israel, 253; Winkle, Jeremiah, 170 f; Dupont, La ruine, 263; France, Mt, 886: 24,1–2 sei „the climax of the whole section“; Hummel, Auseinandersetzung, 85 f; Luz, Jesusgeschichte, 137; Hoet, Omnes, 80. Einen Neuansatz und implizit einen Schnitt zwischen den Kapiteln sieht hier Broer, Aspekte, 220; auch er räumt aber 24,1 f „einen gewissen Übergangscharakter“ ein, denn das Thema der Tempel­zerstörung steht in Zusammenhang mit der Gerichtsandrohungen in Kap. 23; radikaler Gnilka, Mt II, 309; Walter, Tempelzerstörung, 46, Anm. 35: Die beiden Reden stehen „nicht aus sachlichen Gründen nebeneinander“. 366 Vgl. auch Haenchen, Matthäus 23, 55 f; Strecker, Weg, 113; Knowles, Jeremiah, 287; Kwaak, Klage, 162; Kupp, Matthew, 106.

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αὐτοῦ).367 Gott hat den Tempel endgültig verlassen und ruht nun in der von Pharisäern belagerten und verfolgten Gemeinde. Er wird aber die ἐκκλησία nie verlassen (28,20),368 wie er den Tempel verlassen hat. Neben der Verantwortung für die nationale Katastrophe, die durch den Übergang von V. 36 zu V. 37 hergestellt wurde, wird im Übergang von 23,39 zu 24,1 f die abgründige, theologische Dimension der Geschehnisse deutlich gemacht: Der neue Kristallisationspunkt in Israel ohne Tempel, dort wo Gott verweilt und im Praktizieren der Tora erfahrbar wird, ist die jüdisch-christliche Gruppierung von Matthäus.369 Die Pharisäerrede mündet also in die christologisch und ekklesiologisch gedeutete Tempelzerstörung370 ein und kann theologisch, sprachlich und psychologisch nur von dieser Katastrophe her verstanden werden.371 Damit ist der 367 Gundry, Mt, 474 („to all disciples, who represent the whole church“); Gnilka, Mt II, 312; Davies / Allison, Mt III, 323 f; Bonnard, Mt, 345: „Dans ces disciples, il faut peut-être ne s’interésse pas au group restraint des Douze […] qu’à la figure stylisée des questionneurs chrétiens de l’église matthéenne“. 368 Es ist nicht ausgeschlossen, dass καὶ ἰδοὺ ἐγὼ μεθ’ ὑμῶν εἰμι πάσας τὰς ἡμέρας ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος eine Kontrastaussage repräsentiert, die den Tempeluntergang als historisch-theologischen Hintergrund nimmt. Eine ähnliche Pointe ohne Tempelbezug sieht hier auch Kupp, Matthew, 106–107: „For the implied reader, who has seen the polarity of communities growing ever more intense within the story, the corollary of such a declaration is obvious: the presence of Jesus with his people spells the absence of God among those who have repudiated his presence“. 369 Die Selbstpräsentierung als ethisches Kontrastbild zur Gegnergruppe wird in 4.3.2.3.2 herausgearbeitet. 370 Die Annahme einer christologischen Intention der matthäischen Anordnung in 23,29– 24,2, mit Jesus-Immanuel = Schekinah als Spitzenpunkt des argumentativen Durchgangs, ist nur selten in Erwägung gezogen worden: Davies / Allison, Mt III 312 f, verweisen nur allgemein auf „a christological focus, an ecclesiological orientation, and a polemical intent“; Gärtner, Temple, 114, bringt die Schekinah-Vorstellung in Verbindung mit Mt 18,20: „The ‚presence‘ of God would no longer be linked with the temple, but with him and those whom he [Jesus] had gathered to himself “; Garland, Intention, 203; Garbe, Hirte, 106, bringt hier deutlicher das matthäische Immanuel-Konzept ins Gespräch: „Mit dem ‚Immanuel‘ Jesus weicht auch die Gegenwart Gottes aus dem ‚Haus‘, so dass dieses schutzlos und letztlich auch sinnlos werden wird“; Kupp, Matthew, 106: „For the implied reader his departure from the Temple is his departure as the personal expression of God’s true presence, the persona identified as ‚Emmanuel‘“; Crosby, House, 73 f; Konradt, Israel, 253; Pokorný, Namen, 479 f, ordnet Mt  28,17 (προσκυνέω) und Mt  18,20 (συνάγω) der Tempelmetaphorik unter und verbindet sie mit der Verwüstung des Tempels und damit mit dem hny"kiv.-Gedanke. Zur Tradition des ‚Mitseins‘ Jahwes im AT vgl. Frankemölle, Bund, 72–79; Preuss, Ich will, 139–173; Janowski, Ich will, 119–147. 371 Hummel, Auseinandersetzung, 87: „Matthäus deutet also die Tempelzerstörung durch die Pharisärerede. Und umgekehrt: Die Pharisäerrede kann nur recht verstanden werden, wenn erkannt ist, dass sie auf die Tempelzerstörung hinzielt“; Davies / Allison, Mt III, 262: „The juxtaposition of ch. 23 and 24 plainly makes the destruction of the temple (24,2) a consequence of God’s responce to Jerusalem’s disobedience (23,37–39)“; Riniker, Gerichtsverkündigung, 99: „Mt hat […] eine thematische angeordnete Gerichtsrede, die in der Ankündigung der Abweisung von Boten Gottes und der Andeutung der Tempelzerstörung gipfelt und deutlich auf 24,1 f zuläuft“; Pesch, Aussagen, 295.

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Untergang des Tempels als greifbares geschichtliches Ereignis in das eschatologische Szenarium eingegliedert, das gleich auf die Frage der Jünger entfaltet wird (24,3: πότε ταῦτα ἔσται). Diese innergeschichtliche Strafe entlädt aber nicht vollständig den Zorn Gottes,372 sondern weist in für die Zeitgenossen klaren Bildern auf das sich anbahnende Endgericht hin.

4.3 Wissende und fordernde Gemeinde: Heilskompetenz und ethische Konfliktsprache Dieser letzte Teil  zur Konfliktaustragung umfasst die ethisch-ekklesiologische Konzeption des Evangelisten. Gemäss dem ausgewählten Schwerpunkt werde ich die exegetischen Ausführungen gelegentlich, alternierend oder anhand erklärender Anmerkungen, mit sozialpsychologischen gruppendynamischen Erkenntnissen bereichern. Die Hauptlinien, nach denen diese Beschreibung erfolgt, sind die kognitiven und handlungsbezogenen (ethischen) Kriterien. Ungeachtet der Kontrastierung mit den Werten der konkurrierenden Partei (4.3.1) verusche ich in einem ersten Schritt, die Analyse auf die kognitiven (4.3.1.1) und ethischen (4.3.1.2) Gruppenwerte der Gemeinde selbst zu fokussieren. Die Gegenüberstellung ‚Eigengruppe  – Gegnergruppe‘ (4.3.2) beginnt mit theoretischen Überlegungen zum Mirror image-Effekt (4.3.2.1), die mich anschliessend dazu veranlassen werden, den Kontrast zwischen Gruppen nach denselben Kriterien (kognitiv 4.3.2.2 und ethisch 4.3.2.3) zu erarbeiten. Die schwerwiegende Folge dieser Vorgehensweise des Redaktors ist, dass am Ende die Gruppen sich fundamental voneinander unterscheiden, ja sogar gegenseitig zu einem ideologischen Gegenstück werden. Ein letzter Abschnitt (4.3.3) thematisiert die Konsequenzen dieser konflikthaften und sprachlich markierten Identitätsbildung für das Selbstbild der Gemeinde.

372 Matthäus verbindet offenbar die TZ mit dem zweiten Kommen Jesu und dem Gericht (vgl. Balabanski, Eschatology, 138; Brown, Apocalypse, 7), aber, wie Kühschelm, Jüngerverfolgung, 305, anmerkt: Die Gerichtsdrohung hat „keineswegs mit der Zerstörung Jerusalems ihr Ziel und ihre Bestätigung gefunden“; Strecker, Weg, 117, präzisiert: die TZ sei „ein sichtbarer Ausdruck der schon vollzogenen Verwerfung“; vgl. auch Hummel, Auseinandersetzung, 89 f.

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4.3.1 Eigengruppe im Mittelpunkt 4.3.1.1 Selbstzugeschriebene kognitive Gruppenkompetenzen: Wissende Gemeinde (Mt 13,10–17) Die Bildung einer Gruppenidentität geht mit einem Selbstlegitimierungsprozess373 einher. Die soziale Legitimation ist sowohl für politische Zwecke, als auch in der alltäglichen Interaktion von großer Bedeutung. Man braucht Glaub­ würdigkeit, ein kohärentes und anerkanntes Selbstbild, um seine Stimme in der Vielfalt der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Mir geht es in diesem Abschnitt primär um kognitive Legitimierungsprozesse in der Interaktion zwischen Gruppen und ihre Konsequenzen für die Identitäts­ bildung. Kleingruppen mit einem objektiv niedrigen Status können besondere Strategien entwickeln, um sich sozial zu behaupten.374 Eine untergeordnete Gruppe kann ihren Status dermaßen internalisieren, dass sie keinen Widerstand mehr leistet und die Machtaufteilung für ‚gegeben‘ hält. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine Gruppe anhand ihrer kreativen Ressourcen und subjektiven Ansprüche das belastende Bild aktiv bekämpft.375 Alle Mittel und Kräfte werden dann eingesetzt, damit die Gruppenwerte Anerkennung gewinnen. Besonders plötzliche, tief greifende soziale Umbrüche fordern eine Gruppe besonders heraus und rufen einen komplexen kognitiven Apparat ins Leben, der die wichtige Funktion erfüllt, Neues zu rechtfertigen und alte Normen aus dem Geltungsbereich zu entfernen. Legitimierungs- und Delegitimierungsprozesse verlaufen dann parallel und unterstützen sich gegenseitig.376 Das wirksamste Legitimierungsmittel der matthäischen Gruppe ist Jesus selbst – dafür steht ihre ‚verbesserte‘ Christologie.377 Aber auch die theologischen Selbstaussagen, wie man der ‚transparenten‘ Erzählung entnehmen kann, lassen ein positiveres Selbstbild erkennen – die Gemeinde legt einen erhöhten subjektiven Status an den Tag: „Die Idealisierung der Jünger Jesu [entspricht] nicht nur formal, sondern auch inhaltlich der christologischen Darstellung“.378 Die red. Verbesserung des Jünger-Bildes – in dieser Weise ist hier „Idealisierung“ zu verstehen – ist in der Forschung im Zusammenhang mit der matthäischen Ekklesiolo 373 Für einführende Fragen der heutigen Legitimierungsforschung vgl. Jost / Major, Emerging, 3–30. 374 Dieses Thema wird am besten von der Studie von Spears u. a., (Il)legitimacy, 332–362, behandelt, die auch die Verbindung zum SIT-Ansatz herstellt. 375 Spears u. a., (Il)legitimacy, 340 ff, 352. 376 Kelman, Reflections, 57 ff; Deppermann, Glaubwürdigkeit, 77: „Attakieren gegenerischer Glaubwürdigkeit und Demonstrieren bzw. Absichern eigener Glaubwürdigkeit implizieren daher einander“. 377 Strecker, Weg, 120–122; Hagner, Apocalyptic, 69 („heightened christology“); Murphy, Jewishness, 397: „It is true that Matthew’s christology exalts Jesus“. 378 Strecker, Weg, 194.

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gie erwähnt worden,379 wobei diese Tendenz keine Einbahnstrasse ist – Matthäus betont zugleich auch die Schwächen der Jünger, ihr Bedürfnis nach Unterweisung, ihre Angst und ihren ‚Kleinglauben‘, die erst durch Jesus überwunden werden können.380 Ulrich Luz argumentiert gegen die exzessive „Historisierung“ der Verhältnisse im Evangelium und wirbt für die „Transparenz“ der Jünger als­ „Typen“ für die aktuelle Gemeinde381 und seine Kritik ist insofern gerechtfertigt, wenn man die „Idealisierung“ als Reflex eines totalen Desinteresses für die Gegenwart und zugleich einer Fixierung auf einer verklärten Vergangenheit auffasst (so wie Georg Strecker es tut).382 Die ‚freundlicheren‘ Züge des matthäischen Jüngerbildes lassen sich aber nicht leugnen, wobei diese redaktionelle Tendenz auch als gegenwartsbezogen und zwar als nötige psychologische Selbstaufwertung der verunsicherten Gemeinde verstanden werden kann – das bessere Selbstbild dient schliesslich einer effektiveren Konfliktaustragung.383 Auch die ‚selbstkritischen‘ Merkmale haben ihren natürlichen Platz in der Eigendarstellung einer äußerst an Ethik orientierten Gruppierung. Der ethische Imperativ ist zum Bestandteil der eigenen Identität geworden; das Streben nach ‚Vollkommenheit‘ und die Spannung zwischen dem ethischen ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ sind feste Merkmale der Jüngerexistenz. In diesem Sinne bildet Matthäus eine Gruppenidentität mit einem ethischen Schwerpunkt, wobei auf Gemeindebene ‚ethisch bedürftig‘ nicht ‚ethisch verfehlt‘ bedeuten muss. Die unanfechtbare Legitimierungsinstanz der matthäischen Gruppenkultur ist also ihr Begründer Jesus, der Sohn Davids, der Sohn Gottes (vgl. 22,41–46). Es ist unmöglich zu bestimmen, welcher der Ausgangspunkt dieser wechselseitigen Aufwertung war: Hat eine von Anfang an hohe Christologie unter dem Einfluss der widrigen Umstände die Bemühung der Gemeinde ausgelöst, ihren subjektiven Status entsprechend anzupassen und ihn nach oben zu korrigieren oder war das Bedürfnis einer im Konflikt verunsicherten Gemeinde nach einem besseren Selbstbild so groß, dass dem Bild Jesu als Verkörperung und Verteidiger der Gruppenwerte zunehmend ‚höhere‘ Züge zugeschrieben wurden? So oder so

379 Strecker, Weg, 193 f; Frankemölle, Amtskritik, 257; Dupont, Le point, 248. 380 Vgl. zu diesem zähmenden Aspekt der positiven Jüngerdarstellung grundsätzlich Luz, Jünger, 147–152, und hier S. 340–341. 381 Luz, Jünger, 152; vgl. auch Zumstein, La condition, 214: „L’ image que Mt donne des disciples n’est pas idéalisée et, par là – même, historicisée, mais dialectique et, par là – même, paradigmatique“; Poplutz, Glaube, 34 f, 47; Goldhahn-Müller, Grenze, 165 f; Trilling,­ Israel, 159; Overman, Matthew, 124; Howell, Matthew, 230. 382 Strecker, Weg, 192–194. 383 Glasl, Konfliktmanagement, 33 („einseitige Überschätzung der eigenen Lichtpersönlichkeit“); Tajfel, Gruppenkonflikt, 133 („Selbsterhöhung“); Bar-Tal, Societal Beliefs, 6 („intense self-justification, self-glorification and self-prise“).

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ist die Rolle der aktuellen sozialen Vorgänge in der ‚Konstruktion‘ des matthäischen theologischen Gebäudes gegeben.384 Zu ihrem überlegenen Verständnis der βασιλεία-Geheimnisse und der Gesetzesauslegung kommt die Gemeinde, die mit den verständigen Jüngern als narrative Charaktere bei Jesus in die Schule gegangen ist, dank einer direkten Offenbarung. Jesus vermittelt (11,25.27: ἀποκαλύπτω) vor allem den „unmündigen“, aber „verständigen“ Jüngern385 (11,25: νήπιοι) die Kundgebungen vom himmlischen Vater und verbirgt sie vor Weisen und Verständigen (11,25386: ἔκρυψας ταῦτα ἀπὸ σοφῶν καὶ συνετῶν). Nicht zufällig wird Mt 11,25–27 mit Kap. 13 in Verbindung gebracht;387 ursprünglich war der Lobpreis der Jünger (Mt 13,16 f) in Q 10,21–24 seine natürliche Fortsetzung. Durch diese Trennung und die unmittelbare Koppelung von 11,25–27 mit einem Text, der eindeutig einen breiteren Adressatenkreis anspricht (οἱ κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι), wird es trotz der Konzentration auf seine nächsten Angehörigen möglich, νήπιοι auch auf andere Unterlegene und Deklassierte als potenzielle Nachfolger und Offenbarungsempfänger zu beziehen.388 Der minderwertige soziale Status wird zur Metapher

384 Bezüglich des Nutzens der sozialwissenschaftlichen Methoden in der Analyse frühchristlicher Schriften allgemein, vgl. Barton, Dimension, 427: „Such investigation also encourages the recognition that early Christian beliefs and practices (including beliefs about community) were conditioned, not only historically, but sociologically as well“. 385 Gnilka, Verstockung, 96; Gnilka, Verstockungsproblem, 123; Riesner, Lehrer, 336 f; Hagner, Apocalyptic, 58; Deutsch, Wisdom, 32 („a designation for the disciples over against those who are not disciples“). 386 Die Verwendung der beiden Begriffe (σοφός und νήπιος – Mt 11,25 // Lk 10,21) ist einigermaßen unerwartet, denn die Offenbarung wird in der Regel den Weisen zuteil (Prov 14,18; 4Esra 12,36–38; 14,5 ff.26.45–47; 2Bar 20,3; 48,3); während die Einfältigen (ytiP,) der Unterweisung bedürfen, um weise zu werden (vgl. Ps 19,8; 119,130; Prov 1,4; besonders negative Töne gegen die Unverständigen findet man in Prov 1,22.32; 7,7; 8,5; 9,16; 14,15; 22,3; Ez  45,20). Posi­tive Ansätze für eine Offenbarung an die Einfachen befinden sich in SapSal 10,21; Sir 3,19; 51,23; Prov 8,5; 9,4; 1QpHab 12,4 („die Einfältigen Judas“); 11Q5 18,3–5. Zur Entwicklung des Begriffs vgl. Hoffmann, Studien, 113–118. Die scharfe Kritik an den Weisen und Vernünftigen in ihrer Führungsrolle kommt aus Jes 29,13 f, der auch weiter in 15,8–10 zitiert wird. 387 Wilkens, Redaktion, 326, der das Thema Verhüllung und Offenbarung als eine Art Titel für die unmittelbar nächsten Kapitel betrachtet: Kap. 12 bzw. Kap. 13; verstärkend kommt auch die Erkenntnis hinzu, dass sich ταῦτα (11,25) und πάντα (11,27) τὰ μυστήρια τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν (13,11) einander entsprechen (Orton, Scribe, 145); ein Rückbezug auf Mt 11,25–27 nehmen auch Roloff, Gleichnisse, 30; Riesner, Lehrer, 478, an. 388 Vgl. auch De Sandt, Matthew 11,28–30, 319: „The infants are those who are weak and simple, but before God they are elect“’; Nolland, Mt, 476 („the neediness of God’s people“); Patte, Mt, 166 („the harassed crowds“); Zumstein, La condition, 142 f („le am ha-aretz galiléen, méprisé par l’élite pharisienne-rabbinique, et vers lequel Jésus s’est tourné avec prédilection“); Carter, Margins, 283 f; Wengst, Demut, 71–76; Luck, Mt, 142; im Kontext der matthäischen Erzählung „one has to think, as well of the contrasting responses of the religious leaders who are hostile to Jesus, and the crowds and the disciples who respond favorably“

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für einen soteriologisch bedürftigen, aber offenen Zustand. Den Jüngern stehen Gruppen mit positiver Haltung gegenüber Jesus zur Seite, die Zugang ins Himmelreich gewinnen können. Die innergemeindliche Dimension wird auch hier um eine mögliche missionarische Ausrichtung erweitert. Der Erfolg dieser Zuwendung ist aber keineswegs gesichert; die Sympathisanten Jesu bleiben eine Minderheit, die umgebenden Volksmengen folgen den christlichen Missionaren nicht nach ihren Erwartungen. Wegen des transformierten matthäischen Jüngerbildes könnten auch sie mit σόφοι καὶ σύνετοι gemeint sein, denn sie sind verständiger geworden. In diesem Textzusammenhang aber gehören die Jünger sicherlich zur Gruppe der bevorzugten Empfänger der Offenbarung. Auch wenn im breiteren Textkomplex der vorausgehenden Klagereden in 11,20–24 σόφοι καὶ σύνετοι auch auf die Volksmenge bezogen werden können,389 sind die ersten, die als Identifikationsfiguren in Frage kommen, die religiösen Autoritäten,390 die im Namen ihrer vermeintlichen Weisheit und Gelehrsamkeit sich ganz – und in diesem Sinne ist auch die Ironie dieses Verses391 zu verstehen – von der Offenbarung Gottes abwenden und das Himmelreich sich selbst und auch den anderen, die auf sie angewiesen sind, verschließen (23,13). Als Folge des göttlichen Beschlusses, den Menschen seinen Willen kundzutun, bahnt sich also in Israel eine Führungskonkurrenz an. Eine kleine Gruppe setzt das Werk Gottes fort und nimmt die Konsequenzen einer bitteren Konfrontation mit der etablierten Führungsschicht auf sich, die die Lehrbefugnis und die religiöse Macht besaß. Statussicherung, konzeptuelle Abgrenzung und Bildung einer klaren distinkten Identität gehen Hand in Hand. In diesem Tatbestand sollte das ‚korrigierte‘ Bild der matthäischen Jünger seinen „Sitz im Leben“ haben. Die matthäische Gemeinde geht mit den pharisäischen Autoritäten auf Konfrontationskurs und dadurch wendet sich auch das Selbstbild deutlich ins Positive. Die ‚kognitive‘ Unfähigkeit der Nachfolger Jesu in Markus konnte in der durch Konflikt gekennzeichneten Situation von Matthäus nicht ohne weiteres beibehalten werden. Exemplarisch lässt sich das transformierte Jüngerbild an(Senior, Mt, 132); die Menge von V. 7 (Hare, Mt, 128); Rowland, Apocalyptic, 517 („marginal“). Stanton, Gospel, 340, bezieht Mt 11,28–30 aussschliesslich auf die Jünger; so auch Harrington, Mt, 169. 389 Deutsch, Wisdom, 31; Gnilka, Verstockung, 94. 390 Luz, Mt II, 205 f, empfiehlt wegen des fehlenden bestimmten Artikels, allgemein an die ganze religiöse Aristokratie zu denken; Konradt, Israel, 235 („die [religiöse] Elitte“);­ Davies / Allison, Mt II, 275, tendieren dazu, sich vorwiegend auf die Schriftgelehrten und Pharisäer zu beschränken; so auch Hagner, Mt I, 318; Gnilka, Verstockung, 94 („vor allem die Pharisäer“); De Sandt, Matthew 11,28–30, 326 („the religious elite of the Pharisees and scribes“); Zumstein, La condition, 142 („les rabis et les pharisiens“); Frankemölle, Bund, 98; Fiedler, Mt, 244 („die Widersacher des Mt“). 391 Zur pejorativen Verwendung von „Weise und Verständigen“, vgl. Hiob 5,13; Jes 5,21; Jer 8,8; 9,23; 49,7; Obd 8; 1Bar 3,23; Sir 37,16–26; 1QH 3,14–15; Josephus, Bell VI 313 (nach Davies / Allison, Mt II, 275).

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hand der Verwendung von συνιέναι verdeutlichen.392 Das Verstehen selbst gewinnt bei Matthäus eine soteriologische Dimension und wird zur Grundbedingung für einen geglückten Zugang zum Wort Gottes. In 13,19[red.] wird der Vorgang negativ formuliert  – wer nicht versteht (μὴ συνιέντος), verliert sofort das Wort; in der Deutung der letzten und einzig positiven Situation der Parabel ist es um Früchte zu bringen wiederum nötig, die Botschaft über das bloße Hören hinaus positiv zu erfassen (13,23[red.]: καὶ συνιείς). Diese Aufwertung der ‚intellektuellen‘ Fähigkeit mag an der Stelle mit dem eingefügten Zitat Jes  6,9 f in Verbindung stehen, denn auch dort tritt das Verstehen (13,15: τῇ καρδίᾳ συνῶσιν, auch 13,14) als Bindeglied zwischen die reinen Wahrnehmungsprozesse (ἴδωσιν … καὶ … ἀκούσωσιν) und die heilsbringende Umkehr. Dieser unmittelbare Bezug zum konkreten Handeln macht aber aus συνίημι mehr als ein rationelles Vermögen, seine Bedeutung rückt vielmehr in die Richtung einer aktiven und bewussten Handlungsbereitschaft, die der Zuwendung Gottes entgegenkommt.393 Das Jüngerbild wird nach diesem Muster stilisiert; die Jünger treten als Verstehende heraus und scheinen im Unterschied zu den oft gescholtenen markinischen Jüngern auf derselben Wellenlänge mit ihrem Meister zu sein. In 13,10 fragen sie nicht nach dem Sinn des gerade gesprochenen Gleichnisses – sie hatten also keine Unklarheiten, wie in Mk 4,10 – sondern nach dem Grund der Lehrstrategie; 13,51 bestätigen sie Jesus einstimmig, dass der Sinn der ganzen Gleichnissenrede (ταῦτα πάντα) ihnen nicht entgangen ist. Um das Unverständnis der Gleichnisse geht es in Mk 4,13; der matthäische Jesus legt dagegen mit der Erklärung ohne musternde Zwischenbemerkungen los; einer Erklärung bedürfen sie in 13,34 nicht mehr, der markinische Jesus (4,34b) hält es hingegen für nötig, alles einzeln zu erklären (ἐπέλυεν πάντα). Mk 6,52 passt zu Mt 14,33 auch nicht mehr, da sich die Furcht der gefährdeten Segler nach der Stillung des Sturms in ehrfürchtiges Bekennen und Anbetung verwandelt. Das Motiv des verhärteten Herzens (ἡ καρδία πεπωρωμένη) verschwindet auch in 16,9 // Mk 8,17, ὀυδὲ συνίετε fällt ebenfalls weg (nur ὄυπω νοεῖτε bleibt noch), wie auch in Mk 8,21,

392 Vgl. dazu vor allem Barth, Gesetzesverständnis, 99–104; auch Zumstein, La condition, 203–212; Strecker, Weg, 228–230; Dupont, Le point, 245–247; Normann, Didaskalos, 41–42; Gnilka, Verstockung, 95–96; Trilling, Israel, 91 f; Luz, Jesusgeschichte, 107 f; Crosby, House, 44 f; Evans, To See, 112; Sheridan, Disciple, 244–247; Garleff, Urchristliche, 57. 393 Mit Recht formuliert Strecker, Weg, 229: „Damit kündet sich schon ein ethisches Verständnis. Trotz Psychologisierung hat Matthäus das ‚Verstehen‘ mit der praktischen Verwirklichung des Wortes aufs engste verbunden“; auch Luz, Jünger, 149 („praktische Seite“);­ Wouters, Willen, 287, in Bezug auf 13,23: „Matthäus drängt somit im letzten Beispiel auf das Handeln als Ergebnis des Hörens und Verstehens“; Zumstein, La condition, 215 („pas simplement un acte noétique […]; implique une transformation de l’ existence“); Bonnard, Matthieu, éducateur, 107; Byrskog, Only Teacher, 233 („Understanding is doing“); Kingsbury, Matthew 13, 61 f.

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während bei Matthäus die Jünger das vorübergehende Unverständnis aus 16,11 sofort in 16,12 überwinden. 17,13 konstatiert positiv wiederum ihre Klugheit, nachdem in 17,4 die Bloßstellung aus Mk 9,6 vermieden wird. Der schmähende Mk 9,32 (οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα) fehlt ebenfalls, hingegen weist die Betrübnis im entsprechenden Mt 16,23 auf Verständnis hin.394 Ihre Ratlosigkeit stört Matthäus auch in Mk 9,10 // Mt 17,9; in 15,16 schwächt er schließlich ihr Unverständnis (ἀσύνετος, vgl. Mk 7,18a) durch ἀκμήν ab.395 Kap. 13 führt explizit eine Tendenz fort, Jünger und Volk gegenüberzustellen, die bereits am Ende des Kap. 12 durch die vielfältige matthäische Bearbeitung von Mk 3,31–35 implizit zutage kommt.396 Erstens wird Jesus schon in 12,47 nicht mehr vom Volk umgeben (vgl. Mk 3,32: ἐκάθητο περὶ αὐτὸν ὄχλος) und auch nicht vom Volk angesprochen (Mt 12,47: εἶπεν δέ τις αὐτῶ; Mk 3,32: λέγουσιν αὐτῷ). Wenn es zur Antwort auf die Frage über die echten Brüder und Schwestern kommt, muss Mk 3,34 nichts mehr an der Szene ändern, sodass der Hinweis Jesu den im Kreis sitzenden Leuten gilt. Hingegen grenzt nun Mt 12,49 diese Qualität auf die red. eingeführten Jünger ein. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen, denn Kap.  13 reflektiert weiter diese Unterscheidung, aber auch die Rolle Jesu als Offenbarer von 11,25–27 her verleiht dem Text seine besondere Prägung. Seine Einbettung im Gesamtdiskurs nach hinten aber auch nach vorne ist deswegen auch bei der genaueren Analyse des Verhältnisses Jünger-Volksmenge zu berücksichtigen. Wegen der leicht veränderten Einführungsformel entsteht einerseits eine große Ähnlichkeit mit 4,25 vor der Bergpredigt.397 Andererseits will aber Matthäus offenbar die beiden großen Reden auch unbedingt voneinander absetzen, indem er διδάσκειν (Mk 4,2; vgl. διδάσκω in Mt 4,23[red.]; 5,2[red.]) streicht und ἐλάλησεν (Mt 13,2) einführt.398

394 Barth, Gesetzesverständnis, 99. 395 Vgl. auch Zumstein, La condition, 205; Dupont, Le point, 247; Gnilka, Mt II, 19; Berger, Gesetzesauslegung, 504. 396 Roloff, Gleichnisse, 2 („enge thematische Verklammerung“); Carter, Crowds, 61 f; Dupont, Le point, 221, 231 f ; Konradt, Israel, 264; Jones, Parables, 282. 397 13,2a: καὶ συνήχθησαν πρὸς αὐτὸν ὄχλοι πολλοί, Mk  4,1b führt καὶ συνάγεται πρὸς αὐτὸν ὄχλος πλεῖστος; vgl. Keegan, Introductory, 427: „Here Matthew likely made minimal changes to bring traditional material into line with the pattern he established at 4,25“; auch­ Roloff, Gleichnisse, 10; Heil, Progression, 69; vgl. auch κάθημαι in 5,1 und 13,1 – beides red. Eine Verbindung besteht ebenfalls auch zwischen Kap. 5 und Kap. 10 – vgl. Beare, Mission, 6, mit Hinweis auf das Summarien 4,23–25 bzw. 9,35–38; Normann, Didaskalos, 31. 398 Vgl. auch Luz, Mt II, 297; Dupont, Le point, 256 f; Münch, Gleichnisse, 76: „Die Gleichnisverkündigung unterscheidet sich offenbar vom Lehren“; Dupont, Le point, 250; Lambrecht, Treasure, 156: „Matthew avoids the term ‚to teach‘“; Normann, Didaskalos, 26.  Das heißt aber überhaupt nicht, dass Jesus von nun an darauf verzichtet, die Volksmengen zu lehren (im Sinne von διδάσκω), vgl. 13,54 // Mk 6,2; 21,23[red.]; 26,55 // Mk 14,49 mit ἐκαθεζόμην [red.]; 13,10–17 steht hier einfach als Versuch die unerwartet negativen Erfahrungen zu bewältigen, von denen in Kap. 10 als vaticinum ex eventu berichtet wurde.

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Das Sämann-Gleichnis ist für das ganze Kapitel tonangebend, insofern hier keine konkreten Erkenntnisse über die Basileia vermittelt werden,399 sondern die Missionserfahrung selbst und die Konsequenzen mit denen man zu rechnen hat, dargelegt werden. Wem das Himmelreich gleicht, wird anschließend in den folgenden Parabeln erläutert (vgl. 13,31.33.44.45.47: ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν, nur 13,24 verbal formuliert: ὡμοιώθη). Hier wird davor gewarnt, von Anfang an auf zu viel Erfolg zu setzen.400 Die Rede spricht zugleich die Jünger und die Volksmenge an, jedoch ist zu vermuten, dass der eher ‚technisch-missionarische‘ Teil 13,1–9 wie die dazugehörende folgende ‚private‘ Unterweisung vor allem die Jünger ins Visier nimmt. Die verschiedenen Bodentypen sollten aber auch der Menge als Identifikationsbilder dienen und dazu anspornen, ihr Verhältnis zur Botschaft Jesu entsprechend zu korrigieren. Die Jünger waren von 10,7 her selber als Missionare, also als Sämänner, unterwegs. In diesem Sinne ist der Passus eine sachliche Fortsetzung der Aussendungsrede, demnach – wie bereits oft angemerkt – die Jünger trotz der Aussendung und der ausführlichen missionarischen Anweisungen bei Jesus bleiben.401 Der Regisseur Matthäus verzichtet darauf, eine Szene der nur teilweise erfolgreichen Mission zu schildern,402 evoziert aber und verarbeitet hier ihren Ausgang und ihre Folgen und veranlasst dadurch den Leser zu einem unmissverständ­ lichen Seitenblick in die Ereignisse. Dementsprechend liefert er auch keinen Missionsbericht wie Mk 6,13 und Lk 9,6 – die Predigt und die Heilungen kommen nur als Aufforderung (10,7 f) und nicht als abgeschlossene Handlungen vor. Ein Grund für diese Auslassung kann die veränderte geschichtliche Lage sein, die eher schlechte Aussichten für die missionarische Gemeinde erwarten ließ. Die Frage der überraschten Jünger in 13,10 (διὰ τί ἐν παραβολαῖς λαλεῖς αὐτοῖς;) dürfte darauf hindeuten, dass der Lehrer nun angesichts der gesammelten Misserfolge seine ratlosen Schüler aufklären will.403 Er schildert nicht nur die Lage 399 Auf dieses Problem, dass die erste Parabel einigermaßen „in a cluster of explicitly Kingdom parables“ aus der Reihe tanzt, verweist Jones, Parables, 288 („not itself obviously a Kingdom parable“); vgl. auch Scott, Hear, 347 f. 400 Hagner, Gospel, 106: „Matthew’s community […] could easily have applied the parable to their own failures and successes in preaching the gospel“; Jones, Parables, 299: „The strength of Matthew’s narration of The Sower is this: that disappointment and failure are possible“; „it warns against all that debilitates the Christian presence and mission“. 401 Vgl. für viele Beare, Mission, 2: „But Matthew has not even this – not even the brief statement that they went out and came back“; Harrington, Mt, 158: „Nothing is said about the success of the disciples’ mission or about their return“. 402 Von Mt 9,37 f her kann man vermuten, dass die Erwartungen auf eine schnelle und weitreichende Mission in Israel in der Gemeinde sehr hoch gesteckt waren; vgl. auch: Beare, Mission, 7: „The emphasis is on the richness of the opportunity, not on the menace of disaster“. Ein Indiz für den Rückhinweis auf Kap. 10 ist die Seligpreisung der Jünger, die ursprünglich (Q 10,23 f) am Ende der Aussendungsrede stand (Riesner, Jesus, 431 f). 403 Dass die Frage der Jünger die Erkenntnis voraussetzt, „dass sie die Gleichnisrede für eine dunkle oder zumindest für eine schwer erfassbare Rede hielten“ (Gnilka, Verstockung, 103;

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der Volksmenge, sondern gibt zugleich in der Deutung des Sämann-Gleichnisses auch ethisch-anthropologische Grundlagen mit auf den Weg, um die möglichen negativen Erfahrungen besser zu verkraften. Die kleine red. Veränderung in Mt 13,13: ὅτι (Mk 4,12: ἵνα) verleiht dem ganzen Passus 13,10–17 eine neue Richtung und eröffnet neue Auslegungsmöglichkeiten im breiteren Zusammenhang. Zunächst wird konstatiert, dass die Volksmenge es nicht schafft, die Lehre Jesus angemessen wahrzunehmen und zu verstehen.404 Erstens geht diese Korrektur von einem anderen Gottesbild aus. Die Vorstellung, dass es in der Absicht Gottes liege, das Volk von den Geheimnissen des Gottesreichs fernzuhalten, wird in Einklang mit 11,25–27 beseitigt. Zweitens wird der markinische Stoff in einem neu geschaffenen Kontext als Antwort auf die Frage der Jünger nach dem Grund dieser unerwarteten Redestrategie in Para­ beln (Mt 13,10 und anknüpfend διὰ τοῦτο [red.] in 13,13) platziert.405 D ­ rittens entspricht das zitierte Prophetenwort Jes 6,9 fLXX in seiner Intention mit der matthäischen Argumentationsweise überein, denn auch dort werden die Verstockung des Herzens und darum (vgl. γάρ in 13,15) die fehlende Aufnahmefähigkeit des Volks ohne die belastende Annahme einer göttlichen Absicht406 einfach nur festgestellt und als prophetische Ankündigung eingeführt. Dass die Augen nicht sehen und die Ohren nicht hören ist keine Folge einer göttlichen, strafenden Einwirkung.407 Zugleich aber führen Jesaja und Matthäus diesen Mangel durch die aktivische Verwendung von καμμύω auf einen bewussten Widerstand der Menschen zuDers., Verstockungsproblem, 120: „verhüllende und verdunkelnde Volksrede“; Davies / Allison, Mt II, 387; Gnilka, Mt I, 482) lässt sich kontextuell durch nichts begründen. Die Frage der Jünger ist auf die „Neuheit und die besonderen Eigenschaften dieser Rede“ zu beziehen; „ein konkreter Bezugspunkt, um die Rede von vornherein als unverständliche Rede zum Volk wahrzunehmen und einzuordnen, ist nicht zu erkennen“ (Münch, Gleichnisse, 100). 404 Die Verstockung wird „als vorhandenes Faktum vorausgesetzt“ (Frankemölle, Bund, 111); Garbe, Hirte, 71; Sand, Mt, 280; Konradt, Israel, 265 („V. 11 gibt die Situation an, auf die Jesus mit der Gleichnisrede reagiert“); Strecker, Weg, 230; Evans, To See, 110. 405 Ebenso Hultgren, Parables, 462: „the question is strictly one of pedagogy“; Evans, To See, 108: „They only wanted to know why he taught the way he did“. 406 Das Motiv der „Verstockung“ im AT, das ein gravierendes volitives Moment enthält (vgl. Ex 7,14; Dtn 29,18; Jer 7,24; 9,13 usw.), wird aber als Mittel angewendet, um die abgekommenen Israeliten zur Rückkehr aufzufordern – ein „Typos, mit dem aufgerüttelt und abgeschreckt werden soll“ (Jer 11,8; Sir 16,10 f; 1Clem 51,3; 53,2), Gott lässt sich aber wegen des verstockten Bundespartners „nicht die Heilspläne durchkreuzen“ (vgl. Neuhäusler, Verstockung, 154–156). Zu Jes 6,9–19 in der LXX vgl. Evans, To See, 61–64. 407 Das ergibt sich eindeutig aus der matthäischen Korrektur (ὅτι statt ἵνα  – „by means of these modification, then, the Markan ‚hardening theory‘ is softened almost into nonexistence“, vgl. Carlston, Parables, 7). Die Meinung, dass Gott nun die Zuhörer durch die Parabel eher verwirren als erleuchten will (so Gnilka, Verstockung, 103: „Die Gleichnisrede ist in den Augen des Matthäus eine Strafe, die das Volk für seine Verstocktheit empfängt“; Lambrecht, Treasure, 161), läuft gegen diese red. Grundintention.

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rück.408 Dieser Zustand ist gravierend, denn er lähmt das ganze menschliche Wesen und macht den Betroffenen unfähig, das angebotene Heil anzustreben: μήποτε ἴδωσιν τοῖς ὀφθαλμοῖς καὶ τοῖς ὠσὶν ἀκούσωσιν καὶ τῇ καρδίᾳ συνῶσιν καὶ ἐπιστρέψωσιν καὶ ἰάσομαι αὐτούς (13,15). Der Erkenntnisrückstand409 der Volksmenge wird aber nicht durch Gleichnisse verursacht. Matthäus bringt ein zweites Zitat in 13,34 f ein (Ps  77,2LXX)410  – die Gleichnisse (ἀνοίξω ἐν παραβολαῖς τὸ στόμα μου) erfüllen tatsächlich das Bedürfnis, Geheimnisse aufzudecken und nicht zu verschleiern.411 Das Paar ἐρεύξομαι  – κεκρυμμένα (13,35 vom selben κρύπτω!) nimmt sehr wahrscheinlich ἔκρυψας – ἀπεκάλυψας (11,25) auf.412 Mt 13,10–15 ist also von zwei deutlichen Aussagen umrahmt, die über die Entschlossenheit Gottes berichten, den Menschen in ihrer Unwissenheit Hilfe zu leisten. Durch die red. Korrektur ὅτι (13,13) statt ἵνα (Mk  4,12) schafft Matthäus eine richtungsweisende Umdeutung des markini­ 408 Die Verantwortung der Volksmenge wird an der Stelle oft erkannt: „schuldhafte NichtBereitschaft zum Sehen und Hören“ (Roloff, Gleichnisse, 34; auch Sand, Mt, 276); vgl. auch Dupont, Le point, 235: „Matthieu tient à souligner leur responsabilité“; Münch, Gleichnisse, 108: „Gottes Handeln richtet sich am ‚Haben‘ des Menschen aus, bringt mithin menschliche Beteiligung und Verantwortlichkeit ins Spiel“; Strecker, Weg, 230 („eine Tat menschlicher Entscheidung“), auch 106, Anm. 2; Ladd, Sitz im Leben, 208–209. 409 ‚Das Verstehen‘, auf das Mt zielt, ist jedoch „keine kognitive Angelegenheit, sondern hat eine ganz praktische Dimension, die sich im Fruchtbringen und Tun […] ausdrückt“ (Dronsch, Fruchtbringen, 309; auch Carlston, Parables, 8 f). Damit bleiben die Parabeln doch in der Reichweite der matthäischen Toraauslegung, die ebenfalls durch das Tun der Gebote gekennzeichnet ist. Young, Parables, 262 f, vermutet sogar aufgrund der Rezeptionsgeschichte von Jes 55,11, dass der ursprüngliche Kontext der Sämann-Parabel die Toraunterweisung sein könnte. 410 Mt bezieht diese Aussage gezielt auf die Volksmenge: ἐλάλησεν ὁ Ἰησοῦς ἐν παραβολαῖς τοῖς ὄχλοις; Jones, Parables, 238 f: Das Zitat „is best understood as a public declaration of God’s mysteries for all the crowds“; ferner Evans, To See, 111. 411 Vgl. auch Evans, To See, 109: „they are not riddles“; Schottroff, Gleichnisse, 137: „Es ist ein Missverständnis, aus Mk 4,10–12 und den Parallelen Mt 13,10–17; Lk 8,9–10 zu folgern, Gleichnisse seien verhüllende Rede“; Hultgren, Parables, 462: „The parables are media of revelation [cf. 13,34–35] and not of concealment“; 463: „Matthew moves gingerly in the direction of ‚rehabilitating‘ the parables of Jesus as media of instruction“; Young, Parables, 252: „Jesus used parables to illustrate his message. The parables made it easier for the audience to understand“; Dundry, Parables, 81 („to explain and clarify“). Die Zahl derjenigen, die Gleichnisse für rätselhafte und verwirrende Redeweise halten, ist jedoch überwiegend, vgl. nur einige Namen: Erlemann, Gleichnisauslegung, 97: „Παραβολή ist durchweg im Sinn von deutungsbedürftiger, bildhafter Rede verstanden“; Garbe, Hirte, 71 (ihre Funktion ist nicht „Kommunikation zu ermöglichen“); Münch, Gleichnisse, 81 („schwer zu verstehende Rede“); bildhafte Redeweise „zu deren Verständnis seitens der Hörer besonderer Voraussetzungen bedarf “ bzw. „unverständliche Rede“ (Roloff, Gleichnisse, 15); verbergen den eigentlichen Sinn (Sand, Mt, 278); „Israel sind die Geheimnisse des Himmelreicht verhüllt“ (Wilkens, Redaktion, 312); „un langage incompréhensible“ (Dupont, Le point, 234); „unintelligible, obscure“ (Lambrecht, Treasure, 158); Kingsbury, Matthew 13, 136. 412 Vgl. auch Menken, Bible, 99 f; Münch, Gleichnisse, 124.

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schen Berichtes.413 Wenn man aber nun den Gleichnissen nicht nur jede revelatorische Funktion abspricht, sondern sogar den Zweck zuschreibt, das ohnehin mangelhafte Verständnis der Zuhörer zu vernebeln und in dieser Weise ihre Unwissenheit zu befestigen und zu vertiefen,414 dann kehrt man in der Interpretation zu der vorredaktionellen Stufe zurück, die Matthäus selbst beseitigt hat.415 In dem Unverständnis der Gleichnisse zeigt sich die defizitäre Aufnahmefähigkeit der israelitischen Menge: „so dass durch ihre Unfähigkeit, die Gleichnisse vom Himmelreich in ihrem Sinn und ihrer aktuellen Relevanz zu erfassen, ihr Defizit ans Licht tritt“.416 Jesus erblickt in dieser geistigen Lähmung der Volksmenge eine Gefährdung der Rettung, für die er in die Welt gekommen ist. Die Jünger haben dank ihrer Nähe zu Jesus einen direkteren Zugang zu den göttlichen Geheimnissen, das erspart manchmal aber auch ihnen nicht sogar ein totales Versagen. Die Gegenüberstellung Jünger-Volk ist deswegen keineswegs als ‚absolut‘ zu betrachten. Matthäus macht nur deutlich wie groß die Vorteile für den Eintritt in die Gemeinde sind.417 Mit anderen Worten: Die Jünger sind schon angekommen, sie sind drin (vgl. 13,36[red.]: ἦλθεν εἰς τὴν οἰκίαν. καὶ προσῆλθον αὐτῷ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ  – ein Bild, das Matthäus von Markus sonst ständig tilgt418); die Volksmengen sind aber trotzdem nicht ausgeschlossen (Mt  13,11: ἐκείνοις; vgl. Mk  4,11: ἐκείνοις τοῖς ἔξω419). Sie sind die Angesprochenen, von 413 Darin sind sich die meisten Kommentatoren einig (vgl. Dupont, Le point, 235 f; Davies /  Allison, Mt II, 392); die Kosequenzen dieser Richtungsänderung bleiben aber unberücksichtigt. Mk hatte das Problem nicht, denn die Parabel als verwirrendes Sprachmittel passt hervorragend zu ἵνα; Jes dient ihm übrigens als Vorbild dafür. Vahrenhorst, Gift, 161 f, macht sich diese Beobachtung in seiner Argumentation für eine positive Deutung von Jes 6,9 f in Mt nicht zunutze. 414 Das ist die logische Konsequenz dieser Auslegung und so wird es oft angenommen, vgl. Gnilka, Verstockung, 103: „Die Parabeln können […] nur in eine noch tiefere Verstocktheit hineinführen“; Windisch, Verstockungsidee, 208: „Die Unempfänglichkeit ist ein Zustand, den er vorgefunden hat und nicht ändern kann“, so muss Jesus das Volk „mit ‚Geschichten‘ abspeisen“; Schnackenburg, Matthew’s Gospel, 257; Wouters, Willen, 285, Anm. 427: „sie mehren ihr Unverständnis noch“; Hagner, Gospel, 105 („darkening“). 415 Die sogenannte ‚Parabeltheorie‘ als bewusst verhüllender Unterweisungstyp wird manchmal in der Forschung auch bei Mk  4,10–13 angezweifelt (vgl. Schottroff, Gleichnisse, 95; Lampe, Deutung, 140–150; Dronsch, Fruchtbringen, 300; Räisänen, Parabel­theorie, 121–127; Vahrenhorst, Gift, 161: „Das Markusevangelium versperrt sich einfachen Lösungen […]. Es zieht gerade keinen Schlussstrich“; in Bezug auf Mt mit denselben Worten vgl. Konradt, Israel, 271: „13,11–15 zieht im Blick auf die Volksmengen Bilanz, aber keinen Schlussstrich“. 416 Konradt, Israel, 267. 417 Luomanen, Entering, 127: „Entering the group of Jesus’ followers obviously advances one’s chances to get into the final salvation“. 418 Vgl. 15,21 // Mk 7,24; Mk 9,33; 19,9 // Mk 10,10. 419 Mt lässt das Adverb weg, obwohl es an dieser Stelle nicht zur üblichen markinischen Szene­rie gehört (Mk hat in diesem Fall das οἰκία-Bild nicht eingeführt); οἱ ἔξω kann übrigens an die rabbinische Bezeichnung für die Häretiker erinnern (so Riesner, Lehrer, 477 f; vgl. auch Siegman, Teaching, 173 f); ynIwOcyxi, Pl. mynIwcyxi = „strange, separatist, heretical“ (vgl. Jastrow, Dictionary, 459) ist ein Derivat von #Wx = „hinaus, nach außen“ (vgl. Gesenius, Hand-

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denen man trotz allem eine positive Antwort erwartet. Die Parabeln kommen angesichts der vergangenen Misserfolge und erst wegen der konstatierten Verstockung des Volkes zum Einsatz, um „das Volk bei seiner schuldhaften NichtBereitschaft zum Sehen und Hören zu behaften“.420 Deswegen trifft die häufig vertretene Interpretation  – Matthäus begründe mit Jes  6,9, „warum dem Volk der Sinn der Gleichnisse verschlossen bleibt“421 nicht zu und verdreht die matthäische Argumentationslinie, denn die Frage ist nicht, warum die Menge die Parabel nicht versteht, sondern warum Jesus in Gleichnissen spricht. Dass das Volk grundsätzlich unwissend oder völlig gleichgültig bleibt, verrät uns Matthäus an der Stelle nicht. Wie diese Leerstelle zu füllen ist, soll der Leser dem weiteren Erzählverlauf selber entnehmen. Zunächst mutet Jesus selbst dem Volk in seiner Aufforderung in 15,10 (ἀκούετε καὶ συνίετε; übrigens wie auch in 13,9 // Mk 4,9422) eine gewisse Fähigkeit zu, seine Worte nachzuvollziehen. Dass die christlichen Missionare den Anschluss ans Volk nicht vollständig verloren haben, aber gute Gründe haben, auf Mehr zu hoffen, zeigt auch die anschließende Deutung des Sämann-Gleichnisses. Hier werden m. E. differenzierte Erfahrungen der christlichen Missionare selbst widergespiegelt und nicht eine grundsätzliche Unterscheidung der Jünger vom Volk. Nur sind diese Erfolge im Vergleich zu den großen Erwartungen viel zu bescheiden – das zu erklären, ist das Thema, dem in dieser Parabel nachgegangen wird. Von 13,13 (οὐδὲ συνίουσιν).14 (οὐ μὴ συνῆτε) her sind vor allem unter V. 4 bzw. V. 19 (μὴ συνιέντος) die Volksmengen zu sehen; das fehlende Verstehen macht das Wort unwirksam und ermöglicht, dass der Teufel es sofort entwendet. Ergänzend kann man problemlos behaupten, dass auch die nächsten zwei Fälle – V. 5 f bzw. V. 20 f und V. 7 bzw. V. 22 – die gescholtene Menge mit ihrer mangelnden Aufnahmefähigkeit der göttlichen Botschaft repräsentieren. Bei der letzten Gruppe, nämlich derjenigen, die das Wort verstehen und Frucht bringen (V. 8 bzw. V. 23), scheiden sich die Geister. Aufgrund der Ähnlichkeiten mit wörterbuch, 219). Auch Paulus verwendet οἱ ἔξω „to mean those outside the Christian community (1Kor 5,12.13; 2Kor 4,16; Kol 4,5; 1Thess 4,12)“, vgl. Coutts, Those, 155. Wollte Matthäus dadurch in Bezug auf die Stellung der Volksmenge zu Jesus falsche Assoziationen bei seinen jüdischen Zuhörern vermeiden? Derselben Meinung ist Evans, To See, 109: „Matthew […] wishes to tone down the distinction“. In seiner ausführlichen Analyse zu diesem Vers entgeht Konradt, Israel, 265–267, diese wichtige red. Nuance zugunsten der Volksmenge; Ders., Mt, 212, holt jedoch nach. 420 Roloff, Gleichnisse, 34. 421 Vgl. Wouters, Willen, 284, 483; Schnackenburg, Mt I, 120. 422 Diese ‚Weckformel‘ (ὁ ἔχων ὦτα ἀκουέτω – auch 13,43; 11,15) lässt sich (Riesner, Lehrer, 375) nicht zwingend im Sinne einer Aufforderung, „nach einem verborgenen Sinn zu suchen“; speziell zu 13,43b – „Die Gleichnisdeutung will ja nicht Ver- sondern Enthüllung […] bringen“ (ebd., 375). Vielmehr geht es um einen „Appell zur Aufmerksamkeit“ (Koch, Formgeschichte, 267) im pädagogischen Interesse (vgl. dazu Dtn 6,4; 11,13; Jes 1,10; Jer 2,4; Am 7,16; TestRub 2,1; TestSim 2,1; TestLevi 13,1; TestNaf 1,5; TestGad 3,1; 8,3; TestAss 1,2; TestJos 1,2; 19,1).

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13,11 (ὑμῖν δέδοται γνῶναι).16 und der globalen Gegenüberstellung in 13,11–17 liegt es nahe, ausschließlich die Jünger als echte Empfänger des Wortes anzusehen.423 Dieser Identifikation steht jedoch ein narrativer Sachverhalt im Wege: Im Unterschied zu den Volksmengen, denen sich Jesus durch Wort und Tat zuwendet, ist der Aufruf in die Nachfolge ein spezieller und punktueller Akt, der nur den Betreffenden gilt (vgl. 4,18–22; 9,9; 10,1 f), wobei den Jüngern folglich ähnliche Aufgaben wie Jesu selbst anvertraut werden. Sie können deswegen nicht auf dieselbe Ebene mit dem einfachen, missionierten Volk gestellt werden, denn Sie genießen durch ihre Berufung eine besondere Stellung, sie sind ja selber Verkünder der baldigen Ankunft der Basileia (10,7).424 Eine gewisse Trennung ist also schon im Akt der Nachfolge gegeben. Auf der anderen Seite ist die Volksmenge im weiteren Verlauf der Erzählung nicht völlig verständnislos, sondern kann die Argumentation Jesu auch in komplexen Toraangelegenheiten (15,10) durchaus verfolgen; sie ist auch in Bezug auf die Erkennung der Davidssohnschaft lehrfähig und profiliert sich in dieser Hinsicht sogar den ‚klugen‘ Pharisäern und Schriftgelehrten gegenüber (vgl. 3.1.2). Deswegen ist es m. E. anzunehmen, dass der letzte Fall – die Gruppe von Menschen, denen es gelingt, das Wort Gottes in ihren Herzen aufzubewahren und in Taten umzusetzen – nur im allgemeinen Sinne, aufgrund der Unschärfe, mit der eine Parabel Sachverhalte der sonstigen Narration aufnehmen kann, auch die Jünger symbolisiert, vor allem aber sich auf den minoritären Teil der angesprochenen, schon gewonnenen und noch zu gewinnenden Israeliten bezieht. Weil die heutige Gemeinde aus jenem Kern gewachsen ist, ist dieses Gleichnis im Endeffekt auch eine metaphorisch erzählte, kompakte Geschichte der matthäischen Christen:425 Sie stehen trotz der vielseitigen Hindernisse und Gefahren am Ende dieser Entwicklung, die ihren Anfang im Wort des „Sämannes“ nahm. Damit sind zugleich Jesus – der Offenbarer Gottes (11,25) – aber auch seine Jünger ge 423 So z. B. Cousland, Crowds, 257; Konradt, Israel, 273; inzwischen nuanciert M. K. seine Meinung und deutet V. 23 nicht mehr ausschließlich auf die Jünger (Konradt, Mt, 217). 424 Sie nehmen auch andere ähnliche Gestalten an: Mt 4,19: ἁλιεῖς ἀνθρώπων; 9,36: ποιμήν; 9,37 f: ἐργάται; nun auch ὁ σπείρων – vgl. auch Heil, Progression, 71; Riesner, Lehrer, 430: „Das […] Rätselwort von den ‚Menschenfischern‘ (Mt 4,19 / Mk 1,17 / Lk 5,10b) unterscheidet zwischen der Nachfolge und der neuen Berufsaufgabe der Jünger als Verkündiger andererseits als zwei unterschiedlichen Funktionen“. Den Unterschied zur Volksmenge zwischen Mt und Mk sieht man exemplarisch am Nachfolgelogion in 16,24a, wo nur die Jünger mit εἴ τις θέλει ὀπίσω μου … ἀκολουθείτω μοι angeredet werden, anders aber Mk  4,34: τὸν ὄχλον σὺν τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ (vgl. Malbon, Disciples, 109: „a pivotal verse concerning disciples“; für Mk gilt also „Like the disciples, the crowd is called by Jesus, and, like the disciples, the crowd follows Jesus“, ebd., 111). Mt grenzt den terminus technicus nur auf die Jünger ein (vgl. dazu S. 130–132); vgl. auch Zumstein, La condition, 217, zur Nachfolge als Erwählung, nach dem Modell des Elia-Elisa in 1Kön 19,19–21. 425 Vgl. auch Roloff, Gleichnisse, 18: „Der Erfolg der Aussaat besteht […] darin, dass es eine glaubende Gemeinschaft von Jüngern und Jüngerinnen Jesu gibt“; Konradt, Israel, 274: „Das Gleichnis […] reflektiert also, wie in und aus Israel Gemeinde entsteht“.

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meint, dank derer die ursprüngliche Botschaft immer weitere Gruppen erreicht und bis in die Gegenwart der Gemeinde Wurzeln getrieben hat. Das dynamische Verhältnis zwischen ‚Verkünden‘ und ‚Empfangen‘ bewirkt, dass jeder, der für das Wort Christi gewonnen wurde, seinerseits zum Tradenten der Botschaft für noch Fernstehende wird. Das ‚soziologische‘ Resultat dieses dynamischen Vermittlungsprozesses ist die anwachsende matthäische Gruppierung.426 Der angeschlagene Gemütszustand der Jünger (sprich: der Gemeinde) ist also der psychologische Hintergrund dieser Rede.427 Um sie aufzurütteln und wieder ‚missionsfähig‘ zu machen, ist die leicht dualistische und dadurch identitätsverstärkende Sprache428 im reichlich red. bearbeiteten 13,10–17 nicht gerade ein schlechtes Mittel.429 Matthäus konzentriert hier gezielt positives und negatives Material aus seinen Quellen,430 sodass daraus nicht nur ein überdurchschnittlich positives Jüngerbild entsteht, sondern auch die Volksmenge kommt überraschend schlecht davon.431 Es ist die scharfe Formulierung,432 die hier über 426 Zur Gemeinde als Pflanzung Gottes, vgl. Hos 2,25; Jes  45,4; 60,21; 61,3; Jer 38,27LXX; 1Hen 62,8; PsSol 14,3 f; Jub 1,16; 21,24; 36,6; Mt 15,13; 1Kor 3,6 f; Hebr 12,15. 427 Darin besteht seine pragmatische Funktion: „It encourages them [die Jünger] to preach the word of God’s reign despite the many failures they will experience“ (Heil, Progression, 72); das Gleichniss soll die Erfahrung deuten, „dass ihre Verkündigung von der überwiegenden Mehrheit des Gottesvolkes nicht angenommen wurde“ (Roloff, Gleichnisse, 35); ähnlich auch Hultgren, Parables, 188: „It provides encouragement to the disciples for sowing (= proclamation) in spite of obvious rejection of the message“. 428 Vgl. z. B. 13,11: ὑμῖν δέδοται γνῶνα τὰ μυστήρια τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν – das setzt einen sehr privilegierten Status voraus (SapSal 6,17–22; Dan 2,27–28; 1Hen 103,1–4; 1QS 9,17; 4Esra 14,5–6;12,34–39; 2Bar 81,1–4; 18,1–2; 48,3b, vgl. Carter, Margins, 283). 429 Diese starke Differenzierung zwischen Innen und Außen gehört zur apokalyptischen Sprache (Hagner, Apocalyptic, 59); auch Achtemeier, Shift, 242, sieht die Erkentniss der Jünger in einem apokalyptischen Kontext, nur deutet er sie als Lösung für die Parusieverzögerung. Die dualistische Sprache als Mittel für die Befestigung der eigenen Identität wurde auch in Bezug auf die Qumran Gemeinde konstatiert: „The social function of this dualism was to cement the community’s identity“ (Leonhardt-Balzer, Evil, 147). 430 Mt holt sich den Makarismus in V. 16 f aus Q 10,23 f und passt ihn an den markinischen Kontext (Mk 4,12) an – οἱ βλέποντες ἃ βλέπετε wird zu οἱ ὀφθαλμοὶ ὅτι βλέπουσιν (also vom Inhalt zu „perception itself “  – Davies / Allison, Mt II, 395; Burkertt, Rethinking, 120 f). Nach demselben Schema wird auch den red. Zusatz 13,16b um ἀκούω konstruiert; der störende Mk 4,13 wird weggelassen; Mk 4,25 wird aber zwischen V. 11 und V. 13 mit der Folge eingefügt, dass der antithetische Parallelismus um δέδοται intensiviert wird (vgl. Cousland, Crowds, 252 f); Kingsbury, Matthew 13, 38: „Matthew fits the various pieces of tradition together […] so as to obtain a series of statements that in character are antithetically“. 431 Die Reihe οὐ βλέπουσιν … οὐκ ἀκούουσιν οὐδὲ συνίουσιν betrifft red. direkt die Volksmenge (V. 13: αὐτοῖς λαλῶ), somit „The role of the crowds (οἱ ὄχλοι) in Matthew’s overall story is not so negative as it would look merely on the basis of chapter 13“ (Luomanen, Entering, 124). 432 V. 12 trägt auch einigermassen dazu bei; die Assonanz (V. 11: δέδοται / οὐ δέδοται; V. 12: δοθήσεται) hat bestimmt diesen red. Einschub erleichtert. Vom Sinn her kann sich 13,12 m. E. wegen red. περισσευθήσεται aber auch auf 13,8 zurückbeziehen. Man deutet die Reihe von Zahlen unterschiedlich: entsprechen die Erwartungen einer normalen Ernte (Scott, Hear,

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rascht; dass die Jünger dank ihrer Berufung (in diesem Sinne ist auch δέδοται zu verstehen) eine besondere Nähe zu Jesus genießen und ihnen dadurch eine göttliche Offenbarung zuteil wird, ist von 4,18–22 und 10,1–4 her selbstverständlich. Dass das einfache Volk ebenfalls Zugang zu den Geheimnissen Gottes durch die christlichen Missionare bekommen kann, steht eindeutig in 11,25–30. Paradoxerweise geschieht diese schroffe Gegenüberstellung aber um des Volks willen, um die Jünger für weitere missionarische Anläufe wieder fähig zu machen und mit wirkungsvollen Erkenntnissen auszurüsten.433 Die Volksmenge ist also hier keineswegs das substantielle Gegenstück der Jüngergruppierung. Wer die wirklichen Kontrastfiguren für die Jünger sind, wird später in 4.3.2.2 erörtert. 4.3.1.2 Fordernde Gemeinde: Das Liebesgebot als bestimmende Kraft des Gemeindelebens (Mt 18) Nach einer ersten Skizze der kognitiven Kompetenz der Gemeinde anhand der Jünger-Fähigkeiten folgt nun eine genauere Betrachtung der grundlegenden ethischen Werte der matthäischen Kirche im Lichte einiger einschlägiger Texte. Dieser Abschnitt untersucht im Rahmen der Konfliktaustragung das gelebte Ethos der matthäischen Gemeinde, deswegen steht nicht das Liebesgebot als Konfliktgegenstand im Zentrum (vgl. dazu 3.2.4), sondern Kap. 18, das ich für ein Musterbeispiel für die Verwirklichung des Liebesgebotes auf Gemeindeebene halte. Da diese Untersuchung aus einer gruppendynamischen Perspektive erfolgt, sollten nun einige textrelevante Erkenntnisse aus der Gruppen- und Normenforschung die exegetische Analyse kurz einleiten.434 Die Normen definieren einen wünschenswerten Zustand, schaffen aber noch keine Wirklichkeit. Es besteht weiterhin ein gewisser Abstand zwischen sollen und wollen. Jede Gruppe bemüht sich deswegen, durch subtile rhetorische Mittel oder offene Machtausübung die Internalisierung der Normen bei ihren Mitgliedern möglichst effektiv zu bewirken. Die Verbindlichkeit der Normen ist eine 355–357; Roloff, Gleichnisse, 11: „relativ begrenzter Ertrag“); oder stehen sie für eine außergewöhnliche durch Gott gewirkte Fülle (Hultgren, Parables, 188; McIver, One, 606–608; Hagner, Gospel, 104 [„spectacular to very good results“]; Jeremias, Gleichnisse, 150 [„eschatologische Fülle Gottes“]; Carter, Margins, 283 mit Hinweis auf 1Hen 10,18–20; Sib 3,619– 623.741–761; 2Bar 74,1)? Für eine ‚Zwischenlösung‘, vgl. Dronsch, Fruchtbringen, 303: Der Ertrag sei „die Ermöglichung der Sicherung des eigenen Status, aber in einer Weise, […] die sie [die Menschen] wesentlich Gott verdanken“. Mt 13,8 kann man also als außerordentlich große Ernte verstehen; das reimt sich ziemlich gut mit περισσευθήσεται in V. 12.  Somit erscheint 13,12 als eine Art Zusammenfassung der ganzen Parabel und weniger als zusätzliche Belastung des ὄχλος-Bildes; δέδοται kann also für diejenigen stehen, die die Bedingungen für eine gute Ernte mitbringen. 433 Luomanen, Entering, 126: „The interplay between the disciples and the crowds in chapter 13 is more telling as regards Matthew’s understanding of the disciples than his view of the crowds“. 434 Vgl. dazu ausführlicher 1.2.1.

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unabdingbare Komponente der Normenauffassung.435 Wenn eine einzelne Meinung zu einer anerkannten Norm der Gruppe wird, wird sie dadurch Teil eines Bezugsystems, dessen Elemente sich gegenseitig ergänzen und ein relativ kohärentes Netz bilden. Dieses Netz reguliert das Innenleben der Gruppe und ist für alle Mitglieder verbindlich. Eine kohäsive Gruppe kann einen hohen Normenkonformitätsgrad erreichen, weil die Belohnung der Normeneinhaltung oder die Kosten einer widrigen Haltung unmittelbar als gegenseitige Annahme oder Zurückweisung erlebt werden. Eine internalisierte Norm verstärkt die persönliche Zustimmung zum Identitätsangebot der Gruppe; auf Gruppenebene verringert sich dadurch die Meinungsverschiedenheit.436 Eine reife Gruppe, wie auch die matthäische Gemeinde ist, weist einen hohen Konformitätsgrad auf. Einen direkten Einblick in das Innenleben der matthäischen Gruppe eröffnet besonders die sogenannte „Gemeinderede“. Nicht zufällig beginnt Kap.  18 mit einer offenen Frage der Jünger über ihre zukünftige Stellung in der Hierarchie des Himmelreichs. Das gibt Jesus den Anlass, die wahre Art der Verhältnisse zu veranschaulichen, die im Reich Gottes und in der Gemeinde ‚herrschen‘ (müssen). Die symbolische Handlung – Jesus stellt ein Kind in die Mitte (18,2) – und die anschließende zweigliedrige Aufforderung  – zuerst in negativer Form (18,3b), dann positiv formuliert (18,4a)437  – zielen nicht darauf, die Frage der Jünger zu beantworten, sondern stellen grundsätzlich die Voraussetzungen solcher machtorientierten Überlegungen in Frage. Somit ist οὗτός ἐστιν ὁ μείζων (18,4b) eine ironische, abrundende Anspielung auf den Auslöser des Gesprächs: Die menschlichen Vorstellungen über Machtausübung und Ehre werden eigentlich auf den Kopf gestellt. Der demonstrative Akt legt die Grundlage für die neue Art der Gruppenbildung,438 die Jesus seinen Jüngern und Nachfolgern vorbildlich vorschreibt. Τὸ παιδίον gewinnt in V. 3.4 eine metaphorische Funktion;439

435 Hechter / Opp, What, 403: „Oughtness is the most common element in these definitions“. 436 Das Verhältnis ‚Normen – Gruppenkohäsion‘ wird in der Forschung unterschiedlich bestimmt. Für Opp, Entstehung, 213, ist die Kohäsion eine Voraussetzung der Normenentstehung: „Je höher die Kohäsion einer Gruppe ist, und je wichtiger bestimmte Verhaltensweisen ein­ geschätzt werden, desto verbreiteter sind diese Verhaltensweisen“. 437 Diese Alternanz ‚positiv  – negativ‘ hat auch in den unmittelbar nächsten Versen eine strukturierende Funktion (vgl. Patte, Jesus, 29). 438 Den Abschnitt 18,2–5 sieht auch Luz, Mt III, 8, als „eine Art Grundsatzerklärung für die ganze Rede“; Giesen, Problem, 28 („grundsätzliche Belehrung“); Sand, Mt, 365 („Fundament der Gemeinderede“); Maisch, Christsein, 246; Zimmermann, Struktur, 169 („grundsätzliche Frage“); Frankemölle, Bund, 181; ähnlich urteilt auch Patte, Jesus, 40, in Bezug auf Inhalt: „This knowledge […] is the very teaching of Jesus during his ministry“; Lona, Namen, 376 („paradigmatische Tragweite“). 439 Vgl. Schnackenburg, Matthew’s Gospel, 255: „More important for him was the metaphorical understanding of child-like existence“; Pesch, Gemeindeordnung, 222: „Das Kind wird bei Mt zum wirklichen Vorbild der Gläubigen“; Trilling, Israel, 87 („zum Sinnbild einer

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wie ein Kind werden und sich erniedrigen, bringt ein radikales Verhaltensmuster zum Ausdruck und lässt eine völlig unterschiedliche Existenzführung ahnen, die daraus abgeleitet werden kann. Damit werden die Jünger aufgefordert, sich ein Verhaltensrepertoire anzueignen, das bisher selbstverständliche und sozial ge­ sicherte Normen und Regeln stark relativiert. Obwohl das Himmelreich eindeutig quer zur anerkannten sozialen Struktur steht, werden die ethischen Grundsätze der künftigen Basileia mit ihrer für das soziale Gefüge provokativen Kraft auf Gemeindeebene praktiziert und vorgelebt. Die Gemeindeethik stellt folglich auch ein verborgenes Konfliktpotenzial dar; sie in der jetzigen Welt zu verwirklichen, sollte zu unvermeidlichen Konfrontationen mit den Vertretern der ‚normalmenschlichen‘ Weltordnung führen. Wie diese Strategie im Matthäusevangelium entfaltet wird, werde ich später verdeutlichen, nun führe ich, dem matthäischen Faden folgend, die konkreten Beispiele kurz an, die diesen ethischen Grundsatz illustrieren. Im nächsten Vers wird die Kontinuität mittels παιδίον τοιοῦτο gesichert (18,5 // Mk 9,37).440 Weitere Umschreibungen wie ἕνα τῶν μικρῶν τούτων (V. 6), ἑνὸς τῶν μικρῶν τούτων (V. 10) variieren dieselbe Bezeichnung und sorgen für die ununterbrochene thematische Einheit trotz, oder besser gesagt dank der red. Auslassungen (Mk 9,38 f.49 f)441 und der Zufügung (Q 17,1 f). Mt  18,8 f bringt in hyperbolischer Sprache erneut, wie schon 18,5 f,442 die Radikalität des Willens Gottes zum Ausdruck, um keinen Preis den Verführungen zu erliegen. Damit wird signalisiert, dass der Diskurs sich immer noch im Horizont der Frage nach dem Gottesreich bewegt (18,1), was abschliessend in V. 10[red] auch bestä-

inneren Gesinnung“); Maisch, Christsein, 253; Zumstein, La condition, 419; Sand, Mt, 366: „das ursprünglich in der Vorlage erzählte Ereignis von dem Verhalten Jesu zu einem bestimmten Kind […] wird generalisiert“; Wengst, Demut, 77: „Matthäus verfolgt eine antihierarchische Tendenz und vertritt ein geschwisterschaftliches Gemeindemodell“. 440 V. 5 erfüllt eine „Gelenkfunktion“ zwischen den beiden Einheiten 1–4 und 6–9 (Scheuer­ mann, Gemeinde, 141; zur Kontinuität vgl. auch Pesch, Gemeindeordnung, 222). 441 Vgl. auch Pesch, Matthäus, 50: „Alle Auslassungen gegenüber den Vorlagen erklären sich aus der Tatsache, dass sie nicht zu dieser Grundtendenz passten“; Zumstein, La condition, 397; Schweizer, Gemeinde, 110; Lona, Namen, 376. 442 Trotz der bestehenden Möglichkeit das Abhauen von Körpergliedern wortwörtlich zu verstehen (vgl. Dtn 19,21; 25,11 f; Ex 21,23–25; Lev 24,20; Philo, Det 175), ist ein „bildlich-hyperbolisches Verständnis“ (Zager, Gottesherrschaft, 218) wahrscheinlicher. So auch Zumstein, La condition, 398 f; Carter, Margins, 364 f; Thompson, Matthew, 116: „The disciple is urged to cut off his hand or foot and pluck out his eye rather than let them cause him to weaken the faith of another disciple“; auch Maisch, Christsein, 255. In Verbindung mit diesem Passus kursiert ferner auch die Meinung, es ginge hier um Exklusionen aus der Gemeinde – hier als Corpus Christi (im Sinne von 1Kor 12,12–27; Röm 12,4 f; Eph 4,25) repräsentiert (Pesch, Gemeindeordnung, 224; Giesen, Problem, 64 f; Sand, Mt, 368; Overman, Matthew, 102 f; Forkman, Limits, 121–123; Kupp, Matthew, 182; erwägend auch Thysman, Communauté, 77 f, Anm. 7).

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tigt wird (οἱ ἄγγελοι αὐτῶν ἐν οὐρανοῖς διὰ παντὸς βλέπουσιν τὸ πρόσωπον τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς). Das achtsame Verhalten, das den nach menschlichen Maßstäben unwichtigsten Gemeindemitgliedern gebührt, wurzelt in ihrer Stellung aus der Sicht Gottes; ausgerechnet sie verkörpern und aktualisieren trotz ihrer Unauffälligkeit spiegelverkehrt die himmlische Art der zwischenmenschlichen Beziehungen (ein Rückverweis wiederum auf 18,2–4). Somit wird in einem ersten Anlauf eine konkrete Verhaltensweise aus der an­fänglichen Grundbestimmung abgeleitet. Ab 18,12 wird dasselbe aus einem anderen Gesichtspunkt beleuchtet. Die Kontinuität erfolgt einerseits dadurch, dass nun dieselben „Kleinen“ aus 18,10, deren Engel ständig das Gesicht Gottes im Himmel sehen, hier als „verirrte Schafe“ weiter Stoff für ethische Anweisungen geben. Der wiederholte Ausdruck εἷς τῶν μικρῶν (18,6.10.14) ist eine Art ‚Deckname‘ für die sozial Benachteiligten und Ehrenlosen der Gemeinde,443 deren Dasein aber die umgekehrte Logik der Basileia widerspiegelt und im Verhalten zu denen die anderen Gruppenmitglieder die Art der paradoxen Wirkung Gottes erkennen und selber einüben. Andererseits aber konstituiert vor allem die anfängliche Frage nach den realen Verhältnissen im Himmelreich den generativen Mechanismus und zugleich das Einheitsprinzip der ganzen Rede.444 Angeknüpft wird also formell an V. 10, prinzipiell aber wiederum an 18,2–4, wie auch der Parabelschluss (18,14) deutlich macht.445 Diesmal fragt Jesus selbst mit einer Formulierung, die eine Zustimmung der Jünger erwartet,446 nach der richtigen Einstellung im Umgang mit den von Weg abgekommenen Brüdern.

