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German Pages 404 [406] Year 2016
Uta Jungcurt Alldeutscher Extremismus in der Weimarer Republik
Uta Jungcurt
Alldeutscher Extremismus in der Weimarer Republik Denken und Handeln einer einflussreichen bürgerlichen Minderheit
ISBN 978-3-11-045477-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045749-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045518-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: Deutschlands Erneuerung, Dezember 1919 Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im November 2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim angenommen worden ist. Mein besonderer Dank gilt meinem Erstgutachter, Herrn Prof. Gottfried Niedhart, der mit großer Geduld die wechselvolle Entstehungsgeschichte der Arbeit seiner „letzten Doktorandin“ begleitet hat. Frau Prof. Julia Angster hat trotz außergewöhnlicher Belastungen die Mühen des Zweitgutachtens auf sich genommen, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Mein Dank gilt weiterhin Herrn Prof. Uwe Puschner vom Friedrich Meinecke Institut Berlin für seine lang anhaltende Ermutigung. Für interessante und motivierende Gespräche danke ich Dr. Björn Hofmeister und Dr. Johannes Leicht, letzterem vor allem für seine unerschütterliche Zuversicht. Eine besondere Rolle haben in den letzten Jahren Kerstin Hofmann und Simone Dibelius gespielt, denen ich ganz herzlich für ihre kritische und freundschaftliche Solidarität in unseren Doktorandencoaching-Sitzungen Dank sage. In den Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Archive, ohne deren Einsatz die Studie nicht möglich gewesen wäre, möchte ich auch das freundliche und engagierte Team der Universitätsbibliothek Heidelberg einschließen. Frau Gabriele Jaroschka vom Verlag De Gruyter Oldenbourg hat die Vorbereitung der Drucklegung in wohltuender Souveränität begleitet. Auch dafür sage ich herzlichen Dank. Schließlich danke ich meiner Familie für ihre jahrelange Unterstützung und Ermutigung, meinem Sohn Stefan und meiner Tochter Nina vor allem für ihre gelassene und effektive Hilfe in Computer-Notsituationen, meinem Lebenspartner und Ehemann Gernod Jungcurt ganz besonders für die stoische Gelassenheit, die er der jahrelangen Beschäftigung seiner Frau mit alten Herren entgegengebracht hat. Ihm möchte ich diese Studie widmen.
Inhalt Einleitung 1 Untersuchungsgegenstand Aufbau der Arbeit Forschungslage Quellen 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.8 2.8.1 2.8.2 2.9
Alldeutsche im Kaiserreich: aggressive Artikulation bürgerlicher Partizipationserwartungen 13 Ein „Nationalverein“ für Weltmachtpolitik Die „wahren Söhne der Sieger“ auf dem politischen Massenmarkt „Nationale Opposition“ und völkische Bewegung In den Vorzimmern der Macht Bestseller und Staatsstreichgedanken An der Front der Kriegszielbewegung Kriegsantisemitismus, Zeitungsankauf und Zeitschriftengründung Zusammenfassung Alldeutsche in der Weimarer Republik: Selbstverständnis, Sozialstruktur und Handlungsformen 92 Quellenlage Organisationsstruktur und Arbeitsformen Sozialstruktur Gebildeter höherer Mittelstand Multiplikatoren, staatliche Entscheidungs- und Verantwortungsträger Meinungs- und Wissenschaftsmanager Selbstverständnis Altersstruktur Mitglieder- und Ortsgruppenentwicklung Die Mitglieder der Hauptleitung Juristen Hohe Offiziere Vertreter von Kirche, Universität, Schwerindustrie und Journalismus Die Herausgeber von Deutschlands Erneuerung Universitätsprofessoren Völkische Literatenboheme und andere Medienmanager
VIII Inhalt
2.10 2.11 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2
Weibliche Funktionärinnen Zusammenfassung Alldeutsche Denkwege in der politischen Kultur der Weimarer Republik 203 Der Ehrbegriff Geschichte des deutschen Ehrbegriffes und Ehrbegriff der Alldeutschen Ehre als Kampf- und Exklusionsbegriff Ehre als Hoffnungs- und Motivationsbegriff Handlungs- und Herrschaftskonzepte im Kampf um politischen Einfluss Von „nationaler Opposition“ zu „völkischer Tat“ Vom „Kaisertum“ zum „Führertum“, vom „Adel des Verdienstes“ zum „völkischen Adel“ „Gegenrevolution“, „völkische Diktatur“ und „völkischer Staat“ Vom „Herrenvolk“-Mythos zur „Rassenethik“ Von der „Ausschaltung“ zur „Ausmerzung des Judentums“ Zusammenfassung Alldeutsche Handlungsstrategien und ihre Umsetzungsversuche in der Weimarer Republik 282 Gegenrevolution – Alldeutsche Initiativen in München Alldeutsche und Hitler in München Kampfansage an den Staat von Weimar Gründung eines antisemitischen Kampfverbandes Staatsstreichpläne Staatlicher Zugriff nach dem Rathenau-Mord Das Jahr : „Die Notwendigkeit zu handeln“ Der Hitler-Putsch Legale Wege zur Diktatur – Ein Generalermächtigungsgesetz Versuche zur Eroberung des Reichskanzleramtes Staatlicher Zugriff gegen eine „monarchistische Verschwörung“ Eroberung des DNVP-Vorsitzes Auf dem Weg in die völkische Diktatur – Das Volksbegehren gegen den Young-Plan Die Kundgebung in Bad Harzburg
Inhalt
4.3.3 4.4
Das Jahr : „Das Tischtuch zerschneiden“ zwischen Alldeutschen und NSDAP? Zusammenfassung
Fazit 346 Quellen- und Literaturverzeichnis 354 Ungedruckte Quellen Gedruckte Quellen Internetressourcen Schriften der in Kapitel porträtierten Alldeutschen Zeitgenössische Literatur Zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften Forschungsliteratur Personenregister 392
IX
Einleitung Untersuchungsgegenstand Die Geschichte des Alldeutschen Verbandes (AV) und seiner führenden Protagonisten ist zwar mehrfach dargestellt worden, der Schwerpunkt des Forschungsinteresses lag jedoch auf der Wilhelminischen Ära. So wurde für die erste Phase seines Bestehens zwischen 1890 und 1914 ein vielfarbiges Bild seiner politischen Positionen und Aktivitäten gezeichnet,¹ das entworfene Tableau seines Wirkens in der Weimarer Republik jedoch bleibt nach wie vor recht blass.² Weder die sozialen Trägerschichten noch die Entwicklungsprozesse alldeutschen Denkens und Handelns unter den grundlegend veränderten politischen Bedingungen nach dem Ende des Deutschen Kaiserreiches sind bisher eingehend untersucht worden. Die vorliegende Studie analysiert deshalb nicht nur die Sozialstruktur der führenden Mitglieder des Verbandes in der Weimarer Republik. Sie zeichnet darüber hinaus Denkwege und Handlungsstrategien nach, auf deren Grundlage sich die alldeutschen Vertreter des radikalen Vorkriegsnationalismus nach der Kriegsniederlage in offener Opposition gegen die Republik und als Protagonisten einer rassisch konnotierten Erziehungsdiktatur positioniert haben. Sie beschreibt das politische Handeln, das sich aus diesen Vorgaben heraus entwickelt und in öffentlichen wie konspirativen Operationen niedergeschlagen hat, und erörtert den Stellenwert, der diesem Handeln innerhalb der politischen Kultur der Weimarer Republik zugemessen werden kann. Die Qualifizierung alldeutschen Denkens und Handelns als extremistisch verweist auf die Übereinstimmung mit allen dem politischen Extremismus in der Forschung zugeordneten Merkmalen.³ Mit einer mehrheitlich bürgerlichen Mitgliedschaft und einem hohen Anteil an Vertretern des Bildungsbürgertums⁴ stellt der Verband einen geeigneten
1 Siehe den ausführlichen Forschungsbericht bei Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 15–24. 2 Die Darstellung der entsprechenden Forschungsliteratur erfolgt in Abschnitt 3 der Einleitung. 3 Uwe Backes nennt die folgenden sechs Merkmale: Absolutheitsansprüche, Dogmatismus, Utopismus, Freund-Feind-Stereotype, Verschwörungstheorien, Fanatismus und Aktivismus. Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 331. Siehe auch Susanna Böhme-Kuby, Extremismus, Radikalismus, Terrorismus in Deutschland. Zur Geschichte der Begriffe, München 1991; Astrid Bötticher/Miroslav Mares, Extremismus. Theorien – Konzepte – Formen, München 2012. 4 Der Begriff wird hier trotz aller Vorbehalte – Jürgen Kocka empfahl einen Gebrauch „mit spitzen Fingern“ – und in vollem Bewusstsein seines konstruktivistischen Charakters benutzt Auf die alldeutschen Trägerschichten traf Kockas Beschreibung als „beamtete und nicht-beam-
2 Einleitung
Untersuchungsgegenstand zur Überprüfung einer Reihe von Thesen dar, die in Bezug auf Konstituierung, Mentalität und Schicksal des deutschen Bürgertums, vor allem des Bildungsbürgertums, formuliert worden sind. Die für die Vorkriegsphase registrierte Dominanz zertifizierter Akademiker innerhalb der Mitgliedschaft⁵ kann zumindest für die Leitungsgremien des Verbandes aufgrund der Quellenlage für die Weimarer Republik überprüft werden.⁶ Bei einem Mitgliederstand von 45 000 Einzelmitgliedern im Jahr 1921⁷ ist vor dem Hintergrund einer ermittelten Anzahl von 135 000 bildungsbürgerlichen Haushalten⁸ zu Beginn der Republik von einem Einfluss alldeutschen Denkens innerhalb des Bildungsbürgertums auszugehen. Für die Zwischenkriegszeit sind in der bisherigen Forschung gravierende Veränderungen in den Formen politischen Denkens und Handelns in Deutschland und Europa konstatiert worden.⁹ Bei dem von verschiedenen Autoren mit Begriffen wie „Irrwege“,¹⁰ „Extremismus“¹¹ oder „Brutalisierung“¹² bezeichneten
tete Gebildete“, die den „Kern der sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit“ darstellten, in besonderer Weise zu und auch ein beträchtlicher Anteil der von ihm genannten „Aufsteiger“ war in ihren Reihen zu finden. Sie repräsentierten beispielhaft das Bewusstsein von der Bindung schaffenden und zugleich abgrenzenden Funktion von Bildung. Vgl. Jürgen Kocka, Bildungsbürgertum – Gesellschaftliche Formation oder Historikerkonstrukt?, in: Ders. (Hg.), Bildungsbürgertum, Teil IV, S. 9–20, hier: S. 13, 17–19. 5 Vgl. Roger Chickering, We Men who feel most German. A cultural Study of the Pan-GermanLeague 1886–1914, Boston/London/Sydney 1984, S. 309. 6 Die Mitgliederlisten der Leitungsgremien im Verbandsarchiv BArch R 8048/533, fol. 105ff.; BArch R 8048/138, fol. 66ff.; BArch R 8048/155, fol. 47ff. weisen einen Akademikeranteil von über 60% aus. 7 Vgl. Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003, S. 173. Zahlen über die angeschlossenen Verbände, die in der Vorkriegszeit bis zu 150 000 Mitglieder ausmachten, liegen für die Zwischenkriegszeit nicht vor. 8 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 4, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutsche Staaten 1914–1949, München 2003, S. 294. 9 Vgl. Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005. 10 Hans Mommsen, Aufbruch zur Nation. Irrwege des deutschen Nationalismus in der Zwischenkriegsepoche, in: Ders., Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, Stuttgart 1999, S. 44–57. 11 Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999. 12 Heinz Hagenlücke, Formverwandlungen der Politik in Deutschland im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderungen der Politik, Köln/ Weimar/Wien 2000, S. 107–124, hier: S. 121. Siehe auch: George L. Mosse, Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik. Betrachtungen über die politische Rechte, den Rassismus und den deutschen Sonderweg, in: Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen/Hans-Helmuth Knütter/
Aufbau der Arbeit
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Wandel in der politischen Kultur handelt es sich um Prozesse, an denen Vertreter des Bildungsbürgertums prominent beteiligt waren.¹³ Verbandspublizistik und interner Diskurs der Alldeutschen bieten die Möglichkeit, genauer zu untersuchen, in welcher Form und mit welcher Motivation solche Veränderungen auch unter Vertretern des deutschen Bildungsbürgertums stattgefunden haben. Aufgrund seiner fast fünfzigjährigen Geschichte ist der Verband besonders geeignet, in Teilen des Bürgertums virulente politische Deutungsmuster und Handlungsstrategien in ihrer Entwicklung über einen längeren Zeitraum, vom Gründungsaufruf 1890 bis zum Verbot 1939, zu beobachten. Deshalb werden nicht nur Deutungen und daraus entwickelte Konzepte des Untersuchungszeitraums 1919–1933 vorgestellt, sondern sie werden in einem Rückblick an ihre Vorgeschichte im Kaiserreich zurückgebunden. Bereits vorliegende Thesen hinsichtlich der Entwicklung des deutschen Bürgertums, wie Verlust von „Exklusivität“ und „Deutungshoheit“,¹⁴ „Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz“,¹⁵ „Auflösung“,¹⁶ bzw. „Erosion“¹⁷ oder „Niedergang“¹⁸ werden in die Untersuchung einbezogen und diskutiert.
Aufbau der Arbeit Das erste Kapitel skizziert den Verband, seine Ziele und Protagonisten, von der ersten Gründungsinitiative 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Seine Aktivitäten werden im Kontext des politischen Massenmarktes verortet, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland Ausdruck neuer Par-
Hans-Peter Schwarz (Hg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, S. 127–139. 13 Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel 1963; Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000. 14 Klaus Tenfelde, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: Ders./Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317–353, hier: S. 325f. 15 Dirk Schumann, Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz. Politische Grundpositionen des deutschen Bürgertums nach 1918, in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderungen der Politik, Köln 2000, S. 83–105. 16 Hans Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–317. 17 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Band 4, S. 289–309. 18 Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk-und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, 3. Auflage, Berlin 2010.
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tizipationsbestrebungen war. Die Bedeutung alldeutscher Interventionen innerhalb der politischen Kultur des Kaiserreiches wird diskutiert und erläutert. Die Darstellung verfolgt die These, dass es sich bei Intentionen und Aktivitäten der Gründungsinitiatoren um spezifische Ausformungen bürgerlicher Partizipationsvorstellungen gehandelt hat. Der Entwicklungsprozess des Verbandes vom bürgerlichen Propagandisten eines modernen deutschen Weltreiches zum Agitator für einen „Siegfrieden“ wie zum Verfechter einer Reichsreform, die „Besitz und Bildung“ privilegieren sollte, wird in seinen einzelnen Schritten nachgezeichnet. Das zweite Kapitel nimmt die alldeutschen Akteure in der Zeit der Weimarer Republik selbst in den Blick. Sowohl die Sozial- und Altersstruktur der Leitungsgremien, zum Teil bis auf die Ebene der Ortsgruppenvorstände, als auch die regionale Ausbreitung der Verbandsaktivitäten sind aufgrund der Quellenlage gut darstellbar. Darüber hinaus werden die 14 Mitglieder der sogenannten Hauptleitung, das Herausgeberkollektiv der 1917 vom Verband gegründeten Zeitschrift Deutschlands Erneuerung sowie zwei einflussreiche alldeutsche Verleger und zwei weibliche Funktionärinnen in politisch-biographischen Skizzen porträtiert. Sie werden als moderne Meinungsmanager geschildert, als Beispiele für Akteure der „Partizipationsrevolution“,¹⁹ die innerhalb der europäischen Gesellschaften Ende des 19. Jahrhunderts stattfand. Im Deutschen Reich haben einige von ihnen das Entstehen des politischen Massenmarktes nach der Reichsgründung entscheidend mitgeprägt. Für die Weimarer Republik wird vor allem ihr Einfluss- und Handlungsraum als Einzelpersönlichkeiten dargestellt, der ihnen die Verbreitung alldeutscher Denkschemata ermöglichte. Das Selbstverständnis dieses Personenkreises, als Repräsentanten von „Besitz und Bildung“ zu agieren, wird auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse der Bürgertumsforschung diskutiert.²⁰ Habitus, Selbstinszenierungen und weitere Selbstzuschreibungen werden erläutert, um Antworten auf die Frage nach der Attraktivität des Verbandes für Teile des Bürgertums zu finden.²¹
19 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 120. 20 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1996; Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum, Teil IV; David Blackbourn/Richard J. Evans, The German Bourgeoisie, London 1991; Peter Lundgreen, Sozial-und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), Göttingen 2000; Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2009. 21 Der Habitusbegriff wird verwendet in Anlehnung an: Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bände, 16. Auflage, Frankfurt a.M. 1991; ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung
Aufbau der Arbeit
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Das dritte Kapitel wendet sich den Deutungsmustern, Denkfiguren und handlungsleitenden Visionen zu, die in der Zeit der Weimarer Republik von Alldeutschen benutzt, weiterentwickelt und verbreitet worden sind. Es orientiert sich methodisch an Vorgaben der politischen Kulturforschung²² und stützt sich neben der wegweisenden Analyse der Verbandstätigkeit der Vorkriegszeit von Roger Chickering²³ auf Ergebnisse jüngerer, soziologisch, ideengeschichtlich wie diskursanalytisch ausgerichteter Forschungen²⁴ zur alldeutschen und völkischen Bewegung im Kaiserreich. Die Darstellung geht aus von einer Analyse des alldeutschen Ehrbegriffes,²⁵ der die erste große öffentliche Stellungnahme des Verbandes nach der Kriegsniederlage und dem Ende des Kaiserreiches leitmotivisch durchzieht.²⁶ Im Anschluss werden die Entwicklungslinien nachgezeichnet, entlang derer handlungsleitende Visionen wie „völkische Tat“, „Führerstaat“, „völkische Diktatur“, „Aufartung des deutschen Volkes“ und „Ausmerzung des Judentums“ entwickelt worden sind. Es wird erörtert, wo die Alldeutschen innerhalb des Spektrums von „altem“ Reichsnationalismus und „neuem“ integralem Nationalismus²⁷ anzusiedeln sind, ob und inwiefern sie Teil
im 19. und 20. Jahrhundert, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1996; Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. 22 Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 321–346; ders., Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer/Klaus v. Beyme (Hg.), Politische Kultur in Ost-und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21. 23 Chickering, We Men. 24 Stefan Breuer., Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; ders., Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945. Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Walkenhorst, Nation. 25 Zum Ehrbegriff siehe auch Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Dagmar Burkhardt, Eine Geschichte der Ehre, Darmstadt 2006. 26 Diese von der Hauptleitung und dem Geschäftsführenden Ausschuss des Alldeutschen Verbandes am 16. Februar 1919 verabschiedete „Erklärung“ wurde in über 20 regionalen und überregionalen Zeitungen in einer ersten Auflage von 300 000 Stück verbreitet, die auf Nachfrage nachgedruckt werden mussten. Korrespondenz im Verbandsarchiv: BArch R 8048/603, fol. 119–193. Die Erklärung ist abgedruckt in: Otto Bonhard, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig 1920, S. 259–268. Sie wird im Folgenden als „Bamberger Erklärung“ zitiert. 27 Vgl. Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und Aggression. Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1994; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001.
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der völkischen Bewegung²⁸ waren und welche Rolle ihnen in den politischen Diskursen der Weimarer Republik zugeschrieben werden kann. Das vierte Kapitel beschreibt und analysiert entwickelte Handlungsstrategien und Versuche ihrer praktischen Umsetzung von Seiten der Verbandsleitung wie von einzelnen Mitgliedern. Es versteht die Alldeutschen als intentional handelnde Akteure, die in den sich neu strukturierenden politischen Raum der Republik gezielt eingegriffen haben. Auf Grundlage von Quellen des Verbandes selbst wie von Dokumenten der Strafverfolgungsbehörden und der Justiz können öffentliche wie konspirative Vorgehensweisen von Verbandsvertretern nachgezeichnet werden, die vorwiegend am Ziel der Gegenrevolution und der Errichtung der Diktatur orientiert waren. So entsteht die Skizze eines Anpassungsprozesses, innerhalb dessen das Projekt der Gegenrevolution sich in seinen taktischen Ausformungen vom Militärputsch mit folgender Zivildiktatur über die legale Präsidialdiktatur zur Kanzlerdiktatur auf Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes gewandelt hat. Das bisher nur mit wenigen Ausnahmen²⁹ in historischen Darstellungen zur Weimarer Republik suggerierte Bild der Bedeutungslosigkeit³⁰ des Verbandes wird in Frage gestellt. Es konnte entstehen, weil der Verband im Kaiserreich als kohärenter Akteur, als „holding“ oder „pressure group“³¹ in den klassischen Kategorien des politischen Lobbyismus geschildert worden ist, die für das Handeln seiner Akteure in der Weimarer Republik als Analyserahmen nicht mehr angemessen sind. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der vorliegenden Studie stehen sein personelles Netzwerk und das Handeln von Einzelpersönlichkeiten. Denn sie waren es, die nicht nur als Verbandsmitglieder und Autoren in alldeutschen Publikationen ihre politischen Auffassungen verbreitet haben, sondern auch in ihrem persönlichen Umfeld und ihrer beruflichen Funktion alldeutsches Denken zur Grundlage ihrer Entscheidungen gemacht haben. Die Darstellung der unterschiedlichen meinungsbildenden Funktionen und Kontexte, in denen sie aktiv waren, hat zum Ziel, ihren möglichen Einfluss auf
28 Vgl. Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999; Breuer, Die Völkischen. 29 Als Ausnahmen können angesehen werden: Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang von Weimar: 1918–1933, Berlin 1998, S. 202f.; Peter Longerich, Deutschland 1918–1933, Hannover 1999, S. 213; Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008, S. 187f. 30 Dies gilt übrigens nicht für das erste große Standardwerk Karl Dietrich Brachers aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, der gerade in Bezug auf Hugenberg mehrfach den alldeutschen Kontext betont. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Auflage, Düsseldorf 1978, hier z.B.: S. 276–287. 31 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, 4. Auflage, Göttingen 1980, S. 93.
Forschungslage
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die politische Kultur der Weimarer Republik präziser fassen und beschreiben zu können.
Forschungslage Für den gesamtem Zeitraum der Verbandsexistenz von 1890 bis 1939 liegen vier Arbeiten vor. Alfred Kruck hat 1954 die erste historisch-kritische Monographie verfasst,³² die auch einen umfangreichen Teil über die Weimarer Republik enthält. Er konnte Aufzeichnungen des Verbandsvorsitzenden Heinrich Claß einsehen,³³ hat deren Verwendung jedoch nicht im Einzelnen quellenkritisch kenntlich gemacht.³⁴ Die Akten des Verbandsarchivs konnte er nicht auswerten.³⁵ Er sieht den Verband als eher weltfremde Vereinigung, seine persönlich integren Akteure in tragischer Verstrickung mit der NSDAP.³⁶ Edgar Hartwig hat im Lexikon zur Parteiengeschichte 1983 den Artikel „Alldeutscher Verband“ beigesteuert.³⁷ Seine Quellenbasis war das im damaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam lagernde Verbandsarchiv. Sein Blick ist vor allem auf die Funktion des Verbandes für Monopolbourgeoisie und Finanzkapital gerichtet. Michel Korinman hat 1999 für den frankophonen Bereich eine materialreiche, sehr quellennahe Beschreibung ohne zugespitzte These vorgelegt.³⁸ Die jüngste und bisher umfangreichste Monographie zur Geschichte des Gesamtverbandes von
32 Die zuvor publizierten Darstellungen der Verbandsgeschichte wurden von den Alldeutschen selbst verfasst: Otto Bonhard, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, Leipzig/Berlin 1920; E. Pickel, Dem Alldeutschen Verbande zur 40 Jahr-Schau, Berlin 1930. Die zur Zeit der Weimarer Republik erstellte amerikanische Studie von Wertheimer konzentriert sich auf den Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg. Mildred S. Wertheimer, The Pan-German League 1890–1914, New York 1924. 33 Alfred Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890–1939, Wiesbaden 1954, S. II. 34 Rainer Hering kritisiert weitere methodische Unzulänglichkeiten: Hering, Nation, S. 18. 35 Sie waren einem Westdeutschen im Zentralen Staatsarchiv Potsdam damals nicht zugänglich, Kruck glaubte sie bei einem Bombenangriff vernichtet. Kruck, Geschichte, S. II. 36 Seine Schlussbemerkung macht noch einmal seine Herangehensweise deutlich: „Bei aller Kritik an seinen einzelnen Aktionen muss man doch anerkennen, dass der Alldeutsche Verband es vermocht hat, seinen Angehörigen eine wirkliche politische Heimat zu geben, und dass er ihnen darüber hinaus auch auf der rein menschlichen Ebene viel bedeutet hat.“ Kruck, Geschichte, S. 222. 37 Edgar Hartwig, Art. „Alldeutscher Verband“, in: Dieter Fricke/Werner Fritsch/Herbert Gottwald/Siegfried Schmidt/Manfred Weißbecker (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), 4 Bände, Köln/Leipzig 1983–1986, Band 1, S. 13–47. 38 Michel Korinman, Deutschland über alles. Le pangermanisme 1890–1945, Paris 1999.
8 Einleitung
Rainer Hering hat zwei Schwerpunkte. Sie beinhaltet zum einen eine Lokalstudie zur Ortsgruppe Hamburg und versucht zum anderen, die Rolle der Alldeutschen innerhalb der Entwicklung des deutschen Selbstverständnisses als Nation, ihren Beitrag zur „Nation als einer kulturellen Konstruktion“ herauszuarbeiten.³⁹ Die Phase der Weimarer Republik wird in einer kurzen Passage unter diesen Aspekten mitbearbeitet, steht aber nicht im Vordergrund. Dennoch geht Hering davon aus, dass dem Verband eine Bedeutung für diese Zeit zukommt, vor allem aufgrund seiner politischen Arbeit „gegen die Republik“ und der Radikalisierung seiner Grundauffassungen.⁴⁰ Während für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche Einzelstudien über den Verband vorliegen,⁴¹ ist die Anzahl der Arbeiten über den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Verbot 1939 begrenzt. Zwei ungedruckte Dissertationen aus den 1970er Jahren beschäftigen sich mit den Alldeutschen in der Weimarer Republik. Brewster Chamberlin betont die Bedeutung der Alldeutschen für die Vorgeschichte der NSDAP,⁴² er beschreibt ereignisgeschichtlich orientiert vor allem Kontroversen und persönliche Querelen der Alldeutschen mit anderen Protagonisten innerhalb der nationalistischen Rechten. Willi Krebs sieht die Verbandsarbeit als Teil der Interessenpolitik des Monopolkapitals. Er bleibt in seinen Aussagen in diesem Interpretationsrahmen gefangen und legt den Verband auf seine Rolle als „Instrument der aggressivsten Kräfte des deutschen Monopolkapitals“ fest.⁴³ Einige Aufsätze erörtern Teilaspekte der Geschichte der Alldeutschen in der Weimarer Republik, wie z.B. ihre Putschpläne in den Anfangsjahren⁴⁴ sowie ihre Kontakte zu Nationalsozialisten zu dieser Zeit.⁴⁵ Unter den jüngeren Arbeiten finden sich zwei biographisch orientierte Studien zu zwei profilierten alldeutschen Funktionären, die wertvolle Ausführungen zur Geschichte des Gesamtverbandes enthalten. Stefan Frech hat einen
39 Hering, Nation, 9. 40 Ebd., 153. 41 Siehe den bereits genannten Forschungsbericht von Peter Walkenhorst: Walkenhorst, Nation, 15–24. 42 Brewster Searing Chamberlin, The Enemy on the Right. The Alldeutscher Verband in the Weimar Republic, 1918–1926, Diss. Maryland 1972. 43 Willi Krebs, Der Alldeutsche Verband in den Jahren 1918–1939 – ein politisches Instrument des deutschen Imperialismus, Diss. Berlin (Ost) 1970, S. VII. 44 Axel Schildt, Der Putsch der „Prätorianer, Junker und Alldeutschen“. Adel und Bürgertum in den Anfangswirren der Weimarer Republik, in: Heinz Reif (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 103–125. 45 Joachim Petzold, Claß und Hitler. Über die Förderung der frühen Nazibewegung durch den Alldeutschen Verband und dessen Einfluss auf die nazistische Ideologie, in: Jahrbuch für Geschichte 21 (1980), S. 247–288.
Forschungslage
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der entscheidenden Initiatoren der Verbandsgründung, den Essener Verleger der Rheinisch-Westfälischen Zeitung Theodor Reismann-Grone, porträtiert.⁴⁶ Reismann verließ zwar im März 1915 den Verband aufgrund eines persönlich gefärbten Zerwürfnisses mit der Verbandsführung über die Frage des Erhaltes der Donaumonarchie und des deutschen Kriegseintrittes. Die Studie ist aber insofern von Interesse, als sie den Weg eines Alldeutschen beschreibt, der hartnäckig an seinen weltanschaulichen Grundauffassungen festhielt, auch außerhalb des Verbandes weiter dafür in den öffentlichen Meinungskampf zog und vorübergehend als Oberbürgermeister von Essen in der NSDAP Karriere machen konnte. Wie die meisten Alldeutschen schon allein wegen seines Alters von den Nationalsozialisten beargwöhnt, wurde er 1937 aus dieser Position verdrängt. Er teilte mit vielen seiner ehemals alldeutschen Gesinnungsgenossen das Schicksal des von den neuen Machthabern erzwungenen Rückzugs vom politischen Kampfplatz und entfremdete sich gekränkt und frustriert vom NSRegime, dessen geistige „Vaterschaft“ er nach wie vor beanspruchte.⁴⁷ Johannes Leicht tritt in seiner Biographie von Heinrich Claß, der von 1908–1939 den Verband als Vorsitzender geführt hat, sowohl den zeitgenössischen als auch den in der bisherigen Forschung vertretenen Positionen entgegen, die Claß als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des wilhelminischen Radikalnationalismus und der antidemokratischen Rechten in der Weimarer Republik dargestellt haben.⁴⁸ Er konzediert seiner Person eine nicht zu unterschätzende Rolle für die „Meinungsbildung im rechten Lager“, formuliert aber Zweifel an seinen „realpolitischen Einflussmöglichkeiten“⁴⁹ und konstatiert einen Widerspruch zwischen dem formulierten politischen Führungsanspruch von Claß und dem ihm zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum. In seinem Artikel „Alldeutscher Verband“ im Handbuch des Antisemitismus betont Leicht die „zentrale Rolle“ des Verbandes „im Spektrum der radikalnationalistischen Rechten“ sowie sein Bemühen, den „Boden des Rechtsstaates“ nicht zu verlassen.⁵⁰ Barry A. Jackisch beschreibt in seiner Studie die Rolle der Alldeutschen als Spalter innerhalb des rechten Spektrums der Weimarer Republik. Ihre arrogante und elitäre Strategie habe die Bildung eines moderaten, staatstragenden Konser-
46 Stefan Frech, Wegbereiter Hitlers? Theodor Reismann-Grone. Ein völkischer Nationalist 1863–1949, Paderborn 2009. 47 Ebd., S. 405–409. 48 Johannes Leicht, Heinrich Claß 1868–1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012. 49 Ebd., S. 16. 50 Ders., Art. „Alldeutscher Verband“, in: Benz (Hg.), Handbuch, Band 2, S. 9–12, hier: S. 10, 12.