443 Der Begriff μικρός kann beides enthalten: „sowohl das soziologische als auch das religiöse Moment“ (Michel, Diese, 404); vgl. auch Hoet, Omnes, 92 („membres, qui doivent faire l’objet d’une sollicitude spéciale“); France, Mt, 674; Sheridan, Disciple, 250; Maisch, Christsein, 253; Schnackenburg, Großsein, 280 („einfache, unscheinbare, doch fest an Jesus glaubende Gemeindeglieder […], sich verirrende, ja sich versündigende Angehörige der Gemeinde, die von anderen verachtet [vgl. V. 10] und in ihrer Verwirrung und Not allein gelassen werden“); Roloff, Kirche, 166 (diejenigen, „die am Rande stehen und hinter den Erwartungen der Jüngerschaft noch zurückbleiben“). 444 V. 3 / V. 4: βασιλεία τῶν οὐρανῶν; V. 10: τὸ πρόσωπον τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς; V. 14: θέλημα ἔμπροσθεν τοῦ πατρὸς ὑμῶν τοῦ ἐν οὐρανοῖς; V. 19: παρὰ τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς; V. 35: ὁ πατήρ μου ὁ οὐράνιος. 445 Ein paradoxes Verhältnis liegt auch hier zugrunde: In V. 4 kann nur derjenige groß im Himmelreich sein, der sich hier erniedrigt; der Hirte erfüllt seinerseits seine Pflicht, indem er eine ganze Herde zurücklässt und sich auf die Suche nach einem einzigen Schaf macht, vgl. Carter, Margins, 366 („surprising action of the shepherd“); Huffman, Atypical, 211 („anomaly“); Sand, Mt, 369: „Die Wiederholung der Zahl 99 in V. 13 mach deutlich, dass bei Mt der Kontrast zwischen dem einen und den neunundneunzig im Vordergrund steht“. 446 Dupont, La parable, 626 („il compte évidemment sur leur assentiment“); Carter, Margins, 365; Konradt, Whoever, 117; Schulz, Q, 389; Davies / Allison, Mt II, 772;­ Lambrecht, Treasure, 51.

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Zwei Besonderheiten sind der matthäischen Variante der Parabel anzumerken: Eine betrifft den Zustand des Schafes und die andere die Tätigkeit des Hirten. An drei Stellen wird πλανάω447 als thematisches Verb verwendet (Mt  18,122.13), im auffälligen Gegensatz zum lukanischen Bericht, der von verlorenen Schafen spricht (Lk  15,42.5: ἀπόλλυμι): „Der Unterschied scheint von seinem seelsorglichen Anliegen bestimmt zu sein“.448 In diesem Ablauf mit ‚happy end‘ wird der Wille des Vaters erkannt, der keinen der Kleinen verlorengehen (18,14: ἀπόλλυμι) lässt. Das wäre die gravierende, unerwünschte Folge, die erst dann eintreten würde, wenn niemand den Verirrten sucht und zurückholt. Des­wegen ist der Hirte bei Matthäus ein Suchender par excellence (18,12: ζητέω),449 der seine wichtigste Aufgabe darin sieht, auch wenn es nach menschlichen Maßstäben völlig ‚unlukrativ‘ ist, die anderen neunundneunzig für ein einziges Schaf zurück zu lassen.450 Wichtig war ihm also, „der Gemeinde die Pflicht der Fürsorge für die irrenden einzuprägen“.451 Die christologische Pointe ist unübersehbar; die Wirkung Jesu modelliert im Nachhinein das Wachsen der Gemeinde, seine identitäre Bestimmung (2,6) geht auf die Jünger über (wie auch in 9,36; 10,6). Das Gleichnis vom verlorenen Schaf weist eine Umgestaltung auf, „dass es zur Veranschaulichung der in V. 15 ff enthaltenen Aufgabenstellung für die Gemeinde dienen kann“.452 Es ist aber fraglich, ob diese Entsprechung zwischen 447 Mit dem red. „verirrten Schaf “ (vgl. auch Lambrecht, Treasure, 43; Maisch, Christsein, 257) kann „der von der Tora abgefallene, der nicht fromme Israelit gemeint“ sein (Schulz, Q, 389, 390 f); zu πλανάω als „errance doctrinale“ vgl. auch Zumstein, La condition, 401, Anm. 5, 403 („le gauchisment possible de leur convictions“); für den Zusammenhang ‚Irre­gehen – Toragehorsam‘ vgl. Jes 29,24; Ps 94,10LXX; Ps 118,176LXX; Ps 118,110; Hiob 6,24; 19,4; Prov 7,25; Braun, Art.  πλανάω, 237 („als Einzelverfehlung gg Jahwes Wohlgefallen oder gg die Tora“). 448 Trilling, Israel, 112; auch Dupont, La parable, 634 („un homme ‚égaré‘ peut encore être ramené“); Goldhahn-Müller, Grenze, 190; Thompson, Matthew, 157: „This distinction becomes decisive when the parable is applied to the community“. 449 So urteilen auch Zumstein, La condition, 401; Park, Sündenvergebung, 187; Thysman, Communauté, 78. „Die breite Ausmalung der Freude über das wiedergefundene Schaf “ macht hingegen die lukanische Redaktion aus (Schulz, Q, 388; Trilling, Israel, 112 f; Bonnard, Composition, 115; Dupont, La parable, 630 f; Thompson, Matthew, 170 ; Jeremias, Gleichnisse, 36: „Der Akzent liegt […] auf der Vorbildlichkeit seines Suchens“; Goldhahn-Müller, Grenze, 189: „Das helfende Verhalten der Jünger untereinander wird als Pflicht eingeschärft“; Zimmermann, Struktur, 169; Via, Church, 280. Die mt Gestaltung wird eindeutig von Ez 34LXX geprägt (V. 16: τὸ ἀπολωλὸς ζητήσω), vgl. dazu Heil, Ezekiel 34, 704 ; Thompson, Matthew, 159 f ; Chae, Jesus, 240–244. 450 Der Kontrast ist dreimal wiederholt, vgl. Thompson, Matthew, 157 f. 451 Bornkamm, Lösegewalt, 41; Tooley, Shepherd, 23 („hortatory character“). 452 Baumbach, Verständnis, 100; vgl. auch Wouters, Willen, 350: „Der Auftrag zur Sorge um den Verirrten (V. 14) findet im folgenden seine Konkretisierung“; Grundeken, Community, 455; Luomanen, Entering, 233 („framework of taking care of one’s brother“); Konradt, Whoever, 120; auch 255; Thompson, Matthew, 187: „The following regulations apply the parable to the concrete situation in the Matthean community“.

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Der subjektive Status der Gemeinde

V. 12–14 und V. 15–17 verbindlich und durchgehend ist, denn die Stellung der Gemeinde in den beiden Abschnitten völlig unterschiedlich ausfällt: In V. 12 werden die neunundzwanzig Schafe auf den Bergen zurückgelassen; in V. 17 versammelt sich die Gemeinde (vgl. V. 20: συνάγω) und bezieht selbst im Namen Jesu Stellung. Auch der Charakter der „Verirrten“ ist unterschiedlich: Mt wiederholt in 18,14 red.453 nur den eher ethisch unbestimmten Ausdruck ἓν τῶν μικρῶν τούτων.454 Ihr Verhalten, obwohl besorgniserregend, erreicht noch nicht die Dimension der bewussten Sünde, wie in V. 15–17 der Fall ist. Ihre Verwirrtheit ist nicht eine gewollte Ablehnung des göttlichen Heilsangebots, sondern eine zu heilende Schwäche, vielleicht auch angesichts widriger Umstände oder böswilliger Fremdeinflüsse. Das verirrte Schaf erweckt auf jeden Fall in diesem narrativen Kontext das Mitleid und nicht die Ablehnung der Zuhörer. In dieser Hinsicht ist in 18,15 eine gewisse Steigerung im Vergleich zum Vorausgehenden anzunehmen; entsprechend wird adversativ formuliert: ἐὰν δὲ ἁμαρτήσῃ.455 Es besteht die große Gefahr, dass der schlimmste Fall eintritt: Die Sünde des Bruders (18,15: ὁ ἀδελφός) droht scheinbar selbst die brüderliche Verbindung zu zerstören – die Grundbedingung für die bestehende Gemeinschaft. Während man in der Parabel mit einem Scheitern nicht gerechnet hat, ist es nun möglich, dass alle Bemühungen, die dem Suchen ein konkretes Gesicht verleihen, ergebnislos bleiben. Das reale innergemeindliche Pendant der gerade erzählten Parabel fokussiert die praktischen Schritte im Versuch, den Verlust des Bruders zu vermeiden. Die wiederkehrende himmlische Perspektive (18,18.19) empfiehlt auch diese Anweisungen als gottgefälliges Verhaltensmuster, das in seiner liebe- und sorgenvollen Zuwendung in deutlichem Kontrast zu einem ‚weltlichen‘ Gerichtsverfahren steht456 und innerhalb der Gemeinde den modus dei abbilden soll. 453 Schulz, Q, 388; Burkett, Rethinking, 159 f: „Matthew removed any mention of sinners (Mt 18,13), so that the parable in its new context would refer to bringing back members of community who had astrayed“; auch Lambrecht, Treasure, 42. 454 Im Unterschied zu Lukas, der im Einklang mit seinem narrativen Rahmen (Lk 15,1.2) den Gegensatz ἁμαρτωλός – δίκαιος verwendet (Lk 15,7). 455 Darum sieht hier Pesch, Matthäus, 50, einen thematischen Schnitt in der Rede: „Zuerst geht es um die richtige Bewertung und Einordnung der minderen Schicht der Gläubigen, dann um die Beurteilung des Bruders, der in Sünde gefallen ist“ (ebd., 53; Ders., Gemeindeordnung, 220; auch Scheuermann, Gemeinde, 142; Lona, Namen, 375; Zimmermann, Struktur, 170; Frankemölle, Bund, 180), wobei er auch auf die Wiederholung (V. 14 = V. 35) hinweist. Auch Forkman, Limits, 118, mit Bezug auf die Stichwörter εἷς τῶν μικρῶν τούτων für V. 5–14 bzw. ὁ ἀδελφός für V. 15–35; πατρὸς ὑμῶν τοῦ ἐν οὐρανοῖς hält aber das ganze Kap. zusammen als „unified composition“(ebd.); Giesen, Problem, 20; Thysman, Communauté, 78 f. 456 Mit ὁ ἀδελφός als Themawort in V. 15 geht es hier also um einen „Appell an Barmherzigkeit“ und nicht um eine strenge „Gemeindedisziplin“ (Pesch, Matthäus, 37); vgl. auch Thompson, Matthew, 179 f ; Strecker, Weg, 223: Matthäus will hier kein „Gerichtsurteil begründen“, sondern „die Eindringlichkeit der Ermahnung verschärfen“, deswegen werden die

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Eine erste Zurechtweisung (18,15: ἐλέγχω457) unter vier Augen könnte schon genügen, um den Bruder zurück zu gewinnen (18,15b).458 Nur wenn die Versöhnung nicht eintritt (18,16a: ἐὰν δὲ μὴ ἀκούσῃ), müssen noch ein, zwei Zeugen einbezogen werden.459 Falls der Einigungsversuch erneut scheitert (18,17a: ἐὰν δὲ παρακούσῃ αὐτῶν), wird schließlich in einem dritten Schritt die ἐκκλησία460 auf den Plan gerufen. Damit bekommt die Angelegenheit eine öffentliche Dimension. Nur die von Gott beauftragte Gemeinde kann dem Fall nun als höchster Garant der ethischen Ordnung ein Ende setzen. Streit und Zwietracht passen wesenhaft nicht zum Ethos der göttlichen Versammlung. Dass der Streitfall so weit vorangeschritten ist, ist ein Indiz für einen ernsthaften Anstoß sogar gegen die Gruppenkultur und -Ordnung. Die Zugehörigkeit zur Gemeinde beruht auf gemeinsamen Werten und Überzeugungen, deren bewusste Übertretung einem Selbstausschluss gleicht. Die Gemeinde beteiligt sich daran also nicht als strafende Instanz, sondern bestätigt (vgl. σταθῇ schon in V. 16) durch ihre Geschlossenheit die Leitprinzipien des Gruppenlebens und nimmt eine unmöglich gewordene Gemeinschaft mit dem Streitenden zur Kenntnis. Denn ihr zu widersprechen (ἐὰν δὲ καὶ τῆς ἐκκλησίας παρακούσῃ) bedeutet, den ἕνα ἢ δύο nicht „Zeugen“ (vgl. Dtn 19,15LXX: μάρτυς), sondern „Brüder“ genannt. Als Kontrast zur hier geschilderten gemeindeinternen Vorgehensweise vgl. z. B. das gewöhnlich weltliche, rücksichtslose Gerichtsverfahren von 5,25 f. 457 Giesen, Problem, 24: „Es soll dem Bruder den Weg von der Sünde zur Umkehr weisen“, „seelsorgerliches Interesse“; vgl. auch Walter, Kirchenverständnis, 125: „In dem schönen Satz V. 15b […] schwingt der Triumph der Barmherzigkeit Gottes, die das Verlorengehende suchen heißt“ (zur Gesetzproblematik, die hier mitschwingt, vgl. auch weiter Anm. 472, 473). 458 Zur κερδαίνω als terminus technicus der jüdischen und christlichen Missionssprache vgl. Daube, Term, 352–361; Giesen, Problem, 25; Thompson, Matthew, 180: „The goal of fraternal correction is to win back the brother who has sinned“. 459 Hier liegt eine Anspielung auf Dtn  19,15 vor (O’Leary, Matthew, 167 f; Menken, Bible, 271–273); weitere Vorkommnisse in 2Kor  13,1; 1Tim  5,19; CD 9,16–23; Josephus, Vita 257 f; Ant IV 219 lassen auf eine verbreitete Tradition schließen (vgl. Vliet, Testimony; ferner Brooks, Community, 101 f; Luomanen, Entering, 243). 460 In diesem Fall als Ortsgemeinde zu verstehen (Sand, Mt, 372; Strecker, Weg, 224; Trilling, Israel, 115, 156; Hummel, Auseinandersetzung, 154; Söding, Lehret, 37; Zimmermann, Struktur, 176; Pesch, Gemeindeordnung, 227; Roloff, Kirchenverständnis, 338). Dieser Sprachgebrauch von ἐκκλησία als „empirische“ Gemeinde war durchaus möglich (1Makk 2,56; 4,59; Sir 15,5; 31,11; TestHiob 32,8, vgl. Schrage, Ekklesia, 191); ἐκκλησία als Versammlung für rechtliche Entscheidungen kommt auch in der hellenistischen Welt vor (vgl. 1Makk  5,16; Jdt 6,16; 14,6; Act 19,38–39; Josephus, Ant XIX 332); enge Parallelen befinden sich im jüdischen Schrifttum in der Auslegungstradition von Lev 19,15–18 in Sir 19,13–20,3; TestGad 4,1–3; 6,1–6; 1QS 5,24–6,1; CD 9,2–8. Jedoch ist hier ἐκκλησία kein rein funktionaler Begriff, sondern im Hinblick auf 18,20 (εἰς τὸ ἐμὸν ὄνομα) „christologisch transformiert“ (Frankemölle, Bund, 244) und ethisch bestimmt: „Das Gemeindebewusstsein ist eindeutig christologisch geprägt. Dies stimmt mit der generellen Struktur der mt Bruderschaft in Kap. 18 überein“ (ebd., 232); zur „Verchristlichung“ von ἀδελφός bei Matthäus vgl. auch Jeremias, Gleichnisse, 108, Anm. 2.

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Der subjektive Status der Gemeinde

Lebensweg, den man durch den Beitritt zur Gruppe eingeschlagen hat, willig zu verlassen;461 ἔστω σοι ὥσπερ ὁ ἐθνικὸς καὶ ὁ τελώνης (18,17) ist in diesem Sinne eine logische und notwendige Folge.462 Im ganzen Verfahren sind das betreffende Gruppenmitglied und die Gemeinde als Ganze ihrer Grundwerte treu geblieben; der wiederholte Versuch den Sünder zur Umkehr zu bewegen, ist ein Ausdruck der göttlichen Langmut, die auf Gruppenebene im Umgang miteinander praktiziert wird. Das Verfahren ist die Manifestation der brüderlichen Liebe, bewegt sich also im Rahmen der Toraauslegung, die innerhalb der Gemeinde praktiziert wird.463 Mt  18,18 bestärkt die Versammlung in ihrer Befugnis zu „binden“ und zu „lösen“, das schließt also jeden Zweifel daran aus, dass die Entscheidung der Gemeinde in Einklang mit dem Willen Gottes steht. Weil der Passus in V. 15 den Begriff ἁμαρτάνω ins Spiel gebracht hat, ist es auf den ersten Blick naheliegend, dass es im abschließenden V. 18 um das Binden bzw. Lösen von Sünden geht;464 d. h. Übertretungen im zwischenmenschlichen Bereich sind mit Geduld und brüderlicher Liebe zu handhaben und im Namen Gottes zu vergeben. Das existente komplexe Verfahren lässt auch Fälle von schwerwiegenden Verfehlungen vermuten, wo interpersonelle Schlichtungsversuche nicht ausreichen und eine Intervention der Großgemeinde benötigt wird. Was könnte dann konkret beabsichtigt werden? Muss der Sünder schrittweise dazu gebracht werden, als Bedingung fürs Weiterbleiben in der Gemeinde seinen Fehler zu gestehen? Würde jemand, der sonst an den Belangen der Gemeinde festhält, sie nur deswegen verlassen und dadurch sein Heil aufs Spiel setzen, weil er seine Sünde trotz der unendlichen Vergebungsbereitschaft der Brüder (vgl. 18,21 f)  nicht bereut?465 Denn „Binden“ würde in diesem Fall nur bedeuten, dass er mangels Reue von 461 Vgl. auch Giesen, Problem, 33: „Der Einzelne entscheidet letztlich selbst und löst sich zuerst von sich aus durch sein Leben und Verhalten von der Gemeinschaft der Kirche“; Sand, Mt, 372: „Durch seine Verweigerung […] steht der Sünder bereits außerhalb der Gemeinde“; Maisch, Christsein, 259: Die Gemeinde „schließt den Sünder nicht aktiv aus, sondern dokumentiert öffentlich seinen selbst herbeigeführten Ausschluß“. 462 Zu kurz greift die Meinung von Park, Sündenvergebung, 193: Es ginge nur um eine „moralische Haltung der mt Gemeinde zu dem sündigenden Bruder“ und nicht um einen Ausschluss; ähnlich auch Thompson, Matthew, 185. 463 So auch Zumstein, La condition, 390: „La triple répétition de l’exhortation présuppose de la patience vis-à-vis de l’égaré“; Giesen, Problem, 23; Thysman, Communauté, 82­ („patience miséricordieuse“ als „écho même des enseignements les plus fondamentaux de­ Jésus“); vgl. auch weiter Anm. 473. 464 So Thompson, Matthew, 202; Konradt, Whoever, 127, Anm.  83; Goldhahn-Müller, Grenze, 179 f, 190; Luz, Matthias III, 46; Maisch, Christsein, 260; Roloff, Kirche, 168;­ Repschinski, For He Will Save, 259; Luomanen, Entering, 221 f; Wilkins, Disciple, 196–197; Ascough, Matthew, 119. 465 In jJoma 8,9 wird ein ähnlicher Fall überliefert, nur sind die Verhältnisse umgekehrt: Der Sünder bittet wiederholt um Vergebung und holt sich Verstärkung, damit seine Entschuldigung von dem Verletzten angenommen wird. Und das macht durchaus Sinn!

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der Sünde nicht losgesprochen wird. Im ganzen Kontext scheint mir diese Interpretation zu kurz zu greifen; mit Nikolaus Walter ist festzuhalten: „Von einer Vollmacht zur Sündenvergebung, die der Gemeinde zugesprochen würde, [ist] hier […] keine Rede“.466 Paradoxerweise spricht gegen diese Deutung selbst der eher gesetzesorientierte Begriff ἁμαρτάνω467: „der Sündenbegriff des Judentums ist durch das Gesetz bestimmt“.468 Passend ist hier also die Sünde als Neigung zur Irrlehre oder als gesetzloser Wandel zu verstehen. Denn das Dreistufenverfahren lässt eher eine grundlegende Meinungsverschiedenheit als Quelle der punktuellen Übertretung vermuten.469 Jemand erweist sich wegen seiner Überzeugungen, die sich in konkretem Fehlverhalten gegenüber seinem Nächsten niederschlagen, als in­ kompatibel mit den Gruppenwerten. Damit landet man eher bei einem Verständnis von δέειν und λύειν, das sehr nahe an den rabbinischen Praktiken der halakhischen Entscheidungen liegt.470 466 Walter, Kirchenverständnis, 125. 467 Walter, Kirchenverständnis, 125; auch Kraus, Ekklesiologie, 228; verstärkend kann man noch hinzufügen, dass selbst die Anspielung auf Dtn 19,15 eine „legal or quasi-legal situation“ voraussetzt (Kupp, Matthew, 182). 468 Stählin / Grundmann, Art. ἁμαρτάνω, 290. 469 Vgl. auch Zumstein, La condition, 389: „La nature du conflict n’est pas précissé; le verbe laisse entendre qu’il s’agit d’une transgression de l’enseignement du Maître“; Baumbach, Verständnis, 99: Persönliche Vergehen sind nach 18,21 f sofort zu vergeben, „die Gemeinde wird dagegen nur bemüht, wenn Verstöße gegen ihre Lehr- und Lebensordnung vorliegen“; für Kraus, Ekklesiologie, 228, bezeichnet πρᾶγμα in 18,19 „einen solchen ‚Fall‘ der Torahpraxis“; Klein, Bewährung, 187, spricht über eine „große Übertretung allgemeingültiger Gebote“, denkt an die vier Anweisungen des Aposteldekrets (Act 15,20–29) und bezeichnet den Sünder als „hart­näckiger ‚Besserwisser‘“; in Richtung „idolatry and adultery“ weist erwägend auch Luomanen, Entering, 252, hin. Bewusste Gesetzesübertretungen als Grund für ein Disziplinverfahren sind auch in der Qumrangemeinde belegt: CD 9,16–24; 1QS 8,22–24; CD 7,1–2 (vgl. Weinfeld, Organizational, 41 f, Anm.  200). Πρᾶγμα (18,19) kann in der Tat auch gesetzliche Dispute bezeichnen: Josephus, Ap II 177; 1Kor 6,1; 1Thess 4,6; sehr oft in den Papyri (P.Oxy. IV 706,4; 743,19; P.Ryl. II 76,14; 113,13; P.Strass. I 41,38, vgl. Moulton / Milligan, Vocabulary, 532). 470 So auch Söding, Lehret, 45: „Er meint die Verbindliche Auslegung des Gesetzes, die in den Zweifelsfällen des Lebens eine authentische Praxis nach dem Willen Gottes ermöglichen soll“; Davies / Allison, Mt II, 787; Forkman, Limits, 130; Viljoen, Matthew, 680;­ Orton, Scribe, 160: „The allocation […] of the authority to ‚bind and loose‘ (16,19; cf. 18,18) is evidently the proper authorization of  a scribe“; Pesch, Gemeindeordnung, 228 („alle sakrale Lehr- und Rechtsmacht“); Brooks, Community, 104 („quasi-legal or scribal connotation“); Hoffmann, Petrus-Primat, 111; Thyen, Studien, 239: „Formal trägt der Abschnitt alle Züge rabbinischer Halacha […] Hier spricht eine eng am Gesetz orientierte judenchristliche Gemeinde, die noch fest zum Synagogenverband gehört“; Giesen, Problem, 47; Lührmann, Redaktion, 113, nimmt zwar an, dass „Binden und Lösen“ in 18,18 sich im Gegensatz zu 16,19 „nicht auf die Lehrgewalt sondern auf die Rechtsprechung“ bezieht (so auch Wouters, Willen, 355), räumt aber mit Recht ein, dass „dem jüdischen Hintergrund entsprechend beides in einer Hand zusammenfällt“.

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Der subjektive Status der Gemeinde

Die Gemeinde (unter)bindet ein bestimmtes Verhalten, d. h. sie lässt die entsprechende Gesetzesinterpretation, die dahinter steckt, nicht zu. Selbst das Verb (παρ)ακούω (Mt  18,15.16.172), das die erwartete Reaktion ‚des Sünders‘ ausdrückt, weist eher auf ein Lehrgespräch hin.471 Noch mehr bezieht Matthäus mit der Anspielung auf Lev 19,17 f472 und damit auf das Gebot der Nächstenliebe den Kern seiner Gesetzesauslegung ein und steht Zeuge für eine ekklesiologische und seelsorgliche Rezeption der alttestamentlichen Satzung. Diese Annahme erklärt aber nur unzureichend die matthäische Anwendung. Damit es zu dem komplexen mehrstufigen Verfahren aus Mt 18,15–17 kommt, war es m. E. nötig, dass eine andere Rezeptionslinie diese Tradition ‚befruchtet‘, nämlich die von Dtn 19,15 – so werden die ürsprünglichen Komponenten (Zurechtweisung + Liebesgebot) um die Regelung über die Zeugen bis zur ganzen Gemeinde erweitert, wie es in gereifter Form schon in 1QS 5,24–6,1; CD 9,2–8.16–23 vorkommt; deswegen haben diese Texte auch eine eindeutige ekklesiologische Affinität.473 Angesichts der gravierenden Konsequenzen des Fehlverhaltens sollte es um entscheidende Differenzen mit dem Sünder gehen. Die Gemeinde zeigt in der 471 Vgl. auch Giesen, Problem, 22: Es geht um jemanden, „der nicht auf die Kirche hört, ihre Lehre nicht annimmt, weil er nicht bereit ist, die Konsequenzen aus dieser Lehre zu ziehen“; Hoffmann, Petrus-Primat, 111, Anm. 58: Die Sünde des Bruders solle man „nicht nur ‚moralisch‘“ verstehen, man sollte „Differenzen in der Lehre einbezogen haben, wie auch der weitere Kontext zeigt“; zum lehrhaften Charakter von ακούω in Mt vgl. Byrskog, Only­ Teacher, 321–323 (vgl. TestRub 6,8). 472 So nehmen es die meisten Kommentatoren wegen Begriffen wie ἐλέγχω, ἀδελφός, ἁμαρτάνω / ἁμαρτία an (vgl. für viele Schenk-Ziegler, Correctio, 298, Anm. 12; Luz, Mt III, 43; Duling, Brotherhood, 162; Goldhahn-Müller, Grenze, 183; Konradt, Whoever, 122 f: „Matt 18,16 f is based on an early Jewish exegetical tradition of Lev 19,17 f “). 473 Vgl. dazu Goldhahn-Müller, Grenze, 182–185; Gnilka, Kirche, 51–54. Berger, Volksversammlung, 180, bringt wegen ἐκκλησία (Sir 23,24) auch Sir 23,22 ff als religionsgeschichtlichen Vergleich ins Gespräch – dort geht es jedoch um öffentliche Schmähung der Sünderin ohne die geringste Spur von sorgenvoller Zurechtweisung. Beide Texte (Lev 19,17 f und Dtn  19,15) besitzen aber auch eine selbstständige Rezeptionsgeschichte (zu Lev  19,17 f vgl. vor allem Ebersohn, Das Nächstenliebegebot; Mt 18,15 ff wird jedoch in dieser sonst fundierten Studie nicht als Teil  dieser Rezeptionsgeschichte wahrgenommen; zu Dtn  19,15 vgl. oben Anm.  459). Eng damit verbunden und ausschließlich auf Lev  19,17 f bezogen sind CD 7,2 f; 13,18 f; 1QS 10,26–11,1; 4Q417 Frgm. 1 1,1–6.14–16; vgl. auch Prov 27,5; Sir 19,13–17; Did 15,3; TestGad 6,3–6. Ein interessanter Teilaspekt stellt μεταξὺ σοῦ καὶ αὐτοῦ μόνου dar (Mt 18,15); die Aufforderung die Sünde des Bruders nicht vorschnell preis zu geben im Zusammenhang mit der Auslegung von Lev  19,17 hat eine teils eigenständige Rezeptionslinie (vgl. Prov 10,18; 25,9–10; CD 9,6–8; mAv 3,11; TestGad 4,2 f; 6,5; die Sorge die Brüder nicht zu beschämen wird in TestJos 11,2 ff; 15,3; 17,1 zur typischen Formel – vgl. dazu Konradt, Who­ ever, 123, Anm. 64). Eine literarische Abhängigkeit des Mt 18,15 ff von den oben erwähnten Texten ist schwierig zu begründen (wird aber manchmal angenommen – vgl. Kister, Divorce, 223). Gruppendynamisch könnten dieselben Bedürfnisse ähnliche Antworten hervorbringen; es geht also vielmehr „um Gemeinschaften, die u. a. im Rückgriff auf das Alte Testament, in gesetzlicher Ausrichtung und vor der aktuellen Notwendigkeit her, teilweise ähnliche Regeln und Vorschriften entwickeln“ (Schenk-Ziegler, Correctio, 301).

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Behandlung dieses Falls einen liebevollen und langmütigen Umgang mit Andersdenkenden.474 Die Anweisungen haben nicht nur eine praktische Funktion, sie geben auch einen emotionalen Grundton an – Zorn und Haß sind um jeden Preis zu vermeiden (vgl. auch 5,22); nur die Liebe soll die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. In dieser Hinsicht dient also das Liebesgebot als Mittel zum Emotions-Management auf Gemeindeebene. Aber es ist möglich, dass eben dieses Gesetzesverständnis mit der Liebe als Referenzrahmen von einem Mitglied in Frage gestellt wird, und die ἐκκλησία dazu zwingt, von ihm Abschied zu nehmen: „Ein solches ‚Sündigen‘ [würde] zur Auflösung der Gemeinschaft führen“.475 Der Fehler geht deswegen eher in die Richtung eines ideologischen Widerspruchs, der auch ethische Folgen im zwischenmenschlichen Bereich hat. Eine punktuelle, persönliche Beleidigung, die sich durch eine Entschuldigung ausräumen ließe, würde das komplexe und aufwändige Abwehrverfahren kaum erklären können. So, wie in den bisherigen Abschnitten Verhaltensmuster (z. B.: den Kleinen keinen Anstoß geben; die Kleinen suchen) im Lichte der Grundaussage von 18,2–4 dargelegt wurden, wird auch hier auf der Basis desselben Prinzips e­ rstens ‚die Suche‘ als Manifestation der Nächstenliebe in einem konkreten Fall illustriert und parallel dazu ein Verhalten desavouiert, das dem hermeneutischen Schlüssel der Gemeinde nicht mehr entspricht. Auch wenn man der matthäischen Darstellung nicht entnehmen kann, worum es konkret geht, werden Grenzen in der Kompromissbereitschaft, was die Grundwerte betrifft, deutlich gezogen. Der Ausschluss aus der Gemeinde (die disziplinbezogene Seite) ist in diesem Licht eine logische Konsequenz, einerseits wegen eines unverbesserlichen und lehrunfähigen Gemeindemitglieds, andererseits wegen einer wertebewussten und kompromißscheuen Gemeinschaft (beides auf die Lehrgewalt bezogen). Lehrentscheidung und „ekklesiale Erklärung“476 gehören also natürlicherweise zusammen.477

474 Vgl. auch Walter, Kirchenverständnis, 124 f (der Ausschluss aus der Gemeinde ist „nur als schlechteste Möglichkeit anzusehen“); Via, Church, 284 („a last resort“); Goldhahn-­ Müller, Grenze, 192 („äußerste Möglichkeit“); Konradt, Whoever, 121 („The admonition ist to be read as an expression of love“). 475 Baumbach, Verständnis, 100. 476 So bezeichnet angemessen Giesen, Problem, 48, die disziplinäre Seite des Verfahrens. 477 Vgl. in diesem Sinne Strack / Billerbeck, Kommentar, Bd. 1, 739: „Hiernach bezeichnen die beiden Verba hier erstens Akte der Lehrgewalt („verbieten“ u. „erlauben“); zweitens Akte der Disziplinargewalt“; zustimmend Giesen, Problem, 49,53; Hoffmann, Petrus-Primat, 111; auch Sand, Mt, 372; Luomanen, Entering, 248 („the binding character of all the decisions of the community, with special emphasis on questions connected to membership“). Nur Disziplingewalt in 18,18 (aber Lehrentscheidungen in 16,19) sehen Walter, Kirchenverständnis, 125; Bornkamm, Lösegewalt, 39 f.46; Zumstein, La condition, 388, 391; Luz, Mt III, 46. Durch diese Trennung der beiden Gewalten (vgl. besonders Strecker, Weg, 224 f) bezieht man V. 18

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Der subjektive Status der Gemeinde

Was zu diesem Verhalten befähigt, ist die Vollmacht, die aus der Anwesenheit Gottes hervorgeht. Die konditionale Formulierung in V. 19 (ἐάν), solange sie an eine bestehende und praktizierende Gemeinde adressiert ist, will schließlich nichts anders sagen, als dass Immanuel immer als wesentlicher Teil und „legitimierendes Mittel“478 der Gemeinde zu denken ist: Wenn das auch nur bei zwei oder drei gilt,479 die sich in seinem Namen versammeln,480 umso mehr wird Gott einer ganzen Versammlung in jeder Hinsicht beistehen.481 Das gelebte Ethos ist eine Manifestation der tieferen christologischen Dimension; das zwischenmenschliche Verhalten darf diese Reichweite nicht überschreiten, denn nur dann bleibt jede Bitte angemessen und kann dementsprechend auch erhört werden.482 Die Gemeinde basiert auf dem Gebotenen (28,19 f),483 ihre Entscheidungen sind wegen dieser Einbindung innerlich konditioniert und nicht willkürlich, sondern entstehen notwendig aus der erfahrenen Nähe Christi. Aus demselben Grund wird auch der Gemeinschaft mit Menschen, die nicht mehr dieselben Werte teilen, eine Grenze gesetzt. Jedoch wird die Bitte der Gemeinde bestimmt auch

zu eng nur ausschließlich auf V. 17b; Ἀμὴν λέγω ὑμῖν dürfte m. E. den ganzen Passus V. 15–17 abschließen (vgl. so auch Sand, Mt, 372). Für reine Disziplingewalt in 18,18 vgl. auch Klein, Bewährung, 190; Trilling, Israel, 120; Via, Church, 282; Zimmermann, Struktur, 175. 478 Der Doppelspruch in 18,19 „erhält die spezielle Funktion, die unmittelbar zuvor der Gemeinde zugesprochene Binde- und Lösegewalt zu begründen“ (Bornkamm, Lösegewalt, 43); Luz, Mt III, 39 („Bekräftigung durch den Herrn“); Sand, Mt, 375; Wouters, Willen, 365; Lona, Namen, 378 („Begründungsaussage“); Luomanen, Entering, 250; als Bestätigung der zugesprochenen Vollmacht (Trilling, Israel, 157). 479 Der mt Spruch weist eine auffällige Ähnlichkeit mit mAv 3,2 auf; eine antithetische Lektüre – Jesus ersetze die Tora (Barth, Gesetzesverständnis, 127; Carter, Margins, 369: „May well be a polemical edge to the claim“) wäre aber in Anbetracht von Mt 5,17.19 eher unwahrscheinlich. Hingegen kann „die Gegenwart des erhöhten in ihrer Mitte nur bedeuten und implizieren, dass dieser in ihr gegenwärtige Herr derselbe ist, der durch eine Lehre das Gesetz gültig auslegt und erfüllt und für seine Gemeinde verbindlich macht“ (Bornkamm, Löse­ gewalt, 44; zustimmend auch Zumstein, La condition, 395; Kupp, Matthew, 196); damit knüpft Mt 18,20 an eine lange Tradition (Ez 43,7; Joel 2,27; Sach 2,10–11; 11QTa 46,11–12), eine direkte Verbindung mit mAv 3,2 ist schwer zu beweisen (Wouters, Willen, 362 f; Lona, Namen, 386 f). 480 Auf den Punkt gebracht – Hoffmann, Petrus-Primat, 111: „Die Versammlung ‚auf den Namen Jesu‘ hin in V. 20 [ist] im Sinn konkreter Verpflichtung auf die Gesetzesauslegung Jesu zu verstehen“. 481 So ist z. B. dieser Gedanke in IgnEph 5,2 rezipiert worden. 482 Vgl. zutreffend Klein, Bewährung, 192: „So erklärt man die Übereinstimmung der Gemeindeglieder untereinander für notwendig, weil die persönlichen, egoistischen Bitten nicht erfüllt werden können“. 483 Für diese Beziehung vgl. besonders Bornkamm, Lösegewalt, 44; das macht aus Mt 18 eine Gemeindeordnung, „die aufs stärkste von den Grundgedanken der Lehre Jesu geprägt ist“ (ebd.). Rückwirkend besteht eine starke Verbindung zu der doppelten Namensgebung (1,21.23) – Vergebung der Sünden und Nähe Gottes stehen in 18,20.21 ff erneut eng beiein­ander (vgl. Baumbach, Verständnis, 98; auch Park, Sündenvergebung, 198).

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die Ausgegrenzten einbeziehen.484 Die Suche nach dem Verlorenen hört mit der Trennung nicht auf,485 sondern läuft mit anderen Mitteln weiter. Im anschließenden narrativen Teil  lässt Matthäus ausgerechnet Petrus die Frage nach der Vergebung stellen,486 der, wie es sich in der Passionsgeschichte herausstellen wird, selbst auf die unendliche Milde Gottes angewiesen ist aber zugleich auch bittere Reue zeigen kann.487 Erst jetzt ist die Sünde (ebenfalls ἁμαρτάνω) kontextbedingt (vgl. εἰς ἐμέ) als zwischenmenschliche Kränkung zu verstehen,488 deswegen liegt die ganze Verantwortung im Umgang mit dem Sünder bei dem Betreffenden selbst, die ἐκκλησία ist dafür nicht mehr zuständig.489 Durch dieses differenzierte Sündenverständnis lässt sich auch der scheinbare Widerspruch490 zu V. 15–17 unkompliziert lösen. Hier befindet man sich im ‚Privatbereich‘, der Bestand der Gemeinde ist durch ein abwegiges Gesetzesverständnis und die daraus folgenden Taten nicht mehr bedroht. Durch die Parabel-Antwort wird erneut die Dimension des Himmelreichs einbezogen (18,23: ὡμοιώθη ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν) und an das grundlegend paradoxe Prinzip angeschlossen, das dem Gemeindeleben sein unverwechselbare Prägung verleiht.

484 Vgl. Baumbach, Verständnis, 99: Das Gebet in 18,18 ist „als Fürbitte für den Abgefallenen zu verstehen“; Luz, Mt III, 52; Konradt, Whoever, 121: „The context suggests that the members of the community should include the sinner in their prayers to effect his repentence“; Stendahl, School, 28; Carter, Margins, 369. 485 Vgl. Luz, Mt III, 44: „Die Möglichkeit einer späteren Wiederaufnahme oder einer Rettung des Sünders im Jüngsten Gericht […] ist m. E. wahrscheinlich“; Konradt, Whoever, 120 f; Park, Sündenvergebung, 194; Giesen, Problem, 32: „Indem der sündigende Bruder zum Heiden und Zöllner erklärt wird, gehört er wieder zu jenen, die für das Christentum (erneut) gewonnen werden müssen“; Carter, Margins, 368 („restorative efforts continue“); Strecker, Weg, 225: „Freilich besitzt die Gemeinde auch die Möglichkeit, das Trennungsurteil rückgängig zu machen“; Wouters, Willen, 357; Grundeken, Community, 460. Anders Schenk-Ziegler, Correctio, 298: „Umkehr und Wiederaufnahme […] [sind] nicht mehr vorgesehen“. 486 Dabei wird Q 17,4 zu einem kleinen Gespräch umgestaltet. 487 Vgl. Konradt, Whoever, 135–136. Aus diesem Grund kann der eingeschobene Dialog zwischen Petrus und Jesus m. E. nicht als Gliederungsmerkmal in Erwägung gezogen werden (wie z. B. bei Park, Sündenvergebung, 178; auch France, Mt, 672); Petrus hat an dieser Stelle eher eine verbindende als eine trennende Funktion: erstens nach hinten mit 18,18 (vgl. 16,19), dann nach vorne wegen der Vergebungsthematik. 488 So auch Sand, Mt, 375, der hier vermutet: es „wird an die Verletzung des Liebesgebotes zu denken sein“. Anders urteilt Luz, Mt III, 62 f: Was in V. 15 gesagt wurde, will Matthäus hier „vertiefen und verschärfen“. 489 Zum Grund dafür, dass der ἁμαρτία-Begriff an zwei benachbarten Stellen mit unterschiedlichen Bedeutungen vorkommen kann, vgl. Baumbach, Verständnis, 100: „Dieser Begriff [ist] an beiden Stellen traditionell bedingt und [erhält] erst durch den Kontext seine bestimmte inhaltliche Füllung“. 490 Man sieht an dieser Stelle oft „eine kaum auflösbare Spannung“ (Luz, Mt III, 41), vgl. auch Park, Sündenvergebung, 190 („ein Rätsel“); Schenk-Ziegler, Correctio, 297 („Spannung zur Intention des Kontextes“); Lona, Namen, 377 („Die Spannung […] läßt sich nicht übersehen“).

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Eine grenzenlose Vergebungsbereitschaft491 ist kein ‚normales‘, menschliches Verhalten; sie ist, wie es scheint, auch für die Jünger anstößig492 (vgl. 18,21), umso mehr für die Außenwelt unannehmbar. Den Mitmenschen als Bruder zu bezeichnen (ἀδελφός rahmt diese Parabel in 18,21.35), hängt mit der Anerkennung Gottes als Vater zusammen und ist nur innerhalb der Gemeinde möglich, dort wo Jesus als Sohn Gottes (vgl. den red. παρὰ τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς in 18,19) ständig als Garant dieser Beziehung anwesend bleibt. Ein brüderliches Verhalten ist die matthäische Antwort auf die ethischen Herausforderungen seiner Zeit. Vorausgesetzt wird die Sündhaftigkeit aller Menschen,493 Christen einbegriffen, die dem Schuldenerlass nur in ständiger Vergebungsbereitschaft als echtem Ausdruck der Gesetzesauslegung Jesu gerecht werden: „Solche Vergebung [ist] nicht Privileg, sondern Pflicht der Gemeinde“.494 Dasselbe gottgebotene Niedrigkeits- und Bruderschaftsethos, das in Kap.  18 an vier paradoxen Verhaltenstypen exemplifiziert wurde,495 kehrt in einem anderen zentralen Text der matthäischen Ethik wieder, nämlich in 23,8–12, der mit der Gemeinderede durch zahlreiche Querbezüge verbunden ist.496 Um den Sinn dieser Positionierung eines Stücks Gemeindeparänese mitten im polemischsten Teil des Evangeliums zu verdeutlichen, helfen jetzt abschließend einige Textbeobachtungen an Kap. 18 selbst. Die Frage der Jünger (18,1b) nimmt eindeutig 5,19b (ὃς δ’ ἁν ποιήσῃ καὶ διδάξῃ, οὗτος μέγας κληθήσεται ἐν τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν)497 auf und stellt die beginnende Gemeinderede primär unter das Vorzeichen der konsequenten Gesetzesauslegung. Die Tatsache, dass 5,20 seine Entfaltung im Rahmen der Bergpredigt in der Antithesenreihe findet, ist kein Argument gegen die Anwendung des Grundprinzips von 5,19b–20 auf praktischer Gemeindeebene in Mt 18. Da Kap. 18 zwischen den zweiten (17,22 f) und den dritten (20,17–19) Leidens­ ankündigung steht, wird oft angenommen, dass die Passion und die Hingabe Jesu als gemeinsamer Nenner für die Verhaltenstypen in der Gemeinde gelten und 491 Nur so lässt sich die Antwort Jesu deuten: ἑπτάκις ἀλλὰ ἕως ἑβδομηκοντάκις ἑπτά (18,22); eine Anspielung im Kontrast zu Gen 4,24 wird hier erkannt: die verzeihende Liebe tritt anstelle der Rache; auch Luz, Mt III, 62; Davies / Allison, Mt II, 793; Maisch, Christsein, 263; Konradt, Whoever, 123, Anm. 105. 492 Konradt, Whoever, 123 („radical challenge“); Sand, Mt, 375 f. 493 Vgl. 4Esra 7,68 f; 9,36; Philo, VitMos II 147; Fug 158. 494 Thyen, Studien, 243; auch Backhaus, Kirchenkrise, 138 („die Nähe zu Christus als verpflichtende Nähe“); zwischenmenschliche und göttliche Vergebung der Sünden stehen auch in Mt 6,12.14 f in enger Beziehung. 495 Duling, Brotherhood, 161 („tapestry of brotherhood rules“); Trilling, Israel, 155. 496 Auch Overman, Church, 263; Trilling, Israel, 109 f; Wengst, Demut, 77. 497 Matthäus hat seine Grundlage (Mk 9,33–37) stark verändert; die Hauptfrage selbst betrifft nicht mehr die Rangstellung im Jüngerkreis (Mk  9,34), sondern im Himmelreich; zusätzlich gewinnt die Antwort Jesu bei Matthäus eine ethische Dynamik – στρέφω und γίνομαι bedingen den Eingang ins Reich: εἰσέρχομαι εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν (zu στρέφω in matthäischer Verwendung vgl. Dupont, Ἐὰν μὴ στραφῆτε).

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der im Kap.  18 entfaltete Gemeindeethos daher passionstheologisch zu verstehen sei.498 Ich halte diese Meinung für eine methodisch fehlgeleitete exegetische Schlussfolgerung. M. E. steht Kap. 18 eindeutig unter dem Vorzeichen der matthäischen Toraauslegung (vgl. hier auch Kap. 3.2).499 Eine kleine Synopse wird verdeutlichen, dass die beiden Texte (Mt 5,19–20 und 18,3–4) redaktionell eng aufeinander abgestimmt sind: Mt 5,19b–20

Mt 18,3.4

19b

…ὃς δ’ ἁν ποιήσῃ καὶ διδάξῃ, οὗτος μέγας κληθήσεται ἐν τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν.

4

20 Λέγω γὰρ ὑμῖν ὅτι ἐὰν μὴ περισσεύσῃ ὑμῶν ἡ δικαιοσύνη πλεῖον τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων, οὐ μὴ εἰσέλθητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν.

3

ὅστις οὖν ταπεινώσει ἑαυτὸν ὡς τὸ παιδίον τοῦτο, οὗτός ἐστιν ὁ μείζων ἐν τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν. καὶ εἶπεν· ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ἐὰν μὴ στραφῆτε καὶ γένησθε ὡς τὰ παιδία, οὐ μὴ εἰσέλθητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν.

Auch dort (5,20)500 wird das Hineingehen ins Himmelreich durch einen Konditionalsatz formuliert (ἐὰν501 μὴ περισσεύσῃ ὑμῶν ἡ δικαιοσύνη πλεῖον τῶν 498 So meint ausdrucklich Konradt, Whoever, 105 f; Konradt, Rezeption, 132, Anm. 6: „Damit ist nicht gesagt, dass die mt Ethik sich erschöpfend als vollgültige Explikation des tieferen Sinns von Tora und Propheten bestimmen ließe, denn anderweitige christologische Begründungszusammenhänge, wie sie z. B. in der Rede von der Gemeinschaft in Mt 18 manifest werden, werden dadurch nicht erfasst“ (Hervorhebung R. P.). Ferner Luomanen, Entering, 231: „The second passion prediction still forms an important background for Jesus’ teaching in chapter 18“; Schweizer, Gemeinde, 106: „Dass damit Jesu Lehre über das Leben seiner Kirche mitten zwischen der zweiten und dritten Leidensankündigung steht, scheint ebenfalls für Matthäus von einem gewissen Gewicht zu sein“; Marguerat, Indicatif, 259; auch Thompson, Matthew, ­97–99, aber in einer anderen Richtung: Der Tod Jesu habe den Tempelkult als Heilsmittel ausgeschaltet und somit wird die Frage nach dem direkten Zugang ins Himmelreich (18,1 ff) aufgeworfen. 499 Matthias Konradt bestimmt mittlerweile die matthäische Ethik ebenfalls ausgehend von der Torarezeption (vgl. Ders., Liebesgebot, 74–80), ohne „anderweitige christologische Begründungszusammenhänge“ (vgl. oben Anm. 498). 500 Über eine gewisse Verwandtschaft von Kap.18 mit der Bergpredigt sprechen auch Lührmann, Redaktion, 116: „Thematisch geht es auch hier um das Eingehen in die βασιλεία und die bessere Gerechtigkeit, nur fehlt hier eine Antithese zum Judentum; angeredet ist die Gemeinde selbst“; Foster, Community, 206; Park, Sündenvergebung, 183, verbindet die ‚bessere Gerechtigkeit‘ mit der ‚Selbsterniedrigung‘; Frankemölle, Bund, 181 f; ferner Thompson, Matthew, 81 f; Bornkamm, Lösegewalt, 44: „Die notae ecclesiae dieser Gemeinde sind damit grundlegend von dem, was die jüdische Gemeinde kennzeichnet, unterschieden“; Scheuermann, Gemeinde, 147, mit Hinweis auf das Liebesgebot als „entscheidendes Handlungsprinzip, das über die Zulassung zur Basileia entscheidet“; Nolland, Mt, 731 („thematic link“); Schnackenburg, Großsein, 274, wegen der Komparativform in Mt 5,19. 501 Auch die zahlreichen konditional formulierten Rechtsätze sprechen für eine Platzierung der Gemeinderede eher im Horizont der Gesetzesauslegung als der Passion; ἐάν erreicht in Kap. 18 auch für die matthäischen Verhältnisse eine sehr hohe Dichte (14mal!); diese rechtliche Ausdrucksweise bestimmt das ganze Kapitel (vgl. Schulz, Q, 387; Lührmann, Redaktion, 115).

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γραμματέων καὶ Φαρισαίων). Auffällig ist, wenn man die beiden Konstruktionen nebeneinander stellt, folgendes: Was 18,3 als Grundsatz und Aufforderung an die Jünger als Bedingung zum Eintritt ins Himmelreich formuliert (ἐὰν μὴ στραφῆτε καὶ γένησθε ὡς τὰ παιδία), wird in 5,20a den Schriftgelehrten und Pharisäern grundsätzlich abgesprochen. Diese Feststellung impliziert, dass in Kap. 18 ebenfalls über die „bessere Gerechtigkeit“ gesprochen wird. Noch mehr, 23,5–7 kann man eine entgegengesetzte Sitte der Pharisäer und Schriftgelehrten entnehmen: Titel- und Geltungssucht – was sie wiederum in die Kategorie derer einordnet, die zu den hier (18,3 f und 23,12) dargelegten Anforderungen im schroffen Gegensatz stehen. Die Selbsterniedrigung als Ausdruck der Gottes- und Nächstenliebe scheidet aus der Perspektive von Matthäus „pharisäisches Judentum und Gemeinde“.502 Der Eindruck, dass Kap. 18 trotz der eindeutigen Widmung der Gemeindeproblematik auch eine geheime Agenda hat und zwischen den Zeilen das eigene Ethos als Kontrastbild zu einem hier nicht expressis verbis formulierten Gegenansatz konstruiert, lässt sich auch anhand weiterer möglicher Verbindungen erhärten: Warnt Jesus seine Jünger in 18,5–10 aufs Schärfste davor, die Kleinen der Gemeinde in allerlei Form zu verführen oder zu Fall zu bringen, so unterstellt er den Autoritäten in 23,4, sie würden den Menschen unerträgliche Bürden auf die Schultern legen. Selbst in Bezug auf das verirrte Schaf503 in 18,12 ist ein fremder Agent nicht ausgeschlossen, der es anlockt und in die Irre führt – dafür sind die Pharisäer häufig als blinde Führer gebrandmarkt; auch 18,18 ist parallel zu 23,13 zu lesen: „Der Vorwurf Jesu […] geht dahin, dass die Pharisäer und Schrift­gelehr­ ten […] das Gesetz so auslegen, dass sie die Tür zum Himmel verschließen“.504 Das matthäische Vergebungsethos ist ihnen ebenfalls fremd: Judas sieht in 27,3–10 ein, dass er unschuldiges Blut verraten hat, und es reute ihn (27,3: μεταμέλομαι), er wird aber von seinen Auftraggebern im Stich gelassen (27,4b: τί πρὸς ἡμᾶς;); der große Verleugner der matthäischen Jesusgeschichte  – Petrus, der pro­to­ty­ pische Jünger, kennt selbst den Abgrund der bitteren Reue (26,75: ἔκλαυσεν πικρῶς), findet aber zu Jesus und den anderen zehn Jüngern zurück. Schließlich weist die matthäische red. Arbeit selbst in diese Richtung, solange die leitende Idee von 18,4 in 23,12 eine deutlich antipharisäische Entsprechung findet;505 die 502 Schweizer, Gemeinde, 109. Schnackenburg, Großsein, 274 f, lehnt die Möglichkeit einer Polemik hier ab. Es stimmt, Matthäus fokusiert auf das Gemeindeethos, aber gewisse Querbezüge machen m. E. eine implizite Verbindung mit der sonstigen antipharisäischen Polemik plausibel. 503 Die kurze Parabel nimmt das bei Matthäus bedeutende Bild des Israel als hirtenlose Herde auf (2,6; 9,36; 10,6.16; 14,14; 15,24; vgl. Ps 100,3). Eine gewisse Kritik der Führerschaft im Sinne von Ez 34 dürfte auch hier anklingeln. 504 Söding, Lehret, 45. 505 Vgl. auch Hoet, Omnes, 92; Thompson, Matthew, 79, 137 f. Der Unterschied zwischen den Logien (in 18,4: der größte im Himmelreich; 23,12: der Größte unter euch, vgl. Park, Sündenvergebung, 182) ist wegen der verkehrten Verhältnisse zwischen Himmel und Erde nicht

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Familienmetaphorik aus Kap. 18 (V. 152.21.35: ἀδελφός; V. 10.14.19.35: πατήρ) wird in 23,8–12 ebenfalls erneut aufgenommen (V. 8: ἀδελφός; V. 92: πατήρ). Damit sind die Weichen für die Analyse des nächsten ethischen Grundtexts (23,8–12) gestellt; es überrascht nicht mehr, dass Ethik und Polemik so eng miteinander verbunden sind – es geht darum, das eigene Ethikverständnis als Kontrastbild506 zum Verhalten der Gegner zu profilieren. Dieser wesentliche sozialpsychologische Prozess und sein spürbarer Niederschlag in der Konstruktion des matthäischen ethischen Selbstbildes machen nach dem kurzen sozialpsycholo­ gischen Exkurs das Thema der nächsten zwei Unterabschnitte aus.

4.3.2 Spaltung in Israel: Kognitive / ethische Gegenüberstellung der Gruppen als sozialpsychologischer Kontrasteffekt 4.3.2.1 Von der Akzentuierung zum Mirror image-Effekt und zurück Das Gruppenverhalten ist nicht durch rein interne Kräfte bestimmt. Die Beschreibung der Gruppendynamik wäre ohne die Berücksichtigung der Be­ziehungen zu den sozialen Partnern unvollständig. Eine soziale Einheit lebt von der kontrastierenden oder annähernden Beziehung zu ‚signifikanten Anderen‘; nur indem man sich von ihnen abgrenzt, gewinnt auch die eigene psychische und soziale Distinktheit an Profil. Anders gesagt: „This is a matter of simple logic: there is no ‚us‘ without ‚them‘“.507 Es ist deswegen unabdingbar, in diesem Zusammenhang nochmals über soziale Vergleiche zu sprechen, denn soziale Vergleiche und die dadurch erzielte positive Distinktheit – der Mehrwert der eigenen sozialen Identität – sind zwei Seiten derselben Medaille.508 Der Vergleich ist dabei das praktische Instrument, um die eigenen Einstellungen, Fähigkeiten, Verhaltensweisen gegen die der anderen abzuwägen und zu bewerten. Aus den Vergleichen wird natürlich erwartet, dass die Ergebnisse für die Eigengruppe günstig ausfallen.509 Denn eine Identität und das entsprechend erhöhte Selbstwertgefühl (Self-esteem) entwickeln sich besonders aus den Unterschieden zu den anderen sozialen Akteuren. Der Mensch hört nie auf, sich selbst in Bezug auf eine relevante situative Ebene zu redefinieren und sich eine abstrakte personale / soziale Identität zuzuweisen. signifikant  – der Größte ‚unter euch‘ ist schließlich der Kleinste (vgl. 18,4), weil nur er der Größte ‚im Himmelreich‘ sein kann. 506 Das wird allgemein erkannt (Garland, Intention, 57: „These verses were intended to contrast the representatives of Israel with Jesus Messiah and the disciples“; Carter, Margins, 454), die Konsequenzen für die Intention der ganzen Rede werden aber nicht unbedingt gleich gezogen. 507 Reid u. a., Self-Categorisation, 244; Bauman, Wir, 61; Cook-Huffman, Identity, 27: „The process of becoming ‚us‘ is inexorably linked to the creation of ‚other‘“. 508 Thomas, Grundriss, Bd. 2, 227; vgl. auch 1.2.2. 509 Turner, Comparison, 236: „In other words, to achieve positive social identity, ingroupoutgroup comparison must yield perceived differences which favour the ingroup“.

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Das ist eine Hauptaussage der von John Turner u. a. entwickelten Theorie der Selbstkategorisierung (Self-Categorization Theory).510 Durch die Zuschreibung einer sozialen Kategorie übernimmt man die dazugehörigen stereotypischen Züge, sodass die Ähnlichkeiten innerhalb der Gruppe immer größer werden. Zugleich aber werden die Differenzen zu den anderen Kategorien überakzentuiert: Der Prozess der Kategorisierung accentuates similarity among stimuli […] belonging to the same category and differences among stimuli belonging to different categories on dimensions believed to be correlated with the categorisation.511

Eine Kategorie wird als zusammenhängende Einheit betrachtet, wenn die wahrgenommenen Unterschiede innerhalb der Gruppe durchschnittlich geringer als die wahrgenommenen intergruppalen Unterschiede erscheinen.512 Die Kategorie geht in dieser Hinsicht als eine Größe hervor, die Eigenschaften fokalisiert, die sich kontrastierend von einem Hintergrund abheben (dichotomous classification). Konflikte schaffen günstige Bedingungen dafür, dass solche inhärenten und an sich harmlosen Prozesse für die Gruppenbildung gravierende Stufen erreichen. Konfliktbeteiligten weisen die Tendenz auf, sich oft einer dualistischen Rhetorik zu bedienen.513 Die Eskalationsdynamik – wie m. E. auch hinter dem MtEv anzunehmen ist  – bringt Selbst- und Fremdbild in einen schroffen Gegensatz zueinander. Die erwähnten kognitiven und motivationalen Mechanismen sorgen nun unter anderem dafür, dass eine gewisse symmetrische aber spiegelverkehrte Beziehung (mirror image) in Gang gesetzt wird.514 Die Selbst- und Fremdwahr 510 Vgl. dazu Turner u. a., Rediscovery; Mummendey / Otten, Theorien; Hogg / McGarty, Self-categorisation; Haslam, Psychology, 28–37. SCT und SIT bilden zusammen den Ansatz der sozialen Identität, vgl. Hogg, Categorization, 205: „Social identity theory and self-categorization theory can be considered to be different but compatible emphases within a general social identity approach“. 511 Abrams / Hogg, Introduction, 12; vgl. auch Wenzel / Waldzus, Theorie, 232. 512 Dieses Prinzip heißt „Metakontrast“. Vgl. dazu Turner u. a., Rediscovery, 46 f, Hogg /  McGarty, Self-categorisation, 13; Wenzel / Waldzus, Theorie, 233–234; auch als „komparative Passung“ (comparative fit) bekannt, vgl. Turner, Issues, 13.  513 Robinson / Kray, Status, 139, 146, 152; Keen, Bilder, 21: „Homo hostilis ist unheilbar gespalten, ein moralisierender Manichäer“; Scherer, Mensch, 116: „Wenn Konflikte zwischen Gruppen herrschen, sind Helden / Schurken – Stereotypen wahrscheinlich“. Vgl. auch Graumann / Wintermantel, Discriminatory, 190: „Wir sind nicht wie die anderen“; Thornborrow, Language, 142: „In places where there is social conflict there will often be linguistic conflict too“; Bauman, Wir, 62: „Jede Seite [empfängt] ihre Identität aus der bloßen Tatsache, dass wir sie in einem antagonischen Verhältnis zum jeweiligen Gegensatz stehen sehen“. 514 Kelman, Approach, 179; Ders., Images, 280; White, Images, 259 („process of cognitive distortion“); auch Bronfenbrenner, Mirror Image, 50; Deutsch, Features, 42: „Parties in an extended conflict process […] often tend to become mirror images in some respect“. In Bezug auf eskalierte Konflikte äußert sich auch Kriesberg, Nature, 71, sehr ähnlich: „Each side’s collective identity is shaped in opposition to the enemy“.

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nehmung kann so verzerrt sein, dass der Gegner zunehmend diabolische Züge annimmt und das Verhältnis zwischen den Gruppen einer strengen ‚schwartzweiß‘-Logik515 nicht mehr entkommen kann. „Das Bild des Feindes wird in ebenso düsteren und furchteinflößenden Farben gehalten wie das der eigenen Gruppe in lichten und angenehmen“.516 Wie diese Prozesse verlaufen, kommt schlussendlich auf die Kommunikation an; deswegen ist es angebracht, dieselben Phänomene auch aus der Perspektive der Soziolinguistik zu betrachten. Die soziale Spannung bewirkt eine „sozio­ linguistische Distinktheit“ oder „Sprachdivergenz“ – ein Phänomen, das besonders in interethnischen Verhältnissen beobachtet wurde,517 aber auch auf eine allgemeine Tendenz hinweist, in relevanten Hinsichten auf linguistischer Ebene Abstand von der feindlichen Umwelt zu nehmen. Die sprachliche Abhängigkeit von der Gruppenzugehörigkeit ist eindeutig. Die kommunikativen Muster innerhalb der Gruppe unterscheiden sich von den Mustern mit Fremden und konstruieren dadurch sprachliche Differenzen.518 Die Dynamik der Gruppendifferenzierung hinterlässt klare Spuren auf sprachlicher Ebene, wobei nun die Sprache nicht nur eine soziale Lage widerspiegelt sondern sie teilweise auch bewirkt. Im Matthäusevangelium befinden sich zahlreiche sprachliche Elemente, die die Frage nahe legen, inwiefern manche Gemeindeprozesse hinter dem Text im Lichte dieser sozialpsychologischen und soziolinguistischen Beobachtungen zu deuten sind. Die Tendenz sich kognitiv von der Zielgruppe abzugrenzen, wird in 4.3.2.2 verdeutlicht, indem argumentiert wird, dass nicht das Volk die eigentliche Kontrastgruppe in Mt  13,10–17 ist. Bei näherer Betrachtung tragen wiederum die Pharisäer die Verantwortung für die „Verstockung“ des Volkes. Das Gemeinschaftsverhalten der Jünger wird dann in 4.3.2.3 als ethischer Kontrast zur Lieblosigkeit und zur Geltungssucht der Pharisäer und Schriftgelehrten dargelegt. 4.3.2.2 Kognitive Überlegenheit: „Wenn ihr aber wüsstet…“ Um die Konfliktkonstellation nochmals zu verdeutlichen, nehme ich den Faden von Abschnitt 4.3.1.1 wieder auf. Wie gesehen, ist keineswegs die Volksmenge der bekämpfte Gegner Jesu oder der Jünger. Der eigentliche Opponent und 515 White, Images, 266; Glasl, Konfliktmanagement, 269; Bauman, Nutzen, 62: „Eine Out-Group ist für die In-Group genau jener imaginäre Gegensatz, den sie für ihre Identität, für ihren Zusammenhalt, ihre innere Solidarität und emotionale Sicherheit benötigt“; Kelman, Dimensions, 209, 223, 225 („diametrical oppossites“); McNeil, Nature, 51. 516 Bauman, Nutzen, 69. Passend dazu Dietzfelbinger, Frömmigkeitsregeln, 195: „Man mußte das eigene Profil herausarbeiten, und man tat es, indem man das Profil der Synagoge deformierte“. 517 Giles / Johnson, Role, 217; Kraus / Chiu, Language, 65. 518 Das Phänomen wurde im Rahmen der interethnischen Forschung besonders in der so genannten Speech Accommodation Theory untersucht; vgl. dazu Giles / Coupland, Language, 60–93; Giles / Smith, Accommodation, 45–65.

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zwar beider Gruppen (Christen und jüdische Volksmenge), steht an der Stelle (13,10–17) nicht im Mittelpunkt, sein Einfluss auf die Ereignisse kann man aber unschwer an einigen Aspekten aufspüren. Die Jünger und das Volk werden in diesem Passus deutlich einander gegenübergestellt; die Ereignisse, die zu diesem Anlass geführt haben, bleiben aber nicht völlig durch Fremdkräfte unbeeinflusst. Die Sämann-Parabel betont eben, wie sehr der Ertrag von ‚Umweltfaktoren‘ abhängt. Unterschiedliche Einflüsse sind hier am Werke, die Lage ist kein absolutes datum, obwohl alles durch die Propheten schon angekündigt war. Man hat schließlich mit Folgen zu kämpfen, die durch Dritte verursacht wurden. Der ‚aktive‘ Teil sind nicht so sehr die Böden mit unterschiedlicher Beschaffenheit, sondern das, was dazu beiträgt, dass die Aussaat fruchtlos bleibt; wenn es keine Hindernisse gibt (wie in 13,8), ist der Erfolg garantiert. Auch wenn man von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgeht, ist die matthäische Anthropologie in 13,3–23 grundsätzlich optimistisch. Die Verstockung des Herzens ist keine eingeborene Eigenschaft und auch keine unüberwindbare Schwäche, sondern wird teils durch feindliche Mächte induziert. Wegen der hohen Übereinstimmungen auf Mikrotextebene – γινώσκω (13,11); συνίημι (13,51 usw.); βλέπουσιν καὶ … ἀκούουσιν (13,16) in Bezug auf die Jünger bzw. βλέποντες οὐ βλέπουσιν καὶ ἀκούοντες οὐκ ἀκούουσιν οὐδὲ συνίουσιν (13,13) in Bezug auf die Volksmenge – kann man die Verhältnisse auf der Makrotextebene leicht übersehen oder sie als Hintergrund für die Exegese dieses Textes herunterspielen. So würde man einen ‚unechten Konflikt‘ einfach konstruieren. Ohne diese Positionierungen im Gesamttext zu berücksichtigen, kann man 13,10–17 leicht falsch einordnen und darin einen grundsätzlichen Schnitt in der Erzählung519 oder sogar eine heilsgeschichtliche Anspielung520 auf die Verwerfung Israels sehen. Hingegen ist mit Jacques Dupont521 anzunehmen: Si donc Matthieu ne s’est pas contenté de reprendre l’antithèse de Marc entre les disciples at la foule, c’est pour lui substituer une antithèse qui oppose les disciples aux Pharisiens.

In 13,19 ist der Ersatz von ὁ Σατανᾶς (Mk 4,15; vgl. auch Lk 8,12: ὁ διάβολος) durch ὁ πονηρός als ein bewusster Verweis auf die Autoritäten zu deuten;522 auch die Verfolgungen und Bedrängnisse aus 13,21 tragen die Marke der feind 519 Kingsbury, Matthew 13, 130 f („turning point“); Harrington, Sage, 63; Wilkins, Disciple, 146. Für Kritik daran vgl. Münch, Gleichnisse, 99; Cousland, Crowds, 258 f. 520 Vgl. Luz, Jesusgeschichte, 102; Sand, Mt, 278: Israel „steht unter dem Gericht ohne es zu merken“; Dupont, Le point, 236: „le discours en paraboles […] se présente comme une condamnation et un châtiment“; jedoch spricht sich der Autor gegen eine Identifizierung der Unverständigen mit dem ganzen jüdischen Volk (ebd., 239, 240, 249) aus. 521 Dupont, Le point, 141. 522 Tilborg, Leaders, 45 („implicit connection“); zur πονηρία als Grundmerkmal der Gegner vgl. oben 2.2.3.

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lich konkurrierenden Mächte.523 Die Turbulenzen aus dem Alltag der bedrückten Gemeinde ziehen sich bis tief in die ‚erzählte Welt des Gleichnisses‘ (eine Erzählung zweites Grades) – ein Indiz dafür, dass dem Evangelisten sehr viel daran liegt, sein Zielpublikum nicht nur mit Gleichnissen zu belehren,524 sondern seine durch Konflikt und Verfolgung gekennzeichnete Wirklichkeit auch wirkungsvoll in die Tätigkeit Jesu als Lehrer fest mit einzubinden. Die schroffen Töne gegen die Menge in 13,10–13 können mit Verlusten der christlichen Missionare in Verbindung stehen, die gegen alle Erwartungen (vgl. 9,37 f) die ‚unverständigen‘ und leicht manipulierbaren Volksmengen525 wegen des Einflusses der religiösen Autoritäten nicht erreichen konnten. Matthäus übersieht dabei aber nicht die echten Gegner, sondern macht sie – auch wenn nur schleierhaft – zu den eigentlichen Verantwortlichen. Denn in der Gesamtkonzeption des Evangeliums ist nicht der Kontrast Jünger – Volk vorherrschend, sondern die eigentliche Konfliktlinie verläuft zwischen Jesus (selbstverständlich zusammen mit seinen Jüngern) und den religiösen Machtinhabern.526 In der Tat verstehen die Hohenpriester und die Pharisäer in 21,45 (ἀκούσαντες … ἔγνωσαν) ganz genau und ohne bevorzugte Belehrung, worum es in der Parabel von den bösen Winzern geht; das ist aber für sie keineswegs vorteilhaft und macht sie auch nicht zu verständigen Jüngern. Auch in 11,25 scheint die Weisheit eher ein Hindernis in der Beziehung mit Gott zu sein. Denn auf der anderen Seite werden eben dieselben religiösen Autoritäten ständig als inkompetente und blinde527 Führer gebrandmarkt. Solche Wiederholungen (15,14[red.]; 23,16[red.].17[red.].19[red.].24[red.].26[red.]: τυφλός) machen die Blindheit zur ‚natürlichen‘ und ‚ansteckenden‘ Eigen 523 Vgl. 5,11–12; 10,16–25; 23,34–36; 24,9–13. So auch Konradt, Israel, 276 f; τὰ πετεινά in 13,4 hatte dieses metaphorische Potenzial, die Agenten des Bösen zu symbolisieren (vgl. Jub 11,11 ff; ApkAbr 13). Zudem gehört ‚das Früchte bringen‘ (13,23) in dem matthäischen Bedeutungsnetz zur ethischen Problematik ‚Wort / Tat‘ – der Mangel an Tun wird bei Matthäus zum Charakteristikum der Gegner (23,3, vgl. unten S. 317–320), manchmal mit derselben Metapher καρπός formuliert (3,7 f; 12,33; 21,43). 524 Die paränetische Seite der Parabel wird immer wieder betont; vgl. Kingsbury, Matthew 13, 62 f. 525 Es ist umstritten, ob das Volk Galiläas (#rah ~a) tatsächlich wegen seiner Entfernung von dem Zentrum durch eine mangelhafte Toraobservanz gekennzeichnet war (vgl. die Diskussion bei Oppenheimer, ‘AM HA-ARETZ, 200–217; jedoch „the Galilaens were less up to date in their knowledge of the development of the halakhah than the Judaeans“, ebd., 216). 526 Damit ist der Meinung von Gnilka, Verstockung, 94, zu widersprechen, demnach: „Matthäus bringt den Kontrast verstehende Jünger – verstocktes Volk, den wir bereits in seinem Parabelkapitel beobachten konnten, in der Gesamtkonzeption seines Evangeliums zum Ausdruck“ (Ders., Verstockungsproblem, 122). 527 Ihre Blindheit bildet den eigentlichen Kontrast zum Verständnis der Jünger, vgl. dazu auch Orton, Scribe, 143: „The understanding of the disciples, over against the couplable blindness of the opponents of Jesus, is a vibrant motif, if not a major theme, in the First Gospel“; die Jünger als Schriftgelehrten „effectively contrast with the scribes-and-Pharisees of 23,13 who ‚shut‘ people (including themselves) out of the kingdom“ (160); ferner Garland, Intention, 123: „The leaders of Israel, as hypocrites, are the antithesis of the disciple“.

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schaft;528 aus diesem Grund können sie das Himmelreich nicht erreichen und versperren auch den anderen den Weg. Sie bemühen sich darum und beteiligen sich aktiv daran (23,13: κλείετε τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν; ἀφίετε εἰσελθεῖν; 23,15: ποιῆσαι ἕνα προσήλυτον; ποιεῖτε αὐτὸν υἱὸν γεέννης), die Menschen vom Himmelreich fernzuhalten. Hingegen werden die Christen durch das Wissen, das die Gemeinde aus der Nähe zu Christus besitzt, zur Heilsvermittlung befähigt. Das missionarische Selbstbewusstsein der Gemeinde wird mit der irreführenden Tätigkeit der Pharisäer parallelisiert und kontrastiert.529 Der matthäische Schriftgelehrte steht im Dienste der Gottesherrschaft wie in dem wahrscheinlich matthäischen Vers 13,52, zu lesen ist.530 Die neubestimmte Gelehrsamkeit ist Teil  eines neuen Selbstbewusstseins in Beziehung mit Jesus und setzt sich von der konkurrierenden abgefallenen und ‚menschlichen‘ Erkenntnis der anderen Gelehrten-Gruppe 528 Blindheit macht die Führer zu Irreführern; der Vorwurf ist ein gängiger polemischer Topos: SapSal 2,21, Philo, VitCont 2.10; Josephus, Bell V 343.572; Ap II 132.142; 1Hen 90,7; 98,15; TestRub 2,9; TestLevi 10,2; 1QS 4,11. 529 Luz, Mt II, 465, bezeichnet 23,23 als einen Vers, „der geradezu ein Gegenbild zu V 19a ist und ihn beleuchtet“; Freyne, Vilifying, 139: „Matthew’s group thereby lays claim to being the messianic people that mediates the blessing of Abraham to all (28,16; cf. 3,9; 8,11), whereas ist Jewish counterparts make their proselytes ‚sons of Gehenna‘“; Rölver, Existenz, 322; Hartin, Woes, 278–279; Saldarini, Matthew, 49, in Bezug auf die ersten zwei Weherufen (23,13.15) („concern rival interpretations of community identity“); Konradt, Israel, 384: „In 23,15 polemisiert Matthäus scharf gegen die Versuche der Pharisäer Proselyten zu gewinnen. Die matthäische Jesuserzählung setzt dem ein anderes Modell der Integration von Nichtjuden in das Heil entgegen“; Wilkins, Disciple, 195. Auch Chilton, Judaic, 117, zu 23,15 („the sort of complaint we might expect of  a community in competition with thriving synagogues in Syria“); Park, Sündenvergebung, 195; Walter, Kirchenverständnis, 135; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 161; Gielen, Konflikt, 325; Kraus, Ekklesiologie, 229 f; Russell, Image, 439; Pesch, Aussagen, 291 („apologetische und kämpferische Reaktion der Christen“). Theissen, Kirche, 96, nimmt zwar hier als Hintergrund eine Polemik an, sieht aber die paulinische Mission als Zielscheibe dieser Aussage. Hingegen bestreitet Frankemölle, Pharisäismus, 171, jede Aktualität an der Stelle: V. 15 sei ein traditionelles Stück ohne einen Gegenwartsbezug. 530 Kremer, Neues, 14 f: „Hier [13,52] wird (wie Mt 23,34 und 5,19) vorausegsetzt, dass es in den Kreisen, für die das Matthäusevangelium geschrieben wurde, mehrere dieser „Schriftgelehreten“ gab“; auch Luz, Jesusgeschichte, 16; Overman, Matthew, 116; Garland, Intention, 49 („Christian counterparts to the scribes“); Zumstein, La condition, 159–163; auch 23,34 kommt hier in Frage, vgl. Moule, Matthew, 99: „for 23,34, being difficult to regard as an original form of the Lord’s word, may be a peculiar form of a scribe-reporter“; Gnilka, Verstockungsproblem, 123: „Auf Grund seiner σύνεσις verkörpert der μαθητής den Typ des neuen Schriftgelehrten, der beim Himmelreich in die Schule gegangen ist“; Ders., Mt II, 276; Byrskog, Only Teacher, 223 f, 241: „Matthew now develops the scribal paradigm and applies it on  a well-known character, namely the disciples“; Hagner, Gospel, 122 („self-description“); Haenchen, Matthäus 23, 43: „Mt 23,34 […] in Verbindung mit Mt 13,52 erweist, dass es wirklich γραμματεῖς in der judenchristlichen Gemeinde gegeben hat“; Tilborg, Leaders, 131–134; Crosby, House, 69; Dupont, Nova et vetera, 925 f; Hummel, Auseinandersetzung, 27; Franke­ mölle, Pharisäismus, 170; Gnilka, Kirche, 45 f; Normann, Didaskalos, 40; Duling, Brotherhood, 167 f, 169 f; Trilling, Amt, 81 („‚Berufsbild‘ des wahren γραμματεύς“).