10 Einleitung
vativismus verhindert und damit zur Destabilisierung der Republik und zum Durchbruch der NSDAP beigetragen.⁵¹ Die von Bjoern Hofmeister inzwischen abgeschlossene Arbeit liegt noch nicht im Druck vor und konnte leider nicht eingesehen werden. Im Abstract für die Verteidigung seiner Arbeit stellt Hofmeister sie als Fallstudie für ideologische Nähe und organisatorische Zusammenarbeit zwischen „alten“ und „neuen“ Radikalnationalisten vor. Er erläutert die weltanschaulichen, sozialen und kulturellen Grenzen des alldeutschen Milieus, tritt der Vorstellung von Kontinuitäten zwischen alten und neuen Eliten nach 1918 entgegen und schließt sich der These von Jackisch an, wenn er den alldeutschen Beitrag zur Fragmentierung der Rechten als Hilfestellung für die Machteroberung der NSDAP beschreibt.⁵² Die vorliegende Studie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit eines bürgerlichen Extremismus, wie ihn die Alldeutschen repräsentiert haben. Sie gibt eine Darstellung des politischen Denkens und Handelns führender Alldeutscher in der Weimarer Republik, porträtiert eine Reihe alldeutscher Akteure und diskutiert den Stellenwert alldeutscher Interventionen innerhalb der politischen Kultur der Weimarer Republik. Sie ist motiviert durch den verstörenden Sachverhalt des ausgeprägt antihumanen Extremismus der politischen Positionen, die von Studienabsolventen und Ordinarien deutscher Universitäten mit humanistischer Tradition ausformuliert und propagiert worden sind.
Quellen Das Hauptschwergewicht der Quellenarbeit lag auf Material, das der Verband selbst bzw. einzelne Mitglieder produziert haben. Die noch erhaltenen Teile des Verbandsarchivs, die inzwischen im Bundesarchiv Berlin lagern,⁵³ umfassen 720 Archivbände. Sie sind zwischen 1941 und 1943 vom ehemaligen Verbandsvorsitzenden nach vorheriger umfangreicher Bereinigung und nach Fertigstellung des zweiten Teils seiner Lebenserinnerungen an das Reichsarchiv übergeben
51 Barry A Jackisch, The Pan-German League and Radical Nationalist Politics in Interwar Germany, 1918–1939, Farnham/Burlington 2012, S. 186–188. 52 Björn Hofmeister, Between Monarchy and Diktatorship. Radical Nationalism and Social Mobilisation of the Pan-German League, 1914–1939, Ph.D. Thesis, Georgetown University, Doctoral Defense Monday, January 23, 2012, Abstract, URL: http://events.georgetown.edu/events/ index.cfm?Action=View&CalendarID=739&EventID=91467 (7.11.2012). Die Veröffentlichung der Studie ist in Vorbereitung. 53 BArch R 8048.
Quellen
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worden.⁵⁴ Sie geben vor allem einen Einblick in das Innenleben des Verbandes und enthalten neben dem umfangreichen Schriftverkehr mit Organisationen und Einzelpersonen Sitzungsprotokolle der Verbandsgliederungen, zum Teil mit Auflistungen und Berufsangaben ihrer einzelnen Mitglieder, weiterhin Pressespiegel, juristische Schriftsätze, Denkschriften, Eingaben und sonstige öffentliche Stellungnahmen, sowie Exemplare des Verbandsorgans Alldeutsche Blätter und einzelne Ausgaben der 1917 von den Alldeutschen erworbenen Deutschen Zeitung. Weitere Verbandsakten konnten im Staatsarchiv Hamburg und im Stadtarchiv Lübeck eingesehen werden. Nachlässe von Alldeutschen wurden im Bundesarchiv Koblenz bearbeitet, darunter das als Nachlass Claß gekennzeichnete über 1000-seitige Manuskript des bisher unveröffentlichten zweiten Teils der Lebenserinnerungen des Verbandsvorsitzenden für die Jahre 1915 bis 1933.⁵⁵ Der erste Teil war 1932 unter dem Titel „Wider den Strom“ als Buch erschienen, vom Autor als „Rechenschaftsbericht über meine politische Wirksamkeit“ und „Teil meiner Lebensarbeit“ gekennzeichnet, und in der Hoffnung auf entsprechende Beachtung und Anerkennung für „vier Jahrzehnte geführte[n] Kampf gegen die Zeitströmungen“⁵⁶ im Buchhandel als „ein ganz großes Lehrbuch der Politik“⁵⁷ angekündigt worden. Beide Teile geben nicht nur wertvolle Auskunft über Rollenbewusstsein und Selbstzuschreibungen des Autors, sie ermöglichen auch einen Einblick in die inneren Befindlichkeiten und Motivationslagen anderer Alldeutscher. Da Memoirenliteratur grundsätzlich ihren Erzählgegenstand „in der spezifischen Brechung durch das Erzähler-Ich“ konstituiert,⁵⁸ geht es bei ihrer Verwertung als Quelle weniger um eine „objektive Rekonstruktion der historischen Ereignisse“ als um die „eigene subjektive Wahrheit“, die der Verfasser den Tatsachen und Sachverhalten zugewiesen hat.⁵⁹
54 Vgl. Hering, Nation, 21. 55 Dieser Teil der Lebenserinnerungen wurde erst 1967 von Claß’ Tochter dem Bundesarchiv Koblenz übergeben. Vgl. Leicht, Claß, 34. Er lagert inzwischen im Bundesarchiv Berlin unter BArch N 2368. Eine kritische Edition wird unter Leitung von Uwe Puschner und Mitarbeit von Björn Hofmeister am Friedrich Meinecke Institut der Freien Universität Berlin erarbeitet. Projekttitel: Heinrich Claß. Politische Erinnerungen des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes 1915–1933/36. 56 Heinrich Claß, Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reich, Leipzig 1932, Vorwort ohne Seitenangabe, Berlin 2. Juli 1932. 57 Zitiert nach: Leicht, Claß, 35. 58 Marina Stadler, Rollenbewusstsein und Subjektivität. Eine literartypische Untersuchung politischer Memoiren am Beispiel von Otto von Bismarcks „Erinnerung und Gedanke“, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1991, S. 26. 59 Ebd., S. 53, 91.
12 Einleitung
Komplette Jahrgänge des Verbandsorgans Alldeutsche Blätter und der Deutschen Zeitung wurden im Institut für Zeitungsforschung in Dortmund ausgewertet, wo auch punktuell andere Zeitungen in die Studie einbezogen wurden. Die übrigen Verbandspublikationen – Bücher, Broschüren, Zeitschriften, sowie die 1917 gegründete alldeutsche Monatsschrift Deutschlands Erneuerung – fanden sich in den bereits genannten Archiven, in der Universitätsbibliothek Heidelberg sowie im Universitätsarchiv Heidelberg. Veröffentlichungen einzelner Alldeutscher und kleinere Zeitschriften, an denen Alldeutsche beteiligt waren, wie Der Panther oder Auf Vorposten, die Monatsschrift des Verbandes gegen Überhebung des Judentums, waren in der Universitätsbibliothek Heidelberg zugänglich. Zur Darstellung der juristischen Auseinandersetzungen um alldeutsche Putschpläne und ihre öffentliche Verhandlung im Reichstag konnten Akten des Reichsjustizministeriums im Bundesarchiv Berlin⁶⁰ sowie die Verhandlungsprotokolle des Deutschen Reichstages ausgewertet werden. Die Rolle einzelner Alldeutscher in der spezifischen Szene der Münchener Nachkriegsjahre wurde anhand von Beständen in Münchener Archiven zu rekonstruieren versucht. Die Quellen sind für die vorliegende Studie nicht nur befragt worden, sie werden auch prominent zu Wort kommen. Dies ist der Überzeugung geschuldet, dass die Rekonstruktion von Denken und Handeln in politischen Diskursen der Auseinandersetzung mit der „historischen Originalsprache“⁶¹ genauso bedarf wie ihrer Präsentation. Als „alldeutsch“ werden im Folgenden diejenigen Positionen gekennzeichnt, die sich in alldeutschen Publikationen artikuliert haben bzw. von Verbandsmitgliedern vertreten worden sind. Dies beinhaltet keinen Exklusivitätsanspruch. Alldeutsche haben sich in der Rolle des Rezipienten genauso betätigt wie in der des Katalysators und des Konzeptstrategen.
60 BArch R 5036/8; BArch R 3001. 61 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1974, S. 26, zitiert nach Bruno W. Reimann, Zum politischen Bewusstsein von Hochschullehrern in der Weimarer Republik und 1933, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/ Gerda Stuchlik (Hg.), Hochschule und Nationalsozialismus. Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsbetrieb als Thema der Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 1990, S. 22–48, hier: S. 27.
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1.1
Alldeutsche im Kaiserreich: aggressive Artikulation bürgerlicher Partizipationserwartungen Ein „Nationalverein“ für Weltmachtpolitik
Bereits die erste Schrift, die der Entstehungsgeschichte des Alldeutschen Verbandes zugerechnet werden kann, war ein prägnanter Aufruf zu politischer Partizipation. Er propagierte eine „Massenbittschrift“ an den Deutschen Reichstag und formulierte die Überzeugung, dass ein solches Vorgehen „nicht unerhört verhallen“ werde.¹ Der Text erschien im Juni 1890 in einigen Tageszeitungen Süd- und Westdeutschlands als Anzeige,² sprach sich vehement gegen den wenige Tage zuvor veröffentlichten Entwurf des sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrages aus und forderte dazu auf, dem deutschen Reichstag gegenüber die „Verzweiflung“ derjenigen zu artikulieren, die „mit jeder Faser ihres Herzens an Deutschland“ hingen.³ Es bedurfte einiger Anstrengungen, bis aus dieser Initiative im Jahr 1894 der Alldeutsche Verband hervorging,⁴ bereits in diesem Text jedoch manifestierte sich die Mischung aus Partizipationswillen und aggressiver Maßlosigkeit, die die Arbeit des Verbandes bis zu seinem Verbot 1939 kennzeichnen sollte. Die Autoren, vier junge in der Schweiz lebende Deutsche,⁵ begriffen das von ihnen abgelehnte Abkommen zwischen der deutschen und der britischen Regierung als „schmerzliche Demütigung“ und gaben sich überzeugt, dass die Artikulation von „Wunsch und Wille[n] der Nation“ nicht unbeachtet bleiben werde.⁶ Ihre rhetorische Frage
1 Der vollständige Text des Aufrufes unter dem Titel „Deutschland wach’ auf!“ ist abgedruckt in: Bonhard, Geschichte, S. 233–237. Der Text wird im Folgenden als „Gründungsaufruf“ zitiert. 2 Darunter die nationalliberale Kölnische Zeitung und die linksliberale Frankfurter Zeitung. Bonhard, Geschichte, S. 2; vgl. Klaus Wernecke/Peter Heller, Der vergessene Führer. Alfred Hugenberg, Pressemacht und Nationalsozialismus, Hamburg 1982, S. 19. 3 „Gründungsaufruf“ 4 Zu den anfänglichen Komplikationen der Gründungsgeschichte bis zur Konsolidierung des Verbandes 1894 siehe Chickering, We Men, S. 44–53; Hering, Nation, S. 110–118; Frech, Wegbereiter, S. 94–102. 5 Der Hauptautor des Aufrufes Adolf Gaston Fick (1852–1937) lebte als erfolgreicher Augenarzt in Zürich und galt als führendes Mitglied in der dortigen „Deutschen Kolonie“. Mitunterzeichner waren zwei Mediziner-Kollegen, Walter Felix (1860–1930) und Otto Lubarsch (1860–1933), sowie der Buchhändler Albert Müller (1852–1930). Vgl. Klaus Urner, Die Deutschen in der Schweiz. Von den Anfängen der Kolonienbildung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Frauenfeld 1976, S. 532. 6 „Gründungsaufruf“, in: Bonhard, Geschichte, S. 233–237.
14 1 Alldeutsche im Kaiserreich
lautete, wer ein im Krieg erprobtes Fünfzig-Millionen-Volk daran hindern könne, einen solchen Vertrag zu „zerreißen“. Die Formulierungen sind ein Zeugnis für das in der Forschung konstatierte „spezifische Gemisch von Partizipation und Aggression“ in einer politischen Argumentation, die der Denkfigur der Nation als „Letztwert gesellschaftlicher Legitimität“ folgt. Zwischen diesen beiden „Hauptpolen“, die nach Dieter Langewiesche die entscheidenden Elemente für die dynamische Entwicklung des Nationalismus darstellen, hat sich die Arbeit des Alldeutschen Verbandes in der Folgezeit entfaltet.⁷ Der aktuelle Zorn der jungen Autoren richtete sich im Sommer 1890 gegen das britisch-deutsche Abkommen zur Definition der beiderseitigen Interessensphären, Gebiets- und Hoheitsansprüche in Afrika, das weitere deutsche Forderungen begrenzte und im Gegenzug die Insel Helgoland in deutschen Besitz brachte.⁸ Die Verfügungsgewalt über Helgoland war ein Herzensanliegen Wilhelms II., in dessen Vorstellung der Nordseefelsen eine strategisch prominente Rolle im Rahmen der Flottenrüstung spielen sollte. Die Vorverhandlungen zu dieser Vereinbarung waren 1889 noch unter Bismarck geführt worden, dem es weniger um Flottenrüstung als vielmehr um die Abschwächung der kolonialen Gegensätze zu England gegangen war.⁹ Die Verfasser des Protestaufrufes „Deutschland wach auf!“ hatten weiterreichende Ziele. Sie glaubten sich und ihre Nachfahren um ihren „Erbteil am Planeten“ betrogen und formulierten eine klare Vision. Sie wollten „einem Herrenvolk“ angehören, „das seinen Anteil an der Welt sich selber nimmt.“¹⁰ Der Realisierung dieser Vision verschrieben sich in der Folgezeit eine Reihe junger Männer, unter ihnen der damals 25-jährige Alfred Hugenberg, die sich in Reaktion auf diesen Aufruf zusammenfanden. Sie entwickelten den Plan zur Gründung einer Vereinigung, „eine[r] Art Nationalverein“, der bei ähnlichen Anlässen wie dem Helgoland-Sansibar-Vertrag „öffentlich auftreten“ sollte, um „ohne Furcht und Scheu vor der Regierung oder den Parteileitern“ das auszusprechen, was die „Herzen bewegt“, und entsprechende Forderungen gegenüber der Regierung zu vertreten.¹¹ 7 Vgl. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 41. 8 Zum genaueren Vertragsinhalt und seiner falschen Wiedergabe in der Öffentlichkeit als „Tausch Helgolands gegen Sansibar“, an der die Verbandsinitiatoren einen erheblichen Anteil hatten, siehe Andreas Birken, Der Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographie-Unterricht, Band XV, Braunschweig 1974, S. 194–204. 9 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 622f.; Michael Stürmer, Das Deutsche Reich 1870–1919, Berlin 2002, S. 233. 10 „Gründungsaufruf“, in: Bonhard, Geschichte, 233–237. 11 Antwort auf die Zuschriften nach Publikation des Aufrufs „Deutschland wach auf“, in: Bonhard, Geschichte, 239.
1.1 Ein „Nationalverein“ für Weltmachtpolitik
15
Mit dem Rekurs auf den Deutschen Nationalverein von 1859 orientierten sie sich an der Organisation des deutschen Liberalismus, die noch vor der Reichsgründung einen wesentlichen Beitrag zur „politischen Konstituierung des deutschen Bürgertums“ geleistet hatte.¹² Der Verein hatte bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes für die Schaffung eines deutschen Nationalstaates unter Führung Preußens geworben. Er stellte einen frühen Typus des Agitationsverbandes dar, einer Vergemeinschaftungsform, der die Alldeutschen nach ihrer Gründung zu einem bedeutenden Einfluss auf die politische Öffentlichkeit verhelfen konnten. Der Nationalverein konnte sein Konzept, mit Aufklärungs- und Erziehungsarbeit eine Mobilisierung und Politisierung für die nationale Einheit zu erreichen, nur bis zu seiner Auflösung 1867 verfolgen.¹³ Die Koalition aus Demokraten und Liberalen zerbrach am preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt.¹⁴ Die Initiatoren der alldeutschen Verbandsgründung griffen 1890 erfolgreich das Aufklärungs-, Erziehungs- und Mobilisierungskonzept des Nationalvereins wieder auf und versahen es mit dem Ziel der Weltmachtpolitik. Preußenaffinität und Bismarckverehrung blieben Kennzeichen der Ausrichtung ihres Verbandes. Die Korrespondenz Alfred Hugenbergs im Vorfeld der Verbandsgründung weist Elemente auf, die den bürgerlichen Charakter des Projektes verdeutlichen. Es sollte im persönlichen Bekanntenkreis, unter den „gebildeten Erwerbskreisen“ als den „unabhängigsten Elementen“ des Volkes geworben werden.¹⁵ Die zu schaffende Organisation sollte „in der Bürgerschaft selbst wurzelnd“ eine Mittelpunktsfunktion für „alle nationalen Bestrebungen“ erhalten. Eine „genügend starke öffentliche Meinung“ für die „nationalen Interessen“ sollte geschaffen werden, falls es erneut zu Verhandlungen mit „fremden Nationen“ über „wertvolle überseeische Gebiete“ kommen sollte.¹⁶ Selbstbewusst ging man davon aus, dass man als „öffentliche Meinung“ die Möglichkeit hatte, Entschei-
12 Shlomo Na’aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859–1867, Düsseldorf 1987, S. 317. 13 Vgl. Hans-Peter Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 52, 109f. 14 Zur Geschichte des Deutschen Nationalvereins siehe auch Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994; ders. (Hg.), Der deutsche Nationalverein 1859–1867. Vorstands- und Ausschussprotokolle, Düsseldorf 1995. 15 Rundschreiben Hugenbergs vom 1. August 1890, zit. nach Bonhard, Geschichte, S. 241f. Hugenberg erklärte darin, er habe „vorläufig die Geschäftsführung in dieser Angelegenheit“ übernommen; vgl. Wernecke/Heller, Führer, 27. 16 Hugenberg in einem „Entwurf einer Adresse an Herrn Dr. Carl Peters“, zitiert nach Bonhard, Geschichte, S. 243. Der Kolonialpionier Peters sollte nach Hugenbergs Vorstellung seinen prominenten Namen für den Vorsitz des Verbandes zur Verfügung stellen, begnügte sich jedoch schließlich im April 1891 „mit Rücksicht auf seine Staatsdienste“ mit einer Ehrenmitgliedschaft im Präsidium des Verbandes. Wernecke/Heller, Führer, 28.
16 1 Alldeutsche im Kaiserreich
dungen der Exekutive zu beeinflussen. Der Begriff der „öffentlichen Meinung“, der hier von ihren selbsternannten Protagonisten verwendet wurde, entsprach dem Bild, das in nationalliberalen Kreisen des Bürgertums gepflegt wurde. Die öffentliche Meinung galt als eine Exklusivveranstaltung berufener Männer, die ihre Auffassungen wie ihre Interessen zu artikulieren wussten und klare Vorstellungen davon hatten, „was dem Volk Not tut“.¹⁷ Wesentliche Elemente bürgerlichen Selbstverständnisses fanden sich hier vereint: Bürgerstolz, Eigenständigkeit, Bildungsorientierung, Tatendrang, rationales Kalkül.¹⁸ Darüber hinaus können in der Verbandsgründungsinitiative weitere Kennzeichen ausgemacht werden, die sie als Teil des Verbürgerlichungsprozesses von Mittelschichten ausweisen. Max Weber hat für deren weitere Verselbständigung die Kriterien Autonomie und Autokephalie genannt. Sowohl Autonomie im Sinne „der Fähigkeit eines Verbandes, seine Ordnung selbst zu regeln“, als auch Autokephalie als „Fähigkeit, den Leiter und den Verbandsstab nach den eigenen Ordnungen zu bestellen“, treffen für die Gründung und weitere Existenz des Alldeutschen Verbandes zu.¹⁹ Welcher Stellenwert für Vergemeinschaftungsprozesse innerhalb des Bürgertums ihm zugemessen werden kann, wird noch zu erörtern sein.²⁰ Zunächst soll das Augenmerk auf drei weitere Aspekte gelenkt werden, die in diesen ersten Texten der Alldeutschen hervortreten und die sich wie ein roter Faden durch die Publikationen des Verbandes ziehen, ihre emotionale, moralische und erzieherische Grundierung. Hochgradig emotional aufgeladene Bilder werden im Aufruf vom Juni 1890 evoziert: In „tiefstem Schmerz“ betrachte man die deutsche Geschichte der letzten Jahrhunderte, da Deutschland sich in
17 So 1895 in einem Artikel der Zeitschrift „Die Grenzboten“, der führenden Zeitschrift des national-liberalen Bürgertums. Der Privatgelehrte Carl Jentzsch beschrieb sie dort als „Übereinstimmung aller, die überhaupt eine Meinung haben“. Sie bilde sich „unter der Leitung wahrheitsliebender und friedlicher Männer“, die „erkennen, was dem Volk Not tut, und es herbeizuführen bestrebt sind. Was dort übereinstimmend ausgesprochen wird, kann auch als öffentliche Meinung gelten, aber als eine von der echten, rechten Art.“ Die Grenzboten 54 (1895), zitiert nach: Rüdiger vom Bruch, Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreiches, in: Ders./Hans-Christoph Liess (Hg.), Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich, Stuttgart 2005, S. 350–394, hier: S. 353; siehe auch ders., Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, S. 417. 18 Vgl. M. Rainer Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert; Göttingen 1987, S. 79–100, hier: S. 79; Kondylis, Niedergang, S. 40. 19 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage, Tübingen 1972, S. 26f.; Lepsius, Soziologie, 82. Zur inneren Organisations- und Sozialstruktur des Verbandes siehe Kapitel 2.2. 20 Rüdiger vom Bruch geht davon aus, dass die Agitationsverbände um die Jahrhundertwende andere traditionelle bürgerliche Gesellungsformen zurückdrängten. Vgl. vom Bruch, Kunst- und Kulturkritik, S. 351.
1.1 Ein „Nationalverein“ für Weltmachtpolitik
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„unfruchtbaren Religionskriegen […] zerfleischt“ habe, während England und Frankreich aus ihren Bürgerkriegen als „geschlossene Nationen“ hervorgegangen seien. Die „furchtbaren Opfer an Blut“ sollten nicht umsonst gewesen sein, es sei „heiligste Pflicht gegen das Vaterland“, der durch den Vertrag zugefügten „schmerzlichen Demütigung“ ein „mannhaftes ‚Nein’ entgegen zu setzen“, denn „helle Verzweiflung“ habe sich der Herzen bemächtigt.²¹ Enttäuschung, Empörung und Empfindungen von Minderwertigkeit sprechen aus diesen Formulierungen genauso wie der leidenschaftliche Wunsch, es den anderen Nationen gleichzutun. Die Emotionalität, mit der die Forderungen und ihre Begründung in den Texten des Verbandes vorgetragen werden, soll im Verlauf dieser Studie nicht als propagandistisches Wortgetöse abgetan werden. Es wird vielmehr darauf ankommen, auch und gerade die emotionalen Befindlichkeiten in den Blick zu nehmen, die aus der Textproduktion der Alldeutschen sprechen, sowie die Entwicklung zu verfolgen, die einzelne Emotionen in ihrer Wertigkeit im Verlauf der Verbandsgeschichte erfahren haben. Jüngere Forschungen haben vor allem auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse der Bedeutung von Gefühlen für menschliches Denken und Handeln einen differenzierteren Stellenwert zugewiesen.²² Sowohl der heftige Partizipationswille, der aus den ersten alldeutschen Texten spricht, als auch die aggressive Form seiner Artikulation deuten daraufhin, dass die Handlungsmotivation der Akteure nicht nur rationalem Kalkül entsprungen ist, sondern von tiefempfundenen Emotionen begleitet wurde. Moralisch argumentierte der Aufruf von 1890 insofern, als für geleistete Opfer Gerechtigkeit eingefordert wurde. Man habe nicht nur Blut und Besitz geopfert, sondern auch „Ansehen und Ehre“ aufs Spiel gesetzt, für Ansehensverlust und Demütigungen solle ein Ausgleich geschaffen werden, man habe Anrecht auf einen Preis, „der des Opfers wert“ sei. Die Exzessivität der daraus abgeleiteten Forderung, man wolle sich seinen „Anteil an der Welt“ nun selbst nehmen, muss nicht so gedeutet werden, dass die Autoren nicht selbst von der Rechtschaffenheit ihrer Vorstellungen überzeugt waren. Gleichgültig, wie „bizzar“, „unrealistisch“ oder auch „skurril“ (Rainer Hering)²³ ihre Grundüberzeugungen im Nachhinein wirken mögen, es geht darum nachzuzeichnen, auf welchen Wegen sie sich aus einer zunächst peripheren Position in die Mitte der Gesellschaft vorarbeiten konnten.
21 „Gründungsaufruf“, in: Bonhard, Geschichte, S. 233–237. 22 Vgl. Birgit Aschmann, Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, München 2005; Claudia Wassmann, Die Macht der Emotionen, 2. Auflage, Darmstadt 2010. 23 Hering, Nation, S. 8.
18 1 Alldeutsche im Kaiserreich
Das explizite Ziel der „Schaffung einer nationalen Moral“ wurde von Hugenberg in seiner bereits zitierten Adresse an Carl Peters formuliert.²⁴ Ihre Implementierung sollte auf dem Weg eines Erziehungsprozesses erfolgen, dem sich der neu zu gründende Verband als „oberste Aufgabe“ zu widmen habe.²⁵ Der nach einigen Anlaufschwierigkeiten im April 1891 verabschiedete Gründungsaufruf kündigte eine „Belehrung“ des Volkes „in Wort und Schrift“ an und drückte die Hoffnung aus, „die deutsche Nation mehr und mehr mit dem Geist einer entschlossenen Weiterentwicklung“ der Machtstellung des Deutschen Reiches „in Europa und über See“ zu erfüllen.²⁶ Diesem erzieherischen Impetus ist der Verband in seiner wechselvollen Geschichte treu geblieben. Die bildungsbürgerliche Grundüberzeugung, dass „den Gebildeten“ eine volkserzieherische Verantwortung zukomme, dass ihnen eine Art „Vormundschaft“ gegenüber dem „ungebildeten Volk“ übertragen sei,²⁷ war im Alldeutschen Verband eine allgemein anerkannte Maxime.²⁸
1.2 Die „wahren Söhne der Sieger“ auf dem politischen Massenmarkt Wenige Wochen nach Erscheinen des Aufrufes „Deutschland wach auf“ reiste sein Autor Adolf Fick von Zürich nach Deutschland, um sich mit zwei jungen Männern zu beraten, die sich in zustimmenden Briefen an ihn zu weiteren Aktivitäten angeboten hatten. In Hildesheim traf er den 25-jährigen Alfred Hugenberg, der dort nach abgeschlossenem Jurastudium und Promotion in Staatswissenschaften seinen Referendardienst ableistete. In Düsseldorf besprach er sich mit dem 27-jährigen Nationalökonomen Theodor Reismann, der als Journalist gerade in einem machtvollen Karrieresprung die Leitung des Zentralen Pressebüros des größten
24 Wernecke/Heller, Führer, S. 28. 25 Zum Zusammenhang von Nationalismus als „moralisches Postulat“ und dem „Selbstbild des Mittelstandes“ siehe Mario Rainer Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966, S. 12, 14. 26 „Gründungsaufruf“, in: Bonhard, Geschichte, 233–237. 27 Hans-Ulrich Wehler, Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive – Elemente eines „Sonderwegs“?, in: Kocka, Bildungsbürgertum, Teil IV, S. 215–237, hier: S. 222. 28 Selbst wenige Monate nach der Kriegsniederlage, die allen hochfliegenden nationalistischen Plänen ein Ende gesetzt hatte, forderte er im Februar 1919 erneut die planmäßige Erziehung „zu stolzem Nationalgefühl“ mit der Begründung, der „schmachvolle Zusammenbruch“ sei gerade eine Folge „fehlenden Nationalgefühls“gewesen. „Bamberger Erklärung“, in: Bonhard, Geschichte, S. 259–268.
1.2 Die „wahren Söhne der Sieger“ auf dem politischen Massenmarkt
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Interessenverbandes der deutschen Bergbauindustrie, des Bergbau-Vereins in Essen, übernommen hatte.²⁹ Man einigte sich darauf, unter dem Leitsatz „Deutschland über Alles“ im Deutschen Reich eine Vereinigung ins Leben zu rufen, die ohne politische Rücksichtnahme gegenüber Parteien oder Regierungen für den Aufbau einer deutschen Weltmachtstellung arbeiten sollte. Mit der Bezugnahme auf den 1841 von Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland im Zuge der deutschen Einigungsbewegung verfassten Text bemächtigten sich die jungen Verbandsgründer einer Formulierung, die semantisch durch ein hohes Maß an „utopischem Überschusspotenzial“ (Reinhart Koselleck) gekennzeichnet war.³⁰ In der Folgezeit leisteten sie ihren eigenen Beitrag zur Umdeutung und machtpolitischen Ausweitung des Wunschbildes „Deutschland über Alles“. Zunächst allerdings stießen die geplante Verbandsgründung sowie die Radikalität der politischen Novizen auf Zurückhaltung. Auch als der von ihnen umworbene erfahrene Kolonialpropagandist und -unternehmer Carl Peters nach anfänglichem Zögern im April 1891 zur Gründungsversammlung erschien, herrschte bei anderen Beteiligten aus der Kolonialbewegung Skepsis. Die „Schweizer Gruppe“ unter Führung von Fick, Hugenberg und Reismann drängte auf parteipolitische Unabhängigkeit und gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die Presse, eventuell durch Einrichtung eines eigenen Pressebüros.³¹ Sie favorisierte nicht nur eine offensive Kolonialpolitik, sondern auch den Kampf um deutsche Interessen auf dem Kontinent. „Deutschnationale Bestrebungen“ sollten überall in Europa gefördert, „deutsche Elemente“, wie z.B. Flamen, Niederländer, Deutschschweizer und Österreicher, sollten zusammengefasst werden.³² Sowohl der aggressive Stil als auch die erweiterten Kampfziele wurden von den Honoratioren der Kolonialbewegung, die zunächst die Leitungsgremien des Verbandes dominieren konnten, eher geduldet als gefördert. Ein Teil von ihnen trat bereits 1893 wieder aus, nachdem die Gründungsinitiative für eine „Nationalpartei“, für die sie den Verband zu funktionalisieren versucht hatten, gescheitert war. Angeregt von Reismann, der nach diesem Debakel die Gründungsgruppe von 1890 erneut zusammenrief, um die Vereinigung in seinem Sinne zu retten, bemächtigte sich die „Schweizer Gruppe“ der Vorstandsmehrheit, um aus dieser Initiative schließlich die Organisation hervorgehen zu
29 Vgl. Frech, Wegbereiter, S. 95. 30 Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. Zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349–375, hier: S. 367. 31 Stefan Frech hat die Benennung „Schweizer Gruppe“ gewählt. Frech, Wegbereiter, S. 97. 32 Vgl. Bonhard, Geschichte, S. 4, 55.