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eindeutig stark ab: „Das Matthäusevangelium liest sich im Hinblick auf das sich etablierte Lehrhaus wie ein aktueller Gegenentwurf “.531 Der in diesem Abschnitt eher ‚kognitive‘ Kontrast zur Gegnergruppe verschärft sich desto näher man dem Kern der ethischen Problematik kommt. So wie viele Texte des Evangeliums dem Tun der Tora gewidmet sind, dient besonders die Ethik als Mittel, die eigene Identität zu profilieren und den Kontrast deutlicher zu machen. Wie gesehen‚ läuft schon ‚das Wissen‘ deutlich auf die konkrete Applikation hinaus; die ‚gnostische Begrifflichkeit‘ vom 13,10–17 ist von der Tora-zentrierten Gesetzesauslegung nicht zu trennen. Die metaphorischen Früchte aus der Sämann-Parabel als Produkt des Verstehens stehen in einem Kontinuitätsverhältnis mit der wiederholten Aufforderung, die Liebe zum Zentrum des ganzen Verhaltens zu machen. Diese Dimension ist der entscheidende Punkt, um den herum sich die eigene Identität bildet. Die matthäische Gruppe konstruiert sich also eine ‚ethische Kontrastidentität‘. Wie die beiden untrennbaren Prozesse – Identitätsbildung bzw. Delegitimierung der Gegner – im matthäischen narrativen und theologischen Netz zustande kommen, versuche ich, im nächsten Abschnitt zu verdeutlichen. 4.3.2.3 Antipharisäische Ethik im Matthäusevangelium 4.3.2.3.1 Das matthäische Kontrast-Ethos: „Ihr seid alle Brüder“ (23,8–12) Das Stück Paränese Mt 23,8–12 wird adversativ eingeführt (ὑμεῖς δέ),532 nachdem in den ersten sieben Versen des Kapitels die Kritik an dem Verhalten der Pharisäer und Schriftgelehrten im Mittelpunkt stand (vgl. dazu weiter 4.3.2.3.2). Dieser red. Einschub eines traditionellen Stücks533 berechtigt die Frage nach dem Sinn dieser plötzlichen534 Richtungsänderung und nach dem primären polemischen Zug in 23,1–7. „What explains the second feature?“ fragen sich mit Recht Davies / Allison.535 Dieser kuriose Aufbau einer polemischen Rede ist oft als In 531 Kraus, Ekklesiologie, 238. 532 Diese deutliche Abgrenzung geht sicherlich auf Mt zurück: „Das Verhalten der Jünger […] wird zum Verhalten der Pharisäer […] in scharfen Gegensatz gestellt“ (Luz, Mt III, 296). Vgl. auch Davies / Allison, Mt III, 265 („antithetical behaviour“); France, Mt, 862; Gundry, Mt, 457 („δέ makes the instruction antithetic to the description“); Strecker, Weg, 140 (Matthäus stellt „den Pharisäismus schematisch, als Antitypus“ dar); Tilborg, Leaders, 26 („antithesis of the disciple of Jesus“); Brooks, Community, 81; Löning, Auseinandersetzung, 222 („kontrastive Gegenüberstellung“); Garland, Intention, 123; Klein, Bewährung, 160; Hoet, Omnes, 62; Gnilka, Mt II, 276 („negative Folie“); 279: „Das Gegenbild, die Antithese, ist die Ethik des Pharisäers“; Backhaus, Kirchenkrise, 135; Gnilka, Kirchbild, 139 („Antithese“, „Protest“, „Aufweis einer alternativen Ordnung“). 533 Bultmann, Geschichte, 154; Garland, Intention, 61. 534 Garland, Intention, 57 („sudden shift“). Trotzdem nimmt Matthäus aus dem vorherigen Vers 23,7b (καὶ καλεῖσθαι ὑπὸ τῶν ἀνθρώπων ῥαββί) „das Stichwort“ Rabbi auf und sorgt für Kontinuität (Normann, Didaskalos, 28). 535 Davies / Allison, Mt III, 280; vgl. auch Marguerat, Le jugement, 352 („la double­ visée, polémique et parénetique“).

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diz für das Hauptinteresse des Autors verstanden worden.536 Das würde zur Folge haben, dass Matthäus sich nicht so sehr um die Heuchelei der Kontrahenten kümmert, sondern er will vor allem in seinen eigenen Reihen das christologisch orientierte Ethos gegen anbahnende ethische Verfehlungen und hierarchische Tendenzen durchsetzen. Die Pharisäer seien aber keine realen Gegner und dienen dabei, im Rahmen der matthäischen Didaktik,537 eher als abschreckende Beispiele.538 Aus sozialpsychologischer und gruppendynamischer Sicht wirkt aber der Fokuswechsel auf das gewünschte Verhalten innerhalb der Gemeinde keineswegs überraschend. Die soziale Interaktion verläuft oft in dieser Weise: Die eigenen Normen und Werte werden in Abgrenzung von den relevanten Bezugsgruppen formuliert, um den Abstand und die Unterschiede möglichst groß erscheinen zu lassen. Wenn das Verhältnis von einem realen Konflikt gekennzeichnet ist, dann stehen oft Selbstbild und Gegnerbild in einem schroffen Gegensatz zueinander, jede mögliche Ähnlichkeit wird ausgeräumt und ins Gegenteil verkehrt. Was in Kap.  18 nur am Rande zu bemerken war (vgl. oben 4.3.2.3.1), wird hier zum Hauptanliegen: Der brüderliche Ethos als Ausdruck der matthäischen prinzipiellen Nächstenliebe geprägt das Eigenverhalten und bildet einen Kontrast zur heuchlerischen Lebensweise der Pharisäer. Mt 23,8–12 ist deswegen im Rahmen der matthäischen Strategie als Schnittstelle zu betrachten, die zugleich enge Beziehungen zur Gemeinderede hat und ebenso den Abstand zur Fremdgruppe hervorhebt.539 Die auch sonst anzutreffende Machtkritik erreicht hier, die Intensität und die Radikalität betreffend, ein Hoch. „Nicht nur der unberechtigte Titelanspruch [wird] zurückgewiesen, sondern jeder Anspruch überhaupt“.540 536 Garland, Intention, 61: „Verses 8–12 should be seen as a major clue for understanding the entire chapter“; „Matthew was not polemicizing against the integrity of the leadership directing the religious competition down the street“ (121); Hoet, Omnes, 65: „La polémique­ contre les chefs religieux d’Israël est subordonnée à la parénèse de tous les chrétiens “; Tilborg, Leaders, 26: „The anti-pharisaism of Mt is at the service of his own ethics“; Frankemölle, Pharisäismus, 181; Heiligenthal, Werke, 61: Es handelt sich „nicht um eine Auseinandersetzung der matthäischen Gemeinde mit dem Pharisäismus oder dem Rabbinat“, „Matthäus [will] einen internen Gemeindekonflikt lösen“ (ebd., Anm. 138); Frankemölle, Amtskritik, 250; Franke­ mölle, Bund, 189; Balabanski, Eschatology, 138. 537 Zur Kritik dieser Sicht vgl. auch Newport, Sources, 69 f. 538 Garland, Intention, 62 („forbidding exemples“); 121 („purely pedagogical function“); auch Frankemölle, Pharisäismus, 148 („für die soziologisch-theologische Funktion des gesamten Matthäusevangeliums in der Kommunikation mit der christlicher Gemeinde des Matthäus“); der Polemik ist „die Gemeindeparänese übergeordnet“ (157); Davies, Stereotyping, 429: „The ‚Pharisees‘ are constructed for a didactic purpose, as the negative stereotype that clarifies the positive“; Senior, Mt, 31; Gelpi, Born, 224 („negative role models both for Christians and especially for their leaders“); Löning, Auseinandersetzung, 219. 539 Vgl. auch Bornkamm, Enderwartung, 18 f: „An dem Gegensatz zur Heuchelei der Pharisäer und Schriftgelehreten“ wird „das Wesen der christlichen Gemeinde“ gezeigt. 540 Sand, Mt, 455; vgl. auch Haenchen, Matthäus 23, 44.

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Obwohl die Quellen ziemlich heterogen sind, ist der Passus relativ straff komponiert. Die drei negierten Imperative (V. 8: μὴ κληθῆτε; V. 9: μὴ καλέσητε; V. 10: μηδὲ κληθῆτε) bilden eine Art ‚Wirbelsäule‘ für die ersten drei Verse; die abgelehnten Titel (V. 8: ῥαββί; V. 9: πατήρ; V. 10: καθηγητής) werden jeweils von einem kurzen argumentativen Zusatz begleitet  – theologischer (V. 9: ὁ πατήρ ὁ οὐράνιος)541, christologischer (V. 8: ὁ διδάσκαλος; V. 10: καθηγητής, ὁ Χριστός) und ekklesiologischer (V. 8c: ἀδελφοί)542 Art.  Die Einheit wird mit den wiederhoten εἷς (V. 8.9.10)543 und ὑμεῖς / ὑμῶν (V. 83.92.10) zusätzlich verstärkt. Die letzten zwei Verse gehören nicht zu derselben Struktur, sondern verallgemeinern ihren Inhalt544 (V. 11: ὁ μείζων und V. 12: ὅστις ὑψώσει ἑαυτόν knüpfen direkt an die Titel an),545 zuerst in einer knappen, apodiktischen Verhaltensanweisung (V. 11), dann in einer Gerichtsansage 541 Die wahrscheinlich matthäische Ergänzung bildet einen Gegensatz zu ἐπὶ τῆς γῆς. Es ist jedoch sehr umstritten, wer mit „Vater auf der Erde“ gemeint ist; allgemeinen Bedeutungen wie „religiöse Lehrer“ (Prov 4,1; Sir 3,1; 4Makk  7,1.5.9.11) oder sogar der „römische Kaiser“ (vgl. Carter, Margins, 454) stehen spezifischere, textbezogene Varianten zur Seite: konkrete christliche / jüdische Führer, die Patriarchen oder die Väter der pharisäischen Überlieferungen (vgl. Garland, Intention, 59, Anm.  98; Zahn, Mt, 643). Für die letzte Möglichkeit kann zusätzlich auf Mt 15,2.3.6.9 verwiesen werden, die menschlichen (weltlichen) Gebote (15,9: ἐντάλματα ἀνθρώπων) würden auch zum hier konstruierten Kontrast von Himmel-Erde gut passen. Die religiöse Tradition der Väter, die Jesus in Kap. 15 angreift, wird oft in Zusammenhang mit den Pharisäern erwähnt (Gal 1,14; Josephus, Ant XIII 297.408); es ist deswegen nicht ausgeschlossen, dass hier der himmlische Ursprung der Gemeindelehre hervorgehoben wird; mit Hinweis auf Pirke Aboth vgl. auch Garland, Intention, 60, Anm. 98; Zimmermann, Lehrer, 166 f; Byrskog, Only Teacher, 300: „The context deals with teaching authorities“; Brooks, Community, 81; Viviano, World, 14; Klein, Bewährung, 161: „hier [ist] offenbar die Anwendung des Vater-Titels auf die verstorbenen Lehrer untersagt worden“; Zimmermann, Namen, 567 („irdische Lehrautoritäten“); Duling, Brother­ hood, 160; für die Verwendung als Ehrentitel bei den Rabbinen vgl. Vahrenhorst, Ihr sollt, 317. 542 Umstritten ist, ob 23,8c eine mt Bildung oder in der Tradition vorgegeben ist. Wegen der ekklesiologischen Implikationen des Begriffes ist die Frage nicht belanglos. Mit Luz, Mt III, 298; Hoet, Omnes, 23; Yieh, Teacher, 73; Tilborg, Leaders, 139 f; Brooks, Community, 62, nehme ich einen red. Ursprung von ἀδελφός an. Hingegen Zimmermann, Lehrer, 161 („keineswegs ein spezifischer matthäischer Gedanke“). 543 Für eine Verbindung von εἷς mit der Schema` (Dtn 6,4–9; 11,13–21; Num 15,37–41) argumentieren Byrskog, Only Teacher, 300–302; Luz, Mt III, 309; Davies / Allison, Mt III, 277; Hoet, Omnes, 196 (damit waren auch die Anweisungen über Tephillin [vgl. Anm.  579, S. 320] eng verbunden); der Zusammenhang findet sich also in der matthäischen Anordnung wieder. Mit Mal 2,8–10 ist die Betonung der Einzigartigkeit Gottes mitten in einer Strafrede gegen die Priester vorgegeben (Hoet, Omnes, 197). 544 Sie wurden durch den Evangelisten angehängt, vgl. Luz, Mt III, 297; Hummel, Aus­ einandersetzung, 27; Zimmermann, Lehrer, 160; Zumstein, La condition, 158; Trilling, Amt, 79–80. 545 Die semantische Assoziation zwischen μείζων (V. 11) und br: (im AT bedeutet es einfach „Oberster“ – Jer 39,3.13) als Wurzel für ῥαββί verbindet Anfang und Schluss aufs engste.

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(V. 12).546 Διάκονος und ὅστις ταπεινώσει bilden, auch wenn sie erst im Endabschnitt vorkommen, die eigentlichen thematischen Begriffe und zeigen,547 worauf auch die ersten drei Aussagen hinauslaufen: Die Brüderlichkeit als Zeichen der Anerkennung eines einzigen himmlischen Vaters548 und als Folge der Unterwerfung unter den „einzigen Lehrer“ äußern sich im gegenseitigen Dienen. Diejenigen, die das Eigene suchen und sich auf Kosten des Bruders selbst erhöhen, scheitern unausweichlich im Endgericht. Das Stichwort ἀδελφός bildete schon am Ende von 23,8 eine Klimax,549 nun kann man annehmen, dass es angesichts der matthäischen Applikation in 23,11 f als eine Art Titel550 für den ganzen Paragraphen fungiert. Die Gestaltung der Gemeinschaft ist durch die Brüderlichkeit als Kontrast zu jedem Machtanspruch gekennzeichnet, umso mehr weil man an der Stelle eher μαθηταί, als Korrelativ zu διδάσκαλος, erwartet hätte.551 Das familiäre Ethos wird auf die ganze Gemeinde übertragen552 und dementsprechend 546 Der eschatologische Charakter ist erst bei Matthäus wieder gut sichtbar (ab V. 13 folgen die Weherufe!); Lukas hat sowohl in 14,11 als auch in 18,14 „diese Umwandlung vom gnomischen ins eschatologische Futur“ nicht genutzt (vgl. Schulz, Q, 451, Anm. 362); schon auf der Q-Ebene war „dieser ursprünglich allgemein religiöse Grundsatz […] zu einer grundsätzlich apokalyptischen Verheißung für alle Jesus-Bekenner und -Nachfolger, wie zu einer grundsätzlich apokalyptischen Verwerfung aller von sich aus Reichen, Weisen und Sicheren geworden“ (ebd., 452); vgl. auch Garland, Intention, 80 (V. 12 „marks the transition to the woes“). 547 Zumstein, La condition, 159 : „C’est ainsi qu’il reprend la critique christologique des vv, 8–19 et qu’il la valorise dans un sens parénetique“; Tilborg, Leaders, 139 („ethical meaning of the preceding verse“). 548 Das Verbot in V. 9 jemanden „Vater“ zu nennen und die Bruderlichkeit aus V. 8, sind untrennbar verbunden (vgl. Crosby, House, 108; Frankemölle, Bund, 178; ferner Tilborg, Leaders, 138). 549 Hoet, Omnes, 100: „La finale d’une phrase est souvent une place de relief “. 550 Hoet, Omnes, 109: „Le v. 8 se présente comme la ‚thèse-résumé‘ qui sera dévloppée par la suite“; Frankemölle, Bund, 179: „Wie in einem Motto ist in 23,8 die ekklesiale Struktur der ‚Kirche‘ als Bruderschaft ausgesprochen“. 551 France, Mt, 863; Davies / Allison, Mt III, 276; Haenchen, Matthäus 23, 44; Yieh, Teacher, 74. Knowles, Jeremiah, 212, erklärt diese logische Unstimmigkeit durch eine bewusste Anspielung auf Jer 38,34LXX (καὶ οὐ μὴ διδάξωσιν ἕκαστος τὸν πολίτην αὐτοῦ καὶ ἕκαστος τὸν ἀδελφόν). 552 Der ‚Bruder‘ als ‚Glaubensbruder‘ ist bei Mt oft anzutreffen (5,22; 5,47[red.]; 7,3 f //  Lk 6,41 f; 12,46 ff // Mk 3,31 ff; 18,15 // Lk 17,3; 18,21[red.].35[red.]; 23,8[red.]; 25,40; 28,10[red.], vgl. Joh 20,17); die Bedeutung ist auch sonst im NT (vgl. nur Lk 22,32; Act 1,15 f; 3,17; 7,2.23; 21,7; 28,14.17; Röm 8,29; 1Kor 6,8; Phlm 1; Jak 4,11; 1Joh 2,9 f; 3,10.16 f; Hebr 2,12 usw.) und in der christlichen Literatur als Selbstbezeichnung recht verbreitet (vgl. z. B. ActThom 66; 170; PsClem 2,1; 5,1; 16,4 usw.); „das zeitgenössische Heidentum hat den Gebrauch des Bruderwortes als etwas Neues, selbständig Christliches“ erkannt (vgl. Schelke, Art. Bruder, 639, mit Hinweis auf Lucian, Pereg., 13). Auch die Qumran-Gemeinde hatte den metaphorischen Sinn von xa' für die Gemeindemitglieder aufgegriffen (1QS 6,10.22; 1QSa 1,18; 2,13; CD 6,20; 7,1 f; 14,5; 19,18; 1QM 13,1; 15,4); vgl. auch Josephus, Bell II 122 und Philo, Prob 79: ἀδελφός, in den Berichten über die Essener (zur Familie als Model der Gemeinde vgl. auch Prob 87; VitCont 72.90; Somn II 273); im Sinne von Angehörigen desselben Volkes als Übersetzung von xa', in Gen 29,4;

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weichen auch die machtdefinierten Verhältnisse der neuen ethischen Ordnung, die im Liebesgebot als ein gegenseitiges Dienen (V. 11: διάκονος) ihre Mitte finden. Dasselbe paradoxe Verhalten aus dem Kap. 18 kehrt hier wieder zurück (vgl. besonders 23,12 als Fortschreibung von 18,4,553 mit ταπεινόω als verbindendem Glied) und wird unter Rückgriff auf den Willen Gottes im Gericht für die Gemeinde normiert (‚Regelwort‘).554 Nicht zufällig ist Christus in diesem Kontext vor allem als ‚Lehrer‘555 erwähnt, denn diese Verhaltensweise ist im Grunde genommen die Applikation seiner Gesetzesauslegung, genau so wie er sie in den Streitgesprächen mit den gegnerischen Pharisäern und Schriftgelehrten dargelegt und verteidigt hat: Die brüderliche Hingabe ist eine Form der praktizierten Liebe und macht innerhalb der Gruppe das ethische Grundprinzip aus; sie ist aber zugleich auch ‚die spezifische Differenz‘ im Vergleich zu den schon von Gott verworfenen Pharisäern. Die alternativ passivische (Passivum divinum) und aktivische Verwendung der beiden Verben (ταπεινόω / ὑψόω) in V. 12556 fassen sehr einprägsam den Passus zusammen557 und schaffen einen glatten Übergang zur anschließenden Gerichtsrede.558 Denn ab 23,13 setzt Matthäus unmittelbar mit dem ersten Weheruf fort und führt die Linie von V. 7 gesteigert weiter. Der Grundtenor und der Ex 2,11; Lev 10,4; Dtn 15,3.12; 17,15; Jdc 14,3; Ps 49,20LXX; Jer 22,18; Neh 3,1; 5,10; 1Chr 28,2; 2Chr 31,15; mit der selben Bedeutung auch Josephus, Ant X 201; VII 371; Philo, SpecLeg II 79 (vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch, Art. ἀδελφός, Kol. 29). Die hohe Wertschätzung der Bruderschaft im metaphorischen Sinne als Sorge für den Nächsten (Lev  19,17; Dtn  15,2, neben πλησίον als Übersetzung von [;re)  oder als Freundschaft (2Sam  1,26; 1Kön  9,13; Ps  21,23LXX; 34,14LXX; Prov 17,17; Hiob 19,13) wurzelt ebenfalls im AT. Diese Auffassung ist auch in der hellenistischen Umwelt (vgl. Epict.diss., I 13,3 f; Euripides, Orestes, 735; vgl. Fraisse, Philia, 77, 439) verbreitet. 553 Auf diesen deutlichen Rückbezug machen auch Garland, Intention, 61, Anm.  107; Hoet, Omnes, 92; Sand, Mt, 456; Luz, Mt III, 296, aufmerksam. 554 Sand, Mt, 456. 555 Die Bezeichnung διδάσκαλος ist sonst für Jesus in der matthäischen Sprache nicht hinreichend und negativ konnotiert, das vermindert aber keineswegs die Bedeutung seiner διδασκαλία allgemein (vgl. 2.1.2); in diesem Sinne ist er hier als alleinige Quelle der ethischen Unterweisung präsentiert (zum ‚einzigen Lehrer‘ vgl. auch IgnEph 15,1; IgnMagn 9,2); in der red. Erweiterung 23,10 ist καθηγητής ebenfalls im Bereich der Beziehung ‚Lehrer-Schüler‘ zu verorten; vgl. Winter, Messiah, 152–157; Haenchen, Matthäus 23, 41; Hoet, Omnes, 19 („quasi synonymie“); Strecker, Weg, 217, Anm. 2 („eine genuin-griechische Bezeichnung für den Lehrer“); Normann, Didaskalos, 30 („wegweisender Lehrer“). 556 Die in der synoptischen Tradition auch sonst verbreitete, paradoxe Formulierung (vgl. Lk 14,11; 18,14, Mt 18,4; ferner 1Petr 5,5 f; Jak 4,6.10; dazu Bultmann, Geschichte, 108: „ein geläufiges Wort, das in der Tradition bald hier, bald da angehängt wurde“) greift auf alttestamentliches Gedankengut (Hiob 22,29; Prov 3,34; 29,23; Jes 10,33; Ez 17,24; 21,31) zurück und wird gelegentlich auf Jesus zurückgeführt (vgl. Luz, Mt III, 298). 557 Hoet, Omnes, 63: „Le v. 12 constitue ainsi la charnière entre la prèmiere section et la suite du discours“; Heiligenthal, Werke, 60 („zusammenfassender Charakter“); Pesch, Aussagen, 290 („Zielaussage“). 558 Marguerat, Le jugement, 353 („verdict apocalyptique“).

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Kernpunkt der antipharisäischen Aussagen bis zu V. 7 wie auch ab V. 13 sind genau das Mißachten der Menschen, das Versagen darin, die Liebe Gottes in ihren Taten für die schwer beladenen Mitmenschen erfahrbar zu machen, das Ringen um sich selbst und die eigene Vorrangstellung. Matthäus verwendet für diesen ethisch verkommenen Zustand einen besonderen Begriff – ὑποκριταί. 4.3.2.3.2 Das ethische Gegnerbild: „Sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht“ (23,1–7.13–28) Mt 23,1–7 wird in 22,46[red.] unmittelbar vorbereitet und führt, was die Intensität der Kritik anbelangt, die Streitgespräche weiter. Jedoch ist die matthäische Komposition sehr sorgfältig aufgebaut und die Polemik dermaßen auf die Spitze getrieben, dass man mit Recht einen besonderen sozialgeschichtlichen Hintergrund als Zündstoff vermuten kann.559 Die emotionalen Töne und die Radika­ lität der Vorwürfe waren zwar auch bisher keine Seltenheit, sie erreichen hier aber eine außergewöhnliche Dichte, wodurch das Kap. 23 zu einer Art krönender Zusammenfassung der breit angelegten Auseinandersetzung wird.560 Wie schon in 22,42[red.] ist nun Jesus selbst derjenige, der die Initiative ergreift und wichtige Konfliktthemen in einer quellenmäßig vielfältigen, aber von ihrer Struktur her homogenen, Scheltrede gegen Pharisäer und Schriftgelehrten anhäuft. Die gerichtliche Ausrichtung wird ab V. 13 mit dem Beginn der Οὐαί-Reihe offenkundig, ist aber schon von Beginn an da, solange Kap. 23 m. E. als Verwirklichung der Gerichtsansage 22,44 auf diskursiver Ebene zu betrachten ist.561 Mein Hauptanliegen ist aber, hier die Kritik an den Gegnern als Bestandteil der Konfliktaustragung unter dem Vorzeichen der Ethik zu verdeutlichen. Denn die Anklagen 559 Man geht heute davon aus, dass das Matthäusevangelium als Zeugnis der Auseinandersetzung einer jüdisch-christlichen Gemeinde mit dem sogenannten „formativen Judentum“ entstanden ist; von diesem Hintergrund ist auch Kap. 23 zu lesen. Vgl. Davies / Allison, Mt III, 261; Gielen, Konflikt, 286 f; Sim, Strategies, 498: „Matthew’s harsh polemic against the scribes and Pharisees must therefore be understood within its socio-religious and historical contexts“; Hartin, Woes, 269 f; Gnilka, Mt II, 269; Davies / Allison, Mt III, 261; Hoet, Omnes, 48; Overman, Church, 320: „This social and political legality helps to put in focus the bitter and divisive tone of chapter 23“; Saldarini, Delegitimation, 665; Combrink, Shame, 33: „Although delivering insults can be seen as a fine and frequent art in antiquity, it here obviously suggests a serious conflict between Jesus and his opponents“; Viviano, World, 10; Newport, Sources, 73 („real friction“). Allgemein zur christlich-jüdischen Polemik vgl. auch Michel, Polemik, 197: „Schwere Verfolgungen der christlichen Gemeinde, die uns teilweise Bekannt sind, teilweise aber auch den Hintergrund der Evangelien bilden, stellen den ‚Sitz im Leben‘ dar“. 560 Auch Saldarini, Matthew, 53: „Chapter 23 summarizes the previous conflict […] and prepares for the arrest and death of Jesus“; Ders., Delegitimation, 672; Haenchen, Matthäus 23, 39: Hier beantwortet Matthäus die Frage „Was trennt die Gemeinde von den das geistliche Leben Israels beherrschenden Mächten, Rabbinat und Pharisäismus?“. 561 Vgl. dazu S. 216–218; οἱ ἐχθροὶ σου (22,44b) konkretisieren sich hier schon in 23,2 in der stereotypischen Formel οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι.

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Jesu nehmen vor allem die Verhaltensebene ins Visier und malen, im Vergleich zur eigenen Gemeinde, ein Kontrastbild der Opponenten. Dieses hat zwar mit der geschichtlichen Wirklichkeit kaum etwas zu tun,562 sagt stattdessen aber viel über die Belange und Ängste einer Gruppierung, die sich in der religiösen Umgebung belagert und gefährdet fühlt, aus. Ein erstes Indiz dieser ungünstigen sozialen Konstellation ist schon 23,2: ἐπὶ τῆς Μωϋσέως καθέδρας ἐκάθισαν οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι. Zwei Elemente  – καθέδρας563 und ἐκάθισαν564  – deuten auf eine überlegene Stellung der Pharisäer und Schriftgelehrten in Bezug auf die soziale Anerkennung in Tora-Angelegenheiten.565 Matthäus ist gezwungen, durch die Stimme Jesu einzuräumen, dass trotz des ausgeprägten lehrhaften Charakters seines Evangeliums und des Wertes, der innerhalb der Gemeinde auf Gesetzeslehre gelegt wird, sein Einfluss bei der jüdischen Bevölkerung in seiner Umgebung keineswegs zufriedenstellend ist. Trotz der hohen Ansprüche der Judenchristen, bestimmen ausgerechnet die Pharisäer das religiöse Leben der großen Mehrheit. Dieser Statusquo wird hier aber keineswegs anerkannt, sondern nur konstatiert und auch das nur zähneknirschend. Deswegen ist 23,3a m. E. eine allgemeine Aussage zum Toragehalt ihrer Lehre,566 zugleich aber auch ein rhetorischer Stützpunkt für die 562 Vgl. z. B. Farbstein, Waren, 193–207; Luz, Mt III, 322 (ungerechte „pauschale Etikettierung“); Ders., Jesusgeschichte, 139 f, mit einem knappen Hinweis auf die dahinten steckenden sozialpsychologischen Prozesse: Stereotypen- und Vorurteilsbildung. Hingegen waren sich die Pharisäer selbst der Heuchelei-Gefahr bewusst, wie in bSota 22b; jBer 9,5. 563 Es ist umstritten, ob der „Stuhl Mose“ als konkreter Sitz in der Synagoge oder im symbolischen Sinne als Hinweis auf auf Lehrautorität zu verstehen ist. In relativ späten archäologischen Ausgrabungen der Synagogen in Hammath-Tiberias und Delos, glaubt man daran, entsprechende Steinblöcke identifiziert zu haben, die eine solche Funktion erfüllt haben könnten (vgl. Newport, Sources, 81–85; Newport, Note; Levine, Synagogue, 347–351). 564 Ungefähr Mitte des ersten Jh. hat sich „das Sitzen“ (hbyvy) als Standardhaltung der Gelehrten während des Unterrichts durchgesetzt (vgl. Aberbach, Change, 173). Hier sollte es also bedeuten, dass die Pharisäer und Schriftgelehrter „die Lehrbefugnis in den Synagogen an sich gezogen haben“, vielleicht im Sinne einer „Usurpation“ (Zahn, Mt, 641, mit Hinweis auf Hebr 5,4). Combrink, Shame, 15, versteht die Aussage positiv und stuft sie in seiner sozialrhetorischen Analyse von Mt 23 als „encomium“ ein. 565 Mt 23,2 dürfte Verhältnisse aus der Zeit von Matthäus widerspeigeln, Overman, Church, 321: „‚Moses’ seat‘ […] is  a symbol or metaphor for the authority the Matthean opponents possess“ (Luz, Mt III, 296, schreibt V. 2 Matthäus selbst zu; Davies / Allison, Mt III, 265; Brooks, Community, 62; Hartin, Woes, 268; Haenchen, Matthäus 23, 39, der Quelle M; Mason, Pharisaic, 378, führt diese Aussage auf Jesus zurück. 566 So auch Gundry, Mt, 455: πάντα οὖν ὅσα „does not include their interpretative traditions, but emphasizes the totality of the law“; Gnilka, Mt II, 274; Hagner, Mt II, 659: „Their strong assertion is an approval in principle rather than fact“; „correct statements concerning the righteousness of Torah“; Luz, Mt III, 302: „Οὖν scheint außerdem anzudeuen, dass auch der Respekt vor der Autorität Mose […] seine Konzession erleichterte“; Sand, Mt, 454: „Die Lehrstuhlinhaber zeigen sich dem Volk und den Jüngern Jesu keineswegs als legitime Mose-Interpreten“; Sand, Gesetz, 88 („sofern die Inhaber der ‚cathedra Mosis‘ die Tora des Moses treu weitergeben“). Hingegen meint Brooks, Community, 116: „the authority of the interpretation

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anschließende Attacke.567 Wie auch sonst, kommt es für Matthäus bei der Haltung der Tora auf ihre konkrete Umsetzung an. Genau das wird hier den Pharisäern dezidiert abgesprochen (23,3c: λέγουσιν γὰρ καὶ οὐ ποιοῦσιν);568 allein das würde ihnen nach der matthäischen Gesetzeskonzeption569 den Zugang ins Himmelreich versperren. Wenn man den rhetorischen Zusammenhang berücksichtigt, kann man 23,3a nicht als bedingungslose Anerkennung der pharisäischen Lehrautorität gelten lassen, denn der dünne positive Inhalt schlägt sofort ins Gegenteil um – es handelt sich eher um eine rhetorische Figur mit einem ironischen Oberton.570 Die ersten drei Verse haben eine Titelfunktion, sie formulieren auf diskursiver Ebene das Thema der ganzen Rede – die ethische Verworfenheit der Pharisäer, die Kluft zwischen ‚Lehre‘ und ‚Tun‘ – geben aber implizit auch die soziale Chiffre of the leaders of the synagogue, scribes and Pharisees, is recognized as binding“; Bornkamm, Enderwartung, 22: „ihre Lehre wird nicht angefochten, sondern für verbindlich erklärt“; Syreeni, Separation, 526: „the polemical tone is softened by the approval of the teaching authority of the scribes and Pharisees“; Kümmel, Weherufe, 139 f; Garleff, Urchristliche, 72; Klein, Bewährung, 159 f; Kraus, Ekklesiologie, 235; Rabbinowitz, Matthew, 441. 567 Solche scheinbare „Konzessionen“ erfüllen auf Diskursebene einen doppelten rhetorischen Zweck: einerseits zeigen sie eine wirkliche oder imaginäre Toleranz als Teil der positiven Selbstdarstellungsstrategie (Van Dijk, Prejudice, 131), andererseits dienen sie als Stützpunkt für einen noch stärkeren Angriff (vgl. Windisch, K. O., 39–41; auch Kap. 2 mit dem inspirierten Titel – „Language That Divides“ in: Ruscher, Prejudiced, 15–43); knapp zur Konzession (concessio – παρομολογία) als rhetorisches Mittel vgl. Anderson, Glossary, 92. Die Konzession ist in der Regel sehr kurz und unterstützt anscheinend die Argumente des Gegners (auch Deppermann, Glaubwürdigkeit, 65: Die Zustimmungen „sind kurz und prosodisch unauffällig“), sie werden aber unmittelbar durch eine lange Reihe von Sturmangriffen und Disqualifizierungen fortgesetzt. Vgl. zu 23,3a auch Zahn, Mt, 641: V. 3a ist „vielmehr nur eine Vorbereitung der weiteren Sätze V. 3b und der ganzen folgenden Strafpredigt“; Hummel, Auseinandersetzung, 31 („taktische Anweisung“); Mason, Pharisaic, 376: „The recognition of Pharisaic authority (vs 3a) is quite incidental to the forthright charge of Pharisaic hypocrisy (vs 3b), which is the theme of the subsequent paragraphs“; Luz, Mt III, 301: „V 3a ist dagegen nur rhetorische Vorbereitung auf dieses große ‚Aber‘ von V 3b“; Banks, Jesus, 176. 568 Das eigene Wort nicht einhalten oder durch Taten der eigenen Lehre zu widersprechen, ist ein verbreiteter Topos der antiken Polemik, vgl. Plato soph. 226a; 231e; Philo, Migr 171; PsSal 4,1–12; TestMos 7,3–8; Sen.ep. 108.36; 2Tim 3,5; Tit 1,16; 3,8. Dass Worte von Taten gefolgt werden müssen, ist selbstverständlich; „dem Dogma muss der Nomos und das Werk folgen“ (Heiligenthal, Werke, 20), vgl. Philo, Mut 243; Somn II 302; D.L. 1,58; 2,136; 7,171; 9,37; Dio Chrys. or. 17,2; 70,6; Plato leg. XII 966b; Epict.diss. I 29,35 usw. (vgl. Heiligenthal, Werke, 14–21; Davies, Stereotyping, 419). 569 Gerade die Taten sind maßgebend (gemäß 7,21–23; 12,50; 25,31–46); vgl. Luz, Mt III, 301: „Auf die Taten, nicht auf die Lehre kommt es an“; Wouters, Willen, 115 f; Sand, Mt, 454; France, Mt, 860: „Their behavior in effect annuls their ‚Mosaic‘ authority“; Combrink, Shame, 6 f, 16; Hoet, Omnes, 61; Byrskog, Only Teacher, 324–330: „Doing is a means of appropriating the verbal teaching in the fullest sense […]. Doing is part of the learning process itself in Matthew“ (326); vgl. Philo, Praem 79; Josephus, Ant XX 44; mAv 1,15.17; 3,9.17. 570 So auch Hagner, Mt II, 659; France, Mt, 859; Viviano, World, 3; Grams, Temple, 60 („with a touch of irony“).

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an, unter der die folgenden Scheltworte stehen und von einem äußeren Betrachter angemessen gelesen werden können. Ab V. 4 wird in vier knapp beschriebenen Verhaltensmustern der Grundsatz aus 23,3c exemplifiziert und vertieft. Ursprünglich stand V. 5 in Form eines Weherufes in Q 11,46 und war allgemein an die Schriftgelehrten adressiert (νομικοί). Dementsprechend weist der metaphorische Ausdruck δεσμεύουσιν δὲ φορτία βαρέα auf eine Art der Torainterpretation hin, die den Menschen zur unerträglichen Last wird. Die Bürden sind also als gesetzliche Auflagen zu verstehen,571 die das Alltagsleben unnötig be­lasten. Darin lässt sich schon der Effekt einer verkehrten Lehre erblicken, die Vorhaltung wird aber in V. 4b noch dadurch verstärkt, dass den Angesprochenen Tatenlosigkeit und Gleichgültigkeit („insensitivity“)572 vorgeworfen wird – τῷ δακτύλῳ αὐτῶν οὐ θέλουσιν κινῆσαι αὐτα. In ihrer Beschäftigung mit dem Gesetz kümmert es sie überhaupt nicht, welche konkreten Folgen die halakhischen Bestimmungen haben. Sie wollen nicht einmal „einen Finger bewegen“, um den Bedürfnissen der Menschen entgegenzukommen – darin wird „der Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe […] manifest“.573 Der Kontrast zur Person und Bestimmung Jesu kann nicht größer sein;574 ihre „mauvaise volonté“575 571 Garland, Intention, 50 („rabbinic proliferation of the Law“); Riniker, Gerichtsverkündigung, 114 f; Schulz, Q, 107; Banks, Jesus, 176; Gnilka, Mt II, 274; Newport, Sources, 127 („numerous halakhic formulations“); Sand, Mt, 454 („gemeint sind Verpflichtungen, die man erfüllen muss, um einer bestimmten Anforderung zu entsprechen“); Vahrenhorst, Ihr sollt, 311; Riesner, Lehrer, 341 f, mit Hinweis auf Sir 51,26; mAv 3,5; Maher, Yoke, 98 f. 572 Hagner, Mt II, 659. 573 Gielen, Konflikt, 281, 292; Braun, Radikalismus, 93: „Hier wird vielmehr der Widerspruch zwischen dem Erlassen penibler Halachot und dem Selber-nicht-befolgen solcher Vorschriften bei den Rabbinen ins Auge gefasst als Lieblosigkeit (Hervorhebung von R. P.) gegen diejenigen, welche unter solchen Vorschriften stehen“. 574 Vor allem Mt  11,28–30; 12,19–20, vgl. Nolland, Mt, 925 („negative equivalence“);­ Davies, Stereotyping, 428 („counter-images“); Gundry, Mt, 456 („the contrast is deliberate“); Zahn, Mt, 642, Anm.  66 („das Gegenteil stellt Jesus dar“); Rölver, Existenz, 316; France, Mt, 861; Hoet, Omnes, 61 f („cette allusion oppose, encore implicitement, ces maîtres officiels du peuple au Maître doux et humble“); Harrington, Mt, 320; Davies / Allison, Mt III, 272; Gielen, Konflikt, 292; Garland, Intention, 51. Auch dort ist ὁ ζυγός μου im Lichte der Gesetzesinterpretation zu verstehen, vgl. Strecker, Weg, 173: „Unter κοπιῶντες und πεφορτισμένοι [sind] […] die mit der Last der pharisäischen Satzungen Beladenen zu verstehen“; damit stehen sich in ζυγός („Obliegenheit“, „Verpflichtung“  – vgl. Strack / Billerbeck, Kommentar, Bd.  1, 608–610) Jesu „der Gesetzesanspruch des Messias und der der Pharisäer gegenüber“. Die unmittelbare Nähe der Sabbat-Kontroversen in 12,1–14 macht der Zusammenhang noch deutlicher, vgl. Sandt, Matthew, 320; ebd., 330, zur engen Beziehung 11,30 mit 23,4; auch Zumstein, La condition, 147: „Jésus oppose sa conception de l’obéissance à la Tora à celle du rabbinisme pharisien“; Vahrenhorst, Ihr sollt, 312. 575 Bonnard, Mt, 335; vgl auch Luz, Mt III, 303, Anm.  55: „Durch θέλουσιν erhält die Meta­pher einen moralischen Skopus“; Gnilka, Mt II, 274: „Das subjektive Verhalten wird gebrandmarkt“. Gundry, Mt, 455, verweist auf 21,29; 22,3.37, „where θέλω has recently appeared with the negative in references to the Jewish leaders“.

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entlarvt sie nochmals als unwürdige und hinterhältige Führer. Damit ist auch der Gegensatz zum Eigengruppenverhalten schon jetzt vor V. 8–12 gegeben: Müssen die Jünger im Lichte der Lehre Jesu ständig Rücksicht aufeinander nehmen (vgl. Kap. 18), so zeichnen sich die Pharisäer durch Egoismus und eigennutzorientiertes Agieren, wodurch sie das Vertrauen der Menschen missbrauchen, aus. Pauschalisierend (πάντα δὲ τὰ ἔργα αὐτῶν; „rhetorical ‚all‘“)576 karikiert 23,5 die Scheinfrömmigkeit, ein pseudoreligiöses Verhalten, das schon in der Bergpredigt unter dem Begriff der Heuchelei in drei Textabschnitten (6,2–4.5– 8.16–18)577 kritisiert wurde. Dort wie hier macht nicht das Streben nach öffentlicher Aufmerksamkeit das ethische Grundprinzip aus (6,1: μὴ ποιεῖν ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων πρὸς τὸ θεαθῆναι αὐτοῖς), sondern die inwendige, verborgene Beziehung zum himmlischen Vater. Matthäus zeigt in einer Reihe von Beispielen, wie die Pharisäer alles darauf setzen (vgl. φιλοῦσιν in 23,6; auch 6,5), durch auffälliges Verhalten Lob und Ehre von den Leuten zu erhalten.578 Dafür machen sie die Gebetsriemen579 und die Quasten an ihren Kleidern groß,580 nehmen die vorrangigen Sitzplätze bei Tisch (vgl. Josephus, Ant XV 21) und in den Synagogen in Anspruch und lassen sich gern auf dem Markt Rabbi581 nennen. Diese

576 Davies / Allison, Mt III, 273. 577 Sie gelten ebenfalls den Pharisäern, auch wenn sie nicht ausdrücklich gennant werden (Sand, Gesetz, 91). Zu den gemeinsamen Begriffen vgl. Davies / Allison, Mt III, 266; France, Mt 861; Garland, Intention, 100; Haenchen, Matthäus 23, 42; Gnilka, Mt II, 274. Das komparative bzw. adversative Moment ist auch dort vorhanden, vgl. 6,2: μὴ σαλπίσῃς … ὥσπερ οἱ ὑποκριταί; 6,5: οὐκ ἔσεσθε ὡς οἱ ὑποκριταί; 6,16: μὴ γίνεσθε ὡς οἱ ὑποκριταί bzw. 6,3: σοῦ δὲ ποιοῦντος; 6,6: σὺ δὲ ὅταν προσεύχῃ; 6,17: σὺ δὲ νηστεύων. Noch mehr verbindet δικαιοσύνη sehr eng die „Frömmigkeitsregel“ mit 5,20 und 6,33 (vgl. Tilborg, Leaders, 10,17); auch Mt  23 steht also, wie Mt  18, unter dem thematischen Schirm der besseren Gerechtigkeit. 578 Ein völlig anderes Verhältnis mit der Öffentlichkeit wird von den Jüngern erwartet – ihre guten Werke (5,16: τὰ ἔργα, vgl. 23,5: τὰ ἔργα αὐτῶν) sollten die Menschen (5,16: ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων, vgl. 23,5: πρὸς τὸ θεαθῆναι τοῖς ἀνθρώποις) wie eine Lichtspur zum himmlischen Vater leiten. 579 Trotz der Schwierigkeiten, die sich aus der Verwendung des griechischen τὰ φυλακτήρια ergeben (vgl. Luz, Mt III, 304–305; Newport, Sources, 86), meint hier Matthäus durch Tephillin die Merkzeichen, die in Ex 13,9.16; Num 15,37–41; Dtn 6,8; 11,18 geboten wurden und zentrale Gesetztexte enthalten (Ex 13,1–10.11–16; Dtn 6,4–9; 11,13–21); darunter also das Liebesgebot selbst. Als äußeres Zeichen der Frömmigkeit eigneten sie sich für „arrogant show of piety and learning“ und „could be exploited hypocritically“ (Tigay, Phylacteries, 46, 48). Matthäus bleibt auch hier nahe an der Gesetzesthematik, gerade der Kern des Gesetzes, den sie so ostentativ buchstäblich mit sich herumtragen, ist von ihren Herzen weit entfernt. 580 Πλατύνουσιν und μεγαλύνουσιν kann man mit Hagner, Mt II, 660, als „a symbolism ironically in keeping with the great burdens they imposed (V. 3–4)“ sehen. 581 Der Begriff yBir; entwickelt sich erst später zu einem festen Titel (vgl. Schürer, History, Bd. 2, 325 f: „The usage is not attested prior to the New Testament era“; Zimmermann, Leh-

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Verhaltensweisen haben mit der Bescheidenheit der Tora-Lehrer nichts zu tun, sie dienen nur „zur Befriedigung der Geltungssucht“.582 Erst ab 23,13 bringt Matthäus diesen moralischen Zustand auf den Punkt. Mit dem ersten οὐαὶ δὲ ὑμῖν, γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι ὑποκριταί erreicht auch die emotionale Komponente der Rede583 eine neue Stufe – sie sind mit sprachlichen Mitteln in so einem Maß veranschaulicht, dass die ganze Rede wie ein Gespräch mit Abwesenden wirkt. Mit der stereotypischen Formel (23,13.15.23.25.27.29) werden die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht zu direkten Adressaten gemacht; in diesem Sinne ist die Wehe-Rede weiterhin an Jünger und Volk gerichtet;584sie sind als abwesende angesprochen.585 Was die inhaltliche Bestimmung der ὑπόκρισις betrifft, wird manchmal angenommen, dass sich nicht alle matthäischen Belege auf einen Punkt bringen lassen; d. h. nicht überall ist die Heuchelei als Widerspruch zwischen Wort, Ge­sinnung und Tat die beste Wiedergabe, sondern der gängige alttestamentliche Sinn (siehe unten) schimmert immer noch durch.586 Man kann in den Einzel­fällen in Erwägung ziehen, ob Matthäus über die ‚Standardbedeutung‘

rer, 172; diese Annahme wurde von Shanks, Title, 337–345, in Frage gestellt, wegen mangelnder Quellenlage konnte sich seine These aber nicht durchsetzen); als allgemeine (nicht-titularische) Ehrenbezeichnung konnte jedoch ῥαββί schon damals die Gelehrsamkeit unterstreichen (vgl. Luz, Mt III, 306; Schürer, History, Bd. 2, 325, Anm. 10; Davies / Allison, Mt III, 275; Gundry, Mt, 457; Donaldson, Title, 287–291); offensichtlich ist der Aspekt der Lehre auch in Mt an mindestens zwei Stellen einbegriffen (23,8 durch die Parallelisierung mit διδάσκαλος und entsprechend auch in V. 7b; vgl. auch Joh 1,38; 3,2; wobei 23,7b sicherlich eine mt Bildung ist, um den Übergang zu 23,8 zu schaffen, vgl. dazu Haenchen, Matthäus 23, 42; Luz, Mt III, 297, Anm. 9; Tilborg, Leaders, 18). 582 Gielen, Konflikt, 282. 583 Davies / Allison, Mt III, 308 („the intensity of the emotions“). 584 Gielen, Konflikt, 278; Konradt, Israel, 244; Rölver, Existenz, 370. 585 Davies / Allison, Mt III, 284; Garland, Intention, 120; Hoet, Omnes, 38 („une interpellation à des absents“); 43 („confrontation imaginée“); Frankemölle, Pharisäismus, 153 („Figuren der erzählten Welt“); Combrink, Shame, 11 („they are non present anymore“); Gnilka, Mt II, 271: Es „wird doch nicht zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, sondern über sie geredet“. In diesem Zusammenhang wird auf die rhetorische Figur ‚Apostrophe‘ (oder aversio) hingewiesen (vgl. dazu vor allem Frankemölle, Pharisäismus, 176, der einen sehr informativen Überblick über die rhetorischen Figuren in Kap. 23 anbietet, ebd, 175–179). Anders Luz, Mt III, 291: Die Weherufe „reden die Schriftgelehrten und Pharisäer direkt an“; Nolland, Mt, 932 („still present“). Für Weherufe in der zweiten Person trotz der Abwesenheit der Adressaten vgl. Num 21,29; Koh 10,16; Sir 2,14; 41,8; Jes 33,1; Jer 13,27; 1Hen 94,8 f; 95,5.6.7; 96,4.5.6; 98,9 f.13.14.15; 99,1.2.11.12.13.14; 100,7.8 usw. 586 Garland, Intention, 102: „For Matthew, one defining factor of ὑποκρίσις apparently is its integral association with ἀνομία“; Tilborg, Leaders, 22; Frankemölle, Pharisäismus, 151 (nicht nur „das Sich-Verstellen“, sondern auch „eine Haltung ohne Jahwe“); Seeanner, Barmherzigkeit, 113–115: „Die Bedeutung der Bosheit und Gottlosigkeit [steht] im Vordergrund“ (113); Giesen, Handeln, 219; Sand, Mt, 461.

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hinaus auch andere Nuancen mit ὑπόκρισις zum Ausdruck bringen will, die Grundbedeutung ist aber der bewusst konstruierte Kontrast zwischen ‚Sein und Schein‘. Die leichten Schwankungen können mit der Begriffsgeschichte zusammenhängen, bei Matthäus erfährt aber der Begriff m. E. vor allem eine gewisse semantische Verzerrung im Rahmen der matthäischen ethischen Konstruktion des Feindbildes. Auf das Letztere ist später einzugehen. Zunächächst möchte ich einige Ausführungen zur Sprachgeschichte anschließen. Die semantische Bandbreite der ὑπόκρισις wird durch die komplexe und nicht restlos erklärbare587 Bedeutungsumwandlung bestimmt, die von dem ursprünglichen @nEx' („Gottesverächter, Ruchloser“) zu dem vor allem durch das Neue Testament bekannten ὑποκριτής („Heuchler, Scheinheilige“) führt588 und damit sehr nahe dem gewöhnlichen griechischen (allerdings positiven) Sprachgebrauch des Terminus kommt, ohne aber die negative, hebräische Nuance zu verlieren. Die zugrundeliegende hebräische Wurzel (@nx) bekommt vorwiegend entweder als Verb die Bedeutung „entweiht sein, entweihen“,589 nominal „der ruchlos Gesinnte“590 oder adjektivisch „gesetzlos“;591 als ὑπόκρισις, ὑποκριτής wird sie aber nicht in der LXX, sondern in den übrigen späteren griechischen Übersetzungen widergegeben592  – „the later Greek translators seem to show an almost exact correspondence between Hebrew @nx and Greek ὑπόκρισις, ὑποκριτής“.593 Als wichtige Stationen auf dem Weg zum neutestamentlichen Sprachgebrauch gelten die Makkabäerbücher, die möglicherweise von dem Hintergrund der jüdischen Verfolgungen und dem Versuch mancher unter ihnen, durch Verstellung zu entkommen (vgl. 2Makk 6,21 f.24 f; 4Makk 6,15.17), auch den passenden sozialgeschichtlichen Hintergrund594 für den

587 Vgl. Freyne, Vilifying, 133 f; Garland, Intention, 97, Anm., 20 („puzzle“); Barr, Background, 310 („the word is a difficult one“). 588 Vgl. in dieser Hinsicht Barr, Background, 307–326; Garland, Intention, 96–98, Anm. 20; Tilborg, Leaders, 22–24. 589 Num 35,33; Ps 105,38 (106,38: φονοκτονέωLXX); Jes 24,5 (ἀνομέωLXX); Jer 3,1.2; Dan 11,32 (μιαίνωLXX).9 (μοιχεύωLXX); auch 4Q 175,28. 590 Jes  9,16; 10,6 (ἄνομοςLXX); 33,14; Hiob 8,13; 15,34; 27,8 (ἀσεβήςLXX); 13,16 (δόλοςLXX); 34,30; 36,13 (ὑποκριτήςLXX) – die zuletzt genannten Stellen finden sich nicht ursprünglich in der LXX, sondern wurden sekundär von Th. ergänzt (vgl. Barr, Back­ground, 314). 591 Hiob 17,8; 20,5 (παράνομοςLXX). 592 Vgl. nur einige Belege Jes 9,16; 33,14Aq./Symm./Th.; Prov 11,9Aq.,/Symm./Th.; Hiob 34,30; 36,13Th.; 15,34Aq./Th.; 20,5Aq.. 593 Barr, Background, 315. 594 Vgl. Garland, Intention, 97, Anm.  20; Barr, Background, 315. Auch die gewisse ‚Affinität‘ der Pharisäer mit dem Vorwurf der Heuchelei kann bestimmte geschichtliche Gründe haben. Weinfeld, Charge, 56, verbindet diesen relativ verbreiteten Topos (1QH 2, 31–34; 4QpNah Frgm. 3–4 1,7; 2,8–9; 3,6–7 mit dem steigendem politischen Einfluss der Pharisäer nach dem Tod von Alexander Jannai (103–76 v. Chr., dazu Josephus, Ant XIII 398). Sie bedienten sich nach Ant XIII 405–406 gewöhnlich auch der Schmeichelei: „This historical situation is what gave rise to the stigma of hypocrisy ascribed to the Pharisees“ (Weinfeld, Charge, 56).

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Vollzug dieser Sinnveränderung anbieten.595 Bis in das erste Jh. wird diese Verwendung dominant,596 aus diesem Sprachmilieu speist sich hauptsächlich auch das matthäische ὑπόκρισις-Verständnis.597

Bei Matthäus findet das Begriffspaar ὑποκριτής / ὑποκρίσις eine bevorzugte Verwendung (14+1 im Vergleich zu Mk: 1+1 und Lk: 3+1); einige der Belege stammen aus eigenen Traditionen (6,2.5.16; 23,15598), andere übernimmt er aus den beiden Hauptquellen (7,5 // Lk  6,42; 15,7 // Mk  7,6  – wobei Mt aus περὶ ὑμῶν τῶν ὑποκριτῶν einen Vocativ macht, genau wie auch in 22,18 // Mk 12,15; τὴν πονηρίαν wird hier durch τὴν ὑπόκρισιν ersetzt599), andere wiederum hat er selbst in dem vorgegebenen Texten red. hinzugefügt (23,13 // Lk 11,52; 23,23 //  Lk 11,42; 23,25 // Lk 11,39; 23,27 // Lk 11,44; 23,29 // Lk 11,47; 24,51 // Lk 12,46: μετὰ τῶν ὑποκριτῶν anstatt von μετὰ τῶν ἀπίστων); ὑπόκρισις in 23,28 ist ein besonderer Fall  – als einziger nominaler Beleg befindet sich ὑπόκρισις in einem Vers, der als Ergänzung von 23,27 // Lk  11,44 eindeutige matthäische Merkmale besitzt.600 595 Die ersten Vorboten der semantischen Wandlung werden in 1QS 4,10 und Hiob 13,16 vermutet (vgl. Barr, Background, 311, 314). 596 Sowohl Josephus als auch Philo bieten hierfür reichlich Beweismaterial: ὑποκρίνομαι (Ant I 162.207; VII 37.165; XII 216; XVI 211; Bell I 318.471.518.520; II 617; IV 60.209; V 112; VI 348; Vita 36; Conf 48); eine interessante Stelle ist Bell II 587 – Josephus über seinen Erzfeind Johannes von Gischala); ὑπόκρισις (Imm 103; Fug 34.156; Somn II 40; Jos 67 f; SpecLeg IV 183; Prob 90.99; LegGai 22.162). 597 Dass die Ableitung der mt ὑπόκρισις aus der späteren semantischen Entwicklungsstufe und damit als ‚Heuchelei, Verstellung‘ zu verstehen ist, vgl. Luz, Mt III, 321; Barr, Background, 317–319; Vahrenhorst, Ihr sollt, 347 („Inkongruenz von Reden und Tun“); auch Haenchen, Matthäus 23, 46; Strecker, Weg, 140 f; Gielen, Konflikt, 302; Marguerat, Le jugement, 351; Pesch, Aussagen, 291. 598 Die Provenienz des Stücks ist unterschiedlich beurteilt worden (Brooks, Community, 67, ordnet den Vers der Kategorie „M sayings“; ähnlich auch Hartin, Woes, 272; Gielen, Konflikt, 325: „Möglicherweise ist die Entstehung des Logions auch in der mt Gemeinde selbst anzusiedeln“; Gundry, Mt, 461; Garland, Intention, 127, führt es auf Jesus zurück). Ich gehe davon aus, dass die ausgeprägte missionarische Ausrichtung der matthäischen Gemeinde als Hintergrund zu sehen ist (Haenchen, Matthäus 23, 47: „Der Vers rechnet […] mit der Situation der christlichen Gemeinde, die von den maßgebenden Vertretern des Judentums in ihrer Mission behindert sind“; Bonnard, Mt, 338). 599 Dieser Tausch sollte aber nicht so wirken, dass ὑποκρίσις nach Matthäus von seiner spezifischer Bedeutung verliert (vgl. z. B. Garland, Intention, 101, Anm. 29: „Matthew’s account does not stress their insincerity so much as their malice“; auch Barr, Background, 318 f), er personalisiert aber die Aussage in ὑποκριταί und fügt zusätzlich auch die πονηρία als Grundmerkmal der Gegner hinzu; ähnliches passiert auch in 24,51 // Lk  12,46. Dort werden die „Ungläubigen“ durch den schon besetzten Namen „Heuchler“ ersetzt (Tilborg, Leaders, 24, vermutet Lk hätte geändert; vielmehr hat Mt seine Vorzugsvokabel eingefügrt, so auch Luz, Mt III, 459). 600 V. 28 „[geht] wahrscheinlich ganz auf den Evangelisten zurück“ (Luz, Mt III, 340; vgl. auch Gundry, Mt, 467; Hagner, Mt II, 666).

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V. 23,13 könnte den falschen Eindruck erwecken, dass die Pharisäer und die Schriftgelehrten nach der Meinung von Matthäus den Schlüssel zum Himmelreich tatsächlich besitzen601 (κλείετε τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν; vgl. auch Lk  11,52: ἤρατε τὴν κλεῖδα τῆς γνώσεως). Mt  5,20 zeigt aber, dass dies nicht der Fall sein kann; nach 16,19 und 18,18 hat Gott diese Vollmacht den matthäischen Christen überlassen.602 Wahrscheinlicher ist es, dass hier der falsche Anspruch angeprangert ist, dass sie sich den Zugang zum Heil verschaffen können (im Sinne von 23,2). Die leitende Rolle, die sie stolz übernehmen, wird zur Falle für alle, die sich ihnen anschließen. Ihre übertriebenen Forderungen im Namen einer angeblich durch Gott autorisierten Führungsstellung täuschen. Noch mehr halten sie durch die Bekämpfung der christlichen Mission die Menschen absichtlich davon ab, das Himmelreich zu erreichen.603 Der Bezug auf die Lehre ist an dieser Stelle offensichtlich;604 das Versagen der jüdischen Führungsschicht Heil zu vermitteln, wurzelt in der falschen Gesetzesauslegung, wie auch in 23,23–24. Sehr eng damit verbunden605 ist der nächste Weheruf (23,15), der den Vorwurf der Heuchelei in ähnlicher Weise illustriert. Der Autoritäts- und Vertrauensmissbrauch gewinnt in diesem Vers besonders sarkastische Züge: Sie verausgaben sich (περιάγετε τὴν θάλασσαν καὶ τὴν ξηράν), um auch nur einen einzigen (ἕνα) Proselyten zu gewinnen,606 scheitern (vgl.

601 So z. B. Gielen, Konflikt, 303: „Damit unterstreicht er freilich nur noch einmal, was er bereits 23,2–3a Jesus durch die grundsätzlich Akzeptanz ihrer Lehrautorität aussprechen ließ, nämlich die generelle Anerkennung ihrer religiösen Führungskompetenz“ (Hervorhebung im Original); Haenchen, Matthäus 23, 40: „V. 2 erkennt diese Forderung an: er beschwert sich keineswegs, sondern stellt fest“; Newport, Sources, 134; Schulz, Q, 111; Gnilka, Mt II, 285. 602 Saldarini, Delegitimation, 673: „The image of shutting […] recalls that Matthew claims for his assembly the keys to open the kingdom of heaven“; Hoffmann, Petrus-Primat, 98: „Petrus soll – in Gegenüberstellung zu den jüdischen Schriftgelehrten – als der von Jesus ein­ gesetzte Träger der Lehrgewalt vorgestellt werden“; Konradt, Israel, 204: „Im Makrotext ge­ lesen bildet 16,19 das Pendant zum Weheruf in 23,13“. 603 Nolland, Mt, 933: „Matthew is likely to see all this in the light of the opposition of the scribes and Pharisees in his own day to Christian mission“; ähnlich Zahn, Mt, 644. 604 Vgl. auch Garland, Intention, 127: „Their teaching fogged the simple and central truths of the Law with casuistry. This is the basic thrust of 23,13“; vgl auch Luz, Mt III, 323; Hagner, Mt II, 668; Weinfeld, Charge 54; Schulz, Q, 111. 605 Combrink, Shame, 3: „Woe 1 and Woe 2 are linked and seem to form a pair“; Hoet, Omnes, 65 : „Il faut reconnaître en eux un premier diptyque dans la série des vae“; Gielen, Konflikt, 304. Anders Bonnard, Mt, 338 : „il ne se rattache vraiment ni à ce qui précède ni à ce qui suit“. 606 Hier ist nicht die passende Stelle, um über die Existenz einer regelrechten Heiden­mission im antiken Judentum zu entscheiden. Gegen diese Annahme, wie von Feldman, Jew, vertreten, äußern sich Bird, Crossing; McKnight, Light; zurückhaltend oder dezidiert ablehnend ist Goodman, Mission.

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15,14) aber zusammen kläglich („Schicksalverflochtenheit“).607 Auch dieser Weheruf ist im Horizont der Gesetzesauslegung zu betrachten: Der glühende Eifer der Neu-Konvertierten manifestiert sich in der Abhängigkeit von den Ritualgesetzen,608 die nach ­Matthäus die pharisäische Auslegung und Praktik kennzeichnet (23,23). Einen willkürlichen Umgang mit dem Gesetz, der auf einer Interpretation beruht, die Gott selbst aus dem Diskurs ausschließt, legen die Pharisäer und Schriftgelehrten auch im dritten matthäischen Weheruf an den Tag (vgl. dazu auch S.  239 f); sie verbergen sich hinter kasuistischer Wortspielerei und ver­ nachlässigen den Gesetzeskern.609 Dieser vielfältig variierte Hauptvorwurf nimmt in der nächsten Weherufen-Trias (V. 23 f; V. 25 f; V. 27 f) noch verstärkt die Gesetzesproblematik in den Blick, bevor es ab V. 29 nach einem steilen Sprung mit der Prophetenmordbeschuldigung weitergeht (vgl. 4.2.3.3). Nun gilt es, anhand dieser drei Weherufe das matthäische ὑποκρίσις-Verständnis näher zu bestimmen. Die leitende Frage ist dabei, ob der traditionelle Begriff der Heuchelei in mancher Hinsicht nicht solche Züge annimmt, die ihn zu einer ‚Negativfolie‘ im Vergleich zu den fundamentalen matthäischen Gruppenwerten, die mehrmals im Liebesgebot zusammengefasst werden, machen. Zuerst (23,23 f)  ist das im Gesetz Mose festgelegte Zehntengebot der Ausgangspunkt für den Angriff. Jedoch stellt der matthäische Jesus mit keinem Wort die Verbindlichkeit dieses Gebotes in Frage (ταῦτα [δὲ] ἔδει ποιῆσαι), sondern karikiert durch sarkastische Übertreibung die Praxis seiner Kontrahenten. Dadurch wird der Kontrast zum eigentlichen Vorwurf noch größer: Ihre akribische Beschäftigung mit dem Zehnten geschieht mit dem Preis, dass sie gewich-

607 Gielen, Konflikt, 325. Wobei nicht die neugewonnen Proselyten hier im Zentrum der Attacke stehen, sondern ihre Missionare: „It is the scribes and Pharisees who are to blame for deceiving the proselytes about God’s will for Israel and the nations“ (LaGrand, Mission, 154). 608 Das könnte die richtige Auslegung von υἱὸν γεέννης διπλότερον ὑμῶν sein (vgl. Luz, Mt III, 325: „Vielleicht steht dahinter die Erfahrung, dass heidnische Konvertiten […], das Ritualgesetz besonders erstgenommen haben“; Garland, Intention, 130–131, 151; Zahn, Mt, 645 („Fanatismus der Konvertiten“); auch Haenchen, Matthäus 23, 47; Feldman, Jew, 338; McKnight, Light, 107. 609 Die spöttischen Töne richten sich gegen die Schwurpraktiken der Pharisäer, die zwischen gültigen und ungültigen Eidformeln unterschieden und somit freien Raum für Missbrauch geschaffen haben. Garland, Intention, 136: „The scribes and Pharisees are therefore condemned in this woe as false teachers. The primary issue is their interpretation“; Gundry, Mt, 463; H ­ aenchen, Matthäus 23, 48 („Absehen von Gott“); Combrink, Shame, 6 („ignoring God and and the most important dimensions of the Law“); Sand, Mt, 460 („kultorientierte Haarspalterei“). Zum unangemessenen Umgang mit dem Gesetz vgl. TestLevi 14,4 („Ihr [lehrt] den Rechtssatzungen Gottes entgegenstehende Gebote“); 1Hen 99,2; 1QpHab 8,10; 1QH 4,10– 12. Ihre kasuistische ‚Klugheit‘ macht sie zu Narren (μωροί in 23,27; zu diesem polemischen Topos vgl. auch Plato soph. 200d, 267e; Dtn 32,6; Ps 93,8LXX; Jer 5,21; Jes 19,11 – weitere Stellen bei­ Davies, Stereotyping, 420 f, Anm. 19).

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tige Teile der Tora610 vernachlässigen. Diese Pflichten fasst Matthäus nach einem traditionellen Muster611 in einer Trias – κρίσις, ἔλεος, πίστις – zusammen; mit jedem der Termini kommt der Redaktor seinen Hauptanliegen sehr nahe. Das erste Glied bezieht sich auf die Rechtsprechung im Gericht612 und beansprucht die gerechte, nicht diskrimininierende Behandlung jedes Menschen; mit dieser Bedeutung kommt κρίσις bei Matthäus nur noch in 12,18–21 (Zitat Jes 42,1–4) vor. Die Bemühung, jeden zu seinem Recht kommen zu lassen, wird mit ἔλεος gesteigert: Die Barmherzigkeit gegenüber den Menschen (aus Hos 6,6 in 9,13; 12,7), deren Fehlen den Pharisäern schon oft vorgeworfen wurde, ist hier als ein direkter Hinweis auf das Liebesgebot zu verstehen;613 πίστις ihrerseits würde in dieser Reihe, trotz der übrigen Vorkommnisse, die immer mit „Glauben“ zu übersetzen sind (8,10; 9,2.22.29; 15,28; 17,20; 21,21), nur in ethischem Sinne als „Treue“/„Zuwendung“ passen.614 Matthäus bemüht sich hier 610 Die Formulierung τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου setzt ein differenziertes Gesetzverständnis voraus, mit Geboten, die ‚schwerer wiegen‘ als die anderen; das ist im Sinne von 7,12 und 22,36–40 auch zu erwarten. Vgl. Sandt, Matthew, 334; Luz, Mt III, 332; Gielen, Konflikt, 330; Davies / Allison, Mt III, 293 f; Seeanner, Barmherzigkeit, 109; Vahrenhorst, Ihr sollt, 342. 611 Oft werden die Tugenden / Gebote in kleinen Gruppen zusammengefasst: Mi 6,8 (κρίμα, ἔλεος); Hos 2,21 (δικαιοσύνς, κρίμα, ἔλεος, οἰκοδομός, πίστις); 6,6 (ἔλεος, ἐπίγνωσις); 12,7 (ἔλεος, κρίμα); Sach 7,9 (κρίμα, ἔλεος, οἰκτιρμός); Jer 9,23 (ἔλεος, κρίμα, δικαιοσύνη); 22,3 (κρίσις, δικαιοσύνη); Jes  1,17 (κρίσις, δικαιοσύνη); Ps  88,15LXX (δικαιοσύνη, κρίμα, ἔλεος, ἀλήθεια); 100,1LXX (ἔλεος, κρίσις); Prov 14,22 (ἔλεος, πίστις); Sir 45,4 (πίστις, πραΰτης); Josephus, Bell I 207; V 121; VII 365; Ant VI 276 (εὔνοια, πίστις); VII 107; Ant XIII 45.378; XIV 186 (ἀνδρεία, πίστις); XIX 289 (χάρις, φιλία); 1QS 8,2 (tma, hqdc, jpXm, tbha, dsx). 612 Bornkamm, Enderwartung, 24 („den Armen Recht zu schaffen“); Gielen, Konflikt, 330: „stellt […] gleichermaßen eine Erfüllung des Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe dar“; Hoet, Omnes, 66. 613 Gielen, Konflikt, 310 („konkrete Umsetzung des Liebesgebotes“); Przybylski, Righteousness, 100 f; Nolland, Mt, 937; France, Mt, 873 („loving practice“); Gundry, Mt, 464: „Matthew turns loving God into showing mercy to people as the way to love God“. 614 Vgl. auch Luz, Mt III, 333; France, Mt, 873 f; Schulz, Q, 101; Hagner, Mt II, 670; Haenchen, Matthäus 23, 48; Kosch, Tora, 116, Anm. 264, mit dem Vermerk: „Doch wird man das ‚ethische‘ und das ‚theologische‘ Verständnis des Wortes nicht gegeneinander ausspielen dürfen“; Seeanner, Barmherzigkeit, 120; Wengst, Worauf, 255; auch Bauer / Aland, Wörterbuch, Kol. 1333. Hingegen ziehen Nolland, Mt, 837 f, Gnilka, Mt II, 288; Davies / Allison, Mt III, 294; Gundry, Mt, 464; Bornkamm, Enderwartung, 24, die andere Variante mit dem Hauptargument vor, dass sie besser zum mt Sprachgebrauch passt. Jedoch bekommt auch κρίσις in 23,23 eine ‚unmatthäische‘ Bedeutung (vgl. 5,21.22; 10,15; 11,22.24; 12,18.20.36.41.42; 23,33), sie steht aber hier außer Debatte; die adjektivische Verwendung πιστός im Sinne von ‚Treue‘ ist in Mt 25,21.23 vorhanden. Die ‚ethische‘ Bedeutung von πίστις ist auch sonst belegt und wurde weder in der LXX (als Übersetzung von !ma) noch zur Zeit des NT von der ‚theologischen‘ Bedeutung vollständig verdrängt (vgl. Hab 2,4; Prov 3,3; 14,22; SapSal 3,14; Sir 1,27; 15,15). Auch wenn die theologische Bedeutung an Stellen wie Gen 15,6; Ex 4,1.5.8.9.31; 14,31; Jes 7,9; 28,16–17; 53,1; Hab 2,4 deutlich hervortritt, „the basic meaning […] remains the same as in the profane use, that is ‚faithful, reliable, loyal‘“ (Lindsay, Roots, 117, Anm. 56; vgl. auch Lührmann, Pistis; 24). Vgl. dazu die folgenden Belegstellen: Ps 32,4LXX; Prov 12,22; Sir 45,4; Hos 2,22; Röm 3,3; Tit 2,10; Gal 5,22; 1,27; 2Thess 1,4; Josephus, Ant II 61; Bell I 94; II 121.341;

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m. E. die Menschenverachtung der Pharisäer bloßzustellen und stellt ihren Praktiken eine ‚ethische Trias‘ gegenüber.615 Auch wenn der Zehnte Gott gebührt, hat das Gebot ebenfalls eine soziale Komponente: Möglichst viele Güter zehnten, heißt im Endeffekt den einfachen Menschen noch mehr von ihrem Ertrag wegnehmen So kommt man zu dem Schluss, dass 23,23b „was Matthäus als oberstes Gebot bezeichnet hat, nämlich die Liebe“ zusammenfasst.616 Der nächste Weheruf (23,25 f) nimmt die Reinheitsvorschriften als Vorwand und Szenerie zur weiteren Beschäftigung mit der matthäischen Sozialkritik. Das Bild des Bechers „voller Raub und Gier“ ist an sich nicht ganz logisch und deswegen erklärungsbedürftig: Versteht man ποτηρίον und παροψίς im eigentlichen Sinne, dann passen die ethischen Abstrakta ἁρπαγή und ἀκρασία als Inhalte nicht gut in das Bild. Auch, wenn man die Geräte von Anfang an als Metapher auffasst,617 ist das Bild gebrochen, denn das Verhältnis in dem die angeredeten γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι mit ihnen stehen, wird mit καθαρίζετε transitiv formuliert und lässt kaum schon am Anfang eine Gleichstellung oder einen Vergleich zu (in 23,27 ist der Vergleich mit παρομοιάζετε eindeutig ausgedrückt). Außerdem bezieht sich γέμουσιν auch bei der ‚Auflösung‘ der Metapher immer noch auf die konkreten Dinge und nicht schon auf die Personen, obwohl dies in diesem Fall viel mehr Sinn gemacht hätte. Der Interpretationsspielraum, um den Vers verständlicher zu machen, ist also relativ begrenzt. Ich gehe davon aus, dass der Anfang, wie auch in 23,23, reale Verhältnisse anspricht,618 um dann aufgrund des intrinsischen metaphorischen Potentials der Nomina ποτηρίον, παροψίς und des adverbialen Paares ἔξωθεν / ἔσωθεν erst in einem zweiten Schritt von der realen zur anthropologischen Ebene plötzlich, aber umso schlagfertiger, abzugleiten. Der Sprung passiert erst, wenn ἁρπαγή und ἀκρασία ins Spiel

VI 345; TestAss 7,7; PseudPhok 13 (die Parallelstelle in Sib 2,65 liest sogar ἀγάπη anstatt πίστις, vgl. Lührmann, Pistis, 25, Anm. 38); PseudHekatHist I, Frgm. 2 (Ap II 43); CIJ 1451,4. Man kann also mit Lührmann, Pistis, 26, das Fazit ziehen: „In weiten Schichten des griechisch sprachigen Judentums fehlt also eine Verwendung von πίστις und πιστεύειν, wie sie in der LXX vorliegt“. 615 Vgl. auch Hoet, Omnes, 66 f: „trois exigencies éthiques, que la Loi exige des homes dans les relations entre eux“; Riniker, Gerichtsverkündigung, 107 f. 616 Luz, Mt III, 333; so auch Hagner, Mt II, 670 („close affinity to the love commandment“); Gnilka, Mt II, 283 („Einschärfung der Pflichten dem Mitmenschen gegenüber“); ferner Zahn, Mt, 645. 617 So z. B. Davies / Allison, Mt III, 296: „The text concernes not ustensils but people“; auch Haenchen, Matthäus 23, 49; France, Mt, 875; Westerholm, Jesus, 85. 618 Schulz, Q, 97; Kosch, Tora, 132: „der Gegensatz von aussen und innen [ist] auf die Gefässe zu beziehen“; Saldarini, Delegitimation, 676, Anm. 46: „Thus Matthew is taking a position on a live first-century controversy, not just making a metaphoric point“; Gielen, Konflikt, 313; Harrington, Mt, 326; Gnilka, Mt II, 289; Combrink, Shame, 5; der Urheber dieser Position ist Nuesner, Cleanse, mit Hinweis auf mKel 25,6–7. Für Kritik an Neusner’s Meinung vgl. Maccoby, Washing, 3–15.