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lassen, die sich seit Juli 1894 „Alldeutscher Verband“ nannte.³³ Die jüngeren, unabhängigeren, radikaleren Protagonisten hatten sich gegenüber den etablierten Parlamentariern und Unternehmern aus der Kolonialbewegung durchgesetzt. Damit konnte sich innerhalb des bürgerlichen Lagers eine neue Form politischen Partizipationswillens artikulieren, der sich nicht mehr an politische Konventionen und Rücksichten gebunden sah und der nicht mehr nur darauf abzielte, die Führungseliten zu beeinflussen, sondern der als populistischer Agitator in die „politische Arena“³⁴ eintrat. Es traten die „wahren Söhne der Sieger“ auf den Plan, die den Krieg von 1871 als „Urerlebnis“ ihrer Kindheit erinnerten und „wussten, dass Deutschland etwas Großes war“.³⁵ Dieses Empfinden konstituierte nicht nur die Basis für eine enge Bindung eines Teils der Gründerväter und späteren Funktionäre untereinander, es generierte auch einen veränderten Begriff von Nation. Hugenberg postulierte: „Bei dem bisher Erreichten stehen bleiben, hieße […] die Zukunft verscherzen“.³⁶ Der Verband solle alle „diejenigen Deutschen im In- und Auslande ohne Unterschied der Partei“ zusammenfassen, die die „siegreiche Schaffung des deutschen Reiches“ lediglich als „Grundlage einer größeren nationalen Entwicklung“ ansahen.³⁷ Fünf Jahre vor dem fast gleichaltrigen Max Weber formulierte Hugenberg hier bereits, was dieser im Rahmen seiner vielzitierten Antrittsvorlesung an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg im Mai 1895 propagieren sollte: „Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.“³⁸
33 Diese Darstellung folgt im Wesentlichen den neueren Erkenntnissen von Stefan Frech, der die von den meisten Historikern übernommene Schilderung von Otto Bonhard, nach der Hugenberg der entscheidende Initiator gewesen sein soll, korrigieren konnte. Vgl. Frech, Wegbereiter, S. 95–98. 34 Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890–1918, Berlin 1995, S. 126. 35 Alfred Hugenberg, Rückblick und Ausblick. Denkschrift aus dem Jahre 1917, in: Ders., Streiflichter aus Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1927, S. 198. 36 Hugenberg in einer Druckschrift vom 1. Dezember 1890, zitiert nach: Dankwart Guratzsch, Macht durch Organisation. Die Grundlegung des Hugenbergschen Presseimperiums, Düsseldorf 1974, S. 23. 37 Hugenberg in einem Entwurf für die Gründung einer Ortsgruppe Hildesheim des AV, zitiert nach ebd. 38 Zitiert nach: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 1, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 266. Max Weber war von 1893–1899 Mitglied des AV. Sein Austritt wurde durch alldeutsche Zugeständnisse an konservative Agrarinteressen provoziert. Webers Forderung nach Schließung der deutschen Ostgrenze für polnische Wanderarbeiter wurde vom Verband nicht unter-
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Dieses von Weber genutzte Bild der jugendfrischen Nation, die sich tatbereit zum Aufstieg in die Liga der Weltmächte präsentiert, erfuhr nach Feststellung Wolfgang J. Mommsens einen „ungeheuren Widerhall“³⁹ und die Initiatoren der alldeutschen Verbandsgründung durften sich bestätigt fühlen. Max Weber sollte sich auch noch nach seinem Austritt aus dem Verband 1899 zu dessen weltpolitischen Zielprojektionen bekennen. Er ging erst im Verlauf des Ersten Weltkrieges auf Distanz zu den Alldeutschen.⁴⁰ Zwei Jahre nach Webers öffentlichem Aufruf zur Weltmachtpolitik legte der Leipziger Statistikprofessor Ernst Hasse, der im Sommer 1893 von der „Schweizer Gruppe“ im Verband als Vorsitzender durchgesetzt worden war,⁴¹ die Ausformulierung des alldeutschen Konzeptes für eine „Deutsche Weltpolitik“ vor. Es beinhaltete einen Expansionsplan für Mitteleuropa in Form eines „staatsrechtlichen Zusammenschlusses“ mit den „übrigen Staaten germanischer Art“. Im Anschluss sollten die Deutschen ihre „Herrschaft über Naturvölker und Völker niederer Kultur“ errichten und auf diese Weise ein „modernes deutsches Weltreich“ schaffen. Sie seien zu dieser Rolle in besonderer Weise ermächtigt, denn: „Das deutsche Volk ist ein Herrenvolk, als solches soll es auch von den anderen Mächten überall auf der Erde geachtet und beachtet werden.“ Zur Realisierung dieses Anspruches müsse es einer intensiven Erziehungs- und Agitationsarbeit unterworfen werden, um „deutschnationale Gesinnung“ zu beleben, „deutsche Art und Sitte in Europa und über See zu erhalten“ und die „Zusammenfassung des gesamten Deutschtums auf der ganzen Erde“ zu erreichen.⁴² Teilziele dieser politischen Vision verfolgten Alldeutsche bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur mit Hilfe ihres eigenen Verbandes. Der territorialen Expansion in Osteuropa, der Bereitstellung der militärischen „Machtmittel“ in Form von Heer und Flotte sowie dem Kampf gegen die Sozialdemokratie, die solchen Projekten in ihren Augen entgegenstand, dienten eine Reihe von Sonderorganisationen, die von ihnen initiiert oder mit ihrer organisatorischen Unterstützung auf den Weg gebracht wurden: 1894 der Deutsche Ostmarkenverein, 1898 der stützt. In seiner Austrittserklärung bekräftigte er allerdings weiterhin seine „lebhaften Sympathien für die Bestrebungen des Verbandes“. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Auflage, Tübingen 1974, S. 58f. Eine endgültige Distanzierung Webers von den Alldeutschen geschah erst 1915 in Reaktion auf die Kriegszielagitation des Verbandes, die er für völlig verfehlt hielt. Vgl. ebd., S. 212–215. 39 Ebd., S. 74. 40 Zum weiteren Verhältnis Max Webers zu den Alldeutschen siehe Kapitel 2.8.1. Dietrich Schäfer. 41 Vgl. Guratzsch, Macht, S. 25; Hasse bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod am 12. Januar 1908. 42 Ernst Hasse, Deutsche Weltpolitik, Leipzig 1897, S. 14f.
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Deutsche Flottenverein, 1904 der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und 1912 der Deutsche Wehrverein.⁴³ Dieses organisatorische „Prinzip der Dezentralisation“ geht, wie Dankwart Guratzsch dargelegt hat, auf Anregungen und Erfahrungen Alfred Hugenbergs zurück, der dem Geschäftsführenden Ausschuss des Verbandes von 1894 bis 1903 angehörte, es jedoch mit bewusstem Kalkül vermied, sich in exponiertere Leitungspositionen wählen zu lassen.⁴⁴ Hugenberg war mit einem System der „Dezentralisation der Verantwortlichkeiten“ während seiner Tätigkeit bei der preußischen Ansiedlungskommission in Posen 1894–1899 äußerst erfolgreich, wo er im Wege von Genossenschaftsgründungen als Selbsthilfeorganisationen „heimatlich verbundener Menschen“ die Schwerfälligkeit staatlicher Institutionen umging und die Abhängigkeit von den Schwankungen der Parteien- und Regierungspolitik beendete.⁴⁵ Solcherart „Genossenschaften“ von Gleichgesinnten zu schaffen, die dann in Eigenverantwortung in anderen Organisationen arbeiteten, lose Verbindung untereinander hielten und als „Gesinnungsgenossen“ weiterhin zu den alldeutschen Zielen standen, ohne sich öffentlich als Alldeutsche zu profilieren – dieses strategische Vorgehen ist vor allem seit der Übernahme des Verbandsvorsitzes durch Heinrich Claß 1908 weiter verfeinert worden. Schon 1894 waren Hugenberg und Hasse damit erfolgreich. Eine Reihe von Verbandsmitgliedern in der „Ostmark“ beteiligte sich auf Anregung ihres Vorsitzenden an der Schaffung einer Organisation „gegen die slawische Gefahr“,⁴⁶ die sie als Interessenvertretung der in der „Ostmark“
43 Eine weitere Gründungsinitiative des Jahres 1912 blieb zunächst ohne Erfolg: Der im Juli 1912 unter alldeutscher Mithilfe als antisemitischer Zentralverband ins Leben gerufene Verband gegen die Überhebung des Judentums wurde von Querelen zwischen den antisemitischen Vereinigungen gelähmt. Mit der Gründungsinitiative für den radikal antisemitischen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund im Jahr 1919 waren die Alldeutschen schließlich erfolgreich. Vgl. Werner Bergmann, Völkischer Antisemitismus im Kaiserreich, in: Puschner, Handbuch, S. 449–463, hier: S. 460f.; Michael Peters, Georg Philipp Stauff (1876–1936), Schriftsteller und Publizist, in: Fränkische Lebensbilder Band 18, Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Würzburg 2000, S. 243–254, hier: S. 245; Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919–1923, Hamburg 1970, S. 30. 44 In einem Brief an Heinrich Claß, der nach dem Tod Ernst Hasses im Januar 1908 den Vorsitz des AV übernommen hatte, erläuterte Hugenberg seine Motivation: Er wolle damit vermeiden, dass seine „Eigenschaft als alldeutscher Bazillenzüchter aller Welt durch eine Wahl in den Ausschuss oder in anderer Weise bekannt gemacht wird.“ Hugenberg an Claß, 8. Mai 1908, zitiert nach: Annelise Thimme, Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969, S. 171. 45 Vgl. Guratzsch, Macht, S. 27, 61. 46 Rundschreiben Hasses vom 27. Mai 1894, BArch R 8048/3, fol. 125. Ernst Hasse (1846–1908) war Teilnehmer der Einigungskriege gewesen und nach erfolgreichem Studium der Volkswirtschaft 1875 Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Leipzig geworden. Seit 1886 war er a.o. Pro-
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lebenden Deutschen verstanden wissen wollten.⁴⁷ Alldeutsche Großgrundbesitzer versicherten sich der Unterstützung Bismarcks⁴⁸ und es gelang, im Zuge einer antipolnischen Kampagne den Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken, ab 1899 Deutscher Ostmarkenverein, zu gründen. Anlässlich einer öffentlichen, von der überregionalen Presse begleiteten Pilgerreise mit etwa 2000 Teilnehmern zu Bismarcks Gut Varzin in Hinterpommern am 16. September 1894 betonte der alte Kanzler gegenüber den Vereinsgründern die Notwendigkeit „feste[n] Zusammenhalten[s]“ und empfahl, vom polnischen Vorbild zu lernen und nicht als „Partei, sondern als Nation“ zusammenzustehen und zu „fechten“.⁴⁹ Nach einer antipolnischen Rede des Kaisers in Thorn wenige Tage später, in der er die Polenpolitik seines Kanzlers Leo von Caprivi kritisierte und die Varzin-Veranstaltung lobte, konstituierten die Initiatoren einen Vorstand, der zu einer Gründungsversammlung in Posen einlud. In der Folgezeit gelang es dem Verein, gegenüber dem Caprivi-Nachfolger Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst seine Ziele durchzusetzen. Vor allem privilegierte Kontakte zu Männern mit Einfluss waren ihm dabei eine wesentliche Hilfe.⁵⁰ Auf Ortsvereinsebene etablierte sich eine enge Kooperation mit dem Alldeutschen Verband, die auch noch für die Zeit der Weimarer Republik belegt ist.⁵¹ Der Verein blieb bis zu seiner Eingliederung in den NSDAP-Verband Bund Deutscher Osten im Jahr 1933 eigenständig aktiv und kümmerte sich um die Erledigung der täglichen Kleinarbeit der Ostexpansion des Deutschen Reiches. Ankauf polnischen Grundbesitzes, Verhinderung des Zuzugs von Polen in die Städte, Verdrängung der polnischen Sprache aus dem öffentlichen Leben waren Schwerpunkte seiner Tätigkeit. Seine Mitgliederzahl betrug 1901 ca. 22 000 und wuchs bis zum Beginn des
fessor an der Universität Leipzig, wo er über deutsche Kolonialpolitik las. Er gehörte zu den Initiatoren der deutschen Kolonialbewegung und wurde 1893 Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes, den er bis zu seinem Tod 1908 führte. Von 1893 bis 1903 war er nationalliberaler Reichstagsabgeordneter. Vgl. Hans-Günter Zmarzlik, Art. „Hasse, Traugott Ernst Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 39. 47 Vgl. Jens Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein 1894–1934, Berlin 2002, S. 14. 48 Auf Initiative Bismarcks war 1886 nach seiner Polenrede, in der er erklärt hatte, „die Verhältniszahl zwischen der polnischen und der deutschen Bevölkerung […] zum Vorteil der Deutschen“ zu verbessern, die Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen gegründet worden. Ihre Aufgabe bestand im Aufkauf von Großgütern aus polnischem und deutschem Besitz zum Zweck der Parzellierung und Schaffung neuer Siedlerstellen, die dann mit deutschen Bauern besetzt wurden. Vgl. Guratzsch, Macht, S. 26. 49 Zitiert nach: Oldenburg, Ostmarkenverein, S. 17. 50 Ebd., S. 19. 51 Ebd., S. 95, 197.
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Ersten Weltkrieges auf das Doppelte.⁵² Dass die Anregung zur Verbandsgründung auch von Hugenberg ausgegangen war, ist naheliegend. Er hatte sich nach seiner Anstellung als Regierungsassessor auf eigenen Wunsch 1894 zur Ansiedlungskommission in Posen berufen lassen, um hier in der Praxis Aufgaben der inneren Kolonisation anzupacken, die er in seiner Doktorarbeit beschrieben hatte und deren Reiz für ihn in der Kombination aus wirtschaftlichem und nationalpolitischem Handeln bestand.⁵³ Im Verlauf des Jahres 1898 wurde auf Initiative und mit Beteiligung von Alldeutschen und Deutscher Kolonialgesellschaft der Deutsche Flottenverein gegründet. Seine Aufgabe war es, den Ausbau der Kriegsflotte in der Öffentlichkeit zu propagieren und finanziell zu unterstützen. Bereits vor der Gründung des Vereins hatten die Alldeutschen in ihren Publikationen die Bereitstellung der „Machtmittel“ für die „Weltpolitik“ gefordert und mit eigenen Büchern und Broschüren in die Flottendiskussion eingegriffen.⁵⁴ Zu einem der bekanntesten Flottenpropagandisten wurde der alldeutsche Historiker Dietrich Schäfer, der sich mit Vorträgen in ganz Deutschland für die Flottenwerbung engagierte.⁵⁵ Zahlreiche Alldeutsche waren in Leitungsgremien des Flottenvereins tätig, dessen Mitgliederzahl 1908 nach zehn Jahren Tätigkeit die Millionengrenze überschritten hatte.⁵⁶
52 Vgl. Edgar Hartwig, Art. „Deutscher Ostmarkenverein (DOV)“, in: Fricke/Fritsch/Gottwald/ Schmidt/Weißbecker (Hg.), Lexikon, Band 2, S. 225–244, hier: S. 226, 229; Oldenburg, Ostmarkenverein, S. 333. 53 Vgl. Guratzsch, Macht, S. 26. Der langjährige Hugenberg-Freund und Claß-Vertraute Leo Wegener blieb auch nach Hugenbergs Wechsel ins Preußische Finanzministerium 1903 im Ostmarkenverein aktiv. Oldenburg, Ostmarkenverein, S. 222. 54 Es erschienen in der Broschürenreihe „Flugschriften des Alldeutschen Verbandes“ 1896–1899 folgende Titel zu diesem Thema: Adolf Lehr, Warum die deutsche Flotte vergrößert werden muss, München 1899; Alldeutscher Verband (Hg.), Genügt Deutschlands Wehrkraft zur See? Ein Mahnruf, München 1897; B. Weyer, Der Niedergang deutscher, der Aufschwung fremder Seemacht, München o.J.; Admiral a. D. R.Werner, Die deutsche Flotte, München o.J. 55 Vgl. Dietrich Schäfer, Mein Leben, Berlin 1926, S. 177. 56 Vgl. Werner Fritsch, Art. „Deutscher Flottenverein (DFV) 1898–1934“, in: Fricke/Fritsch/ Gottwald/Schmidt/Weißbecker (Hg.), Lexikon, Band 2, S. 67–97, hier: S. 68; zu den Alldeutschen in der Leitung des Flottenvereins gehörten Fürst Otto zu Salm Horstmar, Präsident des Flottenvereins von 1901–1908; Admiral v. Thomsen, Vizepräsident von 1906–1908, Generalmajor Keim, Geschäftsführender Vorsitzender 1907/08. Konrad Schilling, Radikaler Nationalismus. Beiträge zu einer Geschichte des radikalen Nationalismus in der wilhelminischen Ära 1890–1909, Diss. Köln 1968, S. 198. Schilling führt aus: „Verschiedene Namen von prominenten Alldeutschen erscheinen auch in den Listen besonders aktiver und erfolgreicher Mitglieder des Flottenvereins in leitenden Stellen.“ Ebd., S. 199.
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Gegen die anti-bürgerlich und internationalistisch ausgerichtete Sozialdemokratie wendete sich eine alldeutsche Gründungsinitiative in Reaktion auf die sozialdemokratischen Erfolge bei den Reichstagswahlen 1903. Dem sogenannten Dreimillionen-Sieg der Sozialdemokraten sollte eine Organisation zum „Kampf gegen die Umsturzpartei“ entgegengestellt werden.⁵⁷ Den Vorsitz übernahm der alldeutsche Generalleutnant z.D. Eduard von Liebert. Mit seinem Programm, „alle in Treue zu Kaiser und Reich stehenden Deutschen […] zum Kampf gegen die antimonarchischen und revolutionären Bestrebungen der Sozialdemokratie zu einigen“,⁵⁸ gelang es dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie bis zum Jahr 1909 über 200 000 Mitglieder in 700 Ortsgruppen zu organisieren. Seine Hauptarbeit widmete er der Erstellung und Verbreitung anti-sozialdemokratischer Artikel und Flugschriften, die über eine verbandseigene Korrespondenz vertrieben wurden. Im Wahlkampf von 1907 wurden solche Publikationen in einer Auflage von über 10 Millionen Exemplaren verbreitet.⁵⁹ Auch der letzte vor dem Ersten Weltkrieg von Alldeutschen ins Leben gerufene Verband, der Deutsche Wehrverein, wies die personellen Verflechtungsstrukturen auf, die den „nationalen Verbänden“ zu eigen waren. Im September 1911 entstand unter den AV-Führungsfunktionären in Reaktion auf die MarokkoKrise der Plan, „nach dem Muster des alten Flottenvereins einen Armeeverein“ zu gründen.⁶⁰ Der alldeutsche Generalmajor August Keim wurde mit dieser Aufgabe betraut und traf während des Reichstagswahlkampfes 1911/12 gestützt auf Ortsgruppen und Geschäftsstellen von AV, Flottenverein, Kolonialgesellschaft und Ostmarkenverein die Vorbereitungen zur Vereinsgründung mit dem Ziel, „die deutsche Wehrmacht innerlich wie zahlenmäßig so stark zu machen, dass sie unbedingt imstande ist, den Schutz des Reiches und dessen Machtstellung in der Welt zu verbürgen.“ Bei Kriegsbeginn zählte der Deutsche Wehrverein 100 000 Einzel- sowie 260 000 korporativ angeschlossene Mitgliedschaften.⁶¹ Auch eine Welle von Neugründungen kleinerer deutschvölkischer Zirkel fand Anfang 1912 alldeutsche Unterstützung, so der Reichshammerbund, der Germanenorden und der Verband gegen die Überhebung des Judentums.
57 Axel Grießmer, Massenverbände gegen Massenparteien. Zum Wandel der Wahlkultur im wilhelminischen Kaiserreich, Düsseldorf 2000, S. 71. 58 Vgl. Dieter Fricke, Art. „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie (RgS) 1904–1918“, in: Ders./Fritsch/Gottwald/Schmidt/Weißbecker (Hg.), Lexikon, Band 4, S. 63–77, hier: S. 65. 59 Ebd., S. 69. 60 Schreiben Keims an Claß vom 14.9.1911, BArch R 8048/406. 61 Aus der Satzung des Deutschen Wehrvereins, zitiert nach: Edgar Hartwig, Art. „Deutscher Wehrverein (DWV) 1912–1935“, in: Fricke/Fritsch/Gottwald/Schmidt/Weißbecker (Hg.), Lexikon, Band 2, S. 330–342, hier: S. 332; Mitgliederzahlen: Ebd., S. 330.
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Während Reichshammerbund und Germanenorden Gruppierungen vereinten, die sich aus den Restbeständen des zerfallenen Parteiantisemitismus zusammensetzten, war der Verband gegen die Überhebung des Judentums eine Neugründung von Antisemiten, Völkischen und führenden Alldeutschen.⁶² Bis auf die letztgenannten, nicht sehr schlagkräftigen kleineren Zirkel arbeiteten alle unter Mithilfe der Alldeutschen gegründeten Propagandaverbände nach einem ähnlichen Muster: Mitgliederwerbung auf Ortsebene mit Hilfe von öffentlichen Veranstaltungen, vorbereitet durch persönliche Kontaktaufnahme mit den örtlichen Honoratioren – die Redner wurden von der Verbandszentrale ausgebildet und gestellt –, Belieferung der bürgerlichen Presse mit Korrespondenzen, Mitteilungen und Verbandsbeschlüssen, Gründung bzw. Ankauf von eigenen Zeitungen, Herausgabe von Büchern und Flugschriften sowie Versuch der Beeinflussung führender Politiker im Sinne der Verbandsziele, sei es durch Zusendung von Resolutionen und Denkschriften, sei es durch Überzeugungsarbeit im persönlichen Gespräch aufgrund persönlicher Kontakte. Der Alldeutsche Verband selbst, mit 20 000 Mitgliedern der Verband mit der geringsten Mitgliederzahl unter den oben genannten, verfügte innerhalb des dargestellten Organisationsnetzes vor allem durch personelle Verflechtung über die Möglichkeit indirekter Einflussnahme.⁶³ Rund eine Million Menschen wurden durch die Publikationen dieser Verbandsformation erreicht. Zusätzlich zu den alldeutschen Organen⁶⁴ waren es drei Wochenzeitungen – Die Ostmark, Die Flotte, Die Wehr, mit einer Gesamtauflage von etwa einer halben Million – sowie wöchentlich erscheinende Mitteilungs- und Korrespondenzblätter, die die Forderungen nach Weltmachtpolitik, Aufrüstung und Bekämpfung der Arbeiterbewegung im öffentlichen Diskurs platzierten. Trotz gelegentlicher taktischer Differenzen innerhalb dieses von Alldeutschen mitgeschaffenen Netzes „nationaler Verbände“ stellten diese Organisationen ein ganz entscheidendes
62 Lohalm, Radikalismus, S. 30. 63 Zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg schwankten die Mitgliederzahlen zwischen 18 000 und 21 000. Vgl. Hering, Nation, S. 173. 64 Dazu gehörten die wöchentlich als Verbandsnachrichten erscheinenden Alldeutschen Blätter, deren Auflage von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg zwischen 6 000 und 8 000 Exemplaren schwankte, während des Krieges dann infolge eines Beschlusses des Geschäftsführenden Ausschusses zur Abnahmepflicht für jedes Mitglied auf 18 000 im Jahr 1916 und 34 000 im Jahr 1918 hochschnellte; die Broschürenreihen „Flugschriften des ADV“ und „Der Kampf um das Deutschtum“ in unterschiedlich hohen Auflagen, zum Teil bis zu 60 000 Exemplaren, sowie seit 1917 die Tageszeitung Deutsche Zeitung mit Morgen- und Abendausgabe und die Monatsschrift Deutschlands Erneuerung. Vgl. Hering, Nation, S. 182; Björn Hofmeister, Radikaler Nationalismus und politische Öffentlichkeit. Der Alldeutsche Verband und die Alldeutschen Blätter, in: Grunewald/Puschner (Hg.), Krisenwahrnehmungen, S. 263–279, hier: S. 276.
1.2 Die „wahren Söhne der Sieger“ auf dem politischen Massenmarkt
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Meinungsbildungspotenzial innerhalb des bürgerlichen wilhelminischen Deutschland dar. Die strukturellen Bedingungen für eine derartige Expansion der politischen Öffentlichkeit waren nach der Reichsgründung geschaffen worden. Durchsetzung der Gewerbefreiheit für das gesamte Reichsgebiet 1871, reichseinheitlich gewährte Pressefreiheit durch das Pressegesetz von 1874, Aufhebung von Konzessions- und Abgabenzwang bei Zeitungsgründungen bewirkten einen sprunghaften Anstieg der Anzahl von Presseerzeugnissen. Fast die Hälfte der 1914 gezählten 4221 Zeitungen konnte auf ein Gründungsdatum zwischen 1870 und 1900 zurückblicken.⁶⁵ Technische Neuerungen taten ihr Übriges: Rotationspressen und Setzmaschinen⁶⁶ ließen Auflagenhöhe und Seitenumfang der Zeitungen ansteigen. Die Deutschen wurden ein „Volk von Zeitungslesern“ und die öffentliche Meinung zu einem nicht mehr negierbaren „Machtfaktor“.⁶⁷ Der Alldeutsche Verband, dessen Gründungsimpuls 1890 erklärtermaßen dem Willen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung entsprungen war, gliederte sich nach seiner Konsolidierung im Jahr 1894⁶⁸ erfolgreich als radikale bürgerliche Stimme in diesen „politischen Massenmarkt“⁶⁹ ein. Innerhalb der „Partizipationsrevolution“, die die westlichen Gesellschaften Ende des 19. Jahrhunderts erfasste,⁷⁰ besetzte er im wilhelminischen Deutschland die Rolle des entschlossenen, radikalen Kämpfers für deutsche Weltmachtpolitik und nationale Expansion, gegen den Internationalismus und die Emanzipationsbestrebungen der Sozialdemokratie. Seine Führungskader repräsentierten neben einigen demobilisierten Offizieren den Typus des „modernen Meinungsmanagers“, der, in der Regel akademisch gebildet, in Teilen des akademischen Bürgertums Gehör fand und erfolgreich außerhalb der politischen Parteien Partizipationsbedürfnisse befriedigte und Willensbildungsprozesse beeinflusste, die der Obrigkeitsstaat des Kaiserreiches nicht befriedigen oder neutralisieren konnte, des öfteren auch nicht neutralisieren wollte.⁷¹
65 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 798. 66 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Band 3, S. 1239. 67 Nipperdey, Arbeitswelt, S. 787, 807. 68 Vgl. Hering, Nation, S. 118. 69 Ullmann, Interessenverbände, S. 105. 70 Vgl. Rosenberg, Depression, S. 120. 71 Vgl. Wehler, Kaiserreich, S. 93f.; Schilling, Nationalismus, S. 22. Zur Zusammenarbeit von AV und Auswärtigem Amt 1911/12 siehe Michael Peters, Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908–1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland, Frankfurt a.M. 1992, S. 111f.
28 1 Alldeutsche im Kaiserreich
1.3
„Nationale Opposition“ und völkische Bewegung
Im Verlauf des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts waren es erneut jüngere Verbandsmitglieder, die mit einem Radikalisierungsschub und schärferer Distanzierung von der politischen Linie der Reichsregierung eine deutliche Profilierung betrieben, nachdem sie in Parlament und Parteien nicht erfolgreich gewesen waren. Trotz aller Beteuerungen ihrer Unabhängigkeit von Parteien- und Regierungskonstellationen konnten die alldeutschen Agitatoren nicht einfach vor den Toren des Parlamentes haltmachen, wenn sie Einfluss auf dessen Entscheidungen bzw. die Entscheidungen der Regierung nehmen wollten. So führte der Verband eine Reihe von nationalliberalen und anderen Reichstagsabgeordneten in seinen Mitgliederlisten. Bis zur Jahrhundertwende war die Hauptleitung, das oberste Entscheidungsorgan des Verbandes, mehrheitlich mit Reichstagsabgeordneten besetzt, der Vorsitzende Hasse positionierte sich in den Reichstagssitzungen offen als Vertreter alldeutscher Forderungen.⁷² Axel Grießmer hat in seiner Studie über die Wahlkultur im wilhelminischen Kaiserreich nachgewiesen, dass nicht nur die Alldeutschen, sondern auch die anderen nationalen Agitationsverbände Wahlkampfpolitik betrieben haben. Für den Alldeutschen Verband stellte das Jahr 1903 in diesem Aktionsfeld eine entscheidende Zäsur dar. Alle fünf Spitzenfunktionäre, die sich als Alldeutsche um ein Reichstagsmandat beworben hatten, waren nicht erfolgreich.⁷³
72 Auf der Liste der 62 Initiatoren zur Gründungsversammlung 1891 fanden sich 26 freikonservative, nationalliberale und konservative Abgeordnete. Vgl. Grießmer, Massenverbände, S. 104. Das Handbuch des Alldeutschen Verbandes für 1913 verzeichnet 15 Abgeordnete (6 Nationalliberale, 3 Deutschkonservative, je 2 für Reichspartei und Reformpartei, 1 für die Christlich-Soziale Partei, 1 Freiherrn ohne Parteiangabe). Handbuch des Alldeutschen Verbandes, 16. Auflage, München 1913, S. 36. Unter den vier Neuzugängen während des Krieges befand sich auch Gustav Stresemann, der spätere Kanzler und Außenminister. Handbuch des Alldeutschen Verbandes, 20. Auflage, München, Kriegsjahr 1916, S. 89. Für die Zeit von 1893 bis 1914 finden sich unterschiedliche Angaben zur Gesamtzahl alldeutscher Reichstagsabgeordneter, sie schwanken zwischen 27 und 93. Siehe Grießmer, Massenverbände, S. 105. Zur Besetzung der Hauptleitung mit Reichstagsabgeordneten siehe Leicht, Claß, S. 107. 73 Es handelte sich neben Ernst Hasse, der bereits für die Nationalliberalen im Reichstag gesessen hatte, um Superintendent Karl Klingemann aus Essen, der für die Reichspartei kandidierte und Mitglied der Hauptleitung des AV war, weiterhin um Richard Graf du Moulin-Eckart, ebenfalls Mitglied des AV-Leitungsgremiums, der in Erlangen-Fürth für die Nationalliberalen antrat, sowie Fritz Bley, der bis 1902 Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses des AV gewesen war und in Kreuznach-Simmern für den Bund der Landwirte kandidierte. Schließlich war es der neu in die Hauptleitung aufgestiegene spätere Vorsitzende Heinrich Claß, der in seiner Heimat, im rheinhessischen Wahlkreis Bingen-Alzey, knapp unterlag. Grießmer, Massenverbände, S. 107.