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kommen; damit bleibt auch die Argumentation um die Reinheitsgesetzte auf halber Strecke.619 Der ethische Bezug kommt entweder dadurch zustande, dass man die negativen Eigenschaften direkt auf die Pharisäer und Schriftgelehrten zurückbezieht, ohne dabei auf die logischen Unebenheiten, die wegen dieser plötzlichen Wende entstehen, zu achten, oder indem man auf sachlicher, unmetaphorischer Ebene bleibt und die Konstruktion γέμω + ἐξ nicht mit den Inhalten selbst in Ver­ bindung bringt (Übersetzung: „voll von“), sondern mit ihrem Ursprung: „Es wird nicht gesagt, wovon die Schüsseln voll sind, sondern dass das, was in ihnen ist, aufgrund von ἁρπαγη und ἀκρασία in sie gefüllt wurde“.620 Nur auf der Basis der Präposition ἐξ + Gen. lässt sich jedoch nicht eindeutig entscheiden, ob auf den Tisch der Pharisäer „Raub und Gier“ (im übertragenen Sinne) oder das Resultat einer verwerflichen ausbeuterischen Einstellung kommt.621 Beide Interpretationsmöglichkeiten sind also mit manchen Problemen behaftet. Für die Ausrichtung dieses Weherufs bedeutet aber diese semantische Sackgasse nicht sehr viel. In V. 26 besteht kein Zweifel mehr daran, dass es nun in der (überraschenden) Aufforderung τὸ ἐντὸς τοῦ ποτηρίου tatsächlich um das Herz des Menschen geht. Das Herz nämlich ist der Ort, an dem Gutes oder Böses entsteht622 (vgl. Mt 6,22 f; 12,35; 15,11.18–20), und ebenso steht es für jene innere Reinheit („das elementare Gebot der Nächstenliebe“623), welche für Matthäus zählt. 619 Gundry, Mt, 466: „Jesus simply makes a ritual practice figurative of an ethical point“; angemessen auch Newport, The Sources, 145: „The woe is a mixture of literal and metaphorical“. 620 Luz, Mt III, 336, Anm. 102; Schulz, Q, 97; vgl. auch Garland, Intention, 149: „The vessels may be ritually pure, but they contain food and drink which were morally impure because they were the harvest of greed and injustice“; Gielen, Konflikt, 313 (mit Rückverweis auf 23,6a); Zahn, Mt, 646, Anm. 77 (für diese Verwendung von ἐκ / ἐξ, vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch, Kol. 474,3,f); Westerholm, Jesus, 85, mit dem Überesetzungsvorschlag „gained by“; nuanciert France, Mt, 875, Anm. 44: „Even that sense be granted, however, the emphasis falls not on the physical nature of the contents but on moral disapproval of how they were acquired“. Die Gegenmeinung vertreten vor allem Davies / Allison, Mt III, 298, Anm.  88: „Here must ἔσωθεν δὲ γέμουσιν mean ‚but inside are full of ‘“; Nolland, Mt, 939 f, Anm. 82 (Bauer / Aland, ebd., 475,4.a.ζ. listen selbst Mt 23,25 unter „Umschreibung des G. part. nach Verben des Füllens“, wie auch Lk 15,16; Apk 8,5; vgl. auch Jer 4,15; Ez 11,19; 19,8; 32,4 als Übersezung von !mi). 621 Diese Lösung lässt die parallele Verwendung in V. 27 außer Acht, wie auch die Bedeutung von δέ (vgl. Davies / Allison, Mt III, 287 f). 622 Darin sind sich die meisten Kommentatoren einig, vgl. Luz, Mt III, 338; Haenchen, Matthäus 23, 49; Bonnard, Mt, 341; Kosch, Tora, 138; Zahn, Mt, 646: „Der für den Heuchler charakteristische Widerspruch […] hatte an den Gefäßen und ihrem Inhalt eine sinnbildliche Darstellung“; France, Mt, 875; Gundry, Mt, 466; Nolland, Mt, 940; Hoet, Omnes, 68; Via, Gospel, 514. Wobei die Singularform (Φαρισαῖε) „als rhetorisches Mittel zur Verstärkung der Direktheit der Anrede zu interpretieren“ ist (Kosch, Tora, 137). 623 Schulz, Q, 98.

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Im nächsten Abschnitt, V. 27 f, spielt die Reinheitsthematik überhaupt keine Rolle mehr, allein ἀκαθαρσία (V. 28) erinnert noch daran, und es wird „nicht mehr auf ein konkretes Tun […] Bezug“ genommen.624 Der Angriff ist an dieser Stelle direkt und persönlich: „The woe no longer attacks the scribal exegesis of the Law, but the very existence of the scribes and Pharisees. It is not concerned with what they do but with what they are.“625 V. 27 und V. 28 weisen einen durchgehenden Parallelismus auf. Der schon am Anfang ausgesprochene Vergleich (παρομοιάζω) zwischen γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι und τάφοι κεκονιαμένοι wird mit der konsequenten Reprise in V. 28 befestigt und gesteigert. Gemeinsam mit V. 25 f ist dieser Textstelle die Gegenüberstellung ἔξωθεν  – ἔσωθεν (V. 27 // V. 28).626 So hat der Redaktor in V. 28 die Gelegenheit, die Anrede (ὑποκριταί) inhaltlich erneut zu füllen; dafür wählt er ein typisches Begriffspaar – μεστοὶ ὑποκρίσεως καὶ ἀνομίας. Mit der Einführung von ὑπόκρισις erfolgt zunächst auf rein semantischer Ebene außerhalb der sprachlichen Redundanz keine genauere weitere Bestimmung. Dass Matthäus nun aber eine neue Nominalform zu ὑποκριτής bildet, ist für die konfliktäre kommunikative Situation relevant.627 Mit dem Begriff ἀνομία wird die Gesetzesproblematik erneut eingeholt628 und zwar mit Hinweis auf das Kernstück der matthäischen Gesetzeshermeneutik,

624 Gnilka, Mt II, 290; Riniker, Gerichtsverkündigung, 110. 625 Garland, Intention, 151 f. 626 In der lukanischen Parallele (Lk 11,44) entsteht die Pointe aus einer völlig anderen Betrachtungsweise desselben (?) religionsgeschichtlichen Zusammenhangs (vgl. Lachs, Matthew, 386; Haenchen, Matthäus 23, 50). Die Pharisäer sind deshalb gefährlich, weil sie wie die verdeckten Gräber eine verborgene Quelle der Unreinheit unter einer harmlosen Oberfläche darstellen – das ist der logische und angemessene palästinische Kontext (vgl. Garland, Intention, 151); bei Matthäus ist typischerweise die tiefe Spaltung zwischen dem frommen Schein gegenüber den Menschen und dem verdorbenen Inneren ethisch so abstoßend. Problematisch ist bei Mt, dass die kenntlich gemachten Gräber nie als „schön“ (ὡραῖος) bezeichnet wurden (vgl. Luz, Mt III, 341; Garland, Intention, 153; Davies / Allison, Mt III, 301) – ist das Bild wiederum eine überzogene und verfremdende Bildung von Mt? (so Luz, Mt III, 341). Sicher ist, dass V. 28 mit dem direkten Angriff (οὕτως καὶ ὑμεῖς) spezifische Merkmale für eine matthäische Redaktion enthält (so die meisten Kommentatoren, vgl. nur Davies / Allison, Mt III, 302 [„redac­ tional extension“]; Luz, Mt III, 340; Gundry, Mt, 467). 627 Das Phänomen ist auch im Fall einer anderen Gegnerbezeichnung erkennbar: πονηρός (Mt 9,4; 12,34.39.45; 16,4) / πονηρία (Mt 22,18[red.]), vgl. dazu auch 2.2.3. 628 Die Meinung, dass in diesem matthäischen Wort eine Debatte mit Antinomisten aus der Gemeinde zum Ausdruck kommt (Hummel, Auseinandersetzung, 64–66, spricht von einem „Kampf gegen die Antinomisten“; Zumstein, La condition, 173; Schrage, Ekklesia, 201), wurde widerlegt (vgl. z. B. Strecker, Weg, 137 f, Anm. 4; vgl. auch S. 146, Anm. 164). Sand, Polemik, 120, charakterisiert die Gesetzlosigkeit als Heuchelei: „Er tut das Gegenteil von dem, was das recht verstandene Gesetz ihm vorschreibt“; vgl. auch Davidson, Anomia, 617–635; Overman, Matthew, 99). Die These ist heute nur noch vereinzelt vertreten, vgl. Theissen, Kirche, 95 – demnach Mt 5,19 „ein Stich gegen Paulus“ sei.

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„wie sie insbesondere in der Bergpredigt erfolgt ist“.629 Die Gesetzlosigkeit steht bei Matthäus m. E. nicht nur allgemein für die Übertretung des Gesetzes, sondern speziell für das Gegenteil seines eigenen Gesetzesverständnisses. Wie auch 23,28 sind alle anderen mt Vorkommnisse (7,23; 13,41; 24,12) redaktionell und stehen in einem engen Zusammenhang miteinander. Gemäß dem religionsgeschichtlichen Hintergrund630 tauchen sie in einem eschatologischen Kontext. Mit ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ ist in 7,22 der endzeitliche Rahmen eindeutig; dann wird allen falschen Propheten und Wundertätern die ewige Strafe angekündigt (7,23). Der Gesetzlose kann von V. 21 her mit Bezug auf τὸ θέλημα τοῦ πατρός μου näher charakterisiert werden; auch unmittelbar danach steht in V. 24 das Tun des Gesetzes im Vordergrund. Der Rückbezug auf 5,19 ist direkt und damit die Verbindung mit der matthäischen ‚größeren Gerechtigkeit‘, die sich im Gebot der Liebe erfüllt. Nach 13,41 werden wiederum diejenigen gerichtet, die die ἀνομία tun. Dies ist ebenfalls als Gegensatz zum Tun jenes Gesetzes, das nach der matthäischen Logik die besondere Nuance der Liebeserweisung bekommt,631 zu verstehen. Dieses implizite Verhältnis zum Liebesgebot wird in 24,12 offenkundig:632 διὰ τὸ πληθυνθῆναι τὴν ἀνομίαν ψυγήσεται ἡ ἀγάπη (die falschen Propheten in 24,11 schaffen eine zusätzliche Verbindung zu 7,21–23). Der Zusammenhang ist auch in der matthäischen Variante des Endgerichtes vorhanden (25,31–46), in dem die Völker nach dem Kriterium der Liebestaten gerichtet werden. Das betreffende Wort (ἀνομία) kommt zwar nicht vor, die Überraschung der Verdammten in 25,44 erinnert aber eindeutig an die Ausrede der ἐργαζόμενοιτὴν ἀνομίαν in 7,22.633 Der ὑπόκρισις-Vorwurf steht also in unmittelbarer Nähe der Gesetzesthematik und bekommt besonders ab V. 23 eindeutig eine ethische Färbung im Sinne des matthäischen hermeneutischen Programms mit der Nächstenliebe als ­dessen 629 Gnilka, Mt II, 291; Garland, Intention, 158; Davidson, Anomia, 633, der auch die ironische Verwendung bemerkt: „Those who seem to uphold the law most fully are judegd to be lawbreakers“. Hingegen schliessen Davies / Allison, Mt I, 719, aus, dass die matthäische ἀνομία etwas mit dem Gesetz zu tun hat: „The word probably has much more to do with eschatology than with law“. 630 Vgl. 2Thess 2,3.7 f; Did 16,4; Jub 23,19; TestIss 6,1; TestAss 7,5; TestDan 6,1. 631 Trotz einer Tendenz, die Gesetzlosigkeit als allgemeinen Begriff aufzufassen, räumt auch Davison, Anomia, 630 f, ein: „The evil which Matthew has in mind is understood particulary in the sense of a failure to live up to the commandment of Love of God and neighbor“; dezidiert dafür Luz, Mt I, 529: „Inhaltlich muß man Gesetzlosigkeit vom matthäischen Gesetzverständnis her verstehen: ‚Gesetz‘ ist […] das im Liebesgebot gipfelnde alttestamentliche Gesetz“;­ Russell, Image, 440: „Matthew’s view of the law is that it is summed up in love (7,12; 22,40). If this is so, to be ‚love-less‘, is to be ‚law-less‘“. 632 Auch Sand, Polemik, 120: 24,12 betont, „dass nach Matthäus die Gesetzlosigkeit wesentlich als Lieblosigkeit – sowohl dem Handeln als auch der Gesinnung nach – zu verstehen ist“. 633 Wie auch in 25,44; „sind sie [darauf] nicht gefasst“ (Wilckens, Brüder, 369).

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Dreh- und Angelpunkt.634 Der trügerische Schein der Pharisäer und Schrift­ gelehrten wird von Matthäus in seine eigene Begrifflichkeit umgemünzt und als Zynismus und Lieblosigkeit entlarvt. So „entsteht das genaue Gegenbild zur Kirche“.635 Die Unterschiede sind nicht punktueller sondern struktureller Art. Auf der Vorstellungsebene versucht Matthäus die Differenzen zwischen den beiden Gruppierungen um jeden Preis rhetorisch bis zu dem Punkt zu maximieren, an dem die Gegner zu einem verkehrten Selbstbild werden.

4.3.3 Die matthäische Gemeinde als ekklesia Gottes und locus salutis Auf Gruppenebene wird ein hoher Wert auf die Konformität mit den Gruppenwerten gelegt, die in der Gestalt Jesu prototypisch zusammengebündelt sind. Die Schwierigkeit, diesen hohen Ansprüchen gerecht zu werden, macht das Evangelium auch zum Medium für einen selbstkritischen Diskurs. Das Geschick der matthäischen Christen ist aber untrennbar mit dem Geschick Jesu verbunden und aus dieser tiefen Überzeugung ergibt sich auch die reale Möglichkeit, bei entsprechender Anstrengung, als Mitglied der Ekklesia in das Himmelreich zu gelangen. Als kurze Einleitung knüpfe ich an sozialpsychologische Ausführungen aus dem theoretischen Teil an, um einige Gruppenmechanismen zu verdeutlichen. Erstens weise ich auf die typischen sprachlichen Markierungen der Gruppenidentität hin. Jede Gruppe entwickelt ein kommunikatives Muster, das die innere Kommunikation erleichtert und die Gruppenidentität befestigt.636 Die ‚Eigenbegrifflichkeit‘ der Gruppe fördert den inneren Zusammenhalt und stattet zugleich die Gruppe mit Identitätsmarkern (identity markers) aus, die ihrer Identität eindeutige Konturen (identity boundaries) gewährleisten.637 Eine befestigte Gruppenzugehörigkeit manifestiert sich durch die Übernahme der relevanten Gruppenprototypen.638 Diese umfassen die subjektiven Vorstellungen über die 634 Auch Trilling, Israel, 198, sieht die Hypokrisis als „Gegenstück“ der Liebe; ähnlich auch Howell, Matthew, 238; Garleff, Urchristliche, 73, als Gegenteil der Gerechtigkeit. 635 Trilling, Israel, 202; Howell, Matthew, 237: „The woes against the scribes and Pha­ risees in Mt. 23 are representative of the contrasts between the Jewish leaders and Jesus’ ideological point of view“; „polar opposites“ (238); Tilborg, Leaders, 112: „Jewish leaders ranks as the antitype of the Christian“; Overman, Matthew, 144 („anthitesis of the disciples“); Davies, Stereotyping, 421 („counter-image“). 636 Haslett, Class, 229; LePage / Tabouret-Keller, Acts, 315: „Language acts are acts of identity“. Vgl. auch Levine / Moreland, Culture, 258 ff; Deaux, Identification, 787; Conway / Schaler, Communication, 108 ff; Jenkins, Identity, 137. Siehe dazu 1.2.1, S. 24 f. 637 Haslam, Psychology, 87. Das ganze Kapitel 5: „Communication and Information Manage­ment“ ist dieser Problematik gewidmet; vgl. auch Thornborrow, Language, 142: „People often have to work to establish their own identity categories, to name their particular social group, and stake their clame in owning their representations of themselves“. 638 Zu Prototypen vgl. oben S. 27 f.

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definitorischen Attribute einer sozialen Kategorie und organisieren sie in Form eines abstrakten Typus. Mit dem gruppenrelevanten Prototyp übernehmen die Mitglieder signifikante Merkmale des Gruppenrepertoires. Diese Anpassung erhöht die Homogenität und die Uniformität der Gruppe insgesamt. Diese Erkenntnisse werden in den folgenden exegetischen Erwägungen zur matthäischen Identitätskonstruktion gelegentlich ihre Anwendung finden. Unter allen Evangelien enthält nur das MtEv eine Bezeichnung für die Kirche im Ganzen (16,18) und für die Lokalgemeinde (18,172) – ἐκκλησία. Die Existenz eines Gemeinde-Labels entspricht der allgemeinen Tendenz des Redaktors, mit dem Evangelium eine festere Identität zu bewirken. Das Bedürfnis nach einem ‚Label‘ lässt zugleich eine Ansammlung von Menschen, die sich als distinkte und gut definierte Gruppe wahrnimmt, dahinter vermuten. Die kompakte Formel beinhaltet zunächst ganz konkret das Grundmerkmal einer kleinen Gruppe – die matthäischen Christen sehen sich als selbstgewählte Versammlung im Namen des Herrn (vgl. 18,20). Sie bleibt aber nicht inhaltleer – die inneren Verhältnisse erhalten von ihrem Begründer (vgl. 16,18: οἰκοδομήσω μου τὴν ἐκκλησίαν) eine unverwechselbare theologische und ethische Prägung. Kap. 18 thematisiert ausführlich die Folgen dieser Tatsache für die innergemeindlichen Verhaltensmuster. Die Ekklesia ist ein für alle Menschen offener Lebensraum, in dem Jesus als κύριος verehrt und seine Gesetzesauslegung mit dem Liebesgebot im Zentrum tagtäglich wie unter Brüdern praktiziert wird.639 Diese identitätsbildende Abgrenzung erfolgt aber in einem dichten sozialen Milieu, in dem die konkurrierenden Gruppierungen ebenfalls Führungsansprüche erheben und ihr eigenes Heilsangebot der jüdischen Bevölkerung unterbreiten. Die nächsten Textbeobachtungen haben den Zweck, kurz das subjektive Verhältnis zu der sozialen Größe, mit der die matthäische Kirche zu kämpfen hatte, zu verdeutlichen. Die Synagoge bleibt auch bei Matthäus ein Ort der Gesetzeslehre (4,23; 9,35[red.]; 13,54)640 und der Heilungen (12,9 // Mk 3,1 // Lk 6,6), tritt aber deutlicher als ein Ort des Widerstands, der Gefährdung und der Verfolgung hervor. Dies geschieht sowohl in Bezug auf Jesus (12,9  – in 12,14 // Mk  3,6 wird in deutlichen Worten [ἀπόλλυμι] zum ersten Mal die Tötung Jesu durch die Pharisäer beschlossen; vgl. auch 13,54641), als auch in Bezug auf die Jünger (10,17 // Mk 13,9; 23,34[red.]). Wie im Abschnitt 4.3.2.3.2 ausgeführt, beschreibt 639 Duling, Brotherhood, 160: „Thus, one description of Matthew’s ekklesia is an adel­ photes“; Backhaus, Kirchenkrise, 136. 640 Für die Predigt in der Synagoge verwendet Matthäus systematisch nur διδάσκω: 4,23[red.], sowohl Mk 1,39 als auch Lk 4,44 lesen an der Stelle κηρύσσω; 9,35 // Mk 6,6b, dabei fehlt aber bei den Seitenreferenten die Synagoge (περιῆγεν τὰς κώμας κύκλω [Mk  6,6b] bzw. διώδευεν κατὰ πόλιν καὶ κώμην; Lk 8,1: κηρύσσων καὶ εὐαγγελιζόμενος); 13,54 // Mk 6,2 – Lk 4,16: ἀναγινώσκω. 641 Levine, Portrayal, 181: „Structurally, the people in the Nazareth synagogue in 13,54–58 play the same role as the Pharisees in chap. 12“.

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die ὑπόκρισις als Gegensatz zur ἀγάπη am besten den verkommenen Zustand der illegitimen Führer Israels, wobei ausgerechnet die Pharisäer besonders davon betroffen sind (vgl. 15,1; 23,2; ihnen gelten auch 6,2.5.16). Synagoge – Heuchelei – Pharisäer642 bilden bei Matthäus eine feste und einprägsame Trias, die selbstverständlich alles auf ‚institutioneller‘, ethischer und persönlicher Ebene zusammenfasst, was die Gemeinde lehr- und verhaltensmäßig am meisten ablehnt und verabscheut. Dementsprechend bemüht sich Matthäus, sprachlich deutlich die Differenzen zu signalisieren, um die beiden Wertebereiche – der Gemeinde und der Synagoge unter pharisäischer Führung – möglichst stark voneinander zu trennen. Auffällig ist in dieser Hinsicht die pronominale Erweiterung von συναγωγή (4mal αὐτῶν: 4,23 // Mk 1,39 (vgl. auch Mk 1,23); 9,35[red.]; 10,17[red.]; 12,9[red.]; 13,54[red.]; 1mal ὑμῶν: 23,34[red.]), die nicht selten als Grund für eine ‚soziologische Trennung‘ vom Judentum überhaupt angesehen wird.643 Im Lichte der früheren soziolinguistischen Ausführungen, scheint mir, dass die bloße pronominale Verstärkung (die matthäischen Christen bilden ja selbst eine Versammlung – vgl. 18,20: οὗ γάρ εἰσιν δύο ἢ τρεῖς συνηγμένοι, verkörpern aber entgegengesetzte Normen644) eher das Wertebewusstsein und den nötigen identitätsverstärkenden Abstand als Mittel der Konfliktaustragung zum Ausdruck bringt. Um für gesellschaftliche Spaltungen und auseinandergehende Wege zu argumentieren, braucht man mehr als eine in der Gruppendynamik angelegte ‚Wir / Ihr‘-Gegenüberstellung.645 Die Gemeinde als solche kommt in der matthäischen Jesusgeschichte nie­ direkt zu Wort, sie ist aber in der Erzählung diffus so gut wie allgegenwärtig. Man spricht deswegen über eine Geschichte mit doppeltem Boden, die die Erfahrungen aus dem Alltag auffängt und verarbeitet. Vor allem verleiht die Gemeinde Jesus als göttliche legitimierende Instanz ihre Stimme und lässt durch seine Stellungnahmen ihre eigenen Anliegen vertreten und verteidigen. Die matthäische 642 Zur besonderen Beziehung der Pharisäer mit der Synagoge bei Matthäus vgl. auch­ Levine, Portrayal, 181; Hare, Theme, 104 f; Sim, Apocalyptic, 186 f; Stanton, Gospel, 128 f; Dietzfelbinger, Frömmigkeitsregeln, 191, 195: „Die übermächtige Synagoge ist eine ganz von Heuchelei bestimmte Größe“; Hummel, Auseinandersetzung, 29; Przybylski, Setting, 195 („place of corruption“). 643 Frankemölle, Bund, 225: „Die christliche Gemeinde und die jüdische Synagoge ge­ hören für Matthäus zwei verschiedenen Welten an, sie sind voneinander geschieden“; Luz, Jesusgeschichte, 26; Ders., Antijudaismus, 318; Ders., Mt I, 96; Viljoen, Matthew, 675 f; Stanton, Gospel, 128 f; Sim, Apocalyptic, 187; Dupont, Le point, 252, Anm.  74; Yieh, Teacher, 275 f; Garland, Intention, 53, Anm. 76; Newport, Sources, 78, 150; McIver, Mainstream, 83; Sanders, Schimatics, 157; Hare, Theme, 104; Kingsbury, Story, 155; Strecker, Weg, 30; Slee, Church, 124. 644 Der Aspekt wird besonders von Kupp, Matthew, 186, 193, 196, 198 f, ausgearbeitet. 645 Saldarini, Matthew, 66: „The use of the pronouns ‚their‘ and ‚your‘ implies an estrangement from the jewish assemblies, but not a lack of relationship or absolute separation“; Runesson, Rethinking, 117 f. Mehr zum Thema im Abschnitt 6.3.

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Christologie spiegelt die Belange der Gemeinde wider, erfüllt ihr soziales Bedürfnis nach positivem Selbstbild und verkörpert zugleich die Gruppenideologie und -Kultur. Die Jünger selbst transportieren durch die narrativen Erlebnisse mit Jesus ein Stück Gemeindeleben in die Erzählung hinein; sie sind „transparente“646 Stellvertreter und Identifikationsfiguren für die konkreten Christen. Sowohl Jesus als auch die Jünger als Erzählgrößen gewinnen bei Matthäus als Reflex der psychologischen Anpassung und Ausrüstung der realen Gemeinde im Konflikt mit der Synagoge ‚höhere‘ Züge. Das Selbstbild verbessert sich rasant im Verlauf der Konfliktaustragung – das bessere Image der Jünger und die hohe matthäische Christologie finden als Teile der Selbststereotypisierungsprozesse647 in der angespannten sozialen Lage eine logische Erklärung. Wie schon gesehen, besitzt die matthäische Gemeinde für ihren Werte- und Kompetenzbereich einen Namen: ἐκκλησία648  – eine Art kollektive Selbstbe­ zeichnung in Abgrenzung von den konkurrierenden Gegenspielern.649 Die irdische Gemeinde hat ein privilegiertes Verhältnis zu dem Gottessohn (vgl.

646 Zur „Transparenz“ der Jünger für die gegenwärtige Gemeinde als Kritik an ihre „Histo­ risierung“ vgl. vor allem Luz, Jünger, 142–146; Ders., Jesusgeschichte, 45: „Vielmehr liegen Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte Jesu und eigene Erfahrungen der Gemeinde ständig ineinander“; Walter, Kirchenverständnis, 122 f; Sand, Mt, 381: „Die Bezeichnung ‚Jünger‘ ist also keineswegs nur – historisierend und rückdatierend – den ‚Zwölf ‘ vorbehalten […]; vielmehr steht der Gegenwartsbezug im Vordergrund“; Roloff, Kirchenverständnis, 338; Backhaus, Kirchenkrise, 129; Frankemölle, Amtskritik, 254; Saldarini, Conflict, 39 („transparency for the communiy“); Schuyler, Mission, 74 („transparency for the members of Matthew’s own community“); LaGrand, Mission, 189. 647 Zur Typisierung der Jünger vgl. auch Trilling, Israel, 91; Luz, Jünger, 152; Strecker, Weg, 234, Anm.  3: „Das Verhalten der Jünger ist ‚typisch‘“; Backhaus, Kirchenkrise, 129 („Typen des Christseins schlechthin“); Frankemölle, Amtskritik, 254; Trilling, Amt, 89: „Er hat das Jüngerbild auf den Christen hin typisiert, in seinen positiven und negativen Zügen“. 648 Die Abgrenzung von einer gesetztreuen, konservativen Synagoge gilt für Schrage,­ Ekklesia, 200 f (zustimmend und zugleich relativisierend Frankemölle, Bund, 223 f)  als Hauptgrund für die Durchsetzung der ἐκκλησία als Bezeichnung der Urkirche und nicht die Abhängigkeit von der LXX-Begrifflichkeit, die beides erklären würde. In Bezug auf Mt aber, worin eine Gegenüberstellung zur Synagoge deutlich wird (vgl. Ascough, Matthew, 114), vermutet Schrage, Ekklesia, 201, als Grund der christlichen Selbstbezeichnung eher eine Anpassung an einen traditionellen Sprachgebrauch und nicht der Streit selbst mit der Synagoge; vielmehr sieht er den Konflikt an anderer Stelle: „Es scheint von daher gut möglich, dass auch die Übernahme und die Interpretation von ἐκκλησία in Mt  16,18 polemisch gegen die Deutung des Begriffs bei den ‚Hellenisten‘ gerichtet ist“. Für Kritik daran vgl. wiederum Frankemölle, Bund, 225, auch Kraus, Ekklesiologie, 226; Berger, Volksversammlung, 184. Zur Hypothese der ‚Antinomisten‘ im Mt vgl. die Anm. 165, S. 164 und Anm. 628, S. 329. 649 Viljoen, Matthew, 681: „Matthew’s community poses a counterclaim to the synagogue as divine-human community“; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 148: Die matthäische Kirche „behauptete […] eine Gegenrealität und entwickelte eine Gegenkultur“, auch 154: „in einem nahezu dualistischen Rahmen“, werden die Pharisäer und Schriftgelehrten als „Gegenbild der ἐκκλησία [stilisiert]“.

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16,18: ἡ ἐκκλησία μου),650 ihr ist die Offenbarung dieses besonderen Würdetitels Jesu bis zur Passion vorbehalten (14,33; 16,16; 17,5b). In diesem Sinne kann man die Gottessohn-Prädikation als Ingroup-Christologie bezeichnen, ein Aspekt an dem man besonders deutlich beobachten kann, wie die hohe Christologie und das Gemeindeverständnis in dem matthäischen theologischen Geflecht sehr eng zusammengehören.651 Der Gottessohn ist ein ekklesialer Titel par exellence; die Gemeinde projiziert die hohe christologische Würde durch diese enge Verbindung auf sich selbst. Diese Verbindung verdeutlicht Matthäus vor allem narrativ. Die folgende Analyse einiger Perikopen wird diesen Anspekt beleuchten. Mt  14,22–33 stellt ein Stück narrative Christologie dar, in dem die ekklesiologischen Valenzen des Gottessohn-Titels besonders hervortreten. Die Wundergeschichte wird wegen der redaktionellen Eingriffe zu einer Parabel für das Gemeindeleben in Not und Gefahr umgewandelt,652 sodass die Christologie und die Ekklesiologie in diesem Textzusammenhang eng zusammengehören. Anders gesagt: In dieser metaphorischen Sprache wird veranschaulicht, welche Funktion Jesus als Sohn Gottes für die Gemeinde als Ganze653 (14,24–27, womit die markinische Fassung Mk  6,47–50 auch endet) und für einzelne Mitglieder (14,28–33) einnimmt. Jesus, der sich mit der Sprache des alttesta-

650 Vgl. auch Frankemölle, Bund, 239: „Dieser Hinweis auf die mt Christologie ist im Zusammenhang des ἐκκλησία-Wortes in 16,18 von grundlegender Bedeutung“; Backhaus, Kirchenkrise, 136: „Ekklesiologie stellt sich in Mt wesentlich als angewandte Christologie dar“; Bornkamm, Enderwartung, 45: „Das in 16,17–19 ausgesprochene Kirchenverständnis hat in der Christologie des Kontextes 16,13–28 seine Entsprechung und Begründung“. 651 Grindheim, Christology, 106 („insider title“); Oberlinner, Anmerkung, 396: „Der Glaube an ihn [den Sohn Gottes]  – ausgedrückt in der Proskynese  – lässt Jüngergemeinschaft und Kirche entstehen“; Backhaus, Kirchenkrise, 134: „Diese Ekklesia ist in jeder Hinsicht konstituiert […] als Lebens- und Lerngemeinschaft miteinander und mit dem erhöhten Kyrios“. 652 Einige Motive und Begriffe unterstützen diese Annahme: z. B. das Nachfolgemotiv (V. 29); Jesus gibt seinen Jünger Anteil an seiner Vollmacht (V. 29, vgl. 10,1; vgl. dazu Held, Matthäus, 260; Zumstein, La condition, 245–255); die kultische Geste der Proskynese (V. 33); sogar βασανίζω wird anders verwertet: In Mk 6,48 sind die Jünger wie in einem abenteuerlichen Roman vom Rudern zu abgeplagt, um den Wellen zu entkommen  – eine rein erzählerisch immanente Erklärung; in Mt 14,24 ist ungewöhnlicherweise das Boot selbst (βασανιζόμενον bezieht sich auf τὸ πλοῖον) von Wellen geplagt; man kann dabei mit Luz, Mt II, 406, annehmen: „Der Gedanke an menschliches Leiden, der beim Wort βασανίζω unweigerlich kommt, ist vermutlich beabsichtigt“; vgl. auch Kingsbury, Structure, 66 f. Als unmittelbare Gefahr (auch mit möglichen Verfolgungen der Gemeinde verbunden) kommt das Bild in 1QH; 14,22–25; 7,4–5 vor (nach Harrington, Mt, 227). Schließlich ist auch ὀλιγόπιστος (14,31) bei Matthäus ekklesiologisch aufgeladen (so urteilen auch Gerhardsson, Mighty, 58 [„double story“]; Sheridan, Disciple, 248). 653 Kingsbury, Son of God, 19; Luz, Jesusgeschichte, 81: „Daher ist diese Wundergeschichte wiederum ‚inklusiv‘“; Backhaus, Kirchenkrise, 130.

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mentlichen Gottes präsentiert (14,27: ἐγώ εἰμι),654 handelt auch dementsprechend: Er streckt die Hand aus,655 rettet den sinkenden Petrus und stillt souverän den Sturm. Der vertrauensvolle Hilferuf (κύριε, σῶσόν με) der Gemeinde erhält eine vollmächtige Antwort, er lässt die Seinen nicht im Stich und beweist seine Hilfsbereitschaft durch konkretes Einwirken.656 Der Gehorsam, der ihm zukommt, findet ein Pendant in seiner Überlegenheit über die gefährlichsten Mächte der Welt. In diesem Sinne ist das ethisch-paränetische Moment, das durch ὀλιγόπιστος657 zum Vorschein kommt, nicht zu übersehen: Petrus als typischer Jünger hätte in Anbetracht der göttlichen Machtdemonstration nicht in Zweifel geraten, sondern dem Sohn vertrauen sollen, wie der Sohn selbst vorbildlich dem Vater vertraut (vgl. 3,15; 26,39.42). Trotz ihres schwankenden Glaubens zeigen die Jünger, dass sie der Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu gewachsen sind (vgl. 14,30: die Anbetung als κύριε; 14,33: das θεοῦ υἱός-Bekenntnis). Es ist das erste Mal im MtEv, dass diese Prädikation Jesu von den Menschen ausgesprochen wurde. Das Bekenntnis von Petrus in 16,16 markiert deswegen im Grunde genommen keine entscheidende Zäsur, hier wird nur dasselbe Credo „voller und feierlicher“ ausgesprochen.658 Die Darstellung Jesu als Sohn im Verleich zu Mk 8,29–30 ist aber deutlich: ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ (V. 16b); ὁ πατήρ μου (V. 17fin).659 Zudem folgt die Antwort des Petrus auf eine direkte Identitätsfrage Jesu: ὑμεῖς δὲ τίνα με λέγετε εἶναι und ist deswegen als überlegte Überzeugung im Namen der ganzen Gemeinde aufzufassen. Matthäus formuliert in vertrauter alt­ testamentlicher Sprache, indem er das Messiasbekenntnis (Mk  8,29 // Lk  9,20) um den Gottessohn-Titel ergänzt: σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος.660 Auch in diesem Fall kann die Gottessohnschaft nur dann von Menschen erkannt werden, wenn die weltliche Ordnung punktuell durchbrochen wird:

654 Luz, Mt II, 408; Konradt, Israel, 314–315; Wiarda, Peter, 129; Blomberg, Miracles, 344; vgl. Ex 3,14; Jes 41,4; 45,18; Jer 1,8; 26,29 usw. Die Handlung selbst ist göttlich: Hiob 9,8; Ps 77,20; ferner Jes 11,15–16; 43,2.16; Hab 3,15. 655 Die Geste kommt mit verschiedenen Verben vorwiegend in den Heilungserzählungen vor: z. B. 8,3 ebenfalls mit ἐκτείνω; 8,15 mit ἅπτω; 9,18 mit ἐπιτίθημι; 9,25 mit κρατέω. Konsequent kann man sagen, dass Jesus Petrus von seinem Unglauben „heilt“. Zum at Hintergrund vgl. Kratz, Seewandel, 90–91. 656 Wiarda, Peter, 93: „His cry […] could only add to a Christian audience’s sense of identification“; auch Derrett, Why and How, 330–348. 657 Backhaus, Kirchenkrise, 135; zum Kleinglauben im Mt vgl. Held, Matthäus, 280–283; Sheridan, Disciple, 247; Gerhardsson, Mighty, 62, und unten S. 341–343. 658 Luz, Mt II, 460. Krujf, Sohn, 78 und Brown u. a. (Hg.), Peter, 83, Anm. 188, machen auf den fehlenden Artikel in 14,33 aufmerksam. 659 Moberly, Jesus, 209. 660 Zu diesem Motiv im Alten und Neuen Testament vgl. Stenger, Gottesbezeichnung, ­61–69; Kraus, Gott, 169–200.

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Die außerordentliche Macht über die unbändigen Kräfte der Natur bildete in 1­ 4,22–33 den narrativen Rahmen (vgl. auch 27,51–54), nun stellt sich heraus, dass die Worte Petrus nur infolge einer Offenbarung des Vaters (16,17)661 möglich waren. Der rein menschliche Verstand wäre, indem er nur auf seine Fähigkeiten angewiesen ist, nicht so weit vorgedrungen; darum folgen auch das Verbot in 16,20 und die feindselige Reaktion gegen seine Gottessohnschaft. Anders als Mk, der in 8,31 mit καὶ ἤρξατο neu einsetzt, schafft Matthäus mit ’απὸ τότε ἤρξατο in 16,21 eine eindeutige Verbindung von diesem Passus hin zur ersten Leidensankündigung.662 Die Zeit war sozusagen reif für eine Fortsetzung der göttlichen Offenbarung im Sinne einer Horizonterweiterung der Vorstellung von der Gottessohnschaft auch für die Jünger: Ihnen wird die unausweichliche Verbindung mit dem Tod kundgetan – „a paradoxical view of his messianic mission“.663 Nochmals übersteigt die unergründliche göttliche Absicht bei weitem das geistige Vermögen des Menschen, was aus der Reaktion von Petrus – ein anderes Bindeelement zu 14,22–33 – ersichtlich wird (16,22 f). Die Stufe weiter nach oben in das Gotessohn-Geheimnis bedeutet zugleich einen Einblick in das abgründige, irdische Schicksal Jesu: Er muss in Jerusalem leiden und von den Ältesten, Hohenpriestern und Schriftgelehrten getötet werden (16,21). Dieser Kontrast ist für die Jünger unverständlich und inakzeptabel, der Abwehrversuch von­ Petrus wird aber von Jesus als teuflisch und menschlich quittiert.664 Die straffere Komposition lässt auch die feindlichen Mächte als Rahmung diskret, aber eindeutig hervortreten: Matthäus streicht die Heilung des Blinden vor Betsaida (Mk 8,22–26), sodass die Warnung vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer (Mt 16,12[red.]) unmittelbar vor der Episode in Cäsarea Philippi steht. Durch die Auflistung auch noch der Feinde Jesu in Jerusalem (16,21) entsteht das ganze Inventar der Gegner, die um das Kernereignis in 16,16 bedrohlich verteilt sind. Die Szene ist von 16,18 her gesehen zugleich auch eine ekklesiale

661 Damit ist auch der Rückbezug auf 11,27 geschaffen, und das Geheimnis der Gottessohnschaft wird den Inhalten zugeschrieben, die die umfassende Offenbarung Gottes ausmachen. Die Gottessohnschaft ist bei Matthäus ausschließlich Objekt einer göttlichen Offenbarung. Vgl. auch Gerhardsson, An ihren Früchten, 115; Powell, Typology, 14 („can only be made by humans when it is revealed to them by the Father“); Konradt, Taufe, 269; Ders., Israel, 316–317. 662 Vgl. Luz, Skizze, 233; Ders., Mt II, 486 („verbindende Brücke“); wie auch in 4,17 und 26,16 „immediacy may also be implied by the phrase“ (Bayer, Jesus, 185); Verseput,­ Pilgrimage, 108; Bieneck, Sohn, 65 (an dieser Stelle beginnt für Jesus „die eigentliche Leidensepoche“, „die ihn bis hin zum Kreuz führt“); Bornkamm, Enderwartung, 43. 663 France, Mt, 631. 664 Müller, Figure, 167 („a human way of thinking“). Vgl. dazu die Reaktion Jesu auf den Versuch eines seiner Jünger (Joh  18,10 identifiziert ihn sogar mit Petrus) bei der Gefangennahme Widerstand zu leisten (26,51–54). Das Gottessohnmotiv kommt ebenfalls vor.

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Selbstoffenbarung:665 Das Schicksal der Gemeinde ist mit dem Lebensweg Jesu unlösbar verwoben – die Jüngerexistenz ist ebenfalls ein Weg in Leiden und Tod (vgl. 4.2.3.2) und die narrativen Feindmächte, die Jesus nach dem Leben trachten, sind ihre eigenen Feinde (vgl. dazu 2.2); die ständige Gefahr, die von der Synagoge ausgeht, schlägt sich hier im eigenen Selbstbild als verfolgte Gemeinde nieder (vgl. 16,24–26). Nach sorgfältiger Vorbereitung in den vorigen Szenen wird also nun neben der Vollmacht eindeutig auch das konkrete bevorstehende Leiden als unausweichlicher Teil in die Gottessohnschaft666 und das Gemeindebild mit eingeschlossen. Dieser Zusammenhang wird in der Verklärungsgeschichte bestätigt: Vertraute Motive, Vokabeln oder Gesten wie die himmlische Stimme (17,5, vgl. 3,17a), das göttliche Wohlgefallen (17,5[red.]: εὐδοκέω, vgl. 3,17b), der imperativische Gehorsam der Jünger (17,5: ἀκούετε αὐτοῦ667, vgl. 14,31b in Form einer Frage ausgedrückt) oder das Fallen auf das Angesicht (17,6[red.]: οἱ μαθηταὶ ἔπεσαν ἐπὶ πρόσωπον αὐτῶν, vgl. 14,33), wie auch die Todesankündigung (17,9, vgl. 16,21)668 begleiten die erneute furchterregende (17,6: φοβέω)669 Offen-

665 Zu den „ekklesiologischen Tendenzen der matthäischen Bearbeitung der Cäsarea-Szene“; vgl. auch Hoffmann, Petrus-Primat, 106 f. 666 Vgl. dazu Verseput, Role, 547; Hill, Son, 15: „The Servent theme gives the necessary content to the Matthew’s ‚Son of God‘ Christology“; auch Konradt, Israel, 319: „Zu Jesu Gottessohnschaft gehört für Matthäus nicht nur seine einzigartige Vollmacht, sondern auch sein gehorsamer Gang ans Kreuz“; Kraus, Passion, 426: „Die Passion des Gottessohnes bildet die äußerste Konsequenz des Dienens“; Gerhardsson, Mighty, 89. 667 Auch wenn die Anspielung auf Dtn  18,15 ziemlich eindeutig ist, wäre es hier unan­ gebracht, die matthäische Erweiterung der Stimme Gottes „als Grundlage für die Auffassung von Jesus als dem neuen Moses oder dem endzeitlichen Prophet“ zu nehmen. Vielmehr gilt die Aufforderung auf Jesus zu hören „seiner Eigenschaft als dem geliebten / erwählten Sohn, so wie dies eben in dem ersten Teil der Aussage verdeutlicht wird“ (vgl. Pedersen, Proklamation, 254). Vgl. zu Mose in Mt Anm. 124, S. 77. 668 Zur narrativen Vernetzung der beiden Episoden vgl. Puig i Tàrrech, Glory, 162–163; Heil, Transfiguration, 213. 669 In Mk  9,6 sind die Jünger, schon bevor sie die Stimme wahrnehmen, ganz verstört (ἔκφοβος); die matthäischen Jünger sind hingegen erst nachdem sie die himmlische Stimme hören (17,6[red.]: ἀκούσαντες), von Ehrfurcht erfüllt (φοβέομαι). An der Stelle gilt dass, „Erschrecken  – als richtige Epiphanienreaktion ist Ausdruck der positiven Ergriffenseins und nicht eines Verunsichertseins“ (Schenk, Sprache, 456; Senior, Passion Narrative, 326 [„holy fear“]; gewöhnlich als Reaktionen auf eine Epiphanie: Ex 34,30; Jos 5,14; Jer 1,8; Dan 1­ 0,9–12; Ez 1,28; 3,23; Lk 24,37; Act 10,4; Apk 1,17; 1Hen 14,14; 4Esra 10,29–30; ApkAbr 10,2–3). So auch an einigen anderen Stellen: Mt  9,8 (Mk  2,12: ἐξίστημι; Lk  5,26: πίμπλημι φόβου); 17,6; 27,54[red.]. Sonst deckt der Begriff bei Matthäus eine ziemlich breite Bedeutungspalette ab: Furcht vor lauernden Gefahren (2,22: Joseph vor Archelaus; 14,30: Petrus auf dem Meer); listige politisch motivierte Furcht nur bei den Gegnern Jesu (14,5; 21,26.46). In 9,8 werden zusätzlich die Reaktionen der Anwesenden schärfer differenziert: Die Menge erkennt die außergewöhnliche ἐξουσία (9,8), aber die Bosheit der Schriftgelehrten wird gesteigert (vgl. Mt 9,4 // Mk 2,8 // Lk 5,22).

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barung des göttlichen Sohnes, alles geschieht in einer geheimnisvollen Atmosphäre (nur drei Jünger kommen mit: Petrus, Jakobus, Johannes, vgl. auch 26,37; 17,5: die Stimme kommt aus einer Wolke; 17,9: das markinische Schweige­gebot wird ebenfalls übernommen, vgl. 16,20). 17,1–9 wirkt also auf der Ebene der Motivik wie eine meisterhaft gestaltete, narrative Zusammenfassung, in der das­ Voran­gehende in Anbetracht der letzten Phase der Auseinandersetzungen in Jerusalem und der nahe kommenden Passion670 des Gottessohnes in Wort, Klang und Bild summiert wird. Auch das ekklesiologische Element geht nicht verloren – die drei Apostel werden mit einer Formel von Jesus beschwichtigt (17,7: μὴ φοβεῖσθε, als Negativform schon in der Rede des vorsorglichen Engels in der Kindheitsgeschichte [1,20] anzutreffen), die von Matthäus konsequent nur671 gegenüber den Jüngern verwendet wird. An Stellen wie 10,26.282.31; 14,27; 17,7; 28,2.10 ragt diese Ermutigung ganz deutlich über die Erzählfläche hinaus und lässt einer bedrohten und gefährdeten Gemeinde freien Raum, ihre Angst und Sorge zum Ausdruck zu bringen. Das Wort Jesu bewirkt Trost, vergegenwärtigt in den Gemütern der Gemeindemitglieder die göttliche schützende Macht und so „wird die Furcht […] in Vertrauen gewandelt“.672 Der Begriff φοβέω673, der bei Matthäus mit dem gewichtigen θεοῦ υἱός-Titel an drei Stellen (Mt  14,33; 17,7; 27,54) und mit der göttlichen ἐξουσία (9,8)674 verbunden ist, fasst also vor allem in seiner imperativischen, negativen Form, wie ein identity marker der Gemeinde zugleich, die weltliche, ängstliche Lage, aber auch den allmächtigen, beruhigenden Zuspruch Jesu, der diese Angst als „Kennzeichen christlicher Unvollkommenheit“ löst,675 zusammen. Die Mischung von immer wiederkehrender Angst und immer wiedergewonnener Zuversicht macht den emotionalen Grundton des Evangeliums

670 Zur Beziehung Verklärung – Passion, besonders mit Bezug auf die Getsemani-Szene vgl. Kruijf, Sohn, 90; Luz, Mt II, 511; Kenny, Transfiguration, 444–452; Heil, Transfiguration, 231–233. 671 Wegen der matthäischen Verkürzung kommt die Wendung in 9,18–26 bei der Auf­ erweckung der Tochter des Jairus nicht vor (vgl. Mk 5,36 // Lk 8,50); nach der Verklärung wendet sich nur der matthäische Jesus den drei Aposteln mit diesen Worten zu (17,7); nach der Auferstehung in 28,5 legt nur Matthäus das Wort wieder in den Mund Jesu (vgl. Mk 16,6: μὴ ἐκθαμβεῖσθε; Lk  24,5 zieht eine adjektivale Form vor: ἐμφόβων δὲ γενομένων) und in 28,10 ebenfalls. 672 Balz, Art. φοβέομαι, 1030. 673 Der nächste Verwandte – ταράσσω – einmal in Bezug auf Herodes und ganz Jerusalem (2,3), einmal auf die erschrockenen Jünger im Boot (14,26), findet bei den Synoptikern kein besonderes theologisches Interesse. 674 Das Motiv der Furcht ist zwar auch in der lk Parallele (Lk 5,26) vorhanden (ἐπλήσθησαν φόβου), Matthäus beschränkt sich aber in Anlehnung an Mk 2,12 auf eine zweigliedrige Re­ aktion des Volkes. 675 Strecker, Weg, 234.

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aus. Die ekklesiologische Relevanz wird erhärtet, wenn man bedenkt, dass φοβέω an zwei Stellen zusammen mit der typischen Gemeindeanbetung προσκυνέω676 auftaucht. Die Weichen für ein ekklesiologisches Verständnis von προσκυνέω in Abgrenzung von der feindlichen Außenwelt, werden schon in der Kindheitsgeschichte gestellt: Der hingebenden Huldigung der Magier (2,2.11) steht die listige Absicht Herodes (2,8) zur Seite. Die Feinde dürfen bei Matthäus Jesus nicht einmal spöttisch huldigen: Die karikierende Geste der Soldaten (Mk 15,19) nach der Verurteilung passt überhaupt nicht zum matthäischen Ernst der Anbetung des Gottessohnes. Matthäus lässt auch den Besessenen in 8,29 Jesus nicht anbeten (vgl. Mk 5,6: προσκυνέω!); umso weniger wird Jesus dem Teufel Proskynese erweisen wollen – in der Versuchungsgeschichte lehnt der Sohn Gottes das aufdringliche Angebot des Teufels souverän durch Bezug auf Dtn 6,13 ab (4,10). Bezeichnenderweise behält Matthäus λατρεύσεις dabei treu, ersetzt aber φοβηθήσῃ (vermutlich die griechische Über­setzung von aryt) durch προσκυνήσεις – ein wichtiger Hinweis, dass die Begriffe für ihn in der LXX-Tradition tatsächlich verzahnt sind.677 Anders gesagt: Der richtige Ausdruck der Furcht vor Gott ist seine Anbetung und das geschieht konsequent nur auf Gemeindeebene.

Die privilegierte Stellung der Jünger im Verhältnis zu Jesus wirkt sich selbst auf ihren Status aus. Sie sind vor allem verstehende μαθηταί;678 ihre ‚kognitiven‘ Fähigkeiten stellt Matthäus mehrmals unter Beweis. Die selbst zugesprochene (christologisch konstruierte)  ekklesiologische Hoheit wird sprachlich an meh 676 Vgl. Mt 14,27–33; 28,5–9. Über die Vorliebe Matthäus für diesen stereotypischen technischen Ausdruck vgl. auch Kruijf, Sohn, 79; Grindheim, Christology, 96–98; Hurtado, Opposition, 40–41. Ein Blick in die Synopsis reicht, um festzustellen, wie große Bedeutung Matthäus der Anbetung Jesu beigemessen hat: 13 Stellen im Vergleich zu Mk (2) und Lk (3). Darunter zahlreiche redaktionell: Schon in der ersten Heilungsgeschichte, bevor Jesus keine Wunderkräfte gezeigt hätte, fiel vor ihm der Aussätzige nieder (Mt 8,2[red.]; vgl. Mk 1,40: γονυπετέω; Lk 5,12: πίπτω ἐπὶ πρόσωπον); 9,18[red.] (vgl. Mk 5,22; Lk 8,41: πίπτω πρός / παρὰ τοὺς πόδας); 14,33[red.] (vgl. Mk 6,51: ἐξίστημι); 15,25[red.] (vgl. Mk 7,25: προσπίπτω); 18,26[red.]; 20,20 [red.] wie auch 28,9.17 [beides red.]. Zurückgedrängt wurde dabei προσπίπτω  – Mk  3,11; Mk 5,33 // Lk 8,47; Mk 7,25; Lk 5,8; 8,28; 8,47 – durch Auslassung eines Textabschnittes. Die Wendung findet sich also entweder im Munde der bedürftigen Menschen (diese Kategorie wird in der Typologie von Powell, Typology, 6–10, als „supplicatory worship“ bezeichnet), die nach Hilfe rufen oder um etwas bitten wollen (wie in 8,2; 9,18; 15,25; 18,26; 20,20) oder der Apostel, die sich vor seiner Gottessohnschaft (14,33) oder vor der göttlichen Vollmacht des Auferstandenen (28,9.17) niederwerfen. Somit ist Nützel, Art.  προσκυνέω, 420, völlig zuzustimmen: Durch die Verwendung von προσκυνέω lässt Matthäus „hinter dem irdischen Jesus die Herrlichkeit des zur Rechten Gottes erhöhten Christus und damit die Vollmacht Gottes (vgl. 28,18) aufscheinen“; vgl. auch Grindheim, Christology, 97 f. 677 Die Substitution mag dadurch erleichtert gewesen sein, dass προσκυνέω + λατρεύω in Dtn aber auch sonst in der LXX sehr oft paarweise vorkommen (vgl. Menken, Deuteronomy, 47); als Belegstellen vgl. Dtn 4,19; 5,9 (= Ex 20,5); 8,19; 11,16; 17,3; 29,25; 30,17; 2Kön 17,16; 21,21; 2Chr 7,19; Dan 3,14.18.95; 6,27; für φοβέω + προσκυνέω + λατρεύω, vgl. 2Kön 17,35; Dan 3,12. 678 Bornkamm, Enderwartung, 37: „Der Korrelatbegriff zu διδάσκαλος“; auch Normann, Didaskalos, 43. Zur ‚Klugheit‘ der Jünger vgl. oben 4.3.1.1.

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reren Stellen in verschiedenen ‚Titeln‘ als ‚Elementarteilchen‘ eines verbesserten subjektiven Status festgehalten und typologisch verdichtet: τὸ ἅλας τῆς γῆς (5,13); τὸ φῶς679 τοῦ κόσμου (5,14); οἱ υἱοὶ680 τῆς βασιλείας (13,38). Das macht die Jünger aber nicht unfehlbar, die Jüngerexistenz ist nach Matthäus auch von mangelndem Glauben (ὀλιγόπιστος: 6,30 // Lk 12,28; 8,26[red.]; 14,31[red.]; 16,8[red.]; bzw. ὀλιγοπιστία: 17,20[red.])681, Angst (vgl. oben S. 339– 340) und Zweifel (διστάζω: 14,31[red.]; 28,17[red.])682 gekennzeichnet.683 Der „Kleinglaube“ ist deswegen eine Art ‚Sprachmarker‘ für die Gruppenmitglieder; 679 Mt versteht „die Spruchkette als Einheit“ und bezieht sie auf die Jüngergemeinde (Steinhauser, Doppelbildworte, 338, 345; vgl. dazu auch Jones, Parables, 359–364; Broer, Anti­ thesen, 130: „Wenn Mt die lebenswichtige Bedeutung des Salzes und des Lichtes für die Jünger reserviert, so weist er ihnen eine einzigartige Bedeutung für die Welt zu“; Müller, Figure, 171: „The role of being Christ’s representatives is bestowed upon them“; Dumbrell, Logic, 15: „Matthew has personalized the saying in community form“). Zur ähnlichen Selbstbezeichnungen vgl. 1Hen 104,2 („jetzt werdet ihr leuchten wie das Licht des Himmels“); 1QS 3,20 („Fürst der Lichter“ – ~yrwa rf); 1QS 1,9; 3,13.25; 1QM 1,1 („Söhne des Lichtes“- rwa ynb); 1QS 3,18 f („Geist der Wahrheit“ – tmah twxwr) und das Gegenstück dazu: 1QS 3,21 („Engel der Finsternis“$alm $vwx); 1QS 11,10 („Finsterniswandler“ – $vwx yklhw). 680 Schnackenburg, Salz, 136–140, sieht dieses Wort im Kontext der Polemik „mit dem ungläubigen Judentum“ (136), damit die Christen „sich ihrer Hoheit und Würde bewusst“ (140) werden. Abgesehen von der obsoleten Perspektive der Konfrontation mit dem Judentum ist der polemische Sitz im Leben eine wertvolle Beobachtung. Auch sonst greift man auf solche Begriffe, vgl. 1Hen 93,2 („Kinder der Gerechtigkeit“); 105,2 („Söhne der Rechtschaffenheit“); 101,1 („Söhne des Himmels“) im Gegensatz zu 102,3 („Kinder der Erde“); 1QS 2,2 („Männer des Loses Gottes“ – la lrwg yvna); 1QS 2,16; 3,13 („Söhne des Lichts“ – rwa ynb); 1QS 3,20.22 („Söhne der Gerechtigkeit“ – qdc ynb) als Kontrast zu 1QS 9,17 („Männer der Verkehrtheit“ – lw[h yvwna); CD 6,15 („Söhne der Grube“ – hvxt ynb); 1QS 2,4 f („Männer des Loses Belials“ – l[ylb lrwg yvna); 2Sam 7,10 (υἱὸς ἀδικίας); Hos 10,9 (τὰ τέκνα ἀδικίας). Zur dualistischen Weltanschauung der Qumran-Gemeinde vgl. Leonhardt-Balzer, Evil, 133–136. 681 Vgl. Zumstein, La condition, 239 ; Luz, Jesusgeschichte, 81 f; Backhaus, Kirchenkrise, 130 f; Frankemölle, Amtskritik, 255; Wouters, Willen, 289–292; Gnilka, Verstockungs­ problem, 123: „Sie umschreibt aber nicht Verständnislosigkeit, sondern kleinliche Sorge um das eigene Ich“; Hendrickx, Miracle, 197: „There is faith, but there is also a problem of perseverence“; Wilkins, Disciple, 152–153. 682 In οἱ δὲ ἐδίστασαν sind die Jünger selbst gemeint (so auch Ellis, Some, 576; Giblin, Note, 68–75; Kratz, Seewandel, 92; Moberly, Jesus, 191–193; zu den Auslegungsvarianten vgl. Luz, Mt IV, 438 f) und nicht Leute außerhalb des Jüngerkreises. Der enge Zusammenhang mit der ekklesiologisch gedeuteten Szene im Boot ist Dank dem Begriffspaar διστάζω + προσκυνέω gesichert (vgl. Oberlinner, Anmerkung, 398). Der Zweifel hat einen paradigmatischen Charakter für das Leben der Gemeinde: „a paradigm of the life of discipleship. Discipleship is never a static state, a condition to rest in, but a vocation to be realized“ (Ellis, Some, 578; vgl. auch Luz, Mt IV, 440; Oberlinner, Anmerkung, 399: „Mt spricht damit auch eine Unsicherheit an, die viele Christen seiner Zeit im Blick auf die übermächtig erscheinende Wirklichkeit eher zur Resignation veranlassen mochte“). 683 Kratz, Seewandel, 91: „Beide Fehlhaltungen sind auf die Jünger bzw. die Gemeinde beschränkt“. Darin kommt eine „ekklesiale Lebenskrise“ zum Ausdruck (Backhaus, Kirchenkrise, 129). Vgl. auch Strecker, Weg, 232–235; Frankemölle, Amtskritik, 256; Schaberg, Father, 330: „For Matthew discipleship involves terror and unsolved tension“.

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die sprachliche Entwicklung einer Gemeinschaft passt sich den spezifischen Erlebnissen und Bedürfnissen an und bildet gruppentypische Bedeutungsträger; so entsteht eine ‚Fachsprache‘, die sich aus dem Vokabular bedient, das rollen- und gruppentypische Sachverhalte in neu geschaffenen Sonderformen ausdrückt.684 Damit aber fallen die Jünger nicht in den früheren Zustand zurück, denn „Kleinglaube“ bedeutet nicht „Unglaube“ (dafür ἄπιστος in 17,17),685 sondern gerade in ihrer Schwäche „liegt die Appellfunktion für die Textadressaten“.686 Ihr vom Zweifel geplagtes Leben spiegelt die gegenwärtige Lage einer Gemeinde wider, die trotz der tiefen christologischen Verwurzelung mit ihren Aufgaben in der feindlichen Umgebung nicht mehr zurechtkommt. So reflektiert diese typische Bezeichnung einen laufenden selbstkritischen Prozess innerhalb der Gruppe, die in der Jesuserzählung, in der Gestalt der Jünger die eigenen Probleme zur Sprache bringt. Petrus nimmt in dieser Hinsicht als „typischer Jünger“687 eine wichtige Stellung ein; er vereint bis ins Extreme die positiven (16,16.18; 19,27), wie auch die negativen (16,23: σκάνδαλον εἶ ἐμοῦ; 26,70.72.74: ἀρνέομαι) Eigenschaften der Gemeinde. Gruppenpsychologisch ist Petrus deswegen eine prototypische Figur, mit der sich jeder Christ ohne weiteres identifizieren kann. Damit ist die Krise erkannt, aber keineswegs gelöst. Den pragmatischen Impuls entnimmt der matthäische Christ nicht der narrativen Gestalt Petri, die vor allem, wie auch die Gestalt der anderen Jünger, dazu dient, Vergangenheit und Gegenwart typologisch besser zu verbinden, sondern leitet ihn von der Lehre und dem Leben Jesu selbst ab.688 Der matthäische Christ lebt also unter dem Vorzeichen von zwei Prototypen, von denen der eine ihm hilft, seine Bedürfnisse zu iden 684 Vgl. Badura, Sprachbarrieren, 103 ff; auch Laver / Trudgill, Phonetic, 26: „Minority groups […] develop specialized vocabularies which both reflect their particular interests and reinforce group solidarity, as well as excluding outsiders who are not familiar with the world involved“. Vgl. auch 1.2.1, S. 24 f. 685 Strecker, Weg, 233: „Darüber hinaus findet sich eine offenbar bewusste Unterscheidung zwischen ἄπιστος als dem Verhalten der Außenstehenden und ὀλιγοπιστία, die nur von den Jüngern bwz. der Gemeinde ausgesagt ist“; Dupont, Le point, 248; Backhaus, Kirchenkrise, 130 („keineswegs eine prinzipielle Glaubensverweigerung […]. ‚Kleinglaube‘ ist damit, das typologische Jüngerverständnis vorausgesetzt, ein ekklesiologischer Mangelbegriff “); Meier, Vision, 99; Frankemölle, Amtskritik, 255: „Als Verstehende [bedürfen] allerdings zu einem bedingungslosen Glauben des paränetischen Zuspruchs“. 686 Backhaus, Kirchenkrise, 129. 687 Luz, Jesusgeschichte, 112; Ders., Mt II, 468; Poplutz, Glaube, 35; Backhaus, Kirchenkrise, 130; Trilling, Israel, 159; Overman, Matthew, 140; Strecker, Weg, 205 f: „Die Gestalt des Petrus […] hat primär nicht historische, sondern typologische Bedeutung“; sie „wird […] im Hinblick auf das widerspruchsvolle Sein des Christen transparent“; Segal, Matthew, 9 („role model and hero of that community“); Roloff, Kirche, 164 („Urbild des wahren Jüngers“); Brown u. a. (Hg.), Peter, 83: „In both his strength and weakness he is a lesson for Christian disciples“; Kratz, Seewandel, 100 („Prototyp des Glaubenden“); Wilkins, Disciple, 183: „Matthew’s readers would be able to identify with Peter“. 688 Vgl. Howell, Matthew, 269: „Jesus is exemplary as  a model for discipleship because what he experiences and does is also what the disciples must do“.

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tifizieren und zu verbildlichen, und der andere sie zu überwinden. Die Spannung, die daraus entsteht, ist ethischer Art („Primat der ethischen Forderung“).689 Der matthäische Identitätsansatz wächst aus der tiefen Überzeugung, dass das jesuanische ethische ‚Programm‘ die gegenwärtige (interne und externe) Lage am besten anspricht und mit der nötigen Anstrengung der Gruppenmitglieder Gestalt im Leben der Gemeinde annehmen kann. Solche Überlegungen über ein Selbstbild der Gemeinde, das immer von einem selbstkritischen Unterton begleitet ist, führen mich vor allem zu dem Schluss, dass Matthäus mit seinem Buch keineswegs eine Gemeinde der ‚Auserwählten‘ anspricht. Den matthäischen Christen mangelt es offensichtlich nicht an Selbstvertrauen, sie sind sich aber auch ihrer Schwäche und Anfälligkeit bewusst. In der Forschung werden üblicherweise Texte wie Mt  13,24–30.36–43; 13,47–50; 22,11–14690 usw. oftmals auch auf die Gemeinde übertragen, um ein ethisch gemischtes Selbstbild zu postulieren – die Gerufenen und die Auserwählten (22,14) werden erst im Endgericht voneinander getrennt, die Kirche ist also, wie auch die Welt, ein ‚ethisches Mischwesen‘ (corpus mixtum).691 Das reflektierte, selbstkritische Selbstbild, wie es sich in der Reihe von gerade erwähnten Begriffen niederschlägt, bringt m. E. diese Dimension der matthäischen Ekklesiologie und Ethik viel besser als die genannten Texte zum Ausdruck. Durch den Eintritt in die Gemeinde hat sich jedoch der Christ eine gute Ausgangsposition verschafft. Hier mangelt es weder an angemessener Gesetzesauslegung, noch an kompetenter Führung, um im Endgericht bestehen zu können. Zugleich steht man unter dem Schutz der anderen Brüder. Die Gestaltung der Gerichtsszene (25,31–46) macht sogar eindeutig Elemente der Gruppenideologie (die Sorge um die Bedürftigen 25,35 f.42 f; das Primat der Taten, vgl. ποιέω in 25,402.452; die entscheidende Bedeutung der geringsten Brüder 25,40 [ἐλάχιστος + ἀδελφός].45 [ἐλάχιστος] als alter ego für Jesus selbst in 25,40.45, 689 Strecker, Weg, 219. 690 So z. B. Konradt, Israel, 214, mit direktem Verweis auf Mt 22,11–14. Vgl. jedoch neulich: Konradt, Mt, 14–15: „Weder 13,36–43 noch 22,8–14 lässt sich für diese These in Anspruch nehmen“ mit Verweis, wie hier oben aufgeführt, auf die Rede vom Kleinglauben. 691 Der Ausdruck geht auf Bornkamm, Enderwartung, 17, zurück; vgl. vor allem für die Verteidigung der These Gundry, Defense, 153–165; Smith, State, 149–168; auch Sheridan, Disciple, 249: „in the church there is both good and evil“; Zumstein, La condition, 381–385; Roloff, Kirche, 160 f; Strecker, Weg, 218 f; Park, Sündenvergebung, 220–225; Thyen, Studien, 240; Hoet, Omnes, 29; Wong, Theologie, 170–177; Gnilka, Kirche, 49: „Die Erfahrung des Bösen war in der Kirche des Mt keine Randerscheinung“; Dupont, Le point, 225; Roloff, Kirchenverständnis, 355; Backhaus, Kirchenkrise, 132 f; Frankemölle, Amtskritik, 252; Goldhahn-Müller, Grenze, 165; McIver, Mainstream, 108. Dagegen sprechen sich Sand, Mt, 383; Schweizer, Gemeinde, 37–40; Walter, Kirchenverständnis, 141; Luomanen, Corpus, 469–480, aus; nuanciert Kraus, Ekklesiologie, 231–234: An sich stehe auch der Kirche das Gericht bevor, nur ließe sich dieser Sachverhalt durch den corpus permixtum nicht adäquat zum Ausdruck bringen.

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„Die Anderen“

„Wir“ –– (meine) Ekklesia (16,18; 18,17) –– Söhne der Basileia /  Salz der Erde / Licht der Welt (13,38; 5,13.14)

Kategorisierung Soziolinguistische Distinktheit

–– (ihre / eure) Synagoge (4,23; 9,35;10,17; 12,9;23,34) –– Söhne der Hölle / Kinder des Bösen (23,15; 13,38)

Selbstbild

Feindbild

• Kognitive Ebene –– Wissen / Verstehen (13,11.51) –– ‚Gute‘ Schriftgelehrten (13,52; 23,34) –– Zugang zum Himmelreich verschaffen (16,19; 18,18) –– ‚Gute‘ Missionare (10,5 ff)

• Kognitive Ebene –– Falsche Lehre /  Blindheit (15,9; 16,11–12 / 15,14; 23,16.17.19.24.26) –– ‚Ihre‘ Schrift­gelehrten (7,29) –– Das Himmelreich verschließen (23,13) –– Irreführende Missionare (23,15)

• Ethische Ebene –– „Die bessere Gerechtigkeit“ (5,20) –– Bruderschaftethos (23,8–12; Kap.18) –– Das Primat des Gesetzes (5,17–20; 23,23) –– Heilsbringende Zuwendung zu den Menschen (11,28–30; 22,34–40) –– Praktiziertes Liebes­ gebot (Kap. 18; 23,8–12) –– Demut und Vergebungbereitschaft (18,1–4; 20,26–28; 23,11 f; 6,12; 7,1–5; 18,35)

Akzentuierung Mirror Image-Effekt

• Ethische Ebene –– Scheinfrömmigkeit (6,1.5.16) –– Macht- und Geltungssucht (23,2.6 f) –– Umgehung des Gesetzes (15,3–6; 23,23) –– Menschenverachtung, Selbstgerechtigkeit (23,4.23.30) –– Heuchelei und Titel­ sucht (15,7–8; 23,3–7.27 f) –– Gleichgültigkeit und Habgier (9,13; 12,7; 27,4; 23,25)

Bild 2: Schematische Darstellung der sozialpsychologischen Konstruktion vom Selbst- und Gegnerbild im Matthäusevangelium

Symbolische Gewalt: Gott, Geschichte und Gemeinde 

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vgl. 10,40; 18,5) zu Kriterien für das Hineinkommen in das Himmelreich überhaupt. Dem matthäischen Christ ist die Rettung also nicht garantiert, er be­findet sich aber an dem möglichst günstigen Ort, an dem er sie sich selbst erarbeiten kann – am locus salutis. Schlussfolgerungen: Character Assassination692 als Konfliktstrategie im Matthäus­ evangelium Mit heutigen Augen betrachtet ist die matthäische Konfliktaustragung unfair, denn über die polemischen Zwecke und die strittigen Punkte hinaus bemüht sich der Redaktor seine Opponenten auch grundsätzlich zu diskreditieren.693 Das Evangelium wird dadurch zu einem Zeugnis eines heftigen Machtkonfliktes zwischen einer etablierten pharisäisch-geprägten Gruppe und einer jüdisch-christlichen Gemeinde, die in die neuentstandene Geschichte Jesu ihre eigenen Belange und Ansprüche hineinschreibt. Es geht um das Heil Israels,694 das Matthäus wegen des totalen Versagens der Führungskräfte als gefährdet ansieht. Die theologisch-ethische Sprache und die narrative Welt bilden somit ein virtuelles Medium, durch das in einem Lesens- und Hörens-Vorgang diese Konfrontation ständig ausgetragen wird und wodurch diese eine paradigmatische Bedeutung erlangt: Der Konflikt mit der Synagoge verselbstständigt sich; Jesus und die Gemeinde, d. h. jeder Christ, hat mit der unaufhaltsamen Feindschaft der Pharisäer zu rechnen. Spuren dieser Auseinandersetzung sind in der Erzählung auf Schritt und Tritt zu finden. Der Konflikt ist im MtEv allgegenwärtig und beeinflusst zutiefst die theologisch-ethische Konstruktion. Im Rahmen der exegetisch und sozialpsychologisch geleiteten Konfliktanalyse wurde oft auf die Verflechtung der matthäischen genuinen Wirklichkeitskonstruktion mit der konfliktbeladenen realen Geschichte hingewiesen. Diese zwei Ebenen treffen sich, wie gezeigt, besonders nach drei Dimensionen: (1) gerichtstheologisch – Matthäus macht sich die Gerichtssprache zunutze, um der pharisäischen Führungsschicht das unausweichliche Urteil Gottes anzudrohen und ihr jede Legitimation zu entziehen; (2) geschichtstheologisch – Die zurückliegende Tempelzerstörung durch die Römer bot einen günstigen Anlass, die eigene Geschichtsdeutung zu plausibilisieren; 692 Als Antwort auf die kritische Anmerkung von Prof. Matthias Konradt ist an dieser Stelle zu verdeutlichen, dass der Ausdruck „Character Assassination“ keineswegs „Rufmord“ be­ deutet, sondern „the act of deliberately attempting to destroy a person’s reputation by defamatory remarks“ (Hervorhebung von R. P.), vgl. Collins English Dictionary, Glasgow 122014, 345. Dies trifft m. E. für MtEv völlig zu. 693 Vgl. z. B. in Bezug auf 23,23 f Vaage, Woes, 604: „The level of discourse sunk to that of insult“; Frankemölle, Antijudaismus, 85 („verzerrend, destruktiv, pauschalisierend und maßlos polemisch“). 694 Saldarini, Matthew, 67: „Matthew and his group are in a struggle for the hearts and minds of their fellow Jews“.

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Der subjektive Status der Gemeinde

(3) ethisch-theologisch  – Die schroffen Vorwürfe im Bereich der Ethik lassen den typischen Pharisäer als einen gleichgültigen, eigennutzorientierten Lehrer erscheinen, dem es viel mehr darum geht, einen möglichst frommen Eindruck zu hinterlassen, als gewissenhaft und menschenzugewandt das Gebot Gottes einzuhalten. Diese drei Horizonte strukturieren die Konfliktaustragung, wie sie im Matthäusevangelium zum Vorschein kommt. Zwischendurch weist aber der Text auch eine Fülle an direkten verbalen Angriffen auf, die meistens ebenfalls in der theologischen Konstruktion des Evangeliums zu verorten sind. Die glatten Beschuldigungen häufen sich dermaßen, dass die gemalte Wirklichkeit an Objektivität stark verliert. Die matthäische Strategie verschiebt sich leicht von Inhalten und Argumenten in die Richtung Delegitimierungsversuche695 der Kontrahenten. In Konfliktgesprächen geriet die Interaktion leicht außer Kontrolle und es kommt zu feindseligen Bemerkungen und zum Kommunikationsbruch.696 Zur Exemplifizierung werde ich versuchen, ein kleines Inventar der häufigsten Schimpfwörter697 und Bedrohungen bei Matthäus zu erstellen und auch ähnliche Beispiele aus dem unmittelbaren literarischen Umfeld darzubieten. Matthäus steht in einer langen Tradition der Polemik in und außerhalb des Judentums. Die verbale persönliche Attacke erreicht in Mt 23 einen Höhepunkt, ist aber keineswegs auf ein einziges Kapitel beschränkt; man kann von einer akuten und systematischen Tendenz sprechen, den Gegner in allen Formen zu delegitimieren.698 695 Diese Thematik hat besonders durch die Studie von Saldarini, Deligitimation, 6­ 59–680, Eingang in die Matthäusforschung gefunden; vgl. auch Ders., Matthew, 46 f. Auf dem Gebiet der Sozialpsychologie ist vor allem auf Bar-Tal, Causes, 65–81; Ders., Delegitimation, 170–182; Ders., Conception, 93–104 zu verweisen. 696 Schank, Konfliktanalyse, 35, Anm. 34: „Konfliktäre Gespräche sind nicht primär themenzentriert sondern beziehungsorientiert“. Zu den Argumenten ad hominem vgl. Dieckmann, Streiten, 62–63. In der griechisch-römischen Rhetorik war die persönliche Attacke oft als Zweck der Invektive oder Vituperatio anzutreffen (Craig, Audience, 187–213). Als leitende Definition der Invektive kann die von Koster, Invektive, 354, dienen: „Die Invektive ist eine strukturierte […] literarische Form, deren Ziel es ist, mit allen geeigneten Mitteln eine namentlich genannte oder benennbare Person für sich allein oder auch stellvertretend für andere, öffentlich vor dem Hintergrund der jeweils geltenden Werte im Bewußtsein der Menschen für immer vernichtend herabzusetzen“. Über Argumente ad hominem in Mt 23 sprechen Saldarini, Delegitimation, 670; Vaage, Woes, 603; Freyne, Vilifying, 135 („language of annihilation“). Darin besteht der Zweck der Invektive überhaupt: „den Redegegner“ zu „vernichten […], ohne ihn verbessern oder zu einem anderen Verhalten anhalten zu wollen“ (Neumann, Art. Invektive, 550). 697 Zum Vorwurf der Blindheit (τυφλοί) vgl. S. 71, 211, 309 f. 698 Zur matthäischen Polemik als Teil des gewöhnlichen antiken (nicht) jüdischen Diskurses, vgl. Johnson, Slander, 419–441; Turner, Mt 23, 23–42; Frankemölle, Pharisäismus, besonders 142–174; Davies, Stereotyping, 418–423; Davies / Allison, Mt III, 257–263; zur Polemik als „language of sectarianism“ vgl. Overman, Matthew, 16–19.

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Die ὑποκριτής ist das stereotypische Label der Pharisäer und Schriftgelehrten bei Matthäus699 und ein verbreitetes polemisches Motiv.700 Der Höhepunkt der Vorwürfe wird am Ende der sieben Weherufe in 23,31 erreicht, wenn Matthäus die Unschuldbeteuerung der Pharisäer und Schriftgelehrten in V. 30 ironisch umdreht und sie als versehentliche Zustimmung der Beteiligung am Prophetenmord deutet (vgl. auch 16,21; 20,18).701 Auch die Welt jenseits des Menschlichen – die Tiere und die Dämonen – kann in der Verleumdungssprache als Anknüpfungspunkt dienen. Das tut Matthäus mehrmals: 3,7; 12,34; 23,33 (γεννήματα ἐχιδνῶν; ὄφεις702) wobei die erwähnten Tiere durch eine intrinsische Semantik703 abwertende menschliche Eigenschaften bezeichnen. Die narrative Entwicklung der Konfliktgeschichte legt eine Identifizierung der Kontrahenten nach ihrer Handlungsart und Absicht mit dem Teufel aus der Versuchungsperikope (4,1–11)704 nahe; ihre grundsätzliche Bösartigkeit (vgl. 9,4; 12,34 f.39.45; 16,4) ist ebenfalls teuflisch. Deswegen kann man nicht fehlgehen, wenn οἱ υἱοὶ τοῦ πονηροῦ (13,38, vgl. auch 13,19.49)705 als die 699 Zum Kap. 23 vgl. 321–323; außerhalb von Mt 23 noch in: Mt 6,2.5.16; 7,5; 15,7; 22,18. 700 Vgl. Philo, Jos 67 f; Det 72 f; Fug 156; Somn II 40; Prob 99; LegGai 25.162; Josephus, Bell II 587; Ap II 142–144; PsSal 4,6–7.22; TestMos 7,2–10; TestBenj 6,4–5; CD 1,20–2,1; 4,19–21; 8,1–21; 1QpHab 2,1–4; 5,8–12; 10,9–13; Did 8,1; Herm sim VIII 6,5; mSota 2,2b; 3,4 f–h. Zur Erweisung von „glatten Dingen“ als „Falschheit“, „Heuchelei“ im Sinne einer falschen Gesetzesauslegung und zur Identifizierung der Angeredeten (twqlxh yvrwd) mit den Pharisäern an Stellen wie 4QpNah Frgm. 3-4 1,2.7; 2,2.4; 3,3.6 f; 4QpJes Frgm. 23 2,10; CD 1,18 f; 1QH 10,15.29–34; 12,9–11, vgl. vor allem VanderKam, Smooth Things, 465–477; Baumgarten, Art. Seekers, 857–859; Freyne, Vilifying, 134. 701 Zu den (Propheten)Mörder-Vorwürfen vgl. auch Mt 5,10–12; Lk 11,47–48; Act ­7,51–52; 1Thess 2,15–16; 1Kön 19,10.14; Neh 9,26; Jer 2,30; 26,20–24; SapSal 2,12–20; Philo, LegGai 120–123; Josephus, Bell II 254–258; 1Hen 12,5; 95,7; TestMos 6,3–4; TestLevi  16,2–3; 1QH 10,21; 1QpHab 11,4–8. 702 Vgl. Philo, Somn II 89; LegGai 166 (πονηρὰ σπέρματα κροκοδείλων καὶ ἀσπίδων); 205 (σκορπιῶδες ἀνδράποδον); PsSal 4,9; 1QH 5,27; 4Q525 Frgm. 15 1-8; CD 8,10 f; als Beispiele späterer innerchristlicher Polemik vgl. IgnEph 7,1 („ravening dogs“); IgnPhld 2,2 („wolves that appear worthy of credit“); IgnSm 4,1 („beasts in the shape of men“) – Belegstellen von Fran­ kemölle, Pharisäismus, 147. 703 „Hinterlist“, „Tücke“, „schleichende Bewegungen“, „die Giftigkeit als wesentliches Moment des Vergleichs“; „Kontrast von äußerer Glätte und innerer Tücke“ (vgl. Foerster, Art. ὄφις A, 567; Ders., Art. ἔχιδνα, 815). Man kann natürlich auch an Gen 3,1 denken – das wäre dann ein ähnlicher Gegenvorwurf von der Seite Jesu (vgl. Chow, Sign, 60, Anm. 27). Die Schlange und der Teufel stehen in der Tat oft in enger impliziter oder expliziter Beziehung zueinander (dazu Foerster, Art. ὄφις C, 575–578) wie in: SapSal 2,24; gr3Bar 9,7; grLAE 16,1 ff; VitProph 12,14; TestAss 7,3 als Anspielung auf Gen  3,15; zu den rabbinischen Belegen vgl. Strack / Billerbeck, Kommentar, Bd. 1, 137–139; Bd. 4.1, 507. 704 Vgl. Anm. 325–326, S. 119. 705 Von dem ‚Dämonisierungsversuch‘ der Gegner machen auch die Pharisäer in 9,34 und 12,24 Gebrauch; vgl. indirekt auch 10,25. Malina / Neyrey, Calling, 28: „The accusation of demon possession against Jesus […] was intended to dishonor and discredit him“; gegen Johannes den Täufer 11,18. Mit verschiedenen Protagonisten ist diese Praktik auch in anderen Schriften

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Der subjektive Status der Gemeinde

selben persönlichen Gegner von Matthäus identifiziert werden, die ständig die christliche Mission erschweren und diese zunichte zu machen versuchen. Die Wehe-Rufe stellen in sich durch die unausweichliche Strafe, die sie anschließend verkünden, effektive Bedrohungen dar. Solche anstößigen Züge, besonders in Mt 23, aber auch sonst im ganzen Evangelium und in der frühchristlichen Literatur, haben die Exegeten dazu veranlasst, die Polemik gegen die Synagoge ausschließlich im Rahmen einer in der Antike verbreiteten „rhetoric of slander“706 mit dem Zweck zu betrachten, die aus heutiger Sicht unerträglichen Vorwürfe zu verharmlosen. Breit rezipiert in den modernen wissenschaftlichen Kommentaren zu Matthäus wurde vor allem die Studie von Luke T. Johnson,707 die ausgehend von den jeweiligen historischen Kontexten, die polemische Sprache auf die verschiedenen Rivalitäten zwischen konkreten sozialen Gruppen zurückführt. Das ergibt ein vielfältiges Bild, mit Verleumdungen, die immer wieder in verschiedenen Diskursen und Formen auftauchen. Beispiele aus der Rhetorik und der griechischen Philosophie, wie auch aus der jüdischen Literatur, lassen auf einen Topos mit einem reichen Inventar an Vorstellungen schließen, auf den jede Gruppe zurückgreifen kann, um dem e­ igenen Ärger Sprache zu verleihen. Matthäus, vertreten besonders mit Kap. 23, gehöre dementsprechend in dieselben Tradition: „Such a protreptic use of ­polemic is also found in Matthew 23 […]. Matthew’s attack on scribes and Pharisees is an attack on rival teachers“.708 Zweifelsohne ist die matthäische Verleumdungssprache nur als Produkt der eigenen Verarbeitungsprozesse von Traditionen und sozialen Erfahrungen zu begreifen. Eine Grundvoraussetzung meiner Untersuchung ist es, dass die neue theologische Sinnbildung keineswegs als einseitiges Resultat von Text- und Traditionsbearbeitung abgetrennt von den laufenden sozialen Beziehungen der Textträger von der Außenwelt zu betrachten ist. Die Gemeinde mit ihrer konkreten sozialen Stellung verleiht der Schrift ihre unverwechselbare Prägung. Der Konflikt bestimmt in weiten Teilen die Qualität der Sprache, aber auch die theologische Gestalt des Evangeliums – in beiden Fällen wird sie zu einer Komponente einer angespannten, ‚heißen‘ sozialen Kommunikation. Die Gruppe selbst mit ihrer kreativen Dynamik gilt als ‚Erzeuger‘ des theologischen Gebäudes und als Kommunikant mit belegt: vgl. „Söhne Belials“: Jub 15,33 (im Rahmen der Polemik gegen die Assimilation des Judentums an die hellenistische Kultur); MartJes 3,11 („Beliar wohnte im Herzen Manasses und im Herzen der Fürsten von Juda“); 1QH 10,22 („sie, ein Trugkreis und Belials Anhang“); 11,13 („sie, Verlorene, Ränke Belials“); 1QS 2,4 f („alle Männer des Loses Belials“); 1QS 1,10; 1QM 1,7 („Söhne der Finsternis“); vgl. auch Joh 8,44 (ὑμεῖς ἐκ τοῦ διαβόλου ἐστέ); 1Joh 4,3 (τὸ τοῦ ἀντιχρίστου); ferner 2Kor  11,3 (ὡς ὁ ὄφις ἐξηπάτησεν Εὕαν); Gal  3,1 (τίς ὑμᾶς ἐβάσκανεν);­ Polyk 7,1 (πρωτότοκος ἐστι τοῦ σατανᾶ); b.Jebam 16a. 706 Johnson, Slander, 147, spricht von zeitgenössischen Sprachmustern. 707 Luz, Mt III, 391; Hagner, Mt II, 655; France, Mt, 854; Davies / Allison, Mt III, 258. 708 Johnson, Slander, 433.

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den sonstigen sozialen Akteuren. Bestehende Topoi, schriftliche oder mündliche Überlieferungen werden aber genau aus diesem Grund nicht ‚mechanisch‘ übernommen, sondern internalisiert, zueigen gemacht und dann neu verwendet. Wegen der engen Verflechtung zwischen Gruppenäußerungen und theo­ logischen Vorstellungen im Rahmen einer genuinen Gruppenkultur sind einige Korrekturen an dem erwähnten Ansatz angebracht, der jede mögliche Verbindung der skurrilen Sprache mit dem jeweiligen theologischen Bild programmatisch ausräumen will: „I am not doing theology (Hervorhebung von R. P.) or making  a direct contribution to Jewish-Christian relations […]. My examination is historical and literary“.709 Eine Ausdrucksweise kann zwar problemlos ‚geliehen‘ werden; man kann aber im Matthäusevangelium an einigen Stellen exemplarisch zeigen, dass die meisten Spitzen der polemischen Sprache an keiner anderen Stelle als in der matthäischen christologischen Konstruktion selbst oder in den wichtigsten Anliegen der Gemeinde ihre genauen Entsprechungen haben. Diese polemischen Aussagen beinhalten die Merkmale des theologischethischen Entwurfes. Der wiederholte Blindheitsvorwurf gegen die Pharisäer ist eine Begleiterscheinung der redaktionell stark ausgebauten Fähigkeit Jesu, besonders als Davidssohn Blinde zu heilen.710 Ihre verkehrte Ethik, zusammengefasst im Begriffspaar ὑποκριτής – ὑπόκρισις, wird auch als Gegensatz zu dem Gemeindeethos und Liebesgebot711 hart kritisiert. Der Vorwurf des Führungsversagens (ὁδηγός red. in 15,14; 23,16.24) als eine Folge dieses Bündels von Unfähigkeiten gilt wiederum auch als ein Indiz für den Machtkonflikt, der angesichts der aufeinandertreffenden Interessen sich zwischen den beiden Gruppierungen entfacht hat. Matthäus wählt also keine beliebigen Schimpfwörter aus, die er dann gegen die verhassten Pharisäer wie Steine schleudert, sondern er bleibt auch als Polemiker innerhalb seines theologischen und ethischen Territoriums. Polemische Topoi können zwar ‚wandeln‘, das macht sie aber nicht ‚theologisch frei‘; sie vertreten durch ihren neuen Gebrauch in einer unkommunikativen Form dieselbe Theologie wie der Hauptdiskurs des Redaktors. Das Matthäusevangelium ist zu einem Zeitpunkt entstanden, als die pharisäische Richtung im Umfeld der Gemeinde stark an Einfluss gewann, und verfolgt unter anderem auch das Ziel, die jüdische Bevölkerung vor der Gefahr, die sich aus seiner Sicht mit dieser Vorherrschaft anbahnte, zu warnen. Die ­angespannten 709 Johnson, Slander, 419. 710 Vgl. Mt 9,27 f; 11,5; 12,22[red.] – hier bevor in 12,38 die Pharisäer und Schriftgelehren ein Zeichen sehen wollen (ὁράω[red.]); „The addition of ‚blindness‘ is instrumental in emphasizing the spiritual blindness of the Pharisees who want to ‚see a sigh‘ from Jesus in v. 38“ (Chow, Sign, 73); auch Freyne, Vilifying, 133: „In contrast to the possessed blind and dumb man who is cured, the Pharisees are left in a much worse condition“; 15,30[red.].31[red.]; 20,30 ff; 21,14[red.]; mehr dazu auf S. 71 zum Davidssohn. 711 Vgl. dazu 300 f.

350

Der subjektive Status der Gemeinde

Verhältnisse mit der Synagoge, aber auch die eigenen Verluste ließen keinen Raum mehr für einen Dialog. Matthäus betreibt daher eine regelrechte character assassination712 mit der Absicht, die pharisäische Konkurrenz um jeden Preis auszuschalten. Diese ungerechte Polemik, die sich auch im theologischen Gebäude des Evangeliums niederschlägt, muss abschließend in dem richtigen sozialen Kontext platziert werden. Die geschichtlichen Verhältnisse, sofern diese noch einigermaßen gezeigt werden können, und der objektive Status der Gemeinde machen nun das Thema des letzten, konklusiven Teils aus.

712 Zu den Valenzen dieses Begriffs vgl. Shiraev, Character Assassination.

Zweiter Hauptteil: Der objektive Status der matthäischen Gruppierung Gefährdete Gemeinde 5. Sozialpsychologische Beschreibung der matthäischen Gruppe Mit der Darlegung der aufwendigen und von Matthäus sorgfältig strukturierten ‚Konfliktaustragung‘ ist die Diagnose der heftigen Auseinandersetzungen, die an zahlreichen Stellen im vorliegenden Quellentext vorhanden sind, abgeschlossen. Das Evangelium ist das einzige Fenster, durch das man heute mit passenden Brillen die Identitätsfindung der matthäischen Gemeinde und die Bewältigung ihres Konfliktes mit der Außenwelt betrachten und nochmals – aber wissenschaftlich – ‚erzählen‘ kann. Das Ziel meiner Fragestellung war es, genau diesem Selbstdarstellungsprozess der matthäischen Christen in dem Konflikt mit der pharisäischen Synagoge nachzugehen und ihre theologischen und ethischen Bemühungen zu untersuchen, sich mit der Lage traditionsorientiert aber zugleich auch kreativ zurechtzufinden. Von einer vollständigen Rekonstruktion des Konfliktereignisses kann nicht die Rede sein, es entzieht sich jeder ‚empirischen‘ Untersuchung. Eine bis zum letzten Detail objektive Darstellung ist unmöglich, man bleibt ohnehin auf parteiische Beschreibungen angewiesen. Und ich denke, dieses ist ein Feld, in dem – wie hoffentlich bisher klar geworden ist – die Exegese, die als sprachorientiertes Instrument individuelle oder Gemeindetexte zu durchblicken versucht, und die Sozialpsychologie mit ihrer Neigung, Phänomene auf sozialer Mikroebene zu erfassen, gegenseitig hervorragend ergänzen. Ausgehend von dem Gruppenbegriff und anhand von Erkenntnissen aus Kognitions-, Emotions- und Aggressionsforschung kann es gelingen, unter der Textoberfläche lebendige Prozesse aufzudecken oder diese erst aufzuspüren, die mit einem inadäquaten methodischen Instrumentarium verschlossen bleiben würden. Dies alles wird natürlich nur durch Sprache vermittelt, weshalb die soziolinguistischen Ansätze in diesem Fall unerlässlich sind. Die Existenz dieses letzten Teils verdankt sich der in der matthäischen Forschung zunehmenden Tendenz, an die exegetische Analyse, die den genuinen theologischen Entwurf entfaltet, auch eine Reihe von Überlegungen anzuschließen, die die Grundkoordinaten der real existierenden Gemeinde entsprechend bestimmen.1 Umso mehr empfiehlt es sich, im Fall meiner Untersuchung, den 1 Vgl. nur einige Beispiele: Kingsbury, Story, 147–160 („The Community of Matthew“); Yieh, Teacher, 262–273 („Matthew’s Church: A Social-Historical Observation“); Konradt, Israel,

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Der objektive Status der matthäischen Gruppierung

Versuch zu unternehmen, durch den man mit dem aus der sozialwissenschaftlichen Forschung entnommenen Wissen einen gewissen Hang zur Empirie an den Tag legt. Die anfängliche Unterscheidung zwischen einem subjektiv konstruierten und einem objektiv existierenden Gruppenstatus, welcher die tatsächliche Stellung der Gruppe im gesellschaftlichen Rahmen zum Thema macht, legt jetzt nahe, eine objektive Beschreibung nach sozialpsychologischen Kriterien der matthäischen Gruppierung zu versuchen, wobei auch die wenigen sozialwissenschaftlich orientierten exegetischen Beiträge der bisherigen Forschung an passender Stelle kritisch einbezogen werden müssen. Es ist ein Prozess des Abwägens und des Vermutens; das Hauptziel eines solchen exegetischen Wagnisses ist schließlich nicht die kritische Auseinandersetzung mit alternativen Modellen zu suchen, sondern möglichst unbeirrt in der Übereinstimmung mit dem eigenen Modell zu bleiben und daraus auch die letztmöglichen Konsequenzen für die real existierende Gemeinde zu ziehen. Die Unterkapitel bestehen aus alternierenden und eng miteinander verwobenen sozialpsychologischen und exegetischen Abschnitten, wobei die ersten Abschnitte mir den deskriptiven Rahmen und die nötige Begrifflichkeit zur Verfügung stellen, um in den anschließenden exegetischen Überlegungen gezielt nach möglichen Anknüpfungspunkten zu fragen. Die schon dargelegte Konfliktaustragung (Kap. 4) wie auch die theoretische Einführung (Kap. 1) sind dabei natürlich besonders im Auge zu behalten.

5.1 Gruppenglaube als Identitätsinhalt Wie schon im einführenden sozialpsychologischen Teil  (vgl. 1.2.1) ist bei der Charakterisierung der matthäischen Gemeinde von dem grundlegenden Begriff ‚Gruppe‘ auszugehen. Die Erforschung der Kleingruppen ist ein eigenständiges Gebiet der Sozialpsychologie. Es ist bezeichnend, dass die Gruppe von Anfang an als dynamische Größe aufgefasst wurde.2 Der Begriff ‚Gruppendynamik‘ umfasst den ganzen Manifestationsbereich der kleinen Gruppe von der Entstehung, Struktur, Kohäsion, Normen- und Rollenbildung, Führerschaft, Entscheidung bis hin zu kontextbezogenen Phänomenen wie Beziehungen zwischen den Gruppen oder Konflikten. Im Zentrum des Interesses stehen die eher kleineren Gruppen mit einer übersichtlichen Mitgliederzahl, in welchen solche Prozesse auch expe379–391 („Erwägungen zur Situation der matthäischen Gemeinde“); Luomanen, Entering, 262–277 („The Real Life of Matthew’s Community“); Davies / Allison, Mt III, 693–704 („Matthew’s Jewish Setting“); Repschinski, Stories, 343–349 („The Matthean Controversy Stories as Reflections of a Struggle Intra Muros of Judaism“). 2 Eine geschichtliche Skizze von den Anfängen der Kleingruppenforschung ist mir hier kein Anliegen; siehe dazu: Cartwright / Zander, Origins, 3–21; oder knapper bei Levine /  Moreland, Groups, 415–416.

Sozialpsychologische Beschreibung der matthäischen Gruppe

353

rimentell viel besser untersucht werden können. Als Spezialfall hat sich innerhalb der Soziologie die Kategorie der ‚Primärgruppen‘ herausgebildet. Der Urheber dieser Bezeichnung, Charles H. Cooley, formuliert folgendermaßen: By primary groups I mean those characterized by intimate face-to-face association and cooperation. […] it involves the sort of sympathy and mutual identification for which ‚we‘ is the natural expression.3

Die Begriffe ‚Kleingruppen‘ und ‚Primärgruppen‘ sollten aber nicht ohne weiteres vertauscht werden, weil ihnen eine quantitative bzw. qualitative Betrachtungsweise zugrunde liegt.4 In der Sozialpsychologie hat sich der erste Begriff durchgesetzt, ohne dass dadurch die Eigenschaften, auf die der zweite hindeutet, aufgegeben werden. Das hängt schließlich von der Intention der Untersuchung ab, ob es um flüchtige ad hoc zusammengestellte, unstrukturierte Gruppen geht, die z. B. nur für die Durchführung eines Experimentes zusammengesetzt wurden, oder um schon kohäsive reale Gruppen. Ich halte eine gegenseitige Erweiterung der Begriffe für sinnvoll, die Eigenschaft ‚primär‘ füllt inhaltlich die eher instrumentelle Bezeichnung ‚klein‘ und bestimmt zugleich ihren Geltungsbereich: Eine Kleingruppe, die so nicht nur rein numerisch existiert, kann begrifflich so weit ausgeweitet werden, bis die primären Beziehungen noch gelten, bis gewisse dünne Stellen entstehen, an denen sich die schwachen Anziehungskräfte zwischen den Gruppenmitgliedern auf dauerhafte enge Beziehungen hin nicht mehr schließen lassen und dadurch eine Grenze zur Außenwelt entsteht.5 Im Lichte dieser Überlegungen kann man auch die matthäische Gruppierung durchaus als primäre Gruppe bezeichnen, die enge Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern voraussetzt und sie zugleich aktiv pflegt. Das familiäre Ethos ist von der Gründung her Teil  des Gruppenlebens. Nachdem die ersten zwei Brüder, Petrus und Andreas, Jesus folgen, sieht Jesus gleich zwei weitere Brüder (4,21[red.]: εἶδεν ἄλλους δύο ἀδελφούς)  – Jakobus und Johannes, die ihren Vater sogleich (4,22[red.]: εὐθέως) verlassen und sich der neuen ‚Fami 3 Cooley, Organization, 23; vgl. präzisierend auch Faris, Primary Group, 50: „The­ primary group has as an essential element in its emotional character which binds its members into a relation“; Abels, Soziologie, Bd. 2, 261 („durch gefühlsmäßige Solidarität gekennzeichnet“). Bates / Babchuk, Primary Group, 190, betonen die sozialpsychologischen Elemente des Konzepts („member orientation toward other members in activity, and the affective aspect of member orientation“); auch S. 22 f. 4 Olmsted, Kleingruppe, wendet „Kleingruppe“ durch das ganze Buch hindurch an, „außer in den Fällen, wo der Gegenstand den Gebrauch von primär nahe legt“ (25). Auch Schäfers, Gruppe, entscheidet sich für den mittleren Weg durch die Formulierung „die Primär­gruppe als Kleingruppe“ (129). 5 In diesem Sinne ist die Familie aber auch eine Dorfgemeinschaft, als „Primärgruppe“ und „Kleingruppe“ zu bezeichnen. Selbst Cooley, Organization, 25 f, weist auf traditionelle Dorfgemeinschaften hin, wo dieser Begriff völlig zutrifft. Auf die Relativität der Begriffe ‚klein‘ und ‚groß‘, was die Gruppengröße betrifft, hat auch Kruse, Gruppen, 1559, hingewiesen.

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Der objektive Status der matthäischen Gruppierung

lie‘ anschließen; ihre Brüderschaft wird auch in der Auflistung der Apostel in 10,2 hervorgehoben (vgl. auch Mt 17,1[red.]: τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ; 20,24[red.]). In 12,49 wird redaktionell die Bezeichnung nur auf die Jüngergruppe eingegrenzt und in V. 50 als dem Willen des Vaters (Mk  3,35 liest τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ) entsprechendes Verhalten ausgelegt. Als Anredeform ist ἀδελφός bei Matthäus häufig anzutreffen (5,23.24.47[Lk 6,33 liest τοὺς ἀγαθοποιοῦντας]; 7,3.4.5), oft mit eindeutiger ekklesiologischer Bedeutung (18,152.21.35; 23,8; 28,10: τοῖς ἀδελφοῖς μου). Dementsprechend wird die Vaterschaft Gottes besonders in ekklesiologischen Zusammenhängen akzentuiert (vgl. nur 5,16; 18,10.14.19.35 – zuletzt sind ἀδελφός und πατήρ eng verknüpft, wie auch in 12,50; 23,8 f).6 Die „Vaterbezeichnung“ übernimmt in der matthäischen Gemeinde die Funktion „die Glaubenden mit in die Vater-Sohn-Beziehung von Gott und Christus zu integrieren“.7 Dieser gemeinsame Vorstellungshorizont mit dem väterlichen Gott als zentraler Punkt erlaubt ohne weiteres, mindestens in ihrem Kern auf eine sehr kohäsive Gruppe zu schließen, die einen hohen Identifizierungsgrad der Mitglieder mit den Gruppenwerten und -belangen aufweist. Kein stärkerer Hinweis kann diese Identifizierung bezeugen, als die da und dort präsente Opferbereitschaft, die einerseits von den Christen verlangt wird (wie in 16,24–26), die sie aber schon mit­ Jesus als Vorbild an den Tag legen (wie in 5,10–12; 10,16–18.22–26; 23,34.37).8 Verwirklicht wird dieses Verhältnis in der ἐκκλησία (16,18; 18,172), an dem Ort, an dem die Christen sich in gegenseitiger brüderlicher Liebe versammeln und den Sohn Gottes verehren. Nach den anfänglichen formalen Bestimmungen der Gruppenart werde ich mich jetzt dem substanziellen Inhalt der Gruppenkultur zuwenden und dann anschließend versuchen, anhand gruppendynamischer deskriptiver Kriterien einige interne Merkmale der matthäischen Gruppierung genauer zu fassen.

6 Über die theologisch herausragende und statistisch eindeutige Verwendung der πατήρ-Bezeichnung sowohl in Bezug auf die Jünger (πατήρ σου / ὑμῶν / ἡμῶν, wie in 5,16.48; 6,1.4.6.8.9.14.15.18.26.32; 7,11; 23,9 usw.) als auch auf Jesus (ὁ πατήρ μου, wie in 7,21; 10,32; 11,27; 12,50; 16,17; 18,19.35; 20,23; 26,53 ), vgl. die fundierte Zusammenstellung bei Zimmermann, Namen, 98–107; zusammenfassend: „Mt vertieft die Vaterbezeichnung in einer Weise, die verdeutlicht, dass das Handeln des Vaters am Sohn ebenso dem göttlichen Willen entspricht wie die Erfüllung des väterlichen Willens auch für die Jünger Bedingung für die ‚Sohnschaft‘ ist“ (ebd., 103); vgl. auch Burnett, Exposing, 165–168. Die Gottesbezeichnung als Vater und „the replacement of the family of origin with a new kinship group“ gehen auch nach Sheffield, Father, 52, Hand in Hand; vgl. auch auch Yieh, Teacher, 290; Riches, Conflicting, 210. 7 Zimmermann, Namen, 106. 8 Zum engen sprachlich konstruierten Verhältnis zwischen der leidenden Gemeinde und dem leidenden Christus vgl. 4.2.3.2.

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Aus der Richtung der kognitiven Psychologie, die sich sonst besonders mit individuellen Prozessen beschäftigt,9 kommt die fruchtbare Annahme, dass Gruppen gemeinsames soziales Wissen teilen (socially shared cognitions).10 Der Kontext, die gemeinsamen Erfahrungen, die Sozialisation bringen die Menschen dazu, ähnliche Vorstellungen über die Welt zu bilden und damit eine kognitive Basis für soziale Interaktion zu legen. Ähnliche Impulse wurden auch aus den neueren Entwicklungen in der Soziologie eingeführt. Die Erwähnung der Wissenssoziologie11 ist zu diesem Punkt notwendig.12 Das Individuum ist auf die symbolische Sinn-Welt angewiesen, die wie ein Orientierungssystem funktioniert und seinen Platz in der Gesellschaft definiert. Diese kognitive Konstruktion ist aber ihrerseits ein soziales Produkt der Kollektive und eine Interpretation der gegebenen Wirklichkeit aus einem bestimmten Blickwinkel. Sie statten die Menschen mit einem festen Rollen- und Identitätsrepertoire aus und schaffen den Raum für ein ordentliches Zusammenleben. In diesem Sinne beschäftigt sich ein distinkter sozialpsychologischer Forschungsbereich mit den Überzeugungen einer Gruppe, mit dem Wissen, das ihre Mitglieder teilen und als definitorisch für ihre Identität halten. Die so genannten Group Beliefs13 nehmen zugleich Bezug auf die Theorie der sozialen Iden­tität14 und auf die soziale Kognition und versuchen die Defizite der experimentellen Forschung in den beiden Fällen zu überwinden, wobei übergreifende Begriffe wie Gruppenglauben, Werte oder Ideologie aufgenommen werden. Die Kategorisierung legt den Grundstein für die Bildung von Differenzen zwischen Gruppen. 9 Die soziale Seite der kognitiven Psychologie heißt social cognition (‚soziale Kognition‘) und versucht trotz der theoretischen Grundannahmen, dem ausgeprägten Individualismus zu entgehen. Viele zweifeln an der Fähigkeit der kognitiven Psychologie sich tatsächlich den sozialen Phänomenen zu widmen, die Frage „Was ist ‚sozial‘ an der sozialen Kognition“ ist deswegen voll berechtigt (vgl. z. B. Leyens / Dardenne, Kognition, 124–128; Augoustinos u. a., Cognition, 17; Bless u. a., Cognition, 8). Man bezieht sich auf drei Aspekte der sozialen Kognition, die ihr eine Eigenständigkeit gegenüber der dominant individualistischen Trend ab­ sichern: Sie befasst sich mit dem Denken über Objekte sozialer Natur; sie ist eine Folge und existiert nur im Rahmen einer sozialen Interaktion; sie wird von den Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft sozial geteilt. 10 Zum Weiterlesen vgl. Tindale / Stawiski, Socially, 811–815; Tindale u. a., Cognition, 1–30. Paradigmatisch wird dieses Verhältnis von Cole, Conclusion, 398 f, thematisiert. 11 Die Begründer dieser Denkrichtung haben ihren Ansatz in mehreren Publikationen vorgestellt, eine Synthese haben sie in einem gemeinsam geschriebenen Buch vorgelegt: Berger /  Luckmann, Konstruktion, eine Lektüre, die sich auch für Geisteswissenschaftler sehr lohnt. 12 Die soziale Wirklichkeit ist keine Wirklichkeit zweiten Grades im Vergleich zur materiellen (Tajfel, La catégorisation, 294: „La réalité sociale peut être aussi ‚objective‘ que la réalité non sociale, et inversement ‚l’objectivité‘ peut être aussi sociale qu’elle est physique“). 13 Der Ansatz gehört dem israelitischen Sozialpsychologen Bar-Tal, Expression, 93–113, und wurde in zahlreichen Publikationen dargelegt. 14 Bar-Tal, Expression, 112.

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Welche sind aber die kognitiven Vorstellungen und Fundamente, die den Gruppen ihre raison d’être verleihen? Welche Inhalte definieren die Gruppen als solche und wie bringen sie die Einzelnen dazu, als Gruppenmitglieder zu denken, zu fühlen und zu handeln? Das Wissen wird als soziales Ereignis definiert und sein Ursprung ist dem kreativen Umgang mit der Umwelt zugeschrieben.15 Die Mitglieder müssen überzeugt sein, dass ihre zusammengeteilen Meinungen die Essenz der Gruppe ausmachen (groupness).16 ‚Daran glauben‘17 ist sogar Voraussetzung für den Beitritt zu einer bestimmten Gruppe. Die Gruppen verwenden auch verschiedene Methoden, um ein hohes Vertrauensniveau an den Gruppenwerten unter den Mitgliedern zu gewinnen und zu halten, damit solche Glaubensinhalte von niemandem in Frage gestellt werden. Wenn es trotzdem passiert, schalten sich Abwehrmechanismen ein, die das verlorene Vertrauen wiederherstellen oder ‚die Ketzer‘ ausschließen. Die Rolle von Group Beliefs im kognitiven Repertoire der Anhänger besteht einerseits darin, dass sie ihre persönlichen Entscheidungen, Urteile und Bewertungen steuern, andererseits, dass sie im hierarchischen System der Gruppenwerte eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie sind ‚zentraler‘ als die anderen und prototypisch. Dafür können auch verschiedene kulturelle und pädagogische Mechanismen sorgen, damit die bedeutendsten Gruppenwerte durch Wiederholung und Auslegung sich in die Seelen der Hörenden tief einprägen. Aus dieser zentralen Stellung erfüllen sie ein breites Spektrum von Funktionen.18 Darunter kann man die informative und die Identifikationsfunktion erwähnen, d. h. sie stellen das Identitätsangebot der Gruppe in konzentrierter Form dar, zeigen in Grundzügen die wesentlichen Unterschiede im Vergleich zu den anderen sozialen Akteuren und markieren ideologisch die Trennungslinie (boundary marker). Nicht alle Werte oder Traditionen gehören zu diesem starken Kern, sondern nur diejenigen, die Identität stiften, die Individuen miteinander verbinden und die Gruppe in ihrer Existenz funktionsfähig machen. Der Gruppenglaube besteht aber nicht aus einer Mischung von unabhängigen ‚kognitiven Einheiten‘, sondern die Einzelteile sind im Rahmen einer dynmischen Glaubensstruktur aufein­ander bezogen.19 15 Die Absicht und das Ziel sind klar formuliert: „The present conception shifts the pre­ occupation with social knowledge from individuals to groups. It provides a framework to analyze social cognitive processes and products in social contexts of groups“ (Bar-Tal, Conception, 110). 16 Bar-Tal, Expression, 94; Ders., Conception, 36. 17 Die Merkmale von group beliefs werden in verschiedenen Beiträgen thematisiert; ich gehe deswegen ‚synoptisch‘ vor. Die Grundlagen sind: Bar-Tal, Expression, 101–102, und Ders., Conception, 57–61. 18 Bar-Tal, Conception, 18–19, 59–61. 19 Bar-Tal, Conception, 10.

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Welche Meinungen für den engeren Kreis der Gruppenideologie ‚rekrutiert‘ werden, ist zunächst ein Spezifikum der jeweiligen Gruppe. Sie können Handlungsanweisungen, Normen, Ziele, Werte oder eine bestimmte Ideologie sein.20 Nicht alle Normen müssen zum fundamentalen Glauben einer Gruppe gehören, sie können das Verhalten innerhalb und außerhalb der Gruppe regulieren, ohne zur Bildung einer Identität entscheidend beizutragen. Verschiedene Ernährungs-, Kleidungsregeln, Rituale oder Interaktionsarten können eine leicht erkennbare Grenze nach außen ziehen. Dasselbe gilt auch für die Gruppenziele. Sie zeichnen erwünschte zukünftige Zustände vor und koagulieren um sich die Kräfte und die Kreativität der gesamten Gruppe. Sie werden oft zur Gruppenidentität herangezogen, denn sie liefern die wichtige Solidaritäts- und Handlungsbasis. Beide – die Normen und Ziele – speisen sich aus den Gruppen­werten. Sie formulieren die abstrakten Ideen und die langfristigen Anliegen, die die Selektion der Mittel und der Zwecke, wie auch die Kriterien für die Beurteilung der Handlungen und Ereignisse bedingen. Solche Werte können zum Beispiel in Begriffen wie ‚Freiheit‘, ‚Liebe‘, ‚Gerechtigkeit‘ usw. zusammengefasst werden. Sie durchziehen alle Lebensbereiche und werden innerhalb der Gruppe sorgfältig gepflegt und mit den Gegenwerten stark kontrastiert. Sie sind entweder schriftlich in einem Credo formuliert oder einfach durch Sozialisation und sozialen Einfluss verstärkt und weitertradiert. Schließlich reflektiert und verarbeitet die Gruppenideologie eine gemeinsame Erfahrung und besteht aus einem integrierten Set von Überzeugungen, die in einem kohärenten Programm zusammengesetzt sind, das das Denken und Handeln der Anhänger unverkennbar prägt. Es überrascht nicht, dass die primäre, kohäsive matthäische Gruppe auch ein komplexes Glaubenssystem aufweist, das aus tradierten Glaubensinhalten und aus eigenen Überzeugungen befestigt durch soziale Erfahrungen zustande kam.21 Die kohärente Christologie wie auch die ausdifferenzierte Gesetzesauslegung als Elemente einer Gruppenkultur lassen auf einen relativ langen Entstehungsprozess schließen. Mindestens der Gruppenkern schaut auf eine lange, gemeinsame Tradition zurück. Die Art und Weise wie anscheinend widersprüchliche Äußerungen wie 2,17–20 oder 23,23 in einem multivalenten hermeneutischen Lehrgebäude integriert und einem sehr prominenten, lehrenden Christus zugeschrieben werden, wie religionsgeschichtlich sehr unterschiedliche Bezeichnungen wie ‚Davidssohn‘ oder ‚Gottessohn‘ sorgfältig neugedeutet und in eine 20 Bar-Tal, Expression, 95–101; Ders., Conception, 47–57. 21 Mt ist der Tradition (Mk, Q, M) zutiefst verpflichtet (Frankemölle, Mission, 107: „ein traditionsbewusster Theologe“), steht aber nicht unkritisch ihr gegenüber. Besonders im Verhältnis zu Mk ist die persönliche red. Note sichtbar. O’Leary, Matthew, 169, spricht zusammenfassend von „Matthew’s message as one that emphasizes the continuity between Judaism and­ Jesus“; Siegert, Antijudaismus, 79, äußert sich ähnlich: Matthäus „korrigiert […] seine älteren, weniger jüdisch geprägten Vorläufer“; Senior, Between, 3; Beare, Jesus, 37. Vgl. neulich Sim, Use, 176–192.

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Konflikterzählung hineingepasst und narrativ dargelegt werden oder wie diese neue Jesusgeschichte anhand zahlreicher ‚Erfüllungszitate‘ zum Teil einer einheitlichen Gotteshandlung am Volk Israel gemacht wird, deuten auf eine langfristige und sozial gebundene theologische Reflexion, die zur gegebenen Zeit niedergeschrieben wurde. Im Abschnitt 4.2.2 habe ich auch die Vermutung angestellt, dass wegen der Übereinstimmungen mancher matthäischer Besonderheiten (wie der wiederholte Einsatz von Hos 6,6 oder die grundsätzlich positive Einstellung zum Tempel) mit den theologischen Lösungen zur Tempelzerstörung in manchen apokalyptischen oder rabbinischen Kreisen, nicht auszuschließen ist, dass auch die matthäische Gemeinde in ihrer Geschichte eine schmerzhafte Tempel­ bewältigung durchmachen musste, die auch christologische Spuren hinterlassen hat (vgl. die ‚Immanuel-Christologie‘). Durch solche dramatischen Erfahrungen ist die Gruppe stabiler und theologisch reifer geworden. Auch die hervorgehobene Rolle der Tempelzerstörung in der Konfliktaustragung (vgl. 4.2.3) plausibilisiert einigermaßen die Annahme, dass der traditionelle Kern der Gemeinde den jüdischen Krieg mit seinen katastrophalen Konsequenzen hautnah erlebt hat. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Hypothese von Ulrich Luz,22 dass die Gemeinde aus Palästina stammt, woher sie während der Wirren des Krieges geflohen ist, „und in Syrien eine neue Bleibe fand“, an Plausibilität. Was aber zum Zeitpunkt der Redaktion vorwiegend die Gemeinde beschäftigt ist der andauernde und kräfteverzehrende Konflikt mit der pharisäisch geleiteten Synagoge, der ebenfalls zu kreativen Überlegungen und Umdeutun­gen der Traditionen veranlasst. In den früheren Teilen habe ich darauf hingewiesen, wie sehr die matthäische theologisch-ethische Konstruktion von dieser Aus­einandersetzung geprägt ist. Die neuen Mitglieder wachsen in diese Tradition hinein oder werden in sie durch einen aufwendigen katechetischen Apparat sozialisiert, was die sehr lehrorientierte Struktur des Evange­ liums vermuten lässt.23 Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass eben diese soziale Spannung auch das Streben der Gemeinde nach neuen Mitgliedern (jüdischer aber vielleicht auch ‚heidnischer‘ Herkunft)24 verstärkt hat, was wiederum zur 22 Luz, Antijudaismus, 311 (siehe auch Sanders, Schimatics, 156). Die Meinung, dass diese überstürzte und bestimmt nicht theologisch motivierte Flucht, die schließlich eine Überlebensstrategie war, auch eine Trennung „von der Synagoge […] und Israel“ bedeuten sollte (Luz, ebd.), teile ich nicht. 23 So Tropper, Didáskalos, 214 („ein gewisses katechetisches Interesse sowie eine lehrhafte Diktion“); Byrskog, Messianic Teacher, 94 („didactic dimension“); Strecker, Weg, 40 („der Gedanke der katechetischen Abzweckung [liegt] am nächsten“); Normann, Didaskalos, 28 („die Bedürfnisse der Gemeindekatechese“ als „‚Sitz im Leben‘ anzunehmen“). 24 Slee, Church, 132: „Inevitably this led to ill-feeling and hostility on the part of nonChristian Jews“; Jones, Matthew, 62: „Such flexible practice in relation to the Law would­ probably have caused frictions with extreme forms of Pharisaic Judaism“. Die Problematik der Völkermission im Matthäusevangelium habe ich in der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert; der werde ich mich in einer geplanten Studie demnächst widmen.

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Eskalation der Verhältnisse mit den ebenfalls um das Volk bemühten Phari­säern führte.25 Matthäus schafft also mit seinem Evangelium kein in der Abgeschiedenheit des Arbeitszimmers konzipiertes Novum, das die Gemeinde theologisch und ethisch völlig umkrempeln will, sondern schöpft aus vertrautem, gemeinsam geteiltem Wissen, das in einem langfristigen ‚Reifungsprozess‘ entstanden ist. Der identitätserschütternde Streit mit der Synagoge verschärft aber die Textpragmatik und verleiht ihr Merkmale, die sie als reine ‚Gemeindeschrift‘ nicht gehabt hätte.26 Der matthäische Ansatz ist also ‚sozial konstruiert‘, d. h. er trägt einer konkreten Situation Rechnung. Diese Annahme hat viele Exegeten27 dazu veranlasst, auf den wissenssoziologischen Ansatz von Peter L. Berger und Thomas­ Luckmann28 zu verweisen, dem fruchtbare Gedanken zur ständigen Interaktion des Individuums mit dem vorhandenen, sozial gespeicherten Wissen wie auch über die unablässigen Legitimierungsprozesse der bestehenden Wirklichkeit entnommen werden können. Die weitreichende gesellschaftsbezogene Absicht dieses Modells, das „auch eine Theorie der Entstehung und des Erhalts sozialer Ordnung [enthält]“,29 wie auch die vorwiegend individualistische Ausrichtung stellen zwar einen erhellenden gedanklichen Hintergrund zur Verfügung, sind aber für eine an Texten orientierte Untersuchung einer konkreten Gemeinde, die einen Konflikt austrägt, weniger operationalisierbar als ein Modell, das die Gruppenprozesse und ihren Niederschlag in der Art der Konfliktaustragung ins Zentrum stellt. Mindestens in dieser Hinsicht – des bestehenden Konfliktes – muss man nicht mehr mutmaßen; und es ist angemessen von diesem Konsens ausgehend, die Entwicklungslinien der matthäischen Identität zu verfolgen. Der angesprochene Prozess der sozial gewirkten Konstruktion der Wirklichkeit wird auf der Gruppenebene unter solchen spannungsvollen Bedingungen sogar beschleunigt oder nimmt spezifische Formen an, die m. E. mit gruppendynamischen und konflikttheoretischen Erkenntnissen methodisch adäquat angepackt werden können.

25 Vledder, Conflict, 159: „That recruiting was never the source […]. It would merely­ intensified the existing conflict“; angedeutet auch von Senior, Between, 19; Repschinski,­ Stories, 345 („disciples’ mission to Israel as a catalyst for the increasing hostility of the controversy stories“). 26 Ich halte deswegen die Position von Verseput, Role, 548, für unzureichend, der dem Evangelium eine exklusiv katechetische Funktion ohne jegliche apologetische oder missiona­ rische Absichten zuschreibt („a catechetical representation of the story of Jesus for the instruction of the church“). 27 Overman, Matthew, 1, 6; Yieh, Teacher, 287; Repschinski, Stories, 54; Luomanen, Entering, 272, 278. 28 Für eine Einführung vgl. Abels, Interaktion, 87–114. Zur Auswirkung auf die psychologischen Theorieentwicklungen vgl. Burr, Introduction, 1–16. 29 Abels, Interaktion, 90.

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Im ekklesiologischen Teil  (4.3.1) habe ich auf die enge Vernetzung (mit sozialem Hintergrund)  zwischen dem hohen Status, den sich die Ekklesia zuschreibt, und der hohen Würde Jesu als Gottessohn hingewiesen. Je bedrohlicher die Lage, desto prägnanter das Selbstbild.30 Die Gottessohn-Vorstellung funktioniert deswegen objektiv betrachtet wie ein Gradmesser für soziale Spannung und die Fähigkeit zur kreativ-theologischen Anpassung. Dass dieses Verhältnis sich herausbilden konnte, ist wiederum ein Indiz für eine eher langfristige Auseinandersetzung, denn der Selbstfindungsprozess ist, wie es mir scheint, recht fortgeschritten. Die Gottessohnschaft Jesu als Ingroup-Christologie (vgl. 4.3.3) ist deswegen ein zentraler Gedanke der matthäischen Christen und auch ein wesentlicher Glaubensinhalt für jeden, der zur Gruppe beitreten will. Das steht keineswegs damit im Widerspruch, dass mit Tod und Auferweckung Jesu die Gottessohn-Bezeichnung zum Gegenstand öffentlicher Verkündigung wurde. Denn erst damit wird die Völkermission begründet, früher wäre so eine Verkündigung an die Völker auch nicht möglich gewesen. Die Gottessohnschaft Jesu hat aber im MtEv eine unverkennbare ekklesiologische Dimension – die in der Forschung kaum beachtet wird – und dies macht sie zu einem wesentlichen Teil der Gruppenidentität. Jünger sein, bedeutet in die Gemeinde eintreten, wo Jesus als Gottessohn verehrt wird. Die Jünger haben selbst einen gewissen theologischen Reifeprozess in unmittelbarer Nähe Christi durchgemacht (vgl. die Steigerung: 8,27 – 14,33 – 16,16), was auf die reale Ebene übertragen, die Möglichkeit darbietet, dass jeder Außenstehende zu derselben Erkenntnis kommen kann. Dies ist die Eintrittskarte in die Ekklesia Gottes. In diesem Sinne unterscheiden sich das Staunen des Hauptmannes über die Geschehnisse in Jerusalem nach dem Tod Jesu und sein Gottessohn-Bekenntnis (27,54) qualitativ in keiner Hinsicht von den wundersamen Erlebnissen, die die Jünger selbst mit Jesus gemacht haben.31 Eine besondere Beachtung verdient am Ende des Evangeliums die Erwähnung des Sohnes in der Taufformel (28,19). Wenn die Taufe nun das Tor für den Eintritt in die Gemeinde ist, dann ist der Sohn als Garant eines primären Verhältnisses mit Gott dem Vater und untereinander in der familia dei unabdingbar.32 Nur ‚fest daran halten‘ macht einen Menschen zum Jünger. Das passiert aber anscheinend auch unter bewährten Christen nicht immer, denn die wiederholte Warnung vor mangelndem Glauben (17,20: ὀλιγοπιστία) kommt viermal unmittelbar in Zusammenhang mit den übermenschlichen Kräften Jesu vor, die ihn als Gottes­sohn

30 Aus der Perspektive Gottes kann nicht nur der Sohn ὁ υἱός μου sein (3,17; 17,5) sondern auch die Kirche ἡ ἐκκλησία μου (16,18). 31 Senior, Passion Narrative, 327: „By the very words of their confession the gentile­ believers take their place alongside the disciples themselves“. 32 Mitgliedschaft als Teilhabe an der Gottessohnschaft Jesu nach ihrer „corporate dimension“ erkennt hier auch Schaberg, Father, 334: „A person is introduced by baptism into the corporate life of the community“; auch Verseput, Role, 540 f.

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erweisen.33 Solche Mahnworte um die Gottessohnschaft Jesu kann man im Lichte des Group Beliefs-Ansatzes als katechetische Abwehrmechanismen deuten, die einen zentralen Glaubenspunkt vor ‚Abkühlung‘ schützen sollten. In anderer Art und Weise wird diese Grundüberzeugung der Gemeinde auch vor unbefugten Ohren ferngehalten34  – und diese soziale Einbettung ist m. E. auch die Richtung der matthäischen Bearbeitung des sog. markinischen ‚Messiasgeheimnisses‘, von dem Matthäus sonst nicht so viel hält.35 Erst in den Gesprächen mit den Jüngern wird das Geheimhalten der Gottessohnschaft für Matthäus entscheidend,36 denn diese christologische Prädikation ist eine der zentralen Glaubenskoordinaten.

33 In 8,26 nach der Mahnung τί δειλοί ἐστε, ὀλιγόπιστοι; stillt Jesus den Sturm und löst die Bewunderung der Jünger in 8,27 aus; in 14,31 rettet er Petrus und tadelt ihn ὀλιγόπιστε, εἰς τί ἐδίστασας; (darauf nennen ihn die Jünger ausdrücklich θεοῦ υἱός); in 16,8 erkennt Jesus ihr Misstrauen: τί διαλογίζεσθε ἐν ἑαυτοῖς, ὀλιγόπιστοι; bei einer Dämonenaustreibung in 17,20, die die Jünger nicht durchführen konnten, mit Hinweis auf die unendliche Macht, zu der der Glaube befähigt – οὐδὲν ἀδυνατήσει ὑμῖν. 34 Die Markusstellen mit eindeutiger christologischer Konnotation als Bestandteile des sog. ‚Messiasgeheimnisses‘ werden in der Absicht bearbeitet, dass nur dann, wenn der Zuhörerkreis mehr als nur seine Jüngern umfasste, die christologische Prädikation ausfällt: In Mk 1,34 er­kennen ihn die Dämonen und aus diesem Grund lässt er sie nicht reden; stattdessen führt Mt 8,17 ein Erfüllungszitat ein (Jes 53,4). Die unreinen Geister schreien sogar in Mk 3,11: σὺ εἶ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ; worauf Jesus ihnen streng gebot ihn nicht offenbar zu machen (3,12: ἵνα μὴ αὐτὸν φανερὸν ποιήσωσιν). Matthäus meidet sowohl das Motiv, als auch den christologischen Titel: Mt 12,15–21, wo er ab V. 17 wiederum ein Erfüllungszitat einführt (Jes 42,1–4). Mk 1,23–28 (V. 24: οἶδά σε τίς εἶ, ὁ ἅγιος τοῦ θεοῦ; V. 25: φιμώθητι) kennt keine mt Parallele. Die Gottessohn-Anrede in Mk 5,7 (Ἰησοῦ υἱὲ τοῦ θεοῦ τοῦ ὑψίστου // Mt 8,29: υἱὲ τοῦ θεοῦ) dient Matthäus im heidnischen Milieu (8,28: die Gegend der Gadarener) einen anderen Vorstellungshorizont zu verdeutlichen, den er mit der Gottessohnschaft verbindet, nämlich die nachösterliche Zuwendung zu den Völkern (vgl. Mt 8,29: πρὸ καιροῦ und die Bestätigung durch den römischen Hauptmann in 27,54: ἀληθῶς θεοῦ υἱὸς ἦν οὗτος). Die markinische Intention, die unausweichliche Verbreitung der Kunde über die Wundertätigkeit Jesu als Teil  des Messiasgeheimnisses (vgl. auch Mk 1,45; 7,36 jedes Mal positiv mit κηρύσσω formuliert) interessiert ihn auch hier nicht (Mk 5,18–20 fehlt aus); vgl. dazu Luz, Geheimnismotiv, 17: „Das Schweigegebot unterstreicht dann bloß dies Nicht-verborgen-bleiben-können des Wunders“. 35 Das Schweigegebot in Mk  5,43 am Ende der Perikope über die Tochter des Jaïrus (5,21–43) wird in Mt 9,18–26 gestrichen und ins Gegenteil verkehrt (V. 26); in Mk 7,24 zieht sich Jesus in ein Haus zurück und will unbeobachtet bleiben (οὐδένα ἤθελεν γνῶναι), Mt streicht das Wort und lässt die syrophöizische Frau Jesus als Sohn Davids anrufen; das Motiv fehlt in Mt 15,29–31 völlig aus, vgl. Mk 7,36; das Gebot an einem geheilten Blinden vor Betsaida nicht ins Dorf hineinzugehen (Mk 8,26) kennt bei Mt keine Parallele; Jesus droht dem Aussätzigen (Mk 1,43: ἐμβριμησάμενος) über das Wunder nicht zu erzählen, Mt behält zwar dieses Verbot abgeschwächt bei (Mt 8,4), da er Mk 1,45 weglässt, verschwindet auch die markinische Pointe. 36 Mk 8,30 und 9,9 finden in Mt 16,20 bzw. 17,9 eine genaue Entsprechung, wobei τὸ ὅραμα (17,7), wie ἃ εἶδον in Mk 9,9 (zutreffend Luz, Geheimnismotiv, 27) sich auf den Hauptinhalt der Szenen beziehen dürfte – auf „die Proklamation des Gottessohnschaft“.

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Die Davidssohnschaft Jesu nimmt in diesem schematischen Versuch, das Glaubenssystem von Matthäus im Blick auf die Konfliktthematik darzulegen, die Rolle der Outgroup-Christologie ein. Damit meine ich den Teil des christo­ logischen Gruppenglaubens, der gezielt auf die Außenstehenden als ‚Werbung‘ ausgerichtet ist. So wird Jesus oftmals von der jüdischen Menge als ein zu ihr gesandter Retter Gottes erkannt und akklamiert, zur Entrüstung der religiösen Autoritäten,37 die ihre Machtansprüche dadurch unterminiert sehen. ‚Empirisch‘ zu verifizieren und anzuerkennen, dass Jesus der Davidssohn ist, wird von den Außenstehenden, die mit der Schrift vertraut sein dürften, sogar erwartet. Jesus als Davidssohn zu erkennen ist eine kognitive Leistung, die die Außenstehenden selbst erbringen sollen. Dies trotz allem nicht nachzuvollziehen, ist das Zeichen einer geistigen Blindheit und einer bewussten Opposition. Daran merkt man ebenfalls die Zentralität dieser christologischen Bezeichnung der Gemeinde im Verhältnis zur Außenwelt, die über weite Teile hinweg die Konfliktgeschichte auch bestimmt.38 Mit der Anerkennung der Davidssohnschaft Jesu wird man aber noch kein Mitglied der matthäischen Kirche. Entscheidend für die Gruppenidentität bleibt die christologische Kategorie der Gottessohnschaft. Mit diesem gemeinsamen Gruppenbezug werden die beiden christologischen Kategorien nicht gegenübergestellt, sondern verbunden und auch sozial eingeordnet. Weiter ist noch auf die wesentliche Dimension der matthäischen Hermeneutik hinzuweisen. Daran kann man deutlich beobachten, wie sich ein Glaubenssystem tatsächlich wandeln kann und wie sich manche Inhalte als zentraler etablieren und dadurch andere allmählich verdrängen. Wie genau solche Veränderungen verlaufen ist schwer zu beschreiben; einige Anhaltspunkte könnte das Modell von Robert C. Ellickson39 bieten. Die wichtigste Stellung kommt demnach den Machtträgern40 zu, die im Hinblick auf ihre Funktion als Antreiber der Normenänderung auch „Änderungsagenten“ (change agents) genannt werden. Sie besitzen eine überlegene technische und soziale Intelligenz, besondere Führungsfertigkeiten, genießen Anerkennung innerhalb der Gruppe. Daneben sind sie mehr als die anderen dazu fähig, die konkreten Vorteile zu begreifen, die eine neue Norm der Gruppe in einer gegebenen geschichtlichen Situation mit sich bringen würde.41 Zu den Auslösern einer Normenänderung gehören vor allem die

37 Vgl. 9,32–34; 12,22–24; 21,9–17. Zu diesem Verhältnis mehr in 3.1.2.3. 38 Verseput, Role, 536: „Matthew has from the beginning to the end of his Gospel thrust the image of Jesus as the royal Davidic Messiah to the forefront, accenting it at crucial junc­tures and granting it the leading role in the conflict between Jesus and his adversaries“; Stanton, Christology, 108; vgl. dazu 2.1.1. 39 Ellickson, Evolution, 35–75. 40 Ellickson, Evolution, 42–45. 41 Ellickson, Evolution, 41.

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veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen und die umweltbezogenen Veränderungen, die Unsicherheit und Krisen hervorrufen.42 Auch Änderungen in der Komposition der Gruppe schaffen neue Verhältnisse zwischen den Mitgliedern und setzen neue Bedingungen oder Vorstellungen über das Schicksal der Gruppe in Gang.43 Der Veränderungsprozess beginnt nur träge, weil die traditionellen Denkweisen und Vorstellungen sich nicht leicht herausfordern lassen. Nach einem langsamen Beginn aber gewinnt die Bewegung Impetus und endet schlagartig in einem fulminanten Erfolg. Die Schlüsselrolle haben in der Durchsetzung solcher Neuorientierungen die ‚Experten‘, die die entsprechende Legitimation und einleuchtende Denkmodelle zur Verfügung stellen, um die anfangs unglaubwürdigen Ideen zum neuen normativen Standard zu machen. Hinter diesem Modell stehen utilitaristische Grundannahmen.44 Die Erneuerung des Normensystems geschieht in die Richtung, die den kollektiven Nutzen steigert. In krisenhaften Situationen kann so eine pragmatische Orientierung gerade die rettende Lösung darstellen. Je nach der Solidität und Klugheit der neuen Deutung der Lage, die die ‚Experten‘ vorschlagen, könnte das neue Zusammensein ein kohärentes und dauerhaftes Identitätsangebot bedeuten, das zugleich die Gefahr der Entwurzelung durch radikale Erneuerung und der Stagnation durch nur einen kosmetisierten Fortschritt meidet, und den Weg zu einem kreativen Umgang mit der Tradition unter der neu entdeckten Perspektive einschlägt. Auch wenn das Evangelium Merkmale einer ‚Gemeindeschrift‘ hat, ist so betrachtet auch die Schlüsselrolle des Redaktors Matthäus zu würdigen. Was die Toraauslegung betrifft, spricht er sich eindeutig für die Gültigkeit des gesamten Gesetzes in 5,18 f; 23,23 aus, und das ist wahrscheinlich ein traditioneller Bestandteil seines zutiefst jüdisch verwurzelten Gesetzverständnisses. Jedoch lässt der Redaktor an denselben Stellen andeuten, dass nicht alle Gebote des Gesetzes gleichrangig sind: In 5,20 entsteht durch μὴ περισσεύσῃ … ἡ δικαιοσύνη πλεῖον (mit Rückblick auf τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας in 5,17) eine direkte Anspielung auf das Liebesgebot als Dreh- und Angelpunkt der religiösen Überlieferung in 22,40 (ὁ νόμος κρέμαται καὶ οἱ προφῆται).45 In 23,23 ist ebenfalls mit 42 Ellickson, Evolution, 52: „An exogenous change creates new cost-benefits conditions that favour a switch to a new norm“. 43 Genau diesen Weg geht z. B. Wong, Theologie, der die gemischte Zusammensetzung der Gruppe (jüdisch und heidnisch) als Motor für die Erneuerung ihres Normensystems und soziale Grundlage für die Textgestaltung ansieht. Ich gehe davon aus, dass die neu entstandene soziale Lage mit den Pharisäern als Hauptkontrahenten die Umdeutungen ausgelöst hat, das Evangelium spricht aber hauptsächlich eine eher jüdisch orientierte Gemeinde an, die zunehmend trotz interner Hemmungen mit der neuen Jesusgeschichte als ideologische Stütze sich auch den Heiden zuwendet. 44 Vgl. Ellickson, Evolution, 38 f. 45 Vgl. dazu 3.2.4.

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τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου eine Hierarchie der Gebote postuliert.46 Die spezifische Differenz der eigenen Toraauslegung im Vergleich zur ‚irreführenden‘ und ‚menschenbelastenden‘ Lehre der pharisäischen Schriftgelehrten ist die christologisch gestützte Dimension der Barmherzigkeit als fundamentaler Wert, den jedes einzelne Gebot ausstrahlen muss. Dies verleiht ihr in Bezug auf die betriebene Mission eine inklusivere Dimension als das Festhalten an einzelnen Ritualvorschriften.47 Die matthäische universalistische Gesetzesauslegung48 begünstigt somit die Mission und macht das Gesetz auch für Nicht-Juden leichter zu akzeptieren. Alle anderen Gebote gehören zwar auch zur allgemeinen Gruppenkultur, zentral und für das Gemeindeleben identitätsbestimmend ist aber das Gebot der Menschenund Gottesliebe.49 Die Grenze (boundary marker) zur konkurrierenden Gruppierung bilden aber nicht die übrigen ‚sekundären‘ Gebote, die schließlich eher verbinden als trennen.50 Um das ‚Mehr‘ zu unterstreichen, wählt Matthäus nur einen zentralen Aspekt aus und macht ihn zum Koagulationspunkt und zum definitorischen Merkmal der Eigengruppe. Eines der zentralen Ziele der matthäischen Gemeinde kommt in der besonderen Sorge zum Ausdruck, die Jesus auf der Ebene der Konfliktgeschichte für die jüdischen Menge manifestiert (zu diesem Aspekt verweise ich auf 3.1.1 zurück). Die Gruppe kümmert sich natürlich auch um das Heil ihrer Mitglieder, hat also auch ein nach innen gerichtetes Ziel. Ich betone aber hier besonders den Bezug nach außen, um das Zusammenspiel zwischen sozialer Interaktion und Gruppenideologie zu beleuchten. Die matthäische Gruppe halte ich also nicht für eine rein expressive Gruppe mit einem ausschließlich intragrupalen Fokus, sondern für eine instrumentale Gruppe, die Einfluss auf die äußeren sozialen und religiösen Umstände unbedingt nehmen will.51 Mir scheint, dass die matthäische 46 Dass κρίσις – ἔλεος – πίστις unbedingt als ethische-Trias in unmittelbarer Verbindung mit dem Liebesgebot zu verstehen ist, vgl. S. 325–327. Zur ausdifferenzierten mt Gesetzesauslegung äußern sich die meisten Kommentatoren, vgl. France, Mt, 873; Davies / Allison, Mt III, 294–295; vgl. auch Konradt, Erfüllung, 133: „Es gibt kleine und große Gebote“; 146; Wong, Theologie, 54 f. 47 Wong, Theologie, 43 f, arbeitet diesen Aspekt der matthäischen Gesetzesauslegung heraus, sieht aber die für einen Heidenchrist begünstigenden Züge als Reflex einer soziologisch gemischten (Juden und Heiden) Zusammensetzung der Gemeinde und nicht als Teil einer Strategie, eine dezidierte Öffnung zu den Völkern ideologisch vorzubereiten. 48 Jones, Matthew, 62; Wong, Theologie, 50 f, sprechen beide über die „Tendenz zur Universalisierung“ in der matthäischen Toraauslegung; vgl. auch Konradt, Israel, 181: „Es ist nicht zu übersehen, dass diese matthäische Gesetzesheremeneutik dazu angetan ist, Nichtjuden den Zugang zur ecclesia zu erleichtern“. 49 Wie konsequent Mt dieses Prinzip auf der Gemeindeebene praktisch durch konkrete Verhaltensnormen auslegt und anwendet habe ich in 4.3.2.3.1 gezeigt. 50 Zur Gefahr, die eine zu große Ähnlichkeit mit anderen sozialen Partnern, für die eigene Identität darstellt, vgl. weiter 5.3. 51 Für diese Unterscheidung vgl. Marcus, Expressive, 54–59. Malina, Early, 105, hält die urchristlichen Gruppierungen hauptsächlich für selbstgezogen und „apolitical“. Saldarini,

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Gemeinde, die sich so eindeutig als missionarisch versteht, den Sprung von einer nur mit sich selbst beschäftigten Gruppe zu einer reifen, sozial offenen und aktiven Gruppierung schafft. Die aktive Mission ist vermutlich das bedeutendste soziale Wirken der Gruppierung in ihrem Umfeld.52 Neue Mitglieder versucht der matthäische Christ erstens positiv durch die Anziehungskraft seiner Lebensführung und durch die Attraktivität der Gruppenwerte zu gewinnen (vgl. 5,16)53 oder durch aktive Mission. Zweitens macht er aber reichlich auch von der systematischen De-Legitimierung der erfolgreicheren Pharisäer Gebrauch, um ihre Gefolgschaft zu verunsichern. Beides sind wesentliche Komponenten der pragmatischen Ausrichtung des Matthäusevangeliums. Dieses Ziel, die soziale Unterlegenheit durch Verlockung weiterer Außenstehenden zu überwinden, mobilisiert tatsächlich die kreativen theologischen Ressourcen der Gemeinde. Christus als Fundament der matthäischen Ideologie ist in seinen unterschiedlichen ‚aspektiven‘ Gestalten (als Davidssohn und als Gottessohn nach seiner Auferstehung) ein Missionar. Die Jünger werden gezielt auf diese Aufgabe hin vorbereitet. Die wesentlichen Komponenten der matthäischen Group Beliefs stehen also, wie erwartet, in einem harmonischen Verhältnis zueinander, wobei das Ziel  – die Mission als konfliktbehaftete Überlebensstrategie – die christologischen und ethischen Entwicklungen sich zunutze macht, aber zugleich möglicherweise auch besonders motiviert und gefördert hat (darum die Doppelpfeile im Bild 3). Der Sprachbezug ist nun schließlich noch zu erwähnen. Die Sprache wird von vielen als das Hauptmittel für die Bildung einer Gruppenidentität angesehen, als zugleich primäre Komponente und Rahmen der symbolischen Welten, Quelle The Conflict, 57, meint, der instrumentale Stadium gehöre zu „an earlier stage in the community’s history, before opposition had solidified“ und sei zum Zeitpunkt der mt Redaktion schon überholt worden: „Matthew’s community seems […] to be an alienative-expressive group­ offering its adherents a new Christian-Jewish world as an alternative to the conventional Jewish world“; oder weiter: „The orientation of the Matthean community is changing from reformist to isolationist“ (60). 52 Die Gemeinde definiert sich als missionarisch, vgl. Schuyler, Mission, 76: „For­ Matthew apostleship is not an ecclesiastical dignity; it is an inherent function of discipleship“; vgl. auch Roloff, Kirche, 155 („Ausdruck einer inhaltlichen Programmatik“). Eindeutig auch Yieh, Teacher, 262: „Matthew’s church is not a secluded group living at the fringe of the society isolated from the general population. They want to reach out all the people“; Foster, Community, 220: Die Mission war „at least part of the evangelist’s understanding of the challenge that is presented to the group“; Konradt, Israel, 383: „Das Buch selbst [verfolgt] auch einen werbenden bzw. missionarischen Zweck“; Ascough, Matthew, 124, erwähnt die Mission als Zeichen für die performative Stufe, die die Gemeinde erreicht hat. Siehe auch Frankemölle, Handlungsanweisungen, 220 („missionarische Existenz“); Runesson, Rethinking, 129 f. Sim, Gospel, 157–162, kritisiert die These von Hare, Theme, demgemäß die Texte zur missionarischen Aktivität sich auf Vergangenheit beziehen (so auch Strecker, Weg, 30). 53 Foster, Community, 182 („these symbols all reflect a missionary outlook“). Man kann diese Art des Missionierens mit Frankemölle, Handlungsanweisungen, 217, „nichtssprachliches missionarisches Handeln“ nennen.

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Davidssohn (Outgroup-Christologie)

Gottessohn (Ingroup-Christologie) Mission

Die Liebe als hermeneutisches Zentrum (inklusive ethische Dimension vs. rigider Ritualismus) Bild 3: Dreieckige Struktur der matthäischen Group Beliefs (Ideologie – Werte – Ziele) 

der kollektiven und individuellen Konsistenz, Kontinuität und Beständigkeit.54 Die Sprache besteht aus sozial geteilten Konventionen über die Symbole, die verwendet werden, und hat also eine instrumentale Funktion, als Kodierung- und Dekodierungssystem. Sie symbolisiert und verkörpert zugleich auch die Identität, Kultur und Macht der Gruppe und gewährleistet die Existenz der Gruppe als solche.55 Es kommt sogar zu Äußerungen, die der Rolle der sprachlichen Interaktion in der Konstruktion der Identität noch mehr Bedeutung zumessen als der gemeinsam geteilten sozialen Kognition: „Collective identity is situated in the language in use among members rather than in a degree of convergence across the minds of individuals“.56 Die Identität wird ständig in verschiedenen Diskursstrategien reflektiert und ausgehandelt. Folglich sind die diskursive Haltung und die intendierte Handlung entscheidend für die (Um)Formung der eigenen Definition im Rahmen eines sozial gegebenen und bedingten Identitätsrepertoires.57 Als Bezeichnung für die umweltbedingten Sprachsorten oder für die typische Gruppensprachverwendung wurde der Begriff Soziolekt geprägt.58 Ein bestimmtes Sprachrepertoire, das distinkte linguistische Items enthält, bildet bis zu einem gewissen Grad verschiedene soziale oder stilistische Faktoren ab. Diese Spracherzeugnisse 54 Jenkins, Identity, 160; Kraus / Chiu, Language, 63–65; Hogg / Abrams, Identifica­ tions, 195; Edward, Language, 129–146; Hogg, Social Psychology, 150. Über eine Identitätsexpressive Funktion der Sprache berichten auch Maass / Arcui, Language, 217. Über die soziale Kategorisierung, die anhand verschiedener Benennungen erfolgt aber auch soziale Markierungen einführt, vgl. Graumann, Sozialpsychologie, 869. 55 Dubé-Simrad, Genesis, 187 f. 56 Paulsen u. a., Organisations, 176. 57 McKinlay / McVittie, Social Psychology, 45 f; Paulsen u. a., Organisations, 176. 58 Durrell, Sociolect, 201; Hess-Lüttich, Funktion, 493.

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sind nicht objektiv gegebene linguistische Daten, sondern Produkte von Interpretationsakten des Selbst- und Fremdeinschätzung der Sprecher als Gruppenmitglied und ihrer Bewertung von sprachlichen Merkmalen als soziale Indikatoren dieser Mitgliedschaft.59

Dadurch wird die eigene symbolische Ordnung sprachlich markiert und akribisch von verwandten Auffassungen unterschieden. Dies führt zu einer eindeutigen Typisierung und Schematisierung der Sprache, die nicht mehr der reinen Kommunikation dient, sondern anhand abgeschliffener Begriffe, die zusammen ein kohärentes symbolisches Netz konstituieren, den ganzen Wissensschatz der Gruppe trägt und operationalisiert. Das kollektive Schicksal, die sozial-kulturellen Kontexte oder die eigenen Normen und Interessen wirken sich auf den schon gegebenen Wortbestand aus, indem neue gruppentypische Bedeutungen die älteren verdrängen und ihren Verwendungsbereich verändern. Man beginnt dann gebräuchliche Begriffe mit neuen Valenzen zu versehen, sodass allmählich ein semantischer Wandel entsteht. Nicht nur auf deskriptiver Ebene können sich neue Sinninhalte in den täglichen Sprachgebrauch einschleichen, sondern auch neue emotionale Konnotationen verleihen den Wörtern völlig neue Funktionen. Ursprünglich neutrale Wörter bekommen, zum Beispiel im Zuge sozialer Spannungen und Konflikte, einen emotionalen „Beigeschmack“ und können aus gewöhnlichen Umgangsformeln zu neuen Schimpfworten werden.60 Gruppentypische Wortverwendungen, wie die Häufigkeit mancher Wörter oder die Vorliebe für bestimmte Begriffe oder sprachliche Konstruktionen, lassen gewisse Affinitäten und Orientierungen erkennen, sowie statusbezogene oder biographische Hintergründe eines Sprechers. In ähnlicher Weise können Wörter aus der täglichen Verwendung einfach gestrichen oder sogar tabuisiert und negativ sanktioniert werden. In extremen Formen werden bloße Namen wie die Personen, Gegenstände oder Handlungen selbst behandelt. Hierdurch verwischt die Grenze zwischen Symbol und Symbolisieren, zwischen Zeichen und Bezeichnetem. […] Das Wort selbst wird zur geliebten oder gehassten Eigenschaft. Seine bloße Verwendung reicht jetzt schon aus, um die gleichen Gefühlszustände hervorzurufen wie der benannte ‚Gegenstand‘ auch. Es wird zum ‚Auslöser‘.61 59 Hess-Lüttich, Funktion, 493. 60 Über das Verhältnis zwischen deskriptiven – emotiven Wortbedeutungen vgl. Badura, Sprachbarrieren, 30 ff. 61 Badura, Sprachbarrieren, 110. Diese Annahme ist überraschender Weise von einem Ergebnis aus der experimentellen Sozialpsychologie gestützt. In einer Reihe von Untersuchungen ist Perdue u. a., Us and Them, 475–486 (vgl. auch Maass / Arcui, Language, 198) gelungen, die Verbindung zwischen Ingroup / Outgroup-Bezeichnungen mit verschiedenen bewertenden Reaktionen zu zeigen. Auch nur die bloße Aussprache der entsprechenden Personalprono­ men – wir (us), sie (them) – löst automatisch positive bzw. negative kognitive und evaluative Tendenzen in den Versuchspersonen aus.

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Die besonderen formalen Merkmale der matthäischen Sprache haben mit den häufigen stereotypischen Formeln, mit der ausgeprägten Neigung zur Schematisierung schon längst auf sich aufmerksam gemacht.62 Es ist naheliegend, es teilweise auch als ‚Fachsprache‘ eines versierten Schriftgelehrten aufzufassen, ohne dadurch über den engen professionellen Stand des Redaktors oder mancher Gruppenmitglieder spekulieren zu müssen. Tatsache ist, dass auch Schriftgelehrte der Gemeinde angehörten und ein bestimmtes Ansehen genossen.63 Die verschiedenen Wiederholungen als literarische Technik, einige Inhalte mnemotechnisch zu befestigen, eine gewisse Steigerung oder Entwicklung in den Verhältnissen zwischen narrativen Figuren zu signalisieren, setzten schon ein gewisses Gespür für die Art und Weise voraus, wie literarische Texte funktionieren und auf Rezipienten wirken, das ja schließlich auch nur durch einen intensiven und lange reflektierten Umgang mit der Tora gewonnen werden konnte. Eine ausführliche Beschreibung des matthäischen Soziolekts ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt,64 ich werde nur auf einige auffällige Wortverwendungen hinweisen, die auch in theologischer Hinsicht wichtige Inhalte des matthäischen Ansatzes widerspiegeln. Diese Begriffe mit neuen gruppentypischen Bedeutungen kommen zudem auch relativ häufig vor. Vor allem ist es mir ein Anliegen, die Fülle an christologischen Bezeichnungen zu erwähnen. Über die narrative Figur Jesu und die konkreten theologischen Inhalte hinaus, ist die Gestalt Christi rein sprachlich sehr ausdifferenziert in zahlreichen spezifischen Titeln ausgelegt,65 was eine starke Beschäftigung mit seiner Stellung im Leben der Gemeinde, konkret im Konflikt mit der Synagoge oder im Rahmen der Heilsgeschichte, andeutet. Als weitere positive Begriffe, die ein typisches matthäisches Kolorit besitzen, könnte man im Bereich der Ethik δικαιοσύνη (3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32) und ἔλεος (9,13; 12,7; 23,23) hinzufügen, beide ideologisch in der mt Gesetzhermeneutik verankert, oder ἐκκλησία (16,18; 18,17) als Selbstbezeichnung der Gruppe,66 in­ 62 Vgl. schon Dobschütz, Matthäus, 338–348. 63 Vgl. 13,52 (πᾶς γραμματεὺς μαθητευθεὶς τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν); implizit auch in 7,29; 23,8 f („setzen ebenfalls ein Wirken der Jünger als Lehrer voraus“  – Riesner, Lehrer, 455); 23,34 (ἐγὼ ἀποστέλλω πρὸς ὑμᾶς προφήτας καὶ σοφοὺς καὶ γραμματεῖς). Dazu Kingsbury, Story, 157; Sim, Gospel, 122; Luz, Mt I, 83–84; Slee, Church, 148; Sanders, Schimatics, 156, spricht von einem „Christian Scribalism“; Scheuermann, Gemeinde, 231 („eine Funktion des Gemeindelebens“); Tilborg, Leaders, 131 f; Trilling, Amt, 79: „Die Existenz und Legitimität ‚christlicher Schriftgelehrter‘ ist nicht in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt“. Neulich­ McIver, Mainstream, 112–114. 64 Ein unerlässliches Instrument für ein Studium der matthäischen Sprache hat Luz, Mt I, 57–77, durch die Auflistung der häufigsten Wortverwendungen mit besonderer Berücksichtigung des red. Gebrauchs geschaffen. Vgl. auch hier 4.3.3. 65 Im Vergleich zu Markus z. B. spricht Grindheim, Christology, 81, von einem „broader repertoire“ der matthäischen Christologie; auch Stanton, Christology, 99 („Matthew’s rich and varied Christological themes“). 66 Vgl. dazu die einsichtigen Ausführungen von Sim, Gospel, 143–148.

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welcher diese Auslegung auch praktisch ausgelebt wird. Matthäus versieht aber auch negative Begriffe mit neuen Konnotationen, die ebenfalls ideologisch aufgeladen sind: ἀνομία (7,23; 13,41; 23,28; 24,12) und ὑπόκρισις (23,28) / ὑποκριτής (6,2; 15,7; 22,18; 23,13 usw.) stehen alle im Gegensatz zum Liebesgebot.67 Der letzte Begriff wird zudem so stark personalisiert und durch Wiederholungen68 so sehr an die Gestalt der Pharisäer gebunden, dass vermutlich auch nur seine bloße Aussprache Verachtung und Hass hervorrief. Schließlich muss angemerkt werden, dass sich die mt sprachliche Kreativität auch in der Schöpfung neuer Wörter manifestiert, wie man am ekklesiologisch selbstkritischen ὀλιγόπιστος (6,30 // Lk 12,28; 8,26[red.]; 14,31[red.]; 16,8[red.]) / ὀλιγοπιστία (17,20[red.]) am besten beobachten kann.69 Ob das Matthäusevangelium auch dafür einstehen kann, wie Begriffe / Themen aus dem öffentlichen Diskussionsraum verbannt werden, ist nur reine Spekulation. Diese stark jüdisch geprägte, missionarische Schrift, die sonst strittige Punkte des Gesetzes ausführlich behandelt, verliert auffälliger Weise kein Wort über die Beschneidung. War dieses Thema schon längst beiseite gelegt und beschäftigte die Gemeinde nicht mehr? Warum sollten aber dann z. B. die ­Sabbat(12,1–13; 24,20) oder Reinheitsvorschriften (vgl. 8,30: μακράν[red.]; 15,1–20; 23,25 f) wichtiger sein? Dass die Pharisäer in der scharfen Polemik nicht auch darauf eingegangen wären, falls die matthäische Gemeinde, wie es plausibel scheint, auch an der Völkermission interessiert war, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Ob gewollt oder zufällig, wird dieses Schweigen unterschiedlich gedeutet.70 Keine der Alternativen lässt sich aber wegen der spärlichen Quellenlage lückenlos begründen. Ich neige zur Meinung, dass die selbstbewusste matthäische Gemeinde, die schon die eigenen Rituale entwickelt,71 sich eine gewisse Freiheit im Umgang mit dem Thema ‚Beschneidung‘ erlaubte, was anders ausgedrückt logischerweise bedeutet, dass unbeschnittene Heidenchristen schon der Gemeinde angehörten. 67 Vgl. 4.3.2.3.2. 68 Durch „Wiederholung“ wird auf wichtige Inhalte hingewiesen, werden Informationen strukturiert und subjektive Bewertungen hervorgehoben. Vgl. Van Dijk, Prejudice, 123; Lausberg, Handbuch, Bd. 1, 311 (§ 612): Die Wiederholung „hat eine über die bloße Informationsfunktion hinausgehende affektisch-vereindringlichende Funktion […] Die Wiederholung ist eine ‚Pathosformel‘“. 69 Vgl. S. 341 f. 70 Murphy, Jewishness, 383: „It seems more likely that silence argues for rather than against circumcision“; Saldarini, Matthew, 157; White, Crisis, 241 (Anm. 100); Sim, Gospel, 253 f; Luz, Mt I, 92–93. Für das Gegenteil sprechen sich Segal, Matthew, 22; Konradt, Israel, 343 f, aus. Differenziert urteilt Dobbeler, Restitution, 39 f: „dass nämlich die Heidenchristen ebenso selbstverständlich von der Beschneidung entbunden waren, wie diese für Judenchristen in Geltung blieb“; so auch Wong, Theologie, 64. 71 Zu den ritualisierenden Zügen des matthäischen Abendmahlberichtes (Mt  26,26–30) vgl. Anm. 293, S. 111; zur Taufe vgl. Mt 28,19 (dazu France, Mt, 1116–1117: „the practice was already familiar to the disciples“; Konradt, Israel, 343 f; auch Stanton, Revisiting, 18).

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5.2 Feste Gruppenkultur und durchlässige Gruppengrenzen Wie wird man zum Mitglied einer Gruppe? Auf einer theoretischen Ebene ist die Untersuchung der Gruppensozialisation weniger an Inhalten als an Beziehun­ gen und Prozessen interessiert, die sich im Laufe der Zeit vom Eintritt bis zum möglichen Ausgang abspielen. Die Voraussetzung ist natürlich die relative Offenheit der Gruppe, die zwar eine feste Identität hat, aber durch keine exklusiven Grenzen von der Außenwelt getrennt wird.72 Wie ein Außenstehender zum Voll­mitglied / Ex-Mitglied wird, ist das Objekt des umfassenden Sozialisationsmodells von John M. Levine und Richard L. Moreland,73 das die verschiedenen Stadien der Sozialisation als wechselnde Rollenübernahme innerhalb der Gruppe beschreibt. Die aktive Anwerbung neuer Mitglieder führt zum Eintritt (Entry) in die Gemeinde; die darauf folgende Sozialisation macht den Neuling mit der Gruppenkultur vertraut und somit wird er zum Vollmitglied­ (Acceptance). Falls Divergenzen (Divergence)  aufkommen, wird versucht sie in einer zweiten Sozialisationsphase auszuräumen. Wenn die Versöhnung scheitert, ist die Trennung (Exit) von der Gruppe unvermeidbar. Die Übergänge vom Neumitglied zum Vollmitglied, dann möglicherweise zum marginalen und letztlich ehemaligen Mitglied machen die verschiedenen Etappen der Sozialisation aus, in denen der Status des Mitglieds ständig geändert und neu bestimmt wird. Aber nicht nur die Individuen, sondern auch die Gruppen selbst und die verschiedenen Interaktionsmustern innerhalb der Gruppe ändern sich als Folge der internen und externen Herausforderungen. Das Phasenmodell der Gruppen­ entwicklung74 beschreibt analytisch ‚das Reifwerden‘ einer Gruppe, und schreibt jeder Phase ein typisches Gruppenverhalten zu.75 Diese Theorie ist in manchen 72 In diesem Sinne können die Gruppen auch nach einem anderen Kriterium klassifiziert werden – offen / geschlossen: „This distinction refers to the relative permeability of the boundaries of social groups. Open groups habe relatively permeable boundaries, and few barriers to interaction with outsiders“ (Hansen / Rapley, Art. Group(s), 256). 73 Levine / Moreland, Socialisation, 305–336; Moreland / Levine, Socialization, besonders 483 f; vgl. auch Nijstad, Group, 20–25. 74 Von Tuckman / Jensen, Stages, 419–427. Vgl dazu auch Nijstad, Group, 26–28; Harris / Sherbolm, Group, 64–75. 75 In der Anfangsphase (Forming) werden die Möglichkeiten ausgelotet und deswegen zeichnet sie sich eher durch eine abwartende Haltung aus; die darauf folgende stürmische, problematisierende Etappe (Storming) bringt eher ein negatives emotionelles Verhalten hervor; die Auseinandersetzung wird gesucht, die Polarisierung steigt. Zu einem Ausgleich kommt es in den letzten zwei  – normierenden (Norming) und handelnden (Performing) Phasen, wenn die aufgabeorientierte Stimmung vorherrscht; die Rollen sind flexibel verteilt und die Energie der Gruppe wird konkret in die Richtung Ziele und Aufgaben kanalisiert. Vgl. dazu Tuckman / Jensen, Stages, 419–427; Nijstad, Group, 26–28; Stangor, Groups, 126–127; Forgas,

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Punkten kritisiert worden.76 Aber die Annahme, dass die Gruppe einem gewissen ‚Alterungsprozess‘ ausgesetzt ist und in ihrer Entwicklung die Verhältnismuster zwischen den Mitgliedern variieren, ist gesichertes Wissen. Die Kirche von Matthäus ist eine offene Gruppe, die nicht nur Neuzugänge zulässt, sondern um diese auch aktiv wirbt. Die Suche nach dem Verirrten hat einen prinzipiellen Charakter. Die Christen waren bestimmt verschiedenen Einflüssen auch von außen ausgesetzt, abweichende Meinungen konnten sich immer wieder bilden. Zur Interpretation des ‚Sünders‘ als ‚Andersdenkende‘ und der ‚Sünde‘ in Mt 18,15–17 als ‚Meinungsverschiedenheit‘, vgl. 4.3.1.2. Wegen der durchlässigen Grenzen war das Verlassen der Gruppe möglich, aber wegen des brüderlichen Verhältnisses miteinander nur im Extremfall erwünscht. Die feste Gruppenkultur, so wie sie in der geschlossenen Front der Gemeinde in 18,17 zum Ausdruck kommt, verhindert aber zugleich, dass der Glaubenskern durch das ständige Kommen und Gehen der Mitglieder verloren geht.77 Mt 18,15–20 liefert ein Paradebeispiel für soziale Abwehrmechanismen gegen Andersdenkende, ohne von den Grundwerten – brüderliche Liebe und Eintracht in Christus – abzuweichen. Beides  – missionarische Ausrichtung und relative Durchlässigkeit der Gruppengrenzen – spricht für eine offene Gruppe mit ausgeprägten Normen und sozialer Präsenz. In den sozialwissenschaftlichen Analysen des Evangeliums wurde oft darüber spekuliert, ob die matthäische Gemeinde einen devianten Charakter hatte.78 Tatsache ist, dass es nur wegen zunehmender Abweichungen in der Lehre und Praxis mit der Zeit zu einem Auseinandergehen der Wege kommen konnte.79 Die wahrgenommenen Unterschiede, die zur Zeit von Matthäus zutage traten, sind aber bestimmt nicht hinreichend einerseits, um über eine gewollte Trennung zu sprechen, andererseits auch nicht um die Polemik exklusiv als Streit mit dem ‚parent body‘ aus der Position einer devianten Gruppe zu erklären. Devianz Interaktion, 266–267; auch Malina, Early, 99–102, der das Modell auf die ursprüngliche christliche Bewegung anwendet; König / Schattenhofer, Gruppendynamik, 62 f, schlagen ein ähnliches Alternativmodell vor. 76 Manche Phasen fallen aus und auch die Behauptung, dass die Etappen sich qualitativ voneinander unterscheiden oder, dass sie Veränderungen so abrupt und ohne Abstufungen aufeinander folgen, konnte keine breite empirische Unterstützung finden. Vgl. Nijstad, Group, 28; Harris / Sherbolm, Group, 75. 77 Siehe auch McIver, Mainstream, 82: „The group has clearly-defined boundaries by which it could recognise those who belong to the group or not“. Konradt, Israel, 382, nimmt ebenfalls eine „gewisse Fluktuation“ an. 78 Vgl. besonders Saldarini, Conflict, 38–61; Ders., Matthew, 107–112. 79 Hier wird dieser theoretische Bereich ausschließlich auf seiner Relevanz für die spezifische matthäische Konstellation hin überprüft. Dass die ‚Soziologie der Devianz‘ eine gewisse Erklärungskraft in Bezug auf die Entstehung der christlichen Bewegung besitzt, wird nicht bestritten; vgl. Barclay, Deviance, 110: „The ‚sociology of deviance‘ […] might well hold some promise for research focused on the Christian movement as a deviant form of Judaism and on the definition and exclusion of deviants from the early Christian communities“.

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würde m. E. im Fall von Matthäus nur dann Sinn ergeben, wenn man diese Bezeichnung, die eher ein Produkt der modernen Gesellschaft darstellt,80 für den hermeneutisch und christologisch abweichenden Charakter der Gruppenkultur und nicht für die ‚soziologische‘ Stellung der Gruppe verwendet. Ich vermeide sie in meiner sozialpsychologischen Beschreibung, weil kaum anzunehmen ist, dass es einen solchen homogenen jüdischen Hintergrund gegeben hat, in Verhältnis zu dem Matthäus als deviant herausragt.81 Außerdem ist das vorausgesetzte Machtverhältnis zwischen dem devianten Teil und dem Hauptkorpus in der matthäischen Konstellation nicht gegeben; die Synagoge war ihrerseits im Rahmen der römischen Gesellschaft kein Machtträger, sondern im politischen Sinne genauso ‚schwach‘ wie die Kirche selbst,82 wenn auch religiös maßgebend für die umgebende jüdische Bevölkerung. Der Grund der starken Auseinandersetzung kann m. E. nicht ausschließlich das Bedürfnis einer devianten Gruppe sein, sich schärfer zu definieren, sondern er ergibt sich aus der realen Konkurrenz der religiös ungleichen Gruppen im missionarischen Feld. Was den Sektencharakter betrifft, plädiere ich ebenfalls für den Verzicht auf den belasteten und für die damalige Zeit, wenn enggeführt, nicht gerade angemessenen Begriff ‚Sekte‘ aus den heutigen Soziologiebüchern.83 Problemlos kann man aber über gewisse ‚sektenähnliche Merkmale‘ im Sinne einer kleinen,84 aktiven Gruppe sprechen, die im Rahmen des uneinheitlichen ‚formativen 80 Auch Luz, Antijudaismus, 318, stellt dem Erklärungsansatz von Saldarini ein konflikttheoretischer Ansatz gegenüber. Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. auch Barclay, Deviance, 121, Anm. 1. 81 In seiner Kritik an diesem Modell spricht Luomanen, Sectarism, 113, über ein „abstract majority-Judaism“; vgl. auch Runesson, Rethinking, 110: „We know very little about the late first century that would enable us to talk about a powerful formative / early rabbinic Judaism in relation to which the Mattheans can be said to deviate“. 82 Die Beobachtung von Luomanen, Entering, 275, ist daher weichenstellend: „Given the fact that the ultimate military and political power was in the hands of the Romans, it seems that more research about Matthew’s relation to the Hellenistic-Roman world and to the other Christian communities should be done if we aim at statements about the general character of Matthew’s community from the social scientific point of view“. Die Annahme, dass die emergente pharisäische Führung eine ‚retainer-Rolle‘ im Verhältnis zu den Römern hatte (Carter, People, 149 [„leaders allied with Rome“]; Vledder, Conflict, 125, 153–157; S­ egal, Matthew, 35; ­Saldarini, Pharisees, 172), ändert im Gründe genommen nichts an der mt Konfliktkonstellation. 83 Auch Repschinski, Stories, 52, findet den Begriff ebenfalls als „fraught with difficulties“; siehe auch Fiedler, Israel, 70. Als Grundbegriff für eine soziologische Studie der religiösen Gruppierungen im Frühjudentum meidet auch Newman, Proximity, 5, die Bezeichnungen „Sekte“ oder „Kult“: „The preferred term in our study is the sociological term ‚group‘“. Für Kritik an der Verwendung des Sektenbegriffs in nt Studien vgl. auch Luomanen, Sectarism, 109–121. 84 Riches, Conflicting, 181: „Small community engaged in a visceral struggle for its survival“; Saldarini, Conflict, 38 („fragile minority“); Vledder, Conflict, 160; Foster, Community, 198 („liminal and ostracized group“). Vgl auch Anm. 222, S. 94.

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Juden­tums‘ Stellung bezieht und den sich abzeichnenden führenden Trend strittig macht und herausfordert.85 Die Zuweisung einer bestimmten soziologischen Nische – d. h. in diesem konkreten Fall ‚Sekte‘ eng im Sinne des weberischen Sektenbegriffs aufzufassen86 – würde sich meiner Meinung nach eher hemmend auf den heuristischen Versuch auswirken, mit Fingerspitzengefühl ein plausibles und textnahes sozialpsychologisches Profil der Gruppe zu erstellen. Ich bleibe bei dem vielleicht für manche zu vagen Begriff der primären Gruppe, der mir aber eine Fülle von Perspektiven öffnet, die innere Gruppendynamik in situ, d. h. in einem von ihr selbst formulierten, selbstreflexiven Text zu beobachten. Der matthäische Christ ist als Teil  einer primären Gruppe von einem dichten sozialen Umfeld geschützt und er erlebt auf Gruppenebene quasi-familiäre Verhältnisse.87 Stigmatisierte Randgruppen können gerade wegen ihres scharf definierten Status eine bedeutende Anziehungskraft ausüben, wobei das Stigma durch psychologische Umwertung zu einem Grund der Überhöhung des eigenen Selbstwertgefühls werden kann.88 Man kann von einer gewissen Selbstviktimi­ sierung der matthäischen Christen sprechen, denn möglicherweise war die Verfolgung „not official and concerted but unofficial and sporadic“.89 Die starke Bindung der erfahrenen Verfolgung mit dem Geschick des Gottessohnes (vgl. 4.2.3.2) liefert eine ideologische Verstärkung, verbindet aber zugleich die Christen miteinander. Das mag auch für vereinzelte Außenstehende eine besonders attraktive Eigenschaft gewesen sein; dadurch konnte die mt Gemeinde aber bestimmt kein Massenphänomen werden, wie sie es sich gewünscht hätte. 85 Für eine ausgewogene Diskussion der Sekten-Problematik bei Matthäus, wobei auch der methodisch sinnvolle Unterschied zwischen „sect“ und „sectarian character“ vorgenommen wird, verweise ich wiederum auf Luomanen, Entering, 273–275; für eine „sectarian ­nature of the community“ plädieren auch McIver, Mainstream, 108; Sim, Gospel, 116 („sectarian tendencies“). 86 Eindeutig für ein Verständnis der früheren christlichen Gruppierungen als Sekten äußern sich Scroggs, Earliest, 1–23; Overman, Matthew, 107–116. 87 Gerne spricht man in diesem Zusammenhang von einer „egalitarian tendency“ (Yieh, Teacher, 270 f; Sim, Gospel, 139 f; Slee, Church, 146; Ascough, Matthew, 120–123). Auch der der turnerischen Ritualtheorie entnommene Begriff communitas taucht auf (Vledder, Conflict, 138; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 149). 88 Die freiwillige Übernahme eines Opferstatus als Form einer Selbstviktimisierung, die Mödritzer, Stigma, auf individueller Ebene am Beispiel von Jesus von Nazareth, Paulus und Ignatius von Antiochien analysiert, gilt durchaus auf Gruppenebene auch für die matthäische Gruppierung. „Die Selbststigmatisierung verfolgt […] den Zweck, Stigmatisierung […] ‚umzudrehen‘“ und dadurch wird sie zu einer „charismatischer Qualität“ (Lipp, Selbststigmatisierung, 36 bzw. 44). Besonders eine ausweglose Konfliktsituation fördert die Entwicklung solcher Vorstellungen, vgl. dazu Bar-Tal, Societal Beliefs, 7: „Beliefs about self-victimization imply that conflict was imposed by the adversary who not only fight for unjust goals, but also uses immoral means to achive these goals“. 89 Sim, Gospel, 157; vgl. auch weiter 5.3.

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Die Existenz einer matthäischen „Märtyrerpsychologie“90 heißt aber überhaupt nicht, dass die Gemeinde keine realen Bedrohungen verspürt. Die fragile Gruppenstellung ist tatsächlich mehreren Gefahren ausgesetzt, die man durch das Medium ‚Evangelium‘ zu bewältigen versucht. Im nächsten Abschnitt dienen entsprechende sozialwissenschaftliche Überlegungen dazu, Indizien im Text zu finden, die zugleich diesen Sachverhalt belegen und dadurch im Umkehrschluss auch die verbale Aggression im Text als Teil der kognitiven Bewältigungsstrategie dieser Gefahren deutet.

5.3 Gefährdete Gruppenidentität Eine Gruppe wird im sozialen Milieu durch verschiedene Arten von Bedrohungen gefährdet. Sie stellen den Status und das Selbstwertgefühl auf die Probe und problematisieren letztendlich ihre Identität. Eine Bedrohung wirkt sich nur dann auf den Erhalt der Gruppe aus, wenn sie als solche subjektiv wahrgenommen wird. Sie kann als bedrohend empfunden werden, auch wenn sie der Wirklichkeit überhaupt nicht entspricht.91 Auch die bloße Existenz einer anderen Gruppe, umso mehr wenn eine gewisse Feindschaft schon vorhanden ist oder die Interessen und die Ziele gegeneinander stoßen, fordert die Gruppe auf kognitiver, emotioneller und Verhaltensebene heraus und kann ihre Abwehrmechanismen aktivieren. Bestimmte soziale Faktoren wie Spannungen, Unruhen oder Krieg werden natürlich die Unsicherheit steigern und bewirken eine Reaktion auf Gruppenebene in dem Versuch, mit der Lage fertig zu werden. Beides – Bedrohungstypen und Gruppenreaktionen – werden in der Forschung thematisiert. Ich werde zunächst einige Positionen und die entsprechende Begrifflichkeit auf­ nehmen, nur die Intergruppenprozesse werden aber das Objekt dieser Zusammenfassung ausmachen. In diesem Sinne übernehme ich hier die integrative Definition von Walter G. Stephan u. a.: In the context of intergroup threat theory, an intergroup threat is experienced when members of one group perceive that another group is in a position to cause them harm. We refer to  a concern about physical harm or  a loss of resources as realistic threat, and to a concern about the integrity or validity of the ingroup’s meaning system as symbolic threat.92

90 In keinem anderen Evangelium ist die Jüngerschaft so stark mit der Selbsthingabe verknüpft und christologisch begründet wie in Mt. Riddle, Verfolgungslogien, 284, spricht über eine „Märtyrerpsychologie – das Bewusstsein, verfolgt zu werden“, das „oft […] ohne entsprechende sachliche Begründung“ auftritt. 91 So Stephan / Stephan, Threat Theory, 25; Breakwell, Formulations, 24. 92 Stephan u. a., Intergroup, 43 f.

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In engem Zusammenhang mit der SIT werden also allgemein zwei große soziale Gefahren gegenüber der Gruppenidentität erörtert.93 Erstens der Verlust der Distinktheit, oder umgekehrt gesagt, die Bedrohung durch eine zu große Ähnlichkeit mit einer anderen Gruppe (symbolische Bedrohung).94 Zweitens der direkte Angriff auf den Inhalt der sozialen Identität, die Herabsetzung der typischen Werte und Vorstellungen (realistische Bedrohung).95 Der matthäische Text lässt die beiden Arten von Bedrohungen im Leben der Gemeinde erkennen. Symbolisch regen die gemeinsame Berufung auf dieselbe Schrift wie auch die Überlappungen im Ritualwesen ständig zur Differenzierung und Selbstpositionierung an;96 realistisch ist das Weiterbestehen der verunsicherten Gemeinde wegen der Vorherrschaft der pharisäischen Richtung in Frage gestellt.97 Zuerst einige Worte zum ersten Typus aus sozialpsychologischer und aus exegetischer Sicht. Ein entscheidender Aspekt, den die Gruppen gemeinsam haben, stellt ein mögliches Spannungspotenzial dar, und wird die Diskriminierungen und den kompetitiven Geist besonders entfachen.98 In einer Studie über die soziale Differenzierung verdeutlichen Gerard Lemaine und seine Mitarbeiter die Motivation, die einem solchen Prozess zugrunde liegt.99 Eine extreme Ähnlichkeit würde die Unterschiede zwischen Gruppen verwischen. Diese Lage wird als echte Iden­ titätsbedrohung wahrgenommen und löst eine rege Suche nach dem eigenen, un 93 Vgl. Branscombe u. a., Context, 36. Die anderen zwei Bedrohungen (categorisation threat und acceptance threat), die das Verhältnis Gruppe-Individuum betreffen, werden hier nicht einbezogen. 94 Stephan / Stephan, Threat Theory, 25; Taylor / Moghaddam, Theories, 81: „Similarity can lead to discrimination rather than attraction“. Breakwell, Formulations, 24–25, spricht in solchen Situationen von einer „Aushandlung der Identität“ (renegociation of identity). Man sucht nach neuen Ausdrucksformen im Gruppenleben, entwickelt eine neue Rhetorik in den Beziehungen mit anderen Gruppen und erörtet neue Ressourcen, um die Gruppe unter verändereten Bedingunen aufrechtzuerhalten. Ähnlich auch bei Ellemers u. a., Commitment, 125, die solche Strategien als „Identitätsmanagement“ (identity management strategies) bezeichnen. 95 Breakwell, Formulations, 25, nennt sie auch „materiell“. 96 Hartin, Woes, 278: „The two chief protagonists for fidelity to the tradition of Israel are the Pharisees and the community of Matthew“, darum „the community of Matthew sees the Pharisees as its major threat“; Fiedler, Israel, 72; Reinbold, Matthäusevangelium, 67; Segal, Matthew, 35: „They must have been competing over some territories“. 97 White, Crisis, 238: „The identity of the Christian group was being threatened“; Stanton, Christology, 99. 98 Turner, Comparison, 238: „Mutual comparison and differentiation between groups become fully competitive only to the degree that they attach positive value to the same pole of the relevant, comparative dimension. Thus to the extent that intergroup similarity implies common values, it will directly facilitate the development of competitiveness between the groups“ und weiter: „Intergroup differentiation tends to be stronger amongst similar groups“ (247);­ Brewer, Relations, 55. 99 Lemaine u. a., Differentiation.

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verfälschten Profil aus.100 Drei Verhaltensmodelle sind beispielsweise von den genannten Autoren erwähnt:101 Regression (die Rückkehr zu den „echten“ Verhaltensmodellen); Differenzierung (neue verschiedene Verhaltensformen werden unter externen Einflüssen geschaffen); Negation (neue Sitten werden eingeführt, die denen der Referenzgruppe entgegengesetzt werden). Diese Ergebnisse liessen sich in einer Reihe von Experimenten102 bestätigen. Einerseits wird eine möglichst deutliche und unverkennbare Absonderung von der Zielgruppe angestrebt. Je größer die Bedrohung ist, desto intensiver wird der Versuch, die Aufmerksamkeit auf verschiedene relevante Aspekten zwischen den Gruppen zu fokusieren, um die Distinktheit wiederherzustellen.103 Andererseits tendieren die Gruppenmitglieder dazu, sich stärker in gruppenspezifischen Zügen zu definieren und zu stilisieren, um dem Gruppenprototyp möglichst nahe zu kommen (Selbststereotypisierung).104 Einfache, klar fokussierte und eindeutige Prototypen erfüllen viel besser diese Aufgabe,105 denn sie lassen wenig Spielraum für abweichendes Verhalten zu und befestigen das Selbstbild. Auseinandergehende Normen oder Uneinigkeit in der Selbstdefinition der Gruppe können sonst ihrerseits Unsicherheit verursachen. In Bezug auf den matthäischen Text ist zu bemerken, dass Matthäus schon bei der ersten Erwähnung der Pharisäer und Schriftgelehrten (5,20) durch einen Vergleich (πλεῖον) die Überlegenheit der eigenen Gerechtigkeit feststellt. Von denselben nimmt der Evangelist auch in 23,8 sorgfältig Abstand (ὑμεῖς δέ). Die gesetzlichen Auseinandersetzungen sind vielleicht bei Matthäus deswegen so animiert (vgl. dazu 3.2), weil die Tora als gemeinsame Basis zugleich zum Streitpunkt geworden war. „Polemische Auseinandersetzung weist auf verdeckte Affinität des Verfassers mit den Gegnern“.106 Die richtige Auslegung ausschließlich für sich selbst in Anspruch zu nehmen, geht damit einher, dass man die Unfähig 100 Lemaine u. a., Differentiation, 287: „A threatened identity can thus, in our view, be re­ stored by means of a search for difference and otherness, the creation of, and then the emphasis upon, heterogeneity“; vgl. auch Branscombe u. a., Context, 44. 101 Lemaine u. a., Differentiation, 288–289. 102 Jetten u. a., Group. 103 Jetten u. a., Group, 109; Branscombe u. a., Context, 45. 104 Doosje / Ellemers, Stereotyping, 269: „Members who identify strongly with their group may want to accentuate their prototypicality as group members, in order to reassert their common identity as members of a distinct group“; Jetten u. a., Group, 110; Branscombe u. a., Context, 45. 105 Hogg, Reduction, 241. 106 Berger, Gegner, 392; vgl. auch Viljoen, Matthew, 668: „The tension of the Matthean community with oder jewish groups was born from proximity rather than distance“; Sim, Strategies, 495: „Intense polemical and stereotypical language […] does not reflect the distance b ­ etween two opposing parties. Rather, it reflects both physical and ideological proximity“; Dietzfelbinger, Frömmigkeitsregeln, 195: „Die Gemeinsamkeit der Tradition und des Rechts, in der die Gemeinde an die Synagoge gebunden war, hatte sich für die Gemeinde zur Existenzbedrohung ausgewachsen“.

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keit und die „Blindheit“ der Kontrahenten hervorhebt. Diese unterschiedlichen Gesetzesauffassungen schlagen sich vor allem in einem anderen Umgang mit den Mitmenschen nieder. Die Barmherzigkeit soll als Prinzip die konkreten Situationen des Alltags bestimmen.107 Dies wird aber nicht als Erneuerung betrachtet, sondern als Rückkehr zum wahren Inhalt der Gebote Gottes, die gerade die Opponenten durch eine verkehrte Interpretation ausnutzen. Jeder Anflug von eigennützlicher Machtausübung wird auf Gemeindeebene unterminiert, aber nicht nur um der eigenen Gruppenkultur treu zu bleiben, sondern auch, um einen Kontrast zur Gegengruppe zu konstruieren.108 Aus einer konflikttheoretischen Perspektive wird ein Konflikt zwischen verwandten Teilnehmern als „Geschwister-Konflikt“ bezeichnet. Meistens werden in der Matthäusforschung die Ausführungen von Lewis A. Coser herangezogen, der als Pionier der Konfliktanalyse auch unter Exegeten109 einen gewissen Bekanntheitsgtrad erreicht hat. Einleuchtend wirken die folgenden Sätze: Ein Konflikt ist leidenschaftlicher und radikaler, wenn er aus engen Beziehungen entsteht. Das Zusammen von Einigkeit und Gegnerschaft in solchen Beziehungen macht die Schärfe des Konfliktes aus. Feindschaft ruft tiefere und heftigere Reak­ tionen hervor, je mehr die Parteien, zwischen denen der Streit entsteht, aneinander gebunden sind. In Konflikten innerhalb einer engen Beziehung hasst die eine Seite die andere umso stärker, je mehr sie als Bedrohung der Einheit und der Gruppenidentität erscheint.110

Die höhere Bedrohungsstufe (realistische Bedrohung) manifestiert sich in Zeiten mit sozialer Instabilität und schnellem sozialem Wandel, wenn der Status, die Werte und die konkrete Existenz der Gruppe durch Umweltfaktoren in Frage gestellt werden. Die Gruppe engagiert sich in einem heftigen ‚Kampf um Anerkennung‘111 mit ihrem feindseligen sozialen Milieu. Dieser Kampf wird natürlich auch von typischen psychologischen Erscheinungen und Prozessen begleitet. Verschiedene Basisphänomene schalten sich in subtilerer Form in alltäglichen Situationen wie Erniedrigung, Gesichts- oder Statusverlust als psychologische Schutzmaßnahmen ein.112 Wie schon vorher erwähnt, nimmt die Tendenz, eine andere Gruppe zu diskriminieren, aber auch das kompetitive Verhalten, sehr 107 Vgl. 4.3.1.2. 108 Vgl. 4.3.2. 109 Einige Beispiele: Luz, Antijudaismus, 318 f; Repschinski, Stories, 53; Przybylski,­ Setting, 198 f; Sim, Strategies, 495; Sanders, Schimatics, 125 f; Ettl, Konflikt, 10–12. 110 Coser, Theorie, 84; vgl. auch 89. Die Ausführungen beruhen auf Simmel, Streit, 272 ff. Siehe auch Deutsch, Introduction, 10 („emotionally intense“); Pruitt, Conflict, 488–489. 111 Die Formulierung wird geprägt von Brown / Ross, Battle, 158; vgl. auch Northrup, Dynamic, 68 („the individual or group will respond energetically“). 112 Janis, Identification, 81; Hogg / Abrams, Behavior, 415; Meindl / Lerner, Exacerba­ tion, 80: „Individuals will display  a more extreme pattern of reactions to an out-group […],­ given they have suffered some recent blow to self-esteem“.

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stark zu, wenn sie als externe Bedrohung für die Eigengruppe wahrgenommen wird.113 Als Lösung wird der Versuch unternommen, die eigenen Charakteristika zu ändern oder neue Normen zu schaffen; neue Attribute werden den Mitgliedern zugeschrieben und die wesentlichen Parameter der Gruppe werden im Sinne einer verstärkten Identität und eines verbesserten Selbstimage neu definiert.114 Unter diesen Umständen, mit einem verstärkten Selbstwertgefühl, werden besonders die kollektiven Lösungen bevorzugt und eine Basis für soziale Aktion wird geschaffen, um der Gefahr zu entgehen und den sozialen Status zu verbessern.115 Eine Art von Schikanen, wie auch soziale Erniedrigung in der Synagoge haben die matthäischen Christen bestimmt erlitten. Auch in ihrer missionarischen Tätigkeit wurden sie mehr oder weniger durch pharisäische Opponenten beeinträchtigt.116 Systematische Verfolgungen gab es sehr wahrscheinlich nicht.117 Ihr Versuch, die mehrheitliche jüdische Bevölkerung für Christus zu gewinnen, ist teilweise fehlgeschlagen, und das bedeutet auf sozialer Ebene Gesichts- und 113 Worchel u. a., Model, 28; Branscombe u. a., Context, 47; Stephan u. a., Intergroup, 50 f, listet einige kognitive Reaktionen auf  – „ethnocentrism, intolerance, hatred, and dehumaniza­tion of the outgroup“; „more abstract description of negative outgroup than ingroup behavior“ usw. mit der Folge dass, „violence against the outgroup [is] more likely and­ easier to justify“; Korostelina, Identity, 138 f. 114 Breakwell, Coping, 139. Das ganze Kapitel 6: Intergroup Coping Strategies ist für unsere Fragestellung relevant; vgl. auch Tajfel, Gruppenkonflikt, 133; ferner auch Branscombe u. a., Context, 47. 115 Doosje / Ellemers, Stereotyping, 265, und Doosje u. a., Commmitment, 94; Brown /  Ross, Battle, 171; Hogg, Social Psychology, 35; Turner, Experimental, 91: „Shared threat and failure can have a positive impact on social identification and that latter mediates cohesiveness“. Der Zusammenhang ‚externe Bedrohung – interne Gruppenkohäsion‘ ist schon längst ein locus communis in der soziologischen Konfliktforschung und wurde aber auch im Rahmen der Sozialpsychologie des intergruppalen Verhaltens experimentell bestätigt (vgl. dazu Dion, Cohesiveness; Woehrle / Coy, Introduction, 6; Bar-Tal, Societal Beliefs, 7: „In times of intractable conflict unity allows mobilization of energy for coping with the conflict“; Fisher, Conflict, 183 („the interplay between group cohesiveness and competition“). 116 Riddle, Verfolgungslogien, 272: „Der Zuwachs an Verfolgungsstoffen im Matthäusevangelium ist offensichtlich“; Slee, Church, 133; White, Crisis, 238: „The identity of the Christian group was being threatened“; Hummel, Auseinandersetzung, 30; Freyne, Vilifying, 129: „In Matthew, the Christian missionaries are under attack“; Hartin, Woes, 278. Stanton, Judaism, 276, widerspricht der These von Hare, Theme, der die Verfolgungen als vergangene Ereignisse einstuft. Mt reiht sich in dieser Weise in die Tradition der verfolgten Gemeinden ein, wie 1Hen 95,7 (in einem Weheruf); 46,8; Jub 23,23 f; TestLevi 16,2; TestJuda 21,9; ApkElia 36,2; 1QpHab 11,5; Mk 13,9–13. 117 Dass die matthäischen Verfolgungsberichte leicht übertrieben sind und auch einen rheto­rischen Effekt verfolgen, hat Hare, Theme, 129, bewiesen; hier der Fazit: „His careful­ limitation of this suffering to missionaries of the gospel indicates that the number was relatively small“; vgl. auch Riddle, Verfolgungslogien, 286: „Doch traten solche Verfolgungen gewiss nur vereinzelt auf “; „Tatsächlich sind die Verfolgungslogien ausgezeichnete Beispiele urchristlicher Paränese“ (287); Segal, Matthew, 31 („not systematic persecution“).

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Einflussverlust. Auch diesen trüben Alltag muss der theologische Entwurf des Evangeliums bewältigen (vgl. 4.3.1.1). Die Jünger als Identifikationsfiguren der Gemeinde vermitteln als Reaktion auf soziale Marginalisierung ein verbessertes Selbstimage.118 Man kompensiert die sozialen Missstände auf Gruppenebene, durch einen verstärkten Zusammenhalt und eine erhöhte Empfindlichkeit an individuellen Abweichungen von den Gruppenwerten.119 Der matthäische Jesus zeigt keine empathischen Züge und keine Dialogbereitschaft gegenüber seinen Kontrahenten (vgl. 2.2), die wegen der typisierten matthäischen Sprache auch sehr genau von den gut gesonnen Hilfebedürftigen aus dem Volk zu unterscheiden sind (vgl. 3.1.2). Im nächsten Unterabschnitt nähere ich mich noch mehr dem Konfliktkern und beschäftige mich vorerst kurz mit seinen ‚Vorboten‘ und Epiphänomenen – den negativen Emotionen und der verbalen Aggression.

118 Zu den höheren Zügen des Selbstbildes vgl. 4.3.1.1 und 4.3.3.2. 119 In diesem Sinne habe ich Mt 18,15–18 als ekklesiologische Erklärung angesichts abweichender Meinungen gedeutet (vgl. 4.3.1.2).

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6. Der ‚Stand‘ des matthäischen Konfliktes mit der Synagoge 6.1 Verbale Aggression und Emotionen als Medium der Konfliktaustragung Der folgende Satz erklärt hoffentlich eindeutig, warum man es nicht vermeiden kann, über Emotionen zu sprechen, wenn Konflikte analysiert werden: „Emo­ tionsausdruck könnte man […] fast als ein definierendes Merkmal von Konflikten ansehen“.1 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das emotionale Verhalten in den Beziehungen zwischen Gruppen. Gemäß der Theorie der sozialen Emotionen2 beteiligen sich drei Komponenten an der Herausbildung von spezifischen kognitiven Konfigurationen, die tendenziell bestimmte Emotionen hervorrufen. Zuerst ist die Einschätzung der Signifikanz der erlebten Situation für die eigenen Ziele zu erwähnen. Die Frage ist dann: Inwiefern werden die eigenen Absichten durch die gegebenen Ereignisse begünstigt oder verhindert? Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die eigene Fähigkeit mit der Situation fertig zu werden. Hier sind zugleich die Macht, die Kompetenz oder der Gruppenstatus gemeint, also das verfügbare Durchsetzungsvermögen der Gruppe. Schließlich kommt auch die Frage nach der Legitimität der Ereignisse ins Spiel; wenn die Normen oder die Erwartungen verletzt wurden, kann eine emotionelle Reaktion nicht ausbleiben.3 Man wird in dem Versuch die Ungerechtigkeit zu beseitigen, auch vor illegitimen Mitteln nicht scheuen.4 Die kognitiven Einschätzungen,5 wie z. B. eine wahrgenommene Bedrohung oder eine Provokation, dienen als Grundlage für kongruente Emotionen wie Angst oder Ärger, Stolz oder Freude usw., die angemessene Handlungstendenzen weiter motivieren und fördern. Besonders die negativen Emotionen korrelieren deutlich und differenziert mit verschiedenen Verhaltensmustern.6 1 Fiehler, Konstitution, 304; vgl. dazu auch Lindner, Emotion. 2 Siehe oben 1.2.4. 3 Kurzgefasst sind diese Dimensionen bei Brewer, Relations, 12, nachzulesen. Für eine detaillierte Synopse vgl. Garcia-Pieto / Scherer, Connecting, 195. In erweiterter Form mit der Einbeziehung von kognitiven Einschätzungen, intergruppalem Kontext, spezifischen Emotionen und Handlungstendenzen bei Smith, Identity, 306. 4 Smith / Kessler, Emotions, 299; Mackie u. a., Theory, 294; Garcia-Pieto / Scherer, Connecting, 199: „Perceived injustice is one of the most powerful appraisal criteria, strongly increasing the intensity of many emotions“. 5 Als Bezeichnung dafür hat sich der Begriff appraisals eingebürgert, auch wenn er unpräzise erscheinen mag (vgl. Smith / Kessler, Emotions, 305). Allgemein wird darunter „a configuration of cognitions or beliefs that are linked to a specific emotion“ verstanden (vgl. Smith, Identity, 303). Sie sind aber höchst subjektiv und werden von den im Gedächtnis schon vorhandenen, interpretativen Schemata beeinflusst (Smith / Mackie, Time, 179). 6 Vgl. zu Angst, Ärger und sozialer Demütigung den Abschnitt 1.2.4.

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Generell betrachtet weist der matthäische Jesus in den direkten Konfrontationen mit seinen narrativen Gegnern eine niedrigere Gesprächsbereitschaft wie auch eine härtere Vorgehensweise auf. Meistens kommen solche Unterschiede zur markinischen Grundlage durch red. Bearbeitung zustande und lassen die angespannten Alltagserfahrungen in das Verhalten der narrativen Akteure mit einfließen.7 Natürlich wird der emotionale Höhepunkt im Kap. 23 und besonders in den Wehe-Rufen erreicht. „The intensity of the emotions expressed, plainly reveal that the heated polemic of 23,13 ff was for Matthew no relic of an earlier time“.8 Man kann Mt 23 als affektiv-konfliktärer Diskurs bezeichnen.9 Einige Grundzüge dieses Diskurstypus treffen im Fall von Mt 23 sehr genau zu. Die mangelnde Objektivität merkt man besonders an den Übertreibungen oder an der wenig deskriptiven und eher pejorativen Ausdrucksweise, mit einer Fülle von abschätzigen und karikierenden Epitheta.10 Man bedient sich gerne un­genauer Formeln oder achtet viel weniger auf Kohärenz und logische Zusammenhänge, neigt aber dazu, absolute Behauptungen und Widerlegungen in einer ideologischen Sprache zu äußern. Stilistisch kommen viele Inversionen, Interjektionen,11 Ausrufeworte oder rhetorische Fragen,12 Antizipationen und Anaphern13 zum Einsatz. Es überrascht nicht, dass die soziale Wahrnehmung stark von starren Stereotypen geleitet ist, dass die kognitiven Prozesse Ereignisse wie die Tempelzerstörung fehler 7 Zum düsteren Feindbild in Mt vgl. 2.2. 8 Davies / Allison, Mt III, 308. Vgl. auch Segal, Matthew, 32 („they were angry“); auch Konradt, Israel, 379, weist auf „die Vehemenz, mit der die Auseinandersetzung allem ­voran mit den Pharisäern geführt wird“ hin; Gielen, Konflikt, 470 („die harschen, polemischen Töne“). Grams, Temple, spricht über einen „increase of pathos“ (60) und bemerkt: „The whole speech thereby builds in intensity and emotion until the final verdict is wholly justified“ (64). Die Entwicklung eines kollektiven „affektlogischen Denkens“ gilt als eine gewöhnliche Erscheinung eines eskalierten Konflikts (Thiel, Konflikte, 65). 9 Windisch, K. O., 93, charakterisiert diesen Begriff folgendermaßen: „Sein Ziel ist die Zerstörung der sozialen Identität der Gegner. Es geht nicht mehr darum, die Gegner in eine ungemütliche Lage zu bringen oder sie zu deplatzieren, sondern darum, ein Image von ihnen zu vermitteln, welches das Publikum dazu bringt, sie zu hassen und zu verabscheuen“. 10 Im Rahmen einer honor / shame-Kultur hat das Lachen über die Gegner in der Öffentlichkeit eine besondere Brisanz (Neumann, Art. Invektive, 553). 11 Emotionen „are primarily manifested in speech non-verbally“ (Daneš, Involvement, 259). Zu yAh als „emotional-affektive Partikel“, vgl. Hardmeier, Texttheorie, 188 ff; Frankemölle, Pharisäismus, 174, 177. „Idealtypische Interjektionen dienen primär dem spontanen Ausdruck starker, subjektiver Emotionalität und haben keine referenzielle (nominative) Funktion, d. h. mit Interjektionen verweisen wir nicht auf Gegenstände (im weitesten Sinne) in der Welt, sondern sie dienen ausschließlich der Expressivität des emotionalen Empfindens“ (Schwarz-Friesel, Sprache, 155). 12 Vgl. Mt 23,33 (πῶς φύγητε ἀπὸ τῆς κρίσεως τῆς γεέννης;).37 (Ἰερουσαλὴμ Ἰερουσαλήμ). 13 „It is the repeating of the same word at the beginning of successive clauses: thus adding weight and emphasis to statements and arguments“ (Bullinger, Figures, 199). „Οὐαὶ ὑμῖν, γραμματεῖς καὶ Φαρισαῖοι ὑποκριταί“ ist ein beindrückendes Beispiel; vgl. auch Frankemölle, Pharisäismus, 175.

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haft einordnen14 oder, dass die Logik im Aufbau der Argumente manchmal auf der Strecke bleibt.15 Auch die Bilder und Personifizierungen sind ein Mittel, das in einer weniger abstrakten Sprache die Rezipienten direkter anspricht.16 Die affektiven Komponenten werden so durch Sprache vermittelt und visualisiert. Es entsteht dadurch eine zunehmende axiologische Polarisierung, die mittels Personal- (ich-wir gegen ihr) oder Possessivpronomen (unser gegen euer) festgesetzt und durch Schwarz-Weiß-Malerei einprägend entfaltet wird. Im Abschnitt 2.2. habe ich das äußerst negative Bild der Pharisäer und Schriftgelehrten im MtEv verdeutlicht. Trotz des Gebots der Feindesliebe (5,44), das auch die Verfolger einschließt, zeigt der matthäische Jesus  – und damit auch der matthäische Christ – wenig Empathie für seine Gegner. Matthäus lässt zwar Mk 5,3 (καὶ περιβλεψάμενος αὐτοὺς μετ’ ὀργῆς) in 12,12 weg, um zu zeigen, dass Jesus nicht zürnt und im Sinne von 5,22 das Gesetz nicht bricht, die Fülle von Schimpfwörtern, die ansonsten im Evangelium anzutreffen sind, spricht aber eine andere Sprache. Die Austragung eines Konfliktes führt nicht selten zu einer gespaltenen Selbstwahrnehmung und macht Selbstwidersprüche fast unvermeidbar. Theologisch betrachtet ist dieser Vorgang aus matthäischer Perspektive nicht mit Schuld beladen, denn solche verbalaggressiven Äußerungen sind in der Regel Gott oder Jesus als Richter zugeschrieben (vgl. ὀργίζω in 22,7; 18,34; mehr dazu im Abschnitt 4.1.2). Das Gericht Gottes hat also bei Matthäus auch eine aggressionslegitimierende Funktion. Der matthäische polemische Jesus bringt zwischen den Zeilen das reale Anliegen einer ganzen Gemeinde zum Ausdruck. Das Evangelium will weder auf die Vergangenheit zurückblicken und sie verarbeiten, noch ausschließlich Gemeindeumstände ansprechen; es will auch etwas in seinem Umfeld bewirken. Mit seinem jüdischen Hintergrund will Matthäus nicht tatenlos zusehen, wie Israel unter Fehleinflüssen im Begriff ist, die Chance zu verpassen, Jesus als den erwarteten Messias anzuerkennen. Noch mehr sieht Matthäus seine minoritäre Gemeinde als das kleine Stück Sauerteig (13,33: ζύμη), das trotz der Bedrängnis und seines sozial niedrigen Status das ganze israelitische Volk „durchsäuert“ (vgl. z. B. 21,43). Der göttliche Auftrag, den die Gruppe sich zuschreibt, der

14 Die Pharisäer und Schriftgelehrten für die Tempelzerstörung verantwortlich zu machen ist eindeutig eine „illusorische Korrelation“, d. h. ein kognitiver Vorgang, durch den zwei Ereignisse in Verbindung gebracht werden, auch wenn sie überhaupt nicht zusammengehören. Das kommt z. B. zum Ausdruck, wenn Mitglieder bestimmter Gruppen ständig mit negativen Attributen verbunden sind (vgl, Myers, Social Psychology, 86–87). 15 Vgl. den Trugschluss in 23,30 f, dazu S. 264. 16 Windisch, K. O., 99. Die ausgeprägte Bildhaftigkeit von Mt 23, wenn Szenen anein­ander gereiht sind, die das Verhalten der Pharisäer und Schriftgelehrten stark verbildlichen (dazu Schmithals, Geschichte, 477: „Wahl extremer Bilder“), würde vielleicht mehr Aufmerksamkeit verdienen; hier wird nur darauf hingewiesen.

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am besten in ihrer missionarischen Christologie zum Ausdruck kommt, ist mit der Vorherrschaft der pharisäischen konkurrierenden Lehre17 unvereinbar. Es ist der Hauptgrund, warum die Gemeinde vermutlich die Situation als höchst illegitim empfunden haben soll. Gewappnet mit der Überzeugung, eine moralische Überlegenheit zu besitzen, und mit der subjektiven (geschichtlich ungültigen) Erkenntnis, dass Gott in der Tempelzerstörung ein Zeichen für das bevorstehende Gericht der Feinde gesetzt hat, geht Matthäus in eine vielleicht ‚blinde‘ Offensive und schreckt in seinem ‚Kampf um Anerkennung‘18 trotz einer durch Nächstenliebe geprägten Gruppenkultur auch vor verbalaggressiven Mitteln nicht zurück. Das matthäische Feindbild basiert auf ihm überlieferten Erzählstücken und Streitgesprächen, die schon auf frühere Auseinandersetzungen hindeuten. Der Redaktor baut das Material im Lichte seiner Erfahrungen stark aus.19 Die Geschichte der Beziehungen mit den Pharisäern konnte vielleicht keine großen Erwartungen wecken: Auch Jesus haben sie ständig zu schaffen gegeben; wie die Propheten und Jesus selbst, so steht auch den Christen ein Schicksal voller Verfolgungen und Unsicherheit bevor (vgl. 4.2.3.2). Das prägt Matthäus seinen Gefährten öfters ein. Diese betonte Kontinuität im Leiden und Tod dürfte auf Gemeindeebene auch eine Bewältigungsfunktion erfüllt haben. Die Christen hatten Angst; durch einen unerschütterten Glauben an den Sohn Gottes sollten sie aber ihre Zuversicht und Hoffnung wiedergewinnen. Vielleicht waren aber nicht die konkreten Gegner, die sie ja so ungehindert karikieren konnten, ihre Angsthauptquelle, sondern ihre zukünftige heilsgeschichtliche Stellung im Verhältnis zu ­Israel, die sich aus dem pharisäischen Erfolg unter der jüdischen Bevölkerung ergab. In diesem Sinne ist es nicht zufällig, dass Matthäus die Völkermission über die hohe christologische Kategorie begründet (als wichtige Anhaltspunkte 17 Ζύμη als Metapher für διδαχή ist eine mt Bildung (vgl. 16,12). Angesichts der heftigen gesetzlichen Streitgespräche im Evangelium ist es auch von einer realen Konkurrenz in Tora-Angelegenheiten auszugehen, die sich mit der christologischen Argumentationsweise auch teilweise überlappt. Rein christologisch dürfte die Debatte nicht gewesen sein, wie Buck, Anti-Judaic, 172, meint; die gemeinsam geteilte aber unterschiedlich interpretierte Schrift liefert ebenfalls Konfliktstoff. Vgl. auch: Meeks, Breaking Away, 112: „This sounds indeed like a sectarian dispute between two schools, both of which construe the faithful life in similar terms, but which disagree about the locus of authority and the form of internal community life“;­ Dobbeler, Restitution, 43: „Die mt Christen [sahen] sich durch Konflikte vor allem mit pharisäischen Gruppen infrage gestellt […], und zwar vornehmlich wohl im Blick auf die Lehre Jesu“; Segal, Matthew, 31, 35. 18 Haenchen, Matthäus 23, 59 („um ihre Existenz kämpfende Gemeinde“). 19 Beare, Jesus, 33: „The controversies between Jesus and his opponents are no doubt b ­ ased upon a valid historical tradition, but they owe their place in Matthew’s gospel not to abstract fidelity to an objective tradition, but to the fact that they prefigure the kind of controversy in which the churches of St. Matthew were actively engaged“. Vgl. auch 3.2. zur mt polemischen Toraauslegung.

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vgl. 27,54; 28,18–20), die sonst auch in den ekklesiologischen Texten die parakle­ tische Funktion einnimmt.20 Waren eine schleppende Israel- und die Perspektive einer zunehmenden Völkermission mit den dazugehörenden Bedenken Gründe für eine heilsgeschichtliche Verunsicherung einer so jüdisch geprägten Gemeinde oder ist eine frische Trennung von der Synagoge und die dezidierte und vorurteilsfreie Zuwendung zur Völkerwelt der Auslöser einer theologischen Großaufgabe, die sich im Matthäusevangelium niederschlägt? Mir scheint, dass das Matthäusevangelium eher angesichts der bald kommenden theologischen / existenziellen Herausforderungen als Ausrüstung und Begründung für den zu erwartenden Verlauf entstanden ist und nicht um rückblickend vergangene Ereignisse zu bearbeiten. Es stimmt, diese zwei Möglichkeiten können teils überlappende Bewältigungsmuster generieren. Die Nuancen sind deswegen ganz wichtig. Der immer wieder entflammte Ärger, spricht eher für eine (noch) bestehende Kontaktsituation. Der Einfluss der Pharisäer ist nicht so bedrohlich, dass sie fliehen müssen (flight); die Christen entscheiden sich für einen offenen verbalen und ideologischen Kampf (fight). Mit einem Davidssohn, der eine zu wichtige christo­ logische Bezeichnung darstellt, um nur auf die Vergangenheit gerichtet zu sein, und mit einer Volksmenge als literarischem Schlüssel für Israel, die auch nach dem Todesurteil gegen Jesus sich keineswegs den Autoritäten unterwirft,21 kann man annehmen, in der realen Welt der matthäischen Christen bleibt ein Schimmer Hoffnung auf Erfolg erhalten.22 Erst dieses Selbstbild mit Israel als Bezugspunkt der Heilsgeschichte23 motiviert die spürbare Heftigkeit der Auseinandersetzungen, die dem Leser in diesem Evangelium entgegentritt. Matthäus fühlt

20 Gravierend ist vor allem der Zweifel am Sohn Gottes: vgl. διστάζω in 14,31 und 28,17 in unmittelbarer Verbindung mit der Gottessohn-Bezeichnung in 14,33 und 28,19; ferner ist auch die ὀλιγόπιστος als selbstkritische Bezeichnung in Bezug auf die übernatürliche Macht Jesu (8,26; 14,31; 16,8) zu erwähnen; dazu mehr in 4.3.3. 21 Vgl. 3.1.3. 22 Darin sollte man die eigentliche Pragmatik des Evangeliums sehen: Matthäus „hegt […] noch eine gewisse Hoffnung, die nichtchristusgläubigen Juden dem Einfluss ihrer Führer zumindest teilweise entziehen zu können“ (Gielen, Konflikt, 473; vgl. auch Repschinski, Stories, 344 f; Davies / Allison, Mt III, 707). 23 Gielen, Konflikt, 469: „Identität und Selbstverständnis des Verfassers der mt Jesusgeschichte wie seiner Gemeinde sind also jüdisch“; Luz, Mt III, 394; Konradt, Israel, 389; Hahn, Mission, 109: „Für den Evangelisten und seine Gemeinde bleibt es […] bei einer inneren und äußeren Bindung an Israel“; Sim, Gospel, 116 („completely Jewish perspective“); Fiedler, Israel, 73; Nolland, Mt, 39; Hill, Use, 113; Hummel, Auseinandersetzung, 26; France, Evangelist, 101 f; Combrink, Shame, 35: „Matthew retains a church focus on ethnic Judaism even within a church moving more and more into the Gentile world“; Gager, Origins, 141; Saldarini, Conflict, 42; Runesson, Rethinking, 102 f: „The type of religion represented in Matthew’s Gospel is located within the Jewish religious system“; Tagawa, People, 160; Harrington, Mt, 21 („within the framework of Judaism“); Segal, Matthew, 5 f.

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sich dazu berufen, Israel von dem irreführenden Einfluss der pharisäischen Gruppierung zu ‚befreien‘.24 Die direkte Folge ist die gerichtstheolgische Rechtfertigung der verbalen Gewalt, umso mehr, weil die Gegner als inkompetente, unwürdige und verbrecherische Hirten dargestellt werden, die die Gottesherde zugrunde richten. Die Beeinträchtigung, die sie von ihrer Seite erleiden, wird als Widerstand gegen den Willen Gottes selbst wahrgenommen. Dass die Christen auch soziale Demütigung einstecken müssen, macht ihren Schrei und ihren Wunsch nach göttlicher Rache nur noch größer. Der Text des Evangeliums spiegelt bestimmte soziale und psychologische Gegebenheiten der damaligen konkreten Situation wieder. Früher erwähnte Er­ klärungsansätze aus der Aggressionsforschung25 verdeutlichen mögliche soziale oder psychologische Hintergründe eines aggressiven Verhaltens. Die klassische ‚Frustration-Aggression-Theorie‘ ist schon in diesem Zusammenhang eingesetzt worden.26 Eine passende mögliche Anwendung sehe ich aber nicht in den Berichten über Verfolgungen  – dafür waren die matthäischen Christen durch ihre Christologie bestens ideologisch ausgerüstet  –, sondern im zunehmenden und unerklärlichen Misserfolg der Christen bei der jüdischen Bevölkerung wegen des wachsenden pharisäischen Einflusses.27 An einem Vers wie 23,2 und in Anbetracht der Führungsrolle, die der matthäische Jesus für seine Jünger in Anspruch nimmt,28 kann neben sehr viel Ironie auch ein gewisser Frust ausgemacht werden.29 Israel hat nicht, wie erwartet, die Botschaft der christlichen Missionare mehrheitlich angenommen und die Gemeinde sieht sich in der ungünstigen Lage wegen der pharisäischen Dominanz, die eigenen Erwartungen herunterzuschrauben. Matthäus kann sich mit der Situation nicht zurechtfinden. Das Leiden der Gemeindemitglieder wird traditionell als prophetisches Schicksal gedeutet, wodurch die Verfolger zu Prophetenmördern gemacht werden (vgl. 4.2.3.3). Das realitätsfremde Feindbild mit der angehängten pauschalisierenden Schuld für alles Verbrechen vom Anbeginn der Welt, bringt die Gemeinde dazu, sich als reagierendes unschuldiges30 Opfer zu betrachten. Die Partei stellt fest, dass ihre Haltung nur eine angemessene Antwort auf eine Pro-

24 Matthäus will „einen Keil zwischen sie und ihre Führer […] treiben“ (Gielen, Konflikt, 416). 25 Vgl. auch den einführenden Teil 1.2.4. 26 Bei Luz, Der Antijudaismus, 319, Anm. 26; zustimmend Ettl, Konflikt, 19. 27 Hartin, Woes, 277: „The Pharisaic Judaism […] is becoming more successful in handing on the tradition of Israel“. 28 Vgl. 9,37 f; 21,43, wo mit ἔθνος die christliche Gruppe gemeint ist (vgl. dazu S. 212–213). 29 Zu 23,2 vgl. 4.3.2.3.2; siehe auch die Ausführungen zu Mt 13,10–17 in 4.3.1.1. 30 Vgl. vor allem: 23,35 und die vornehme Stellung von δίκαιος  – Jesus- und Gemeindebezogen  – im matthäischen Bericht (10,413[red.]; 23,352[red.]; 27,19[red.]); auch ἀθῷος (27,4[trad.].24[trad.]); ἀναίτιος (12,5[red.].7[red.]). Aus sozialpsychologischer Sicht vgl. den Ansatz von Mummendey, Amélie u. a.: „Aggressiv sind immer die anderen“; dazu 1.2.4.

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vokation darstellt. Noch mehr bedeutet für Matthäus der verbale Strom an persönlichen Angriffen, wie gesehen, nichts anderes als ein Stück ira dei, die schon jetzt die Verbrecher einholt.

6.2 Unlösbare Konflikte Die Verhältnisse, die sich im Evangelium widerspiegeln, haben anscheinend den Eskalationspunkt erreicht, von dem an kein Miteinander mehr möglich war. Eine Versöhnung zwischen zwei Gruppen, die sich trotz ihrer bestehenden Gemeinsamkeiten so unterschiedlich betrachten, ist nicht mehr denkbar. Die Konflikt­ situation ist unlösbar.31 Die Parteien gehören aber immer noch zu demselben sozialen Gefüge und beziehen sich weiterhin auf dieselbe heilige Schrift. Das macht der christlichen Gemeinde das Leben schwer und verleiht der Auseinandersetzung mit der Synagoge eine ausgeprägte Emotionalität.32 Verschiedene psychologische Veränderungen sind dafür verantwortlich, dass die anfangs harmlosen Ereignissen zu unüberbrückbaren Spaltungen zwischen den Gruppen führen. Hieran knüpfe ich an der knappen Beschreibung der Basismechanismen der Eskalation in der sozialwissenschaftlichen Konfliktdiagnose an.33 Das breite Band an Konfliktgegenständen lässt keine eindeutigen Schlüsse auf einen ursprünglichen zentralen Streitpunkt mehr zu. Eine echte „Issue-Lawine“ kommt einem entgegen. Eindeutige Uneinigkeiten in Punkto Gesetzhermeneutik sind mit christologischen Vorstellungen eng verstrickt: Einerseits tritt Jesus stark als Gesetzeslehrer hervor, andererseits findet das Gesetzesverständnis im Leben Jesu als leidenden Messias seinen Auslegungshorizont. Auf die eingeschränkte Aufnahmefähigkeit und die Reduzierung und Stereotypisierung des Gegnerbildes bin ich oft eingegangen. Die häufigen persönlichen Attacken (character 31 Zu Konflikten im Allgemeinen vgl. 1.3.1. und 1.3.2. Zu den Charakteristika der sogenannten „unlösbaren Konflikte“ (intractable conflicts), vgl. Zartman, Intractability, 48 ff; Kriesberg, Nature, 66 ff; Putnam / Wondolleck, Intractability, 38 ff; Coleman, Intractable, 534–437; Northrup, Dynamic, 62–63; Bar-Tal, Societal Beliefs, 3; Pruitt / Kim, ­Conflict, 102–105; Rouhana / Bar-Tal, Intractable, 761 f. Solche Konflikte sind: langfristig, intensiv, emotional, mit komplexen und ineinander verwobenen Konfliktpunkten („rigid issues“), oft identitätsbezogen (vgl. Northrup, Dynamic, 63: „Identity […] is considered to play a ­major role in the conduct of a conflictual relationship“; Cook-Huffman, Role, 21: „Identity threats often leads to increased inflexibility, rigidity, and defensive responses, which in turn escalate or exacerbate conflict“). 32 Auf konflikttheoretischer Seite: Putnam / Wondolleck, Intractability, 40; Coleman, Intractable, 539: „Typicaly, these processes have a boiling emotional core“; Brewer, Relations, 32 („critical ingredient that turns intergroup comparison into intergroup antagonism“). 33 Vgl. 1.3.2. Hier übernehme ich sie nur stichwortartig: „zunehmende Projektion bei wachsender Selbstfrustration“; „von leichten zu schweren Taktiken“; „Issue-Lawine und Komplexitätsreduktion“; „Ausweitung des sozialen Rahmens bei gleichzeitiger Tendenz zum Personifizieren“.

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assassination)34 über die konkrete Debatte hinaus, erlaubt es den matthäischen polemischen Stil als „schwere Taktik“ zu bezeichnen, mit dem Zweck, möglichst viele Israeliten aus dem Umfeld auf die Konfliktthematik aufmerksam zu machen. Deswegen ist es kein Zufall, dass die Konflikttheorien am meisten in den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen von Matthäus angewendet worden sind. Kein anderer Begriff erfasst den soziologischen Zustand der Gruppierung besser als der Konflikt.35 Die Gemeinde ist in der Konfrontation so sehr involviert,36 dass von nun an ein Schritt zurück unwahrscheinlich scheint. Im Lichte der vorherigen Ausführungen kann man das Ereignis noch genauer als eskalierten, unlösbaren Konflikt beschreiben, denn die gerade aufgelisteten Merkmale treffen auch auf Matthäus durchaus zu. Die früheren Analysen haben gezeigt, dass der Text des Evangeliums von solchen Entwicklungen stark geprägt ist. Die sozialen Prozesse lassen sich natürlich nur annäherungsweise an den narrativen und theologischen Zusammen­hängen ablesen. Der Textbefund wurde manchmal so interpretiert, als würde er auf vergangene Ereignisse hindeuten, die nun rückblickend bearbeitet und bewältigt werden müssen. Der spürbare Ärger wäre aus dieser Perspektive eher ein Epiphänomen einer Nachentscheidungsphase, die verbale Aggression eine „nach außen gewendete Trauer“37 und nicht die direkte Folge einer aktuellen Konfrontation. Mich führen die bisherigen Analysen eher in eine andere Richtung, die sich entsprechend auch in der geschichtlichen Bestimmung der matthäischen Gemeinde niederschlägt.

34 Vgl. dazu S. 345–350. 35 Die Liste derer, die so urteilen ist lang; hier nur einige Beispiele: Hummel, Auseinandersetzung, 55; Repschinski, Stories, 344; Vledder, Conflict, 118, 158–164 („a struggle for ­authority“); Konradt, Israel, 389: „Die Situation, in die die matthäische Jesusgeschichte eingebettet ist, [ist] wesentlich durch den Konflikt zwischen den Christusgläubigen und der pharisäisch dominierten Synagoge geprägt“; Sim, Gospel, 162; Carter, People, 139 f; Duling, Gospel, 303; Viljoen, Matthew, 674 („heightened conflict with the Pharisees“); Saldarini, Conflict in the Galilee, 23 („sharp conflicts with the leaders of the Jewish community“); Overman, Matthew, 146 („real conflict“); White, Crisis, 238; Slee, Church, 134 („bitter conflict“); Richardson, Israel, 194 („dispute with a pharisaic Synagogue“); Carter, Gospel, 175 („communal competition over claims about central roles in God’s salvific activity“); Segal, Matthew, 23 („exacerbated social conflict“); Stanton, Gospel, 138 („ferocious conflict“); Kee, Transformation, 22; Hartin, Woes, 277; Landmesser, Jüngerberufung, 136. 36 Konflikttheoretisch spricht man von Einklemmung (entrapment) in den Konflikt; eine langfristige und kostspielige Konfrontation zwingt (subjektiv) die Gruppe zu weiteren Investitionen, um die vergangenen Verluste zu rechtfertigen. Das Phänomen ist von Brockner /  Rubin, Entrapment, 193–222, ausführlich behandelt. Auch für Matthäus gibt es kein Zurück mehr aus der eskalierten Konfliktphase. 37 Luz, Antijudaismus, 319, 323.

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6.3 Der Standort der matthäischen Gemeinde nach der heutigen Forschung aus sozialwissenschaftlicher Sicht Abgesehen von vereinzelten Meinungen38 sind sich die meisten Exegeten darin einig, dass die matthäische Konfliktgeschichte zwischen den Zeilen Ereignisse aus der Epoche nach der Tempelzerstörung widerspiegelt, als das vom Krieg erschütterte Judentum besonders durch die Impulse der pharisäischen theologi­ schen Richtung sich um die altbewährte Institution der Synagoge neu zu formieren begann.39 Innerhalb dieses Paradigmas und angesichts der dürftigen geschichtlichen Quellenlage, bleibt aber hinreichend Spielraum, um die konkrete Verortung sehr unterschiedlich und manchmal mit theologisch entgegen gesetzten Folgen, zu rekonstruieren. Das Verhältnis zur Synagoge steht hier meistens im Mittelpunkt, zu diesem Aspekt werde ich mich auch im Folgenden kurz äußern. Dies ist auch der Punkt, an dem sozialpsychologische Ansätze als Erklärungsversuche besondere Beachtung finden, wobei sie wirklich nur als eine Orientierungshilfe und nicht als Basis für gewagte exegetische Schlussfolgerungen dienen können. Die Gefahr, ausgehend von gegebenen Theorien Schlüsse auf exegetische Zusammenhänge zu ziehen, ist groß und wurde nicht immer erfolgreich abgewendet. Einleuchtend und frei von jeden verzerrenden Auswirkungen auf die Textkonstellation ist die Annahme, dass es sich hier um einen Geschwisterkonflikt handelt.40 Die erhöhte Emotionalität im Text wie auch der vermutete sektiererische Charakter des ‚Judentums‘ nach dem ersten Krieg gegen die Römer, sind relativ sichere Anknüpfungspunkte, um die polemisch dichte Atmosphäre aus dem Evangelium im Umkehrschluss so zu deuten, ohne gezwungen zu sein, exegetische oder historische Vorentscheidungen zu treffen. In einem Konflikt zwischen Verbündeten sind die Parteien aufgrund ihrer Vertrautheit viel ex­

38 France, Mt, 18, schlägt ein Entstehungsdatum vor der Tempelzerstörung vor; so auch Gundry, Mt, 601–609. 39 Vor allem sind hier Overman, Matthew, und Saldarini, Matthew, zu erwähnen. Allmählich hat sich diese Meinung zum Trend entwickelt und wird heute mit unterschiedlichen Ausprägungen von zahlreichen Exegeten vertreten. Vgl. z. B. Sim, Gospel; Davies / Allison, Mt III, 701; Konradt, Israel, 378 („im Zuge der Neuformierungsprozesse des Judentums nach 70 n.Chr“); Saldarini, Conflict, 39: „The story of Jesus in Matthew reflects the experience of Matthew’s community and its social situation“; Runesson, Rethinking, 98; Hill, Use, 119; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 153; Hagner, Sitz im Leben, 45, 63; Harrington, Mt, 10–16; Kee, Transformation, 15; Gielen, Konflikt, 416; Repschinski, Stories, 246 f; Franke­ mölle, Antijudaismus, 84 f; Dobbeler, Restitution, 42 f; Landmesser, Jüngerberufung, 136. 40 Luz, Antijudaismus, 320–322; Ettl, Konflikt, 18–19; Stanton, Gospel, 98–100; 138 f; Dunn, Question, 210 („sibling rivalry“).

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ponierter und anfälliger, deswegen wird „oft der Zwist so leidenschaftlich expansiv“41 ausgetragen. Dieselbe Studie von Ulrich Luz (Antijudaismus) führt auch weitere sozial­ psychologischen Erklärungsansätze ein, die m. E. vor allem das Verdienst haben, auf ein fruchtbares interdisziplinäres Forschungsfeld aufmerksam zu machen. Die Sozialpsychologie empfiehlt sich aufgrund ihres Forschungsgegenstandes m. E. sogar besser als die Soziologie für eine textorientierte Untersuchung vergangener Gruppierung, zu denen man keinen empirischen Zugang mehr hat. Diese Grundidee war auch der Ausgangspunkt meiner Fragestellung. Was die Reichweite dieser Anwendung, die methodische Kontrolle und den exegetischen Nutzen dieses Unternehmens betrifft, können aber die Meinungen weit auseinander gehen. Unter anderen enthält die erwähnte Studie auch zwei Abschnitte, die die matthäischen Textverhältnisse als eine „Verarbeitung eines Traumas“42 und einen „Nachentscheidungskonflikt“43 erklären.44 Zuerst einige theoretische Hintergründe. Eine Entscheidung kann man im Sinne einer Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten als Konflikt betrachten, der sich intern abspielt und aus dem Abwägen der Vor- und Nachteile jeder Variante besteht. Die Entscheidung selbst ist das Ende dieser Phase. Wie lange dieser Prozess dauert, hängt von Faktoren ab, die auch empirisch untersucht wurden. Zum Beispiel braucht die Entscheidung mehr Zeit, wenn der Wähler selbst von ihren Folgen betroffen ist oder sie hängt davon ab, ob es um endgültige oder reversible Entscheidungen geht.45 Mit der Entscheidung ist der Konflikt aber keineswegs beendet.46 Alternativen werden auch weiter analysiert und dadurch entsteht Dissonanz  – eine Art Unzufriedenheit mit dem Ergebnis, deren Intensität mit der Länge und Ausführlichkeit der vorherigen Entscheidungsprozesse variiert.47 Bald danach tritt das Phänomen der Dissonanzreduktion auf, indem Eigenschaften der abgewählten Alternative noch negativer gesehen werden und die eigene Variante überbewertet wird.48 41 Simmel, Streit, 273. Coser, Theorie, 83, übernimmt und entwickelt dieses Thema weiter: „Ein Konflikt ist leidenschaftlicher und radikaler, wenn es aus engen Beziehungen entsteht“. 42 Luz, Antijudaismus, 319 f. 43 Luz, Antijudaismus, 323; auch Luz, Mt III, 400. 44 Die Frage, wie die Auffassung, hier ginge es um einen heftigen „Familienkonflikt“, welche Tatsache im Grunde genommen einen bestehenden Konflikt voraussetzt, mit der Deutung des Textbefundes als kognitive Dissonanzreduktion in einer Nachentscheidungsphase, zu vereinbaren ist, bleibt hier dahingestellt. Ich möchte nur die Bestandteile dieses methodischen Vorgehens genauer betrachten und auf die Grenzen einer beflügelten aber zu wenig kritischen interdisziplinären Analyse hinweisen. 45 Herkner, Sozialpsychologie, 87 f. 46 Herkner, Sozialpsychologie, 88; Festinger, Conflict, 6 („residual conflict“). 47 Allen, Uncertainty, 42; Festinger, Conflict, 156. 48 Festinger, Conflict, 5 f („increasing the attractiveness of the chosen alternative and decreasing the attractiveness of the rejected alternative“); Davidson / Kiesler, Behavior, 8 f.

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Hier, an diesen Prozess der kognitiven Neubewertung der Varianten knüpft Ulrich Luz an und deutet die matthäische Polemik nach diesem Muster: „Die abgelehnte Alternative, nämlich das pharisäisch dominierte Mehrheitsjudentum, wird nachträglich als schlechte Alternative dargestellt“.49 Die Pharisäer kommen nach der Feder des Redaktors in der Tat sehr schlecht weg; in groben Zügen stimmen diese Überlegungen mit dem Textbefund überein. Der Nachentscheidungsprozess verläuft aber nicht so linear, auch eine reine Bedauernsphase kann auftreten.50 Es gelingt sogar experimentell, diese zwei Tendenzen einigermaßen zeitlich einzuordnen: Kurz nach der Entscheidung kommen eher Bedauernsgefühle auf und erst danach beginnt die übliche Dissonanzreduktion.51 Diese experimentelle Tatsache ist auch Bestandteil dieser Theorie kann aber in der angestrebten Anwendung nicht ohne weiteres untergebracht werden. Man sollte für die matthäische Gemeinde einen bestimmten Zeitplan postulieren, bis die Bedauern-Phase abgelaufen ist, um dann im Zuge der Dissonanzreduktion die negativen Äußerungen zu den Pharisäern als eine kognitive Abwertung zu erklären. Aber wie früh oder wie spät sollte man die Wende anlegen? Entweder lässt man Teile der Theorie einfach weg, und das nicht weil sie den exegetischen Vorgang nicht direkt oder nur am Rande unterstützen, sondern weil sie der Argumentationsrichtung einfach entgegenstehen, oder man ist gezwungen, Hilfshypothesen in Bezug auf die matthäische Realgeschichte aufzubauen, die die exegetische Lage eigentlich anstatt zu verdeutlichen noch mehr verkomplizieren. Schließlich tun sich außer den eindeutigen methodischen Schwierigkeiten auch neue exegetische Probleme auf. Der ursprünglich anlockende Ausgangspunkt  – die Polemik als Nachentscheidungsstrategie zu deuten  – erweist sich bei näherer Betrachtung als problematisch und wenig ergiebig, denn es gibt einen bemerkenswerten Gradunterschied zwischen den feinen kognitiven Ab- und Umwertungen in der Nachentscheidungsphase und der emotionalen Härte der­ matthäischen Verleumdungssprache.52 49 Luz, Antijudaismus, 323. 50 Festinger, Conflict, 7; Festinger / Walster, Post-Decision, 110. 51 Walster, Temporal, 127: „Shortly after having made a decision, the subject […] will experience a period in which the chosen alternative seems less attractive (Hervorhebung von R. P.) and the rejected alternative more attractive than they are prior to the decision“. 52 Vermutlich war der Beweggrund für diesen Versuch, die exegetische Meinung, die Luz, Antijudaismus, 320, vertritt, zu untermauern, die matthäische Gemeinde stehe schon außerhalb des synagogalen Verbands. M. E. sollten aber interdisziplinäre Ansätze eher dazu dienen, den Text zu ‚disziplinieren‘, Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen und den Blick auf sonst vielleicht unbemerkbaren Textzusammenhängen zu richten und nicht für feste exegetische Vorentscheidungen im Nachhinein zu argumentieren. Vgl. dazu die weichenstellende Anmerkung von Barclay, Deviance, 114, in Bezug auf die interaktionistische Perspektive, die aber für jede sozialwissenschaftliche Untersuchung der biblischen Texte als methodische Orientierung dienen kann: „However, rightly employed this perspective can enable some interesting directions in which to look, thought not, of course, what we will find when we look there“.

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Dissonanzreduktion im Zusammenhang mit der polemischen Sprache sieht im Matthäusevangelium auch Raimo Hakola,53 der aber sowohl die DissonanzQuelle, als auch die geschichtliche Lage sehr unterschiedlich bestimmt. Erstens bestreitet Hakola die Existenz eines realen Konflikts mit den Pharisäern: Despite its popularity and heuristic usefulness, the theory of  a conflict between ­Matthew’s community and the emerging post-70 rabbinic movement lacks any substantial external evidence […]. According to recent studies, the early rabbinic movement may well have been a powerless group.54

Für ihre massive Präsenz im Text macht Hakola eine postulierte Inkonsequenz der matthäischen Gemeinde in ihrem Umgang mit dem Gesetz verantwortlich, und zwar folgendermaßen: Die anscheinend doppeldeutige Stellung zur Tora55 sei ein Signal für die Existenz einer Dissonanz,56 die nun zu reduzieren gilt. Die äußerst negativen Eigenschaften der Pharisäer als rein narrative Figuren und Zielscheibe der unermüdlichen Schelte seien ein kognitiver Trick, um das innere Schuldgefühl wegen einer teils aufgegebenen Tora als Aggression nach außen zu projizieren und somit die Dissonanz abzuleiten. Die Pharisäer erfüllen gut diese Funktion, weil sie im Evangelium als „the most virulent defenders of the Law“57 dargestellt werden. Um das polemische Bild der Schriftgelehrten und Pharisäer besser zu erklären, zieht Hakola auch die Theorie der sozialen Identität zu Rate und behauptet, die extremen Vorwürfe seien ausschließlich das Resultat der sozialen Kategorisierungsprozesse innerhalb der matthäischen Gruppe, wobei the polarization of attitudes between an ingroup and its pertinent outgroups does not by itself provide evidence for the ongoing real-life conflict between the groups in question58 (Hervorhebung von R. P.).

Die Theorie ist in der Tat manchmal so rezipiert worden, als ob die Kategorisierung und die Eigengruppenfavorisierung direkt, unmittelbar zu Diskriminierung und Vorurteilen zwischen den Gruppen führen würden. So wäre nur die bloße Entstehung einer Gruppe eine hinreichende Bedingung für das Auftreten von Aggression. Die Vertreter der SIT haben mehrmals59 darauf hingewiesen, 53 Hakola, Identity, 123–139. 54 Hakola, Identity, 128 f. 55 Es wird zum Beispiel auf die anscheinende Spannung zwischen dem Wunsch, die Tora gänzlich einzuhalten (5,20), und der gesetzesfreien Zuwendung zu den Völkern in 28,18–20 (ebd., 137 f)  oder allgemein auf „ambiguities in Matthew’s understanding of the Torah“ hin­ gewiesen (ebd. 138). 56 So Hakola, Identity, 138: „It is probably that the ambiguous role of the Tora was the main source for arousal of cognitive dissonance among the members of this community“. 57 Hakola, Identity, 139. 58 Hakola, Identity, 133. 59 Turner / Reynolds, Identity, 141: „SIT never equated ingroup bias with social hostility“; vgl. auch Turner, Issues, 18–20.

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dass eine solche Schlussfolgerung nur auf Basis einer schroffen Vereinfachung der Theorie erfolgt. Ich lasse hier in einem längeren Zitat John C. Turner selbst antworten: There is a notion in many reviews that social identity theory is simply the assertion of a universal, irrational drive for ethnocentrism, unconstrained by social realities or the social meaning of intergroup attitudes, that this drive serves some individual, almost quasi-biological need for self-esteem, and that some simple, single factor which triggers or relates to this drive should be positively correlated with intergroup discrimination, virtually independent of social context or the perceived nature of intergroup relations (Hervorhebung von R. P.). Any serious reading of the theory […] illustrates that this is a caricature.60

Bei Matthäus haben wir es mit viel mehr als mit diskriminierenden Tendenzen zu tun, nämlich mit einer offenen verbalen Aggression. Von Kategorisierung und Streben nach positiver Distinktheit bis zu diesem heißen Punkt ist es ein großer Sprung, den die SIT allein nicht leisten kann / will.61 Man muss zahlreiche begünstigende Faktoren62 und andere soziale Phänomene dazwischenschalten, die sich aus der realen Interaktion zwischen Gruppen ergeben, welchen Aspekt Hakola mit der Auffassung, die Pharisäer seien eine Art ‚literarische Sünden­ böcke‘, ausschließt. Die Beziehungen zwischen Gruppen können durchaus friedlich verlaufen, die Kategorisierung in Outgroup und Ingroup setzt der Feindschaft keinen Anfang, sondern eröffnet die Möglichkeit eines intergruppalen Verhaltens überhaupt. Der sozial-kognitive Ansatz beschreibt die soziale Interaktion als vergleichende Strategie, um eine positive soziale Identität zu gewinnen, wobei der vergleichende Kontext immer mitbestimmend ist. Von diesem Rahmen ausgehend kann man Hypothesen über die Entstehung von Konflikt und Aggression aufstellen, ein unmittelbarer Zug zwischen der Identitätsbildung und dem Outgroup 60 Turner, Issues, 19; auch weiter: „A mistaken assumption is made that the theory directly equates intergroup bias“ (20); siehe auch Oakes, Root, 15: „We cannot hold categorization, per se, responsible for intergroup discrimination“; Brewer, Identification: „Comparison (whether interpersonal or intergroup) is not inherently competitive (24); „Outgroup anta­ gonism is not a necessary extension of ingroup positivity and enhancement“ (28). 61 Tajfel / Turner, Theory, 88–92; Fisher, Social Psychology, 29. Siehe dazu auch 1.2.2. 62 Brewer, Identification, 28, spricht über „additional conditions“. Als begünstigende Faktoren, damit die Gruppendifferenzierung sich in Richtung einer Feindseligkeit entwickelt, führt Brewer, folgende Elemente ein: „when resources are also attached to intergroup differences in status and power“ (24); „threat to the maintenance of the ingroup and to one’s one social identity“ (27); wenn „the interests of the ingroup and those of the outgroup come to be perceived as in conflict“ (28); „when resources for survival or flourishing are scare and groups are locked into negative interdependence“ (28); „harted or contempt – emotions“ (27) und weiter: „It is this emotional component that is postulated here to be the critical ingredient that turns intergroup comparison into intergroup antagonism“ (32).

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Hass wird der Theorie nicht gerecht. Diskriminierung und Aggression sind das Resultat einer Vielzahl von geschichtlichen, sozialen, ökonomischen Faktoren und nicht eines bloßen psychologischen Kategorisierungsprozesses. Die SIT löst die Theorie der realistischen Konflikte nicht ab,63 sondern ermöglicht einen Blick in die psychologischen Prozesse, die sich innerhalb und außerhalb einer Gruppe abspielen,64 und kann Vermutungen anstellen, wann die Probabilität eines Konfliktes größer ist.65 Zusammenfassend66 sagt die Theorie in dieser Hinsicht folgendes vorher: Wenn eine negative soziale Identität als stabil und legitim wahrgenommen wird, tritt keine Neigung zum direkten kompetitiven Verhalten auf. Erst im Fall einer instabilen und als illegitim empfundenen sozialen Statushierarchie werden verschiedene Lösungen aufgegriffen. Eine unsichere soziale Identität steigert die Wahrscheinlichkeit einer offenen Konkurrenz sowohl von der Seite einer statushöheren Gruppe als auch und ganz besonders im Fall einer Gruppe mit niedrigerem Status. Besonders wenn jede Gruppe nach derselben positiven Distinktheit strebt,67 wird versucht einen sozialen Wandel zu erzwingen, um die positive Identität wieder herzustellen. In diesem Bezugsrahmen werden aber die verschiedenen entgegengesetzten Interessen nicht ausgeklammert, sondern die realistischen und symbolischen Komponenten unterstützen sich gegenseitig.68 Bei Matthäus macht sich m. E. beides bemerkbar: Der Versuch die eigene theologische Identität zu schärfen und das soziale Interesse, die jüdische Bevölkerung trotz der Hindernisse und Verfolgungen von der Seite der pharisäischen Partei 63 Turner, Issues, 18; siehe auch Turner / Reynolds, Identity, 141: „Social conflict cannot be equated with the outcome of just one psychological process but must be understood in terms of the interplay of many as they are shaped by the historical, social, economic, and political structure of society“. 64 Tajfel / Turner, Theory, 74. 65 Unter welchen konkreten sozialen Bedingungen sich dieses Potential in feindseligen Formen manifestiert, ist ein Thema, das auch nach Turner zu den wichtigsten Implikationen und zukünftigen Forschungsrichtungen der SIT gehört, vgl. dazu Turner / Reynolds, Identity, 146 ff; auch Condor / Brown, Processes, 10. Für einführende Gedanken über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Konflikt und sozialer Identität vgl. Jussim u. a., Introduction, 3–9. 66 Mehr dazu in 1.2.2. 67 Wie oftmals in der matthäischen Forschung angenommen, waren nicht nur die Unterschiede ein Grund für einen Zwist, sondern auch die bestehenden Ähnlichkeiten. Polemik entsteht, wenn derselbe Kompetenzbereich für sich selbst beansprucht wird. Vgl. auch White, Crisis, 241: „The tension of the matthean community with other Jewish groups […] was born of proximity rather than distance, of similarity rather than difference“; Pantle-Schieber, Anmerkungen, 161 („Streit um den alleinigen Besitz der ‚Schlüssel zum Heil‘“), 155 („traditionsgeschichtliche Nähe“); Vledder, Conflict, 148 („they overlap and appear to be similar“). Aus sozialpsychologischer Sicht: „Expressions of ingroup favoritism are most likely when the same valued dimension is claimed as charactereistic of both groups“ (Turner / Reynolds, Identity, 142). Vgl. auch 5.3. 68 Tajfel / Turner, Theory, 92: „When a group’s action for positive distinctiveness is frustrated, impeded, or in any way actively prevented by an out-group, this will promote overt conflict and hostility between the groups“.

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für sich zu gewinnen, gehen miteinander einher. Die minoritäre Gemeinde weist einen niedrigen objektiven sozialen Status auf, denn sie verliert zugunsten der pharisäischen Gegenpartei ständig an Einfluss.69 Sie ist aber mit einem eindrücklichen christologischen Gerüst ausgestattet, empfindet subjektiv die Lage als höchst illegitim und fühlt sich berufen Israel um jeden Preis gegen die ‚listigen‘ Pharisäer und Schriftgelehrten und trotz düsterer Perspektiven in ihren Bann zu ziehen. Alle sozialpsychologischen Ingredienzien sind also vorhanden, um den heftigen Konflikt zu erklären. Es ist zu spekulativ nur aufgrund der scheinbar widersprüchlichen Äußerungen zum Gesetz, auf eine innere Dissonanz als ‚schlechtes Gewissen‘ der Gemeinde zu schließen, und dadurch die allgegen­wärtige Polemik zu erklären. Wenn man den Begriff ‚Dissonanz‘ in diesem Zusammenhang unbedingt verwenden will, dann ist vielleicht der große Unterschied zwischen subjektiver, christologisch begründeter Erwartung und dürftiger Wirklichkeit eine ständige Quelle von Unzufriedenheit und ein starker Antrieb zur sozialen Handlung. Den matthäischen Christen stand zwar die jüdische und christliche Tradition der Minderheitensituation der „Gerechten“ bereit, aber die matthäische Gemeinde ist m. E. eine aktive Gruppierung, die entsprechend einen missionarischen Erfolg anstrebt und erwartet. Die Minderheitssituation und der pharisäische Erfolg konnten aus diesem Grund für Matthäus kein zufriedenstellendes Ergebnis darstellen. Deswegen sind solche traditionellen Deutungsmodelle im Fall von Matthäus irrelevant. Selbst der Konflikt mit den Pharisäern erklärt sich durch den Wunsch, die jüdische Menge für Christus zu gewinnen (vgl. dazu 3.1.1). Der hohe subjektive und der niedrige objektive Status der matthäischen Gruppierung fallen weit auseinander, sodass nur ein dezidierter sozialer Einsatz die Gemeinde weiter bringen konnte. Der zuletzt diskutierte Ansatz von Raimo Hakola zeigt, wie schwierig es ist und zu welchen künstlichen Konstrukten man in dem Versuch, das Evangelium ohne die Annahme eines realen Konfliktes mit einer konkreten pharisäischen Partei zu verstehen, gezwungen ist. Das Einbeziehen selektiver und nicht hinreichend reflektierter sozialpsychologischer Theorien macht die Sache zudem auch in methodischer Sicht noch komplizierter. Ich plädiere deswegen für eine bestehende konflikthafte Kontaktsituation70 zwischen ungleichen Parteien, die noch 69 Segal, Matthew, 32: „They were angry because […] the Pharisees were successful at galvanizing Jewish opinion to their perspective“. Es gibt Indizien, „dass das pharisäische Gegenüber auf Gemeindeglieder eine gewisse Attraktivität ausübte“ (Konradt, Israel, Anm. 7, 380, auch 383); auch Hill, Use, 113 („influencing attitudes in the congregation“). 70 Wie viele Exegeten der sogenannten intra muros Alternative, vgl. z. B. Sim, Gospel, 153 („its members would constantly have come into contact with their opponents“); Richardson, Israel, 193; White, Crisis, 222; Ascough, Matthew, 103 („close proximity“); Segal, Matthew, 7;35 f; Runesson, Rethinking, 124 f: „If the Mattheans did not belong within the pharisaic associations, these extreme tensions would be difficult to explain sociologically“; Konradt, Israel, 378, spricht ebenfalls über einen „aktuellen und für sie [die Gemeinde] bedrängenden Konflikt“ (Hervorhebung im Original); Gnilka, Mt II, 293 f; Fiedler, Israel, 72 f; Dunn, Question, 209;

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viele Gemeinsamkeiten teilen, aber in einem unlösbaren christologisch und gesetzlich geprägten Konflikt verwickelt sind. Die Feststellung dieses aktuellen Konfliktes als relativ sichere sozialgeschichtliche Einordnung ist aber meiner Meinung nach erst der Anfang einer Relektüre des Evangeliums und nicht der Schlussstein einer exegetischen Konstruktion. Mir ging es deswegen in dieser Untersuchung darum, die Auswirkungen dieses Konfliktes auf die literarische Gestalt und auf die theologische Struktur unter besonderer Berücksichtigung der redaktionellen Arbeit zu beobachten, die auf dem ersten Blick nicht unbedingt deutlich wirken. Die Feder des Redaktors ist oft durch gegenwärtige Umstände beeinflusst. Das positive Selbstbild als psychologische Ausrüstung für die Konfliktaustragung (4.3.1.1), das einprägsame Feindbild (2.2), die heiß umkämpften Konfliktgegenstände (Kap.  3), die drei Linien der Konfliktführung (Kap. 4) mit eindeutigem Gegenwartsbezug und zudem die heftige Polemik, sprechen eher für eine aktuelle eskalierte Konfliktphase und eine als ausweglos empfundene Situation, worauf das Evangelium eine Antwort zu geben versuchte.71 Man hätte für eine schon vollzogene Trennung grundsätzlich andere kognitive Bewältigungsmechanismen und ein anderes emotionales Muster im Text vorfinden müssen. Zudem sind die Konflikte prozessuale Ereignisse72 und können unter verschiedenen Umweltfaktoren zeitweilig zum Stillstand kommen und dann wieder neu und noch intensiver aufflammen.73 Solange die Kontaktsituation immer noch besteht und die Konfliktgegenstände die Parteien weiterhin umtreiben, ist es inadäquat von sozialen Spaltungen oder von auseinandergehenden Wegen zu sprechen. Man muss jedoch anmerken, dass die gegenseitige Anfeindung sehr weit fortgeschritten ist. Anstatt über eine vor kurzem vollzogene74 oder – noch unwahr-

Gielen, Konflikt, 470; Repschinski, Stories, 347; Hartin, Woes, 277: „The hostility comes from groups within the Jewish community“; Dobbeler, Restitution, 43; Hummel, Auseinandersetzung, 31–33; 159 („innere Selbstständigkeit, äußere Zugehörigkeit“). 71 Die Emotionen sind ein eindeutiger Beweis für ein intensives aktuelles Ereignis; vgl. auch Sim, Gospel, 121: „The sheer intensity of Matthew’s polemic can only be explained on the grounds that the evangelist is describing, whether accurately or not, contemporary opponents“; Overman, Matthew, 142, 147; Gielen, Konflikt, 470. 72 Auch für Matthäus ist der prozessuale Charakter des Konfliktes unbedingt zu berücksichtigen, vgl. z. B. Slee, Church, 134: „Matthew’s community was in the process of separating away from the wider Jewish body in Antioch“. 73 Northrup, Dynamic, 58: „Conflicts must be viewed not as static, individual events, but rather as processes which evolve over time“. 74 Luz, Mt I, 96: „Mt [blickt] bereits auf den vor kurzem geschehenen Bruch zwischen seiner Gemeinde und der örtlichen Synagogen zurück“; Stanton, Gospel, 124. Im Sinne einer räumlichen Nähe nach der Trennung urteilt Hagner, Apostate, 198: „It remained in proximity to the synagogue and inescapably in an ongoing situation of debate and controversy with it“; auch Przybylski, Setting, 197: „The Matthean church […] is not totally removed from the­ synagogue in a physical sense“; Garleff, Urchristliche, 83.

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scheinlicher  – über eine längst zurückliegende Trennung75 zu sprechen, fasst man m. E. mit einer imminenten, unabwendbaren Trennung76 die Lage viel besser ins Auge. Es ist aber gewagt, sich auf zeitliche Abläufe festzulegen. Was würde eigentlich ‚bald‘ oder ‚gerade‘ in so einem Fall bedeuten? Festzustellen ist aber, dass keine Einigungsmöglichkeit in Sicht und die Dialogbereitschaft den gegenseitigen Verleumdungen ausgewichen ist. Man geht nicht mehr vorsichtig miteinander um, die Einklemmung im Konflikt mit den entsprechenden kognitiven Veränderungen, die den Blick noch weiter verengen und die Wahrnehmung zerrt, kann lang- oder kurzfristig nur zu einem totalen Bruch führen. Matthäus weist aber eine jüdisch-christliche Identität mit einer festen, an Israel orientierten heilsgeschichtlichen Bindung auf, die er auch apologetisch untermauern will.77 Wie lange diese Selbstdarstellung die Gemeinde vor einem totalen (soziologischen) Bruch mit dem ‚formativen Judentum‘ bewahrt und ob dieser Bruch überhaupt in der Generation von Matthäus passieren konnte oder erst, wenn die ‚Früchte‘ des Evangeliums in Bezug auf die zunehmende Völkermission geerntet wurden, ist schwer einzuschätzen. Es ist durchaus möglich, dass das Evangelium nur die theologischen Weichen für einen Prozess stellt, der erst im Generationenwechsel zu sichtbaren Folgen in der religionssoziologischen Landschaft seiner syrischen Umgebung78 führen wird. Die ‚zweite Generation‘ tendiert dazu, die Unterschiede zu radikalisie-

75 Strecker, Weg, 30–35; Walker, Heilsgeschichte, 145: „Das Matthäus-Evangelium [betrachtet] ‚Israel‘ als zurückliegendes Phänomen der Heilsgeschichte“; Trilling, Israel, 200; Trilling, Amt, 104; Nepper-Christensen, Matthäusevangelium; Hare, Theme, 105, Anm. 3; Tilborg, Leaders, 171: „Judaism was no longer a serious competitor“; McIver, Mainstream, 209; Garland, Mt, 2; Senior, What Are They Saying, 16; Menninger, Israel, 37 f; Kingsbury, Story, 154; Meier, Law, 13, ohne aber die missionarischen Bemühungen Israel gegenüber aufzugeben. Meistens hängt diese Meinung auch mit der Annahme einer heidnischchristlichen Endredaktion zusammen, vgl. z. B. Strecker, Weg, 34 f; Walker, Heilsgeschichte, 120 f; Trilling, Israel, 192; Tilborg, Leaders, 172; Meier, Law, 20. 76 Richardson, Israel, 189: „The tendencies represented in Matthew will soon make the breach inevitable“; Vledder, Conflict, 146 („still inside […] at the same time on its way out“); Gnilka, Mt II, 293: „Zwar haben wir immer wieder viel Jüdisches in diesem Evangelium entdeckt, dennoch kündigt sich die Trennung an“. Auch Davies / Allison, Mt III, 696, nehmen einen „process of differentiation“ an. 77 Man kann z. B. die Davidssohn-Christologie (vgl. 2.1.1), die ausgesprochene Gesetzes­ treue (3.2) wie auch die apologetische Funktion der Erfüllungszitate erwähnen (vgl. M ­ cConnell, Law, 134; Hays, Gospel, 167 [„apologetic thrust“]; Overman, Matthew, 76; Davies / Allison, Mt I, 213 [„scriptural ammunition with which to enter into debate with the synagogue“]; Hagner, Sitz im Leben, 45) die das christologische Ereignis heilsgeschichtlich verankern. 78 Hiermit schließe ich mich der Mehrheitsmeinung zu dem Entstehungsort des Evange­ liums an – im syrischen Großraum, wahrscheinlich in einer griechisch-sprachigen städtischer Umgebung mit einer großen jüdischen Minderheit, möglicherweise im kosmopolitischen Antiochien. Hier nur einige Vertreter dieser These: Slee, Church, 118–122; Sim, Gospel, 10 f; Kingsbury, Story, 152; Luz, Mt I, 100–103; Konradt, Israel, 388; Gundry, Mt, 609.

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ren und den laufenden Prozess dadurch zu beschleunigen. Angewendet auf die matthäische Lage, denke ich, dass die sogenannte ‚extra muros-Lösung‘ zusätzlich mit dem Problem behaftet ist, die Trennung als punktuelles und nicht als prozessuales Ereignis aufzufassen. Das ist an sich auch das Hauptproblem der ausschließlich räumlichen Unterscheidung „intra / extra muros“. Die zeitliche­ Dimension des komplexen Phänomens bleibt unberücksichtigt. Mit Recht wird das Modell für seine Einseitigkeit kritisiert.79 Die Frage aber bleibt trotz der unglücklichen Umschreibung wichtig. Mit Ulrich Luz muss man sagen: „Mir geht es hier nicht um die Frage, wie die mt Gemeinde sich selbst verstand, sondern darum, wo sie sich soziologisch befand!“ (Hervorhebung im Original).80 Solange die Gemeinde immer noch Israel als den Bezugspunkt ihrer Identität nimmt und die Tora als Basis ihrer ethischen Überlegungen einbezieht, kann man m. E. keine endgültige Trennung postulieren, auch wenn die pharisäische Seite diesem Selbstverständnis ablehnend gegenüberstand. Die Selbstwahrnehmung ändert sich aber ständig und leitet auch eine entsprechende Transformation der sozialen Wirklichkeit ein. Selbstwahrnehmung und sozialer Standpunkt sind also keineswegs voneinander abzukoppeln. Die vollständig ausgeprägten Folgen dieses Prozesses sind aber m. E. die Frucht einer späteren Zeit. Sozial-politische Faktoren dürften diese Entwicklung beschleunigt haben,81 denn noch eine Generation später sieht man sich als Christ in Antiochien eindeutig außerhalb des jüdischen religiösen Systems. Ein Wort wie ἄτοπόν ἐστιν Ἰησοῦν Χριστὸν λαλεῖν καὶ ἰουδαΐζειν (IgnMagn 10,3), nur ein paar Jahrzehnte später ausgesprochen, wäre im matthäischen Kontext undenkbar, wobei der Konflikt um die Grenzlinie zwischen Judenchristen und Heidenchristen auch zur Zeit Ignatius weiterhin brodelt.82 Das Evangelium hat möglicherweise dabei eine paradoxe Rolle gespielt: Es ist als Mittel entstanden, um die Heidenmission zu befürworten, ohne aber die jüdische Orientierung der christlichen Gemeinde in irgendeiner Weise in Frage zu stellen, und wird dann, wenn es in die Hände der Heidenchristen gerät zum Instrument der Abgrenzung von jeder Form des

79 Vgl. Saldarini, Conflict, 55: „This dichotomy in false“; Backhaus, Himmelsherrschaft, 79; anschließed auch Konradt, Israel, 388–390. 80 Luz, Mt I, 97, Anm. 254. 81 Beachtung findet vor allem die Verschärfung der Regelung zum Eintreiben des fiscus Judaicus unter dem Kaiser Domitian (81–96), wie bei Suet.Dom. 12,2 belegt ist: „Besonders hart wurde die Judensteuer eingetrieben [Iudaicus fiscus acerbissime actus est]. Zu ihrer Zahlung wurden diejenigen herangezogen, die entweder wie Juden lebten, ohne sich dazu zu bekennen oder jene, welche die ihrem Volke auferlegten Zahlungen nicht geleistet hatten, da sie ihre Herkunft verheimlichten“ (Übersetzung nach Martinet, C. Suetonius Tranquillus, Die Kaiserviten, 911). Zetterholm, Formation, 186 f, schlussfolgert: „The fiscus Judaicus consequently sharpened the boundary between Jew and Gentile in Antioch“ (193). 82 Frankfurter, Beyond, 132; Boyarin, Dying, 11.

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Juden-Christentums,83 zu dem ja auch die Gemeinde von Matthäus gehört haben soll. Diese interessante Hypothese stellt Magnus Zetterholm auf und fast sie folgendermaßen zusammen: We reach the conclusion that the Gospel of Matthew was used both, and even simultaneously, in the conflict between the community of Matthew and the Pharisees and their successors after the fall of the temple and in the conflict between Ignatius’ community and the Matthean community84 (Hervorhebung im Original).

Die Trennung hat sich wahrscheinlich nicht auf der Ebene der ‚ursprünglichen‘ matthäischen Gemeinde vollzogen, sondern erst, als durch die zunehmende Zahl an Christen aus der Völkerwelt sich solche ‚Satellit-Gemeinden‘ wie die von­ Ignatius von Antiochien gebildet haben. Dass das Evangelium an mehrere Gemeinden adressiert sein könnte, hat Graham N. Stanton in Erwägung gezogen.85 Falls dies stimmt, was eine gewissermaßen schwache zentrale Kontrollmöglichkeit implizieren würde, ist eine teils ungleiche Entwicklung dieser kleineren Einheiten nicht ausgeschlossen. Manche solche Gemeinden haben vermutlich im Endeffekt als Schlusspunkt dieser Entwicklung das Band mit der mehrheitlichen und stärker werdenden Synagoge zerrissen. Ein neues religiöses System mit einem distinkten Deutungsmuster der Wirklichkeit und einem eigenständigen Heilsangebot entsteht weder automatisch infolge einer einseitigen Ausschlussmaßnahme,86 noch kann es nur das exklusive Resultat einer gespalteten wechselseitigen Wahrnehmung sein. Man weist mit Recht auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen Parteien, und zwar zwischen christlichen und jüdischen Gruppierungen allgemein oder zwischen den matthäischen Christen und der Synagoge.87 Allein diese Annahme ist aber als Erklärung der Ereignisse im und um das Matthäusevangelium unzureichend. In dieser Studie bin ich von einem der fundamentalen Aspekte der neueren Matthäus­forschung ausgegangen  – von dem Konflikt der postulierten matthä­ 83 Ignatius von Antiochien kennt Matthäus (vgl. Massaux, Influence, bes. 94–100; bestätigend Meier, Ignatius, 180) und verwendet das Evangelium gegen Judaisanten, die sich für Christen hielten (Gager, Origins, 127), wobei er möglicherweise mit dem Problem schon durch seine Erfahrungen aus Antiochien vertraut war (Murray, Playing, 83). 84 Zetterholm, Formation, 216; vgl. auch Sim, Gospel, 286: „It is reasonable to conclude that the Christian Jewish opponents of Ignatius in Antioch were members of the later Matthean community“. 85 Stanton, Revisiting, 12; übernommen auch von Konradt, Israel, 379. 86 Man hat oft Zweifel in Bezug auf eine Aufnahme eines Fluches gegen die Christen­ (birkath ha-minim) zur Zeit des Matthäus in das jüdische tägliche Achtzehngebet gemeldet. Die Erwähnung der Christen (notzrim) ist wahrscheinlich eine spätere Lesart (Stanton, Gospel, 142 f; Kimelman, Birkat Ha-Minim, 234; Katz, Issues, besonders ab 63) und beeinflusst in keiner Weise die Vorgänge im und um das Matthäusevangelium. 87 Goodman, Modeling, 119; Murphy, Jewishness, 402, bzw. Hagner, Apostate, 198 f; Yieh, Teacher, 279 f; Konradt, Israel, 387 f.

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ischen Gemeinde mit der Synagoge. Sozialpsychologisches und soziolinguistisches Gedankengut von gruppendynamischen Phänomenen bis hin zu sozialidentitären oder kognitiven Ansätzen habe ich herangezogen, um die Komplexität der sozialen Konflikte und dementsprechend die Komplexität der Vorgänge im Matthäusevangelium zu verdeutlichen. Es ist hoffentlich klar geworden, dass es keine einzige theoretische Richtung vermag, allein einen Konflikt angemessen zu beschreiben und zu erklären.88 Die moderne Konfliktforschung hat erkannt, dass man nur durch die Verbindung der Ergebnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen der Sozial- und Humanwissenschaften ein geeignetes Instrumentarium für die Untersuchung von Konflikten schaffen kann. So ein eskalierter Konflikt, wie das Matthäusevangelium zwischen den Zeilen bezeugt, legt ein riesiges kreatives Potenzial89 frei und fördert besonders die Gruppendynamik, wodurch sogar das Unvorstellbare möglich wird. Der matthäische Konflikt mit seiner Fülle an gruppendynamischen, kognitiven und emotionalen Epiphänomenen hat mit der Zeit eine unberechenbare Eigendynamik gewonnen.90 Der Text, der ursprünglich unter anderen auch das Ziel verfolgte, die den Christen feindlich gesonnene pharisäische Führungsschicht in einer offenen Auseinandersetzung zu delegitimieren und zu bekämpfen, um Israel für seinen Messias zu gewinnen, hat auf der Gruppenebene interne Debatten und Polarisierungen verursacht.91 Auf der Intergruppenebene aber hat er unüberbrückbare Gegensätze ausgelöst, die nach einer längeren ‚Inkubationszeit‘ und den fördernden sozialgeschichtlichen Faktoren ausgesetzt paradoxerweise genau zum möglich 88 Auch Barclay, Churches, 7, plädiert für einen „pragmatischen Eklektizismus“ in der sozialwissenschaftlichen Exegese: „Indeed, since no theoretical framework can ‚explain‘ all aspects of society, and since different facets of the evidence require diverse theoretical tools, a pragmatic eclecticism seems entirely justified“. 89 Die Meinung, Konflikte seien ausschließlich negative Ereignisse, hat sich gewandelt. Viele Konflikttheoretiker wissen auch die kreative Seite der Konflikte zu würdigen. Vgl. z. B. Deutsch, Konfliktregelung, 16: „Er verhindert Stagnation, regt Interesse und Neugierde an; er ist das Medium, durch das Probleme aufgezeigt und Lösungen gefunden werden können; er ist die Wurzel persönlicher und gesellschaftlicher Veränderungen“; De Dreu / Gelfand, Conflict, 27: „Conflict within work teams increases members’ innovative capacity, helping them to solve problems, and leads them to make better decisions“; Kenton / Penn, Change, 68: „Conflicts can usefully act as a catalyst for moving things on“; Schwarz, Konfliktmanagement, 26: „Weiterentwicklung von Gruppen und Organisationen, vor allem aber das Finden von Identität geht immer mit Konflikten einher“; zu den positiven Auswirkungen der Konflikte nach Coser vgl. zusammenfassend Thiel, Konflikte, 18–23; grundlegend schon Simmel, Streit, 247 („Vergesellschaftungsform“). 90 Niklas Luhmann spricht den Konflikten die Eigenschaft der „Autopoiesis“ zu, d. h. die Tendenz, seine Operationen endlos fortzuführen, die anderen Systeme zu parasitieren und ihre Energie neu zu kanalisieren. Durch Konflikt entsteht dann ein neues Gleichgewicht im Kontext der Gegnerschaft (vgl. dazu Bonacker, Konflikttheorien, 104–108; auch Kelman, Approach, 170: „self-perpetuating dynamic“). 91 Gielen, Konflikt, 414 („innergemeindliche Diskussionen“).

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extremsten Ergebnis führten92 – die Entstehung einer neuen Religion. Die Trennungslinie zwischen den christusgläubigen Gemeinden und der Synagoge als neuem Kristallisationspunkt des jüdischen Glaubenssystems ist eine Konfliktlinie, und ohne den kräftemobilisierenden und zugleich wirklichkeitsverzerrenden Konflikt hätte es vielleicht auch keine solche, übereilte Trennung gegeben.

92 Unter „Gruppenpolarisierung“ während eines Entscheidungsprozesses versteht man die Tendenz, dass die Einzelmeinungen nach Gruppengesprächen extremer werden als zuvor. Die Debatten innerhalb einer Gruppe bewirken eine Radikalisierung der anfänglich moderaten Meinungen, sodass man am Ende geneigter ist, größere Risiken einzugehen (risky shift). Vgl. dazu Lamm / Myers, Polarization, 162–163; zur Einführung auch: Myers, Exploring, 219 f; Stangor, Groups, 183–185; Forgas, Interaktion, 275–277; Forsyth, Group, 349–352.

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen richten sich nach Abkürzungen: Theologie und Religionswissenschaften, hg. von der Redaktion der RGG4 Tübingen: Mohr Siebeck 2007.

Zusätzliche Abkürzungen AESP ARP CD CR DU EJDP EJSP ERSP GD GOS HCR IJCM IJSI JCR JESP JLSP JP JPSP JRP JSI LNTS PB PR PSPR SF SQ ZS

Advances in Experimental Social Psychology Annual Review of Psychology Child Development Communication Research Der Deutschunterricht European Journal of Developmental Psychology European Journal of Social Psychology European Review of Social Psychology Group Dynamics: Theory, Research and Practice Group and Organizational Studies Human Communication Research International Journal of Conflict Management International Journal of Social Inquiry Journal of Conflict Resolution Journal of Experimental Social Psychology Journal of Language and Social Psychology Journal of Pragmatics Journal of Personality and Social Psychology Journal of Research in Personality Journal of Social Issues Library of New Testament Studies Psychological Bulletin Psychological Review Personality and Social Psychology Review Social Forces Sociological Quarterly Zeitschrift für Sozialpsychologie

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Stellenregister (in Auswahl) Die Abkürzungen und die Anordnung der biblischen Bücher und der jüdisch-hellenistischen Literatur folgen weitgehend dem Abkürzungsverzeichnis des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT). Als Orientierungshilfe stehen die Abkürzungen der biblischen Bücher in Klammern; für die jüdisch-hellenistische Literatur vgl. das Verzeichnis in R. Deines/ K.-W. Niebuhr [Hg.], Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum 1.–4. Mai 2003, Eisenach/Jena [WUNT 172], Tübingen 2004, XI–XVI). Für die übrigen Belegstellen dienen die Abkürzungen in RGG4 als Ausgangsbasis.

1. Biblische Schriften 1.1 Altes Testament Genesis (Gen) 2,4 55 3,1 347 3,15 347 4,24 220, 222, 302 5,1 55 15,6 326 20,5–6 175 22,20–24 55 48,15 63 49,10 62 49,17 225 Exodus (Ex) 2,11 315 3,14 336 4,22 f 81 7,14 283 13,9.16 320 14,16.21 194 14,31 326 15,26 169 19,8 157 20,12 171 21,23–25 291 24,18 85 25,8 f 249 26,31 254 28,41 57

34,6 f 103 34,30 338 Levitikus (Lev) 4,3 57 5,4 181 14 237 19,17 f 298, 315 19,18 184 20,9–13 227 21,17–19 69 24,10–16 103 24,20 291 26,16 f 235 26,18 220, 222, 238 26,32–39 235 Numeri (Num) 3,3 57 11,11 157 14,42–45 235 15,32–36 116 15,37–41 313, 320 16,31–32 194 21,29 222, 321 27,17 63, 66 28,9 f 178 35,33 322

460 Deuteronomium (Dtn) 4,19 340 5,16 171 5,33 76 6,4 286 6,4–9 313, 320 6,5 183 6,8 320 6,13 87, 340 6,16 86 7,15 69 8,3 85 11,18 320 11,13–21 313, 320 12,11 273 13,1–6 106 13,6 76 14,1 81 14,23 273 15,3.12 315 17,6–7 240 18,15–18 77 18,15 78, 338 19,15–18 295 19,15 240, 295, 297 f 19,18 283 19,21 291 21,6–9 153 21,8 227 24,16 264 27,14–26 157 28,25 235 28,61 69 28,62–64 235 32,5 f 81, 325 32,11 269 32,44 72 Josua (Jos) 2,9 227 5,14 338 8,5.11 157 Richter (Jdc) 5,4–5 194 9,8 57 9,53 215 7,1.7 157 14,3 315 20,2 212

Stellenregister (in Auswahl) Rut (Rut) 2,12 269 4,11 157 4,18–22 56 1Samuel (1Sam) 2,7 220 2,10 57 14,20 157 14,38 212 15,1 57 15,22 236 16,1–13 57, 62 16,7 124 21,1–7 178 28,9 117 71,12–31 62 2Samuel (2Sam) 1,14 57 1,16 57, 227 2,4.7 57 3,28 153 5,2LXX 60 5,2 62–64, 150 5,6–10 69 5,8 69 f, 238 5,9 70 6,2 157 7,7 63 7,8 62 7,10 341 7,11–14 81 7,13 232 11,21 215 22,8 194 22,51 57 24,17 63 1Könige (1Kön) 2,32–33 227 5,15 57 5,17 232 8,39 124, 141 9,6–9 226, 270 10,1–13 209 19,11–12 194 19,19–21 129, 287 22,17 63, 66

Stellenregister (in Auswahl) 2Könige (2Kön) 1,3–4 225 4,42–44 65 9,3 57 15,5 58 17,13–14 247 17,13 164 17,16 340 1 Chronik (1Chr) 2,3–4 55 3,10–19 56 3,17 58 9,1–12 209 11,2 60, 62, 150 16,22 57 17,13 81 23,31 178 28,2 315 28,19 249 29,22 57 2 Chronik (2Chr) 2,3 178 6,8 181 6,42 57 7,19 340 8,7 157 8,13 178 22,7 57 24,20–21 190, 268 25,4 264 36,15–19 235 36,15–16 190, 247 Apokryphes Buch Esra (1Esra) 8,7 72 Esra (Esra) 3,12 249 4,14 177 6,22 226 10,9 157 Nehemia (Neh) 2,3 270 3,1 315 9,26 164, 190, 347 9,30 235, 247

Esther (Est) 4,2 177 Judith (Jdt) 6,16 295 11,19 66 16,17 199, 224 Tobit (Tob) 12,18 169 14,4 226, 270 14,5 249 1Makkabäer (1Makk) 2,55 165 2,56 295 3,18 190 5,16 295 14,29 241 2Makkabäer (2Makk) 2,2 164 3,6 232 6,21 f.24 f 322 7,9.11 194 15,9 164 3Makkabäer (3Makk) 1,11 177 6,18 82 4Makkabäer (4Makk) 5,18 177 6,15.17 322 9,9 199 18,10 164 Psalmen (Ps) 1,3 212 1,6 76 2,2 57, 217 2,7 81 f, 84, 217 2,8–9 62 7,9 124 7,11 65 8,3 148 8,7 216 14,3–4 210 16,10 211 17,8 269 18,51 57

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Stellenregister (in Auswahl)

19,8 278 21,9LXX (22,9) 193 22 262 22,6LXX (23,6) 226 22,8 261 22,9 86 23,1–4 63 25,6LXX (26,6) 153 26,8–9 194 28,9 63 30,9 211 32,3–5 68 32,4LXX (33,4) 326 36,8 269 63,8 269 64,5LXX (65,5) 226 77,20 336 77,2LXX (78,2) 134, 284 78,70–72 62 78,9LXX (79,9) 82 80,2 63 88,15LXX (89,15) 326 89,27–29 81 91,11–12 86 93,8LXX (94,8) 325 94,10LXX (95,10) 293 100,1LXX (101,1) 326 100,3 63, 304 103,3 68, 169 105, 38 322 109,1LXX (110,1) 229 110,1–4 81 110,1 90 f, 216, 228 f 110,2 216 115,16 190 118,22 f 212 118,26 212, 228, 271, 273 118,110 293 119,130 278 132,13 f 232 147,3 169 Proverbien (Prov) 1,4 278 3,3 326 3,11–12 81 3,34 315 4,1 313 6,31 220, 222 7,25 293 9,4 278

10,18 298 11,9Aq./Symm./Th. 322 12,22 326 14,18 278 15,33 220 17,17 315 27,5 298 28,6 76 29,23 220, 315 Kohelet (Koh) 2,12 76 5,1 190 9,12 117 10,16 321 Hiob (Hiob) 3,1 134 5,13 279 6,24 293 8,13 322 9,8 336 13,16 323 17,8 322 19,13 315 20,5 322 21,27 124 22,13 f 190 22,29 220, 315 27,8 322 33,18 211 Weisheit Solomons (SapSal) 2,6–20 262 2,12–20 193, 261, 347 2,21 71, 310 2,24 225, 347 3,14 326 5,1–7 261 5,6–7 76 5,20 199 6,17–22 288 9,7 81 9,8 249 10,21 148, 278 11,20 215 12,7 81 Jesus Sirach (Sir) 1,1 1,27 326

Stellenregister (in Auswahl) 2,12–14 224, 321 3,19 278 4,10 81 13,14–15 184 13,17 259 16,10 f 283 18,13 63 19,13–20,3 295 19,13–17 298 24,10 241 37,16–26 279 38,9–11.15 68 38,9 169 41,8–9 224, 321 43,18–19 124 45,4 326 51,23 278 Hosea (Hos) 2,1 81 2,21 326 2,25 288 3,1 121 5,12–6,1 68 6,1–3 194 6,6 168 f, 177, 236, 241, 251 f, 326, 358 7,13 222 8,3 235 9,7 227 10,9 341 10,13 120 11,1 57, 81 f 12,7 326 13,3 268

Obadja (Obd) 8 278 15 223 Jona (Jona) 1,14 117 Micha (Mi) 2,1 223 2,3 226 2,12–13 63 4,14 – 5,5 62 5,1 57, 60, 62–64 6,8 326 7,4.12 227 Nahum (Nah) 1,5–6 194 1,6 199 1,11 120 3,1 223 Habakuk (Hab) 2,4 326 2,6–19 222 2,6 223 2,12–13 202, 225 3,7.9 194 3,15 336 Zefania (Zef)  1,7.8 223 1,18 199 3,1–5 223

Joel (Joel) 1,15 223, 227 2,27 300 4,15–16 194

Haggai (Hag) 1,9 226, 270 2,3 249 2,6.21 194 2,7–9 248

Amos (Am) 3,11 235, 268 4,4–5 265 5,16–18 222 5,18–20 223 6,7 223 7,4 199 7,14 286 8,2 227 8,8 194

Sacharia (Sach) 1,1.7 268 2,5–9 249 2,6–17 248 2,10–11 300 6,12 252 7,9 326 7,12 247 8,15 181 9,9–10 62, 64, 66

463

464

Stellenregister (in Auswahl)

9,9 159 9,16 63 10,2–3 65 f 10,3 63, 66 10,4 212 11,1 199 11,16 64 14,1 223 14,4 194 14,5 58, 227 Maleachi (Mal) 2,8–10 313 3,19 199 3,23 223 Jesaia (Jes) 1,2 81 1,4 f 81, 149 1,5–6 68 1,17 326 1,18 142 2,3 77, 241 2,12 223 3,9 222 3,17 220 4,25 269 5,1–7 191, 210 5,7 226 5,8–11 222 5,13–14 223, 226 5,18–24 222, 268 5,20 223 5,21 279 5,24 268 5,25 194, 223, 226 6,9–19 283 6,9 f 150, 280, 283, 285 f 7,9 326 7,14 55, 57, 68 8,9–10 55, 265 8,14 214 9,10 f 235 9,16 322 10,3 225 10,5–11 235 10,5 223 10,16–19 199 10,33–34 206, 220, 315 11,2 77 13,9–13 194

19,11 325 24,6 268 25,6 65, 169 26,21 226 28,1–4 223 28,16–17 326 29,1 223 29,13–14 78, 150, 171 f, 278 29,18 69, 78 29,24 293 30,26 169 31,5 269 33,1 321 33,14 322 34,8 208, 223 35,5–6 83, 194 35,5 69, 78 38,18 211 40,10 234 40,11 63 41,4 336 42 84 42,1–4 70, 77, 326, 361 42,7 69 42,18 71, 78 43,25 141 44,28–45,7 235 45,1 57 49,10 63 49,20–22 269 50,6 64 53,3–4 64, 68–70, 169, 361 53,4–12 82 53,6 64 53,7 241 54,11–17 248 56,7 226, 237 57,3 121 57,17 f 169 59,1–20 205 59,20 141, 227 60,21 210, 288 61,1 57, 78, 83, 169 61,3 210, 288 62,11 159, 234 64,10–11 226, 270 66,24 199 Jeremia (Jer) 1,8 336, 338 1,10 210

Stellenregister (in Auswahl) 2,4 286 2,8 66 2,30 347 3,9 121 3,17 120 3,20 81 4,22 181 4,23–24 194 5,6.14 268 5,21 325 6,22–26 235 7,10–14 226 7,11 273 7,21 265 7,24 283 7,25–26 190, 265 7,32 225 8,8–13 78 8,16 194 9,13 283 9,23 279, 326 10,21 64 11,8 283 11,16 199 11,19 206 11,20 124 12,7 226, 235, 270 13,20 63 14,10 247 13,27 321 16,12 120, 265 16,19 65 17,10 120, 124 19,4 266 20,2 190 21,8 76 22,1–6 226 22,3 266, 326 22,5 270 22,18 315 23,1–2 64, 223 23,2 66, 226 23,5 65 23,1–8 62 f, 65 23,29 194 25,9 235 26,6 270 26,20–24 190, 347 28,35LXX (51,35) 227 30,17 169 31,15 57

31,31–34 82 31,34 141 33,6 169 33,15LXX (26,15) 227, 266 38,34LXX (32,34) 314 43,9LXX (36,9) 157 46,10 223 48,46 222 50,6 65 Baruch (1Bar) 1,22 120 3,23 279 Threni (Thr) 1,5 147, 235 1,10 235 2,9 164, 241 2,22 223 4,13 266 4,13LXX 268 Ezekiel (Ez) 1,1 82 1,28 338 3,23 338 5,8 268 7,19 223 8,6 226, 270 9,3.9 226 10,18–22 273 10,18 226 11,2 120 11,17–19 141 11,22–25 270 13,5 223 16,20–21 269 17,24 220, 315 18,2–4 264 18,13 227 20,37 63 21,31 220, 315 32,23–24 62 34 65, 293 34,2–10 66, 223 34,4.5.6.8 64, 66 34,4 169 34,6 63 34,11–15 63, 65 34,16 66, 293 36,19 214 f

465

466

Stellenregister (in Auswahl) Daniel (Dan) 2,27–28 288 2,34 f 214 2,44Th 212 3,12.14 340 4,26 190 7,9 f 82 7,13 229 9,23 169 9,25–26 57 10,9–12 338 11,32 322

36,25–31 82 36,25 141 37,12–13 194 37,22–25 65, 82 38,19–20 194 40–48 248 f 43,7 300 45,20 278 46,1–4 178 Susanna (Sus) 47.50Th 157 46LXX 153

1.2 Neues Testament Matthäus (Mt) 1,1–17 55–58 1,1 55, 60, 62 1,2 56 1,2–4 57 1,3–6 55 1,6–11 57 1,6 56, 58, 60 1,12–16 57 1,16 56, 59 1,18–2,16 58–62 1,18–25 55, 58 f 1,18 59 1,20–23 59, 81 f 1,20–21 71, 91 1,20 55, 58–60, 81, 151 1,21–23 67 1,21 57 f, 60, 63, 68, 82, 111, 133, 140, 142 f, 150, 152, 193, 300 1,22 82, 151, 158 1,23 57, 60, 68, 82, 89, 300 1,24 59, 68 1,25 55, 57 2 58 2,1–23 55 2,1–6 157 2,1–3 59, 232 2,2 63, 233, 340 2,3 60, 152, 156, 158 f, 170, 233 2,4–6 112 2,4 60 f, 90, 99, 116, 139, 148, 150, 156, 158, 182, 233

2,6

57, 59 f, 62, 67 f, 150, 152, 293, 304 2,11 60 f, 340 2,12 58, 90, 116, 158 2,13 58 f, 62, 90, 116, 154, 259 2,14 57, 59, 90, 116 2,15 58, 61, 82 2,16–18 61 2,16 61, 154, 158 2,18 57 2,19 58 2,19–23 57 2,20 59, 61 f 2,21 59, 61 2,22 58, 90, 116 3,2 83 f, 170, 205, 213 3,7–12 205–207 3,7 104, 140, 190, 205, 213, 222, 225, 230, 309, 347 3,8 206, 214 3,9 57, 85, 124, 263 3,10 75, 206, 210, 214 3,11 78, 83, 207 3,13–17 82–84 3,13–15 207 3,13 83 3,14 83 f, 207 3,15 130, 336, 368 3,16 82 3,17 82 f, 88, 338, 360 4,1–11 84–88, 347 4,1 119 4,2 85

Stellenregister (in Auswahl) 4,3

83, 85, 87, 117, 119, 193, 228 4,4 86, 119 4,6 83, 85 f, 117, 119, 193, 228 4,7 86, 119 4,8 87 4,9 87 f, 119 4,10 86 f, 119, 130, 340 4,12 90, 116, 153 4,16 150 4,17 73, 84, 128 f, 134, 170, 337 4,18–22 128–131, 134, 287, 289 4,18 132 4,19 76, 129, 287 4,20 76, 129–132 4,21 60, 129, 353 4,22 76, 129–132, 257, 353 4,23–25 67, 132–134, 152, 281 4,23 66, 68 f, 72 f, 132 f, 157, 281, 332 f 4,24 69, 132 4,25 68, 76, 132–134, 157, 281 5,1 129, 133–135, 135, 139, 273, 281 5,2 72, 139, 281 5,6 368 5,9 19 5,10–12 77, 257, 347, 354 5,10 257 f, 261, 368 5,11 257 f 5,12 225, 258 5,13 340 3,14 340 5,16 320, 354, 365 5,17–20 163–168, 182, 357 5,17–18 164 5,17 89, 163, 176, 182, 241, 300 5,18 164 f, 167, 183, 363 5,19–20 302–304 5,19 72, 75, 163, 165 f, 300, 302, 329 f 5,20 80, 90, 101 f, 104, 112, 139 f, 165–168, 176, 302–304, 320, 324, 363, 368, 376, 391 5,21 163, 326 5,21–48 167 5,22 206, 225, 299, 314, 326, 382

467

5,23 f 236, 354 5,25 f 295 5,35 233 5,43 184 5,44 f 168 f, 258, 382 5,48 257, 354 6,1–4.5–8.16–18 167, 320 6,1 85, 172, 225, 320, 354, 368 6,2 163, 225, 323, 333, 347, 369 6,5 163, 172, 225, 320, 323, 333, 347 6,16 85, 163, 172, 225, 257, 323, 333, 347 6,22 f 328 6,30 341, 361 6,33 212, 320, 368 7,3 f 314, 354 7,5 225, 323, 347, 354 7,11 354 7,12 182, 326 7,13 f 76 7,16–20 120, 206 7,17 f 75, 120 7,19 214 7,21–24 330 7,21 75, 163, 354 7,23 369 7,26 75 7,28–29 72, 76, 134, 139–140, 142–144, 186 f 7,28 139, 186 7,29 74, 103, 112, 119, 139, 152, 165, 267, 368 8,1–4 58 8,1 76, 132–134, 146 8,2 74, 340 8,3 336 8,4 236 f, 361 8,7 68 8,10 76, 143, 187, 326 8,11 60, 134 8,12 206, 213 8,13 71 8,16–17 67 f 8,16 66, 68, 70 8,17 64, 70, 361 8,18 134, 146 8,19 f 103 8,19 73, 131, 168 8,21 73, 257

468

Stellenregister (in Auswahl)

8,22 76, 131 8,23 131 8,24 58 8,25 68, 74, 260 8,26 341, 361, 369, 384 8,27 149, 187, 360 f 8,29 83, 228, 340, 361 8,30 369 9,1–8 140–143, 188 9,2 68, 82, 143, 326 9,3 103, 113, 125, 140, 142, 175, 186 9,4 119 f, 124 f, 175, 329, 338, 347 9,5 68, 143, 169 9,6–8 119, 186 9,6 68, 111, 141, 188 9,7 189 9,8 140–142, 144, 146, 186, 188, 338 f 9,9 76, 129, 131, 170, 287 9,10–13 168–170, 176, 182 9,11 73, 104 f, 168, 170 9,13 86, 111 f, 119, 165, 169 f, 178 f, 236, 241, 252, 326, 368 9,14 105 9,18–26 339, 361 9,18 336, 340 9,21–22 68, 326 9,23 74 9,25 336 9,27–31 69 9,27 62, 69, 76, 349 9,28 74 9,29 71, 163, 326 9,32–34 113, 143–147, 186, 362 9,33 137, 142–144, 146 f, 149, 186 f 9,34 104 f, 113, 137, 146, 186, 188, 347 9,35–36 64, 67 9,35 66, 68 f, 72 f, 133, 332 f 9,36–38 61, 281 9,36 62, 64, 66, 68 f, 133, ­135 f, 146, 287, 293, 304 9,37 f 282, 287, 309, 385 9,37 134 10 258, 282 10,1–4 289

10,1 68 f, 129, 133, 287, 335 10,2 69, 129, 354 10,4 116, 258 10,6 55, 62, 73, 293, 304 10,7 f 68, 282 10,7 73, 136, 282, 287 10,15 208, 326 10,16–33 77 10,16–18 354 10,16 62, 259, 266, 304 10,17 153, 226, 258 f, 266, 332 f 10,18 60, 257 f 10,19 153, 258 10,21 259 10,22–26 354 10,22 68, 257 f 10,23 226, 258, 266 10,24 f 74, 257 f, 260 10,25 260, 347 10,26 339 10,28 225, 259, 339 10,31 339 10,32 354 10,37–39 257 10,37 257 10,38 76, 131, 257, 259 10,39 257, 259 10,40 345 10,41 225, 261, 385 10,42 225 11,1 72 11,2–6 67 11,3 78 11,4 144 11,5 78, 83, 349 11,16 121 11,18 347 11,20–24 279 11,22 208, 326 11,24 208, 326 11,25–30 88 f, 289 11,25–27 278 f, 281, 283 11,25 78, 88 f, 278, 284, 287 11,26 88 11,27 71, 78, 88 f, 189, 278, 337, 354 11,28–30 89, 279, 319 11,28 76, 89, 129, 212 11,29 64, 89, 175 11,38 208 12,1–14 176–182, 182, 319, 369

Stellenregister (in Auswahl) 12,1–8 168, 176–180 12,1 f 177 12,1 165 12,2 104 f, 177 12,3 62, 112, 177, 212 12,5 112, 177 f, 212, 385 12,6 178 f 12,7 86, 112, 119, 170, ­177–180, 236, 241, 252, 326, 368, 385 12,8 179 f 12,9–14 168, 180–182 12,9 180, 332 f 12,10 68, 105, 109, 180 12,12 181, 382 12,13 f 113 12,14 61, 105, 109, 116 f, 154, 182, 188 f, 259, 332 12,15–16 67, 70 12,15 66, 68, 70, 76, 90, 116, 132 f 12,17–21 70, 326, 361 12,18 70, 84, 326 12,19–20 319 12,20 71, 328 12,22–23 62 12,22 68 f, 349 12,22–24 69, 143–147, 362 12,23 137, 142–144, 148 f, 156, 186 f, 189 12,24 104 f, 113, 120 f, 136 f, 140, 186, 188, 207, 347 12,25 120, 124 f, 146, 148 12,31 68 12,33–37 207 f 12,33 75, 120, 206, 309 12,34 119–121, 124, 175, 205, 207, 210, 329, 347 12,35 120, 210, 328 12,36 208, 326 12,37 208 f 12,38–42 87, 100, 121, 168, 208 f 12,38 73, 113, 119, 122, 168, 208 f, 349 12,39 101, 119, 121, 210, 272, 329, 347 12,40 100, 106, 208 12,41 101, 179, 208, 210, 326 12,42 179, 206, 208–210, 326 12,43–45 209 f 12,44 209

12,45

469

117, 119, 121 f, 209 f, 329, 347 12,47 281 12,49 281, 354 12,50 354, 206 13,1–9 282 13,1 281 13,2 134, 152, 156 f, 281 13,3–23 308 13,4 286, 309 13,5 f 286 13,7 286 13,8 206, 286–289, 308 13,9 286 13,10–17 276–289, 307–311, 385 13,10–15 284 13,10–13 309 13,10 280, 282 f 13,11 278, 285, 287–289, 308 13,12 166, 288 f 13,13–15 283–286 13,13 259, 283, 286, 308 13,14 259, 283 f, 286 13,15 150, 152, 157, 175, 259, 280, 283 f 13,16 f 261, 278, 288 13,19 119, 175, 280, 286, 308, 347 13,20 f 286 13,21 257, 308 13,22 286 13,23 75, 280, 286 f, 309 13,24–30 174, 210, 343 13,24 282 13,25 119, 207 13,26 75, 206 13,29 206 13,30 206 13,33 282, 382 13,34 f 284 13,34 157 13,36–43 210, 343 13,36 157, 273, 285 13,38 119, 121, 206, 340, 347 13,39 119 13,40 206, 210 13,41 330, 369 13,42 206 13,47–50 343 13,51 280, 308 13,52 267, 310, 368

470

Stellenregister (in Auswahl)

13,53–58 168 13,54 72, 186 f, 281, 332 f 13,58 189 14,3 58 14,5 137, 152, 338 14,13–21 65 14,13–14 67 f 14,13 76, 90, 116 14,14 64 f, 68, 132, 135, 304 14,19 65 14,20 166 14,22–33 335–337 14,24–27 335 14,24 335 14,26 233 14,27 336, 339 14,28–33 335, 340 14,30 68, 336, 338 14,31 335, 338, 341, 361, 369, 384 14,33 74, 80, 83, 149, 186, 228, 280, 335–340, 360, 384 14,35–36 64, 67 f 15,1–20 170–176, 182, 369 15,1–14 168 15,1 104, 165, 170, 333 15,2 148, 171, 173, 313 15,3–9 119 15,3–6 240 15,3 86, 172, 176, 313 15,4 86, 171 f, 240 15,5 171 15,6 86, 171, 313 15,3 112, 166, 170 15,7–9 170 15,7 101, 172, 176, 323, 347, 369 15,8–10 278 15,8 124, 150, 172, 175 15,9 172, 176, 313 15,10 172, 286 f 15,11 173, 328 15,12–14 76, 170, 210 f 15,12 104, 174 15,13 f 101, 174, 210 15,13 206, 288 15,14 71, 154, 210 f, 240, 309, 325, 349 15,15 174 15,16 281 15,17 175

15,18 175 15,19 120, 175 15,20 173, 176 15,21 90, 285 15,22 62 15,23 163 15,24 62, 73, 304 15,25 74, 340 15,28 71, 326 15,29–31 67, 361 15,29 163 15,30 65 f, 68, 132, 134, 349 15,30–31 69 15,31 163, 186 f, 349 15,32–39 65 15,32 64 f, 135 15,35 284 15,36 65 15,37 166 15,41 211 16,1–4 87, 100, 168 16,1 87, 100, 113, 119 16,4 87, 100, 106, 119, 121 f, 272, 329, 347 16,6 80, 100, 165 16,8 124, 361, 369, 384 16,9 280 16,11 100, 104, 165, 281 16,12 76, 80, 100, 104, 113, 165, 281, 337, 383 16,14 78 16,16–23 336–338 16,16 79 f, 103, 119, 149, 335–337, 342, 360 16,17 336 f, 354 16,18 79, 115, 332, 334 f, 337, 342, 354, 360, 368 16,19 79, 297, 324 16,20 361 16,21 100, 104, 110, 114–116, 158, 259, 267, 337 f, 347 16,23 281, 337, 342 16,24–26 257, 338, 354 16,24 76, 130 f, 259, 287 16,25 68, 257, 259 16,28 131 17,1–9 338 f 17,1 129 17,5 335, 338 f, 360 17,4 74, 260, 281 17,6 186, 338

Stellenregister (in Auswahl) 17,7 339, 361 17,9 281, 338 f, 361 17,10–13 115, 190 17,12 110, 114 f, 187 17,13 281 17,14 68, 74, 133 17,15 74 17,16 68 17,17 60, 121, 342 17,20 326, 360 f, 369 17,22 f 302 17,22 114, 116, 153, 258 17,23 116, 259 17,24–27 235 17,24 73, 168 18 289–305, 320, 332 18,1 291, 302 18,2–4 290 f, 299 18,3–4 303 f 18,3 257, 290 f, 304 18,4 63, 219, 290 f, 304 f, 315 18,5 291, 345 18,5–10 291 f, 304 18,8–9 206, 225 18,10 291, 305, 354 18,12–14 62, 292–294 18,12 154, 291, 293 f, 304 18,13 154, 293 18,14 291, 293 f, 305, 354 18,15–20 371 18,15–17 293–296, 298–301, 371, 379 18,15 294–296, 298, 301, 305, 314, 354 18,16 295, 298 18,17 294–296, 298, 300, 332, 354, 368, 371 18,18 294, 296–301, 304, 324 18,19 294, 297, 300–302, 305, 354 18,20 294 f, 300, 332 f 18,21 f 296 f, 300 18,21 302, 305, 314, 454 18,22 302 18,23 301 18,27 64 18,35 175, 291, 294, 302, 305, 314, 354 19,1–2 67 19,2 66, 68, 132–134

471

19,3–12 168 19,3 87, 104 f, 119, 165 19,4 86, 112, 212 19,9 76, 285 19,16–22 76 19,16 74, 168 19,17 75 19,19 184 19,21 76, 129 19,24 212, 259 19,25 68, 186 f 19,27–29 131 19,27 76, 131, 257, 342 19,28 216, 229 19,29 257 20,16 210 20,17 233 20,18 f 233, 302 20,18 99, 104, 116, 148, 153, 347 20,19 107, 116, 153, 226, 258 f, 267 20,20 60, 74, 340 20,22 115 20,23 354 20,24 354 20,25–28 63, 219 20,28 82, 111, 134, 255, 257 20,29–34 69, 349 20,29 132 20,30–31 62, 65, 69 20,31 68 20,32 189 20,33 f 70, 74, 260 20,34 64 f 21,3 212 21,5 64, 70, 159, 238 21,8 132, 147, 160 21,9–17 143, 147–149, 362 21,9 62, 64, 70, 78, 143, 147, 149, 160, 212, 238, 273 21,10–11 77, 160, 233 f 21,10 61, 158 f, 186, 273 21,11 77, 159 f 21,12–13 237 f 21,12 216, 240 21,14–17 148 21,14–15 69 21,14 67–69, 147, 238, 349 21,15–16 60, 113 21,15 62, 99, 111, 113, 148, 177, 189, 238

472

Stellenregister (in Auswahl)

21,16 86, 112, 148, 212 21,18–22 189 21,18 f 237, 258 21,20 74, 186 f 21,21 326 21,23–27 141, 168, 188–190 21,23 72, 90, 104, 107, 113, 136, 150, 152, 156 f, 189, 213, 238, 281 21,24 189 21,25–26 125, 190 21,26 113, 136 f, 156, 338 21,27 190 21,29 235 21,31 75 21,32 76, 261, 368 21,33–39 191 f, 235 21,34 f 235 21,34 191 21,35–41 234 21,35–37 191 21,35 259, 268 21,36 191, 235 21,37–39 235 21,39 191 f, 214, 253, 259 21,40–46 211–215 21,40 191, 212 21,41 211–214, 253 21,42 112, 213 f 21,43 206, 212–215, 309, 382, 385 21,44 212, 214 f, 217 21,45–46 77, 137 f 21,45 104–106, 111, 113, 125, 136 f, 215, 228, 309 21,46 62, 138, 154, 338 22,3 235 22,5 234 22,6 77, 234, 259, 270 22,7 217, 234 f, 241, 253, 382 22,11–14 343 22,11 215 22,13 206 22,14 343 22,15–22 168 22,15 f 105 22,15 61, 90, 104, 116 f, 119, 168 22,16 60, 74, 76

22,18

87, 119, 121, 124, 323, 329, 347, 369 22,22 87, 186 f 22,23–33 139 22,23 90, 165 22,24 74, 168 22,29 113 22,31 86, 212 22,32 86 22,33–34 187 22,33 76, 139, 143, 186 f 22,34–40 182–185, 326 22,34 61, 90, 100, 104 f, 116, 139, 165, 182, 187 22,35 87, 109, 119 22,36 74, 109, 168, 183 22,37 86, 175 22,38 183 22,39 169, 183 f 22,40 109, 182, 184, 363 22,41–46 58, 62, 90–92, 215–217, 277 22,41 104 f, 116, 182, 206 22,42 90 f, 216, 316 22,43–44 91 22,43 90, 206 22,44 91, 216, 228, 271, 316 22,45 90 f 22,46 90 f, 217, 272, 316 23 217 f, 316, 320, ­346–348, 381 f 23,1–28 217 23,1–7 218 f, 311, 316–321 23,1 90, 149 f, 218, 225 23,2 101 f, 137, 217 f, 316 f, 324, 333, 385 23,3 75, 166, 217 f, 309, 317–319 23,4 63, 89, 137, 218, 304, 319 23,5–7 147, 304 23,5–6 219 23,5 218 f, 319 f 23,6–7 136 23,6 320, 328 23,7 74, 219, 315 f, 321 23,8–12 102, 147, 166, 219–220, 302, 305, 311–316, 320 23,8–10 219, 354, 368 23,8 73, 219, 305, 313 f, 321, 354, 376 23,9 219, 305, 313, 354

Stellenregister (in Auswahl) 23,10 23,11 23,12

219, 313 63, 219, 313–315 219, 223, 227, 304, 313–315 23,13–32 218, 220–222, 224–226, 265, 381 23,13–28 321–331 23,13 79, 90, 101, 112, 217, ­219–221, 225 f, 265, 279, 304, 310, 314–316, 321, 323 f, 369 23,15 101, 112, 119, 163, 211, 219, 221, 225, 310, 321, 323–325 23,16–22 221, 239 f 23,16 71, 154, 220, 225, 239 f, 309, 349 23,17 71, 220, 239 f, 309 23,18 239 23,19 71, 220, 239 f, 309 23,20 239 23,21 239 f 23,22 221, 239 23,23 f 221, 324–327 23,23 71, 75, 101, 137, 163, 166 f, 176, 225, 321, 323, 325– 327, 330, 357, 363, 368 23,24 71, 154, 220 f, 309, 349 23,25 f 222, 325, 327 f, 369 23,25 101, 219, 222, 225, 321, 323 23,26 71, 220, 222, 309, 328 23,27 f 325, 329 f 23,27 101, 124, 219 f, 222, 225, 321, 323, 328 23,28 220, 222, 323, 327, 329 f, 369 23,29–24,2 226, 261–275 23,29–39 77, 218, 258 23,29–34 221 f, 266 23,29–31 226, 265 23,29 101, 219 f, 222, 225, 261, 264 f, 268, 321, 323, 325 23,30 f 382 23,30 125, 262 f, 268, 347 23,31 121, 263, 268, 347 23,32 f 265 f, 268, 270 23,32 226, 265 23,33 201, 205, 222, 225, 264 f, 268, 271, 326, 347, 381 23,34–36 226 f, 266–268, 309

23,34

473

107, 222, 226, 257–259, 266–269, 332 f, 354, 368 23,35 f 226, 254, 265 f, 270 23,35 226 f, 261, 266, 268–270, 385 23,36–37 268, 274 23,36 121, 226 f, 266, 268 23,37–39 234, 266, 268–273 23,37 226, 235, 257, 262, 266, 268 f, 272, 325, 354, 381 23,38–39 226, 265 f, 269 23,38 226, 235, 266, 269–271 23,39 226–229, 266, 269–274 24 203 24,1–2 254, 258, 273 f 24,1 74, 270, 273 24,3 74, 275 24,7 58 24,9–13 309 24,9 153, 257–259 24,12 330, 369 24,14 73 24,20 369 24,29–31 229 24,34 121, 258 24,36 114 24,40 f 215 24,44 114 24,51 206, 323 25,13 114 25,29 166 25,30 206 25,31–46 163, 330, 343–345 25,31 229 25,32 62 25,35 177, 343 25,40 343 25,41 206, 213 25,42 177, 343 25,44 63, 330 25,45 343 26,1–5 113 26,1–2 115 26,1 107 f 26,2 107, 110, 116, 153, 258 f, 271 26,3–5 113, 116 26,3 61, 104, 107, 116, 150, 152, 157, 182, 188 26,4 61, 116 f, 154 f, 259 26,5 115, 125, 138, 150, 152, 161

474

Stellenregister (in Auswahl)

26,14 107 26,16 62, 116, 258, 337 26,17 110 26,18 73 26,23 258 26,24 114–116, 153, 258 26,25 75, 116, 258 26,28 68, 82, 111, 134, 140, 142, 155, 255 26,29 60, 272 26,31 62, 115 26,39 89, 192, 241, 257, 336 26,42 192, 336 26,44 192 26,45 107, 114, 153, 258 26,47 104, 132, 150, 152, 157, 188 26,52–54 86, 107, 192, 337 26,53 192, 241, 354 26,54 114 f, 192 26,55 73, 107, 116, 238, 272, 281 26,56 113, 142, 192 26,57 58, 61, 99, 103 f, 107, 116, 182 26,59 62, 107, 117, 240, 259 26,60 240 26,61 193, 240 f, 252 26,62 107 26,63 f 92, 188 26,63–66 117, 228 f, 254 26,63 86, 103, 107, 119, 185, 215, 217, 228 26,64 193, 216, 228 f, 271 f 26,65 103, 107, 175, 188, 254 26,66–67 117 26,66 229 26,75 304 26,79 75 27,1 61, 104, 108, 116 f, 150, 152, 156–158, 188, 259 27,2 60, 116, 153, 258 27,3–10 233, 304 27,3 107 f, 116, 188, 258, 304 27,4 116, 157, 258, 267, 304, 385 27,6 107, 267 27,12 107 f, 117, 188, 272 27,14 60, 272 27,15–26 157 27,15 60, 153, 156 27,18 108, 116 f, 153, 258 27,19 158, 261, 267, 385

27,20

107 f, 113, 116 f, 152, 154, 156, 188, 259 27,22–25 253 f 27,22 154, 156, 254, 259 27,23 154, 254 27,24 f 61, 150–162, 233 f 27,24 152, 156 f, 161, 267, 385 27,25 152, 155 f, 158, 160, 162, 172, 226, 254, 267, 270 27,26 153, 226, 258 f, 267 27,32 253, 259 27,39–43 119, 161, 228 27,39 175 27,40 193, 259 27,41 99, 104, 107 f 27,42 193 27,43 86, 193, 262 27,49 193 27,51–55 162, 194 f, 337 27,51 194, 254 f 27,52 194 27,54 58, 194, 338 f, 360 f, 384 27,57 161 27,62–66 100, 106, 161 27,62 61, 104, 106, 111, 161, 183 27,63 f 110 27,63 106, 116, 125 27,64 150, 152, 161 28,25 194 28,2–4 162 28,2 58, 194, 339 28,4 194 28,5–9 340 28,5 339 28,9 340 28,10 314, 339, 354 28,11–15 100, 106, 108, 161 28,11 107 f 28,12 61, 116, 161, 183 28,15 100, 108, 161 28,17 340, 384 28,18–20 55, 384, 391 28,18 87 f, 140 f, 189, 340 28,19 f 300 28,19 73, 360, 384 28,20 60, 72 f, 75, 274 Markus (Mk) 1,8 f 207 1,9–11 83

Stellenregister (in Auswahl) 1,10 f 82 1,19 f 129 1,20 130 1,21 f 132 1,22 139 f, 186 1,23–28 67, 361 1,34 69, 132, 361 1,39 67 f, 132, 332 f 1,43 361 1,45 361 2,1–12 140 f 2,8 125, 338 2,12 141–143, 146, 187, 338 f 2,13 72, 170 2,16 105, 168 2,24 105, 177 2,25 178 2,28 179 3,3 180 3,4–5 181 3,6 105, 181, 332 3,7–10 70 3,7–8 133 3,7 90, 132 3,11 340, 361 3,31–35 281, 314 3,32 281 3,35 354 3,22 105, 120, 145, 187 4,1.2 281 4,10–13 285 4,10 280 4,11 285 4,12 72, 259, 283 f, 288 4,13 280, 288 4,15 308 4,25 288 4,34 280, 287 4,38 74, 260 5,3 382 5,6 340 5,7 361 5,18–20 361 5,21–43 361 5,33 340 5,42 187 5,43 361 6,2 186 f, 281, 332 6,6 332 6,13 282 6,51 187

475

6,34 64 f, 68, 72, 133, 135 6,47–50 335 6,51 340 6,52 280 7,1 101, 170 7,2–4 170 7,5 170, 173 7,6 150, 323 7,8 113 7,10 171, 240 7,15 173 7,18 173, 281 7,19 173 f 7,24 361 7,25 340 7,29 71 7,36 361 7,37 187 8,1 f 64, 135 8,11 f 100, 121, 208 8,15 100 8,17 280 8,21 99, 280 8,22–26 100, 337 8,26 361 8,29–30 336 8,30 361 8,31 104, 111, 114, 158, 337 9,5 74, 260 9,6 281, 338 9,9 361 9,13 115 9,14 133 9,17 74 9,18 68 9,31 115 9,32 281 9,33–37 302 9,37 291 9,38 f.49 f 291 9,41 225 10,1 68, 72 10,24–25 63 10,26 186 10,32 233 10,33 99, 111, 116 10,34 107 10,38 115 10,45 257 10,46 69 10,47 62

476

Stellenregister (in Auswahl)

10,51 74, 260 11,8 147 11,9 147 11,10 64, 147 11,11 233 11,12–14 237 f 11,15–19 237 f 11,15–17 237 11,15 237 11,17 237 f 11,18 139, 148 11,27 104 f, 188 11,31 125 11,32 125, 137 12,2–8 191 12,2 191 12,9 211 12,10 f 212 12,12 105, 187 12,13 105, 111, 117 12,14 76 12,15 323 12,17 187 12,18 113 12,28 109, 119, 182 f 12,29 182 12,31 184 12,32–34 182 12,34 91, 184, 217, 233 12,35–37 62, 91 12,35 72, 89, 91, 105 12,37 149, 216 12,38–40 101, 218 f 12,41–44 218, 258, 273 13,1 f 218, 273 13,3 74 13,8 58 13,9–13 258, 378 13,9 259, 332 14,1 104, 111, 117, 188 14,2 150 14,10 107 14,21 114 14,25 75, 169 14,27 115 14,36 192 14,41 107 14,43 104, 111, 188 14,49 192, 238, 281 14,53 104, 111 14,57 240

14,58 240, 252 14,59 241 14,62 103, 216, 229 14,64 103 15,56 f 240 14,65 117 15,1 104, 111, 188 15,3 188 15,10 153 15,11 154, 188 15,19 340 15,31 104, 111 16,6 339 Lukas (Lk) 3,7 99, 205 3,21–22 82 f 3,23 56 4,16 332 4,32 186 4,44 332 5,26 146, 338 f 5,27 170 6,2 105 6,23 225 6,33 225, 354 6,36 257 6,39 71 6,40 258 6,42 323 7,19 206 7,29 157 7,36 104, 119 8,1 332 8,12 308 8,24 74, 261 8,47 340 9,6 282 9,11–13 115 9,20 336 9,22 99, 104, 158 9,33 74 9,37 133 9,38 74 9,44 115 10,1 133 10,25 183 9,57 103, 131 10,21 278 10,25.28 109 11,14–15 145, 187

Stellenregister (in Auswahl) 11,16 87, 100 11,24–26 209 11,29–30 100 11,30–32 208 11,39 101, 323 11,42 101, 221, 323 11,44 101, 222, 323 11,47 f 101, 222, 347 11,47 101, 261, 263, 323 11,48 263 11,49 267 f, 270 11,50 267 11,52 101, 323 f 12,28 341, 369 12,46 323 13,31 104, 119 13,33–34 268 f 13,35 270 14,1 104, 119 14,11 315 15,4.5 292 15,7 294 16,15 124 17,3 314 18,32 99 18,41 74 20,5 125 20,6 137 20,10–15 191 20,15 192, 211 20,19 106 20,20 117 20,21 76 20,26 187 21,7 74 21,11 58 21,38 125, 157 22,2 150 22,70 103 23,48 254 24,5 339 Logienquelle (Q) 3,7–9 205 6,39 211 6,42 225 6,43–45 120, 207 6,43 120 10,21–24 278 10,23 f 282, 288 11,14 69, 122

11,15 122 11,16 208 11,24–26 208 11,29–32 208 11,29 121 11,39–44 220 11,39–41 221 f 11,43 219, 221 11,46–48 220 11,46 218, 221, 319 11,47–51 258 11,49–51 226 11,51 227 11,52 220 f 13,34–35 226, 228, 258, 269 17,1 f 291 17,4 301 Johannes (Joh) 1,38 321 1,45 164 2,19 252 3,8 125 5,14 68, 169 5,25 114 8,2 157 8,44 147, 225, 348 9,2–3 68 10,1–30 63 11,49 226 12,23 114 14,30 147 18,3 106 18,10 337 Apostelgeschichte (Act) 1,15 f 314 3,9.11 157 7,51–52 347 8,35 134 10 169 10,4 338 10,9–16 174 10,33 181 10,34–35 134, 245 15,5 119 15,8 124 15,20–29 297 22,3 109 22,25 259 23,8 113

477

478 Römer (Röm) 2,9–16 245 3,3 326 3,21 164 12,4 f 291 13,11 114 1Korinther (1Kor) 3,6 f 288 5,12.13 286 6,1 297 6,8 314 7,37 f 181 12,12–27 291 15,25–28 216 2Korinther (2Kor) 4,16 286 11,15 204 13,1 295 Galater (Gal) 1,14 313 2 174 2,11–14 169 4,25–26 269 5,10 204 5,22 326 Epheser (Eph) 2,2 147 2,20 214 4,25 291 Philipper (Phil) 3,5 109 4,14 181 Kolosser (Kol) 2,22 172 1Thessalonicher (1Thess) 2,4 124 2,15–16 347 2,16 204, 265 4,6 297 4,12 286

Stellenregister (in Auswahl) 2Thessalonischer (2Thess) 1,4 326 1,8 204 2,3.7 f 330 1Timotheus (1Tim) 5,19 295 2Timotheus (2Tim) 3,5 318 Hebräer (Hebr) 2,12 314 5,4 317 10,12 f 216 12,15 288 Jakobus (Jak) 4,6.10 315 5,14–16 169 1Petrus (1Petr) 2,4–5.7 214 2,24 169 5,5 f 315 2Petrus (2Petr) 1,19 181 3,16 204 1Johannes (1Joh) 2,8 181 2,9 f 314 2,18 114 2,19 181 4,3 348 Apokalypse (Apk) 1,7 228 2,23 124 6,12 58 8,5 58, 328 19,9 169 19,11 82 20,2 225 22,11 265

479

Stellenregister (in Auswahl)

2. Frühjüdische Schriften 2.1 Philo von Alexandrien (Philo) De Josepho 67 f

323, 347

De vita Mosis I 1 II 88 II 17 II 147 II 203–206

162 240 162 141, 302 103

De Decalogo 13–14 103 61–64 103 96 162 De specialibus legibus I 190.237.215 141 III 209 175 IV 183 323 De virtutibus 7 210 65 162 162 68, 169 212 162 De praemiis et poenis 79 318 83 164 Legum allegoriae III 109 f 211 Quod deterius potiori insidiari soleat 72 f 347 175 291 Quod Deus sit immutabilis 103 323 135 68, 169 De agricultura 39 66 49 63 103–104 76

De confusione linguarum 48 323 De migratione Abrahami 171 318 De fuga et inventione 34 323 156 323, 347 158 302 De mutatione nominum 243 318 De somniis II 40 II 89 II 130–131 II 273 II 302

323, 347 225, 347 103 314 318

In Flaccum 43.45 162 Legatio ad Gaium 25 347 120–123 347 162 323, 347 166 225, 347 205 347 De vita contemplativa 2 310 10 71, 310 72.90 314 Quod omnis probus liber sit 79.87 314 90 323 99 323, 347

480

Stellenregister (in Auswahl)

2.2 Josephus De Bello Judaico I 94 I 207 I 371 II 122 II 162 II 165 II 175 f II 254–258 II 293–333 II 423 II 587 II 617 III 293 IV 334–344 V 19 V 121 V 219 V 343 V 367 V 380 V 412–413 V 572 VI 17 VI 250 VI 295–301 VI 300 VI 313 VI 324 VI 353–404 VII 148–150 VII 451–453

326 326 162 314 108 113 153 347 159 244 323, 347 323 235 268 226 326 254 310 235 244 226, 235, 273 71, 310 162 235 226, 273 270 279 230, 244 234 245 68

Antiquitates Judaicae I 4.6.146.214 162 I 70 199 I 162.207 323 II 23 141

II 61 III 6 IV 209–211 IV 219 VI 199 VI 276 VIII 72 VIII 354 VIII 404 X 38 XI 173 XIII 201 XIII 297.408 XIII 398 XIV 110 XIV 284 XV 21 XV 248 XVI 311 XVII 41 XVII 168–171 XVIII 16 XIX 289 XIX 332 XX 44 XX 268

326 69 241 295 157 326 254 129 66 261 162 157 313 322 232 264 320 232 233 109 68 113 326 295 318 177

Vita Josephi 36 323 191 109 257 f 295 Contra Apionem II 132 II 142–144 II 142 II 177 II 201

310 347 71, 310 297 154

2.3 Sonstige jüdisch-hellenistische Schriften Apokalypse Abrahams 10,2–3 338 13 309 15,5 199 25 248 27,1–4 245

27,5 247 29,15–17 199 29,15 265 31,1–3 199 f 31,1 246

Stellenregister (in Auswahl) Apokalypse Elias 36,2 378 42,6–9 66 Apokalypse Sedrachs 13,2–3 65 Apokryphon Ezechiel) Frgm. 5 65 f Syrische Baruchapokalypse 1,2–5 247 4,2–3 249 4,3–7 248 5,3 235, 245 6–8 235 6,8 f 248 7,1 234, 245 8,2–4 226 8,2 270, 273 10,18 247 13,5 200 13,8 245 13,9–10 247 f 14,7 250 18,1–2 288 20,2 247 20,3 278 24,4 245, 247 27,7 194 27,10 199 29,4–8 65 32,1 250 32,2–4 243, 248 32,5 f 249 36,9 114 37,1 199 38,2 250 39,1–40,4 199 40,1–4 245 44,6 242 48,3 278, 288 50,2 194 52,6 246 59,4–8 251 64,4 f 235, 273 68,6 249 72,2–6 199, 245 72,6 200 77,9–10 235, 247 77,13 63, 66

80,1–5 245, 247 80,3 234, 245 81,1–4 288 82,2–9 199 82,2 200 84,5 251 84,8 241 85,2–3 247, 250 85,13 225 Griechische Baruchapokalypse 9,7 347 4 Baruch 4,1 273 4,4–5 247 Aristeasbrief 132–133 124 Jüdische Apokalypse Esras 3,2 246 3,17–18 194 3,25.34 247 3,27 235 3,28 246 3,30–31 242, 246 3,30 245 4,24 247 4,33–43 265 5,45 194 6,14 194 6,58 81 7,3–9 76 7,26 249 7,28 81 7,36 225 7,37 f 200, 245 7,38 199 7,68 f 302 8,17 247 8,53 248 9,7 250 9,26–10,59 247 9,32 f.36 250 9,36 302 9,37 250 10,4–8 269 10,21–24 246 10,42.44.50 249 10,54 247, 249

481

482 11,1–12,34 199 12,34–39 288 12,36–38 278 13,36 249 14,1–9 250 14,5–6 288 14,13 251 14,22 250 Äthiopisches Henochbuch 1,3–7 194 10,6 199 10,16 210 10,18–20 289 14,14 338 15,2 347 17,1–2 225 26,11 201 46,8 201, 378 53,2 201 54,1–6 199, 225 56,5 260 56,8 201 62,3 227 62,8 210, 288 62,9–12 227 62,13–16 194 62,14 65, 169 63,1–12 228 80,7–8 68 84,3 124 85–101 201 89,50–56 226 89,55–58 64 89,55 259 89,56 226, 270, 273 89,65 66 89,73 249 90,2–4 259 90,4 64 90,7 71, 310 90,17–18 73 90,19 199 f 90,24–27 199, 225 91,9 199 f 93,1–10 224 93,2 341 94–104 224 f 94,7–8 224, 321 94,9 201, 225 95,4 68

Stellenregister (in Auswahl) 96,5–6.8 201, 321 95,7 347, 378 96,8 225 99,2 224, 321, 325 101,1 341 102,1 199, 201 103,1–4 288 103,5–8 224 104,2 341 Slavisches Henochbuch 30,15 76 39,2 208 50,4 200 63,4 199 Josef und Asenet 7,1 169 8,5 169 Jubiläen 1,12–13 190 1,16 210, 288 1,20 f 147 1,22–23 141 1,22 124 1,24–25 81 2,7–33 55 2,20 81 4,19 208 5,9 199 5,10 200 9,15 199 15,33 147, 347 21,24 288 22,16 169 23,13–14 68 23,15 f 121 23,19 330 23,23 f 378 48,15 147 49,19 226 Liber Antiquitatum Biblicarum 1,1–19 55 11,15 249 12,9–10 241 16 248 19,10–15 251 19,7 247 22,5 240, 250

Stellenregister (in Auswahl) 26,13 247, 265 32,16 81 38 248 44,5–10 248 51,5 194 Leben Adams und Evas 49,3 199 Griechisches Leben Adams und Evas 16,1 ff 347 21 154 Martyrium Jesajas 3,11 348 4,3 210 Pseudo-Hekataios I Frg. 2 (Ap II 43) 326 Pseudo-Phokylides 13 327 228 175 Psalmen Salomos 2,1 200 4,1–12 318 4,6–7.22 347 4,9 225, 347 9,3 124 9,6–7 141 13,9 81 14,3 f 210, 288 14,9 200, 225 15,4–5 199 f 15,12 200, 208 17,3.5 200 17,23 77 17,40–41 60, 62 f Sibyllinische Orakel 2,65 327 3,51–54 199 3,244–246 165 3,673 199 4,6–17 240 4,27–30 240 4,114–118 249 4,125–127 234 4,130–136 199, 245 5,52 ff 200

5,398–413 246 5,414–433 249 Testamenten der 12 Patriarchen TestRub 1,7–8 68 2,1 286 2,8–9 71, 211, 310 6,8 298 TestSim 2,1 286 2,7 71 2,12 169 6,4 157 TestLevi 3 199 3,9 194 5,1 82 9,9 249 10,2 211, 310 10,3 194 10,5 226 13,1 286 14,4 325 15,1 226, 248, 268, 270 15,2 223 16,1–2 248 16,2–3 347 16,3 227, 248 16,4 248, 268 17,8 249 18,2–7 77 16,2 378 TestJuda 18,3 211 21,9 378 23,3 268 24,3 81 25,1–4 194 TestIss 5,2 184 6,1 330 7,6 175, 184 TestSeb 5,2 124, 169 7,3 65 8,2 65 10,1–3 194 10,3 199 TestDan 1,8 154

483

484 5,1–3 175 5,3 184 5,6 147 5,8 268 6,1 330 TestNaf 1,5 286 3,1 175 8,7 165 TestGad 3,1 286 4,1–3 295, 298 4,2 175, 184 5,11 169 6,1–6 295, 298 7,5 141 8,3 286 TestAss 1,2 286 1,3–5 76 7,2 268 7,3 347 7,5 330 7,6 268 7,7 327 TestJos 1,2 286 4,6 175 11,1 184 11,2 ff 298 15,3 298 19,1 286 TestBenj 10,6–9 194 6,4–5 347

Stellenregister (in Auswahl) Testament Abrahams B,2 69 11 76 20,2 114 Testament Hiobs 26,5 65 30,5 69 32,8 295 Testament Moses 4,7–8 249 5–7 249 6,3–4 347 7,2–19 347 7,3–8 318 9,7 200 10,4 194 10,7–10 200 Testament Salomos 19,3 209 21,1 209 Vita Prophetarum 2,1 190 12,14 347 Corpus Inscriptionum Iudaeae/Palaestinae (Bd. II, hg. von Ameling u. a. – CIJ) 1451,4 327

2.4 Qumran-Literatur CD 1,7 210 1,9 211 1,14 ff 202 1,17 199 1,18 f 347 1,20–2,1 347 2,5 f 199 3,20–4,4 202 4,3–4 200 4,19–21 347

4,19 212 5,3–5 202 5,20 211 6,15 341 7,1–2 297 7,2 f 298 8,10 f 347 8,12 212 9,2–8 295, 298 9,16–23 295, 297 f 6,11 77

Stellenregister (in Auswahl) 6,20 314 7,1 f 314 7,18 77 7,20 f 200 8,6–8 298 13,7–12 63 13,9 64 13,18 f 298 14,5 314 15,15–17 69 19,7–9 66 19,18 314 1QpMi (1Q14) Frgm. 1–5,4 f Frgm. 11,1

199 211

1QGenAp (1Q20) 20,12–29 68 1Q 32 249 1QS(1Q28) 1,7.10 348 1,16 202 1,22 65 1,24 202 2,2 341 2,4–5 202, 341, 348 2,5–9. 222 2,7–9 202, 225 2,8 199 2,16 341 3,13–4,26 76 3,13 f 121, 341 3,20 341 3,21 341 3,22 341 4,10 323 4,11 211, 310 5,1–3.8–10 202 5,2 202 5,24–6,1 295, 298 6,10.22 314 8,2 326 8,5 210 8,22–24 297 9,11 78 9,17 288, 341 10,26–11,1 298 11,8 210 11,10 341

1QSa (1Q28a) 1QSa 1,1–5 202 1QSa 1,18 314 1QSa 2,3–10 69 1QSa 2,13 314 1QH 2,31–34 322 4,10–12 325 5,27 205, 347 7,4–5 335 10,15 347 10,21 347 10,22 348 10,29–34 347 10,31–35 202 11,7–18 205 11,11–18 223 11,13 348 11,32–36 194 12,18–20 223 14,22–25 335 18,14 77 f 1QM (1Q33) 1,1 341 1,7 348 7,4–6 69 13,1 314 15,4 314 17,5–6 147 17,4.8 147 1QpHab 2,1–4 347 5,8–12 347 8–9 202 8,10 325 9,9–12 202 10,3–5 200 10,5 ff 202 10,5 199 10,9 202 10,13 202, 225 11,4–8 347 11,5 202, 378 11,15 199, 225 12,4 278 12,10 202 12,14 200 13,2 f 199

485

486 4QpJes (4Q163) Frgm. 23 2,10

Stellenregister (in Auswahl)

202, 347

4QpNah (4Q169) Frgm. 1–2 10 f 199 Frgm. 3–4 202 1,2.7 347 1,7 202, 322 2,2.4 347 2,8 211 2,8–9 322 3,3 347 3,5 f 211 3,6–7 322, 347 4QpPsa (4Q171) 1,25–27 202 1,26 211 2,1.17 f 202 2,17 199 3,14–17 202 4,7–10 202 4Q174 (4QFlor) Kol. 3 (= Frgm. 1+21+2) 5–6 270 10–13 81 11 77 4QOrNab (4Q242) Frgm. 1–3 68 4Q246 1–2 81

4Q417 Frgm. 1 1,1–6 298 1,14–16 298 4Q434 1,3–4 78 4Q504 Frgm. 2 4,6–8 62 4Q511 Frgm. 35 1–2 220 4Q521 Frgm. 2 2,8 69 2,12–13 65 4Q525 Frgm. 3 2,1 175 Frgm. 15 1–8 347 11QPsa (11Q5) 18,3–5 278 27,2–5 77 28,3–4.10–12 62 11QMelch (11Q13) 2,18–21 77 f 11QTa (11Q19) 46,11–12 300

2.5 Rabbinische Literatur Mischna Avot (mAv) 1,15.17 318 2,1 141 3,2 273, 300 3,5 319 3,9.17 318 3,11 298

Kelim (mKel) 25,6–7 327 Sanhedrin (mSan) 6,4 103 7,5 103 Sota (mSota) 2,2 347 3,4 347

Stellenregister (in Auswahl) Joma (mJoma)  5,1 254

Joma (jJoma)  8,9 296

Talmud Babli Sanhedrin (bSan) 98a 121 Sota (bSota) 22b 317

Midrashim Avot de Rabbi Natan (ARN) 4 251 b.4 247 b.7 230 Mekhlita de Rabbi Jishma‘el (MekhJ) 14,2 273

Talmud Jerushalmi Berakhot (jBer) 9,5 317

3. Griechische und römische Literatur Diogene Laertius Vitae (D. L.) 1,58 318 2,136 318 7,171 318 9,37 318 Dio Chrysostomos Orationes (Dio Chrys. or.) 17,2 318 70,6 318 Epictetus Dissertationes (Epict.diss.) I 13,3 f 315 I 29,35 318

226a 318 231e 318 Leges (Plato leg.) XII 966b 318 Seneca Epistulae (Sen.ep.) 108.36 318 Suetonius Domitianus (Suet.Dom.) 12,2 397 Titus (Suet.Tit.) 1,1 230

Euripides Orestes 735 315

Tacitus Historiae (Tac.hist.) V 8.1 232 V 13 270, 273

Horatius Epistulae (Hor.ep.) I 17,3F 211

Xenophon Memorabilia (Xen.mem.) I 3,4 211

Plato Sophista (Plato soph.) 200d 325

487

488

Stellenregister (in Auswahl)

4. Papyri P.Oxy. IV 706,4 297 IV 743,19 297 VIII 1151,26–27 69

P.Ryl. II 76,14 II 113,13

297 297

P.Strass. I 41,38

297

5. Apostolische Väter und außerkanonische Schriften Barnabasbrief 6,2 ff 214 19,12 236

2. Clemensbrief 5,2–4 259

Ignatius an die Epheser 5,2 300 7,1 347 15,1 315

Didache 4,14 235 8,1 347 15,3 298 16,4 330

Ignatius an die Magnesier 9,2 315 10,3 397

Hermas, similitudines VIII 6,5 347 IX 12.1 ff 214

Ignatius an die Philadelphier 2,2 347

Petrusevangelium 8,28–9,34 106 25 254

Ignatius an die Smyrnäer 4,1 347

Philippusevangelium 84,27–28 270

Brief des Polykarp 7,1 348

Thomasakten 66 314 170 314

1. Clemensbrief 51,3 283 53,2 283

Thomasevangelium 66 214

Griechische Begriffe ἀγάπη  327, 330, 333 ἀδελφός  294 f, 298, 302, 305, 313–315, 343, 353 f αἷμα  111, 134, 155–157, 226 f, 254, 266, 268 ἀκολουθέω  73, 76, 129–133, 147, 170, 287 ἁμαρτάνω / ἁμαρτία / ἁμαρτωλός  82, 134, 143, 200, 294, 296–298, 301 ἀνομία / ἄνομος  200, 321 f, 329 f, 369 ἄπιστος  323, 342 ἄρχων  62, 65, 74, 146

καρδία  120, 125, 175, 280, 284 κρίσις  71, 326, 364 κύριος  65, 73 f, 82, 91, 106, 192, 260, 332, 336

βασιλεία  79, 87, 132, 147, 212, 214 f, 278, 282, 288, 292, 301–303, 310, 324 βασιλεύς  58 f, 63, 65, 233 βλασφημέω  103, 142, 175, 188

ὁδός  76, 261 οἶκος / οἰκία  226, 235, 237, 270, 285 ὀλιγοπιστία / ὀλιγόπιστος  335 f, 341 f, 360 f, 369, 384 οὐαί  221–223, 239, 262, 268, 316, 321, 381 ὄχλος  65 f, 68, 122, 125, 127 f, 132–149, 152, 154, 156 f, 160, 162, 172, 186, 205, 281, 284, 289

γέεννα  119, 225, 265, 310, 325, 381 γενεά  121, 209 f, 268 δέειν / λύειν  297 f δεῖ  114, 158, 192, 233 διδάσκαλος  72–74, 101, 103, 125, 131, 168, 183, 260, 313, 315, 321 f, 340 διδάσκω  64, 68, 72 f, 133, 163, 189, 238, 281, 332 διδαχή  76, 80, 100, 139, 383 δίκαιος  65, 168, 226, 254, 261, 266, 268, 294, 385 δικαιοσύνη  76, 83 f, 102, 166, 182, 257, 261, 303, 320, 326, 363, 368 ἔθνος  99, 212 f, 238, 258, 296, 385 ἐκκλησία  79, 273 f, 295, 298 f, 301, 332, 334 f, 354, 360, 368 ἐλέγχω  295, 298 ἔλεος / ἐλεέω  65, 178 f, 326, 364, 368 ἐντολή  75 f, 171, 183 ἐξουσία  79, 87, 113, 141, 186–189, 339 ἔργον  218, 263, 320 –– τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ  67 ἐρχόμενος  78, 207, 228 f, 271 θεραπεύω  65–68, 70, 72, 133, 163

λαός  57, 60, 63, 67 f, 104, 107, 133, 136, 145, 150–152, 156 f, 160 f, 172, 212 –– πᾶς ὁ λαός  152–158 λίθος 215 μαθητής  65, 74, 105, 139, 177, 260, 267, 273, 310, 314, 340 μισθός 225

παῖς / παιδίον  70, 158, 290 f, 304 παραβολή 282–284 (παρ)ακούω  90, 101, 136 f, 139, 144, 146, 173, 280, 284, 286, 288, 295, 298, 308 f, 338 πείθω 157 πειράζω  87, 183 περισσεύω  102, 166, 288 f, 303, 363 πλανάω / πλάνος / πλάνη  64, 106, 110, 154, 293 πληρόω  82 f, 165, 192, 265 ποιμαίνω  60, 62 f, 150 ποιμήν  62 f, 66, 135, 287 πονηρία / πονηρός  118–125, 140, 175, 206, 209 f, 308, 323, 329, 347 προσκυνέω  74, 87, 186, 274, 339–341 προφήτης  77 f, 82, 100, 159, 164, 182, 261–263, 267, 368 ῥαββί / ῥαββουνί  74 f, 219, 311, 313, 321 σπλαγχνίζομαι  64 f, 70, 135 συναγω  61, 90, 98 f, 101, 116, 150, 158, 170, 274, 294

490

Griechische Begriffe

συναγωγή  133, 226, 259, 332 f συνέδριον  107, 259 σῴζω  68, 143, 150, 193 ταπεινόω / ταπεινός  89, 303, 314 f, τυφλός  62, 68–71, 101, 154, 211 f, ­238–240, 309, 346

ὑπόκρισις  217, 219, 321–323, 329–331, 333, 349, 369 ὑποκριταί  76, 101, 167, 171, 176, 206, 225, 262, 316, 320 –323, 329, 347, 349, 369 φοβέω / φόβος  125, 137, 140, 156, 186, 194, 338–340

Sachregister Abraham  56 f, 206, 247, 310 Abwehrmechanismen  356, 361, 371, 374 Achtzehngebet 398 Adoption  59, 91 Adressaten  14, 72 f, 82 f, 99, 121, 131, 133 f, 135, 139, 149, 153, 166, 172, 200, 205, 215, 218, 224 f, 239, 264, 268, 272, 278, 321, 342, 398 Aggression (s. auch sozialpsychologische Theorien)  102, 183, 191, 195 f, 374, 379 f., 382 f, 384, 387, 391–393 Ähnlichkeit  27, 110, 119, 286, 306, 312, 364, 375 f, 393 Akklamation  70, 140, 147 f, 160, 237, 362 Akteure  24, 29, 32, 40, 45, 49, 61, 98, 106 f, 116, 127, 161, 177, 196, 211, 245, 305, 349, 356, 381 Aktualität (s. auch Gegenwart bzw. Transparenz)  51, 93–96, 104, 110 f, 118 f, 167, 173, 198, 217, 230, 243, 252, 255 f, 258, 267, 277 f, 285, 310 f, 348, 387, 394 f Akzentuierung (sozialpsychologisch)  27, 40, 305–307, 344 Allegorie  191, 234, 249 Älteste (s. auch Hohepriester u. Älteste)  99, 104, 106 f, 110, 170 f, 173, 176, 193, 199, 219 Altes Testament  57, 60, 63 f, 76 f, 80 f, 106, 120, 124, 141, 153, 191, 220, 235, 252, 262, 265, 267, 269, 298, 315, 321, 336 Amt  267, 310, 368 Anbetung  74, 87, 280, 336, 340 Anführer/Führer  44, 61, 63, 66, 69, 127, 137, 139 f, 145, 147, 149–152, 175, 177, 190, 205, 211–213, 239, 244, 248, 259, 304, 309 f, 320, 384 f Angst/Furcht  37, 60, 78, 118, 137, 277, 280, 317, 338–341, 380, 383 Anthropologie  308, 327 Antijudaismus  13, 158, 161 f Antinomisten  164, 329, 324 Antiochia  298, 396 f Antithese  163 f, 166 f, 171, 236, 302 Apokalypse/Apokalyptik  58, 82, 114, 162, 174, 197–199, 201, 203–205, 210 f, 224, 244, 252, 288, 314, 358

Ärger  36–38, 173, 348, 380, 384, 387 Auferstehung/Auferweckung  87, 100, 106, 108, 116, 154, 161 f, 165, 194, 208, 214, 272, 339, 360, 365 Auseinandersetzung  13, 22, 31, 50 f, 53 f, 79, 88–90, 108 f, 136, 163, 167, 170, 173, 176, 182, 185, 204, 209, 216, 230, 252, 261, 316, 318, 339, 345, 351 f, 358, 360, 370, 372, 376, 381, 383 f, 386, 399 Aussendungsrede (s. Reden Jesu) Autorität Jesu/Gottes (s. auch Jesus – Vollmacht)  53, 62, 64, 76, 79, 81, 110, 112 f, 144, 163, 168, 182, 185, 187–189 Autoritäten (s. auch Israel – Führer )  54 f, 62, 65 f, 71, 93, 100, 106, 113–120, 125, 128, 134, 136–144, 148–155, 157 f, 161, 163, 169 f, 172 f, 175, 187 f, 190, 193 f, 205 f, 209 f, 212 f, 215, 227, 229, 233 f, 249, 253–255, 258, 260, 263, 265, 269, 272, 279, 304, 308 f, 324, 362, 384 –– Führungsversagen  58, 61, 112, 151, 179, 213, 231, 256, 324, 345, 349 –– Prophetenmörder  92, 222, 262–265, 268, 325, 347, 385 Autorität/Autoritätsbegriff   64, 66, 128, 290 f Autoritätskonflikt  119, 138, 147, 188, 255 Barmherzigkeit  64, 71, 89, 147, 166, 169 f, 178 f, 221, 227, 238, 242, 251, 294 f, 326, 364, 377 Basileia (s. auch Himmelreich bzw. Reich Gottes)  89, 134, 163, 213, 220, 282, 287, 291 f, 303, 344 –– Eintritt in die Basileia  89, 134, 163, 165, 220 Bedrohung  38, 47, 75, 90, 116, 170, 197, 200, 205 f, 259, 271, 346, 348, 374–378, 380 Beelzebul  105, 136, 146 Bergpredigt (s. Reden Jesu)  Beschneidung 369 Bethlehem 60 Bewältigung  58, 95, 97, 126, 185, 199, 231 f, 242 f, 248, 251 f, 256, 265, 281, 351, 358, 374, 379 Bezugsgruppe  102, 139, 167, 231, 312 Binden/Lösen 79 f, 296–298

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Sachregister

Blasphemie  103, 136, 140, 142, 228 Blindheit  69, 71, 175, 211, 220, 264, 304, 309 f, 344, 346, 349, 362, 377 Blut  111, 155 f, 227, 262, 267 f, 304 boundary marker  356, 364 Bruder (s. auch Familienmetaphorik)  62, 219, 236, 281, 292, 294–296, 298, 302, 311–315, 332, 343 f, 353 f, 371 character assassination  345, 350 Christen  19, 80, 229, 242, 251, 256 f, 259, 265 f, 287, 302, 308, 310, 324, 331–334, 341–343, 351, 354, 360, 371, 373, 378, 383–385, 394, 398 f –– Judenchristen/Heidenchristen  317, 369, 397 f Christologie  48, 53, 59, 77, 81, 88, 92 f, 111, 137, 141, 144, 185, 207, 214, 238, 252, 276 f, 334 f, 357 f, 360, 362, 366, 368, 383, 385, 396 Christus (s. auch Messias)  48, 58, 60, 78, 110, 113, 130, 180, 190, 214, 242, 261, 310, 315, 354, 357, 365, 371, 378, 394 Christusgläubige  265, 387, 400 corpus mixtum 343 Dämonen  83, 146, 347, 361 Dämonenaustreibung (s. Wundergeschichten) Dämonisierung der Gegner  147, 347 David  (s. auch Jesus – Davidssohnschaft)  58, 60, 62 f, 69 f, 78, 133, 177 f Dekalog  171, 175 Delegitimierung  92, 126, 136, 158, 176, 196, 232, 245, 255 f, 276, 311, 346, 399 Demütigung  37 f, 380, 385 Deutungsmuster  141, 156, 231, 244, 398 Dienen  61, 63, 66, 70, 84, 172, 190 f, 194, 314 f, 338 Diskurs  17 f, 102, 195 f, 203, 205, 214, 281, 291, 317 f, 325, 331, 346, 348 f, 366, 381 Distinktheit  22, 26, 29 f, 50, 149, 166, 279, 305, 307, 332, 344, 366, 375 f, 392 f Drohwort  209, 222, 226, 271 Eigenbegrifflichkeit  24, 331 Eigendynamik  46, 399 Einklemmung  387, 396 Einzug in Jerusalem (s. Jerusalem) Ekklesia (s. auch Kirche)  79, 213, 274, 295, 331–335, 344, 360, 364 f

Ekklesiologie  53, 79 f, 114, 186, 213 f, 217, 220, 242, 252, 274–276, 298 f, 313, ­331–345, 354, 360, 369, 379, 384 Eltern  158 f, 171 f, 254 enemy image (s. auch Gegnerbild)  98, 126 Emotion (s. auch sozialpsychologische Theorien)  23, 28, 31, 39, 44 f, 126, 144, 154, 223, 242, 299, 316, 321, 353, ­379–381, 386, 388, 390, 392, 395, 399 Endzeit  78, 198 f, 206 f, 218, 244, 250, 272, 330 –– Endzeitrede (s. Reden Jesu) Erfüllungszitat  57, 59 f, 63 f, 68, 70, 72, 150, 164, 172, 192, 358, 361, 396 Erstleser (s. auch Rezipienten)  148, 156, 164, 185, 227, 256, 264 Erzählkonzept  49, 53 f, 60, 67, 93–96, 102, 110 f, 127 f, 133, 139, 151 f, 158–160, 287 f, 309, 351 Erzählung  18, 50 f, 53–55, 58, 60, 62, 64, 67, 69, 72, 82, 85, 87, 90, 93, 96, 98 f, 103, 111, 128, 139, 155, 162, 169 f, 176, 178, 180, 184 f, 191, 196, 211, 231, 248, 251, 256, 272, 276, 278, 286 f, 308 f, 333 f, 345 –– christologischer Titel  53 f, 80 –– Erzähler  50, 96, 131, 133, 136, 138, 140, 145, 231 Eschatologie  65, 78, 114, 154, 162 f, 197, 199–204, 207, 212–216, 225–228, 230, 249, f., 252, 258, 266, 271 f, 275, 314, 330 Eskalation  20, 44–47, 49, 58, 96, 181, 234, 306, 359, 381, 386, 399 –– eskalierte Erzählperspektive  51, 100, 143, 197, 204, 386 f, 395, 399 Essentialismus  28, 122 f Ethik/Ethos  23, 92, 111, 219, 257, 277, 289, 291, 295, 300, 302–305, 311–316, 343 f, 346, 349, 353, 368 –– Ethische Kontrastidentität (s. auch ­ Kontrast)  166, 176, 197, 304 f, 311–316, 349, 357, 377 –– Zwei-Stufen-Ethik 134 Familienmetaphorik (s. auch Bruder)  290, 294 f, 305, 314 Favorisierung  29, 31, 391, 393 Feind (s. auch Gegner bzw. Kontrahenten) 47 f, 61, 75, 79, 93, 95, 97, 115, 117–119, 125, 138, 140, 142, 147, 158, 169, 180, 185, 198–200, 202, 216 f, 230, 234 f, 245 f, 248, 252, 256, 261, 307 f, 323, 337 f, 340, 383

Sachregister –– Feindbild  34, 61, 71, 93, 95, 97, 102, 125, f., 200, 307, 322, 344, 381–383, 385, 395 –– Feindseligkeit (s. auch Gegner – Bosheit)  55, 118, 134, 140, 142, 153, 155, 168, 182, 185, 188 f, 196, 345, 374, 377, 392 Figuren/Erzählfiguren  55, 65, 74, 93 f, 101 f, 125, 127 f, 138, 143, 153, 162, 167, 186, 289, 321, 368, 391 –– Identifikationsfiguren  260, 279, 334, 379 Frucht-Metaphorik (s. auch Vegetationsmetaphorik)  120, 206 f, 210–214, 250, 280, 284, 286, 309, 311 Galiläa  129, 132, 159 f., 309 Gattung  49, 197, 221 f, 224, 231, 265, 271 Gebet  26, 65, 86, 192, 246, 301 –– Gebetsriemen  219, 320 Gebote  76, 79, 109, 163, 165, 169, 171 f, 174 f, 176 f, 180 f, 183–185, 217, 245, 250, 284, 297, 300, 313, 325 f, 327, 346, 361, 363 f, 377 –– Hierarchie der Gebote  165 f, 363 f Geburt  54, 57–60, 62, 68, 81, 91, 112, 148, 152, 158, 233 Gedächtnis  32, 35 f, 380 –– kulturelles Gedächtnis  13, 260 Gefahr  58, 64, 71, 90, 116, 190, 210, 215, 233, 259 f, 266, 287, 294, 332, 335, 338, 349, 363 f, 374 f, 378 –– Gefährdung Jesu 58 f, 116, 152, 233, 256, 332 Gegenüberstellung  139 f, 165 f, 220, 243, 275, 285, 287, 289, 305, 308, 311, 324, 329, 333 f, 344, 362 Gegenwart (s. auch Aktualität bzw. Transparenz)  50 f, 53, 83, 93, 95–97, 100, 102, 106, 108, 111, 116, 125–127, 140, 162, 170, 199, 217, 221, 231, 239, 250, 253, 255 f, 258, 262–267, 272, 274, 277, 288, 310, 334, 339, 342 f, 395 Gegner (s. auch Feind bzw. Kontrahenten)  50, 54, 61 f, 69, 74, 77, 85–87, ­93–99, 102, 104, 106–112, 114, 117–119, 121 f, 124 f, 136, 138, 140, 142, 145, 147, 153–156, 165, 168, 170, 174, 176 f, 180 f, 183 f, 186– 189, 194, 196–200, 202–204, 206 f, 209 f, 212, 215, 217 f, 220, 224–226, 229 f, 232, 234, 239, 255 f, 262, 265 f, 269–271, 305, 307–309, 311 f, 316–318, 323, 331, 337 f, 345–348, 376–378, 381–383, 385, 399

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–– Bosheit der Gegner (s. auch Feindseligkeit)  66, 76, 101, 117–121, 123–125, 138, 140, 205, 29 f, 323, 329, 338, 344, 347 –– Dämonisierung der Gegner  119, 146 f, 307, 347 –– Gegner (sozialpsychologisch)  38, 44, 47 f, 122, 126, 307, 318, 376, 381 –– Gegnerbild  38, 69, 96 f, 112, 118, 121, 125 f, 138, 154, 221, 244, 310–312, 316, 331, 334, 344, 386 –– Gegnergruppe/Fremdgruppe 26–29, 31 f, 34–37, 50, 62, 92, 95 f, 98 f, 102, 108 f, 111 f, 117, 121–123, 126, 131, 139, 150, 152, 166, 183, 185, 204, 210, 217, 274 f, 311 f, 377 –– Gegnerkombination  95, 99–105 Gehorsam  67, 70, 75, 81, 83–89, 114, 130, 133, 193 f, 336, 338 Gemeinde 13 f, 19, 30, 48–51, 53, 65, 68, 72 f, 79–80, 83–84, 88, 93–96, ­100–102, 106, 111, 116, 118 f, 126–128, 132, 142, 147, 153, 156, 162, ­164–167, 170, 173 f, 176 f, 183–185, 194 f, 197, ­203 f, 207, 210, 214 f, 217–221, 228–232, 238, 242, ­251–253, 255–261, ­264–267, 272, ­274–279, 282, 285, ­287–304, 309 f, 312, 314–317, 323, 329, 331, ­333–336, ­338–345, ­348–352, 354, 358–365, ­368–371, 373–379, ­382–388, 390 f, 394–400 –– Eintritt in die Gemeinde  285, 343, 360, 370 –– Gemeinderede (s. Reden Jesu) Gemeindeschrift  126, 359, 363 Genealogie  55 f, 58 f Generation  121, 155 f, 158 f, 210, 227, 244, 254, 266, 396 f Genitivverbindung  56, 151 f Gerechten  92, 193, 201, 246, 248, 253, 261 f, 264 f, 394 Gerechtigkeit  39 f, 83–85, 101 f, 139, 166, 168, 202, 245, 250, 257, 331, 341, 357 –– ‚bessere Gerechtigkeit‘ 71, 92, 168, 303 f, 320, 330, 344, 376 –– ‚Weg der Gerechtigkeit‘ 76 –– Werkgerechtigkeit 250 Gericht  58, 63, 101–103, 163, 172, 175, 177, 194, 198–230, 245, 253, 255 f, 261, 265, 268, 270–272, 27 f, 297 f, 301, 308, 314 f, 326, 330, 343, 345, 382 f, 385 –– Gerichtsankündigung  122, 138, 149, 200 f, 205, 208–210, 215, 221 f, 217, 224 f,

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Sachregister

226, 228, 261, 265 f, 268–270, 272, 274, 313, 316, 319, 327, 329 –– Gerichtsmetaphorik  101, 212, 214 –– Gerichtsrede 101 f, 207, 216 –218, 274, 315 –– Gerichtssprache  198, 212, 214, 345 –– Gerichtsthematik  191, 208, 214, 230 –– Gerichtsvorstellung  102, 217, 229, 271 Geschichtsdeutung  227, 230 f, 256, 345 Geschichtsschreibung  230 f Gesetz  63, 71–73, 75 f, 80, 89, 92, 108 f, 112, 119, 147, 162–184, 200, 210, 212, 220 f, 224, 236 f, 240 f, 244, 248–252, 274, 293, 295, 297, 300, 303 f, 309, 311, 317–320, 325 f, 329 f, 332, 344, 363 f, 368 f, 376 f, 382 f, 391, 394 f, 396 f –– Gesetz und Propheten  164, 168, 303 –– Gesetzesauslegung  72, 79 f, 89, 93, 110, 112, 162–164, 167 f, 172, 176, 182 f, 206, 211, 220, 241, 252, 278, 284, 296–303, 311, 315, 319, 324–326, 330, 332, 343, 347, 357, 363 f, 383, 386 –– Gesetzeshermeneutik  80, 163, 174, 179, 181, 184, 220, 241, 250 f, 299, 329 f, 357, 362, 366, 368, 386 –– Gesetzlosigkeit  322, 329 f –– Ritualgesetz  325, 328, 364, 366 –– Tun des Gesetzes 75 f, 163, 168, 184, 206, 274, 284, 311, 330 Gewalt  38–40, 195 f, 385 Glaube  71, 80, 141, 187, 190, 326, 335, 342, 356 f, 360 f, 371, 383 –– Gruppenglaube  352, 355–357, 361 f –– Kleinglaube  277, 336, 341–343, 360 Glaubwürdigkeit  18 f, 196 f, 276 Gleichgültigkeit  221, 319, 344 Gleichnis (s. auch Parabel)  72, 145, 167, 174 f, 181, 203, 210 f, 280 f, 283–286, 308 f –– Gleichnis der königlichen Hochzeit 234 f –– Gleichnis vom verlorenen Schaf  293 f –– Gleichnis von den bösen Weingärtnern  105 f, 117, 137 f, 191 f, 211–215, 228, 234, 253 f, 309 –– Gleichnissenrede (s. Reden Jesu) –– Sämann-Gleichnis  282–288, 308, 311 Gott Vater  78, 83, 85, 87–89, 130 f, 174, 188, 191–194, 235, 278, 293, 302, 314, 320, 336 f, 354, 360 Gotteslästerung (s. Blasphemie) Gottesplan  61, 84, 114 f, 158, 246 Gottlosigkeit  200, 235, 239, 247, 249, 321

Gruppe (allg.)  53, 72, 93–95, 98, 100 f, 104 f, 107–109, 111, 116, 121 f, 129, 135, 139 f, 145, 155, 164–168, 170, 172, 174, 180 f, 183 f, 186–188, 193, 198, 200, 213, ­218–220, 223–225, 253, 255, 258 f, 262, 276, 279, 286–290, 296, 308, 311, 315, 326, 342, 345, 348, 353 f, 358, 360, 362–366, 368 f, 371–374, 378 f, 382 f, 385, 399 Gruppe (sozialpsychologisch)14–18, 20–38, 40, 42–50, 96 f, 122–124, 166, 275–277, 289 f, 305–307, 331–333, 351–357, 362 f, 366–368, 370 f, 374–378, 380–382, 386 f, 391–393, 399 f –– Bezugsgruppe  102, 139, 167, 231, 312 –– Eigengruppe 26 f, 29, 31, 35 f, 45, 53, 80, 92, 122, 166, 275 f, 305, 364, 378, 391 –– expressive/instrumentale Gruppe  364 f –– Gruppendynamik  13, 16, 20, 24, 44, 51, 305, 333, 352, 373, 399 –– Gruppenentwicklung  370 f –– Gruppenidentität  18, 21, 36, 229, 276 f, 331, 357, 360, 362, 365, 374 f, 377 –– Gruppenideologie  37, 261, 334, 343, 355, 357, 364–366 –– Gruppenkohäsion  22 f, 44, 290, 352, 354, 357, 378 –– Gruppenkultur  25, 45, 48, 197 f, 219, 277, 295, 349, 354, 357, 364, 370–372, 377, 383 –– Gruppenpolarisierung  44, 400 –– Gruppenwerte  33, 36, 275–277, 297, 325, 331, 354, 356 f, 365, 379 –– Gruppenziele  21, 357 –– Gruppenzugehörigkeit  24, 26, 31, 34, 36, 122, 307, 331 –– Primärgruppe  23, 353 f, 357, 373 Hass  38, 188, 246, 257 f, 369, 381 hate speech  195 f Heidenchristen  369, 397 Heiliger Geist  59, 81 f, 85, 119, 207 Heilsgeschichte  57, 84, 144, 155, 265, 268, 272, 368, 384, 396 Heilsvermittlung  111, 220, 310 Heilungen (s. Wundergeschichten) Herodes der Große  55, 58–62, 90, 99, 105, 116, 139, 150–152, 154, 158, 232 f, 339 f Herodianer (s. auch Pharisäer u. Herodianer)  105, 109, 181

Sachregister Heuchelei  137, 262–264, 312, 317, 320–331, 333, 344, 347 Himmelreich (s. auch Basileia bzw. Reich Gottes)  72 f, 79 f, 112, 129, 165 f, 213, 220 f, 279, 282, 285, 290–292, 301–305, 310, 318, 324, 331, 344 f –– Eintritt ins Himmelreich  112, 165, 279, 304, 318 Hohepriester (s. auch Pharisäer u. Hohepriester)  60, 99, 103 f, 107–109, 111, 113, 115–117, 119, 139, 142,153, 188, 190, 193, 217, 228 f, 233, 254, 272 –– Hohepriester u. Älteste  76, 107–109, 112 f, 116 f, 136 f, 151, 153–155, 157, 161, 188, 190, 213, 215, 254, 272, 337 –– Hohepriester u. Schriftgelehrte  60, 99, 104, 113, 148, 150 f, 158, 237, 337 Hypokrisis (s. Heuchelei) Identifizierung (sozialpsychologisch)  31 f, 36, 354 Identität (s. auch sozialpsychologische Theorien)  13, 16–18, 20–26, 28–32, 36, 39 f, 46, 50 f, 96, 166, 197, 229, 275 f, 290, 305–307, 331, 352, 355–357, 363– 366, 370, 374 f, 377 f, 386, 391–393, 399 identity marker  331, 339 Ideologie  37, 49, 355, 357, 365 f Ignatius von Antiochien  373, 398 Ignoranz  34, 99, 112 Illusorische Korrelation  38, 382 Instrumentalisierung  159, 230, 232, 253 Intentionalität 125 Interaktion  14 f, 17 f, 21–28, 36, 40, 43 f, 48, 122–124, 196, 276, 312, 346, 355, 359, 364, 366, 370, 392 Interjektion  222, 381 Intertext  68, 77, 82, 266 intra/extra muros  352, 394, 397 Ironie  61, 78, 103, 112, 117, 138, 148, 152, 161, 176, 193, 197, 211, 241, 253, 263, 279, 290, 318, 330, 385 Israel  50, 54, 56 f, 66, 72, 79, 81, 84, 88, 92, 95, 110 f, 121, 127 f, 133, 135 f, 140, 143–148, 150 f, 155–159, 161, 168, 172,199 f,205 f, 210, 213, 215, 226, 231, 234 f, 237, 246 f, 249–253, 255 f, 265 f, 274, 279, 305, 345, 358 f, 382–385, 387, 394, 396–397, 399 –– Führer Israels (s. auch Autoritäten)  95, 140, 156, 168 f, 213, 218, 231, 333

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–– Herde Gottes 62–66, 71, 130, 135, 146, 259, 304, 385 –– Pflanzung Israels  206, 210 f, 288 –– Repräsentanten  Israels  104, 150 f, 161, 205, 249 –– Verstockung Israels 283 f, 286 –– Verwerfung Israels  121, 155–158, 161 f, 212 f, 227, 259 f, 269, 308 –– Zuwendung zu Israel  54–71, 73, ­110–112, 133, 135, 143–147, 185, 259, 266, 269, 287, 396 Jerusalem (s. auch Stadt)  55, 59–61, 64, 69 f, 77, 90, 100, 104, 109 f, 113, 150, 152, 154–160, 170, 172, 188 f, 192, 194, 200, 205, 213, 216, 226 f, 229–235, 237, 240, 243–249, 252–253, 258, 268 f, 271 , 273, 275, 337, 339, 360 –– Einzug in Jerusalem  61, 64, 70, 77, 99, 147–149, 159 f, 233 f, 273 Jesus  14, 19, 50–95, 99–121, 124 f, 127–150, 152–156, 158–165, 167–173, 176 f, 179– 194, 197, 205–212, 214–217, 219, 228 f, 232–242, 252–260, 264, 266 f, ­271–287, 289–292, 294, 300–304, 309 f, 313–317, 319, 323–325, 331–343, 345, 347, 349, 353 f, 360–362, 364, 368, 373, 379, 381–386 –– Ablehnung Jesu  61, 91, 146, 155, 188, 264 –– Auferstehung Jesu  87, 100, 106, 108, 116, 154, 161 f., 165, 194, 208, 214, 339, 365 –– Christus/Messias (s. Christus bzw. Messias) –– Erhöhung Jesu  214, 216, 229, 272 –– Geburt Jesu  57–62, 68, 81, 91, 112, 148, 158 –– Heiler (s. auch Wundergeschichten)  62, 64, 66–71, 133, 137, 140, 144–147, 163, 169, 188, 210 –– Identität Jesu  53 f, 77, 88, 144 f, 149, 189, 228 –– Immanuel  60, 67, 89, 274, 300, 358 –– Jesus als Hirte  60, 62–66, 70 f, 133, 135, 149, 169, 271 –– Jesus als König 58 f, 64, 66, 78 f, 147, 160, 233 f. –– Jesusgeschichte  50, 53, 64, 91, 96, 101, 110, 113, 143, 183, 190, 304, 310, 333, 342, 358, 363, 384, 387 –– Kreuzigung Jesu (s. auch Passion)  86 f, 94, 99, 104, 107, 111, 142, 154, 161, 192 f, 253–256, 259 f, 270, 337

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Sachregister

–– Kyrios/Herr  73–75, 130, 216, 257, 260, 171, 300, 332, 335 –– Lehrautorität Jesu  79, 103, 173, 187, 313, 317 f, 324 –– Lehre Jesu  72, 76, 93, 108, 112 f, 132, 134, 139 f, 143, 149, 162 f, 180–182, 185–187, 272, 281, 283, 300, 303, 317 f, 320 f, 324, 332, 342, 383 –– Lehrer  71–80, 85, 90, 92 f, 107, 113, 116, 131, 135, 137, 139, 149, 162 f, 168, 181 f, 185, 189, 238, 252, 256, 280, 282, 309, 314 f, 319–321, 368, 386 –– Menschensohn  63, 103, 207, 228 f, 271 f –– Prophet 77 f, 138, 159 f, 338 –– Prozess Jesu  103, 107, 117, 228 –– Richter  66, 84, 103, 197, 207 f, 214, 228 f, 272, 382 –– Sohn Abrahams 56 f –– Sohn Davids 54–71, 77, 88, 90–93, 136 f, 143–149, 159, 169, 185, 216 f, 238, 277, 287, 349, 357, 361 f, 365 f, 384, 396 –– Sohn Gottes 58–60, 70, 79–93, 105, 110 f, 115, 119, 130,149,161,169, 185–194, ­214–217, 228 f, 334–340, 255, 277, 302, 335–340, 354, 357, 360–362, 365 f, 373, 383 f –– Taufe Jesu  57, 70, 82–84, 87 f, 99 f, 124, 136–138, 189 f, 207, 360 –– Tötung Jesu (s. auch Passion)  86, 92, 94, 103 f, 107–112, 114–117, 125, 143, 153 f, 156 f, 162, 181, 185, 188, 190, 193 f, 228, 231 f, 241, 248, 253–255, 259–261, 272, 303, 332, 338, 360 –– Verspottung  Jesu  99, 104, 194 –– Versuchung Jesu 84–88, 117, 119, 193, 340, 347 –– Verurteilung Jesu  61, 94, 99, 103, 142, 152 f, 155, 188, 192, 266, 233, 340 –– Vollmacht Jesu  71, 79, 107, 136 f, 141, 144, 163, 185–190, 194, 229, 252, 260, 335 –– Wirken Jesu  54, 62, 67 f, 77, 83 f, 101, 110–112, 140, 143, 145, 164, 185, 273, 293 –– Wundertätigkeit  Jesu (s. auch Wundergeschichten)  69, 72, 113, 144, 146, 181, 237, 361 Jochanan b. Zakkai  251 Johannes der Täufer  57 f, 76, 83 f, 90, 99, 115, 124, 137 f, 153,189 f, 205, 207, 210, 213, 225, 261, 347 –– Täuferjünger  78, 144 Jona  100, 106, 179, 208 f, 227

Josef aus Arimathäa  161 Josephus Flavius  159, 230, 235, 244 f, 323 Judas  62, 74 f, 107 f, 188, 304 Juden  59, 132, 254, 364, 384, 397 –– Judenchristen  317, 369, 397 f –– Judensteuer 397 Judentum  80, 88, 95, 103 f, 110, 150, 161 f, 168 f, 183 f, 198 f, 208, 218, 245, 251, 260, 297, 303 f, 323 f, 327, 333, 341, 346, 348, 372, 388, 390 –– formatives Judentum  14, 51, 204, 316, 372 f, 396 –– Jüdisch-römischer Krieg  159, 244, 254, 358, 388 Jünger  65 f, 72–74, 76, 80, 83, 86, 94, 100 f, 103, 113, 128–136, 139, 144, 148 f, 164, 168, 170, 173–180, 185–187, 192, 210, 213, 228, 253, 256–260, 265, 267, 272 f, 275–283, 285–293, 302, 304, 307–309, 320 f, 334–342, 354, 360 f, 365, 368, 374, 385 –– Aussendung  66, 135, 256, 259, 266, 282 –– Berufung 129–131, 134 f, 287, 289 –– Identifikationsfiguren  65, 260, 277, 288, 334, 342, 379 –– korrigiertes Jüngerbild  276–281, 288, 334, 340 f –– (Un)verständnis der Jünger 174 f, 277 f, 280 f, 340 f –– Verhältnis Jünger – Autoritäten  101, 105, 168, 177, 308–311, 320 –– Verhältnis Jünger – Jesus  74, 256–261, 332, 335, 337 f, 340, 354 –– Verhältnis Jünger – Volksmenge 132 f, 135, 149, 281, 285–289, 308 f Kategorie (sozialpsychologisch)  27, 29, 31, 33, 38, 96, 196, 306, 332 –– Kategorisierung  26 f, 31, 33, 36, 306, 344, 355, 366, 391–393 Kinder  112, 148, 156, 158, 189, 245 f, 269, 290 f, 341, 344 Kindheitsgeschichte  54, 59, 61, 81, 90 f, 116, 140, 158, 233, 339 f Kirche (s. auch Ekklesia)  88, 163, 182, 213, 289, 296–298, 314, 331 f, 334 f, 343, 360, 362, 371 f Klimax  61, 220 f, 273, 314 Knecht Gottes  65, 67, 70 f, 84, 191, 194 Kognition  20, 27 f, 32 f, 36 f, 39, 118, 122, 249, 275 f, 305 f, 344, 351, 355 f, 366, 374, 380–382, 392, 399

Sachregister Kognitive Dissonanz  34, 249, 389–391, 394 Kommunikation  16, 21, 27, 195 f, 199, 307, 331, 346, 348, 367 Konflikt (allgm.)  13, 18–20, 49–51, 53 f, 59, 69, 74, 78, 92 f, 101 f, 113, 119, 129, 138, 142 f, 149, 181 f, 185, 188–190, 197, 203 f, 255 f, 277, 279, 308 f, 312, 316, 334, 345, 348 f, 351 f, 358 f, 367 f, 379–383, 388 f, 391–400 Konflikt (sozialpsychologisch)  13, 16–20, 31 f, 36 f, 40–51, 97, 126, 195–197, 306 f, 345 f, 377 f, 380, 386 f, 389, 391–393, 399 –– Geschwisterkonflikt  377, 388 –– Konfliktanalyse  13, 19, 42, 49, 96, 204, 345 f, 377 –– Konfliktaustragung  14, 42, 51, 92 f, 126, 140, 191, 195–350 f. f, 358 f, 380, 395 –– Konfliktgeschichte  13, 49, 51, 72, 80 f, 94, 98, 105, 108, 112, 116, 119, 127 f, 139, 149, 153 f, 157 f, 185, 196 f, 207, 217, 228, 233, 254, 347, 358, 362, 364, 388 –– Konfliktbeteiligten  45, 51, 53–126, 196, 306 –– Konfliktdiagnose  44, 49, 51, 54, 351, 386 –– Konfliktkonstellation  50, 128, 136, 138, 152 f, 187, 204, 307, 372 f, 386 –– Konfliktstrategie  96, 203, 345 –– Konfliktthematik  47, 50 f, 53 f, 80, 92, 127–194, 362, 386 f, 395 –– Konflikttheorien  31, 41–48, 377, 386 f, 392 f –– Wertekonflikte  31, 37, 40 König  57–61, 66, 81, 112, 147, 152, 209, 216, 233 f –– König der Juden  59, 234 Konkurrenz  256, 261, 279, 350, 372, 383, 393 Kontaktsituation  37, 384, 394 f Kontrahenten (s. auch Feind bzw. Gegner)  19, 74, 76, 79, 85 f, 90, 93, 102, 128, 140, 147 f, 168, 170, 174, 180, 189, 197, 206 f, 209, 211, 215, 217, 231, 239, 312, 325, 346 f, 377, 379 Kontrast/Kontrastbild  61, 63, 69, 71, 73, 89, 101, 103, 105, 112, 129, 134, 138 f, 142 f, 145, 148, 153, 166, 171, 176, 179, 184, 187, 197, 270, 274 f, 289, 304–307, ­309–314, 317, 319, 325, 357, 377 Konzession  317 f Kreativität  30, 357, 369

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label  111, 122 f, 332, 347 Legitimierung  25, 35, 50, 53, 55, 57, 74, 276 f, 300, 333, 359, 382 Legitimität  18, 30, 58, 80, 118, 185, 219, 255, 368, 380 Lehrer (s. Jesus) Leidensankündigung  72, 99, 107, 114–116, 148, 158, 233, 302 f, 337 Liebesgebot 92 f, 165 f, 168, 171, 175 f, 179, 181–185, 289, 298 f, 301, 303, 315, 320, 325 f, 328, 330, 332, 344, 349, 363 f, 369 –– Feindesliebe 382 –– Gottesliebe  175, 183, 304, 326, 364 –– Liebe  92, 168, 175 f, 181 f, 184, 249, 251, 296, 299, 302, 311, 315 f, 327, 331 f, 354, 357, 366, 371 –– Liebesethos 92 –– Lieblosigkeit  307, 319, 330 f –– Nächstenliebe  102, 162, 168, 175, 184, 236, 294, 298 f, 304, 312, 319, 326, 328, 330, 364, 383 Logion  120, 163, 208–210, 222, 258, 266, 287, 304, 323 Macht  40, 46, 60–63, 79, 87, 92, 109, 133, 138, 153, 185–188, 192 f, 198, 217, 232, 241, 254, 269, 276, 279, 289 f, 336 f, 339, 344 f, 349, 362, 366, 372, 377, 380, 384 –– Machtkritik 62–66, 70, 290 f, 312, 314 Magier  60 f, 90, 158, 233, 340 Maria (Mutter Jesu)  59 Meinungsverschiedenheit  19, 165, 290, 297, 371 Menorah 245 Messias (s. auch Christus) 58–60, 63–71, 76– 78, 80 f, 84, 90–92, 105, 112–117, 139, 143–150, 152, 159, 161, 169, 185, 193, 201, 216, 229, 233 f, 237 f, 255, 271, 336 f, 361 f, 382, 386, 399 –– Messiasbekenntnis  115, 117, 336 –– Messiasgeheimnis  339, 361 Minderheit  94, 255, 258, 279, 342, 372, 382, 394, 396 Minimalgruppenexperimente  26, 29 mirror image-Effekt (s. sozialpsychologische Theorien) Mischzitat  64, 159 f, 234 Missionsauftrag  66, 136, 256 Mose  77, 85, 102, 237, 250–252, 317, 325, 338 –– Stuhl Mose  102, 317

498

Sachregister

Nachahmung  130, 133, 257 Nachfolge  73, 76, 129–132, 134, 150, 253, 257, 270, 278, 287, 290, 335 Negativfolie  102, 325 Niedrigkeit  81, 83, 87, 147, 194, 241, 302 Normen  21–24, 34, 40, 184, 276, 289–291, 312, 333, 352, 357, 362–364, 367, 371, 376, 378, 380 Nullsummenverhältnis 32 Offenbarung  82 f, 88 f, 145, 194, 278 f, 289, 335, 337 f Opfer (s. auch Tempelkult) 110 f,178 f, 232, 236, 241, 249, 251 Parabel (s. auch Gleichnis)  138, 174, 191 f, 209–211, 213, 228, 234, 280, 282–287, 289, 292–294, 301 f, 304, 309 –– Parabeltheorie  283–287, 309 Parallelisierung  74, 119, 132, 172, 177, 190, 233, 235, 256 f, 258 f, 264, 288, 321, 329 Paränese  165 f, 214, 220, 302, 311 f, 336, 378 Passafest 110 Passion (s. auch Jesus – Kreuzigung bzw. Tötung)  61, 72, 82, 84, 86, 90, 92, 94 f, 98–100, 103 f, 106 f, 109–111, 114–116, 119, 138, 142, 152, 157 f, 161 f, 165, 170, 172, 185, 188, 190, 192, 215, 228 f, 240 f, 257–259, 266 f, 272, 302 f, 335, 338 f, 360 passivum divinum  56, 59, 220, 315 Paulus  286, 310, 329, 373 Personalisieren  48, 71, 176, 323, 369 Pauschalisierung  45, 95, 118 f, 132, 156, 225 f, 252 f, 261 f, 268, 270, 320, 345, 385 Personifizieren  47, 159, 233, 269, 386 Petrus  74, 115, 117, 174 f, 301, 304, 324, 336–339, 342, 353, 361 Pharisäer  51, 72, 75, 87, 89 f, 94 f, 97, 101 f, 104–106, 108 f, 111–113, 116 f, 120 f, 136 f, 139 f, 145–148, 154 f, 161, 163–177, 179–184, 187, 190, 198, 204, 207–212, 215–218, 225, 230, 252 f, 255 f, 263, 265, 274, 279, 304, 307, 309–313, 315–322, 325–329, 331–334, 345–347, 349, 359, 363, 365, 369, 381, 383 f, 390–392, 394 –– Pharisäer u. Herodianer  76, 187 –– Pharisäer u. Hohepriester 78, 106, 112 f, 116 f, 137 f, 155, 211 f, 215, 228, 309 –– Pharisäer u. Sadduzäer 75 f, 80, 83, 93, 95, 105, 108, 165, 190, 205, 337

–– Pharisäer u. Schriftgelehrte  71, 73, 79, 87, 89 f, 93 f, 101 f, 108, 112, 121, 149, 164–167, 170–173, 197, 208 f, 218–220, 259, 262, 268 f, 279, 287, 304, 307, 311 f, 315–317, 321, 324 f, 328, 331, 334, 347, 349, 376, 382, 391, 394 Pilatus  60 f, 106, 108, 153 f, 157 f, 161, 187 f, 254, 272 Polemik  13, 65, 71, 80, 89, 101, 104, ­108–111, 120, 162, 184, 197, 201, 218, 227, 232, 240, 253, 256, 269, 304 f, 310, 312, 316, 318, 341, 346–350, 369, 371, 390, 393–395 Prophet  57, 137 f, 159 f, 177, 208, 235, 253, 261–268, 303, 308, 383 –– Prophetie  55, 57, 64 f, 68, 107, 117, 160, 164, 172, 212, 222 f, 225 f, 266, 236, 249, 254, 266, 283 –– Tötung der Propheten  77, 159, 221, 234 f, 263 f, 267 f, 269, 347, 385 Prolog  62, 67, 112, 150, 152 Proselyten  112, 221, 310, 324 f Prototyp  23, 27 f, 53, 118 f, 124, 304, 331 f, 342, 356, 376 qal-wa-homer-Schluss  180, 260 Qumrangemeinde  78, 200 f, 288, 297, 314, 341 Rabbi  74 f, 251 f, 311, 313, 320 Redaktor  66, 72, 94–96, 105 f, 124, 138, 170, 203 f, 217–219, 251, 258, 266, 275, 326, 329, 332, 345, 349, 363, 368, 383, 390, 395 Reden Jesu  107, 162 f, 167, 273, 281 –– Aussendungsrede  258–260, 266 –– Bergpredigt  76, 103, 112, 129, 132–135, 139, 168 f, 175 f, 178, 186, 281, 302 f, 320, 330 –– Endzeitrede  218, 271, 273–275, 343 f –– Gemeinderede  290–305, 312 –– Gleichnissenrede  280–289, 307–311 –– Reden Jesu u. Gemeinde  162 Reich Gottes (s. auch Basileia bzw. Himmelreich)  65, 73, 78, 132, 134, 212–214, 283, 290 f Reinheitsthematik  101, 124, 168–176, 210, 221 f, 327–329, 369 relative deprivation 46 Relektüre 395 Rezeption  65, 78, 97, 208, 222, 230, 284, 298

Sachregister Rezipienten (s. auch Erstleser)  57, 97, 118, 133, 153, 368, 382 Rom/Römer  105, 153,199 f, 230, 232, 234 f, 243–246, 249, 253 f, 259, 345, 372, 388 Sabbat  51, 105, 109 f, 117, 161, 176–182, 319, 369 Sadduzäer (s. auch Pharisäer u. Sadduzäer) 99 f, 108, 113, 139, 165, 182, 187, 200, 239 Salbung 57 Satan/Teufel  83, 85–87, 119 f, 146 f, 209, 225, 286, 340, 347 Schaf/Schafmetaphorik  63–66, 292–294, 304 Schekinah  235, 249, 273 f Schimpfwort  102, 121, 197, 346, 349, 367, 382 Schlange  205, 225, 347 Schrift  59–61, 86, 88, 109 f, 112, 114 f, 151, 164, 168–170, 172, 177, 192, 212, 220, 237, 248, 362, 375, 383, 386 –– Gemeindeschrift  126, 359, 363 Schriftgelehrte (s. auch Pharisäer u. Schriftgelehrte bzw. Hohepriester u. Schriftgelehrte)  73 f, 85, 87, 94, 99, 101, 103 f, 109– 110, 112 f, 115 f, 119, 121, 125, 131, 139 f, 142 f, 163, 165, 175, 184, 188, 193, 212, 216, 219, 239, 263, 319, 324, 337 f, 344, 364 –– matthäische Schriftgelehrte  267, ­309–311, 344, 368 Schwarz-Weiß-Malerei 382 Schwurpraktik  221, 239, 325 Sekte  372 f Selbstbezeichnung  162, 202, 267, 314, 334, 341, 368 Selbstbild  30, 34, 44 f, 48, 255, 275–277, 279, 305, 312, 331, 334, 338, 343 f, 360, 376, 378 f, 384, 395 Selbsterfüllende Prophezeiung  35, 45 Selbsthingabe  129, 131, 133, 257, 374 Selbstwertgefühl  30, 45, 305, 373 f, 378 Sitz im Leben  88, 97, 197, 279, 316, 341, 358 Sohn Davids (s. Jesus) Sohn Gottes (s. Jesus) Sozialisation  355, 357, 370 Sozialkritik  221, 224, 290 f, 327 Sozialpsychologie  13–48, 96–98, 118 f, 122– 126, 166, 195–197, 275 f, 305–307, 312, 317, 331 f, 334, 344–346, 351–357, 362 f, 366 f, 370–372, 374–382, 386 f, 389–393 –– Sozialpsychologie u. Konfliktforschung  20, 31, 41–48

499

Sozialpsychologische Theorien (außer Gruppentheorien u. Konflikttheorien) –– Aggressionstheorien  13, 17, 20, 36–41, 351, 385 –– Attributionstheorien  17, 34 f, 45, 125 f –– Emotionstheorien  13, 20, 36–38, 351, 380 –– Linguistisches Kategorienmodell (LCM) 122 –– mirror image-Effekt  44, 275, 305 f, 344 –– Modell der Sprachverzerrung (LIB)  26, 122 –– Theorie der kognitiven Dissonanz  34, 184, 249, 389–391, 394 –– Theorie der Selbstkategorisierung (SCT)  26, 28, 124, 306, 334, 376 –– Theorie der sozialen Identität (SIT)  25–32, 306, 355, 391–393 Soziolekt  366, 368 Soziolinguistik  15–17, 24, 97, 118, 307, 333, 344, 399 Soziologie  21, 23, 42, 94, 100, 333, 353, 355, 371 f, 389, 396 f –– Soziologie der Devianz 371 f –– Wissenssoziologie  355, 359 Speisungsberichte  65, 133, 166 Sprache  15–18, 49, 97, 102, 119,122–124, 147, 168, 175, 195–198, 203 f, 288, 307, 342, 345–349, 351, 365–369, 381 f, 390 f Stadt (s. auch Jerusalem)  70, 77 f, 148, ­156–160, 226, 231–235, 238, 241, 247, 249, 253–256, 269 f –– Stadtbewohner  160, 233 f, 247, 254 Stammbaum  55–58, 84 Status  29–31, 34, 36–38, 47–49, 51, 53, 92, 131, 276–279, 340 f, 350–352, 360, 370, 373 f, 377 f, 380, 382, 392–394 Steigerung  27, 140, 143 f, 166 f, 183, 191, 221 f, 237, 265, 294, 360, 368 Stereotyp  17, 32–36, 45, 47, 69, 96, 118, 123 f, 126, 306, 317, 334, 368, 376, 381, 386 Stigma  34, 38, 373 Streitgespräch  76 f, 80, 85, 90, 101, 103, 105, 109, 140, 167 f, 181 f, 189, 209 f, 216 f, 315 f, 383 Sühne  70, 110 f, 194, 251 summarium  64, 67–70, 72, 132 f, 147, 187, 281 Sünde/Sünder  57 f, 68, 82, 84, 103, 105, 141, 158, 168–170, 175, 198, 200 f, 207, 222, 224, 226 f, 246 f, 251, 265, 272, 294–302, 371

500

Sachregister

Sündenvergebung  60, 68, 82, 110 f, 140–143, 169, 188, 296 f, 300–302 Synagoge  18, 49, 53, 72, 109, 132, 139, 176, 180, 186, 198, 217, 256, 259, 297, 307, 317, 320, 332–334, 338, 344 f, 348, 350 f, 358 f, 368, 372, 376, 378, 380, 384, ­386–388, 395, 398–400 Synedrium/Sanhedrin  86, 99, 107, 117, 137, 192, 215, 228 f Synoptiker  66, 91, 110, 124, 206, 222, 339 Syrien  358, 396 Tempel  57, 69, 72, 78, 107, 109–111, 137, 147 f, 171, 178 f, 188 f, 193 f, 218, 221, 226, 228, 231–256, 270, 272–275, 358 –– Tempel u. Gesetz  241, 248–252, 274 –– Tempelbewältigung  199, 232, 242–253, 256, 265, 358 –– Tempelkritik/Kultkritik 236–238, ­240–242, 251 f, 255, 303 –– Tempelkult (s. auch Opfer)  110, 178 f, 236, 241 f, 303 –– Tempelreinigung  99, 148, 237 f, 242 –– Tempelvorhang  194, 245, 254 f –– Tempelwort  193, 228, 240 f, 252, 272 –– Tempelzerstörung  13, 156, 158 f, 174, 197, 199, 210, 217 f, 220, 226 f, 230–232, 234 f, 238, 241–256, 258, 261, 265 f, 268, 270–275, 345, 358, 381–383, 388 Textpragmatik  50, 96, 359, 384 Theodizee  243, 253 Titus  230, 244 f Todesbeschluss  61 f, 107 f, 111, 114, 116 f, 125, 154, 181 f, 188, 241, 332 Tora (s. Gesetz)  Transparenz (s. auch Aktualität bzw. ­ Gegenwart)  50 f, 87, 99, 191, 243, 260, 276 f, 334, 342 Traum  58 f, 158, 253 Trennung/Auseinandergehen der Wege  132, 333, 356, 358, 371, 384, 395–398, 400 Trugschluss  264, 382 Überlieferung  171, 173, 313, 363 Umkehr  170, 205, 264 f, 271, 280, 295 f, 301 Unmündige  78, 88, 148, 278 Unterweisung  72 f, 76, 78, 162, 172, 186, 252, 277 f, 282, 284 f, 315 vaticinum ex eventu  258, 281

Vegetationsmetaphorik (s. auch FruchtMetaphorik)  206, 210 f Verfolgung  51, 93, 114, 116, 152 f, 182, 190, 194, 214 f, 221, 227, 229, 231 f, 248, 253, 255–270, 274, 308 f, 316, 322, 332, 335, 338, 373 f, 378, 383, 385, 393 Vergleiche  25 f, 29 f, 32, 44, 127, 141, 149, 166, 305, 356, 392 Verkündigung  60, 73, 77 f, 82, 100, 108, 128, 132, 144, 161, 252, 273, 288, 360 Verleumdungssprache  47, 154, 196 f, 225, 347 f, 390, 396 Versammlung  158, 295 f, 300, 332 f vituperatio  197, 346 Volk Gottes  56–58, 60–70, 76, 79, 81 f, 84, 104, 107, 110, 112 f, 116 f, 121, 130, 132 f, 135 f, 144 f, 147, 150–157, 172, 174, 188, 206 f, 213, 245–248, 250 f, 259, 269, 283, 286, 309, 332, 349, 358 f, 372, 378, 382 f, 385, 393, Völker/Heiden  55–57, 73, 81, 132, 147, 169, 199 f, 212 f, 228, 235, 238, 245, 252, 301, 314, 330, 360 f, 363 f, 369, 384, 391, 398 Völkermission  55, 57, 73, 81, 238, 324, 358, 360, 363, 369, 383 f, 396 f Volksmenge  64–66, 68 f, 72, 77 f, 83, 92 f, 99, 103, 108, 112 f, 117, 127 f, 132–163, 172 f, 186–188, 190, 205, 210, 216, 253 f, 279, 281–289, 307–309, 321, 338 f, 362, 364, 384, 394 –– (Un)verständnis der Volksmenge  143–148, 283–286, 289, 308 f –– Verhältnis Volksmenge – Autoritäten  69, 113, 127, 136–152, 154 f, 161 f, 172 f, 187 f, 190, 205, 279, 308 f, 362, 384 –– Zustand der Volksmenge  64, 66, 69, 71, 84, 133, 135–137, 146, 184, 304 –– Selbstbeteuerung 152–155 Wahrnehmung  27, 29, 31 f, 35, 38–40, 47 f, 118, 126, 186, 381 f, 396–398 Weherufe  101, 205, 218– 228, 239 f, ­261–266, 268, 310, 314 f, 319, 321, ­324–331, 347 Werte/Gruppenwerte  22, 33, 36, 48, 166, 179, 263, 275–277, 289, 295–297, 299 f, 312, 325, 331, 333 f, 354–357, 365 f, 371, 375, 377, 379 Wiederholung  98, 102, 117, 119, 184, 224, 266, 309, 356, 368 f

Sachregister Wille Gottes  73, 75 f, 83 f, 86, 88 f, 112, 114, 162, 166, 169, 171, 179, 184, 192, 235, 245, 270, 291, 293, 296 f, 315, 354, 385 Wort Gottes  85, 112, 280, 287 Wunder  58, 140 f, 143 f, 146, 149, 163, ­186–189, 194, 207, 237, 361 Wundergeschichten (s. auch Jesus – Wunder­ tätigkeit)  66 f, 69, 74, 130, 140–144 –– Blindenheilungen  64, 69–71, 74, 147, 238, 242, 337, 349 –– Dämonenaustreibung  66, 105, 146, 187, 209 f, 361 –– Heilungen (allg.)  58, 62, 64 f, 67 f, 70 f, 105, 117, 133, 141, 144, 146–148, 170, 176, 180 f, 187, 189, 236–238, 259, 282, 332, 336, 340

501

–– Seewanderung  280, 335 f –– Sturmstillung  187, 361 –– Verfluchung des Feigenbaums  187, 237 f –– Verklärungsgeschichte  74, 338 f Zehnten  221, 325–327 Zeichenforderung  87, 100 f, 113, 119, 121, 125, 208 f, 349 Ziele  21 f, 24, 35, 40 f, 44 f, 195, 357, 364– 366, 370, 374, 380 Zielpublikum  127 f, 148, 309 Zöllner  104 f, 168–170, 301 Zorn  Gottes/Jesu  66, 198–200, 202, 210, 213, 230, 234, 237, 247, 271 f, 275 –– menschlicher Zorn 299