1.3 „Nationale Opposition“ und völkische Bewegung
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Dieser Misserfolg stellte den vorläufigen Höhepunkt einer Krise des Verbandes dar, die mit einer Auseinandersetzung zwischen der Verbandsführung und Reichskanzler Bernhard von Bülow um die Europareise des Burenpräsidenten Ohm Krüger ihren Anfang genommen hatte. Der Reichskanzler hatte den Alldeutschen im Dezember 1900 vor dem versammelten Reichstag ein Politikverständnis „vom Standpunkte der Bierbank“ aus bescheinigt. Diese Attacke sowie der offensichtlich vom Reichskanzler beeinflusste Rücktritt eines konservativen und eines freikonservativen Reichstagsabgeordneten aus dem Präsidium des AV aus Protest gegen den Empfang von drei Burengenerälen durch die Verbandsspitze blieben nicht ohne Wirkung.⁷⁴ Seit 1902 gingen die Mitgliederzahlen zum ersten Mal in der Verbandsgeschichte zurück. Von fast 22 000 im Jahr 1901 reduzierten sie sich bis 1914 auf etwa 18 000 Einzelmitglieder.⁷⁵ In Reaktion auf diese Entwicklung und auf die Niederlagen bei den Reichstagswahlen von 1903 waren es vor allem jüngere Verbandsmitglieder, die mit Wahlanalysen und Strategiepapieren für die zukünftige Arbeit hervortraten, wobei die weitere Beteiligung an Wahlkämpfen trotz des Misserfolges nicht in Frage stand. Einer dieser „Jüngeren“, der sich selbst später als „national schlechthin“ charakterisierte, war der spätere Verbandsvorsitzende, Rechtsanwalt Heinrich Claß, der im September 1903 auf dem alldeutschen Verbandstag in Plauen mit einem Vortrag zu „Wandlungen in der Weltstellung Deutschlands seit 1890“ hervortrat. Mit diesem Beitrag wurde eine Neuorientierung des Verbandes eingeleitet, die in der Folgezeit mit der Bezeichnung und dem Wirkungsanspruch „nationaler Opposition“ versehen wurde.⁷⁶ Claß war bei seiner Wahl in die Hauptleitung im Dezember 1900 mit 32 Jahren das jüngste Mitglied dieses Gremiums. In der Vorbereitung des Verbandstages konnte er sich gegen die Bedenken seiner um mehr als 20 Jahre älteren Leitungskollegen durchsetzen. Auf dem Verbandstag selbst präsentierte er in einer zweistündigen Rede eine Generalabrechnung mit der Politik der Reichsleitung nach Bismarcks Entlassung, in der er den Kanzlern Caprivi, Hohenlohe und Bülow komplettes Versagen attestierte. Dieser direkte Konfrontationskurs gegenüber der Reichsregierung wurde zwar innerhalb des Verbandes kontrovers diskutiert, Claß und die Hauptleitung erhielten jedoch ein Vertrauensvotum des Vorstandes und in den Alldeutschen Blättern wurde seine Position als richtungsweisend deklariert.⁷⁷ Die Rede wurde unter dem Titel „Bilanz des 74 Udo Graf zu Stolberg-Wernigerode, Vizepräsident des Reichstages und Mitglied der Fraktion der Konservativen, sowie Hermann Graf zu Armin-Muskau. Ebd., S. 106. 75 Hering, Nation, S. 173. 76 Vgl. Grießmer, Massenverbände, S. 119, 123. 77 Vgl. Leicht, Claß, S. 116.
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Neuen Kurses“ in einer Auflage von 50 000 Exemplaren als Broschüre verbreitet und erlebte in der rückblickenden Selbstwahrnehmung des Verbandes eine Stilisierung als entscheidende „Tat“ und wesentlicher Schritt zur „nationalen Opposition“.⁷⁸ Für die weitere politische Ausrichtung war sie insofern von Bedeutung, als Heinrich Claß den hier skizzierten radikal antigouvernementalen Kurs mit Übernahme des Verbandsvorsitzes 1908 nachhaltig durchzusetzen wusste.⁷⁹ Alfred Hugenberg konstatierte in der verbandsinternen Strategiedebatte im April 1904 bereits eine deutliche Profilschärfung des Verbandes in der öffentlichen Wahrnehmung, das Wort „alldeutsch“ sei nicht mehr „nebelhaft und unklar“, sondern es wirke „herausfordernd und kompromittierend“.⁸⁰ Folgt man dieser Einschätzung, so bedeutete das die erfolgreiche Positionierung des Begriffes „Alldeutsch“ als Markenname für eine radikale bürgerliche Kraft auf dem politischen Massenmarkt. Der Vergleich der „Bilanz des Neuen Kurses“ aus dem Jahr 1903 mit dem Aufruf „Deutschland wach auf“ von 1890 lässt in den dort als charakteristisch gekennzeichneten Bereichen Emotionalität, Moralität und Pädagogisierung zahlreiche Verschärfungen erkennen. Waren es 1890 Enttäuschung, Empörung, Empfindungen von Minderwertigkeit, die ins Auge sprangen, so waren es 1903 Formulierungen, die vernichtete Hoffnungen, Bedeutungsverlust, Entwertung, Herabsetzung und Demütigung behaupteten, gesteigert bis zum Postulat des „Fluch[s] der Lächerlichkeit“, dem jeder Deutsche sich ausliefere, der es wage, mit Stolz im Ausland zu sagen „Ich bin ein Deutscher“.⁸¹ Fühlen sich Menschen herabgesetzt, gedemütigt und der Lächerlichkeit preisgegeben, so können sie kein positives Selbstkonzept, keine Gelassenheit, keine lebensbejahende Identität entwickeln und aufrechterhalten.⁸² Welche sozialen Erfahrungen und idiosynkratischen Verstimmungen bei Heinrich Claß und seinen alldeutschen Anhängern ihren Negativbildern zu Grunde lagen, wird in den folgenden Kapiteln noch diskutiert werden. Peter Walkenhorst hat in Bezug auf die hochgespannten Erwartungen und die zwangsläufig sich einstellenden Enttäuschungen im Lager des radikalen Nationalismus den Begriff der
78 Ebd., S. 117f. 79 Vgl. Grießmer, Massenverbände, S. 123. 80 Hugenberg in einem Schreiben an Hasse im April 1904, zit. nach: Grießmer, Massenverbände, S. 124. 81 Bericht über den Alldeutschen Verbandstag, in: Alldeutsche Blätter vom 19. September 1903, S. 339. 82 Vgl. Martin Dornes, Gewalt – Identität – Familie, in: Psyche 57 (2003), S. 1108–1116.
1.3 „Nationale Opposition“ und völkische Bewegung
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„kumulativen Desillusionierung“ geprägt.⁸³ Die von Claß 1903 gebrauchten Formulierungen weisen darauf hin, dass diese Desillusionierung emotional tiefe Spuren hinterlassen und eine Art Demütigungssyndrom hervorgebracht hat. Bemerkenswert sind die Konsequenzen, die Claß in seiner Rede aus der Negativbilanz für die Kanzlerpolitik nach Bismarck zog. Er kontrastierte sie mit den „Leistungen des Volkes“, hob die Errungenschaften und Fortschritte in Industrie und Landwirtschaft, für Flotte und Heer hervor und betonte, dass seit Bismarcks Entlassung ein Bevölkerungswachstum von neun Millionen stattgefunden habe. Vor diesem Hintergrund einer sich so eindeutig manifestierenden Volkskraft sei es „unwürdig […] alles Heil, alle Hilfe von oben zu erwarten“, im Völkerleben gelte die Maxime „Selbst ist das Volk!“⁸⁴ Mit diesem zumindest rhetorisch revolutionär anmutenden Aufruf setzte Claß einen spektakulären Schlusspunkt unter seine Aufzählung politischer Versäumnisse und resümierte, man habe „Reden auf Reden gehört“, „Taten“ seien ausgeblieben, das Ansehen von Kaiser und Monarchie, die Achtung vor Reichstag und Reichskanzleramt seien derart beschädigt, dass Deutschland „eigentlich keine Regierung“ mehr habe. Das „politische Leben eines Volkes“ erschöpfe sich jedoch nicht in dem, „was von einer Regierung geschieht“, es müsse an der „politischen Wiedergeburt“ des Volkes gearbeitet werden, der „nationale Wille“ müsse in „entschlossener Selbsthilfe“ aus den „Nöten unserer Zeit“ führen. Möglich sei dies deshalb, da dieses Volk „vor und nach Olmütz“⁸⁵ bereits bewiesen habe, dass es „größten Aufgaben gewachsen sei“, wenn es von den „rechten Männern zur rechten Tat gerufen“ werde.⁸⁶ Er forderte die Mobilisierung aller „sittlichen Kräfte“ für eine nationale Politik zur Verteidigung und Weiterführung von „Bismarcks Werk“. Jeder „rechte Mann“ sei dazu aufgerufen, denn es gebe nichts „Besseres, Heiligeres als den Dienst am Volk“.⁸⁷ Religiös konnotierte, pathetisch-moralisierende Appelle waren nicht neu in den Texten der Alldeutschen; was überrascht, ist der Aufruf zur Selbsthilfe des
83 Walkenhorst, Nation, S. 190. 84 Bericht über den Alldeutschen Verbandstag, in: Alldeutsche Blätter vom 19. September 1903, S. 343. 85 Claß bezieht sich hier auf die „Olmützer Punktation“, einen Vertrag, zu dem Preußen 1850 von Österreich und Russland genötigt wurde, der der Wirkungsmacht des Deutschen Bundes gegenüber dem preußischen Unionsprojekt unter Ausschluss Österreichs einen Riegel vorschob. Für die Anhänger des Unionsprojektes, also der kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung, wurde der Vertrag als Demütigung empfunden. Vgl. Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, 3. Auflage, München 2008, S. 572. 86 Bericht über den Alldeutschen Verbandstag, in: Alldeutsche Blätter vom 19. September 1903, S. 343. 87 Ebd.
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Volkes gegen das Handeln der Regierenden. Hinter dieser Antwort der von Claß angeführten jüngeren Funktionäre auf die Krise des Verbandes verbargen sich weiterreichende Orientierungen. In der Satzungsänderung vom November 1903 findet sich der Hinweis, in welche ideologische Richtung sich der Aufruf zur Mobilisierung der Volkskraft gegen die Regierung bewegte. Mit dem Satzungsauftrag, „das Bewusstsein von der rassenmäßigen und kulturellen Zusammengehörigkeit aller deutschen Volksteile“ propagieren zu wollen, hatten die Alldeutschen sich verbandsoffiziell der Rassenlehre angenähert, die in den Köpfen von Claß und anderen jüngeren Funktionären schon seit geraumer Zeit ihren festen Platz hatte, sich aber bisher als offizielle Verbandsdoktrin nicht hatte durchsetzen können. Nach den gescheiterten Versuchen, sich als Repräsentanten des Volkes in die von der Verfassung vorgesehenen Institutionen wählen zu lassen, rekurrierten die jüngeren Funktionäre auf einen Volksbegriff, der unter „Volk“ weniger eine politische Gemeinschaft als vielmehr eine durch Abstammung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie geprägte Assoziation von Individuen verstand. Rassentheoretiker wurden seit der Jahrhundertwende von einzelnen Alldeutschen vermehrt rezipiert. Im Verlauf des Jahres 1902 war der Verband als korporatives Mitglied der Gobineau-Vereinigung beigetreten und hatte sich zu finanzieller Unterstützung verpflichtet.⁸⁸ Eine Reihe prominenter Rasseideologen wurde in den alldeutschen Mitgliederlisten geführt, so der mit Heinrich Claß eng befreundete, als Anthropologe dilettierende, Ingenieur Otto Ammon,⁸⁹ der Hygieniker Max von Gruber,⁹⁰ der Arzt Ludwig Wilser⁹¹ und schließlich der Gobineau-Übersetzer und Gründer der Gobineau-Vereinigung Ludwig Schemann, der auch einige Zeit dem Gesamtvorstand des Verbandes angehörte.⁹² Schemann und die Gobineau-Vereinigung sollten eine besondere Rolle in der weiteren politischen Ausrichtung des Verbandes zur „nationalen Opposition“ spielen. Ludwig Schemann, ein 1875 in Bonn promovierter Historiker und Altphilologe, hatte seine geplante Universitätskarriere wegen schwacher Leistungen bei seiner Dissertation nicht realisieren können, deshalb eine Stelle als Bibliothekar 88 Johannes Leicht hat auf die „Anlehnung an Gobineaus Thesen“ in Claß’ Plauener Rede hingewiesen: Leicht, Claß, S. 113. 89 Otto Ammon (1842–1916), Ingenieur, Publizist und Verleger, hatte von 1886 bis 1894 Schädelvermessungen an badischen Rekruten durchgeführt, die von der badischen Regierung finanziell gefördert worden waren. Seine Ergebnisse flossen in sein Werk „Die natürliche Auslese beim Menschen“, Jena 1893, ein. Vgl. Breuer, Ordnungen, S. 55. 90 Zu Max von Gruber siehe Kapitel 2.8.1. 91 Ludwig Wilser (1850–1923) hatte Ammon bei seinen kraniometrischen Studien als Arzt unterstützt. Seine rassentheoretischen und sozialdarwinistischen Texte haben Heinrich Claß nachhaltig beeinflusst. Vgl. Lohalm, Radikalismus, S. 36. 92 Vgl. Hering, Nation, S. 191.
1.3 „Nationale Opposition“ und völkische Bewegung
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an der Universitätsbibliothek Göttingen angenommen und war als WagnerEnthusiast regelmäßiger Besucher der Bayreuther Festspiele geworden. Dort gelang es ihm, Zugang zum engsten Kreis der Wagnerianer zu erhalten und einen Kindheitstraum zu erfüllen in dem „Glück, mit berühmten Männern in leibhaftige Berührung zu kommen“.⁹³ Cosima Wagner hatte ihn der Nachlassverwalterin Arthur de Gobineaus, Mathilde de la Tour, vorgestellt, die ihm nach seiner Kündigung in Göttingen 1891 die Betreuung von Gobineaus Werk anbot. Zur Popularisierung und Verbreitung von Gobineaus Rassenlehre in Deutschland gründete Schemann 1894 die Gobineau-Vereinigung, die ihm in der Folgezeit nicht nur zu einer ihn sehr befriedigenden publizistischen Tätigkeit, sondern auch zu erheblichen Einkünften verhalf.⁹⁴ Es gelang ihm, der Vereinigung eine „integrierende Schlüsselstellung in der völkischen Bewegung“ zu verschaffen, deren wesentliches Kennzeichen von Anbeginn eine „extreme Ausdifferenzierung“ in Einzelpersonen und -organisationen war.⁹⁵ Die Vokabel „völkisch“ war 1875 von dem dilettierenden Germanisten Hermann von Pfister-Schwaighusen als Ersatz für das „blöde, entweder Nichts oder Alles besagende Wort ‚national’ “ vorgeschlagen worden.⁹⁶ Pfister-Schwaighusen gehörte einer Gruppe von „Radikalverdeutschern“ (Uwe Puschner) innerhalb des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins an und es gelang ihm, zusammen mit Adolf Reinecke, der 1896 das Blatt Heimdall als „Zeitschrift für reines Deutschtum und Alldeutschtum“ gegründet hatte, zum Wortführer einer radikalnationalistischen Sammelbewegung zu werden, innerhalb derer das Wort „völkisch“ zum „Weltanschauungscode“ (Uwe Puschner) mutierte.⁹⁷ Diese Bewegung speiste sich aus unterschiedlichsten Quellen, aus Vertretern der oben genannten nationalen Sprachbewegung genauso wie aus ehemaligen Protagonisten des organisierten Antisemitismus der 1880er Jahre, wie dem Gründer des Deutschbundes Friedrich Lange⁹⁸
93 Vgl. Julian Köck, Ludwig Schemann und die Gobineau-Vereinigung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 723–740. 94 Ebd., S. 733. 95 Vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 78; ders., Handbuch, S. XII; Köck, Schemann, S. 734. 96 Vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 28. 97 Ebd., S. 31. 98 Friedrich Lange (1852–1917), Sohn eines Töpfermeisters, studierte in Göttingen, wo er 1873 im Fach Philosophie promoviert wurde. Nach einigen Jahren als Gymnasiallehrer wechselte er in den Journalismus, kam 1882 nach Berlin zur Täglichen Rundschau und übernahm 1890 deren Herausgeberschaft. Der Deutschbund wurde nach einem öffentlichen Aufruf Langes in der Täglichen Rundschau im Oktober 1894 in Berlin mit einem „Weihefest“ als ordensmäßige Gesinnungsgemeischaft gegründet. Vgl. Dieter Fricke, Der „Deutschbund“. Gründung und Charakter, in: Puschner, Handbuch, S. 328–340; Hans Bohrmann, Art. „Lange, Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 554f., URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116688688.html (16.11.2015).
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oder dem Initiator des Reichshammerbundes Theodor Fritsch.⁹⁹ Im Kyffhäuserverband der Vereine Deutscher Studenten organisierte nationalistische Studenten fanden ebenso ihren Weg in völkische Gruppierungen wie Abkömmlinge der alldeutschen, antislavischen und antikatholischen Bewegung um Georg von Schönerer in Österreich. Ernst Hunkel, einer ihrer Protagonisten aus den Reihen des Kyffhäuserverbandes und ab 1910 festangestellter Redakteur der vom Deutschen Ostmarkenverein monatlich publizierten Ostmark, kennzeichnete 1904 in einem Artikel im Heimdall die verschiedenen Bestrebungen als „Boden-, Kunst-, Sozialund Wirtschaftsneuformer, Bismarck-, Wagner-, Gobineau- und ChamberlainVerehrer, Flotten-Freunde, Papst-Feinde, Antisemiten, Heimat-Schützer, Sprachreiniger, Sittlichkeits-Bewahrer, Sprit-Bekämpfer, Volks-Erzieher und wie sie alle heißen“, deren gemeinsames Ziel die rassisch und religiös determinierte „Wiedergeburt des deutschen Volkstums“ sei.¹⁰⁰ Über Ludwig Schemann und die Gobineau-Vereinigung stellten sich für den Alldeutschen Verband vielfältige, zum Teil neue personelle Bindungen und organisatorische Andockstationen in dieses diffuse und heterogene Netzwerk der völkischen Bewegung her.¹⁰¹ Er erwies sich für Teile dieser Bewegung als äußerst attraktiv und anschlussfähig. Zum Deutschbund, an dessen Gründungsversammlung 1894 schon Heinrich Claß teilgenommen hatte und dem auch andere Alldeutsche angehörten, intensivierten sich die Beziehungen derart, dass 1910 eine Reihe von alldeutschen Ortsgruppen von „Bundesbrüdern“ geleitet wurden und 1913 der zehnköpfige Vorstand von sechs Alldeutschen dominiert wurde, darunter der Geschäftsführer des Alldeutschen Verbandes, Leopold Freiherr von Vietinghoff-Scheel.¹⁰²
99 Theodor Fritsch (1852–1933), als Kind verarmter Bauern in der Nähe von Leipzig aufgewachsen, war über eine Maschinenbaulehre zum Studium an der Technischen Hochschule in Berlin gekommen und hatte neben der Eröffnung eines mühlentechnischen Büros vor allem publizistisch und verbandspolitisch als Mühleningenieur für den Deutschen Müllerbund gearbeitet, den er erfolgreich in die sich organisierende Mittelstandsbewegung überführte. In den 1880er Jahren begann er mit der Publikation antisemitischer Schriften und gründete 1902 in Leipzig den Hammer-Verlag, dessen Lesegemeinschaften zum Auffangbecken der sich auflösenden Jugendbundbewegung sowie von Überresten des verfallenden Parteiantisemitismus wurden. 1912 gründete er den Reichshammerbund, den er über den Judenausschuss des AV 1919 in den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund überführte. Vgl. Michael Bönisch, Die „Hammer“-Bewegung, in: Puschner, Handbuch, S. 341–365, hier: S. 342–344; Lohalm, Radikalismus, S. 58–62. 100 Vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 113, Hunkel-Zitat: S. 263. Siehe auch ders., Strukturmerkmale der völkischen Bewegung (1900–1945), in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2003, S. 445–468. 101 Vgl. Chickering, We Men, S. 241. 102 Ebd. Leopold Freiherr von Vietinghoff-Scheel (1868–1946) war von 1913 bis zum Verbot des Verbandes 1939 dessen Hauptgeschäftsführer. In dieser Rolle wurde er zu einer der entscheidenden
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Der von dem Publizisten Friedrich Lange 1894 ins Leben gerufene Deutschbund war eine elitäre, hierarchisch organisierte Gesinnungsgemeinschaft, die mit einem „zu religiöser Glut verklärten Deutschideal“ dem „kranken Volkswesen“ entgegentreten wollte.¹⁰³ Der Bund gilt als eine der „einflussreichsten, ideologiebildenden Institutionen vor dem Ersten Weltkrieg“ und als konstitutives Element der völkischen Bewegung.¹⁰⁴ Zwar hatte es bereits vor der Jahrhundertwende einzelne personelle Überschneidungen zwischen der völkisch-antisemitischen Szene und dem Alldeutschen Verband gegeben,¹⁰⁵ eine verbandsoffizielle Hinwendung zum Rassismus und Antisemitismus der völkischen Bewegung waren jedoch nur schrittweise möglich. Ernst Hasse publizierte 1907 als Vorsitzender nach der Lektüre Gobineaus unter dem Titel „Die Zukunft des deutschen Volkstums“ zwar seine neu gewonnene Erkenntnis, die Zukunft des deutschen Volkes liege „im Blute“, „fremde Volksbestandteile“ seien „auszuscheiden“ bzw. „fernzuhalten“, bedauerte aber gleichzeitig, dass diese Auffassung „in alldeutschen Kreisen noch nicht überall geteilt“ werde.¹⁰⁶ In der Satzung des Verbandes tauchte der Begriff „völkisch“ erst im Jahr 1919 auf, die Durchsetzung eines Arierparagraphen wurde erst 1924 möglich.¹⁰⁷
Vertrauenspersonen des Vorsitzenden, der mit ihm alle Absprachen und Vorbereitungen für Verbandsinitiativen und Publikationen teilte. Vietinghoff war vor seiner Geschäftsführertätigkeit erfolgreicher Vorsitzender der AV-Ortsgruppe Erfurt gewesen. Vgl. Leicht, Claß, S. 129. Zu seinem gemeinsam mit Gertzlaff von Herzberg erfolgten Einsatz für die Durchsetzung eines Arierparagrafen in der Deutschen Adelsgesellschaft siehe Kapitel 2.7.1. 103 Vgl. Fricke, Deutschbund, S. 328. 104 Vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 14. 105 Vgl. Breuer, Die Völkischen, S. 62. 106 Ernst Hasse, Die Zukunft des deutschen Volkstums, München 1907, S. 46f., 67f., zitiert nach: Hering, Nation, S. 125. 107 § 1 bestimmte 1919 als neues Verbandsziel die „Erweckung“ einer auf „Treue und Liebe zur deutschen Eigenart gegründeten völkischen Gesinnung und eines nur auf das Wohl der deutschen Volksgesamtheit gerichteten völkischen Willens“. In § 2 wurde als Aufgabe der Verbandsarbeit die „planmäßige rassische Höherentwicklung des deutschen Volkes durch Auslese und Förderung aller im Sinne guter deutscher Art hervorragend Begabten“ sowie die „Bekämpfung […] der jüdischen Vorherrschaft“ propagiert; Satzung des Alldeutschen Verbandes, BArchR 8048/ 4, fol. 53ff.; BArch R 8048/611, fol. 116: „Der Gesamtvorstand hat in seiner Sitzung zu Stuttgart am 30. August 1924 einstimmig beschlossen, den §§ 4 und 5 der Satzung folgende neue Fassung zu geben: § 4. Mitglied des Verbandes kann jeder Deutsche werden ohne Rücksicht auf seine Staatszugehörigkeit, wenn er unbescholten ist, sich zu den Zielen des Verbandes bekennt, und von einer Ortsgruppe oder der Geschäftsstelle aufgenommen wird. Angehörige des jüdischen Volkstums und der farbigen Rassen, sowie Personen, die solche zu Vorfahren oder Ehegatten haben, dürfen nicht aufgenommen werden.“ Alldeutsche Blätter vom 6. September1924.
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Mit der Umorientierung des Verbandes auf die „nationale Opposition“ nach dem Verbandstag von 1903 geschah jedoch eine deutliche Hinwendung zur völkischen Bewegung. Der Verband wurde von Schemann als Multiplikator für die Verbreitung seiner Gobineau-Studien benutzt und er spendete ihm regelmäßig mehrere hundert Exemplare seiner Neuerscheinungen.¹⁰⁸ Der Chefredakteur der Alldeutschen Blätter Paul Samassa forderte im Gegenzug, „über die wissenschaftliche Seite der Rassenfrage ihre nationale Bedeutung nicht zu vergessen“ und die Gobineau-Vereinigung in die Kette derjenigen Vereinigungen einzufügen, die „der Zukunft unseres Volkstums die Wege bahnen wollen.“¹⁰⁹ Das war ein deutliches Angebot an Vertreter der völkischen Bewegung, sich den von ihnen bisher gemiedenen Gruppierungen des „alten Nationalismus“ anzunähern. Stefan Breuer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Alldeutsche Verband nicht einfach als Teil der völkischen Bewegung gesehen werden kann.¹¹⁰ Dennoch entwickelte er sich nach der Jahrhundertwende zum „wichtigsten öffentlichen Forum für die Diskussion der Rassenwissenschaft in Deutschland“.¹¹¹ Und durch die Tatsache, dass er sich und seine Publikationen als Plattform für völkische Organisationen anbot, veränderte er auch die diffusen und heterogenen Strukturen innerhalb dieser Bewegung. Mit dem Deutschbund stellte sich eine Art „virtuelle Fusion“ (Roger Chickering) her. Seine Beziehungen zu Theodor Fritsch und dessen Zeitschrift Hammer intensivierten sich dergestalt, dass bei der Gründung des Reichshammerbundes im Jahr 1910 der Alldeutsche Karl Hellwig dessen Führung übernahm.¹¹² Völkische Autoren publizierten bei den Alldeutschen, alldeutsche Autoren waren in völkischen Blättern präsent.¹¹³ Von besonderer Bedeutung erscheint die Tatsache, dass sich mit diesen personellen Vernetzungen auch Verbindungen innerhalb verschiedener, sich zunächst getrennt voneinander entwickelnder Milieus herstellten. Die Alldeutschen waren vom Selbstverständnis wie von der sozialen Struktur mehrheitlich Repräsentanten von „Besitz und Bildung“ und in ihrem Führungskader in der Regel erfolgreich akademisch zertifiziert und als Beamte oder Selbständige tätig. Die Gruppierungen der völkischen Bewegung hingegen waren eher kleinbürgerlich geprägt und ihre Führung entsprach häufig dem Typus des „proletaroiden Intellektuellen“ (Stefan Breuer), der zwar akademisch gebildet, aber nicht im regulären Wissenschaftsbe-
108 Köck, Schemann, S. 733. 109 Zitiert nach: Ebd., S. 734. 110 Vgl. Breuer, Die Völkischen, S. 63. 111 Vgl. Chickering, We Men, S. 242. 112 Ebd. 113 Beispiele führt Stefan Breuer an: Breuer, Die Völkischen, S. 62f.
1.3 „Nationale Opposition“ und völkische Bewegung
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trieb bzw. in klassischen akademischen Berufsfeldern arriviert war.¹¹⁴ Der Übergang zur „nationalen Opposition“ bedeutete für den Alldeutschen Verband die sukzessive Übernahme von weltanschaulichen Positionen, die in ihrer politischen Aussage wie in ihrer sozialen Repräsentanz zunächst marginalisiert waren. Für die Protagonisten der völkischen Bewegung bedeutete diese Aufnahme in das bildungsbürgerliche Milieu des Alldeutschen Verbandes eine deutliche Aufwertung. Die politische Neuausrichtung des Verbandes geschah von den Leitungsgremien aus.¹¹⁵ Mit den Hauptleitungswahlen vom November 1902 hatten bereits die Befürworter eines antigouvernementalen Kurses die Mehrheit erhalten und Claß konnte sich zusätzlich durch die Zuwahl des Gründungsmitgliedes Reismann und des Geschichtsprofessors Graf du Moulin-Eckart¹¹⁶ auf zwei weitere Vertreter der jüngeren, radikaleren Generation in diesem Gremium stützen. Sie hatten wie Claß schon seit Längerem rassentheoretische Positionen favorisiert und für die Verbreitung der Werke Gobineaus, Paul de Lagardes und Chamberlains im Verband geworben.¹¹⁷ Kritische Positionen gegenüber einem offen konfrontativen Kurs gegen die Regierung wurden von der Leitung ignoriert und die öffentliche Präsentation der „politischen Ergebnisse der Rassenforschung“ auf dem alldeutschen Verbandstag 1905 zeigte in aller Deutlichkeit, dass ihre Verfechter sich hatten durchsetzen können.¹¹⁸ Weiteren Einfluss erhielten Claß und seine Anhänger durch einschneidende Umstrukturierungsmaßnahmen bei der
114 Zur Sozialstruktur des Alldeutchen Verbandes siehe Kapitel 2, zur Sozialstruktur der völkischen Bewegung und zum „proletaroiden Intellektualismus“ siehe Stefan Breuer, Die Völkischen, S. 63f., 127–132. 115 Vgl. Lohalm, Radikalismus, S. 38. 116 Richard Graf du Moulin-Eckart (1864–1938) war Historiker und lehrte an der Technischen Hochschule München. Er stand vor dem Weltkrieg dem „Bayerischen Gauverband“ des Alldeutschen Verbandes vor. Seine Publikationsliste umfasste neben Standardwerken zur bayerischen Geschichte beachtete Biographien Cosima Wagners und Bismarcks. Im Völkischen Beobachter feierten ihn 1933 in einer Laudatio anlässlich seines 69. Geburtstages „die ehemaligen Schüler und das nationalsozialistische München“ als „Apostel des deutschen Gedankens“ und den „getreuen Eckart der akademischen Jugend“. Seinem „Wirken und […] Einflusse“ sei es zu verdanken, „wenn schon vor Jahren bei den Asta-Wahlen der Technischen Hochschule München eine gesicherte nationalsozialistische Mehrheit zustande kam.“ Völkischer Beobachter vom 27. November 1933, Stadtarchiv München ZA Personen 94/4; Michael Peters, Art. „Alldeutscher Verband (ADV), 1891–1939“, in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: