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German Pages 360 Year 2014
Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüßler (Hg.) Akustisches Kapital
Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüßler (Hg.)
Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft
Die Publikation wurde gefördert durch die Stadt Mannheim
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Akustisches Kapital Perspektiven auf veränderte Wertschöpfungskonfigurationen in der Musikwirtschaft
Hans-Joachim Bürkner, Bastian Lange und Elke Schüßler | 9
BEISPIELE NEUER WERTSCHÖPFUNGSKONFIGURATIONEN Trackproduktion als Trial and error? Wertschöpfungsvarianten in der elektronischen Clubmusikproduktion zwischen Digitalisierung, Internet und lokalen Szenen
Hans Joachim Bürkner | 45 Interview John Muder/Johnjon und Chi-Thien Nguyen/Chopstick, DJs und Produzenten | 99 Interview Jürgen von Knoblauch, DJ und Produzent | 103 Kompositionen Neuer Musik Zur ästhetischen Ordnung urbaner Räume
Christoph Michels | 107 Interview Tim Renner, Musikmanager und Professor für Musikbusiness | 129 Klassisch digital Der Virtuelle Konzertsaal der Berliner Philharmoniker
Birgit Stöber | 133
Interview Sebastian Dresel, Beauftragter für Kultur- und Kreativwirtschaften und Janina Klabes, Clustermanagerin | 151
I NTERMEDIÄRE IN WERTSCHÖPFUNGSPROZESSEN „Underground“ und Kulturproduktion Die Rolle von Distinktionen beim Veranstalten Berliner Techno-Partys
Jan-Michael Kühn | 161 Interview Alex Ardelean/100Tons, DJ | 185 Journalisten in der Musikwirtschaft De-Professionalisierung durch Algorithmen?
Bastian Lange | 191 Interview Jonathan Scheiner, Musikjournalist | 213 Niemand kauft das Recht Musik zu hören Performative Wertschöpfung in digitalen Zeiten
Malte Friedrich | 217 Interview Sascha Kösch, Musikjournalist | 241 Musikevents als Bühnen für den Urheberrechtsdiskurs
Elke Schüßler und Leonhard Dobusch | 247 Interview Alex Schulz, Musik- und Eventmanager | 277
WERTSCHÖPFUNG UND NEUE MEDIEN Das 360°-Musikschaffen im Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie
Peter Tschmuck | 285
Interview Olaf Kretschmar, Clustermanager und Vorstandsvorsitzender der Berlin Music Commission | 317 Die Entwicklung der Medien als „Ursachen“ und als „Wesen“ musikbezogener Wertschöpfung
Carsten Winter | 321 Interview Wolfgang Voigt, Künstler und Musikproduzent | 349 Zu den Autorinnen und Autoren | 353
Akustisches Kapital Perspektiven auf veränderte Wertschöpfungskonfigurationen in der Musikwirtschaft Hans-Joachim Bürkner, Bastian Lange und Elke Schüßler
U MBRÜCHE IN DER M USIKWIRTSCHAFT UND DIE N OTWENDIGKEIT EINER R EKONSTRUKTION Mediale Erzählungen zum aktuellen Wandel der Musikwirtschaft sind nicht nur vielfältig und vielschichtig. Mit ihnen geht auch ein alarmistischer, mitunter schriller Tonfall einher. Es tobt ein Widerstreit um die Deutungshoheit zum Wandel innerhalb eines Sektors, der als ein zentraler Bereich der Kreativwirtschaft angesehen wird (Söndermann 2012) und mit dem wichtige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern, Regionen und Städten verbunden werden (Currid 2007; Florida et al. 2010; Krätke 2004; Seman 2010). Auf der einen Seite reklamieren die etablierten Protagonisten1 des älteren Musikbusiness nach wie vor die Definitionsmacht über Preise und Rechte und sehen sich selbst als zentrale Ansprechpartner von Politik, Verbrauchern, Medienanstalten, Justiz und Kulturpolitik an. Dabei beklagen sie zumeist den allmählichen Untergang der großindustriellen Tonträgerpro1
Maskuline Personenbezeichnungen schließen jeweils die weibliche Form ein. Aus Gründen der Realisierung eines besseren Textflusses wird diese vereinfachte Form der Nennung von Genderattributen im Folgenden durchgängig verwendet.
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duktion. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass ein immer größer werdender Teil der Musikproduzenten und -konsumenten diesen alten Strukturen längst den Rücken gekehrt hat. Diese Akteure orientieren sich an eigenen, vernetzten Produktionsformationen, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln; in Sozialen Netzwerken und digitalen Plattformen kursieren Informationen zu Musikern, Gruppen und DJs; Fan-Magazine existieren oft nur noch online; musikalische Artefakte werden in Form von MP3-Dateien digitalisiert und Vertriebsstrukturen zunehmend virtualisiert. Gleichzeitig spielen in diesem mittlerweile rasch wachsenden Markt physische Räume wie Festivals, Clubs oder Live-Events eine immer bedeutsamere Rolle als erlebnisbasierte Transferstellen (Lange/Bürkner 2013). Digitalisierung und Virtualisierung sind daher nicht von konkreten Räumen und Orten abgekoppelt. Es entwickelt sich vielmehr ein neues global-lokales Spannungsverhältnis, das die konkreten Bedingungen und Strukturierungsprozesse der Musikproduktion variabel hält. In dieser Dynamik scheinen die vormaligen systemischen Fixpunkte der Musikökonomie in der Tat zu verschwimmen. Selbst Dieter Gorny, Präsident des Bundesverbandes Musikindustrie und sonst eher mit veränderungskritischen Äußerungen in der Öffentlichkeit vertreten (s. den Beitrag von Schüßler/Dobusch in diesem Band), spricht mittlerweile von einer „Zeitwende“ (Fichter 2013). Ob sich hinter dieser Kehrtwende jedoch nur ein neuer Optimismus hinsichtlich der Neuinstallation älterer Wertschöpfungsmodelle im Netz verbirgt oder sich die Musikwirtschaft tatsächlich neuen Produktionsmodellen und Marktstrukturen zuwendet, bleibt bislang offen. Umso wichtiger ist es, einige originäre Fragen nach den Grundfesten der Produktion musikalischer Artefakte neu zu stellen: Haben wir es mit grundlegend neuen Produktionsmodellen und Marktstrukturen zu tun? Welche Akteure sind unter den Bedingungen von Digitalisierung und Virtualisierung in der Lage, in den entstandenen Kontexten erfolgreich zu handeln, d. h. Wertschöpfungen zu realisieren? Welche Fähigkeiten und Kapitalien (im Sinne von individuellen bzw. gruppenspezifischen Ressourcen oder Vermögen) sind hierfür erforderlich? Welche sozialen Beziehungen, Netzwerke, Handlungsorientierungen, Lebensstile und Werthaltungen spielen eine formative Rolle für die Erzeugung musikalischer Artefakte? Wie werden diese Artefakte performativ, diskursiv und unter Reputationsaspekten vermittelt und verhandelt?
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Um es gleich vorweg zu sagen: Wir sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht an vorschnellen Theoretisierungen und abstrakten Modellen interessiert. Angesichts der turbulenten Umbrüche, deren Zeugen wir sind, müssen aufmerksame Beobachtungen und Erkundungen der entstehenden Praktiken und Strukturen im Vordergrund stehen. Dieser Band will daher dazu anregen, offene Fragen zu stellen und kritisch über bisherige Erklärungsversuche nachzudenken. Dabei ist auch das scheinbar Offensichtliche zu hinterfragen, insbesondere Berichte, Eindrücke und Erzählungen aus der Produktions- und Konsumtionspraxis. Künstler, Produzenten und Labels sind zwar stets Experten in eigener Sache, aber auch nicht frei von Irrtümern oder Blickverengungen. In diesem Sinne lautet unser Bestreben, möglichst viele unterschiedliche Perspektiven zwischen zwei Buchdeckeln zusammenzubringen – „analoge“ wie „digitale“, produktions- und konsumtionsorientierte, aus dem Bereich der Klassischen Musik ebenso wie aus der Popmusik. Der Band bietet somit eine explorative Abfolge von wissenschaftlichen Analysen und empirischen Eindrücken. Unterschiedliche Akteure aus der Praxis kommen außerdem in Form von Kurzstatements zu jeweils identischen Fragen zu Wort. Dabei ist uns bewusst, dass wir keine fertigen Antworten auf unsere Fragen oder die Fragen anderer liefern können. Wir verstehen die Beiträge in diesem Band vielmehr als Diskussionsangebote an eine wachsende Gemeinde von Analytikern. Damit sind keineswegs nur akademische Klüngel und Netzwerke von Fachwissenschaftlern gemeint, sondern auch alle Produzenten und Konsumenten, die über ihre Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie über die Veränderungen in ihrem Aktivitätsradius nachdenken. Beide „Gemeinden“ sind in den aktuellen Debatten nur allzu oft voneinander getrennt. Auch wenn diese Trennung nicht immer sofort überwunden werden kann, sollten die Leser und Diskursteilnehmer doch wenigstens dazu angeregt werden, näher zusammenzurücken und ihre Wahrnehmungen, Problemsichten und Erfahrungen miteinander zu teilen. Bevor wir unsere inhaltlichen Ausführungen fortsetzen, möchten wir uns herzlich bei allen Autoren und Interviewpartnern für ihre Beiträge und die dadurch geleistete Unterstützung unseres Vorhabens bedanken. Unser Dank geht auch an die Stadt Mannheim, die uns durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss finanziell unter die Arme gegriffen hat. Für seinen ideellen Beistand danken wir Holm Friebe, der stets für ein Brainstorming bereit war und uns dabei zu dem Haupttitel unseres Bandes inspirierte.
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Die Entstehung dieser Anthologie hat sich in verschiedenen Netzwerktreffen konkretisiert, die freundlicherweise in den Räumen des GeorgSimmel-Zentrums für Metropolenforschung (Berlin) stattfinden konnten. Zu guter Letzt bedanken wir uns bei Irmgard Hoemke für ihre unermüdliche Unterstützung bei der Endredaktion.
N EUE VIRTUELL - ANALOGE W ELTEN DER M USIKPRODUKTION UND - KONSUMTION Unstrittig ist zunächst, dass die vertrauten Akteurs- und Produktionskonstellationen in Popmusik, elektronischer Musik und zeitgenössischen Stilvarianten nicht mehr einheitlichen Formierungskriterien folgen. Waren diese zwischenzeitlich – in Zeiten des CD-Major-Label-Booms – in relativ überschaubaren linearen Wertketten zwischen Musikern, Bands, Produzenten, Managern, Labels und Vertrieb aufgereiht, so sind derartige Linearitäten mittlerweile wieder mehrfach durchbrochen worden (Sperlich 2008). Stattdessen entstehen heute hybride ökonomisch-kulturelle Wertschöpfungsformen, deren Voraussetzungen und Ausprägungen maßgeblich durch neue digitale Produktions-, Vertriebs- und Bewertungsmöglichkeiten beeinflusst werden (Lange/Bürkner 2010). Wie dieser Band zeigen wird, sind selbst die Klassische Musik (s. den Beitrag von Stöber in diesem Band) oder die Neue Musik (s. den Beitrag von Michels) von entsprechenden Veränderungen betroffen. Probleme der Wertbildung bzw. Wertschöpfung stehen im Kern dieser Anthologie. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, diese Probleme mit Blick auf die Bedeutung fortgeschrittener digitaler Technologien, der ihnen zurechenbaren Infrastrukturen und der von ihnen beeinflussten Produktions-, Vertriebs- und Entwicklungsprozesse herauszuarbeiten. Unsere These lautet, dass die paradigmatische Zäsur, die mit dem Beginn der digitalen Produktion in den 1980er Jahren eingetreten ist und zu einer markanten Veränderung der sektoralen Produktionsbedingungen geführt hat, nicht mehr mithilfe universeller, linearer Verlaufsmodelle der Wertschöpfung erklärt werden kann. Gleichwohl gehen wir davon aus, dass trotz aller Unübersichtlichkeiten neue Strukturierungstrends mit jeweils eigenen Wertschöpfungskonfigurationen sichtbar werden und empirisch rekonstruiert werden können. Anlass zu dieser Vermutung gibt die Beobach-
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tung, dass sich jenseits der etablierten Produktionspfade eine Vielzahl dynamischer und teilweise aufeinander bezogener Strukturentwicklungen vollzogen hat. Neue Reputationsmechanismen zwischen lokalen und globalen Szenen sind entstanden. Künstler und Produzenten haben immer differenziertere stilistische und ökonomische Nischen besetzt. Familienähnliche Zuhörerschaften (vgl. den Buchtitel „Der Klang der Familie“, Denk/von Thülen 2012) sowie wechselnde digitale und analoge Aufmerksamkeitszyklen haben finanzielles Einkommen und Geschäftspraktiken ermöglicht, die jeweils um wenig erprobte Modelle der Musikproduktion herum entwickelt wurden. Eine wesentliche Ursache für das Aufbrechen vormals fest umrissener Wertschöpfungsmodelle ist in der raschen stilistischen Ausdifferenzierung von Genres und der in ihnen eingeschlossenen Produktionspraktiken zu suchen. Hip-Hop, Techno, House und benachbarte Popmusik-Stile leben maßgeblich vom kreativen Spiel mit ubiquitär verfügbaren musikalischen Rohmaterialien. Diese werden durch Kulturtechniken wie das Sampling und das Mixen zu immer neuen Artefakten verbunden (von Gehlen 2011). Radikale Techniken wie z. B. das Mash-up lassen die verwendeten Ausgangsmaterialien weit hinter sich, indem sie collagenartige Re-mixes heterogener Musiktitel oder auch nur einzelner Tonsequenzen erzeugen. Daher sind sie nicht wie konventionelle Musiktitel per Tonträgerverkauf vermarktbar, zumal die dafür erforderlichen Urheberrechte nicht geklärt werden können. Kritiker wie Andrew Keen bestreiten gar, dass es einen identifizierbaren Inhalt des Mash-up-Artefakts gibt (Keen 2007). Vielmehr erhält ein derartiges Artefakt seinen Marktwert zunächst auf dem Wege kultureller Wertschöpfung. Diese ist an bestimmte soziale Umgebungen (Szenen) und politische Kontexte (Underground), häufig aber auch an die Live-Auftritte der Künstler gebunden (wie z. B. im Indie-Pop). Auf der Konsumentenseite bleiben derartige Praktiken nicht folgenlos. Dem Sampeln und Mixen als Produktionstechniken entsprechen nämlich Techniken des Teilens, die insbesondere unter Zuhilfenahme der Möglichkeiten des Internets angewendet und weiterentwickelt werden. Als Kulturtechnik des Pops ist das Sharing neben dem Sampeln bereits seit längerer Zeit etabliert – Bewohner älterer analoger Welten erinnern sich noch gern an die Mixtapes, deren Anfertigung und Zirkulation unter Fans jeweils originärer Bestandteil des Konsumalltags waren. Die subversive Komponente dieser Praxis konnte lange Zeit durch die Offenlegung der Autorenschaft
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und die Weitergabe fest umrissener Artefakte kontrolliert werden. Mit fortgeschrittenen Formen des Samplings hat allerdings auch das Sharing eine neue Qualität erhalten. Dessen subversiver, gegen Eigentum und Exklusivität gerichteter Gehalt ist offensichtlicher geworden. Zugleich sind aus der ursprünglich alternativen Sharing-Kultur heraus paradoxerweise Elemente einer neuen Hochkultur entstanden. Ältere Vorstellungen von dauerhaftem individuellem Besitz, langfristig gültigen Technologien und hochpreisigen Investitionen in Räume, Geräte und andere für Arbeitsprozesse wichtige Ressourcen werden dadurch tendenziell infrage gestellt. Die Subversion ist quasi in der Hochkultur angekommen und beeinflusst deren weitere Entwicklung. Auch darauf müssen Wertschöpfungsanalysen eine Antwort finden. Unklar ist derzeit noch, wie sich veränderte Hör- und Konsumgewohnheiten, die ihrerseits durch Digitalisierung und Virtualisierung geprägt werden, als treibende Kräfte des Strukturwandels der Musikwirtschaft bemerkbar machen. Obwohl die Angebotsorientierung der Musikmärkte noch deutlich zu erkennen ist (Schema: großer Medienkonzern entdeckt Talente und vermarktet deren Produkte auf Tonträgern im großen Stil), gewinnt – ähnlich wie in vielen anderen technologisch aufgerüsteten Produktions- und Dienstleistungsbereichen (s. Reichwald/Piller 2002) – die Nachfrageseite zunehmend an Gewicht, sodass ökonomische Wertbildungen einer Vielzahl heterogener Bewertungen unterliegen. Dem aufmerksamen Beobachter fallen dabei nicht nur die Interventionen der Konsumenten auf, die in der digitalen Welt mit den buchstäblichen Mausklicks, den Blogposts und den Facebook-Botschaften sichtbar werden. Es geht dabei auch um neue Orte der Vergemeinschaftung, um veränderte Anlässe der Produktion und um szenegebundene Ereignisse, die eine zunehmend wichtige Rolle für die Gewinnung Akustischen Kapitals spielen (s. dazu den nachfolgenden Abschnitt „Akustisches Kapital“). Diese doppelte Verankerung der Nachfrage nach musikalischen Artefakten, einerseits auf der virtuellen Ebene, andererseits im (meist lokalen) Nahraum der Konsumenten, gilt es genauer in den Blick zu nehmen, um die neuen Wechselbeziehungen zwischen Produzenten und Rezipienten zu verstehen. Denn tatsächlich ist bislang keine klar umrissene Interaktion zwischen Nachfragern und Anbietern zu erkennen. Auf der Nachfrageseite entstehen vervielfältigte Nischen, Kleinszenen und digital-analog verzweigte Kommunikationsstrukturen. Diese begleiten und stützen jeweils eine wild
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ins Kraut schießende Trial-and-error-Produktion (s. der Beitrag von Bürkner in diesem Band). Auf der Produktionsseite finden sich neben Versuchen der Absicherung riskanter Projekte aber auch andere Umgangsweisen mit den Informations- und Kommunikationsangeboten des Web 2.0: So ziehen sich viele Produzenten angesichts verunsichernder Feedbacks aus dem Internet eher in eine selbst gesteuerte, autonome Produktionspraxis zurück und vernetzen sich allenfalls mit Gleichgesinnten und kleinteilig organisierten Intermediären. Explorationen dieser neuen Welt der virtuell-analogen Produktionsbedingungen finden stets unter erschwerten Bedingungen statt. Sie sind eingebettet in kontrovers geführte Expertendebatten und zudem in einen medial inszenierten öffentlichen Widerstreit, der weit über den Kontext der Musikwirtschaft hinausreicht. Nach wie vor versuchen definitionsbereite Akteure in Wirtschaft und Politik, ihre jeweilige Deutung der Strukturen der Musikwirtschaft mithilfe dichotomer Kategorien durchzusetzen. „Entscheidet euch“, so scheinen sie zu fordern, „zwischen Kultur und Wirtschaft, zwischen alten und jungen Hörgewohnheiten, zwischen der nachhaltigen Relevanz von Majors und aufstrebenden neuen Minors, zwischen alten Zentren der Musikproduktion und immer wichtiger werdenden neuen, oftmals peripheren Quellen musikalischer Innovation, sowie nicht zuletzt zwischen ,analog ތund ,digital( “ތRenner/Renner 2011). Derartige Postulate erscheinen mittlerweile umso fragwürdiger, als die klassischen Strukturkonzepte, Statuszuweisungen und Aufgabenbereiche wie „Musiker“ und „Manager“, „Veranstalter“ und „Agent“, „Club“ und „Konzerthalle“ zusehends verschwimmen. Aus diesen wenigen Überlegungen heraus dürfte deutlich geworden sein, dass der gegenwärtige Umbruch in der Musikproduktion eng mit größeren gesellschaftlichen Debatten korrespondiert. Die Herausgeber plädieren daher dafür, die in und um die Musikwirtschaft herum arrondierten Teilsysteme, ihre Akteure und räumlichen Einbettungskonzepte, deren Strategien und Taktiken des Aufbaus musikalischer Portfolios sowie deren performativen Praktiken genauer zu betrachten. Diese Perspektive zielt darauf ab, entgegen zukunftsgläubiger One-fits-all-Modellierungen und neo-positivistischen Reduktionismen bezüglich des einen zukunftstauglichen Geschäftsmodells der Musikwirtschaft eine neue Aufmerksamkeit für die vielfältigen Ausprägungen der gegenwärtigen Felder der Musikproduktion zu entwickeln. Es kommt uns darauf an, in diesen Multiplizitäten jeweils fort-
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laufend entstehende Wertschöpfungskonfigurationen zu erkennen und dabei zu verstehen, welche neuen oder alten, geplanten oder spontan selbst geschaffenen Zusammenhangsformen diese Konfigurationen ausmachen. Erst auf der Basis vorsichtig verallgemeinernder Beschreibungen wird es uns möglich sein, die neue Welt der Musikproduktion und -konsumtion adäquat zu erfassen.
M USIKWIRTSCHAFT ALS PARADIGMATISCHER AUSDRUCK SYMBOLISCHER Ö KONOMIEN Trends und Treiber: Neue symbolische Produktionskontexte Als Teilbereich und Sektor der Kultur- und Kreativwirtschaft wurde die Musikwirtschaft in jüngerer Zeit immer wieder unter volkswirtschaftlichen Parametern analysiert (BMWi 2009). Die hier ersichtlichen aktuellen Marktdynamiken verweisen nicht mehr wie in der Vergangenheit lediglich auf konjunkturbedingte Schwankungen, mit denen sich weiterhin stabile Produktionsmodelle von Fall zu Fall zu arrangieren hätten. Vielmehr deuten sie auf eine manifeste Transformationskrise hin, die von der Nachfrageseite angestoßen worden ist. Ehemals angebotsorientierte Modi der Erfindung, der gesteuerten Innovation und der planmäßigen Entwicklung von Produkten werden derzeit von neuen nachfrageorientierten Verfahrensweisen und strukturellen Konfigurationen abgelöst. Ihre Akzeptanz durch die Marktakteure ist noch keineswegs gesichert, sodass weitere Umwälzungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Durchsetzung neuer StreamingFormate in der internetbasierten Musikdistribution, nicht auszuschließen sind. Plausibel ist zunächst die Annahme, dass die ökonomische Realität im Musiksektor die kategorialen Teilungen des älteren Industrialismus – hie Produktion, dort Konsumtion – in zunehmendem Maße hinter sich lässt. Hierfür sprechen bereits bei oberflächlicher Betrachtung die zunehmende Zahl unternehmerisch Selbstständiger (Söndermann 2012, S. 7 ff.), die starke Zunahme des Angebots amateurhaft und halbprofessionell erzeugter Musikstücke auf Download-Plattformen sowie eine generelle Bedeutungszunahme von sozialen Orten wie Clubs, Co-Working Spaces (vgl. Hariri
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2013 mit Blick auf musikalische Produktionsplattformen) und spektakulären lokalen Projekten. Die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen Produktion und Dienstleistungen sowie zwischen Ökonomie und Soziokultur sind angesichts zunehmend verflochtener Tätigkeiten inner- und außerhalb musikorientierter Szenen kaum noch aufrechtzuerhalten. Die Grenzen zwischen branchengebundener professioneller Tätigkeit, „privater“ Teilnahme an Produktionsprozessen (z. B. beim Feiern im Club) und hedonistischem Ausleben persönlicher Entwicklungsphantasien (als Erfinder und Kombinierer musikalischer Materialien, als freier kreativer Geist usw.) sind fließend, sodass auch über die Bedeutungen der Begriffe „Arbeit“ und „Profession“ neu nachgedacht werden muss (s. den Beitrag von Lange in diesem Band). Es kann angenommen werden, dass ihr Verschwimmen keine chaotische Nebenfolge eines ursprünglich absichtsvollen ökonomischen Handelns ist, sondern im Gegenteil eine wichtige Voraussetzung der Erzeugung musikalischer Artefakte darstellt. Unter diesen Bedingungen rücken symbolische Produktionskontexte in den Mittelpunkt der Betrachtung. Solche Kontexte können die Zugehörigkeit der Akteure und der von ihnen geschaffenen Produktionsstrukturen zu einzelnen, Trends setzenden Szenen sein (s. Lange/Bürkner 2013). Wichtige Kontexte können aber ebenso gebildet werden von renommierten Labels und deren Umfeld (z. B. Gruppen von Künstlern, die bei einem wichtigen Label unter Vertrag stehen), von international tonangebenden Clubs in den nachgefragten Zentren der Musikproduktion und -aufführung oder von Systemen der szenespezifischen Reputationsbildung, etwa den DJ-Charts kommerzieller Internet-Vertriebsplattformen von Techno- und Housemusik wie z. B. Beatport. Diese symbolischen Kontexte sind keine reinen Oberflächenphänomene in dem Sinne, dass sie lediglich anzeigen, welchen Status einzelne Künstler und Labels haben, welche Trends jeweils wichtig sind und welche künftige Entwicklung stilistischer Mainstreams und Nischen sich abzeichnen. Unter den Bedingungen von Virtualisierung und Digitalisierung sind sie vielmehr integrale Bestandteile der Musikproduktion selbst, da sie wichtige Anreize zur Erzeugung von Artefakten liefern, als Möglichkeit des Feedbacks für die an laufenden Produktionen Beteiligten dienen sowie Antriebe für die Entwicklung neuer künstlerischer Ansätze und Geschäftsideen bereitstellen (s. hierzu u. a. den Beitrag von Bürkner in diesem Band). Darüber hinaus sorgen sie immer wieder für erneute Mash-ups und stilistische Ausdifferen-
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zierungen, und zwar durch den permanenten diskursiven Weitertransport von symbolbezogenen Geschmacksurteilen, Wahrnehmungen und Präferenzen in internetbasierten Communities und Netzwerken. Damit soll nicht etwa gesagt sein, dass neue Formen der Musikproduktion ihre Bodenhaftung verloren hätten und in die Symbolproduktion abgedriftet seien. Selbstverständlich ist eine materielle Basis erhalten geblieben. Es werden weiterhin Tonträger erzeugt und verkauft. Live-Auftritte werden entwickelt und vermarktet. Medien-Content wird über die reine Tonträgerproduktion hinaus unter Einsatz unterschiedlicher Produktionsmodelle (z. B. des sogenannten 360°-Musikschaffens, s. den Beitrag von Tschmuck) hergestellt. Aber die alte Regel „Erst das Produkt, dann das Symbol“ scheint in vielen Produktionskontexten außer Kraft gesetzt zu sein. Hatte die traditionelle Popmusikproduktion (z. B. im Genre des Rock der 80er Jahre) noch zum Ziel, zunächst einen Künstler mithilfe einer top-down organisierten Unternehmensstrategie „aufzubauen“, ihn global zu vermarkten und im Rahmen dieser Vermarktung passende Symbole zu kreieren, so erzeugt der „Schwarm“ der virtuellen Ko-Präsenzen innerhalb der Szenen jeweils Symbolfelder, auf die sich die Künstler vor aller ökonomischen Selbsterfindung beziehen müssen, um wahrgenommen zu werden und sich ihrem Publikum verständlich machen zu können. Erst das Wechselspiel zwischen der künstlerischen Ansprache der einschlägigen Symbolvorräte, der eigenen Erzeugung von Symbolen qua Artefakten und dem sozialen Kontext (umgangssprachlich oft auch als Hype bezeichnet) sowie der ökonomischen Inwertsetzung der Artefakte strukturiert den Markt. Dieser Prozess erfordert mehrfache Interaktionen und Bezugnahmen zwischen Künstlern und Szenen, Künstlern und professionellen Netzwerken sowie Künstlern und mehrfach präsenten Öffentlichkeiten – und zwar sowohl in analogen als auch in virtuellen Feldern. Kreativ- und Wissensmärkte verändern sich durch Digitalisierung Kehren wir bei unserem ersten Versuch, die Grundproblematik gedanklich einzukreisen, noch einmal zu den harten Fakten des Unternehmertums in der Kreativwirtschaft zurück. Es gilt, die Umbrüche in der Musikwirtschaft in größere ökonomische Veränderungen einzuordnen. Der Musiksektor
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liegt offensichtlich im allgemeinen Trend des gesamtwirtschaftlichen Wandels. Es handelt sich um eine Bewegung hin zu einer flexibilisierten und zugleich gemischten Produktions- und Dienstleistungsökonomie, die sich an dem Spannungsverhältnis von globalisierter Steuerung und lokaler Restrukturierung ausrichtet. Die Merkmale der Akteure sowie die Anforderungen an ihre Fähigkeiten (z. B. ein besonderes Wissen) und ihre sozialen Umgebungsbedingungen (Milieus, Szenen) ähneln häufig denjenigen, die vor wenigen Jahren im Zusammenhang mit der Entwicklung technologisch hochgerüsteter Wissensökonomien beschrieben worden sind (Howells 2002; Gertler 2003). Es lohnt sich, einen Seitenblick auf die benachbarten ökonomischen Transformationsbereiche zu werfen, um abschätzen zu können, inwieweit die Musikwirtschaft in allgemeine Umwälzungen einer sich fortlaufend globalisierenden Ökonomie einbezogen ist. Spannend wird diese Perspektive vor allem dann, wenn der Musikwirtschaft eine Art Vorreiterfunktion für andere Wirtschaftsbereiche bescheinigt werden kann. Mit der Kleinteiligkeit von Unternehmen geht typischerweise eine neue Art der Entwicklung, der Organisation und des Managements relevanten Wissens sowie notwendiger Expertise einher (Helbrecht 2004; Ibert 2006; Meusburger 2008). Die Modi der Wissensproduktion heben sich signifikant von denjenigen ab, die mit klassisch-industriellen Formen von Arbeit und Produktion verbunden sind (Matthiesen/Bürkner 2004). Sie erfordern andere Kompetenzen und Fähigkeiten sowie besondere Orte des Austauschs. Eben weil relevantes Wissen immer eindrücklicher in diesen kleinteiligen Strukturen entsteht und meist nicht an betriebliche Hierarchien oder soziale Statushierarchien gebunden ist, ist es situationsabhängig. Diese Qualität des Wissens wurde bereits in den 90er Jahren von Gibbons und Kollegen auf einen flexiblen Modus der Wissensproduktion zurückgeführt, der sich von älteren industriellen Modi deutlich unterscheidet (Gibbons et al. 1994). Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass die Ausbreitung vernetzter Produktion in technologisch fortgeschrittenen Branchen sowohl etablierte kleine und mittlere Unternehmen als auch transnational agierende Firmen zur Entwicklung flexibler Modi der Wissensproduktion veranlasst hat, sind deutliche Differenzen zur Wissensproduktion in den Klein- und Mikrounternehmen der Kreativwirtschaft zu verzeichnen. Die neuen Kreativ- und Wissensarbeiter sind nämlich institutionell entweder sehr schwach verankert oder arbeiten gänzlich frei. Sie erhalten
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durch besonders offene und flexible Formen der Wissensgewinnung jeweils neue Chancen der Profilierung abseits etablierter Berufs- und Karrierewege (von Streit 2011). Augenfällig ist, dass sie vermehrt digitale Kommunikationsmedien und Social Media nutzen, um ihr Wissen und ihre Expertise besser mit anderen Spezialisten zu verbinden und dabei zu neuem Wissen zu kombinieren, oft auf der Basis sogenannter Open-Source-Technologien. Exemplarisch für diesen Modus der Wissensproduktion steht die Entwicklung von Softwareprogrammen wie z. B. dem Internetbrowser Firefox oder dem offenen Betriebssystem Debian (O’Mahoney/Ferraro 2007). Erleichtert wird dies durch dramatisch gesunkene Transaktionskosten, d. h. Kosten für die Handlungskoordination und die Kommunikation unter den Akteuren. Dadurch werden insbesondere Kooperationen in Form von locker geknüpften und informellen Projektnetzwerken möglich – im Gegensatz zur Berufspraxis in stabilen Hierarchien und preisgesteuerten Märkten (Benkler 2002). Zugleich eröffnen sich den unabhängigen Akteuren neue Optionen für die Realisierung von Einkommen und Reputation. Neben der technischen Komponente werden auch individuelle Eigenschaften der Akteure wie z. B. gegenseitige Wertschätzung, Vertrauen, Respekt, Toleranz und Anerkennung wichtiger (Nuissl 2002). Da Wertschöpfung weniger innerhalb klassisch-bürokratischer Organisationsformen entsteht als vielmehr in offenen und informellen Strukturen (Hemetsberger/ Reinhardt 2009), kommt der Komponente der Persönlichkeitsentfaltung der Beteiligten eine größere Rolle zu als früher. Dies gilt insbesondere für innovative Ideen und Denkansätze, die von Außenseitern (DeFillippi et al. 2007) oder „Marktrebellen“ (Rao 2009) entwickelt werden. Vor allem im Kontext von Open-Source-Projekten kristallisieren sich neue Koordinations- und Kooperationsmechanismen in sogenannten digitalen Gemeinschaften heraus, die den Charakter einer „organisierten Informalität“ annehmen (Dobusch/Quack 2011). Ähnlich wie die wirtschaftliche Praxis des Taylorismus in der industriellen Epoche soziale Verhaltens- und Denkweisen prägte, kann sich die Open-Source-Praxis zu einer strukturbildenden Leitidee entwickeln, die langfristig nicht nur zu einer neuen Definition von Arbeit führt, sondern die Gesellschaft insgesamt nachhaltig zu verändern im Stande ist. In vielen Markt- und Gesellschaftsbereichen haben Digitalisierungsprozesse in jüngster Zeit dafür gesorgt, dass die durch Monopolisten besetzten Markteinstiegsmöglichkeiten, gewissermaßen die „Nadelöhre“ des Indus-
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triezeitalters, immer weiter geöffnet werden. Einerseits fallen Markteintrittsbarrieren durch das sukzessive Scheitern ehemals marktbeherrschender Akteure, andererseits sinkt der Kapitaleinsatz der neuen Marktteilnehmer (Friebe/Ramge 2008). Durch den technologischen Strukturwandel haben sich somit neue Markteinstiegsoptionen ergeben. Im Kontext der Musikwirtschaft bedeutet dies, dass man Produktionen, für die man vor zwanzig Jahren noch ein voll ausgerüstetes Tonstudio benötigt hätte, heute preiswert und in hoher Tonqualität am Laptop realisieren kann. Andererseits stehen die Kanäle für Marketing und Vertrieb jetzt durch die rasche Ausbreitung unterschiedlicher kommerzieller und nichtkommerzieller Distributionsplattformen im Internet potenziell allen Akteuren offen. Der Wechsel von „analoger“ zu „digitaler“ Produktionsweise bringt es auch mit sich, dass sich trotz aller Kleinteiligkeit neue Geschäftsmodelle besser skalieren lassen, weil Produktkopien zu geringen Kosten angefertigt und verbreitet werden können. So kann etwa die Games-Industrie einen weltweiten Markt quasi aus dem Stand mit neuen Produkten bedienen. Kleine Musikproduzenten und Labels können durch die beliebige Vervielfältigungsmöglichkeit ihrer digitalen Tonträger per Download jeweils sprunghaft sich vergrößernde globale Märkte bespielen. Doch auffallenderweise bewirkt die Digitalisierung nicht ausschließlich eine Verlagerung ökonomischer Aktivitäten in digital operierende Geschäftswelten hinein. Neben digitalen behalten analoge Welten eine wichtige Funktion, ablesbar an jüngeren Debatten über den Bedeutungsgewinn sozialer Treffpunkte und Clubs in europäischen Innenstädten (Lange/Bürkner 2010), über die Vorteile zentral-urbaner anstatt dezentral-suburbaner Arbeitsorte (Helms/Phleps 2007) oder über die Zunahme der Zahl kommunikativer Orte des Wissenstransfers wie Tagungen, Messen und anderen Begegnungsevents (Bathelt/ Schuldt 2008, Schüßler/Sydow 2013). Die Musikwirtschaft befindet sich somit in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext der Koproduktion neuer Wissensformen. Die jeweils spezialisierten Pfade der Wissensentwicklung, die hier beschritten werden, gilt es in ihrer Besonderheit und in ihren Wechselwirkungen mit benachbarten ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen aufmerksam zu rekonstruieren. Ein erster Schritt dazu wird weiter unten (S. 20 ff.) im Zusammenhang mit der Vorstellung des Konzepts des Akustischen Kapitals unternommen.
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W ERTSCHÖPFUNG : B EGRIFF
UND
K ONZEPT
Dem Begriff der Wertschöpfung nähern wir uns zunächst aus einer wirtschaftsgeographischen Perspektive. Dies hat zum einen damit zu tun, dass Raumbezüge im Feld der Musikproduktion in die Spezifik ökonomischer Tätigkeiten sowie die sozialen und kulturellen Kontexte quasi eingeschrieben sind. Zum anderen wurden in der Wirtschaftsgeographie begriffliche Unterscheidungen zu Wertschöpfungsprozessen in industriellen Produktionsmodellen entwickelt, die uns bei der Entwicklung eigener Zugänge zu möglichen Wertschöpfungsbegriffen als Anregung dienen. Zentraler Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich forschungs-, wissens-, symbol- und designintensive Märkte seit mehreren Dekaden signifikant restrukturieren und dabei einen paradigmatischen Wandel durchlaufen (s. z. B. Aspers/Darr 2011). Insbesondere der Anteil der „immateriellen“, auf Geschmacks- und Werturteilen basierenden Wertschöpfung an der Gesamtwertschöpfung hat erheblich zugenommen. Das neue Wertschöpfungsverständnis geht somit weit über harte Materialitäten hinaus. Dennoch bleiben passfähige Wertschöpfungsbegriffe weiterhin Desiderate der Forschung wie auch der professionellen Diskurse. Besonders zur grundsätzlichen Frage, wie sich die Konstituierung von immateriellen und materiellen „Werten“ in der Musikproduktion als ein integraler Teilbereich der Kreativwirtschaft raum-zeitlich erklären lässt, liegen bis dato nur wenige überzeugende Denkansätze vor, wenngleich neuere soziologische Studien über die Dynamiken und Mechanismen der Wertbildung und Bewertung insbesondere in symbolintensiven Märkten hilfreiche Ansatzpunkte bieten (Beckert/Aspers 2011; Moeran/Strandgaard Pedersen 2011). Das traditionelle industrieökonomische Verständnis des Leitbegriffs „Wertschöpfung“ beruht auf der Annahme eines sequentiellen Aufbaus materiellen (d. h. monetär bezifferbaren) Werts entlang von einzelnen Produktions-, Vertriebs- und Verwertungsstufen. Dieses Verständnis verweist auf eine lineare Wertkette, entlang der die Material-, Informations- und Dienstleistungsflüsse einer Unternehmung geordnet werden können. Ziel der Wertschöpfungsanalyse in der Praxis ist es, durch die Dekonstruktion von Wertschöpfungsschritten Kosten- und Werttreiber zu identifizieren und dann durch eine Reduktion von Kosten und den gleichzeitigen Ausbau von Werttreibern den Stellenwert eines Unternehmens gegenüber anderen
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Wettbewerbern zu erhöhen (Porter 1985). Die ermittelten Stärken und Schwächen in einer Wertkette bilden gleichsam die Basis für die Strategieentwicklung. Die verschiedenen zusammenhängenden Wertketten (value chains) einer Branche bilden gemeinsam ein Wertschöpfungskettensystem (value system), aus dem konzeptionell abgeleitet werden kann, wie eine Branche organisiert ist. Das von Michael Porter entwickelte Verständnis der Wertkette ist somit im Kern zunächst ein methodisches Ideal, aber auch ein analytisches Instrument zur Entwicklung unternehmerischer Wettbewerbsstrategien. Aus dieser im weitesten Sinne an industriellen Produktionssystemen orientierten Basisperspektive, die stark an die Logik der Fließbandproduktion erinnert, haben sich im Laufe der Zeit weitere, an fortschreitende ökonomische Flexibilisierungs- und Globalisierungsprozesse angepasste Wertschöpfungskonzepte entwickelt. Auf diese (z. B. den Ansatz der „globalen Wertkette“ bzw. global value chain (Kulke 2007) oder Gereffis stärker netzwerkorientierten commodity chain approach (Gereffi et al. 2005)) soll hier nur insofern verwiesen werden, als dass verdeutlicht werden soll, wie sehr deren Erklärungshorizont dennoch in erster Linie a) auf angebotsorientierte industrielle Fertigungs- und Marktdistributionsprozesse sowie b) auf „analoge“ Produktionsmodi ausgerichtet ist. Sie lassen daher eine Auseinandersetzung mit den sozialen Einbettungskontexten der ökonomischen Akteure nur punktuell zu (s. auch Hadida/Paris, im Druck). Das Konzept der virtual value chain (Rayport/Sviokla 1995) beispielsweise bezieht zwar die zunehmende Rolle des Internets für Wertschöpfungsaktivitäten ein, bleibt dabei aber eng der Logik einer linearen Abfolge von Wertschöpfungsstufen verhaftet. Auch Porter hält grundsätzlich an der Idee einer Wertkette fest: „While the Internet will replace certain elements of industry value chains, the complete cannibalization of the value chain will be exceedingly rare“ (Porter 2001, S. 73). Im Gegensatz zu diesen managementorientierten Ansätzen haben sich an der Schnittstelle von Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeographie schon in den 1990er Jahren alternative Verständnisse von Wertschöpfungsprozessen herausgebildet, die den Blick stärker auf die sozialen Einbettungen globaler ökonomischer Transaktionsprozesse richten. Der global commodity chain-Ansatz beispielsweise hinterfragt, welche interorganisationalen Netzwerke zwischen global verteilten Einzelhändlern oder anderen Einkäufern, Produzenten und (Sub-)Lieferanten entstehen und wer die-
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se auf der Basis unterschiedlicher Machtverhältnisse steuert (Gereffi/Korzeniewicz 1994). Gleichwohl weichen auch diese Ansätze von dem Postulat der linearen Anordnung von Wertschöpfungsstufen nur unwesentlich ab. Ähnliches gilt für die Konzeptualisierung globaler Wertschöpfungsketten (global value chains; s. Humphrey/Schmitz 2001; Gereffi et al. 2005). Lediglich der Ansatz „Globale Produktionsnetzwerke“ (global production networks; Henderson et al. 2002) versucht, komplexen sozialen, oft gerade nicht-linearen und dennoch ökonomisch abbildbaren Netzwerkbeziehungen in global verteilten Produktionsprozessen Rechnung zu tragen. Für unsere Zwecke sind derartige Konzepte nur bedingt hilfreich, weil ihnen insbesondere die Erzeugung immaterieller Werte weitgehend verborgen bleibt. Die damit zusammenhängenden Fragen nach mikrodynamischen Veränderungen von Wertschöpfungsprozessen und korrespondierenden Sozialitäten2, nach der Beschaffenheit flexibler Interaktionen, nach der Entstehung von produktbezogenen Bewertungskriterien sowie nach dem Einfluss sozialer Faktoren (z. B. der Reputation der Akteure) auf unterschiedliche Wertschöpfungsformen können nur ansatzweise adressiert werden. Um die Linearität des Wertschöpfungskettendenkens aufzubrechen, haben in einer frühen Studie Stabell und Fjeldstad (1998) dezidiert den Begriff „Wertschöpfungskonfiguration“ eingeführt. Sie gehen davon aus, dass die Wertkette lediglich eine unter mehreren Möglichkeiten der Konfiguration von Wertschöpfungsaktivitäten darstellt. Einer ähnlichen Logik folgen Woratschek und Kollegen mit ihrer darauf aufbauenden Theoretisierung von „Wertshops“ und „Wertnetzen“. Damit sind einerseits betriebliche und
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Als Basisbegriff der Sozialen Anthropologie bezeichnet Sozialität das Angewiesensein der Menschen auf eine soziale Steuerung ihres Handelns, insbesondere auf soziale Unterstützung, Anerkennung und Verhaltensbestätigung im Rahmen sozialer Interaktionen mit „personal identischen“ Interaktionspartnern (Esser 1999, S. 161). In der Soziologie kennzeichnet Sozialität zusätzlich „die aus den Sozialverhältnissen hervorgehenden und diese gleichsam steuernden sozialen Dynamiken und Strukturierungseffekte“ (Lüdtke 2011, S. 13). In dem hier vorliegenden Kontext der Musikproduktion wird Sozialität in fokussierter Weise als Ergebnis wie auch als Voraussetzung szeneförmiger Vergemeinschaftung sowie temporärer professioneller Zusammenarbeit angesehen. Sie wird damit stets als prekäre Sozialität gefasst, wie sie im Rahmen spätmoderner Vergemeinschaftungsformen regelhaft auftritt (Raab 2010).
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zwischenbetriebliche Verhandlungssysteme rund um Problemlösungsprozesse gemeint, andererseits Mediationsprozesse in Netzwerken mit nicht festgelegten Anfangs- und Endpunkten der Wertschöpfung (Woratschek et al. 2007). Insbesondere in nicht-industriellen, immateriellen, personenbezogenen sowie wissens- und symbolintensiven Produktionsprozessen kommen derartige alternative Konfigurationen zum Einsatz. Trotz aller Annäherungen sind diese Forschungsansätze nur teilweise zur Würdigung der Interdependenz sozialer und ökonomischer Faktoren flexibler Wertschöpfungsformen vorgestoßen. Vermutlich sind die Begrenzungen der analytischen Perspektiven nicht nur auf fehlende begriffliche und methodische Instrumentarien zur Erfassung sozialer Orientierungen und Prozesse, sondern auch auf die unzureichende Konzeptualisierung nicht-materieller Formen der Wertschöpfung zurückzuführen. Ein erster Schritt auf dem Weg zu einem „kulturell erweiterten“ Wertschöpfungskonzept kann mit der Überlegung gemacht werden, dass materielle Wertschöpfung stets auf Kosten- und Nutzenbewertungen basiert. Diese werden zum einen durch die Produzenten und Distributoren einer Ware durchgeführt. Sie werden zugleich aber auch von den Konsumenten selbst vorgenommen. Derartige Akte der Bedeutungszuweisung sind allerdings stets kulturell vermittelt, da die Akteure von einem Tausch nicht nur einen materiellen, sondern auch einen symbolischen Zugewinn erwarten (Normann/Ramirez 1998, S. 49). Es kann angenommen werden, dass diese kulturelle Wertschöpfung jeder materiellen Wertschöpfung vorausgeht. Sie kann im Zustand der ideellen Bedeutungszuweisung verharren, aber auch direkt in materielle Wertschöpfungsprozesse eingehen. Dieses prinzipiell offene Verhältnis zwischen kultureller und materieller Wertschöpfung ist in bisherigen Wertschöpfungsmodellen kaum thematisiert worden. Selbst dann, wenn direkte Interaktionen zwischen Produzenten und Konsumenten explizit berücksichtigt werden, wie dies in sogenannten interaktiven bzw. kooperativen Wertschöpfungsmodellen geschieht (Gibbert et al. 2002; Reichwald/Piller 2002, 2006), werden bevorzugt materielle Wertschöpfungsprozesse diskutiert. Im Hinblick auf die Wertschöpfungsanalyse in der Musikwirtschaft ist somit zu fragen, inwieweit ökonomienahe Erklärungen des aktuellen Wandels von Wertschöpfungsprozessen überhaupt in der Lage sind, auf die Verschränkungen von kultureller und materieller Wertschöpfung adäquat einzugehen. So ist beispielsweise für die anwendungsorientierte Wirt-
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schaftsgeographie derzeit noch nicht abzusehen, in welcher Weise Akte der sozialen Bedeutungszuweisung an Produkte und Leistungen sowie der immateriellen Erzeugung von Ideen und kollaborativen Werten in eine ökonomische Modellierung von Wertschöpfung eingebaut werden können. Eine umsichtige, an variablen Produktionskontexten orientierte Exploration von Wertschöpfungskonfigurationen, ihren sozialen Einbettungsformen und den durch Digitalisierung und Re-Analogisierung geschaffenen Gelegenheitsstrukturen für neue Wertschöpfungen erscheint als der einzige Weg aus dem derzeitigen Modellierungsvakuum. In der gegenwärtigen Phase kommt daher der sensiblen Interpretation empirischer Befunde und der sachkundigen Beschreibung kleinteiliger Produktionsmodelle, variabler Wertschöpfungsvarianten, sozialer Akteurskonstellationen sowie kultureller und ökonomischer Rahmungen der Hervorbringung und Konsumtion von Musik große Bedeutung zu. Zugleich gilt es, für die Erfassung der Restrukturierung musikökonomischer Felder und der von den Akteuren entwickelten Positionierungen, Handlungsstrategien und Modellentwürfe ein begriffliches Basisinstrumentarium zu entwickeln. Ein derartiges Instrumentarium soll künftige Erkundungen erleichtern, insbesondere die Sortierung und Typisierung der entdeckten Wertschöpfungsvarianten anleiten und zudem einen Zugriff auf grundlegende, noch zu entwickelnde Theoreme erlauben. Ein erster Schritt in diese Richtung wird mit dem eigens hierfür entworfenen Konzept des Akustischen Kapitals unternommen.
AKUSTISCHES K APITAL Basisverständnis: eine transformierbare Ressource Der Weg zur Beantwortung der soeben aufgeworfenen Fragen, der von uns im Rahmen dieser Anthologie beschritten wird, geht dezidiert von der Akteursseite der Wertschöpfung aus. Diese Akteursperspektive wird nicht primär ökonomisch, sondern von der sozialen Spezifik des hier zur Debatte stehenden ökonomischen Feldes her entworfen. Dafür wird zunächst nach den sozialen Ressourcen Ausschau gehalten, die den ökonomischen Akteuren für die Bewältigung technologischen Wandels, die Entwicklung von Ideen und Innovationen sowie die Verwertung ihrer Ideen und Produkte zur Verfügung stehen. Dabei lehnen wir uns an bestehende theoretische Kon-
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zepte zur Erklärung sozialer Vermögen und Ressourcen sowie an wissensökonomische Reflexionen über die Spezifik neuer Formen der Wissensproduktion an. Mit dem zentralen Begriff „Akustisches Kapital“ schlagen wir eine Perspektive vor, die auf die soziale Mesoebene gerichtet ist. Sie konzentriert sich zuallererst nicht auf individuelle Operationen in unübersichtlichen sozialen Feldern, sondern auf die soziale Erzeugung und Vermittlung von Handlungsressourcen. Zugleich mit der Fokussierung auf die Herstellung individueller und kollektiver Handlungsbedingungen werden jeweils die Formierung von sozialen Beziehungen und die strukturellen Komponenten sozialer Konfigurationen in den Blick genommen. Unser Konzept des Akustischen Kapitals lehnt sich an Pierre Bourdieus Kapitaltypologie an (Bourdieu 1993, 2005), geht aber in einigen wichtigen Punkten darüber hinaus. Es sind diese zusätzlichen, teilweise auch anders gelagerten Reichweiten und Geltungsbereiche des Begriffs, die eine besondere Bedeutung für die Erklärung der sozialen und ökonomischen Prozesse innerhalb der szenebasierten Musikproduktion erhalten. Die Basisdefinition lautet: Akustisches Kapital ist ein Vermögen, das professionelle Akteure und „Nutzer“ (Konsumenten) erwerben, indem sie musikalische Güter bzw. Produkte schaffen, bearbeiten, verteilen und konsumieren. Dieses Vermögen ist mit spezifischen Wissensformen verbunden, die es den Akteuren ermöglichen, sich über die Qualität, die Kontexte und die Prozeduren der musikalischen Produktion und Konsumtion zu verständigen. Akustisches Kapital kann zunächst als eine feldspezifische, spezielle Form des Bourdieuschen kulturellen Kapitals begriffen werden. Während Bourdieu mit seinen Typen des kulturellen, sozialen, ökonomischen und symbolischen Kapitals jedoch grundlegende Determinanten sozialer Ungleichheit identifiziert, wird hier stärker auf variable Austauschprozesse zwischen Kapitalsorten, Akteuren und Gütern innerhalb von begrenzten sozialen Feldern abgehoben. Musikproduktion, die innerhalb bestimmter Kontexte (z. B. Szenen und Milieus oder auch globalen Gemeinschaften) erfolgt, stellt ein derartiges Feld dar. Allerdings wird Bildung hier auf eine andere Art erworben als in den Institutionen der primären und sekundären Sozialisation, die Bourdieu dafür vorsieht (vgl. Bourdieu 2005). So sind Musikproduzierende zwar zunächst auf deren Leistungen angewiesen, zum Beispiel um sich technisches Wissen und handwerkliche Fähigkeiten aneignen zu können; zugleich erzeugen und konsumieren sie aber auch prakti-
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sches Wissen, das nur in Praktikergemeinschaften (Amin/Roberts 2008) und feldspezifischen sozialen Konfigurationen entstehen kann. Akustisches Kapital kann somit aufgrund seiner Verankerung in spezifischen Wissensformen nicht universell erworben werden. Es benötigt den Zugang der Akteure zu Praxiswissen und impliziten Wissensformen, die hauptsächlich durch Beobachten, Kopieren, Experimentieren und learning by doing entwickelt werden. Während andere ökonomische Sektoren implizites Wissen in Praktikergemeinschaften erzeugen bzw. pflegen und die Konsumentenseite dabei meistens ausschließen (Amin/Roberts 2008), lebt das Akustische Kapital maßgeblich von der Expertenschaft des Publikums bzw. der Konsumenten. Diese wird teils in offener Kommunikation, teils stillschweigend erworben, z. B. auf dem Wege der kollektiven Erfahrung des Tanzens zu anregender Musik. Wissen als Generator Akustischen Kapitals Wissensformen und ihre sozialen Einbettungen müssen somit an zentraler Stelle in die Theoretisierung Akustischen Kapitals einbezogen werden. Dabei kommt nicht kommuniziertem, implizitem Wissen (Polanyi 1985) oder nur begrenzt explizierbarem Wissen jeweils besondere Bedeutung zu. Auch solche Wissensformen, die von der sozialwissenschaftlichen Milieuforschung im Zusammenhang mit professionellen Milieus bislang für relevant erklärt wurden, gehören im Zusammenhang mit der Erforschung Akustischen Kapitals erneut auf den Prüfstand: professionelles Wissen, Milieuwissen, Praxiswissen und lokales Wissen (Matthiesen/Bürkner 2004). Sie sind jeweils Bestandteil reflexiver Formen der Wissensgewinnung, die in der wissensökonomischen Literatur zur Erklärung wissensbasierter, vernetzter Arbeitsweisen als „Mode 2“ der Wissensproduktion angesprochen worden sind (Gibbons et al. 1994; Nowotny et al. 2001). Dabei wird angenommen, dass rasch veränderliches, kontextabhängiges Wissen in interdisziplinären, hierarchiearmen und projektförmigen Arbeitszusammenhängen erzeugt wird. Die Praxis der Wissenserzeugung, die sich in offenen, dezentralen und kleinteilig strukturierten Feldern der Musikproduktion auffinden lässt, dürfte umstandslos mit diesem Modell beschreibbar sein. Aber auch ohne diese spezifische Kontextualisierung ist von einer weitreichenden Relevanz der beschriebenen Wissensformen für die Gestaltung professioneller Praxis auszugehen.
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Als unmittelbar relevante Wissensform ist zunächst ein besonderes professionelles Wissen anzusprechen. Um gleich ein praktisches Beispiel aus der Produktion elektronischer Clubmusik zu nennen: In diesem Feld wird professionelles Wissen im Umgang mit technischen Systemen der Klangerzeugung, der Speicherung und Veränderung von Klängen sowie der Aufführung musikalischer Artefakte erworben. Hierin fließen Kenntnisse der formalen Gestaltung von Musikstücken (z. B. des Einsatzes von Instrumenten, Melodien, Harmonien, rhythmischen Patterns und Arrangements) zusammen mit informationstechnischen und physikalischen Kenntnissen der Bearbeitung von digital erzeugten und gespeicherten Musikstücken (Tracks) mithilfe von spezieller PC-Software (Kühn 2009). Hinzu kommt Wissen über die Manipulation der Klangeigenschaften von Tracks durch die Veränderung von Speicherformaten und Daten-Kompressionsfaktoren, über den Abruf von gespeicherten Tracks im Live-Act und über das spontane Mixen von Tracks zu spannungsreichen Abfolgen im DJ-Set im Club. Dieses professionelle Wissen ist fast immer zugleich Praxiswissen geringen Explikationsgrades. Es wird selten gelehrt, dafür umso häufiger im Tun erworben. Akustisches Kapital beruht aber auch auf der Verfügbarkeit von Praxiswissen, das auf die sozialen Kontexte der Musikerzeugung und -aufführung gerichtet ist. Zu diesem musikalischen Kontextwissen gehört beispielsweise die Fähigkeit einzuschätzen, welche rhythmisch-melodischharmonischen Muster jeweils musikalische Spannung und positive Resonanz des Publikums erzeugen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Reaktionen des Publikums zu beeinflussen sowie die unmittelbare Wirkung von Geschmackspräferenzen der Akteure innerhalb einer Szene auf die Akzeptanz der eigenen Produkte abschätzen zu können. Szene- und Netzwerkwissen beruht auf der Kenntnis szenetypischer Lebensstile, sozialer Beziehungen und Interaktionsdynamiken. Sie bezieht sich sowohl auf lokale Szenen, in denen Face-to-face-Kontakte jeweils ein unmittelbares Erleben der jeweiligen Sozialitätsformen erlauben, als auch auf überlokale Szenen und Internet-Gemeinden, in denen Interaktion und Kommunikation durch die benutzten Medien angeregt und fokussiert werden (Lange/Ehrlich 2008). Akustisches Kapital speist sich ferner aus einem spezialisierten Marktwissen, das die eigenen Produktionsaktivitäten mit der Antizipation des Konsumentenverhaltens rückkoppelt, und zwar sowohl in ökonomischer als
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auch in soziokultureller Hinsicht. Auch nicht-kommerzielle Distributionsund Konsumtionsformen stellen hierbei Märkte dar, auf denen Kulturgüter zunächst nicht-monetär gehandelt werden, aber auch mit ökonomischen Verwertungsformen in Verbindung gebracht werden können. Als intendierte Nebenwirkung des Konsums kostenfreier Musik entstehen beispielsweise Reputationen für Künstler, Produzenten und Labels, die in anderen Kontexten wiederum in monetäre Werte eingetauscht werden können. Eine hoch spezialisierte, genre- und stilspezifisch ausdifferenzierte Nachfrage adressieren und befriedigen zu können, gehört zu den unabdingbaren Fähigkeiten der Akteure in diesem Feld. Erst durch die Kombination dieser Wissensformen werden die Akteure vermutlich dazu in die Lage versetzt, Akustisches Kapital zu akkumulieren und über einen längeren Zeitraum hinweg als Aktivposten einzusetzen, sei es als Basis für weitere Akkumulation, sei es im Hinblick auf die Konvertierung in ökonomisches und soziales Kapital. Da Akustisches Kapital aufgrund der grundsätzlichen Fluidität von Szenen (vgl. Hitzler/Niederbacher 2010) und der musikalischen Geschmacksbildungsprozesse jeweils kurzfristige Entwertungszyklen durchlaufen kann, kann auch die Fähigkeit der Akteure, flexibel auf die Veränderungen der Musikmärkte und Szenen zu reagieren, wiederum als Bestandteil Akustischen Kapitals deklariert werden – quasi als Fähigkeit, das eigene Vermögen zu stabilisieren. Akustisches Kapital im Verhältnis zu anderen Kapitalsorten Die beschriebene Art des Erwerbs bereichsspezifischer Bildungsgüter sprengt in gewisser Weise den Rahmen, den die Bourdieusche Kapitalmechanik für die einzelnen Kapitalsorten vorgibt. Der hier anzuwendende Wissensbegriff ist nämlich nur teilweise mit den Wissens- und Bildungsbegriffen älterer Gesellschaftstheorien vereinbar. So ist beispielsweise leicht zu zeigen, dass Akteure mit einer umfangreichen Ausstattung an Akustischem Kapital nicht selten über relativ niedrige formale Bildungsabschlüsse verfügen und ihr spezialisiertes Wissen anderweitig erworben haben. Dennoch ist eine grundsätzliche Konvertierbarkeit dieses speziellen Kapitals in andere Kapitalsorten (soziales, ökonomisches, symbolisches Kapital), ähnlich wie Bourdieu dies grundsätzlich für alle Kapitalien annimmt (Bourdieu 1993, S. 223), innerhalb des Feldes sowie teilweise auch darüber hinaus gegeben. Die tatsächlichen Reichweiten der Konvertierbarkeit sind jedoch
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nicht vorab bestimmbar, sie müssen je nach Beschaffenheit des Feldes neu erkundet werden. Innerhalb dieses spezifischen Rahmens können Umwandlungen von Kapitalformen folgendermaßen aussehen: Erstens wird ökonomisches Kapital gebildet, wenn die Akteure aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten in die Lage versetzt werden, Waren und musikalische Erlebnisse gegen Geld auf einem Markt zu verkaufen. Relevante Fähigkeiten sind die Fähigkeit zur Erzeugung von musikalischen Artefakten, insbesondere die Verfügbarkeit des dazu benötigten impliziten Wissens, die Fähigkeit zur Professionalisierung kreativer Tätigkeiten, die Fähigkeit zur Erzeugung von musikalischen Geschmacksurteilen und die Fähigkeit zur Beeinflussung von Freizeitformen, Geschmacksurteilen und Konsummustern innerhalb von sozialen Milieus und Szenen. Dies setzt wie bei allen ökonomischen Prozessen die Existenz sozialen Kapitals voraus, das die benötigen Ressourcen in Form von Netzwerkbeziehungen, zielgerichteter Kommunikation, Interaktion und Koordination bereitstellt. Soziales Kapital hat in diesem spezifischen Kontext noch weitergehende Funktionen. Es ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung Akustischen Kapitals, da Künstler und Publikum aufeinander angewiesen sind und miteinander kommunizieren. Musik wird meist in Gruppen und Netzwerken geschaffen (auch wenn es weiterhin den einsamen, autonomen Komponisten gibt). Umgekehrt schafft Akustisches Kapital aber auch soziales Kapital, da es in Szenen und Milieus eingebunden ist und neue Zusammengehörigkeiten hervorbringt. Die professionellen Netzwerke überschneiden sich dabei stark mit privaten Netzwerken, die die Akteure im Nahbereich, d. h. auf der lokalen Ebene, für die Vorbereitung, Durchführung und Vermarktung von Produktionen nutzen (Cohendet et al. 2009). Zweitens ist mit der intensiven wechselseitigen Konversion zugleich die Etablierung von spezifischen Lebensstilen (z. B. hedonistischen oder alternativen Lebensstilen) und eines bestimmten Habitus verbunden (Bourdieu 1987). Die Akteure wenden sich oft gegen kommerzielle ökonomische Aktivitäten und sehen Geldverdienen meist als Mittel zum Zweck an. Dieser Zweck besteht darin, zusammen mit Anderen innerhalb einer beständig sich reproduzierenden und wandelnden Szene Gefühle zu evozieren – meist über das Medium der Party oder des Club-Events. Es handelt sich dabei um temporäre oder auch dauerhafte Gefühle der Zusammengehörigkeit, des Einswerdens mit einer temporären Gemeinschaft, der Unabhängigkeit und
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der Freiheit (s. dazu die Sammlung von Interviews mit Akteuren der Berliner Techno-Szene in: Denk/von Thylen 2012). Der Habitus vieler Akteure, insbesondere in der Produktion elektronischer Tanzmusik, ist daher eher von nichtökonomischen, lebensstilbezogenen Attributen und Selbstinszenierungen geprägt. Hierzu gehören die Zurschaustellung von Coolness, der Anspruch, neue Geschmackstrends zu setzen oder zu bedienen, die Absicht, Gegenmodelle zur Produktions- und Arbeitswelt der Majors zu liefern usw. Es erfolgt in der Regel eine scharfe Abgrenzung gegenüber den Lebensführungsmodellen des gesellschaftlichen Mainstreams wie auch gegenüber stärker etablierten, dem eigenen Milieu benachbarten Akteuren. In einigen Fällen nähern sich die ökonomischen Aktivitäten aber auch dem Mainstream kapitalistischer Warenproduktion an: Darauf ausgerichtete Habitusvarianten verbinden den Anspruch auf Szene-bezogene Meinungs- und Gruppenführerschaft mit der Demonstration von Coolness und ökonomischem Erfolg (Reitsamer 2011). Drittens kann auch die Herstellung symbolischen Kapitals grundsätzlich als Bestandteil bereichsspezifisch erfolgender sozialer und ökonomischer Kapitalakkumulation angesehen werden – nämlich als Prestige, das in Szenen, Milieus, Praktikergemeinschaften, spezialisierten Konsumentengemeinschaften usw. aufgebaut wird. Hierzu sind die Herstellung und Nutzung von Symbolen erforderlich, die mit vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht problemlos kompatibel sind. Die Akteure sehen sich in ihrer Eigenschaft als Schöpfer von Trends und musikalischem Geschmack dazu verpflichtet, starke Symbole (Rituale, Embleme, Kennzeichen der Szenezugehörigkeit) zu schaffen und in Umlauf zu setzen. Diese haben zunächst für das Praxisfeld der Musikproduktion Relevanz, können dann aber auch weitere Praxisfelder erfassen. Viertens bleibt Akustisches Kapital in all seinen Konversionszusammenhängen als gegenstandsbezogene Kapitalsorte erkennbar. Aufgrund der besonderen Aktivitäten, Handlungskontexte und Institutionen, die mit dem Feld der Musikproduktion verbunden sind, kommt es zu spezifischen, d. h. nicht-universellen Konversionen mit immer wieder neuen Kanalisierungen. So ist anzunehmen, dass es kontextspezifische Antriebe zur Umwandlung gibt, die sowohl außerökonomisch als auch ökonomisch verursacht sein können und sich eindeutigen Ortungen entziehen. Außerökonomische Antriebe bestehen beispielsweise in der Entstehung eines Gruppengeschmacks (Nutzung sozialen Kapitals), der mit der spezifischen Ausprägung und Zur-
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schaustellung eines Katalogs von Präferenzen, auszuführenden Handlungen, Symbolpraxen usw. verbunden wird (symbolisches Kapital). Hierzu ist spezialisiertes, mit hohen Anteilen impliziten Wissens aufgeladenes kulturelles Kapital erforderlich. Ökonomische Mechanismen bestehen in der dezidierten Konsumtion von Gütern, die mit feldspezifischen symbolischen Bedeutungen aufgeladen sind, zugleich die Zugehörigkeit zu Milieus und Szenen anzeigen und Abgrenzungen gegenüber anderen Habitusformen ermöglichen. Erleichtert wird dieses Ineinandergreifen von sozialen und ökonomischen Mechanismen durch die besonderen Professionalitätsformen, die sich die Akteure angeeignet haben. Sie sitzen a) an den Schaltstellen der Erzeugung und Nutzung sozialen Kapitals, zugleich auch b) an den Orten der Hervorbringung von vermarktbaren bzw. vermarkteten musikalischen Artefakten (d. h. der Erzeugung ökonomischen Kapitals) sowie c) in den zentralen Bereichen habitusrelevanter Symbolproduktion (symbolisches Kapital). Sie nutzen ihre besonderen Kompetenzen als Produzenten künstlerischer Artefakte, handelbarer Waren sowie darauf abgestimmter Geschmacksformen und Symbole, um einen Zuwachs an Reputation und Geltung innerhalb und außerhalb der jeweiligen Szenen und Milieus zu erhalten. Zugleich gewinnen sie dadurch beständig erneuerte und expandierende Handlungsoptionen; beispielsweise ermöglicht es die Veröffentlichung international hoch bewerteter Musikstücke den Akteuren, ihren Status innerhalb professioneller Hierarchien zu verbessern und höher dotierte Engagements zu erhalten (s. dazu den Beitrag von Bürkner in diesem Band). Nimmt man die Komplexität und Verwobenheit dieser Austauschprozesse in den Blick, so lässt sich Akustisches Kapital nicht vorab als eine weitere Kapitalsorte neben anderen (breiter und universell definierten) konzipieren, sondern als eine Kapitalsorte, deren Erstreckung, Verflechtung, Transferpraxis usw. erst noch genauer bestimmt werden muss. Dies wird beispielsweise am Gegenstand der sich wandelnden Wertschöpfungskonfigurationen in der Musikproduktion möglich. Die Frage nach der Bewertung und dem Wert von Musikstücken sowie den daraus „hergestellten“ Tonträgern ist eng an die Spezifik des Feldes wie auch die Ausprägungen Akustischen Kapitals gebunden, die für dieses Feld (z. B. im Zusammenhang mit der Erzeugung elektronischer Clubmusik) relevant sind. Die Erkundung dieses Akustischen Kapitals kann in einem späteren Schritt als Ausgangspunkt für die Theoretisierung gegenstands- und be-
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reichsspezifischer Kapitalsorten fruchtbar werden. Damit wäre dann auch eine Lanze für die Kontextualisierung von gesellschaftstheoretischen Ansätzen gebrochen, die das Potenzial haben, den Universalismus der „großen“ Entwürfe hinter sich zu lassen. Jenseits von Bourdieu? Dies bedeutet nicht, dass der Boden einer Praxistheorie, wie sie von Bourdieu entworfen wurde, grundsätzlich verlassen werden muss. Notwendig erscheint vielmehr nach der ersten Erkundung des Feldes und seiner Typik eine weitere praxeologische Ausdifferenzierung des Begriffs des Akustischen Kapitals. Diese muss insbesondere die Rolle von Lebensstilen und Szenen für die Entstehung von Geschmack und Distinktion sowie für die Ausformung von Kapitalumwandlungen noch genauer bestimmen (vgl. Müller 2004, S. 180). Zudem ist die handlungsstrukturierende Konstitution von Feldern im Bourdieuschen Sinne stärker in die Theoriebildung einzubeziehen (Müller 2004, S. 181 f.). Bourdieu hatte Felder zunächst in Analogie zu Kampffeldern definiert. Er verstand darunter konstituierende Elemente des sozialen Raums, die eigene, machtvolle Regeln oder Prinzipien aufweisen (Bourdieu 1985, S. 28). Diese beeinflussen den Habitus und – mittels des Habitus – die sozialen Praxisformen. Ziel der Akteure in einem Feld ist es jeweils, mithilfe einsetzbarer Kapitalien „den Rang, den Abstand, die Kluft gegenüber den anderen aufrechtzuerhalten“ (Bourdieu 1993, S. 245). Für den Bereich der Musikproduktion wäre der Feldbegriff zu spezifizieren und zugleich weiter zu ziehen. Er müsste nämlich auf hybride Felder ausgedehnt werden, die sich zwischen Professionen, subkultureller Praxis und Konsumkultur aufspannen und einer eindeutigen Klassifikation entlang vorab definierbarer sozialer Statusunterschiede entziehen (s. den Beitrag von Kühn in diesem Band). Besonders die einzelnen sozialen Kontexte der Musikproduktion erhalten hier ein starkes theoretisches und empirisches Gewicht. In zwei zentralen Punkten muss ein wichtiger Unterschied zum Bourdieuschen Kapitalkonzept hervorgehoben werden. Erstens verläuft ein wichtiger Teil der Musikproduktion (und damit der Erzeugung und Nutzung Akustischen Kapitals) in deutlicher Abgrenzung vom ökonomischen Mainstream kapitalistischer Gegenwartsgesellschaften. Er ist in Subkulturen, Szenen und Milieus eingebettet, die sich den Bewer-
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tungen, Positionszuweisungen und Kapitalbildungsmechanismen der gesellschaftlichen Mehrheiten teilweise entziehen. Auch wenn es Ähnlichkeiten mit benachbarten Bereichen der Kreativwirtschaft gibt (z. B. der Softwareproduktion, der Design- und Modeindustrie usw.), handelt es sich hier um Felder, die eine beträchtliche Eigenlogik der Produktion, der ökonomischen Verwertung der Produkte und der Entwicklung zurechenbarer Sozialitätsformen aufweisen können. Zweitens: Während Bourdieu den Geltungsbereich seiner Kapitaltheorie auf nationale Gesellschaften begrenzt, muss der Erklärungshorizont für die jüngere Musikproduktion erheblich erweitert werden. Das Akustische Kapital ist sowohl in lokale Gesellschaften als auch in eine globale Gesellschaft integriert, auf deren Ressourcen es zugreift. Produktionsprozesse, Geschmacksbildung, Bezugnahmen auf soziale Netzwerke usw. erfolgen unter Zuhilfenahme von globalisierten Technologien (z. B. Digitaltechnologien und Internet) unter Einbeziehung global kommunizierter Geschmacksbildungen, Modetrends usw. Die Akteure stellen sich nicht nur lokalen oder nationalen Vergleichen, sondern beziehen die wichtigsten Teile an Reputation, Meinungsführerschaft und sozialer Geltung aus internationalen Vergleichen und Akteurs-Rangordnungen. So sind beispielsweise für DJs internationale Auftritte jeweils wichtige soziale und symbolische Ressourcen, die die Erzeugung von Marktmacht und ökonomischem Kapital entscheidend voranbringen. Grundsätzlich muss auch berücksichtigt werden, dass Akustisches Kapital je nach musikalischer Stilentwicklung, Szenebeschaffenheit und technologischem Wandel immer wieder elementaren Veränderungen unterworfen ist. Die starke Nachfrageabhängigkeit von Musikstilen und Künstlern führt dabei zur periodischen Entwertung Akustischen Kapitals. DJs und Musiker, die heute noch fest im Sattel sitzen, können bei dem nächsten stilistischen Schwenk „abgesagt“ sein oder mit schwer zu bewältigenden technologischen Hürden konfrontiert werden. Der beständige Zwang zum Erwerb neuer Qualifikationen, neuen Wissens, neuer Reputation und zur Erfindung neuer Artefakte macht diese Kapitalform zu einer wesentlich flüchtigeren Ressource sozialer Positionierung als andere. Insofern ist eine zufrieden stellende Bestimmung relevanter Kapitalformen und ihrer Konversionen, aber auch des Akteurshandelns, kaum ex ante möglich. Sie muss in immer wieder zu erneuernden Rekonstruktionsprozessen vorgenommen werden, die den Aspekt der Gemeinschaftsbildung stärker betonen, als dies
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mit einem primär gesellschaftstheoretischen Theorierahmen möglich ist. Daher sind offene Erkundungen der Sozialitätsformen, die mit Akustischem Kapital verbunden sind, unerlässlich.
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Beispiele neuer Wertschöpfungskonfigurationen
Trackproduktion als Trial and error? Wertschöpfungsvarianten in der elektronischen Clubmusikproduktion zwischen Digitalisierung, Internet und lokalen Szenen Hans Joachim Bürkner I didnތt ask my mother to buy me a trumpet or a violin, I started right on the water hose. Rahsaan Roland Kirk
M ÜSSEN DJ S
ALLES KÖNNEN ?
DJ Roks1 muss sich schon seit längerer Zeit mit einem existenziellen Problem herumschlagen. Eigentlich läuft es nicht schlecht für ihn. Er hat sich in der lokalen House-Szene einen Namen gemacht, wird regelmäßig von angesagten Clubs gebucht und kann sich über eine gute Akzeptanz seiner Releases freuen. Und sein eigenes Anliegen, im Club mit den Leuten zu feiern, kommt auch nicht zu kurz. Der Haken ist allerdings: Er kann nicht davon leben. Die Club-Gagen liegen im unteren Drittel der erzielbaren Summen, seine digitalen Veröffentlichungen auf großen Internetplattformen wie Beatport bringen trotz lebhafter Publikumsresonanz kaum mehr als ein Taschengeld ein, und der ohnehin schwache Verkauf von CD- und VinylVeröffentlichungen geht weiter zurück.
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Die Namen der in diesem Beitrag erwähnten Künstler, Produzenten und Unternehmen wurden ausnahmslos durch Pseudonyme ersetzt.
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DJ Roks ist kein Einzelfall (vgl. Reitsamer 2013). Er ist Teil einer fundamentalen Umwälzung der Produktionsstrukturen, die im Segment der elektronischen Clubmusik (bzw. elektronischen Tanzmusik, s. Kühn 2011) seit der Ausbreitung digitaler Produktions- und Vertriebsformen und der Popularisierung Sozialer Netzwerke im Internet stattgefunden hat. Wertschöpfung, die unter „analogen“ Bedingungen noch in linearer Weise auf die Produktion und den Vertrieb von physischen Tonträgern (Vinyl, CD) konzentriert war (vgl. Hutzschenreuter 2000, S. 113), findet nun mit einer wachsenden Vielfalt analoger und digitaler Tonträger sowie unter Einbeziehung anderer Verwertungsformen (d. h. außerhalb des Kerngeschäfts der Tonträgererzeugung) statt. Sie ist zudem in zunehmend segmentierte Marktstrukturen und variable soziale Kontexte eingebunden, die die Erzeugung und Verwertung von Musik steuern (Reinke 2009, S. 107). Mittlerweile wird ein radikaler Umbruch der Produktionsformen und Wertschöpfungsprozesse durch die Digitalisierung angenommen (Bourreau et al. 2008; Kusek et al. 2005; Reinke 2009; Sperlich 2008; vgl. jedoch Dolata 2008, S. 364, der eher von einer länger anhaltenden krisenhaften Anpassung der Märkte an den technologischen Wandel ausgeht). Die Bedeutung dieser Kontexte für die Produktionskonzepte und die daraus entstehenden Konfigurationen der Wertschöpfung sind bislang immer wieder vage thematisiert, aber kaum im empirischen Detail untersucht worden. Sowohl öffentliche Mediendiskurse als auch fachwissenschaftliche Debatten gehen von der alltäglichen Beobachtung aus, dass sich die Gelegenheiten und Formen der Musikproduktion durch die Digitalisierung und Virtualisierung von Produktion und Vertrieb in recht chaotischer Weise verändert haben. Jüngere Publikationen zum Medienmanagement stellen heraus, dass die beteiligten Akteure versuchen, so viele Wertschöpfungsgelegenheiten wie möglich zu realisieren. Schnell ist vom „360-Grad-Modell“ der Wertschöpfung die Rede (Reimann 2011; Meyer 2013; Tschmuck in diesem Band), um anzudeuten, dass unter den neuen Bedingungen der Umwälzung im Musikgeschäft im Prinzip jeder Akteur alle möglichen Einkommensquellen und Verkaufsgelegenheiten nutzt – und häufig aus Gründen des ökonomischen Überlebens auch nutzen muss. Dabei werden notwendige Differenzierungen und analytische Scharfstellungen allerdings nur in geringem Umfang vorgenommen. Es wird bei der Rede von den magischen 360 Grad nicht ersichtlich, inwieweit es sich um strategisch positionierte Produktionskonzepte, um spontan erzeugte Taktiken des Durchwurs-
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telns („anything goes“) oder auch um selektive (d. h. an künstlerischen, weltanschaulichen oder ökonomischen Prinzipien orientierte) Suchprozesse im Sinne eines schöpferischen trial and error handelt. Unklar geblieben ist bislang auch, welche Fähigkeiten, Wissensbestände und sozialen Ressourcen den Akteuren für eine derartige Umorientierung zur Verfügung stehen. Im Sinne des eingangs skizzierten Kapitalkonzepts (s. Bürkner/Lange/Schüßler in diesem Band) ist somit nach der Beschaffenheit Akustischen Kapitals zu fragen, das die Akteure akkumulieren und in andere Kapitalformen umwandeln. Die Frage nach der Restrukturierung von Wertschöpfung muss also detaillierter als bisher gestellt werden. Es reicht keinesfalls aus, abstrakte Wertschöpfungsmodelle zu skizzieren und in medienphilosophischer Manier über die Innovationen und Demokratisierungsoptionen zu spekulieren, die die schöne neue Welt der virtualisierten und digitalisierten Musikproduktion bereithält, so wie dies in weiten Teilen der sozial- und medienwissenschaftlichen Literatur zur jüngeren Musikproduktion überwiegend geschehen ist (vgl. Brüssel 2009; Sperlich 2008). Auch die neuen Akteure der digitalen Welt sind als Kategorie rasch behauptet und modelltheoretisch vereinnahmt worden, z. B. als Prosumer, d. h. Konsumenten, die sich qua Heimproduktion in die digitalisierten Musikmärkte einmischen (Hughes/ Lang 2003), oder als Experten innerhalb der Sozialen Netzwerke und Foren des Internets, die auf künstlerische Projekte Einfluss nehmen (Cole 2011). Ihr konkretes Wirken innerhalb neuer Wertschöpfungskonfigurationen ist jedoch bislang nur partiell empirisch erfasst worden. Der Weg zu empirischen Befunden, der im Folgenden beschritten wird, setzt bei den ersten Impulsen zur Musikerzeugung an. Er zielt darauf ab, die unterschiedlichen Pfade der Produktion von Tracks2, d. h. einzelnen Musikstücken, samt ihren sozialen und ökonomischen Kontexten zu rekonstruieren. Dabei wird zwischen analogen und virtuellen Handlungsebenen unterschieden. Diese Unterscheidung wird aus heuristischen Gründen eingeführt,
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Wörtlich bedeutet Track: „Spur“. Ursprünglich wurde damit die Tonspur bezeichnet, die im Rahmen analoger Aufzeichnungsverfahren auf Tonband angelegt wurde. In dem hier untersuchten soziotechnischen Kontext bezeichnet „Track“ ein digital (meist mithilfe von digitalen Sequencern) produziertes Musikstück, dessen physikalische Informationen in einem PC-lesbaren Format als Audio-Datei (engl. soundfile) gespeichert sind.
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um die Orientierungen der Akteure in einem schnell umbrechenden Handlungsfeld klarer beschreiben zu können. Dabei wird danach gefragt, in welcher Weise die Akteure jeweils Virtualisierungsprozesse antizipieren und welchen Raum sie ihnen in der Produktion und im Vertrieb ihrer Produkte gewähren. Welche Umorientierungen der Handlungsstrategien und Produktionskonzepte nehmen sie vor? Welche Ausprägungen Akustischen Kapitals geben sich in diesen Umorientierungen zu erkennen? Durch Befragungen und Beobachtungen von DJs, Produzenten und Label-Eignern bzw. -Managern werden die Anlässe und Formen der Trackproduktion, ihre Verbindung mit unterschiedlichen Prozessen der kulturellen und materiellen Wertschöpfung, soziale Einbettungsformen der Produktion sowie die Art der beteiligten Wissenstypen und Akustischen Kapitalien ausfindig gemacht. Dies alles geschieht mit der Absicht, aus dem „Rauschen“ der Mikro-Produktionen und vielfältigen virtuell-analogen Interaktionen jeweils strukturelle Kerne in Form von typischen Akteurskonstellationen, Produktionsverläufen, individuellen Produktwegen sowie Formierungspunkten der Wertschöpfung herauszupräparieren. Die empirische Rekonstruktion dient somit unter anderem der vorsichtigen Formulierung erster allgemeinerer Aussagen über die Qualität des gegenwärtigen, für viele Akteure risikoreichen ökonomischen Umbruchs in der Musikwirtschaft.
W ERTSCHÖPFUNG IN DER SZENEBASIERTEN M USIKPRODUKTION IM TECHNOLOGIEINDUZIERTEN U MBRUCH Im Feld der Produktion tanzbarer elektronischer Popmusik ist die Zeit der alten Gewissheiten vorbei. Waren noch vor wenigen Jahren physische Tonträger zentrale Bezugspunkte der Wertschöpfung, so sorgen digitale Formate mittlerweile für neue Orientierungen der Produzenten und für veränderte Wertschöpfungsformen. Diese Entwicklung lässt sich auf eine besondere soziotechnische Dynamik zurückführen, die mit dem begrifflichen Gegensatzpaar „analog – virtuell“ erschlossen werden kann. Auch wenn Medientheoretiker darauf hinweisen, dass es sich nicht um einen fundamentalen Gegensatz handelt, da sich digitale Medien in die von analogen Techniken hinterlassenen medialen Nischen einfügen und somit einen „neuen Aggregatzustand ihrer analogen Vorläufer“ herstellen (Schröter 2004, S. 24), soll
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mit Bezug auf die Musikindustrie aufgrund der großen technologischen Distanz der jeweiligen Produktionsformen an der begrifflichen Opposition festgehalten werden. Zudem wird von der zunehmenden Alltagsrelevanz einer aufkommenden, technologisch induzierten gesellschaftlichen Leitdifferenz ausgegangen (vgl. Winkler 2004), die in die Musikproduktion hineinwirkt und zugleich aus den künstlerischen Kernbereichen der Musikerzeugung heraus in beteiligte ökonomische und soziale Felder ausstrahlt. Als analog kann die Produktion vor Beginn des Einsatzes von mobilen Computern, Musikproduktionssoftware und komprimierten digitalen Speicherformaten bezeichnet werden. Analoge Musikproduktion umfasst die Aufnahme von Musikstücken auf Tonträgern außerhalb von PC und Internet, die Veröffentlichung auf physischen Tonträgern (CD, Tonband und Vinylplatten),3 die Promotion über Massenmedien (Rundfunk, Presse, Fernsehen) und den Vertrieb über Plattenhändler. Sie setzt spezialisiertes Produktionswissen und den Einsatz großformatiger Technik (z. B. professioneller Studiotechnik, Presstechnik für die Massenproduktion physischer Tonträger) voraus. Dieser Standard wurde sowohl von den Majors als auch von unzähligen Independent-Labels im Rahmen unterschiedlicher Marktstrategien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eingehalten. Virtuelle Musikproduktion ist dagegen eng an digitale Formate gekoppelt, die entweder als Audio-Dateien auf PC generiert und weitertransportiert werden oder als Livestream (d. h. als Echtzeit-Datenstrom) über das Internet abgerufen werden können (vgl. Sterne 2012). Die technischen Voraussetzungen für Produktion und Vertrieb gestalten sich aufgrund der Fortschritte der Digitalisierungstechniken als immer weniger aufwändig. Häufig reicht ein Laptop-PC mit einfach zu bedienender Musikproduktionssoftware aus, um
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CDs (Compact Discs) werden hier den analogen Tonträgern zugerechnet, da lediglich der letzte Produktionsschritt der digitalen Konservierung analoger Signale mithilfe eines Analog-digital-Wandlers erfolgt. Die vorangegangenen Prozesse der Tonaufnahme und -bearbeitung waren in der Frühzeit der CD-Produktion denjenigen der Vinyl-Tonträgerproduktion nachgebildet. Zwar entfiel die Zwischenspeicherung auf analogen Medien (Tonbändern) mit fortschreitender technischer Entwicklung zugunsten der Direktspeicherung auf digitalen Medien, jedoch fehlt der CD die Eigenschaft der direkten Kopierfähigkeit der digitalen Inhalte auf PC und ins Internet. Ebenso ist eine direkte Editierbarkeit ohne vorherige Konvertierung der Tracks in PC-lesbare Formate nicht gegeben.
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Tracks auf professionellem Niveau im häuslichen Arbeitszimmer oder im Kleinstudio zu erstellen (sog. homerecording; Klebs 2011). Darüber hinaus erlauben Sequencer wie Ableton Live einen direkten Einsatz der Tracks im Rahmen des Echtzeit-Mixens im Live-Set (Collins 2010, S. 52). Die Publikation der digitalen Tracks ist in unterschiedlichen soziotechnischen Kontexten und in unterschiedlicher Klangqualität (abhängig vom Kompressionsfaktor der Dateien) möglich. Relevante Kontexte sind kommerzielle Internet-Plattformen (z. B. Beatport, iTunes, Juno, Whatpeopleplay), die in ihren Kernfunktionen die Rolle von virtuellen Plattenläden übernommen haben. Wichtige Kontexte sind aber auch nichtkommerzielle Internet-Plattformen mit öffentlichem Zugang (z. B. SoundCloud, YouTube, Bandcamp) oder auch stärker eingeschränkter Zielgruppe (z. B. Resident Advisor, das sich auf die Kommunikation unter DJs und Produzenten spezialisiert hat), ferner die sog. Sozialen Netzwerke des Internets (Facebook, MySpace, Netlog u. a.), internetbasierte Szenemedien (z. B. Musikmagazine und Veranstaltungskalender), Mailing Lists und Newsletter einzelner Clubs und Veranstalter sowie themenzentrierte Blogs, die von Musikfans und -machern betrieben werden. Inwieweit dadurch in systematischer Weise neue „arenas of co-creation“ (Potts et al. 2008) entstehen, in denen sich virtuelle Vergemeinschaftung und künstlerische Produktion gegenseitig befruchten, gilt es erst noch detailliert zu eruieren. Digitale Musikerzeugung und -konservierung ziehen unmittelbar darauf ausgerichtete Virtualisierungsprozesse und -formen nach sich. Beteiligt sind virtuelle Geräte, Personen und Räume (d. h. von Computern und elektronischen Geräten simulierte bzw. generierte Musikinstrumente, Geräuscherzeuger, Mischpulte, Schneidemaschinen, Aufnahmestudios usw.), virtuelle Personen (d. h. virtuelle Musiker und Bands), virtuelle Distributionsformen (Internetläden, Download-Plattformen), virtuelle Gemeinschaften (Soziale Netzwerke, Szenen mit hoher Internet-Präsenz, Internet-Communities), virtuelle Medien (Fanzines, musikorientierte Blogs etc.) und virtuelle Konzertsäle. Mit der Virtualisierung von Produktion und Vertrieb ist die enge Verknüpfung einer stark begrenzten Anzahl von Produktionsmodellen mit leicht kontrollierbaren physischen Tonträgerformaten und Vertriebswegen in den vergangenen Jahren gelockert, teilweise sogar ganz aufgehoben worden. Dies bedeutet nicht, dass analoge Elemente in der gegenwärtigen Musikproduktion keine Bedeutung mehr hätten. Sie sind lediglich stärker in den Hintergrund gerückt – zugunsten einer weiterhin wachsenden Vielfalt
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digitaler Formate und Virtualisierungsformen (Tschmuck 2008). Diese Entwicklung hat die Produktion elektronischer Musik früher als andere Bereiche des Musiksektors erfasst. Ausgangspunkt älterer Formen der elektronischen Clubmusik waren Klänge, die von analogen Klangerzeugern (Synthesizern, Rhythmusmaschinen, Sequencern) geliefert wurden. Sie wurden in der Regel in einem Live-Set vom DJ zu bereits auf CD oder Vinyl aufgenommenen Tracks hinzugemischt. Die Aufnahme auf Tonträgern war zumeist eine Sache professioneller Tonstudios. Vervielfältigung und Distribution lagen ebenfalls häufig in den Händen professioneller Unternehmen, wenn auch die weit verbreitete subkulturelle Praxis des Kopierens auf Musikkassette oder CDROM für eine starke Gegenströmung sorgte. Die Konsumtion der entstandenen Artefakte fand in lokalen und überlokalen Szenen statt, die für die Künstler und Produzenten jeweils unmittelbare Referenzgrößen bildeten. Diese analoge Produktionspraxis hatte auf der sozialen Seite eine quasi metaphorische Entsprechung. Als Komponenten analoger Strukturen galten hier vor allem lokale Interaktionszusammenhänge auf Face-to-face-Basis. Diese waren weitgehend in lokale Szenen und Milieus eingebettet, die thematisch auf die Konsumtion elektronischer Musik hin orientiert waren (s. dazu die Dokumentation der Frühzeit der Berliner Techno-Szene durch Denk/von Thülen 2012). Relevante Anlässe und zugleich häufig auch Ereignisbereiche der Produktion waren Events und musikalische Aufführungen, die entweder an feste Orte (z. B. Clubs, Plattenläden oder Festivals) gebunden waren oder auch an wechselnden Orten stattfanden (z. B. Einzelkonzerte, Fachmessen usw.). Für diese Produktionskonfiguration kann der Begriff „Szenewirtschaft“, der jüngst von Kühn (2011) vorgeschlagen worden ist, volle Geltung beanspruchen – auch wenn die lokalen Szenen immer wieder durch Besucher erweitert wurden. Mit der Ablösung älterer digitaler Audio-Standards im Internet (stellvertretend: das verlustfreie Format WAV der Fa. Microsoft) durch das Datenreduktionsformat MP3 (Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, Erlangen) hat sich die Online-Zirkulation von Musikaufzeichnungen erheblich ausgeweitet und beschleunigt (Sterne 2012). Die neuen Distributions- und Konsummöglichkeiten haben zugleich Anreize für eine Vervielfachung der Ansatzpunkte und Formen der elektronischen Musikproduktion geliefert. Hinzu kommt, dass die technologische Schwelle zur Mikroproduktion durch den einzelnen Künstler so niedrig ist wie nie zuvor. Die hohe
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Klangqualität, die bereits mit einfachem technischem Aufwand im Rahmen des Homerecording erzielt werden kann, reicht kleinen Labels beispielsweise als Input für Veröffentlichungen häufig völlig aus; lediglich ein Mastering für die Anpassung an die Eigenschaften digitaler Distributionsformate oder physischer Tonträger wird dann noch erforderlich. Ebenso niedrig ist die Schwelle für nichtkommerzielle Veröffentlichungen durch Amateure. Der massenhafte Upload nicht- oder semiprofessionell erzeugter Tracks auf die einschlägigen kostenfreien Internet-Plattformen wird in den SzeneDiskursen mittlerweile als ein sprichwörtliches virtuelles Rauschen thematisiert (vgl. Goldmann 2010). Auf Plattformen wie SoundCloud stehen professionelle, von bekannten DJs, Produzenten und auch Labels erzeugte Tracks unvermittelt neben Amateurproduktionen. Allein diese Tatsache bringt die Professionellen unter Handlungszwang: Sie sind herausgefordert, sich durch die Qualität ihrer Produkte und Vermarktungsformen von der Flut der Amateurveröffentlichungen und der Praxis des crowd-sourcing (Potts et al. 2008, S. 468 f.) abzuheben. Zugleich können für die „Amateure“ der Musikproduktion neue Anreize und Zwänge zur eigenen Professionalisierung entstehen. Auch die Grenzen zwischen lokalen und globalen Szenen wurden verschoben. So haben sich einzelne lokale Szenen von den allgegenwärtigen Trends der Popularisierung und Kommerzialisierung einer ehemals hoch spezialisierten Underground-Clubmusik deutlich distanziert. Dabei haben vor allem renommierte Clubs die Funktion von Wächtern über die Exklusivität der Künstler, die Innovationsfähigkeit der Szene und die Nicht-Kommerzialität des professionellen Selbstverständnisses übernommen (Lange/ Bürkner 2010). Zugleich ist zu beobachten, dass wichtige Trends immer weniger von homogenen Szenen „vor Ort“ erzeugt werden. Sie werden dagegen vermehrt innerhalb eines globalen Netzwerks von Clubs generiert, zwischen denen hochrangige DJs weltweit zirkulieren. Auch die Exklusivität des Publikums hat in vielen Clubs deutlich abgenommen, nicht zuletzt deshalb, weil sie je nach Renommee und Veranstaltungskonzept immer häufiger zu Zielen eines expandierenden internationalen Clubtourismus geworden sind. Die ursprünglich enger gezogenen lokalen Szenegrenzen wurden damit immer wieder durchbrochen. Parallel dazu haben auch überlokale Szenen eine Ausweitung erfahren, hauptsächlich durch die Sozialen Netzwerke des Internets sowie eine Vielzahl von Internetplattformen, die allzu starren Grenzziehungen zwischen den einzelnen Nutzergemeinden
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entgegengewirkt haben. Dies gilt auch dann, wenn sich immer wieder neue musikorientierte Net-Communities zusammenfinden und zeitweise nach außen abgrenzen. Insofern muss der Begriff der Szenewirtschaft für die virtuelle Musikproduktion wieder mit einem Fragezeichen versehen werden. Einzelne Produktionsfelder und Konsumentenszenen werden tendenziell durchlässiger und verlieren ihre Exklusivität oft schon nach kurzer Zeit. War die Produktion elektronischer Clubmusik somit bis vor wenigen Jahren vielerorts auf ein Set von lokalen Akteuren begrenzt, das von Fall zu Fall mit globalen „Extensions“ versehen wurde (zu den Konfigurationen einer derartigen lokalen clubbasierten Produktion s. Lange/Bürkner 2013), so mehren sich derzeit die Anzeichen für eine Durchsetzung heterogener Virtualisierungsformen auf breiter Front (Lischka 2010). Diese Diversifizierung der global-lokalen Bezüge – so lautet die zentrale Annahme hier – zwingt die Künstler, Produzenten und Labels dazu, flexibler zu agieren, sich auf ergebnisoffene Lernprozesse (trial and error) einzulassen und neue Strategien der Erschließung von Einnahmequellen zu erfinden.
K ONZEPTIONELLE ANSATZPUNKTE DER E XPLORATION VERÄNDERTER W ERTSCHÖPFUNGSPROZESSE Genau an diesem Punkt kommt die weiter oben entwickelte theoretische Kategorie des Akustischen Kapitals ins Spiel (s. Bürkner/Lange/Schüßler in diesem Band). Die sich ausdehnenden ökonomischen und sozialen Kontexte werden von den individuellen Akteuren mithilfe eines professionellen und sozialen Vermögens zueinander in Beziehung gesetzt, das auf ein erfolgreiches Agieren in Situationen des technologischen und ökonomischen Umbruchs fokussiert werden muss. Akustisches Kapital ist dabei jeweils Bestandteil einer in einem bestimmten professionellen Feld emergenten sozialen Praxis im Bourdieuschen Sinne (zu derartigen Hybridisierungen sozialer Felder vgl. Müller 2004, S. 181 f.). Es kann auf recht unterschiedlichen Wissensformen beruhen, die innerhalb des Produktions- und Distributionsprozesses auf variable Weise miteinander kombiniert und auf die Realisierung individueller Ziele hin ausgerichtet werden (s. dazu den Beitrag von Bürkner/Lange/Schüßler in diesem Band). Derartige Ziele müssen nicht zwangsläufig ökonomischer Natur sein, d. h. ausschließlich auf die spätere Konvertierung Akustischen Kapitals in ökonomisches Kapital be-
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zogen sein. Sie können auch auf die Entwicklung bestimmter – meist hedonistischer – Lebensstile und Sozialitätsformen gerichtet sein, die das Musikmachen und -erleben als zentrales Element der eigenen Praxis beinhalten. Die im Folgenden geschilderten Ergebnisse einer kleinen empirischen Analyse sollen zumindest einige Aspekte der Bildung Akustischen Kapitals im Zusammenhang mit der Entstehung und Weiterentwicklung von musikalischen Tracks verdeutlichen. Zugleich soll reflektiert werden, wie in dem Prozess von der ersten Produktionsidee über die Erzeugung eines musikalisch-technischen Artefakts bis zu seiner (meist mehrfachen) Verwertung jeweils szenebasierte Wertschöpfungskonfigurationen entstehen, die mit unterschiedlichen Ausstattungen Akustischen Kapitals und Sozialitätsformen in Verbindung stehen. Darüber hinaus wird sich die Untersuchung mit den folgenden Fragestellungen auseinandersetzen: 1. In welchem Verhältnis stehen virtuelle und analoge Strukturen bei der Erstellung und Distribution musikalischer Artefakte? Lassen sich charakteristische Produktionsmodelle identifizieren? 2. In welchem Ausmaß, aus welchem Anlass und innerhalb welcher sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexte tragen diese Strukturen zur Entwicklung spezifischer Wertschöpfungskonfigurationen bei? 3. Welche Akteurskonstellationen und welche Produktionsstrukturen (Organisationen/Unternehmen, technische Einrichtungen und Ausrüstungen, Wege der Distribution) bilden den Kern von Wertschöpfungskonfigurationen? Welche bilden die Peripherie der Wertschöpfung? 4. Welche Sozialitätsformen sind für welche Art der Wertschöpfung bzw. für welche Konfigurationstypen kennzeichnend? Lassen sich Differenzierungen in „virtuelle“, „analoge“ und „gemischte“ Sozialitäten und Interaktionsformen auffinden? In welchem Zusammenhang stehen sie zum Aufbau Akustischen Kapitals? Für die Rekonstruktion von Wertschöpfungskonfigurationen ist die Unterscheidung zwischen materieller und immaterieller bzw. kultureller Wertschöpfung bedeutsam (Lange/Bürkner 2010, S. 52 ff.; Kühn 2011; s. auch die Ausführungen im Einleitungsbeitrag von Bürkner/Lange/Schüssler). Während die Entstehung handelbarer Produkte, Zwischenprodukte und Dienstleistungen jeweils mit monetär bezifferbarer materieller Wertschöp-
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fung verbunden ist, gehen immaterielle Wertschöpfungen diesen Prozessen jeweils voraus und begleiten sie. Ohne die Aufladung von musikalischen Artefakten mit Geschmacksurteilen, Qualitätsbewertungen und emotional gespeister Zustimmung bzw. Ablehnung ist materielle Wertschöpfung in diesem Praxisfeld kaum denkbar und auch angesichts der beabsichtigten Wirkungen wenig sinnvoll. Daher wird im Folgenden ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von materieller zu kultureller Wertschöpfung gelegt. Tracks können je nach Produktionskonzept und Intention der Künstler einerseits auf maximalen ökonomischen Gewinn hin konzipiert werden; sie können aber auch im Bereich kultureller Wertschöpfung verharren und lediglich als Beleg für den aktuellen Stand des einzelkünstlerischen Schaffens dienen. Letzteres bedeutet jedoch nicht, dass von diesen Belegen nicht weitere Wirkungen hinsichtlich angelagerter materieller Wertschöpfungsprozesse (z. B. der Vermarktung von Live-Auftritten) ausgehen können. Es gilt also stets zu ermitteln, welche Geschmacksurteile welcher Herkunft (lokale Szene, Produzenten, Label-Manager, globale Szenen) sich durchsetzen und Anlass zur Produktion geben. Im Zusammenhang damit sind im Einzelfall auch weiterführende Prozesse des Reputationsaufbaus, des Einsatzes impliziten, häufig in Szenen gebundenen Wissens und der Einbindung der Akteure in Praktikergemeinschaften (Communities of Practice; s. Amin/Roberts 2008) zu diskutieren.
M ETHODIK Die folgenden empirischen Annäherungen an Produktionsmodelle und Wertschöpfungskonfigurationen basieren auf elf qualitativen, leitfadengestützten Interviews mit DJs, unabhängigen Track-Produzenten und LabelManagern, die im Jahr 2012 im Praxisfeld der elektronischen Clubmusikproduktion in Berlin geführt wurden. Die Auswahl der Befragten orientierte sich an dem Ziel, eine möglichst große Bandbreite von Aktivitäten, Orientierungen und Produktionskonzepten zu erfassen. Die Akteure, die mit der Trackproduktion beschäftigt sind, lassen sich in zwei Strukturgruppen unterteilen: zum einen in DJs und unabhängige Produzenten, die ihre Tracks entweder auf einem eigenen kleinen Label veröffentlichen oder größeren bzw. renommierteren Labels zur Veröffentlichung anbieten, zum an-
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deren in Labels, die selbst Produzenten beschäftigen oder die Veröffentlichung extern produzierter Tracks übernehmen. Im Rahmen der hier vorgenommenen empirischen Exploration wurden jeweils kontrastierende Fallauswahlen getroffen (vgl. Kelle/Kluge 2009). Es wurden drei DJs bzw. Produzenten entlang des Gegensatzpaars „hohe vs. niedrige Reputation“ ausgewählt; zudem wurden zwei gut etablierte, bereits längere Zeit tätige DJs und ein weniger erfahrener Nachwuchs-DJ befragt. Die insgesamt sechs untersuchten Labels – durchgängig IndependentLabels – wurden entlang der Unterscheidung „etabliertes, renommiertes Label vs. kleines, weniger bekanntes Label“ ausgewählt. In der Gruppe der renommierten Labels wurden die Manager von drei Labels befragt, die sich hinsichtlich der stilistischen Orientierung der Veröffentlichungen und der jeweiligen Szene-Verankerung markant unterscheiden (House-Label vs. Crossover-Label). Zudem wurde die unterschiedliche kommerzielle Ausrichtung der Labels als Kontrast definiert: Während zwei renommierte Labels auf ökonomischen Erfolg hin orientiert waren, versuchte ein weiteres bekanntes Label, sein Konzept an den Prinzipien der Realisierung künstlerischer Freiheit und des Anti-Kommerzialismus auszurichten. Die drei kleineren Labels sind stilistisch in den Bereichen House und Techno angesiedelt; charakteristisch ist hier jeweils eine enge Bindung der Labels an Produzenten, die als unabhängige Einzelpersonen tätig sind. Zu beachten ist, dass fast alle Befragten mehrere Rollen ausübten. Die Produzenten und Label-Manager waren zugleich auch als DJs in Berliner Clubs tätig – teils, um die eigenen Tracks auszuprobieren, teils um engen Kontakt mit der jeweiligen lokalen Szene zu halten und im Club zu feiern. Wie später noch zu zeigen sein wird, ergeben sich aus diesen multiplen Rollen jeweils besondere Routinen im Umgang mit immateriellen und materiellen Wertschöpfungen. Die aufgezeichneten Interviews wurden vollständig transkribiert und mithilfe offener Codes verschlagwortet. Die typisierende Beschreibung der Produktionsvarianten und der Prozesse der Trackentwicklung orientierte sich zunächst eng an den Codes, um wichtige Prozessphasen sowie Übergabepunkte zwischen den Wertschöpfungsformen ausfindig machen zu können. Die anschließende Interpretation der Strategien und Orientierungen der Befragten sowie ihres Umgangs mit Bewertungen und Geschmacksurteilen wurde mithilfe von Deutungsmusteranalysen (Lüders/Meuser 1997) durchgeführt. Mit dieser Auswertungstechnik war es möglich, den
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Reichtum an individuellen Deutungen und Prozessbeschreibungen zu erhalten sowie detaillierte Explikationen einzelner Praktiken vorzunehmen.
T RACKPRODUKTION IN UNÜBERSICHTLICHEN K ONTEXTEN : ERSTE T YPISIERUNGEN Der Kontext der Stadt Berlin Die Wahl des empirischen Falls fiel aus nahe liegenden Gründen auf die Stadt Berlin. Hier bündeln sich aktuelle Entwicklungen im Feld der elektronischen Tanzmusik wie in einem Brennglas. Nicht von ungefähr wird sie von der Marketinginitiative „Projekt Zukunft“ der Berliner Wirtschaftsförderung als „Hauptstadt des Electronic Sound und Techno“ bezeichnet,4 hat sie doch in den vergangenen 15 Jahren eine beachtliche Anzahl von tonangebenden Protagonisten dieses Genres an sich gezogen (Bader/Scharenberg 2010; Kretschmar/Grigutsch 2007). Nicht nur aufgrund der weltweit einmaligen Konzentration von Musikern, Produzenten, DJs, Labels und Präsentationsforen (z. B. Messen) in dieser Stadt (Adamek-Schyma/van Heur 2007, S. 110), sondern auch aufgrund der weltweiten Vernetzung der zurechenbaren Szenen ist es plausibel anzunehmen, dass Entwicklungen und Strukturierungsansätze, die hier identifiziert werden, in einem großen Teil des gesamten musikökonomischen Feldes anzutreffen sind. Auch wenn die Stadt in einer Vielzahl von Diskursen – von der Tourismusdebatte über den Gentrifizierungsdiskurs bis hin zu den jüngeren Kreativwirtschaftsdiskursen – als „besonders“ oder gar „eigensinnig“ apostrophiert wird, kann davon ausgegangen werden, dass die hier gewonnenen empirischen Ergebnisse vorsichtig verallgemeinerbar sind. Der Fall Berlin offenbart lokale Kontexte, die in ihrer Eigenart gewürdigt und zugleich in ihrer Funktion als Momente der soziokulturellen und lokalökonomischen Ausdifferenzierung des Feldes berücksichtigt werden wollen: •
Erstens hat sich bereits früh, das heißt noch vor dem Mauerfall, eine fein ziselierte Alternativökonomie herausgebildet. Ihre Entstehung kann
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http://www.berlin.de/projektzukunft/kreativwirtschaft/musik/hintergrundberliner-musikwirtschaft/
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bis in die frühen 1970er Jahre zurückverfolgt werden. Wichtige Trends der Alternativökonomie, insbesondere zur Entwicklung einer milieuspezifischen Kneipen- und Clubkultur, hatten in den damaligen Szenebezirken (v. a. Kreuzberg und Charlottenburg) ihren Ausgangspunkt. Die lokale Popmusikszene basierte zunächst auf Rock und Indie, wurde später (in den 1980er Jahren) von Neuer Deutscher Welle, experimentellem Jazz und Elektro-Pop geprägt, bis schließlich eine immer stärker von Detroit Techno beeinflusste originäre elektronische Tanzmusik entstand – mit allen zugehörigen Underground-Spielstätten, informellen Clubs und szenebasierten Aufführungsformen. Letztere wurden besonders in der Wendezeit der 1990er Jahre für Künstler und Publikum gleichermaßen zu einem erheblichen Attraktionsfaktor der Stadt. Die Elektromusik-Subkulturen hatten ihre kognitiven Vorlagen weitgehend aus den voneinander getrennten lokalen Nischenkulturen der 80er Jahre in Ost- und Westberlin bezogen. Sie entwickelten dann aber aus dem OstWest-Kontrast der Musikproduktion und -konsumtion heraus neue originäre Orientierungen, Szene-Institutionen, Legenden usw. (vgl. Denk/ von Thülen 2012; Langer 2005). Zweitens wurden die Strukturbrüche, die durch den Kollaps der DDR und die Transformation der Stadtökonomie hervorgerufen wurden, in die Dynamik der Entwicklung kreativer Szenen, insbesondere der aufkommenden Software- und Internetökonomie sowie der sich neu formierenden Musikindustrie, eingeschrieben. Niedergehenden Überresten älterer industrieller Produktion standen geradezu aufschießende Gründungswellen von Klein- und Mittelunternehmen in Hightech-Dienstleistungen, Medienbranchen und anderen Kreativsektoren wie z. B. den Mode- und Designbranchen und der kleinteiligen Popmusikproduktion gegenüber (Krätke 2002). Diese dynamischen Entwicklungen unterlagen allerdings immer wieder extern verursachten Krisen, wie sie z. B. mit dem Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn des Millenniums sichtbar wurden (Bürkner 2007, S. 288). Aufgrund derartiger Branchenzyklen und eines hohen Wettbewerbsdrucks müssen die Unternehmensstrukturen sowie die Arbeitsformen und -bedingungen der Selbstständigen und Beschäftigten in diesen Feldern als ausgesprochen prekär bezeichnet werden (Manske 2007 und 2009). Individuelle Beschäftigungsperspektiven und Karrierestrategien sind in vielen Fällen auf kurze Zeiträume hin angelegt.
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Drittens hat sich diese Grundorientierung, die auf die flexible Nutzung unterschiedlicher Ressourcen für temporäre Projekte gerichtet ist, in ganz besonderen Handlungslogiken niedergeschlagen. So wird die eigene soziale und ökonomische Prekarität von vielen Akteuren als Chance, teilweise auch als Notwendigkeit angesehen, um möglichst nah an den eigenen Entwicklungsvorstellungen, weltanschaulichen Prinzipien oder auch einfach einer als erstrebenswert empfundenen Lustorientierung von Arbeit bleiben zu können. Obwohl diese Orientierungen in ökonomische Kontexte einbezogen sind, die aus der ökonomischen Literatur über netzwerkförmige Produktion allgemein als Balance von Kooperation und Konkurrenz beschrieben werden, basieren sie im Berliner Kontext auf stark milieuabhängigen, auf spezifisch lokale Bedingungen abgestellten Logiken des Gebens und Nehmens (Merkel 2008, S. 147 ff.). Diese sind in den lokalen Diskursen allgemein akzeptiert und werden auch nicht ohne einen gewissen Stolz als Besonderheit der Berliner Startup-Szenen, der Clubszenerien und anderer ökonomischer Konfigurationen deklariert. Häufig handelt es sich um voneinander entkoppelte Akteure, die als Freelancer im Strom der Künstler und Produzenten mitschwimmen und versuchen, von kurzfristig entstehenden Opportunitäten zu profitieren.
Vor diesem Hintergrund sind die nun folgenden Rekonstruktionen einzelner Routinen der kleinunternehmerisch bzw. von professionell agierenden Künstlern organisierten Musikproduktion zu sehen. Es handelt sich um Routinen, die hinsichtlich ihrer Strukturierungswirkung grundsätzlich als ergebnisoffen anzusehen sind. Auch wenn der Umgang der Akteure mit ihrer eigenen Prekarität mit allgemeinen Trends der Ausdifferenzierung postfordistischer Arbeitswelten tendenziell konform geht (vgl. Castel 2009), bieten die engmaschigen Vernetzungen vor Ort, die enge Verknüpfung mit dynamischen Szenen und die besonderen Kontexte der Lebensführung in einer Stadt der niedrigen Lebenshaltungskosten und einer enormen Auswahl potenzieller Kooperationspartner jeweils eigene Ermöglichungsstrukturen, die in ihrem Ineinandergreifen begriffen werden wollen, bevor Schlüsse in Richtung genereller Strukturierungstrends gezogen werden können.
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Empirische Erkundungen zur Trackproduktion Tracks werden in der Produktion elektronischer Tanzmusik derzeit in aller Regel am PC mithilfe von Musikproduktionssoftware erstellt. Von dieser Regel gibt es so gut wie keine Ausnahme – es sei denn, es handelt sich um die Aufnahme eines Live-Acts, der von einem Künstler mit analogen Klangerzeugern aufgeführt wurde. In diesem Fall wird die Performance aufgezeichnet (zumeist digital) und später am PC weiterbearbeitet. Insofern ist der Ausgangspunkt für alle produzierten Tracks ähnlich: Es liegen mehr oder weniger umfangreiche Dateien und andere Tonträger mit Klängen (Sounds) vor, die von der Musikproduktionssoftware (meist als Samples) verarbeitet werden. Außerdem können Klänge von Software-internen Klanggeneratoren neu erzeugt werden. Beide Klangressourcen werden programmintern von einem Sequencer-Modul in ein jeweils bestehendes mehrspuriges Track-Projekt integriert. Grundsätzlich orientiert sich die Idee zu einem Track an der Erfahrung, die der Produzent mit der Software sowie den späteren Einsatzmöglichkeiten des fertigen Tracks gesammelt hat. Standardsoftware (z. B. das Programm „Ableton Live“) bietet für den Hausgebrauch bereits fertige Voreinstellungen (Presets) an, die von weniger ambitionierten oder routinierten Produzenten gern genutzt werden, um zu schnellen Resultaten zu kommen. Von professionellen Produzenten werden sie aber als schematisch, langweilig und nicht adäquat empfunden und daher häufig abgelehnt (Interview Lalabai Records). Die folgende Darstellung der empirischen Befunde orientiert sich an den individuellen Ansatzpunkten, die ein Künstler oder Produzent jeweils für die Erstellung von Tracks findet. Von dort aus werden die Ziele der Trackproduktion, die Formen der kulturellen Wertschöpfung und die zugrunde gelegten Qualitätskriterien, die Sozialitätsformen im Kontext lokaler Szenen und Internet-Netzwerke sowie die Vertriebswege eines Tracks dargestellt. Anschließend werden jeweils die Ausprägungen des erworbenen und eingesetzten Akustischen Kapitals, die zugehörigen Wissensformen sowie der zum Ausdruck kommende Wertschöpfungstypus gekennzeichnet. Es werden Fälle vorgestellt, die jeweils eine markante Variante möglicher Arrangements von materiellen und kulturellen Wertschöpfungen repräsentieren. Diese Varianten wurden anhand der kontrastierenden Fallauswahl identifiziert sowie durch minimal kontrastierende Fälle abgesi-
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chert. Daher berücksichtigt die Darstellung weniger Fälle als das Sample insgesamt umfasst. Die Varianten stellen wiederum mögliche Typen neuer Wertschöpfungskonfigurationen dar. Allerdings muss eine weitergehende empirische Erhärtung der Typen künftigen Analysen vorbehalten bleiben. Im Interesse der besseren Lesbarkeit dieses Textes wurden die diskutierten Fälle entlang eines Kontinuums angeordnet, das eine zunehmende organisatorische Komplexität der Produktion widerspiegelt – von dem Einzelkünstler (meistens DJ) über kleine Produzenten und kleine Labels hin zu größeren, international erfolgreichen Labels. DJs und Track-Produzenten Fall 1: DJ MashPot – DJ-ing als Dreh- und Angelpunkt DJ MashPot hat es fast geschafft. Er stammt aus England und hat bereits seit geraumer Zeit in mehreren britischen Großstädten aufgelegt. Außerdem hat er einige Monate in Australien gewirkt. Seit kurzem lebt er im Osten Berlins, in Sichtweite eines der wichtigsten Clubs der Stadt. In der Berliner Tech-House-Szene ist er einer der begehrten Top-DJs und pendelt weltweit zwischen renommierten Clubs. Ansatzpunkte für seine Tracks sind die Ideen, die er während seiner Club-Auftritte beim Mixen bekommt. Diese Ideen werden von ihm gedanklich und handwerklich-praktisch teilweise monatelang hin und her bewegt. Sie liegen permanent auf standby. Einige werden mit professioneller Musikproduktionssoftware anproduziert und dann für spätere Bearbeitungen abgespeichert bzw. archiviert. Andere werden zügig weiterbearbeitet und in einem Arbeitsgang so weit wie möglich fertig gestellt. Teilweise gibt ein und dieselbe Idee den Impuls für recht unterschiedliche Tracks. Wie sich die Kompositionen entwickeln, ist der Intuition und der Tagesform des Künstlers überlassen. Es handelt sich um einen iterativen und zugleich inkrementellen Prozess, dessen Ende lange Zeit nicht absehbar ist. Allerdings achtet der DJ darauf, dass der einzelne Track ein Arrangement erhält, d. h. eine charakteristische Abfolge von rhythmischen Mustern (patterns) und Melodien (hook lines), die zyklisch Spannung und Entspannung erzeugen sowie vom Hörer bzw. Tänzer als formgebende Elemente erkannt werden. Sobald ein Track fertig gestellt ist, wird er sowohl digital als auch als Vinyl-Platte veröffentlicht. Darüber hinaus werden einmal fertig gestellte Tracks auch als Ausgangsmaterial für Überarbeitungen (Remixes) eigener
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Tracks genutzt (z. B. für extern – von anderen Produzenten und Labels – hergestellte Sampler). Ein Remix bringt häufig zusätzliche Einnahmen, benötigt aber viel Zeit bis zur Fertigstellung. Daher nimmt DJ MashPot ungern Aufträge an (z. B. für fremde Labels), die mit einer Deadline (d. h. einem verbindlichen Fertigstellungstermin) verbunden sind. Gute Tracks brauchen viel Zeit und Ruhe. Wenn es knappe Liefertermine gibt, was gelegentlich vorkommt, dann bittet er einen Freund, ihm bei der Ausarbeitung der Tracks zu helfen. Dies stellt aber eher eine Ausnahme dar. Er ist inzwischen dazu übergegangen, in erster Linie für sein eigenes Label zu produzieren. Es handelt sich um ein Vinyl-Label, so wie er in seiner Rolle als performing artist auch ausschließlich als Vinyl-DJ unterwegs ist („It’s only vinyl and me“). Die Veröffentlichungen (Releases), die hier erscheinen, sind nicht dazu gedacht, möglichst viel Geld über den Verkauf hereinzubringen. Vielmehr dienen sie als Referenz im Wettbewerb um hoch dotierte Auftritte (Gigs). Höhere Gagen bewegen sich im Bereich von mindestens vierstelligen Euro-Beträgen pro Nacht; einen zusätzlichen Reputationsgewinn bringen profitable Gigs in international renommierten Clubs. Die Veröffentlichungen auf dem eigenen Label dienen auch dazu, Tracks bei besser angesehenen Labels unterzubringen. Ist diese Stufe erst einmal erklommen, eröffnen sich weitere Möglichkeiten, um an noch besser bezahlte oder prestigeträchtigere Engagements heranzukommen. Ziel der Trackproduktion ist es somit, in der internationalen Hierarchie der DJs aufzusteigen, um mit dem Live-Auftritt im Club höhere Einnahmen zu realisieren. Unter dem Strich ist diese Kalkulation für DJ MashPot bisher aufgegangen. Während er mit seinen Releases (sowohl auf dem eigenen als auch auf anderen Labels) nur wenig Einkommen erzielt, kann er mittlerweile ausschließlich von seiner Tätigkeit als DJ leben. Dennoch ist es nicht sein Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen. Im Gegenteil, den Kern seiner Arbeit beschreibt er als lustorientiert, mit viel Spaß am Feiern in einer lokalen Szene, womit auch ein Misstrauen gegen zu viel Erfolg und kommerzielle Attitüden einhergeht. Berlin mit seinen Freiräumen und der offenen Art und Weise, wie Neuankömmlinge in die Szenen integriert werden, macht es ihm nach eigenem Bekunden leicht, diesen Anspruch zu verwirklichen. Kulturelle Wertschöpfung vollzieht sich vor allem auf dem Weg der öffentlichen Verbreitung und künstlerischen Rezeption von Geschmacksurtei-
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len. Die einzelnen Tracks werden von DJ MashPot zwei Arten von Geschmacksurteilen ausgesetzt: •
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Zum einen werden praktische Signale der Akzeptanz oder Zurückweisung neuer Tracks im Club ausgewertet. An der – meist nonverbalen – Publikumsreaktion ist für den DJ abzulesen, ob ein Track „funktioniert“ und für eine spätere Veröffentlichung reif ist. Hin und wieder gibt es während des Auftritts auch verbale Reaktionen, die allerdings in der Regel nicht allzu differenziert sind. Gegenüber körperlichen Ausdrücken der Zustimmung (aufspringen, Hände hochreißen, schreien) oder Ablehnung (aufhören zu tanzen, sich hinsetzen, reden) sind sie für den DJ von sekundärer Bedeutung. Vor allem durch nonverbale Reaktionen erfahren die Produkte eine erhebliche kulturelle Wertschöpfung, da es sich bei den Besuchern der Top-Clubs häufig um Experten mit großer Hörerfahrung, teilweise auch ausgeprägter Meinungsführerschaft innerhalb der jeweiligen Szene handelt. Fällt eine Reaktion negativ aus, so gibt dies meist den Ausschlag für die Entscheidung zur Überarbeitung oder auch zur Nichtveröffentlichung des Tracks. Dennoch bleibt ein hohes Maß an Misstrauen gegenüber den spontanen Reaktionen eines Publikums bestehen: Es kann am nächsten Abend wieder ganz anders reagieren, weil sich z. B. die Zusammensetzung der Gruppe der Anwesenden verändert hat oder die kollektive Stimmung eine andere ist. Es besteht darüber hinaus auch immer die Möglichkeit, dass ein Track, auf den die Clubgänger gut tanzen, in musikalischer Hinsicht für den Künstler unbefriedigend ist und daher nicht zur Publikation taugt. Zum anderen sammelt DJ MashPot verbale Reaktionen auf fertige Tracks, die er zuvor auf der nicht-kommerziellen Internetplattform SoundCloud eingestellt hat. Hier haben die User neben dem Download die Möglichkeit, die einzelnen Tracks direkt per Texteingabe zu kommentieren. Diese Kommentare haben aber in der Regel keinen Einfluss auf die Gestaltung der Tracks selbst, etwa indem sie konkrete Hinweise für eine Überarbeitung geben würden. Vielmehr besteht ihre Funktion für den DJ hauptsächlich darin, die künftige Nachfrage bei einem bekannteren kommerziellen Anbieter abzuschätzen.
Qualitätskriterien: Die Frage, ob ein Track gut oder weniger gut gelungen ist, wird nicht dem Publikum allein überlassen. Vielmehr legt der DJ gro-
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ßen Wert auf Urteile, die von anderen DJs abgegeben werden. Außerdem ist die Richtschnur für die Beurteilung der Qualität eines Tracks immer wieder das eigene Gefühl: „I’m feeling if stuff is good or if it’s not that good“ (Interview DJ MashPot). Bei der Beurteilung eines Tracks müsse man sich sicher sein. Besonders beim Mastering müsse man sich nämlich mit den eigenen Vorstellungen gegenüber den Labels und den Masteringfirmen durchsetzen, um die eigenen Qualitätsansprüche aufrechterhalten zu können. Fertigstellung eines Tracks und Vertrieb: Sobald der digitale Track fertig gestellt ist, wird er zwecks Endbearbeitung dem Label übergeben, bei dem er erscheinen soll. Das Label führt einen Soundcheck durch und nimmt anschließend ein eigenes Mastering vor, in dem die Klangeigenschaften entweder dem späteren digitalen Veröffentlichungsformat oder dem analogen Pressformat angepasst werden. In der Regel erfolgt die Veröffentlichung gleichzeitig bei kommerziellen digitalen Vertriebsplattformen wie z. B. Beatport sowie als Vinylplatte, die über Internetshops und herkömmliche Plattenläden vertrieben wird. DJ MashPot steht dem digitalen Mastering kritisch gegenüber, da der Sound unnatürlich verändert und zu stark komprimiert wird. Die meisten Internet-Vertriebsplattformen verkaufen sowohl digitale Dateien (Soundfiles) als auch Vinylplatten, um alle Verkaufsmöglichkeiten auszuschöpfen. Herkömmliche Vertriebe, die sowohl Online-Verkauf betreiben als auch „analoge“ Plattenläden beliefern, stellen den Verkauf von Vinyl an Plattenläden häufig ein, sobald eine größere Online-Nachfrage vorhanden ist. Obwohl der Trend somit zum Online-Vertrieb (digital und analog) geht, hält DJ MashPot den Verkauf über Szene-Plattenläden weiterhin für sehr wichtig, da hier genauere Erkenntnisse über das Käuferverhalten und somit die reale Nachfrage gewonnen werden können. Zudem treten die Plattenverkäufer als Geschmacksbildner innerhalb der jeweiligen Szenen auf und fungieren als „street level sales pusher“, d. h. sie erzielen im Direktverkauf oft mehr Umsatz, als dies über Bestellfirmen möglich ist. Ein besonderes Problem stellt die Aneignung der eigenen Tracks durch andere DJs dar. So ist der Kauf von Tracks, die bei Beatport als Top Ten der Verkäufe gelistet sind, bei vielen DJs beliebt, da sie dadurch hinreichend bekanntes Ausgangsmaterial für eigene Mixes im Club bekommen. Dies erhöht in einzelnen Fällen die Chance, engagiert zu werden. DJ MashPot spricht von regelrechten „shopping lists“, mit denen manche Konkurrenten regelmäßig unterwegs seien. Obwohl dies eine legale Art des
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Ressourcenerwerbs ist, wird durch das Mixen und Einarbeiten in andere Tracks immer wieder das Problem der unklaren Urheberschaft erzeugt. Außerdem muss die Reputation, die mit originären Tracks verbunden ist, tendenziell mit den Nutznießern der eigenen Arbeit geteilt werden; sie geht sozusagen teilweise auf diejenigen über, die den Track zum Mixen oder als Sample-Vorrat für die Erzeugung ihrer eigenen Tracks nutzen. Ein noch größeres Problem stellen Versuche von SoundCloud-Nutzern dar, dort angebotene Tracks einfach zu kopieren und weiter zu verwenden. Obwohl es sich um Tracks mit relativ hohem Kompressionsfaktor und daher schlechter Soundqualität handelt, komme es immer wieder zu regelrechten Diebstählen, die allerdings wegen fehlender Copyrights kaum zu bekämpfen seien. Im Club seien diese mit einiger Übung anhand der schlechten Qualität der in den Mix eingespeisten Ausgangstracks zu erkennen. Als Sicherungsmaßnahme lässt DJ MashPot daher nur Kopien solcher Tracks bei SoundCloud einstellen, die bereits als lizenzierte Tracks bei dem Online-Musicstore Beatport erhältlich sind.5 Bei SoundCloud stellt sich für ihn außerdem das Problem der großen Konkurrenz durch nichtprofessionelle Produzenten, die die Ergebnisse ihrer Heimstudio-Basteleien mitten unter professionellen Tracks platzieren. Es gilt für ihn somit stets, sich klanglich von der Masse des veröffentlichten Materials abzuheben. Lokale Szenen und Internet-Netzwerke: Die lokale Berliner Szene ist für DJ MashPot etwas Besonderes. Sie honoriere den freien künstlerischen Ausdruck und lasse ökonomische Zwänge in den Hintergrund rücken. Auf diese Weise werde sie zu einem wichtigen Geschmacksgenerator („tastemaker“). Sie biete einen Rückhalt für die Erzeugung hoher musikalischer Qualität und sei ein wichtiger ideeller Bezugspunkt für die Künstler und Produzenten. Dabei garantiere die Größe der Szene jeweils eine große Vielfalt der Angebote und viele individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Obwohl die Mehrzahl der Clubbesucher Touristen seien und eine gewisse „ZooPerspektive“ auf die Musikproduktion vorherrsche, sei die lokale Kernszene weiterhin entscheidend für die Durchsetzung von Qualitätsstandards, den Fortschritt der musikalischen Stile und die Ausdifferenzierung der Produktionsszenerien.
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Im Unterschied zu nichtkommerziellen Plattformen bietet Beatport ausschließlich Sounddateien in hoher Qualität (MP3 mit 320 kbps kodiert sowie WAV und andere verlustarme Formate) zum Kauf per Download an.
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Im Unterschied zu lokalen Szenen sind die Sozialen Netzwerke des Internets für den DJ keine verlässlichen Adressatengemeinden. Beispielsweise werden Reaktionen auf Veröffentlichungen, die von FacebookNutzern kommen, von ihm eher als verunsichernd erlebt. Er wisse nicht richtig, ob es sich um fundierte Urteile oder um belangloses Geschwätz handele. Viele Reaktionen seien auch nur eine Art Reflex auf die suggestive Tätigkeit der Plattform-Betreiber (z. B. indem ständig zum „Find-ichgut“-Klicken aufgefordert werde). Insofern müsse man davon ausgehen, dass Soziale Netzwerke grundsätzlich keinen musikalischen Sachverstand („sense of music“) vorhalten. Es kämen weder ernst zu nehmende Feedbacks noch ideelle Rückhalte für die Künstler und Produzenten zustande. Akustisches Kapital und Wissen: DJ MashPot hat sich das praktische Wissen über die Details der Trackproduktion und die Arbeitsprozesse, die mit Wertschöpfungen verbunden sind, selbst angeeignet. Er kennt die Vertriebswege und ihre Probleme genau; zudem tritt er als geschickter Verhandlungstaktiker gegenüber anderen Labels, Vertriebsfirmen, Promotern usw. in Erscheinung. Das Akustische Kapital, das er dadurch erworben hat, lässt sich auf dem unmittelbaren Wege der Trackproduktion nur in geringem Umfang in ökonomisches Kapital transformieren. Es braucht den Umweg über die Tätigkeit als DJ im Club, um materielle Wertschöpfung in größerem Umfang zu realisieren und daraus Einkommen zu erzielen. Insofern handelt es sich bei der Art des Akustischen Kapitals, das hier erworben wurde, um Fertigkeiten und Ressourcen, die die materielle Wertschöpfung vorbereiten, ohne sie jedoch in verlässlicher Weise herbeiführen zu können. Diese Fertigkeiten umfassen die Erfindung von neuen Musikstücken, ihre materielle Produktion, die Rezeption von Geschmacksurteilen und Feedback, die Steuerung von Vertrieb und Promotion, die Aufführung und Wiedererfindung (Mixen!) von Tracks im Club, die erfolgreiche Platzierung der eigenen Aktivitäten innerhalb einer lokalen Szene, den Reputationsaufbau auf Internetplattformen sowie die Präsenz innerhalb von Sozialen Netzwerken. Wertschöpfungstypus: Ökonomische Wertschöpfung wird in diesem Fall als intendierter Haupteffekt hedonistisch motivierter künstlerischer Kreativität inszeniert. Sie wird auf dem Weg über sorgsam betriebene Prozesse des Reputationsaufbaus (qua Veröffentlichungen und Aufstieg in der Hierarchie der DJs) abgesichert.
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Fall 2: Don Bosco – unabhängiger Nischen-Produzent In deutlichem Kontrast zu der üblichen Konzentration auf DJ-Aktivitäten hat sich der Track-Produzent Don Bosco positioniert. Er sieht sich als einen autonomen Künstler, der sich ausschließlich von seinen musikalischen Vorlieben und Neigungen leiten lässt. In den 1990er Jahren war er als Bandmusiker im Bereich Indie-Rock unterwegs, bevor er ab 2002 als Produzent tanzbarer elektronischer Musik tätig wurde. Seine Aktivitäten konzentrieren sich seitdem auf Live-Acts mit analogen und digitalen Klangerzeugern in Clubs und auf Veranstaltungen, auf die Komposition von Musikstücken sowie auf die Produktion und den Direktvertrieb von Tracks in eigener Regie. Die Live-Acts unterscheiden sich von DJ-Auftritten jeweils durch ihren abgeschlossenen Konzertcharakter. Sie werden im Club als eine Art Intermezzo zwischen den DJ-Sets eingesetzt und dauern selten länger als eine Stunde. In stilistischer Hinsicht bezeichnet er seine Musik als „experimentellen Techno“. Ansatzpunkte für die Trackproduktion liegen jeweils in Mini-Kompositionen, die der Künstler am Notebook bzw. PC mithilfe von Musikproduktionssoftware erstellt. Diese Kompositionen dienen als Rohmaterialien für die spätere Trackproduktion. Sie liegen teilweise längere Zeit auf Abruf bereit, bevor sie am PC weiter ausgearbeitet werden. Die Kompositionen sind einerseits an Tanzbarkeit orientiert, andererseits aber auch experimentell angelegt, sodass es immer wieder Stücke mit reinen Klangflächen und ohne erkennbaren Beat gibt. Die Entwicklung der Kompositionen folgt, soweit möglich, den spontanen Intuitionen des Künstlers; die sich daraus entwickelnden Tracks entstehen zufallsgesteuert, ohne vorher festgelegtes Konzept. Ein weiterer Anlass zur Herstellung von Tracks ist durch Remixes gegeben, die teils auf eigene, teils aber auch auf fremde Materialien (zumeist fertige Tracks) angesetzt werden. Ziel der Trackproduktion: Die Trackproduktion folgt einer anderen Logik als in dem zuvor präsentierten Fall. Hier steht das Ziel einer niedrigschwelligen Veröffentlichung auf nichtkommerziellen Plattformen sowie in Form des Direktverkaufs von selbst hergestellten CDs im Vordergrund. Grundsätzlich sollen Tracks, die im Internet veröffentlicht werden, in erster Linie Aufmerksamkeit erregen. Sie werden daher nicht als Produkte angesehen, mit deren Verkauf Einkommen erzielt werden soll. Vielmehr ist für Don Bosco der jeweils laufende Audiostream im Netz das zentrale Produkt, um das er sich kümmern muss. Das Ziel, mithilfe eigener Veröffentlichun-
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gen mehr Bekanntheit und Reputation zu gewinnen, um anschließend bessere Buchungen in Clubs zu realisieren, wird zwar auch verfolgt, hat aber eine relativ untergeordnete Bedeutung. Kulturelle Wertschöpfung: Feedbacks und Bewertungen werden von Don Bosco systematisch durch Hochladen auf SoundCloud gewonnen. Dabei wertet er sowohl quantitative Feedbacks aus (d. h. die Zahl der Downloads) als auch qualitative Reaktionen in Form von Kommentaren, die von den Nutzern direkt am angezeigten Track hinterlassen werden. Auf diese – meist positiven – Beurteilungen legt er viel Wert, sie sind für ihn als Künstler „wie Balsam für die Seele“. Obwohl er daraus eine wichtige Motivation zum Weitermachen bezieht, beeinflussen ihn die Nutzerkommentare hinsichtlich der konkreten Gestaltung von Tracks nur wenig. Der einmal fertig produzierte und hochgeladene Track wird nur selten noch verändert. Um zusätzlich Aufmerksamkeit zu erregen, werden einzelne Tracks von ihm auch zu sogenannten Demo-Sets zusammengefasst, die in SoundCloud als separate Gruppen von Tracks – ähnlich wie Alben auf kommerziellen Plattformen – sichtbar sind. Links zu diesen Sets versendet er an befreundete Produzenten, DJs und Label-Manager, von denen teilweise verbale Reaktionen, in wenigen Fällen auch Interessenbekundungen hinsichtlich einer weiteren Veröffentlichung kommen. Qualitätskriterien werden von Don Bosco ausschließlich selbst festgelegt. Sie bestehen in der „Originalität“ und „Musikalität“ der entstandenen Kompositionen. Besonders wichtig für die Realisierung eines musikalischen Qualitätsstandards sei die Sensibilität des Produzenten für Klänge. Erforderlich sei auch eine gute Soundqualität, die aber mit gängiger Produktionssoftware problemlos zu erreichen sei. Insofern bestehe auch grundsätzlich kein Unterschied zwischen professionellen und nichtprofessionellen Produktionen. Fertigstellung von Tracks und Vertrieb: Ein einzelner Track wird kontinuierlich am PC bearbeitet, bis ein vorläufiger Endzustand erreicht ist. Danach erfolgt ein Zwischencheck auf dem Wege der Veröffentlichung bei SoundCloud und der Auswertung der Feedbacks von befreundeten DJs und Produzenten. Schließlich wird eine Entscheidung über die weitere Verwertung getroffen. Meistens wird zu diesem Zeitpunkt der Track nicht weiter bearbeitet; selbst im Falle negativer Feedbacks wird das Produkt eher von der Veröffentlichung zurückgezogen, als dass noch eine Verbesserung versucht wird.
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Anschließend begibt sich Don Bosco auf die Suche nach einem geeigneten Label, das die Veröffentlichung übernimmt. Dabei werden ausschließlich nichtkommerzielle Net-Labels (d. h. Labels, die ausschließlich digital und kostenlos im Internet veröffentlichen) bevorzugt. Die Auswahl des Labels erfolgt anhand der Wertschätzung, die die eigenen Produkte sowie die eigene Künstlerpersönlichkeit durch die Label-Macher erfahren. Eine Veröffentlichung auf kommerziellen Labels oder Internetplattformen wie z. B. Beatport lehnt er aus weltanschaulichen Gründen ab. Dies hat Konsequenzen für die weitere Bearbeitung des Tracks: Ein Mastering, das stets als Auftragsarbeit von anderen Unternehmen geleistet werden muss, kann nämlich nur dann erfolgen, wenn eigene finanzielle Mittel dazu vorhanden sind oder wenn das Net-Label ohnehin ein eigenes Mastering durchführt. Ist dies nicht der Fall, verzichtet er eher auf ein Mastering, als sich stattdessen in die Hände eines kommerziellen Labels zu begeben. Auf dieser Seite des Vertriebs wird strikt nichtkommerziell gearbeitet. Don Bosco spricht auch von einer nichtökonomischen Verwertungskette: „Ich lad ތes hoch, es ist hörbar, und der Kunde kann es direkt hören über Audiostream. Das ist die Verwertungskette, da kommt kein Geld rüber (...). Und die Leute wissen, sie brauchen’s ja gar nicht kaufen, es ist ja im Netz, ich kann’s jederzeit streamen“ (Interview Don Bosco). Dabei würde auch die zumeist geringe Soundqualität (128 kbps) in der Regel nicht beanstandet werden. Auf einer anderen Seite des Vertriebs wird jedoch eine dezidiert ökonomische Kalkulation aufgemacht – in Form eines Direktvertriebs ohne Label. Don Bosco stellt nämlich ausgewählte Tracks zu Alben zusammen, die er vollständig selbst entwirft und mit geringem finanziellen Aufwand brennen lässt. Die Gestaltung der Cover – meist individuell in Handarbeit hergestellte, originell gefaltete Pappcover – wird von einem befreundeten Designer übernommen. Die Promotion findet hauptsächlich über eine eigene Homepage, über E-mail-Listen, über Share-Links von SoundCloud aus sowie über Facebook statt. Zudem werden Dienstleistungen genutzt, die von kostenfreien Internetplattformen (z. B. Bandcamp) zum Zweck der Promotion zur Verfügung gestellt werden. Der Verkauf erfolgt über DirektBestellungen, die Don Bosco auf der eigenen Homepage entgegennimmt. Da die Produktionskosten sehr gering sind und der Zwischenhandel entfällt, können bei moderaten Verkaufspreisen und kleinen Auflagen jeweils Ge-
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winne erzielt werden, die im konventionellen Tonträgerhandel erst mit erheblich größeren Verkaufszahlen erreicht würden. Zusätzliche Aufmerksamkeit für seine Produkte erhält Don Bosco über ein internationales Künstlernetzwerk, dem er angehört. Dieses Netzwerk ist wiederum auf wichtigen freien Internetplattformen (Bandcamp, Flickr) vertreten. Unter den jeweiligen Eintragungen des Netzwerks sind Links zum Direktvertrieb Don Boscos untergebracht. Außerdem besteht dort teilweise auch die Möglichkeit des Micropayment, d. h. für den Künstler oder für einen Audiostream können die Nutzer jeweils kleine Geldbeträge spenden. Das Künstlernetzwerk ist außerdem für die Expansion der eigenen Aktivitäten als Live-Künstler wichtig, da es bei der Buchung von Live-Acts auf internationaler Ebene vermittelnd tätig wird. Lokale Szenen und Internet-Netzwerke: Lokale Szenen sind im Rahmen dieses Produktionskonzepts eher unwichtig. Für Don Bosco ist Berlin als Veranstaltungsort zu unberechenbar, da es hier viele zersplitterte MikroSzenen gebe. Dies gehe so weit, dass jeder Partyveranstalter seine eigene Szene habe (die sog. Possy). Diese Szenen würden sich teilweise ziemlich exklusiv geben, ihre eigenen Newsletter herausgeben, nur eine kleine Anzahl von regelmäßig gebuchten DJs zulassen, und daher für unabhängige Künstler nur bedingt zugänglich sein. Ein gezielter Reputationsaufbau sei dort für ihn, der zwischen den Szenen agiere, nur schwer möglich. Virtuelle Soziale Netzwerke werden von ihm insofern für relevant gehalten, als sie dazu beitragen, Aufmerksamkeit zu erzeugen. So nutzt er Facebook, um regelmäßig Informationen über seine neuen Veröffentlichungen und die bevorstehenden Live-Acts zu verbreiten. Als Quelle für Feedback hält er Facebook und andere Soziale Netzwerke jedoch für zu unzuverlässig. Akustisches Kapital und Wissen: Als ausgesprochener Individualist hat sich der Künstler und Produzent das Wissen, das er zur Produktion von Tracks benötigt, autodidaktisch angeeignet. Da er eine sehr kleine stilistische Nische bedient, hält er gegenüber möglichen Konkurrenten einen praktischen Wissensvorsprung. Darüber hinaus verfügt er über einen profunden Einblick in lokale Clubszenen und internationale professionelle Netzwerke. Er nutzt sein Szenewissen allerdings nur teilweise dazu, um herkömmliche Einkommensquellen zu erschließen und materielle Wertschöpfungsoptionen zu nutzen. Wichtiger ist es für ihn, eine Art gemeinwesenorientierte Musikproduktion zu betreiben. Er erschließt dabei vielfältige
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soziale Ressourcen (Kommunikation mit Internet-Nutzern, Integration in professionelle Netzwerke), die im Sinne eines Schwarm-Effekts für die nichtkommerzielle Promotion und Distribution der eigenen Tracks eingesetzt werden. Das dazu erforderliche Marktwissen richtet sich fast ausschließlich auf nicht-monetäre Tauschprozesse innerhalb von frei zugänglichen Internetplattformen und Label-Homepages. Eine Konvertierung Akustischen in ökonomisches Kapital wird bewusst restriktiv betrieben, um weltanschaulichen Grundsätzen treu bleiben zu können. Wertschöpfungstypus: Don Bosco setzt auf die normative Kraft seines Produktionskonzepts. Er sieht sich als Bestandteil einer Entkommerzialisierung des Musikgeschäfts, die mit dem Übergang vom Tonträgerverkauf zum Audiostream im Internet begonnen hat. Ziel ist es, die Veröffentlichung von Tracks als Bestandteil kultureller Wertschöpfung zu deklarieren, an der möglichst viele Produzenten und Nutzer teilhaben sollen. Nichtkommerzielle Plattformen und Micro-Payment, die darauf abzielen, die Person des Künstlers zu fördern anstatt seine Produkte zu verkaufen, stellen für ihn durchsetzungsfähige Zukunftsmodelle dar. Dieser Vision ordnet er seine eigenen Aktivitäten unter. Materielle Wertschöpfung bleibt dann anderen Aktivitäten vorbehalten, die entweder stärker im Live-Bereich, dem Tonträger-Direktverkauf oder auch in der Ausübung kleiner „branchenfremder“ Jobs liegen. Fall 3: Personalisiertes Label und Kleinproduktion Frankie M-Cult betreibt mit einem Partner ein kleines Label, das auf House spezialisiert ist. Zugleich sind die beiden als Duo mit analogen Live-Acts in Clubs tätig. Darüber hinaus teilen sie sich mit einem weiteren Partner ein Tonstudio in einem Kreuzberger Gewerbehof. Frankie ist hauptsächlich als Track-Produzent aktiv, erledigt aber auch alle anderen anfallenden Arbeiten für das Label. Er hatte zuvor bereits mehrere Studios gehabt und auch diverse Labels parallel betrieben. Erst kürzlich hat er ein weniger erfolgreiches Label aufgegeben. Das verbliebene Label dient in erster Line dazu, „einfach Musik rauszubringen von uns selber, die wir nirgendwo anders unterbringen konnten“ (Interview Frankie M-Cult). Neben eigenen Produktionen präsentiert das Label auch andere Künstler, deren Produkte professionell betreut und vermarktet werden. Bei seiner komponierenden und produzierenden Tätigkeit kommt ihm zugute, dass er lange Jahre als Musi-
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ker in Rockbands gespielt hat und weitere Facetten der Musikproduktion aus eigener Erfahrung kennt. Ansatzpunkte für die Trackproduktion liegen in Inspirationen, die die beiden Partner während ihrer Live-Auftritte im Club sammeln. Bei diesen Auftritten kommen sowohl ältere analoge Klangerzeuger (vor allem Synthesizer, Sequencer und Schlagzeugmaschinen) als auch digitale Sequencer (z. B. Ableton Live) zum Einsatz. Die Ausarbeitung der Ideen erfolgt jeweils am PC. Ziele der Trackproduktion bestehen hauptsächlich darin, klanglich hochwertige Dokumente der eigenen künstlerischen Arbeit zu erstellen. Frankie beschwert sich über das abnehmende Qualitätsbewusstsein der Konsumenten und möchte der schlechten Gewohnheit, digital produzierte, stark komprimierte Musik auf dem Handy zu hören, etwas Attraktives entgegensetzen. Daher hat er nach einer Phase, in der er hauptsächlich digital produziert hatte, die Produktion von Vinyl-Tracks wieder in den Vordergrund gerückt. Zugleich versetzt ihn die Vinylproduktion in die Lage, ein weiteres wichtiges Ziel zu verfolgen, nämlich mit den eigenen Veröffentlichungen einen Reputationszuwachs zu erzielen und auf dieser Grundlage mehr und bessere Engagements für Live-Auftritte zu bekommen. Kulturelle Wertschöpfung: Die Aufladung von Tracks mit kulturellem Wert erfolgt hauptsächlich auf dem Weg des Live-Acts und seiner gelungenen Verbindung mit DJ-Sets, die ihrerseits am besten von Vinyl-DJs gestaltet werden sollten. Für das Gelingen spielt die Interaktion mit dem Publikum im Club eine entscheidende Rolle: „Jaja, es ist oft – also es ist manchmal ganz hervorragend, wenn man wirklich ‚ne Meute hat, die am Schreien und am – wenn man wirklich ‚ne Meute da hat, so am Peak von ‚nem Set, wo man wirklich weiß, also jetzt – und dann weißt Du auch ganz genau, jetzt muss das, jetzt muss das und jetzt muss das kommen. Und Du freust Dich schon wenn das kommt und alle – das ist wunderbar. Also das sind so ein paar Faktoren, die immer die gleichen sind in der Nacht, aber die sind wunderbar, wenn sie funktionieren. Und bei unserer Geschichte, mit vier Händen live spielen, ist es auch ganz wichtig, dass jeder im richtigen Augenblick dann den Mute-Knopf, den Start-Knopf, den richtigen Ton trifft. Das ist wie mit ‚ner Band, den richtigen Einsatz zu finden. Und das kitzelt uns selber“ (Interview Frankie M-Cult).
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Die Intensität des Erlebens und die Spannung während der Live-Performance geben eine unmittelbare Rückmeldung darüber, ob ein potenzieller Track im Club „funktioniert“ oder nicht. Sie liefern zugleich die Grundstimmung und die Orientierung für die Nachbildung des Stücks am PC, die anschließend erfolgt. Feedback und direkte Bewertungen fertig produzierter Tracks erhält Frankie vor allem auf SoundCloud und Bandcamp, wo die differenzierten Stellungnahmen der User eine akzeptable Möglichkeit zur Einschätzung des Erfolgs oder Misserfolgs geben. Zugleich werden Rückmeldungen von Journalisten und DJs ausgewertet, die zuvor persönlich kontaktiert wurden. Je mehr und je besser pointierte Stellungnahmen von hochrangigen DJs eingehen, desto mehr Reputation entsteht für den einzelnen Track oder das Album. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die materielle Wertschöpfung: „Je mehr große Namen man im Feedback hat, oder je mehr Feedback, hilft einem das, das Produkt wieder besser zu platzieren, in ‚nem OnlineShop oder Vertrieb. Der Vinyl-Vertrieb ist hinterher und hat halt bessere Argumente im Shop, das Produkt wieder zu verkaufen“ (Interview Frankie M-Cult). Qualitätskriterien: Die Beurteilung der Qualität eines Tracks ist für Frankie eine sehr emotionale Angelegenheit und erfordert eine langjährige Erfahrung. Dabei besteht immer wieder die Möglichkeit der Fehleinschätzung: „Man hat immer so seinen Track, bei dem man persönlich sagt ‚wow, das ist es‘. Der muss aber dann nicht unbedingt auf dem Dance-Floor funktionieren, das ist auch immer interessant. Es funktioniert aber oft der, von dem man’s gar nicht denkt“ (Interview Frankie M-Cult). Daher sichert sich Frankie ab, indem er einzelne Tracks jeweils befreundeten DJs zum Auflegen mitgibt und sie um Feedback bittet. Auf diese Weise ist seine Sicherheit in der Einschätzung des späteren Erfolgs im Club im Laufe der Zeit gewachsen. Seine Erfahrung fasst er in der These zusammen, dass für das Gelingen eines Tracks drei Prüfkriterien erfüllt sein müssen: 1. Er muss emotional ansprechen, 2. er muss im Club „funktionieren“ (d. h. das Publikum begeistern) und 3. er muss im Club ein ausgewogenes, volles Klangbild haben. Die Geschmacksbildung für die Auswahl von Tracks externer Künstler für das eigene Label erfolgt hauptsächlich im Freundeskreis. Frankie beschreibt dies als einen ungezwungenen Entdeckungsprozess: „Das Ganze kommt dann, wenn man sich immer austauscht mit Leuten. Der eine zeigt
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einem Tracks, der andere zeigt einem Tracks, man sitzt zusammen und hört gegenseitig Musik – und dann ist es eher so ein indirektes A&R, also wir sind jetzt nicht danach aus, dass wir jetzt nach irgendwas suchen, weil wir das immer noch hauptsächlich für unsere Ideen und unsere eigenen Spinnereien benutzen wollen, um das zu veröffentlichen“ (Frankie M-Cult). Mit dem „indirekten A&R“ ist ein deutlicher Unterschied zum Verhalten kommerzieller Labels angesprochen, die sich eine eigene Artists & RepertoireAbteilung leisten, um aussichtsreiche Künstler für das Label zu finden bzw. zu verpflichten. Es geht hier nicht mehr darum, Künstler gezielt zu entdecken, sondern darum, aus den eigenen Vorlieben und Hörgewohnheiten heraus zufällig auf interessante Tracks zu stoßen. Die allgemeine Orientierung der Produzenten auf den Digitalvertrieb hin wurde nach Frankies Einschätzung durch die Marktverhältnisse erzwungen; sie ist daher für ihn grundsätzlich ambivalent. Der eigene Verkauf von Vinylplatten ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren lassen sich damit keine nennenswerten Umsätze mehr erzielen. Dennoch ist Vinyl für die Definition seiner eigenen Ansprüche, die Reputationsgewinnung als Künstler, das Image des Labels und auch für den Erhalt einer kleinen Insider-Kultur in seinem sozialen Umfeld unerlässlich. Franke sieht sich mit dieser Haltung nicht allein. Es sei immer wieder zu beobachten, dass die Betreiber von Digital-Labels zur ausschließlichen Vinyl-Produktion zurückkehrten. Dies werde durch die Entstehung immer neuer stilistischer Nischen gefördert. Es gelte nach wie vor, dass analog produzierte Techno-Tracks nur auf Vinyl voll zur Entfaltung kämen. Fertigstellung von Tracks und Vertrieb: Die Tracks werden in der Regel mithilfe von Software fertig ausproduziert. Anschließend werden die Fälle, von denen unklar ist, ob sie „funktionieren“, im Club getestet sowie befreundeten DJs zur Beurteilung gegeben. Danach erfolgt allerdings nur selten noch eine Überarbeitung. Die Tracks, die eine negative Bewertung erhalten, werden dann in der Regel zurückgestellt oder ganz aus der Produktion genommen. Positiv bewertete Tracks werden noch einmal abgemischt, erhalten standardmäßig ein Vinyl-Mastering, werden auf Vinyl gepresst und dann von einem kleinen Unternehmen vertrieben, das sich auf Techno- und House-Vinyl spezialisiert hat. Zugleich nimmt Frankie den zeitgleich erfolgenden Digitalvertrieb selbst in die Hand, d. h. er bietet die
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Tracks unterschiedlichen Digitalshops und kommerziellen Plattformen an (meistens Beatport und Whatpeopleplay). Zugleich mit dem Mastering wird von einem externen Unternehmen eine eher traditionelle Promotion betrieben. Das fertige Soundfile wird samt PR-Unterlagen an Magazine, Radios, DJs usw. geschickt, um Feedback zu erhalten und den künftigen Verkaufserfolg einschätzen zu können. Die derzeit zunehmende Bedeutung der Streamingdienste im Internet sieht Frankie positiv, da er ohnehin nicht damit rechnet, mit dem Verkauf von Tonträgern künftig noch nennenswerte Umsätze zu erzielen. Vielmehr sieht er das kostengünstige oder kostenfreie Streaming als zusätzliche Promotion für seine eigene Musik an: „Ich bin froh, wenn die Leute sich das anhören ... man muss einfach ein bisschen umdenken“ (Interview Frankie M-Cult). Lokale Szenen und Internet-Netzwerke: Verbindungen zu lokalen Szenen entstehen zum einen über die Club-Auftritte und zum anderen im Kontakt mit Vinyl-Plattenläden. Frankie legt viel Wert auf den direkten Kontakt zu Freunden, anderen DJs und Produzenten, Verkäufern usw., denen er die eigenen Neuerscheinungen persönlich aushändigt. Diese etwas altmodisch anmutende Geste zieht er dem Verschicken von anonymen Links per E-mail vor. Plattformen wie SoundCloud oder Bandcamp haben keinen direkten Einfluss auf die eigene Arbeit. Feedback, das hier entsteht, wird grundsätzlich misstrauisch beäugt, da nicht ersichtlich ist, über welches Wissen und welche Expertenschaft die jeweilige Person verfügt. Dieses Misstrauen verstärkt sich noch einmal erheblich gegenüber „Allerwelts-Netzwerken“ wie Facebook. Von diesen Netzwerken erwartet Frankie in keiner Weise hilfreiche Rückmeldungen. Sie sind für seinen Geschmack zu unspezifisch, d. h. nicht auf Musik bezogen und frei von musikalischer Kennerschaft. Selbst das Netzwerk MySpace, das trotz seines Bedeutungsverlusts der vergangenen Jahre immer noch von vielen Musikern intensiv genutzt wird, erscheint ihm als zu unspezifisch und für die Kommunikation innerhalb eines kleineren Kreises von Elektromusik-Experten eher wenig geeignet. Akustisches Kapital und Wissen: Die Fähigkeiten, die Frankie zur Trackproduktion benötigt, hat er immer wieder innerhalb von Partnerschaften mit anderen Musikern und Produzenten erworben. Er hat sich rund um das Label eine kleine, stabile Praktikergemeinschaft aufgebaut, mit der er ein hohes Maß an implizitem Wissen teilt. Die Entstehung dieses Wissens wurde entscheidend durch seine Erfahrungen mit Live-Situationen geför-
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dert. Intuitiv zu wissen, was an welcher Stelle innerhalb eines Tracks kommen muss, um einen maximalen Effekt zu erzielen; eine Choreographie der Bedienung analoger Klangerzeuger zu entwickeln und diese zu verinnerlichen – dies erzeugt eine Sicherheit im Umgang mit musikalischen Materialien, die sich auch auf die sozialen Kontextbeziehungen auswirkt. Feedback ist nicht mehr in jedem Fall ein Muss, um das eigene professionelle Wissen abzusichern. Es wird eher spielerisch zur Gestaltung künftiger Produktionskontexte und Auftrittsgelegenheiten genutzt. Zusätzliche Sicherheit gibt der Rückgriff auf frühere Erfahrungen als Musiker sowie auch auf den von ihm als „Old School“ bezeichneten Ansatz der analogen Klangerzeugung, der als Richtschnur für die Entwicklung von Tracks und VinylTonträgern dient. Die Überführung eines derart aufgebauten Akustischen Kapitals in ökonomisches Kapital folgt den Imperativen des Sich-Anpassens an geschwundene Profitchancen, die vor wenigen Jahren noch durch den Verkauf von Tonträgern gegeben waren. Dennoch werden im Vergleich zu anderen Produzenten immer noch ansehnliche Umsätze erzielt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Markt der analogen Tonträger gezielt bespielt wird und die dort verbliebenen Nachfragepotenziale ausgeschöpft werden. Die Diversifizierung der weiteren Tätigkeiten und Einkommensquellen, die Frankie genauso wie alle anderen befragten Stakeholder vollzieht, ist im Vergleich zu den zuvor diskutierten Fällen auf engere soziale InsiderBeziehungen, auf ein deutlich besseres Standing des Labels in den SzeneÖffentlichkeiten sowie auf eine weit fortgeschrittene Praxis der Live-Performance gegründet. Im Live-Sektor kommen relativ stabile Beschäftigungssituationen zustande, die für eine ökonomische Grundsicherung sorgen. Wertschöpfungstypus: Es wird eine Balance zwischen kultureller und materieller Wertschöpfung versucht, die der beständigen Nachregulierung bedarf, um gut zu funktionieren. Auf der kulturellen Seite wird gezielter Reputationsaufbau für das eigene Label sowie für die eigene Person betrieben. Dabei erweist sich die doppelte Retro-Orientierung – einerseits intensive Vinylproduktion, andererseits analoge Klangerzeugung während des Live-Auftritts – als Dreh- und Angelpunkt der bisher entwickelten Balance. Allerdings kann sich diese Balance trotz aller Stabilisierungsbemühungen als prekär erweisen, da sich der Vinylmarkt insgesamt rückläufig entwickelt
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und auch szenebasierte Hardcore-Nischen immer wieder Fluktuationen des Geschmacks unterliegen.
R ESTRUKTURIERUNGSTRENDS DER ELEKTRONISCHEN M USIKPRODUKTION Aus den hier vorgestellten empirischen Materialien lassen sich mehrere prägnante Trends der Restrukturierung eines derzeit offenen Handlungsfeldes herauslesen. Im Folgenden werden aus der Analyse der Einzelfälle jeweils sogenannte Strukturhypothesen entwickelt. Sie zielen darauf ab, die Positionierung der Akteure in einem Handlungsfeld zu rekonstruieren, das sich zwischen Virtualisierung und (Re-)Analogisierung aufspannt. Dabei werden die Schwerpunkte der entstandenen Produktionsmodelle und die Orte (Kernbereiche und Peripherien) der kulturellen und materiellen Wertschöpfung identifiziert. Zugleich werden die sozialen und ökonomischen Beziehungen, die in die jeweiligen Feldpositionierungen der Akteure einbezogen sind, charakterisiert, insbesondere die Bezugnahmen auf produktionsrelevante ökonomische, soziale und medienorganisatorische Strukturen. Diese Hypothesen haben keinen nomothetischen Charakter; vielmehr stellen sie vorsichtige Verallgemeinerungen der intersubjektiv geteilten Situationsbeschreibungen und -deutungen dar, die von den befragten Akteuren selbst vorgenommen wurden. Sie wurden anhand weiterer Fälle des Untersuchungssamples, in denen ähnliche Aussagen getroffen wurden, abgesichert. Insofern erfolgt eine erste Theoretisierung teilweise aus dem empirischen Material heraus, allerdings ohne dass vorab geäußerte Vermutungen dadurch vernachlässigt würden. Die Darstellung der Restrukturierungstrends erfolgt explizit unter Bezugnahme auf die eingangs formulierten vier Leitfragen (s. oben, S. 52). Frage 1: Produktionsmodelle und das Verhältnis virtueller und analoger Strukturbezüge Die geschilderten Fälle haben den Optionenreichtum, aber auch die für die Akteure jeweils entstandene Ambivalenz der Virtualisierung von Produktions- und Distributionsstrukturen im Feld elektronischer Tanzmusik deutlich zum Ausdruck kommen lassen. Die ausgesprochen enge lokale Szenever-
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bundenheit der Künstler, Produzenten und Labels ist in den vergangenen Jahren weitgehend erhalten geblieben. „Analoge“ Face-to-face-Beziehungen und direkte Interaktionen zwischen den Produzenten und dem Clubund Veranstaltungspublikum spielen nach wie vor eine zentrale Rolle für die Erfindung von Tracks, die Kommunikation von Geschmacksurteilen, die Entstehung von verbalem und non-verbalem Feedback, die Popularisierung neuer Tracks, den Reputationsaufbau von Künstlern und Labels, die Positionierung der Akteure in musikalischen Geltungshierarchien sowie die Erschließung von Gelegenheiten für hochrangige Live-Auftritte. Virtuelle Strukturen lassen sich überwiegend im Bereich der Distribution identifizieren; für die Trackproduktion selbst spielen sie lediglich eine untergeordnete Rolle. Feedbacks aus Internetplattformen und Sozialen Netzwerken tangieren die Produktionsphase höchstens marginal. Dieser Befund relativiert die teilweise großen Erwartungen der praxisnahen und akademischen Öffentlichkeiten an eine umfassende Restrukturierung der szenebasierten Musikproduktion in Richtung einer weiter fortschreitenden Virtualisierung oder gar umfassenden „Mediamorphose“ (vgl. Lischka 2010; Sperlich 2008). Die Digitalisierung der Produktion in Form der Erstellung transportabler Dateien auf PC und Laptop zieht nicht notwendig umfangreiche Interventionen aus dem Internet oder Interaktionen der Protagonisten mit virtuellen Netzwerken nach sich. Vielmehr sind die befragten Künstler und Produzenten geradezu darum bemüht, den Prozess von der ersten Idee bis zur Publikationsreife der Tracks vor externen Interventionen zu schützen. Die Erfindung und Fertigstellung eines Tracks erscheint als ein Vorgang, der seiner eigenen Entfaltungslogik gehorcht. Auf die Produktion selbst haben die Konsumenten kaum Einfluss – die Annahme, dass durch die Virtualisierung so etwas wie consumer co-creation (Potts et al. 2007, S. 461) und eine substanzielle Einflussnahme von Prosumern auf die Produktion entstehen könnten (vgl. Winter in diesem Band), muss vor dem Hintergrund der empirischen Befunde in der bisher formulierten Allgemeinheit zurückgewiesen werden. Die Virtualisierung setzt hingegen einen anderen Hebel an, der auf den ersten Blick paradox erscheint, da analoge Produktions- und Vertriebsformen davon gestärkt werden. Kommerzielle und nichtkommerzielle Internetplattformen sorgen nämlich nicht für eine verlässliche Überführung kultureller in materielle Wertschöpfung. Vielfach werden zuvor hoch bewertete Tracks aufgrund geringer Verkaufserlöse in materieller Hinsicht regel-
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recht entwertet. Die Produzenten und Künstler sind daher zwangsläufig auf der Suche nach alternativen Wertschöpfungsoptionen. Diese erschließen sich hauptsächlich in den analogen Bereichen der Live-Acts in den Clubs, der Festival-Auftritte und anderer Interaktionsformen mit einem physisch präsenten Publikum. Sie erschließen sich aber auch in der Produktion und Vermarktung analoger Tonträger für ein umhegtes Nischenpublikum – einschließlich nichtkommerzieller Vertriebsformen. Eine zirkuläre Bewegung scheint sich abzuzeichnen, von analogen Produktionsstrukturen via Digitalisierung in virtuelle Distributionsformen hinein und wieder in analoge Strukturen zurück – wenn da nicht die grundsätzliche Verschiebung der Wertschöpfungskernbereiche vom Tonträger hin zu anderen ökonomisch relevanten Produkten und Tätigkeiten wäre. Die Virtualisierung erscheint dadurch als eine neue Triebkraft der Wiederherstellung einer sozialen und künstlerischen Unmittelbarkeit der Musikproduktion, die in der großmaßstäblichen industriellen Tonträgerproduktion teilweise verlorengegangen war. Allerdings ist diese neue Unmittelbarkeit nicht immer intendiert – sie enthält stets Elemente ökonomischen Zwangs, die aufmerksam beobachtet und bewertet sein wollen. Der Schwenk zum Veranstaltungssektor hin erfolgt nämlich bei Strafe des unternehmerischen oder gar künstlerischen Untergangs und erzwingt besondere Anpassungsprozesse, auch wenn diese im Habitus des unentwegt kreativen und der Zukunft zugewandten SzeneAkteurs häufig als freiwillige Wahrnehmung gestaltbarer Optionen interpretiert werden. Die Wege hin zu einer derartigen Restrukturierung werden von den Einzelfällen des Samples in bemerkenswerter Klarheit aufgezeigt. Das vorliegende empirische Material gibt vier Produktionsmodelle zu erkennen, die in den folgenden Abbildungen 1-4 grafisch skizziert werden: 1. MainstreamDJ-ing und Kleinlabel-Produktion, 2. ökonomisch erfolgreiche SzeneLabel-Produktion, 3. nichtkommerzielle Nischenproduktion und 4. Nachwuchs-DJ-ing. Die Grafiken zeigen jeweils den Weg eines idealtypischen Tracks von der ersten Idee über den Produktionsprozess, die Feedbackformen und die Distributionswege hin zu angelagerten Wertschöpfungsformen. Der Einfluss analoger und virtueller Strukturen bzw. Beziehungsformen ist jeweils mit den Buchstaben A und V bezeichnet. Außerdem sind kulturelle Wertschöpfungsformen, ihre Übergabepunkte im Produktions-/ Distributionspfad und die Punkte der Realisierung materieller Wertschöpfung mit speziellen Signaturen gekennzeichnet.
V
Zeit
A
Track
Idee
Feedback: DJ-ing im Club
andere DJs und Produzenten
Hauptstrang der Produktion / des Vertriebs Angelagerte Tätigkeiten und Beziehungen Suchbewegung
Freunde
fertiger Track
V A
Promotion
materielle Wertschöpfung kulturelle Wertschöpfung Analoge Ebene
Verlag
Booking
Compilations
Remixes
Alben
Szene-Medien
Virtuelle Ebene
Plattenläden
Vertrieb analog:
(Club, Party, Festival)
Live-Acts
DJ-Gigs
DJs
Online-Shops
Soziale Netzwerke
Kommerzielle Plattformen
Feedback:
Kommerzielle Plattformen
Vertrieb digital
Vertrieb
Vinyl-Presswerk
Eigenes Label
Arrangement
Fremdes Label
Team
Zwischencheck:
einsatz
Software-
BasisStruktur
Soziale Netzwerke
Nichtkommerzielle Plattformen
Feedback:
Produktion
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Abbildung 1: Mainstream-DJ-ing und Kleinlabel-Produktion
Quelle: Eigener Entwurf
Das Modell, das von Mainstream-DJs bzw. Kleinlabel-Produzenten etabliert worden ist (s. Abb. 1), zeichnet sich durch vergleichsweise großen Optionenreichtum aus. Dieser kann einerseits als Beleg gelten für die Intensität der Suche nach alternativen Wertschöpfungsgelegenheiten, die mit der Ausbreitung virtueller Distributionsstrukturen und den wegbrechenden Ge-
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winnmöglichkeiten des Tonträgermarkts einhergehen. Andererseits zeigt er aber auch den Handlungsdruck an, dem sich die Akteure bei der Realisierung ihrer Trial-and-error-Projekte ausgesetzt sehen. Analoge und virtuelle Strukturen werden variabel genutzt, um künstlerisch motivierte Produktionsideen auch unter schwierigen ökonomischen Bedingungen möglichst ohne Abstriche umzusetzen. Dabei spielt der Rückgriff auf analoge Tonträger und Klangerzeuger eine wichtige Rolle für die Profilierung und Besetzung der entstehenden Nischen. Zugleich wird dadurch für eine enge weltanschauliche Rückkopplung mit der jeweils eigenen künstlerischen Identität (als Vinyl-DJ, als Live-Performer) gesorgt. Die Protagonisten werden in die Lage versetzt, sich ihrer künstlerischen Herkunft rückzuversichern, ohne den Kontakt zu den relevanten Szenen zu verlieren. Diese Re-Analogisierung der Produktion wird abgesichert durch virtuelle Vertriebsformen und Internet-gestützten Reputationsaufbau. Beide Optionen stehen kostengünstig und in technischer Hinsicht niedrigschwellig zur Verfügung. Sie werden daher vorbehaltlos genutzt. Lediglich Feedbacks aus virtuellen Sozialen Netzwerken werden vernachlässigt zugunsten „analoger“ Feedbacks aus dem Nahbereich. Primäre Ziele der Tonträgerproduktion sind die Sichtbarkeit und der Reputationsaufbau der Akteure, um an hoch bewertete Live-Auftritte gelangen zu können. Größere Labels mit ökonomischer Gewinnorientierung (Abb. 2) nähern sich älteren Formen der Label-Organisation an, indem sie abgewandelte Formen des A&R implementieren und auf die Entwicklung eines exklusiven Künstlerstamms hinarbeiten. Beide Strategien sind im Unterschied zur industriellen Tonträger-Produktion stark in lokalen Szenebezügen und analogen Face-to-face-Beziehungen verankert. Feedbacks zur laufenden Trackproduktion werden ebenfalls ausschließlich aus dem „analogen“ Nahbereich bezogen. Da hier hauptsächlich Vinyl-Produktion betrieben wird, werden auch die analogen Strukturen aus vergangenen Produktionskonzepten fast unverändert übernommen. Neu ist dagegen die Virtualisierung des Vertriebs digitaler und analoger Tonträger, die neben den weiterhin wichtigen analogen Vertrieb (Plattenläden, Tonträger-Großhandel usw.) tritt.
Zeit
A
ausgewählter Track
Face-to-faceNetzwerke
DJ-ing der Manager/Prod.
Feedback:
fertiger Track
Hauptstrang der Produktion / des Vertriebs Angelagerte Tätigkeiten und Beziehungen Suchbewegung
Gefühl
Freunde
andere DJs/ Produzenten
Label-Team
Zwischencheck:
A & R-ing
Empfehlungen
Demos
„weiches“
Anlieferung fertiger Tracks
V
Track
Produktion
Promotion
V A
materielle Wertschöpfung kulturelle Wertschöpfung Analoge Ebene
Verlag
Booking
Alben Compilations Remixes
Videofilmproduktion
InternetRadio
SekundärVerwertung
Virtuelle Ebene
Plattenläden
Vinyl-Vertrieb:
Vinyl-Presswerk DJ-Gigs der Produzenten
Szene-Medien
DJs
kommerzielle Plattformen
Feedback:
Sponsoring
StreamingDienste
kommerzielle Plattformen
Vertrieb digital & analog:
Vertrieb
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Abbildung 2: Ökonomisch erfolgreiche Szene-Label-Produktion
Quelle: Eigener Entwurf
Im Unterschied zu Modell 1 (s. Abb. 1) wird der Verkauf von Tonträgern immer noch als Kernbereich der Wertschöpfung angesehen, wenn auch angelagerte Bereiche wie z. B. ein eigener Verlag oder das Booking und die Organisation von Veranstaltungen an Bedeutung gewinnen. Der Schwenk
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in Richtung Live-Performance wird vom Label jedoch häufig nur im Rahmen größerer Veranstaltungen vollzogen. Die Auftritte der Label-Manager als DJs dienen lediglich der Erzeugung analogen Feedbacks und der Pflege von Szenekontakten. Insgesamt gesehen ergibt sich somit eine geringere Bedeutung virtueller Strukturen als in Modell 1. Dies schließt jedoch nicht aus, dass im Einzelfall sekundäre Verwertungsformen wie z. B. die Beteiligung an Internetradiosendern bzw. Podcasts und die Produktion bzw. der Verkauf von Tracks für Videofilmproduktionen entwickelt werden. Obwohl der nichtkommerzielle Nischenproduzent des Samples (Abb. 3) den Schwerpunkt der Wertschöpfung auf seine analoge Live-Performance im Club legt, zeigt er sich gegenüber virtuellen Einflüssen sehr aufgeschlossen. Er ist der idealtypische Protagonist eines umfangreicheren virtuellen Verdrängungsgeschehens auf elektronischen Musikmärkten, da er nämlich für eine völlige Aufgabe der industriellen Tonträgerproduktion plädiert und in der Ausbreitung kostenloser Streaming-Dienste im Internet ein wichtiges Element der neuen Musikproduktion sieht. Die produzierten Tracks werden daher ausschließlich in nichtkommerziellen Plattformen oder bei Net-Labels mit kostenlosen Downloadmöglichkeiten angeboten. Zudem werden internationale professionelle Netzwerke zur direkten Distribution genutzt. Dennoch werden virtuelle Feedbackgelegenheiten nur selektiv genutzt; die Sozialen Netzwerke werden sogar als eher irrelevant begriffen. Trotz aller Affinitäten zur fortlaufenden Virtualisierung wird ein solides „analoges“ Standbein durch die Eigenproduktion und den Direktvertrieb von CDs beibehalten. Die paradoxe Mischung aus radikaler Virtualisierung und ebenso kompromissloser Analogisierung ist das Ergebnis einer Positionierung innerhalb einer ökonomischen Nische, die vorwiegend auf der Basis von Kostenreduktion und einem konsequenten politischen Engagement für die Erhaltung nichtkommerzieller Produktionsformen vorgenommen wird.
Quelle: Eigener Entwurf
V
Zeit
A
Track
Idee
Freunde
andere Künstler/ Produzenten
Zwischencheck:
BasisStruktur
Arrangement
Hauptstrang der Produktion / des Vertriebs Angelagerte Tätigkeiten und Beziehungen Suchbewegung
einsatz
Software-
StreamingDienste
Mailing-List
V A
materielle Wertschöpfung kulturelle Wertschöpfung Analoge Ebene
(Club, Party, Festival)
Virtuelle Ebene
Veranstaltungen
Direktvertrieb:
Live-Act
Remixes
SoundcloudDemo-Sets
Soziale Netzwerke
Promotion
Net-Label
Soziale Netzwerke
Nichtkomm. Plattformen
Feedback:
Internationales Künstler-Netzwerk
Mailing-List
Direktvertrieb analog
Vertrieb
CDEigenproduktion
Eigenes Label
fertiger Track
Net-Label
Nichtkomm. Plattformen
Nichtkommerzielle Plattformen
Internationales Künstler-Netzwerk
Vertrieb digital
Feedback:
Produktion
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Abbildung 3: Nichtkommerzielle Nischenproduktion
V
Zeit
A
Track
Idee
Face-to-faceNetzwerk
lokale Szene
Feedback:
BasisStruktur
Soziale Netzwerke
Feedback:
Hauptstrang der Produktion / des Vertriebs Angelagerte Tätigkeiten und Beziehungen Suchbewegung
einsatz
Software-
Produktion
V A
materielle Wertschöpfung kulturelle Wertschöpfung Analoge Ebene
PartyDienstleistungen
Club, Party
Gigs:
Angebot an Label
weitere Vernetzung
Virtuelle Ebene
CD-Verkauf lokal
Direktvertrieb analog:
Soziale Netzwerke
Soundcloud, YouTube
Maillisten
Direktvertrieb digital:
Vertrieb
Trackproduktion als Trial and error? | 85
Abbildung 4: Nachwuchs-DJ-ing
Quelle: Eigener Entwurf
Die Trackproduktion durch Nachwuchs-DJs (s. Abb. 4) erfolgt auf einem ähnlichen technischen und musikalischen Niveau wie bei bekannteren DJs, allerdings ohne dass deren sozioökonomischer Status erreicht wird. Das wichtigste Ziel der Nachwuchs-DJs besteht daher darin, durch eigene Publikationen Aufmerksamkeit zu gewinnen und an lukrative Auftritte in Clubs
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und auf privaten Partys heranzukommen. Der Vertrieb der eigenen Tracks erfolgt informell in Form von selbst produzierten analogen Tonträgern, die auf Partys verteilt werden, in Form des Uploads auf nichtkommerzielle Internetplattformen und durch den E-mail-Versand von Soundfiles an die Mitglieder lokaler Netzwerke. Die an die Trackproduktion anschließenden materiellen Wertschöpfungsoptionen sind nur schwach entwickelt. Sie sind in hohem Maße von persönlichen Netzwerken abhängig, die sowohl virtuell als auch analog adressiert werden. Umso stärker werden die in lokalen Szenen und Subkulturen verankerten Chancen der kulturellen Wertschöpfung genutzt. „Anything goes“ scheint das Prinzip zu sein, nach dem die allmählich auftauchenden Wertschöpfungsgelegenheiten aufgegriffen werden. Frage 2: Kontexte der virtuell-analogen Strukturbezüge Soziale, kulturelle und technologische Kontexte spielen eine integrale Rolle für die Erschließung von Wertschöpfungsoptionen und die Ausgestaltung spezifischer Wertschöpfungskonfigurationen. Der hier entwickelte Blick auf virtuell-analoge Strukturbezüge lässt die Richtungen der aktuellen Restrukturierungstendenzen deutlich hervortreten. Strukturhypothese I: Die Trackproduktion dient nur teilweise genuin ökonomischen Zwecken. Im Gegensatz zu früheren Modi der Popularmusikproduktion werden aus Tonträgerverkäufen kaum noch kostendeckende Einnahmen erzielt. Vielmehr wird die Trackproduktion mittlerweile instrumentell eingesetzt, um andere Wertschöpfungsoptionen in benachbarten Tätigkeitsfeldern zu erschließen. Sie dient in erster Linie dem Reputationsaufbau der Künstler bzw. Produzenten, die auf diesem Wege an Engagements (Live-Auftritte) gelangen. Zugleich mit dem Reputationsgewinn der Künstler wird auch das Label aufgewertet. Umgekehrt erhält der Künstler durch viele Releases bei hoch bewerteten Labels einen zusätzlichen Reputationsgewinn, sodass sich ein zirkulär-kumulativer Effekt ergibt. Zur Gewinnung und Nutzung der für einen Reputationsaufbau erforderlichen Ressourcen müssen Wissensformen und Fähigkeiten entwickelt werden, die als Bestandteil eines genre- und szenespezifischen Akustischen Kapitals angesprochen werden können. In seiner sozialen Spezifik ist dieses Kapital aufgrund seiner Szene- und Netzwerkbasierung als kontextabhängig, solitär und schwer auf andere Felder übertragbar anzusehen.
Trackproduktion als Trial and error? | 87
Strukturhypothese II: Kulturelle Wertschöpfung geht der ökonomischen Wertschöpfung zwingend voraus. Ohne hoch bewertete Musikstücke, die den Qualitätsstandards der Produzentengemeinschaften oder der jeweiligen Szenen genügen, ist an eine erfolgreiche Vermarktung der Tonträger oder an das Erreichen lukrativer Gigs nicht zu denken. Während das sachkundige Live-Publikum im Club oder auf Konzerten eine wichtige Rolle für Qualität und Umfang der kulturellen Wertschöpfung spielt, sind internetbasierte Communities und Soziale Netzwerke nur mittelbar bedeutsam. Qualitative Feedbacks und Geschmacksurteile, die im Internet zirkulieren, werden von den Produzenten häufig als wenig relevant eingestuft, da unklar bleibt, welche Kennerschaft ihnen zugrunde liegt. Dies gilt insbesondere für Meinungsäußerungen innerhalb der Sozialen Netzwerke, die durch die allgegenwärtige Aufforderung zum „Find-ich-gut“-Klicken verschleiert und entwertet werden. Lediglich einzelne nichtkommerzielle Plattformen wie z. B. SoundCloud erhalten mit ihrer Möglichkeit, auf einzelne Tracks bezogene Kommentare abzugeben, eine begrenzte Funktion als Schnittstelle zu den Bedeutungszuweisungen, die ein größeres Publikum potenziell vornehmen kann. Strukturhypothese III: Tracks werden meist ohne Revisionen bis zur Veröffentlichungsreife zu Ende produziert und dann unmittelbar dem Marktgeschehen überlassen, nach dem Motto „Entweder top oder flop!“. Dies haben alle Befragten des Samples einhellig zum Ausdruck gebracht. Trotz einer gewissen Nähe zu Wertschöpfungsformen, die im Rahmen industrieller consumer-induced production zu beobachten sind, nehmen die im Internet sichtbar werdenden Konsumenten kaum einen nennenswerten Einfluss auf die Produktion selbst. Dies bleibt eher den lokalen Clubbesuchern überlassen, zu denen die Produzenten selbst Kontakt suchen. Die weitgehende Abkopplung des Verlaufs der Trackproduktion von äußeren Einflüssen ist nicht nur dem Misstrauen der professionellen Akteure gegenüber virtuellem Feedback, sondern auch der großen Veränderlichkeit der stilistischen Trends sowie einem hohen Veröffentlichungstempo geschuldet. Strukturhypothese IV: Während weniger bekannte Künstler und personenbezogene Labels versuchen, innovativ zu werden und auf dem Wege von Versuch und Irrtum jeweils unkonventionelle Nischen ausfindig zu machen, reagieren größere Labels und die großen Namen der ElektromusikSzenen mit einer neo-konservativen Wende ihrer Strategien. Sie versuchen,
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anhand der Profilierung und des Reputationsaufbaus ihrer Künstler erneut Ansatzpunkte für materielle Wertschöpfungen zu erschließen, die in den traditionellen Produktions- und Vermarktungsprozessen der Popmusikindustrie schon immer genutzt wurden. Nur große Namen bringen Umsatz – dieses Credo wird weiterhin für gültig gehalten, auch wenn der ursprüngliche Zweck (d. h. die Umsatz- und Gewinnsteigerung im Tonträgerverkauf) immer weniger bedient werden kann und die alte Reputationsmaxime nunmehr in Richtung vermehrter Aufmerksamkeitserregung auf Veranstaltungsmärkten in Stellung gebracht wird. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um ein Übergangsphänomen handelt, das den völligen Umschwung hin zum gezielten Aufbau und zur fokussierten Vermarktung von Performance-Künstlern vorbereitet. Denkbar ist aber auch, dass mit der weiteren Etablierung virtueller Vertriebsformen auf eine künftige Konsolidierung und Ertragssteigerung des Verkaufs digitaler Tonträger sowie neuer Umsatzbeteiligungen an Internet-Streamingdiensten spekuliert wird. Frage 3: Kerne und Peripherien der Wertschöpfungskonfigurationen Ausgehend von der Beobachtung, dass der Tonträgerverkauf an die Peripherie der Wertschöpfungskonfigurationen der Szene-basierten Musikproduktion gerückt ist, stellt die Identifizierung der neuen Kerne dieser Konfigurationen sowie ihrer Triebkräfte eine vorrangige Aufgabe der Rekonstruktion der gegenwärtigen Restrukturierungstrends dar. Es zeichnen sich neue Kopplungen vormals getrennter Wertschöpfungsgelegenheiten ab, die im Folgenden vor allem von der Strukturhypothese II beschrieben werden. Strukturhypothese I: Publikationen (Releases) befeuern qua Reputationsaufbau der Künstler und Labels jeweils die Ausdifferenzierung und Stabilisierung von feldtypischen sozialen Statushierarchien. Status bemisst sich hier einerseits am ökonomischen Erfolg (Download-Zahlen), andererseits aber auch an der Reputation und kulturellen Wertschöpfung durch ein lokales und überlokales Publikum. Ziel der Akteure ist es jeweils, in der Rangordnung der DJs und Produzenten möglichst weit nach oben zu gelangen. Hohe Rangplätze sind mit hohen Gagen für Live-Auftritte gekoppelt. Sie entscheiden über die Erwerbsmodelle der Akteure und – als Rückkopplung – über die Wertschöpfungsmodi, die von ihnen innerhalb des von ihnen entwickelten Produktionsarrangements gewählt werden. Erst ab dem Erreichen eines mittleren Rangplatzes wird es DJs beispielsweise möglich,
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von ihren Honoraren zu leben und somit auf weitere Einnahmequellen zu verzichten. Strukturhypothese II: Die materiellen Wertschöpfungsoptionen und die daran gekoppelten Tätigkeiten sind nicht in jedem Fall frei wählbar. Sie ordnen sich der Logik des Statuserwerbs durch Reputationsgewinn unter. Dies geschieht sowohl in kleinen Produktionsnischen als auch im Rahmen der Strategien größerer Szene-Labels mit ihrer wieder erstarkenden Kultur der „großen Namen“. Die Kopplung der Steigbügelfunktion der Trackproduktion (als Mittel des Reputationsaufbaus) mit Live-Acts bildet somit vorerst den Kernbereich der fortlaufenden Entwicklung variabler Wertschöpfungsoptionen. Weitere Bereiche wie z. B. Veranstaltungsmanagement, Booking, Verlag, grafisches Tonträger-Design usw. werden nicht regelhaft gewählt und entwickelt, da sie spezielle Qualifikationen erfordern und für einzelne Akteure oder kleinere Labels mit hohen unternehmensinternen Kosten verbunden sind. Viele Labels und Produzenten, die in derartigen Bereichen tätig sind, delegieren die erforderlichen Arbeiten an externe Unternehmen (outsourcing) oder geben die jeweiligen Tätigkeiten bei nachlassenden Umsätzen ganz auf, um Kosten zu sparen und ein schlankeres Organisationsprofil zu erhalten. Strukturhypothese III: Je nach Ansatzpunkt für die Trackproduktion werden derart vorgezeichnete Kerne und Peripherien der Wertschöpfung variiert und im Einzelfall auch neu arrangiert. Vormalige Linearitäten der Wertschöpfung werden dabei durch Virtualisierungs- und Re-Analogisierungsdynamiken durchbrochen. In der Trackproduktion selbst geschieht dies durch rekursive Prozesse des Anproduzierens, Liegenlassens und Wiederaufgreifens von musikalischen Ideen und Trackteilen. Im Vertrieb kommt dies in der Gleichzeitigkeit von Promotion, analoger und virtueller Distribution sowie Live-Performance zum Ausdruck. Als Resultat dieser Gleichzeitigkeiten ist eine erhöhte Fluidität der Produktion in Abhängigkeit von rasch veränderlichen ökonomischen und sozialen Kontexten zu verzeichnen. Frage 4: Sozialitätsformen und Akustisches Kapital Trotz aller Virtualisierungsgelegenheiten bleiben die sozialen Orientierungen der Akteure während der Trackproduktion auf den Nahbereich gerichtet. Auch in späteren Distributionsphasen bleiben Kommunikation und soziale Interaktion auf wenige Stippvisiten in Sozialen Netzwerken und Inter-
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netplattformen beschränkt. Die virtuelle Welt tritt eher als abstrakter Motor der Entmaterialisierung der Tonträgerproduktion denn als konkreter sozialer Bezugspunkt der Produktionspraxis in Erscheinung. Daher ist es zunächst wenig sinnvoll, markant ausgeprägte „virtuelle“ oder „analoge“ Sozialitäten als Triebkräfte der Ausdifferenzierung von Wertschöpfungskonfigurationen anzunehmen. Vielmehr entscheiden die konkreten Ansatzpunkte und Kontexte der Trackproduktion über die Ausformung von Interaktionen und Netzwerkstrukturen sowie über den Einsatz spezifischer Wissenstypen. Das konkrete Arrangement der sozialen Beziehungen und Handlungsorientierungen ist jeweils Bestandteil kontextabhängiger Erscheinungsformen Akustischen Kapitals. Strukturhypothese I: Die Trackproduktion beinhaltet im Nahbereich der Produzenten eine besondere „analoge“ Interaktionskomponente, die zur Ausgestaltung der Tracks und ihrer Distribution notwendig ist: Die Verankerung der Akteure in lokalen Szenen und informellen Netzwerken sichert einerseits die Akzeptanz der eigenen Produkte und andererseits ein verwertbares Feedback zur Qualität der Publikationen. Strukturhypothese II: Die Bildung internationaler Netzwerke wird durch virtuelle Kommunikation erleichtert. Besonders diejenigen Künstler, die sich in sehr kleinen ökonomischen Nischen befinden und auch innerhalb der elektronischen Tanzmusikszenen einen Minderheitengeschmack bedienen, greifen auf internetgestützte Vernetzungen mit anderen Künstlern, Produzenten und Intermediären zurück (s. Interview Don Bosco). Auf diesem Wege tauschen sie Wissen über Produktions- und Distributionsprozesse aus, vergewissern sich des Werts ihrer Publikationen, erschließen weitere Distributionswege, machen größere Öffentlichkeiten auf ihre Nische aufmerksam und sind potenziell in der Lage, als pressure group Einfluss auf lokale und nationale Debatten zur Veränderung der Musikindustrie zu nehmen. Soziales Kapital, das virtuell generiert wurde, dient hierbei in fokussierter Weise der Entstehung und Sicherung Akustischen Kapitals. Strukturhypothese III: Trackproduktion ist häufig in Communities of Practice integriert. Generell profitieren die DJs und Produzenten von der Integration in kleine professionelle Netzwerke und Teams, indem sie eigene Erfahrungen kommunizieren, sich gegenseitig Hilfestellung bei ihren Produktionen geben, Qualitätskriterien für die Beurteilung von Tracks aufstellen sowie anhand der Kommunikation von Geschmacksurteilen und subjektiven Bewertungen zur kulturellen Wertschöpfung beitragen. Dies ist je-
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doch nicht immer der Fall. Von einzelnen Produzenten wird eine allzu enge Verflechtung mit Freunden und Konkurrenten auch als hinderlich für die freie Entfaltung der eigenen Kreativität empfunden (Bsp. Don Bosco). Je nach weltanschaulicher Grundhaltung (z. B. der Nichtkommerzialität) und Produktionsmodell (z. B. der individualisierten Nischenproduktion) rücken Praktikergemeinschaften dann in den Hintergrund des Geschehens. Sie werden lediglich bei einzelnen Tätigkeiten (z. B. dem Beginn der Distribution) relevant.
R ESÜMEE
UND
AUSBLICK
Empirische Erkundungen zur szenebasierten elektronischen Trackproduktion, wie sie hier vorgenommen wurden, lassen jeweils nur Ausschnitte eines größeren Praxisfeldes sichtbar werden. Allerdings wird deutlich, dass alle Akteure ihr Handeln auf Herausforderungen ausrichten, die durch den allgemeinen Trend zur Virtualisierung von Musikproduktion und -vertrieb entstanden sind. Akustische Kapitalien durchlaufen daher einen Transformationsprozess – sie basieren auf veränderlichen sozialen Ressourcen und wandelbaren Arrangements unterschiedlicher Wissensformen. Die individuellen Projekte bestehen jeweils darin, den Wandel von der Tonträgerproduktion hin zur Live-Performance entlang szene- und netzwerkspezifischer Wertehierarchien und ökonomischer Ziele befriedigend zu gestalten. Sowohl kulturelle als auch materielle Wertschöpfung werden dabei variabel ausgestaltet. Die Orte und Formen der Umwandlung von kultureller in materielle Wertschöpfung erscheinen zwar aufgrund der weiterhin voneinander abgrenzbaren Phasen der Produktion und des Vertriebs eines Tracks als weitgehend festgelegt; bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass sie sich in fortlaufender Umformung befinden. Ausschlaggebend für diese Wandelbarkeit ist die Art und Weise, in der Trackproduktion, Reputationsaufbau und Live-Acts jeweils miteinander verknüpft werden. Eine zentrale Herausforderung, die insbesondere durch die Virtualisierung des Vertriebs bzw. der Publikation entsteht, besteht für alle Akteure in der wachsenden Publikationsflut. Die Zahl technisch hochwertiger und künstlerisch zumindest annehmbarer Releases wächst mit dem Sinken der technischen Schwelle, das durch Musikproduktionssoftware und den leichten Zugang von Amateuren zu einschlägigen Internetplattformen herbeige-
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führt worden ist. Da zudem der materielle Wert einer Publikation tendenziell weiter sinkt, nimmt die Zahl der Publikationen eher zu als ab. Für die professionellen Akteure geht es immer mehr darum, Aufmerksamkeit zu erregen und zu behalten, um sich von der Masse nichtprofessioneller Veröffentlichungen abzusetzen. Unabhängig vom konkreten einzelnen Produktionskontext reagieren die Produzenten und Labels darauf mit • • • • •
eigenen Professionalisierungswegen, z. B. indem sie besondere stilistische oder ökonomische Nischen schaffen und besetzen, der szenebezogenen Aufwertung von Produkten und Labels, dem gezielten Reputationsaufbau durch Exklusivität und „große Namen“, der Bevorzugung der Großen Form (Alben, Compilations) sowie der Kopplung einzelner Tracks und Alben mit Live-Acts.
Gemeinsam ist den Akteuren auch der Versuch, in einer offen angelegten (d. h. immer wieder durch veränderliche Reputationskriterien verhandelbaren) Geltungshierarchie der Künstler, Produzenten und Labels jeweils möglichst weit nach oben zu steigen. Publikationen und Tonträger werden nicht mehr als Ziel, sondern als Mittel zum Zweck hergestellt. Der Zweck besteht darin, einerseits den erreichten Reputationsstand zu dokumentieren und zu legitimieren, andererseits mithilfe von Publikationen jeweils Engagements für möglichst hochrangige und gut bezahlte Live-Auftritte zu bekommen. Von diesen Gemeinsamkeiten abgesehen trennen sich die Wege der Akteure jedoch schnell wieder. Es werden geradezu divergente Entwicklungen sichtbar – zwischen einer partiellen Entkommerzialisierung des Musikgeschäfts und einer Rekommerzialisierung auf veränderter Grundlage. Entkommerzialisierungstendenzen lassen sich zunächst bei kleinen Nischenproduzenten beobachten. Diese verhalten sich scheinbar widersprüchlich, indem sie sowohl virtuelle als auch analoge „Standbeine“ so weit wie möglich weiterentwickeln. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie in doppelter Hinsicht rational handeln: Zum einen antizipieren sie den sich derzeit vollziehenden zweiten Virtualisierungsschub nach der MP3-Revolution, der mit der Ausbreitung von Streamingdiensten im Internet und der weiteren Entmaterialisierung von Musik – sprich: dem Entfallen des Upund Downloads von digitalen Tonträgern – verbunden ist. Dies kommt
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ihren weltanschaulichen Grunddispositionen (Demokratisierung des Musikmarkts, Nichtkommerzialität) häufig entgegen. Zum anderen sind sie frei, analoge Standbeine zu entwickeln, die die exklusive Produktion und Direktvermarktung analoger Tonträger beinhalten. Bekanntere Produzenten und Labels arbeiten hingegen stärker an einer Rekommerzialisierung. Sie begeben sich auf die neo-konservative Suche nach Möglichkeiten einer weiteren Reputationssteigerung, vor allem durch die Entwicklung „großer“ Namen, die als Zugpferde ihrer Labels und zugleich als Ikonen der „dahinter“ stehenden Szenen vermarktet werden. Ob der jeweils relevante Markt ein fortschreitend digitalisierter Tonträgermarkt, ein durch Exklusivität aufgewerteter analoger Tonträgermarkt, ein mit Szenen rückgekoppelter Veranstaltungsmarkt oder eine Kombination daraus ist, bleibt in der gegenwärtigen Umbruchphase offen. Erkennbar ist jedoch bereits jetzt, dass derartige Strategien umso eher erfolgreich sein können, je höher die individuelle Reputation beim Einstieg in diesen Prozess ist, je mehr Ressourcen die Akteure in den Reputationsaufbau lenken und je größer die Organisation ist, mit deren Hilfe dieser Prozess gestaltet wird. Insofern scheinen sich hier ältere Mechanismen der Ressourcenkonzentration, die zu Zeiten der industriellen analogen Tonträgerproduktion etabliert waren, in abgewandelter Form neu zu formieren, nämlich als Triebkräfte flexibilisierter Kopplungen von Tonträgerproduktion und LiveActs. In der Ausgestaltung derartiger Kopplungen dürften die allseits zitierten 360-Grad-Strategien eher zu den seltener zu beobachtenden Phänomenen zählen. Obwohl derartige Strategien theoretisch als Anzeichen der Expansion Akustischen Kapitals gelten können, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es sich um selektive Erweiterungen bereits etablierter professioneller Orientierungen und Aktivitäten handelt. Dass generell alle erreichbaren Wertschöpfungsgelegenheiten genutzt werden, um im Spannungsfeld von Virtualisierung und Re-Analogisierung zu profitablen oder zumindest überlebensfähigen Produktionskonzepten zu gelangen, ist auf der Grundlage der hier diskutierten empirischen Befunde zunächst nicht anzunehmen. Diese Option sinnvoll zu nutzen, ist in hohem Maße voraussetzungsvoll. Benötigt werden ein hoher Reputationsgrad der Akteure und des Labels, die Verfügbarkeit einer Vielzahl personeller Ressourcen und verwertbarer Wissensbestände sowie eine differenzierte Aufgabenorganisation, die insbesondere die Koordination der einzelnen Tätigkeiten übernimmt. Abgesehen
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von erfolgreichen Top-Labels dürfte dieser Weg derzeit von kaum einem Akteur mit Gewinn beschritten werden können. Die Regel dürften eher engere Wertschöpfungskorridore sein, die sich insbesondere für weniger erfolgreiche Einzelakteure in pfadabhängiger Weise entwickeln. Sie entstehen entlang von weltanschaulichen Zielsetzungen, individuellen Fähigkeiten und Qualifikationen sowie dem individuellen Management knapper Ressourcen. Die jeweils eigenen Logiken, mit deren Hilfe die einzelnen Wertschöpfungsvarianten entwickelt werden, dürften die Sozial- und Kulturwissenschaften also noch für einige Zeit mit Anschauungsmaterial zum Umbruch der Musikproduktion versorgen.
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Interview John Muder/Johnjon und Chi-Thien Nguyen/Chopstick, DJs und Produzenten
John Benjamin Muder, a.k.a. Johnjon, und Chi-Thien Nguyen, a.k.a. Chopstick, gehören als renommierte DJs und „Ping-Pong Producer Duo“ seit 2005 zu den bekanntesten Akteuren der Berliner HouseSzene. Beide haben ihre vorherigen Erfahrungen als Musiker, DJs und Label-Manager zusammengeführt, um sich erfolgreich in einer stark bewegten Produktionslandschaft durchzusetzen. Zu ihren gemeinsamen Projekten zählen die Gründung der Labels Criminal Records (2005), Baalsaal (2007) und Suol (2010). Wichtige Bestandteile ihrer Produktionspalette sind exklusive Releases von Big Names wie z. B. Fritz Kalkbrenner, aber auch eine zunehmende Zahl von Electro-HouseRemixes.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten 5-8 Jahren geändert? Johnjohn: Ich habe viel iPod über Kopfhörer gehört, aber es ist oft zwischendurch, so zum Zeitvertreib oder zur Überbrückung gewesen. Wenn man mit Bus und Bahn unterwegs ist, hört man Musik eigentlich nur als Berieselung. Man setzt sich nicht mehr wirklich hin und hört bewusst Musik. Das habe ich aber in letzter Zeit, als es mir aufgefallen ist, wieder geändert. Ich setze mich jetzt hin und höre wirklich wieder bewusst Alben mit einer vernünftigen Anlage. Wo erwarten sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Johnjohn: Rein in der Musikproduktion oder in der Auswertung? Im Label ist diese Streaming-Geschichte ein ständiges Thema, wobei wir noch nicht wirklich überzeugt sind, um ehrlich zu sein. Es ist irgendwo logisch, und es
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werden auch die Informationen an uns herangetragen, dass es in einigen Ländern und auch gerade in Europa ein super Markt ist, das Streaming, weil es anscheinend nicht die Käufer weggräbt, sondern eher diejenigen nimmt, die normalerweise illegal runterladen. Die fangen dann an zu streamen. Man gräbt sich da wohl keine eigenen Käufer weg. Aber insgesamt, müssen wir sagen, sind wir davon als Label noch nicht überzeugt. Chopstick: Ob es in der Musikproduktion wirklich neue Wertschöpfung gibt? Das sehe ich jetzt gar nicht, es ist aus Produzentensicht immer noch das ganz alte Spiel, das es schon immer gegeben hat – für sich selber produzieren, natürlich auch Auftragsarbeiten erfüllen. Aber das ist jetzt alles nichts Neues. Ich denke, das was sich da auftut mit diesem Streaming ist eigentlich so das einzig Interessante.
Durch was werden diese ausgelöst? Johnjon: Bei uns ist es so, dass uns unser Digitalvertrieb ganz intensiv dazu interviewt hat. Er hat versucht uns davon zu überzeugen, dass das eine gute Art und Weise ist, noch eine weitere Wertschöpfung zu installieren. Die versuchen uns immer mit Zahlen zu überreden, aber dann siehst du dir die erste Abrechnung an und – das stimmt für mich im Verhältnis noch nicht. Dann haben die Anbieter des Online-Streamings auch immer irgendwelche klugen Claims wie „umsonst Musik hören“ oder so was, wo ich immer denke, das ist eigentlich im Moment die falsche Aussage.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Johnjon: Ich glaube nicht, dass es veränderte Anforderungen gibt. In der Produktion eigentlich nicht. Ich habe jetzt von Leuten gehört, dass die aktiv für Laptop-Speaker und diese iPod-Kopfhörer produzieren. Es muss zumindest darauf auch gut klingen. Wenn jemand meine Sachen beim OnlineShop anhört, dann macht er das zu 80 Prozent über die Laptop-Speaker, und wenn man dann die Bassline nicht hört, hat man den halben Track nicht gehört. Aber das ist eine Sache, der wir uns noch nicht angenommen haben. Wir wehren uns noch vehement dagegen, solche Sachen zu starten. Bei uns ist es immer noch Clubmusik, es soll gut klingen im Club, und darauf konzentrieren wir uns eigentlich im Schwerpunkt.
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Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Chopstick: Ich glaube es ist eine Kombination. Die Sozialen Netzwerke sorgen dafür, dass es viel mehr Leuten möglich gemacht wird, zum Beispiel eine Party zu machen. Ich erinnere mich noch, als ich 18, 19 war und wir angefangen haben Partys zu machen, da mussten wir Flyer drucken, Plakate machen, den ganzen Krempel. Das muss jetzt alles nicht mehr gemacht werden. Jetzt mache ich einfach eine Facebook-Einladung und schicke die dann mit ein paar Freunden an 15.000 Leute raus, zusammen mit einem Online-Flyer. Dann ist das Ding eigentlich mit großer Wahrscheinlichkeit voll. Ich brauche da kein Geld mehr zu investieren. Es ist eigentlich eine parallele Entwicklung zu Digital-Labels, die sofort die Möglichkeit haben, ein Release zu machen, ohne viel Geld in die Hand zu nehmen. Was natürlich auf der einen Seite immer gut ist, weil es vielen Leuten die Möglichkeit gibt, so etwas zu tun. Auf der anderen Seite ist sowohl bei Partys und Veranstaltungen als auch bei Platten diese natürliche Qualitätskontrolle raus, die entsteht, wenn ich mir überlegen muss, ob ich das wirklich machen will, ob ich tausend Euro in die Hand nehmen will, die ich eventuell nie wiedersehe. Das wird jetzt einfacher gemacht, und gerade Musikszenen entstehen immer aus kleinen örtlichen Szenen, die dann irgendwann zusammenwachsen. Wir waren jetzt letzte Woche in Mönchengladbach und haben auf einer der besten Partys gespielt, die wir seit langer Zeit gesehen haben, was man nun von Mönchengladbach nicht erwartet. Und es war einfach nur eine sehr familiäre Geschichte. Man hat einfach gemerkt, das sind zwei Brüder gewesen, die das veranstalten, die haben da in der Region einfach was aufgebaut seit fünf Jahren. Die haben da so eine kleine Gruppe von Leuten zusammen, die schon Musik lieben, und das ist eine entscheidende Sache, die es überall gibt. In Brasilien gibt es das, überall gibt es so kleine Szenen, die lange Zeit parallel existiert haben. Die haben da vor sich hin gewerkelt. Und jetzt wächst es natürlich über die Sozialen Netzwerke zusammen. Weil man jetzt mal ganz schnell zu diesen Leuten Kontakt halten kann, sie miteinander verbinden kann. Das ist ein Vorteil der Netzwerke, der sofort erkennbar wird. Ein Brasilianer kann jetzt theoretisch mit einem Japaner über Musik kommunizieren.
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Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Johnjon: Es gibt inzwischen den Mainstream, der wird europaweit abgedeckt. Da hat irgendjemand eine Idee, investiert viel Geld, wie so MassenRaves, und sagt, wir mieten jetzt ein Riesen-Stadion. Da kommen alle einheitlich gekleidet und es spielen ein paar DJs. Und dann kommen 50.000 Leute. Das hat natürlich nichts mehr mit einer lokalen Veranstaltung zu tun. Aber ich glaube auch nicht, dass das die Seele der ganzen Sache ist. Die Seele der ganzen Sache sind Leute, die an ihrem Ort mit den Leuten, die sie zur Verfügung haben, eine gute Idee entwickeln und ein gutes Konzept, eine gute Veranstaltung oder ein gutes Label starten oder oder oder. Letztendlich gibt es durch die Sozialen Netzwerke nur mehr Möglichkeiten, sich auszutauschen. Aber es wird jetzt nicht ersetzt werden von so einer globalen Geschichte. Es wird immer die Kleinen vor Ort geben, denn das sind die, die letztendlich die 300 Leute in den Club holen. Die Leute, die elektronische Musik kennenlernen, haben gerne eine Identifikation mit einem Ort. „Wo kommt das her, was ist das?“ Und wenn es aus Berlin kommt, ist es wahrscheinlich gut. So in dem Sinne. In dem Moment, wo man tiefer eingetaucht ist, stellt man aber fest, dass es total Stadt-unabhängig ist. Berlin war am Anfang schon so ein Brennpunkt, aber letztendlich sind ja jetzt auch sehr viele hergezogen, und ich glaube, Berlin kämpft zurzeit damit, dass es nicht ein Überangebot hat am Ende des Tages. Kleine lokale Geschichten können viel interessanter sein als eine Clubnacht in Berlin, finde ich.
Interview Jürgen von Knoblauch, DJ und Produzent
Jürgen von Knoblauch studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin, als er 1992 als DJ für Partys und Hochzeiten das erste Mal mit dem Musikgeschäft in Berührung kam. Es folgten die ersten eigenen Clubabende im Berliner Raum und 1995 die Gründung der DJ-Formation Jazzanova zusammen mit seinen DJ-Partnern Alexander Barck und Claas Brieler. 1996 wurde daraus eine DJ-Produzentengruppe, als die Produzenten Axel Reinemer, Stefan Leisering und Roskow Kretschmann dazukamen. Die Gründung des Labels Sonar Kollektiv mit seinen Partnern Alexander Barck und Claas Brieler bewogen ihn 1998 zum Abbruch des Studiums. 1998 ging er, zusammen mit seinen Partnern aus Sonar Kollektiv und mit Michael Reinboth von Compost Records, die Labelkooperation Jazzanova-Compost-Records ein, welche bis 2004 hielt. 2003 wurde mit den Mitgliedern der Formation Jazzanova der Verlag Sonar Kollektiv gegründet. Seit 2010 steht er Sonar Kollektiv als geschäftsführender Gesellschafter vor und ist nach wie vor als DJ aktiv.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren verändert? Die meiste Musik höre ich heutzutage mit dem Computer. CDs und Vinyl sind auch noch im Programm, aber deren Anteil hat sich deutlich verringert. Es liegt zum einen am digitalen Musikangebot, das über die letzten Jahre viel größer wurde, und zum anderen an der Tatsache, dass fast alle Demos und Promos nur noch digital versendet werden. Das größere digitale Angebot der Musik hat meine Hörgewohnheiten deutlich verändert. Ich höre jetzt viel schneller Musik. Ich höre viel mehr Stücke. die ich nur noch kurz antippe und durchscanne. Es fällt mir viel schwerer, mich auf ein Musikstück einzulassen. Am besten kann ich das, wenn ich auflege. Dann höre ich Musik sozusagen bewusst.
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Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Als Musikproduzent mit Studio vernetzt man sich noch mehr mit anderen Medienbereichen, zum Beispiel Film. Durch die fortschreitende Technisierung wird für den Musikproduzenten über Software viel mehr möglich. Was früher zigtausende Euro gekostet hat, ist heute viel günstiger zu bekommen. Als professioneller Musikproduzent kann man deshalb heute leichter in andere Bereiche vordringen. Als Label muss man sich viel mehr ums Vernetzen kümmern, sei es Sponsoring, seien es staatliche Stellen wie Initiative Musik zum Beispiel man muss viel mehr nach diesen Querverbindungen Ausschau halten, damit Projekte finanzierbar bleiben. Man muss sich mit anderen Akteuren vernetzen und kann nicht nur labeloriginäre Bereiche abdecken. Solche Optionen entstehen nur durch die Technik, dadurch, dass man einfach viel mehr Leute erreichen kann.
Durch was werden diese ausgelöst? Die Technisierung der Kommunikation ist ein wichtiger Punkt. Egal ob man es gut oder schlecht findet, jeder nutzt die Möglichkeiten. Die Barrieren sind nicht mehr so hoch wie früher, als man über Vorzimmer an die richtigen Leute kommen musste. Man schreibt Mails oder nutzt Social Media, und dann gleich in Bezug auf einen Personenkreis, je nachdem was man vorhat. Dadurch hat sich aber die Kommunikationsdichte erhöht. Man hat viel mehr zu kommunizieren als früher. Als Label braucht man dazu eigentlich mehr Personal.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Die Abstimmung zwischen Künstler und Label ist sehr wichtig. Früher hatte der Künstler oft „nur“ die Musik und das Label die Kontakte. Heute ist auch der Künstler viel mehr vernetzt. Es geht nun darum, die Kontakte zusammenzubringen und das Umfeld gezielt zu informieren.
Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette?
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Niedrigere Barrieren beim Schaffen und Vermarkten von Musik führen meiner Meinung nach zur Stärkung von Orten, die schon länger von Bedeutung für Musik sind. Berlin zum Beispiel ist schon lange ein wichtiges Zentrum für Musik. Die Technisierung der Kommunikation, Social Media, etc. hat Berlin eher noch wichtiger werden lassen. Die Musikbranche im Allgemeinen ist in der letzten Dekade flächendeckend größer geworden. Die Akteure suchen trotz neuer technischer Entwicklungen Orte, an denen sie zusammenkommen können. Dieser Trend führt dazu, dass Musikzentren eher noch wichtiger werden.
Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Berlin macht in dieser Hinsicht schon vieles richtig. Neue Institutionen wie Initiative Musik oder die Berlin Music Commission werden unterstützt. Räume und Treffpunkte für Musik werden geschaffen, obwohl es hier auch schon gegenteilige Entwicklungen gibt. Im Großen und Ganzen erzeugen solche Entwicklungen Strahlkraft, die Musikakteure von außerhalb wahrnehmen. Durch die neuen technischen Möglichkeiten können Städte und Regionen mit einfachen Mitteln Musikszenen unterstützen und so Potenziale auch finanzieller Art schaffen. Das war früher viel schwerer. Jedoch benötigt man Leute, die mit den vorhandenen technischen Möglichkeiten umgehen können.
Kompositionen Neuer Musik Zur ästhetischen Ordnung urbaner Räume Christoph Michels Even though the word „composition“ is a bit too long and windy, what is nice is that it underlines that things have to be put together (Latin componere) while retaining their heterogeneity. Also, it is connected with composure; it has clear roots in art, painting, music, theater, dance, and thus is associated with choreography and scenography; it is not too far from „compromise“ and „compromising,“ retaining a certain diplomatic and prudential flavor. Bruno Latour / An Attempt at a „Compositionist Manifesto“
E INLEITUNG Mit der wachsenden Bedeutung der Kulturindustrie ist verbunden, dass Städte und ihr kulturelles Leben zunehmend Gegenstand unternehmerischer Logiken sind. So werden Kulturproduktionen immer häufiger als Bestandteil des Wertschöpfungsapparats der Kreativindustrie angerufen und einer entsprechenden ökonomischen Rationalität unterstellt (Degen/García 2012; Evans 2003). Diese Entwicklung erkennt nicht nur die Kulturproduktion als wirtschaftlichen Prozess an, der Arbeitsplätze und Einkommen generiert, sondern sieht sie darüber hinaus auch im Kontext einer Standortförderung, die darauf abzielt, Städte als Erfahrungsräume atmosphärisch zu inszenieren. Ash Amin und Nigel Thrift (2002) haben diese Transformation beschrieben als
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„a concerted attempt to re-engineer the experience of cities, one which is on a par with the construction of Haussmann’s boulevards – but happening in many cities around the world – and one which is just as ambitious, but perhaps less known because it is the result of many different plans rather than one single masterplan“ (Amin/Thrift 2002, S. 124; Hervorhebung im Original).
Und Andreas Reckwitz (2012) stellt fest, dass von Städten „eine permanente ästhetische Selbsterneuerung erwartet [wird], die immer wieder die Aufmerksamkeit der Bewohner und Besucher fesselt“ (Reckwitz 2012, S. 13; Hervorhebung im Original). Betrachten wir diese Neuordnung von Stadträumen als Kompositionsprozess im Sinne Latours, dann lässt sich die Organisation von Städten als inhärent ästhetischer Prozess beschreiben, an dem eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Ordnungslogiken mitwirken. Anhand einer ethnographischen Fallstudie über die Planung und Durchführung eines Projekts des Berliner Solistenensemble Kaleidoskop gehe ich im Folgenden der Frage nach, wie die ästhetische Ordnung einer Kreativmetropole komponiert wird, wie verschiedene Akteure daran partizipieren und welche Logiken dabei zusammenspielen. Ontologisch knüpft der Text an eine prozessorientierte Musiksoziologie (Cohen 1991; Hennion 2003; Lashua 2011) an und beschreibt Musikproduktion als ein Zusammenspiel von sozio-materiellen Kompositionsprozessen. In Anlehnung an dieses Musikverständnis und Latours Compositionist Manifesto (Latour 2010) schlage ich vor, den Kompositionsbegriff als Möglichkeit zu nutzen, die räumliche und materielle Verfasstheit des Musik-Machens als untrennbar mit der ästhetischen Erfahrung verwoben zu verstehen. Musikalische Kompositionen sind dann immer auch materielle Ordnungen, die politischen und ökonomischen Logiken Folge leisten müssen und sich nicht auf autonome musikalische Sphären reduzieren lassen (Leppert/McClary 1989). In Kompositionen versammeln sich diverse menschliche und nicht-menschliche Akteure (Latour 2005), die kollektiv an der Performance einer Komposition partizipieren und ihre Zusammensetzung unter sich verhandeln. Den Begriff der Komposition ins Zentrum einer Untersuchung zur Musikproduktion zu stellen, mag wenig einfallsreich anmuten, ist er doch seit Jahrhunderten fester Bestandteil des musiktheoretischen Vokabulars. So definiert Wohlfarth (1998) Komposition als „das vom Komponisten geschaffene, mittels einer Notation fixierte und somit auch unabhängig von seinem
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Schöpfer klanglich realisierbare musikalische Werk“ (S. 523) und verortet ihren Ursprung im 9. Jahrhundert. Im Folgenden werde ich zwar an dem Begriff der Komposition festhalten, ihn aber über den von Wohlfarth definierten Gebrauch hinaus für ein Verständnis erweitern, das Musik-Machen als sozio-materiellen Ordnungsprozess begreift. Kompositionen sind dann nicht einfach als Arrangements von Noten auf einem Blatt Papier zu verstehen (und auch nicht als von ihrem Kontext losgelöste Klanggebilde), sondern gemäß Bruno Latour (2010, 2011) als Versammlungen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure zu begreifen. Die Relationalität des klassischen Kompositionsverständnisses bleibt darin erhalten, wird aber auf all jene Entitäten ausgeweitet, die bis dahin systematisch aus dem Kompositionsverständnis ausgeschlossen blieben. Damit öffnet sich der Kompositionsbegriff für ein Verständnis des MusikMachens, das die ästhetische Ordnung einer Komposition mit der Einberufung einer wesentlich größeren Zahl an Akteuren verbindet und somit ihre Verwobenheit mit der Produktion sozio-politischer und ökonomischer Anordnungen greifbar werden lässt. Ich möchte diesen erweiterten Kompositionsbegriff auch dazu verwenden, anders über den Prozess der Einberufung der an einer Komposition beteiligten Akteure nachzudenken. Im Gegensatz zum klassischen Kompositionsverständnis wird nicht mehr der Komponist allein als schöpferische Instanz einer Komposition begriffen, sondern Kompositionen als Effekt eines Zusammenspiels vielfältiger Akteure und der sozio-ästhetischen Ordnungslogiken verstanden, an denen sie partizipieren. Indem die beteiligten Akteure in Spannungsverhältnisse zueinander gesetzt und destabilisiert werden, können neue Kompositionen – und mit ihnen auch neue soziale Ordnungen – entstehen. Unter diesen ontologischen Vorzeichen werde ich im Folgenden empirisch darstellen, wie neue musikalische Kompositionen aus dem Kontext einer Kreativmetropole wie Berlin entstehen können, wie über ihre soziomaterielle Zusammensetzung verhandelt wird und wie etablierte Kompositionsweisen am Leben der Stadt partizipieren und durch dieses verändert werden.
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M USIK
ALS SOZIO - MATERIELLE
K OMPOSITION
Das oben skizzierte Musikverständnis zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es eine Reihe menschlicher und nicht-menschlicher Akteure in den Blick nimmt, die bisher weitgehend aus dem Musikverständnis ausgeschlossen blieben (Saxer 2011). Die an einer Komposition beteiligten Akteure umfassen dann Komponisten, Musiker und Publikum ebenso wie Instrumente, Gebäude, Orte, Geschichten, Plakate, Gelder, Musikschulen und vieles mehr. Obschon keinem der Teilnehmenden an und für sich ein gegebenes Programm innewohnt, ist jeder von ihnen Bestandteil diverser Ordnungsweisen (Law 1994) und somit alles andere als frei, um in beliebige andere Zusammensetzungen einzutreten. Es stellt sich daher die Frage, in welche Kompositionen sich Akteure übersetzen lassen und welche Widerstände sie neuen Kompositionsformen entgegensetzen. Um die (Un-)Möglichkeit neuer Kompositionen im Kontext einer Stadt wie Berlin zu beschreiben, möchte ich zunächst verschiedene Arten von Relationen unterscheiden, die für das Zustandekommen von Musik ausschlaggebend sein können. Ich unterscheide zwischen mechanischen, semiotischen und affektiven Relationen. Jede dieser Relationsformen setzt die an ihr partizipierenden Akteure zueinander in Beziehung und produziert auf diese Weise soziale Effekte. Dass unser Zusammenleben auch durch die Herstellung mechanischer Verbindungen organisiert wird, ist dann besonders offensichtlich, wenn wir die räumlichen und materiellen Elemente in den Blick nehmen, die fester Bestandteil unseres alltäglichen Lebens sind: Mauern, Tische, Türen, Schlösser etc.. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass schwere Schlüsselanhänger genauso zu sozialen Akteuren werden (Latour 1991) wie tiefe Brückendurchfahrten (Joerges 1999). Aber auch Musik entsteht unter anderen durch die mechanische Komposition der teilnehmenden Akteure. Konzerthäuser, Verstärkeranlagen und Internet-Server verteilen Musik auf spezifische Art und Weise im Raum, reglementieren die Teilnahme und den Ausschluss von Akteuren durch ihre mechanischen (bzw. physikalischen) Eigenschaften. Ein Konzertsaal z. B. erlaubt es dem Besucher, nur zu exakt festgelegten Zeiten und nach Vorweisen eines Tickets Teil einer musikalischen Inszenierung zu werden, wohingegen ein mp3-Song im InternetStore zwar jederzeit, aber nur durch Eingabe einer gültigen Kreditkartennummer für die Teilnehmenden zugänglich ist.
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Die zweite Art der Relationen, die bei der Zusammensetzung musikalischer Kompositionen eine Rolle spielt, kann als sprachliche oder semiotische bezeichnet werden. Diese Relationen entstehen, indem Narrationen die von ihnen adressierten Akteure in bestimmte Verhältnisse zueinander setzen. Bezogen auf musikalische Kompositionen spielen einerseits die Liedtexte, andererseits aber auch die kulturellen Konnotationen bestimmter Musikstile sowie Narrationen über oder im Kontext von Musik eine Rolle. Beispielsweise kann die Besprechung eines Konzerts im Feuilleton einer bekannten Tageszeitung ebenso Teil einer sozio-musikalischen Komposition werden wie der Text eines Wiegenlieds. So maßgeblich die mechanischen und sprachlichen Relationen für die Performanz einer musikalischen Komposition auch sein mögen, so sehr verlangt sie nach einer Erweiterung, die andere Formen des In-BeziehungTretens in den Blick zu nehmen vermag. So lassen sich Versammlungen, die durch ein sinnliches Erfahren der Lebenswelt einberufen werden, weder durch rein mechanische noch allein sprachliche Relationen beschreiben. Daher möchte ich das leibliche In-Beziehung-Treten als dritte Art der Relationen einer musikalischen Komposition beschreiben. Demgemäß werde ich soziale Ordnungen als geprägt von bestimmten Lebensstilen, von Arten und Weisen des In-der-Welt-Seins beschreiben. Musik machen besteht somit auch in der Konstitution lebensweltlicher Ordnungen. Dabei rückt die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten, die Welt auf die eine oder andere Weise sinnlich zu erfahren, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Begreift man sinnliche Wahrnehmung als relationalen Prozess, so lässt sich diese nicht einfach als ein Aufnehmen von Eindrücken durch die menschlichen Sinnesorgane verstehen. Stattdessen muss der Wahrnehmungsprozess als ein Kompositionsprozess gedacht werden, durch den die Rollen der beteiligten Akteure erst konstituiert werden. Sinnliche Wahrnehmung als wechselseitigen, relationalen Prozess zu verstehen, bedeutet, dass die Lebenswelt eines Menschen nicht einfach sinnlich aufgenommen und interpretiert wird. Wahrnehmung lässt sich stattdessen als ein Eintreten in sinnliche Relationen beschreiben, das sowohl das Wahrgenommene als auch den Wahrnehmenden in bestimmte Welten versetzt. Dies ist uns aus ganz alltäglichen Lebenslagen bekannt. Wenn wir beispielsweise eine Kirche oder das Haus betreten, in dem wir groß geworden sind, wenn wir einen Song aus unserer Jugend hören oder das Parfum einer geliebten Person riechen, dann werden wir von diesen Objekten sinnlich ergriffen. Durch
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unsere Berührung mit ihnen treten wir in eine Komposition ein, die eine Reihe von Effekten produziert. So können im Zusammenkommen von Orten, Dingen und Menschen Erinnerungen geweckt (Anderson 2004a), körperliche Befindlichkeiten ins Leben gerufen (Bissell 2010) und bestimmte körperliche Erfahrungsprozesse ausgelöst werden (Sobchack 2000). Anderson führt in diesem Zusammenhang den Begriff des affektiven Materialismus ein und betont, dass diese Dimension des Affekts integraler Bestandteil von Materialität sei, und nicht etwa als eine zusätzliche oder dem Material entgegengesetzte Qualität verstanden werden sollte (Anderson 2004b, S. 741). Verstehen wir Musik in diesem Sinne als relationale Komposition, so ist sie leiblich gelebt, technologisch inszeniert und mit spezifischen Orten verbunden (Wood/Duffy/ Smith 2007, S. 869).
N EUE M USIK
IN DER
K ULTURHAUPTSTADT
Der Komposition dieser Relationen werde ich im Folgenden anhand einer empirischen Studie über das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop und dessen Vorbereitung und Durchführung des Projekts XI: Ein Polytop für Iannis Xenakis nachgehen. Das von mir und meinen beiden Kollegen Laurent Marti und Manuela Ruggeri forscherisch begleitete Projekt wurde im Sommer 2011 als die bisher aufwändigste Inszenierung des Ensembles realisiert und war als eine Hommage an den Komponisten und Architekten anlässlich seines zehnjährigen Todestages konzipiert. Die beim Hauptstadtkulturfonds beantragten Mittel für dieses Projekt waren im Dezember 2010 bewilligt worden und das Team begann unmittelbar nach der Zusage mit der Projektplanung. Das Projekt wurde im Juli des folgenden Jahres durchgeführt. In den ersten fünf Monaten der Projektentwicklung kamen wir für die größeren Projekttreffen nach Berlin und begleiteten diese ethnographisch. Die letzten sechs Wochen der Vorbereitung, in denen die Proben stattfanden und noch wichtige organisatorische Fragen geklärt werden mussten, verbrachten wir vollständig in Berlin. Wir führten insgesamt 20 narrative Interviews sowie weitere 12 Kurzinterviews und sammelten im Rahmen unserer teilnehmenden Beobachtung ca. 150 Stunden audio-visuelles Material.
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Das Ensemble beschreibt sich auf seiner Homepage als Kammerorchester, „das sich zur Aufgabe gestellt hat, traditionelle Konzertzustände zu durchbrechen“. Diese kritische Abgrenzung von traditionellen Konzertformen wird als erstes Charakteristikum des Ensembles auf der Homepage angeführt und kann als eine der zentralen Relationen beschrieben werden, durch die sich das Ensemble sowie das von ihnen inszenierte Projekt XI beschreiben lässt. Damit knüpft das Ensemble nicht zuletzt an die Kompositions- und Aufführungspraxis der sogenannten Neuen Musik an, die auch einen wesentlichen Bestandteil des Repertoires des Ensembles ausmacht. Die Bezeichnung Neue Musik verweist allerdings nicht auf eine bestimmte Epoche, die beispielsweise auf die Alte Musik folgt, sondern auf einen Prozess des experimentellen Musik-Machens, der den Anspruch erhebt neue musikalische Situationen zu inszenieren. „Äußerliches Zeichen dieses Prozesses ist die Negation konzertanter Aufführungspraxis (die parallel dazu weiter bestehen bleibt) inklusive ihres angestammten Ortes, des Konzertsaals – dem Prototyp musikalischer Aufklärung. An dessen Stelle können urbane oder landschaftliche Orte treten, Umgebungen also, zu denen Musik sowohl inhaltlich als auch aufführungspraktisch in ein korrespondierendes Verhältnis tritt: Fabrikhallen, Theatertoiletten und Straßenkreuzungen, Burgen, Häfen, Flussauen, Bergtäler und Bergkuppen, Verlagshäuser, Sporthallen oder mittelalterliche Innenstädte“ (Nauck 2012, S. 28).
Entsprechend wird die klassische Orchestermusik von den EnsembleMusikern meist als elitär, langweilig und bürokratisch beschrieben, wohingegen die experimentellen Projekte des Ensembles als Möglichkeit der kreativen Teilnahme sowohl für die Musiker als auch für die Zuhörerschaft dargestellt werden. So erklärt uns der künstlerische Leiter des Ensembles, dass „wenn man sonst irgendwo in einem Ensemble oder Orchester spielt, man immer reproduzierend [ist]“. Für die Musiker des Solistenensembles hingegen „ist ganz wichtig in eigenen Produktionen, dass [sie] selber Dinge kreieren können, in welcher Form auch immer“. Dieser Anspruch an eine kreative und experimentelle Arbeitsweise spiegelt sich sowohl in der musikalischen Programmierung der Projekte des Ensembles als auch in ihrer räumlichen und dramaturgischen Umsetzung. Die seit der Gründung des Ensembles aufgeführten Inszenierungen zeichneten sich einerseits durch unkonventionelle Programmierungen aus, in denen
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alte und neue Stücke nach einer jeweils eigenwilligen Logik zu einem Programm komponiert wurden. Andererseits ließ sich das Ensemble immer wieder auf ungewöhnliche räumliche Musikprojekte ein, die meist in enger Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern anderer Sparten realisiert wurden. So inszenierte beispielsweise die Regisseurin und Bühnenbildnerin Aliénor Dauchez zusammen mit dem Ensemble Aufführungen, die unter anderem das Verhältnis zwischen Musikern und Publikum radikal umkehrten: Das Publikum wurde im Zentrum des Raums situiert, wohingegen sich die Musiker während des Spiels um dieses herum gruppierten (Hardcore und Hardcore II). Oder die Regisseurin Sabrina Hölzer konzipierte Inszenierungen, in denen das Ensemble in vollständiger Dunkelheit und mit auf Pritschen liegenden Zuhörern spielte (Into the Dark und Dark was the Night). So deutlich der Diskurs über das klassische Orchester und seine Inszenierungsformen als anachronistische Form des Musik-Machens auch vernehmbar ist, so präsent ist das Orchester, wenn es um die Ausgestaltung der professionellen Laufbahnen der einzelnen Musiker des Ensembles geht. Zum Zeitpunkt des XI-Projekts spielten 15 Musiker regelmäßig im Ensemble mit, doch verfügte keiner der ausnahmslos sehr jungen und am Anfang ihres professionellen Werdegangs stehenden Musiker über einen festen Arbeitsvertrag. Auch wenn die Ensembleleitung sich um die bestmöglichen Arbeitsbedingungen für seine Mitglieder bemühte, müssen die projektbasierten Anstellungsverhältnisse der Musiker als unsicher, wenn nicht prekär bezeichnet werden. Die Sicherheiten, die eine Festanstellung als Orchestermusiker mit sich bringt, können vor diesem Hintergrund als ein starker Anziehungspunkt verstanden werden, der den Verbleib der einzelnen Musiker im Ensemble grundsätzlich infrage stellte. So entschied sich eines der beiden Gründungsmitglieder bereits kurz nach der Gründung des Ensembles, dieses zugunsten einer Dirigentenstelle in einem anerkannten amerikanischen Orchester zu verlassen. Ähnlich verhielt es sich mit einem der Bassisten, der sich für einzelne Konzertproben entschuldigen ließ, um an einem Vorspiel im Rahmen seiner Bewerbung auf eine Orchesterstelle teilzunehmen. Später verließ dieser das Ensemble und trat eine Festanstellung bei einem dänischen Orchester an. Die Zusammensetzung des Ensembles (und mit ihr auch die Möglichkeit der Komposition ihrer Projekte) steht also in einem deutlichen ökonomischen Spannungsverhältnis, das auch mit der Angst vor dem persönlichen Scheitern
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und dem Abstieg in das Prekariat verbunden ist. Dieses Spannungsverhältnis wird auf der anderen Seite sowohl durch einen unternehmerischen als auch einen hedonistischen Diskurs stabilisiert. Das Ensemble wird hier als eine Unternehmung dargestellt, die zwar einerseits mit hohen Risiken verbunden ist, in der aber „die meisten Musiker mit ihrer Arbeit ziemlich glücklich“ sind und die es erlaubt, „Konzerte [zu] machen, in die wir selbst gerne gehen würden“. Das Projekt XI: Ein Polytop für Iannis Xenakis war in drei Teilen angelegt. Der erste Teil bestand aus einem klassischen Konzert am Freitagabend im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Am Ende des Konzerts löste sich dieses auf ungewöhnliche Weise auf, indem einige der Musiker – inszeniert als Guerilla-Kämpfer – über die Bühne den Saal verließen und auf der Straße vor dem Gebäude der Philharmonie ihr Spiel fortsetzten. Dies stellte bereits den Übergang zum zweiten Projektteil dar, der am Mittag des folgenden Tages fortgesetzt wurde. Der zweite Teil des Projekts war – wie bereits frühere Projekte – in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Aliénor Dauchez entwickelt worden und bestand aus einer Abfolge von fünf Guerilla-Konzerten an markanten öffentlichen Orten der Stadt. Gekleidet in Overalls, die mit Ausnahme der Augen auch die Gesichter der Musiker vollständig verdeckten, und mit tragbaren Verstärkern ausgerüstet ‚eroberte‘ das Ensemble für je ca. 15 Minuten die jeweiligen Orte mit Musik von Iannis Xenakis. Diese Besetzung der Räume wurde zudem durch den Aufbau einer temporären Architektur begleitet, welche die musikalischen Notationen von Xenakis dreidimensional sichtbar machte. Nach diesem Parcours begann der dritte Teil des Projekts, der unter der Leitung des österreichischen Komponisten Georg Nussbaumer entwickelt wurde. In diesem letzten Konzertteil löste sich die Formation des Ensembles auf und die einzelnen Musiker begaben sich an 15 verschiedene Orte in der Peripherie der Stadt. Von diesen Spielstätten wurden ihre Stimmen via Mobiltelefon zum Gleisdreieck – einer Brachfläche im Zentrum der Stadt – übertragen. Dort wurden sie von 15 PKWs empfangen und über deren Autoradios verstärkt. Die Autos wiederum fuhren im Schritttempo eine präzise Choreographie ab und erlaubten dem am Gleisdreieck versammelten Publikum, sich frei zwischen den über das Feld treibenden Stimmen zu bewegen. Dieser letzte Teil des Projekts endete um ca. 23 Uhr mit dem Verlassen des Gleisdreiecks.
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Das XI-Projekt reizte somit den für das Ensemble typischen Umgang mit der räumlichen Inszenierung ihrer Aufführungen aus. Xenakis ތKonzept des Polytops als musikalische Form wurde dabei auf den Raum der Stadt Berlin übersetzt und zum Programm des Projekts gemacht. Das klassische Konzert zu Beginn der Veranstaltung wurde schrittweise aufgelöst, zunächst in andere Orte der Stadt Berlin übersetzt, um anschließend vollständig über den weiteren Stadtraum verteilt zu werden. Im Kontext dieser ReKomposition der Konzertperformance wird in den nächsten Abschnitten dieses Textes die Frage adressiert, wie eine solche Neuordnung von Musik im Stadtraum möglich ist, welche Logiken und Akteure an ihrer Entstehung partizipieren und an welche Grenzen diese stoßen. Dazu werde ich einige der Prozesse, die bei der Entstehung des Projekts eine Rolle gespielt haben, beschreiben und anhand dieser aufzeigen, wie der Kompositionsprozess auf der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung einer Reihe mechanischer, semiotischer und ästhetischer Relationen basiert. Der Prozess des Re-Komponierens wird somit als ein Testen von möglichen Neuordnungen beschrieben, als ein Experimentieren mit den bestehenden Potenzialen des Affizierens und Affiziert-Werdens aller beteiligten Akteure. Diese Potenziale unterliegen jedoch nicht einem freien Spiel, sondern sind auf vielfältige Weise reglementiert bzw. werden durch andere Kompositionsprozesse begrenzt, konkurrenziert, aber gleichzeitig durch diese überhaupt erst ermöglicht.
K OMPOSITIONSPROZESSE Neben dem oben beschriebenen Spannungsverhältnis zum klassischen Orchester wird das XI-Projekt von der Herstellung einer Reihe weiterer Relationen geprägt, von denen ich im Folgenden einige exemplarisch beschreiben werde. Die am Projekt beteiligten Akteure, wie beispielsweise die Gelder des Hauptstadtkulturfonds, die diversen Spielorte, die in den GuerillaPerformances verwendeten Verstärker, die Kostüme der Musiker und nicht zuletzt die Zuhörer werden durch das Projekt neu geordnet und geraten dadurch potenziell in Spannungsverhältnisse mit anderen Ordnungslogiken. Jeder Kompositionsprozess besteht somit aus einer Vielzahl von Übersetzungen (Callon 2006) einzelner Akteure. In der folgenden Analyse werde
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ich drei Kompositionsweisen unterscheiden: Adaptieren, Zusammenfinden und Experimentieren. Der Kompositionsprozess des XI-Projekts soll in diesem Sinne nicht als einfaches Zusammenbringen der beteiligten Akteure verstanden werden, sondern als langwieriger Aushandlungsprozess, der mit einer Serie von gescheiterten Affizierungs- bzw. Kompositionsversuchen einherging. Einige von diesen werde ich im Folgenden nachzeichnen, dabei jedoch nicht den Anspruch erheben, den Entstehungsprozess des Projekts vollständig abzubilden. Ich möchte stattdessen exemplarisch aufzeigen, wie die Entstehung des Projekts als Kompositionsprozess verstanden werden kann. Das erste Beispiel beschreibt die Mobilisierung der staatlichen Fördergelder für das Projekt. Mit der Zusage der Gelder des Hauptstadtkulturfonds (HKF) im Dezember 2010 wurde einer der wesentlichen Akteure in die Komposition des Projekts eingebunden, der viele der weiteren Übersetzungen überhaupt erst ermöglichte. Auch wenn die Zusage der Gelder sich auf eine nüchterne Abfolge von Zahlen reduzieren ließe (70.000 Euro, verteilt über 7 Monate und auf ca. 25 Mitwirkende), war sie doch viel mehr als das. Zwar kann man nicht sagen, dass die Gelder grundsätzlich eine wichtigere Rolle bei der Entstehung des XI-Projekts spielten als z. B. die Kostüme, Musiker oder Noten, die ebenfalls unersetzlich für dessen Zustandekommen waren, doch setzte die Zusage der Gelder einen affektiven Schub frei, der mit der Einbindung anderer Akteure kaum vergleichbar ist. Die Bedeutung der Zusage wird erst vor dem Hintergrund der knappen Mittel zur Förderung der freien Kunstszene in Berlin deutlich. Zwar förderten Stadt, Land und Bund die freie Kunst- und Kulturszene Berlins zum Zeitpunkt des Projekts mit ca. 20 Millionen Euro, doch müssen diese Mittel im Vergleich zu der Größe der Kunstszene Berlins als knapp bezeichnet werden, wurde durchschnittlich doch nur etwa jeder zehnte Antrag auf Projektförderung von Förderinstitutionen befürwortet. Es verwundert daher nicht, dass sich auch der Antrag des Ensembles als ein langer und von Unsicherheiten geprägter Weg präsentiert. Dieser war nämlich in seiner ersten Fassung zunächst von der Jury abgelehnt und zur Überarbeitung an die Antragssteller zurückgegeben worden. Erst in der folgenden Vergaberunde wurde der Antrag von der Jury bewilligt. Vergleicht man die beiden eingereichten Anträge, so wird deutlich, dass einerseits das beantragte Budget massiv geschrumpft war und andererseits bei der überarbeiteten Version die Person des Komponisten Iannis Xenakis eine weni-
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ger zentralere Stellung einnahm. Während im ersten Antrag die drei Teile des Projekts noch als „Der Revolutionär: Guerilla-Konzerte“, „Der Visionär: Konzertutopie“ und „Der Komponist: Konzert im Radialsystem V“ betitelt waren, so wichen diese im zweiten Antrag den Bezeichnungen „Konzert“, „Guerilla-Konzert“ und „Auflösung“. Zudem hat sich im zweiten Antrag die Reihenfolge der Projektteile verändert. Fungierte im ersten Antrag der Konzertsaal als Endpunkt der Inszenierung, so war in der zweiten Version von einer Auflösung des Konzertsaals die Rede. Das Narrative schien nun weniger darauf abzuzielen, die Entwicklung Xenakis ތvom Revolutionär zum Komponisten nachzuzeichnen, sondern eine Auflösung des Konzertsaals zu inszenieren. Der erste Antrag passte offenbar nicht zur Vergabephilosophie des HKF. Erst durch das Umschreiben konnte das XI-Projekt Bestandteil der Kompositionsweise des HKF werden. Ob diese Umordnung der Projektteile einer HKF-spezifischen Logik entspricht oder eher an die Vorstellungen einzelner Jury-Mitglieder anknüpft, ist schwer zu sagen, aber im Zusammenhang meines Arguments auch nicht entscheidend. Denn es geht mir hierbei weniger darum zu zeigen, dass die Arbeit des Ensembles vom HKF beeinflusst wurde, sondern vielmehr darum, dass das Projekt als Komposition von verschiedenen Ordnungslogiken co-komponiert wird und aus ihrem Zusammenkommen hervorgeht. Die Bewilligung der Projektgelder war allerdings an eine weitere Bedingung geknüpft: Die bereits in der zweiten Antragsversion gestrafften finanziellen Mittel wurden nochmals um gut die Hälfte gekürzt. Dies geschah mit dem Hinweis darauf, dass zur Finanzierung eines Jubiläumskonzerts für einen prominenten Komponisten wie Xenakis durchaus noch private Sponsoren gewonnen werden könnten. Dieses Szenario stellte sich jedoch insbesondere wegen der knappen verbleibenden Zeit als nur in geringem Maße umsetzbar dar. Als Folge dessen mussten am Umfang des Projekts und nicht zuletzt an den Gagen der Musiker massive Einsparungen vorgenommen werden. So wurde das Projekt von ursprünglich drei Aufführungstagen auf zwei reduziert und es wurden Teile des Programms gestrichen. Nichtsdestotrotz passte das XI-Projekt grundsätzlich zum Programm des HKF und wurde maßgeblich von diesem gefördert. Die Logik, nach der der HKF Förderprojekte auswählt, wird in der Organisation der Jury und den Grundsätzen der HKF-Förderpolitik erkennbar. So setzt sich die HKF-
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Jury aus sechs Experten zusammen, die alle zwei oder drei Jahre vom Gemeinsamen Ausschuss des HKF bestimmt werden. Dieser Ausschuss besteht aus je zwei Vertretern der Landes- und Bundesregierung und hat ein Vetorecht gegenüber der Jury. Diese wählt zweimal im Jahr „Konzepte aller künstlerischen Sparten [aus], die für die Bundeshauptstadt Berlin bedeutsam sind, nationale und internationale Ausstrahlung haben bzw. besonders innovativ sind“ (von der HKF-Homepage, Sept. 2011).
Dieses Gefühl der Innovation und Strahlkraft, welche der HKF befördern möchte, ist eng mit der Strategie der unternehmerischen Stadt verbunden, in der Kulturförderung insbesondere als Standortförderung betrieben wird. So ist auf der Startseite des HKF zu lesen: „Die durch den HKF geförderten Projekte machen einen gewichtigen Teil dessen aus, wofür Berlin als internationale Kulturmetropole heute steht.“
Ähnlich erklärt die von der Bundesregierung getragene Initiative Kulturund Kreativwirtschaft auf ihrer Homepage, dass „Kultur- und Künstlerförderung zugleich auch Wirtschaftsförderung [ist]. Längst gilt das kulturelle Umfeld einer Region oder Kommune als entscheidender Standortfaktor bei der Ansiedlung von Unternehmen. Länder und Kommunen erkennen zunehmend die Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft und richten Anlaufstellen für die Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft ein.“
Diese Art und Weise, die Stadt Berlin ästhetisch zu ordnen, folgt einer ökonomischen Logik, welche die ästhetische Erfahrung der Stadt in ein direktes Verhältnis mit ihrem ökonomischen Erfolg stellt. Die finanziellen Mittel, welche im Kontext der Neuen Musik eine experimentelle Kompositionsweise ermöglichen, werden hier als Investition gesehen, die sich in Form von Strahlkraft für den Wirtschaftsstandort Berlin bezahlt machen muss. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Kompositionsweisen macht sich in der Differenz von 70.000 Euro bemerkbar, die zwischen der beantragten und der bewilligten Fördersumme liegt. Die Art und Weise, wie mit diesem Spannungsverhältnis umgegangen wird und wie die Übersetzung der entsprechenden Akteure dennoch möglich wird, lässt sich als
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Adaptieren bezeichnen. Eine Kompositionsweise (jene der Neuen Musik) passte sich hier teilweise (bzw. vorübergehend) einer anderen (jener des HKF / der unternehmerischen Stadt) an. Die zweite Kompositionsweise möchte ich als Zusammenfinden bezeichnen. So war beispielsweise die Ortssuche für den zweiten und dritten Projektteil geprägt vom (Nicht-)Zusammenkommen unterschiedlicher ästhetischer Ordnungsweisen. Beispielsweise schied der Gendarmenmarkt aus der engeren Auswahl der Spielorte aus, weil die Erteilung einer Konzertbewilligung aussichtslos erschien; heißt es doch im entsprechenden Reglement der Stadt Berlin: „Sondernutzungserlaubnisse werden ausschließlich für Veranstaltungen mit ausgeprägtem Kunst- und Kulturanspruch (z. B. klassische Konzerte) erteilt, die in Beziehungen zu den prägenden Gebäuden des Platzes stehen und städtebauliche sowie denkmalpflegerische Belange nicht beeinträchtigen.“
Die üblicherweise dort bewilligten Veranstaltungen wie das Classic Open Air Festival oder der Weihnachtsmarkt schienen so weit von der Ästhetik der als Guerilla-Aktion geplanten Musikperformance abzuweichen, dass die Ensemble-Leitung eine Bewilligung für unwahrscheinlich hielt und von der Antragstellung absah. So wenig wie dieser Ort und seine reglementierten Nutzungsvorschriften mit dem Vorhaben des Ensembles resonierten, so sehr vermochten andere Orte mit den geplanten Inszenierungen mitzuschwingen. Auf einer der ausschweifenden Ortsbegehungen im Berliner Außenbezirk Grünau machte die künstlerische Leitung des Ensembles beispielsweise die Bekanntschaft einer älteren Dame, die sich freute, zwei der Musiker für den dritten Projektteil bei sich zu Gast zu haben. Da sie für den Abend der Aufführung ohnehin eine Grillparty geplant hatte, versprach sie sich von den Musikern unterhaltsame Begleitung für ihre Gäste. Auf ähnliche Weise vermochten Restaurants, Galerien, private Wohnungen oder selbst Bushaltestellen mit dem Vorhaben des Ensembles in Einklang zu liegen oder aber als ungeeignet aus der Komposition des Projekts auszuscheiden. Im Gegensatz zu den Geldern des HKF zeichnen sich die an den Inszenierungen teilnehmenden Orte dadurch aus, dass eine teilweise Einbindung dieser weder sinnvoll noch möglich war. Entweder stimmte ein Ort mit der Projektlogik überein oder er wurde durch einen geeigneteren Spielort er-
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setzt. Diese zweite Kompositionsweise unterscheidet sich deutlich von dem zuvor als Adaptieren beschriebenen Prozess. Hier geht es weniger darum, dass sich eine Ordnungslogik einer anderen anpasste, sondern darum, mögliche Verbindungs- bzw. Anknüpfungspunkte zwischen den beteiligten Akteuren und Ordnungsweisen zu finden und diese in einer neuen Komposition zusammenzuführen. Im Rahmen der Vorbereitungen wurde zudem eine Kompositionsweise sichtbar, die ich als Experimentieren bezeichnen möchte. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Kompositionen vorübergehend und in verschiedenen Varianten ins Leben ruft, um sie testen und gegebenenfalls modifizieren zu können. Dabei werden Technologien, Orte und Menschen in verschiedenen Varianten zueinander in Beziehung gesetzt, erfahrbar gemacht und in ihrer Zusammensetzung ausgelotet. Diese Kompositionsweise wurde in verschiedenen Kontexten sichtbar: Mit einer möglichen Verbindung zwischen Verstärkern und Instrumenten wurde genauso experimentiert wie mit den Kostümen der Musiker, der räumlichen Aufstellung des Ensembles oder der Auswahl und Reihenfolge der zu spielenden Stücke. So dienten die Proben zwar einerseits im klassischen Sinn als Übungen für das gemeinsame Einstudieren der Stücke, andererseits wurden dort aber auch verschiedene Variationen der Inszenierungen getestet. Dieses Testen erlaubte es der künstlerischen Leitung und den Musikern, ihre Kompositionen sinnlich zu erleben und gegebenenfalls zu verändern. Beispielsweise wurden verschiedene Aufführungsvarianten eines Gesangsstücks ausprobiert, bevor das Stück ganz aus dem Programm gestrichen wurde. Es kristallisierte sich nämlich für die Regisseurin heraus, dass die als Streicher ausgebildeten Musiker das vokal anspruchsvolle Stück nur durch zeitintensives Üben meistern würden. Da die Zeit aber knapp war (und das Engagement von ausgebildeten Sängern aus verschiedenen Gründen nicht infrage kam), wurde das Stück schlussendlich aus dem Programm genommen. Auch hier lassen sich verschiedene Logiken ausmachen, die auf bestimmte Art und Weise aufeinandertreffen. So waren die als Orchestermusiker für ihr jeweiliges Instrument geschulten Musiker nicht ohne weiteres mit der Arbeitsweise des an den Guerilla-Konzerten beteiligten Choreographen kompatibel. Dieser hat einen professionellen Hintergrund im Bereich Theater sowie Oper und brachte eine Arbeitsweise in den Prozess ein, bei der die Stimmen der beteiligten Künstler eine wichtige Rolle spielen. Für die Streicher des Ensembles war die Gesangsübung jedoch weitgehend
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Neuland und mit relativ hohen Barrieren verbunden, sowohl in Bezug auf Stimmbildung als auch mit Blick auf die gesangliche Inszenierung der eigenen Person. Diese Spannung, die im Prozess des Experimentierens spürbar wurde, ist jedoch bewusst in der Arbeitsweise des Ensembles verankert. So zeichnet sich das Solistenensemble Kaleidoskop nicht zuletzt dadurch aus, dass es „[i]n Zusammenarbeit mit Künstlern aus anderen Bereichen (z. B. Architektur, Tanz, Literatur, Schauspiel oder Lichtdesign) [...] nach neuen Aufführungs- und Vermittlungsformen [sucht]“ (Zitat von der Homepage des Ensembles). Bezeichnend für die Kompositionsweise des Experimentierens ist zudem, dass sie einen Autor bzw. eine Autorin produziert. Während bei den zuvor beschriebenen Kompositionsweisen die Autorenschaft entweder ganz oder teilweise an die teilnehmenden Umstände delegiert wird, produziert das Experimentieren eine mehr oder weniger klar verortbare Autorin, die über die entstandenen Varianten ein ästhetisches Urteil fällt. Ähnlich wie beim Gesangsstück entstanden auch in anderen Kontexten unterschiedliche Varianten, auf deren Grundlage dann eine künstlerische Entscheidung getroffen wurde, so in Bezug auf die räumliche Aufstellung der Musiker während der Guerilla-Konzerte oder den Entwurf der Kostüme. In diesen Fällen wurde ebenfalls das Produkt in einem iterativen Verfahren erarbeitet, doch stand an seinem Ende nicht die Entscheidung gegen, sondern für eine bestimmte Inszenierungsvariante. Bei diesen Experimenten kamen häufig Hilfsmittel in Form von Abstraktionen zum Einsatz: Modelle, Skizzen, Collagen und Pläne wurden dazu verwendet, mit geringem Aufwand eine ästhetische Ahnung von verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten zu bekommen. Schließlich kann das XI-Projekt selbst als experimenteller Kompositionsprozess verstanden werden, der sich in eine Reihe von Übersetzungsvarianten Neuer Musik in den Kontext der Stadt Berlin einordnet. In den bisherigen Inszenierungen ging es dem Ensemble nicht zuletzt darum, „sich auf einen Ort einzulassen und zu schauen, wie kann man den Ort und die Musik zusammenbringen“. Dabei stellt sich immer auch die Frage: „Was kann Teil der Musik werden?“ (Interview mit dem Künstlerischen Leiter). In jedem seiner Projekte lotet das Ensemble diese Frage neu aus und muss sich trotz aufwändiger Vorbereitungen immer wieder auch selbst davon überraschen lassen, wie die Eigenlogiken der Stadt Berlin an seinen Aufführungen partizi-
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pieren. Denn in den öffentlichen Räumen einer Stadt zu spielen, heißt auch, sich ihrer Unberechenbarkeit auszusetzen. So spielte beispielsweise das Wetter eine nicht vorhersehbare Rolle, da es am zweiten Konzerttag entgegen der guten Prognosen in Strömen regnete und das Ensemble vielerorts in U-Bahn-Stationen ausweichen musste. Aber auch das Publikum einer Guerilla-Aktion ist weniger berechenbar als beispielsweise jenes, das sich ein Ticket für die Berliner Philharmonie kauft. Zwar vermochten die Guerilla-Aktionen vorwiegend Begeisterung auszulösen und zogen schnell eine Traube von interessierten Zuschauern an, aber die einzelnen Reaktionen reichten von aggressiven Zwischenrufen („Das ist keine Musik!“) bis hin zu Äußerungen begeisterter Überraschung („Mitreißend!“, „Super!“, „Überwältigend!“). Die Varianten und die mit ihnen einhergehenden Unsicherheiten, die im Rahmen der musikalischen Auseinandersetzung mit der Stadt entstehen, können aber nicht mehr durch ein autoritäres Urteil geschlossen werden. Vielmehr leben die Variationen im polyphonen Stimmengewirr der Stadt fort und werden von diesem auf unterschiedliche Weise aufgegriffen und bewertet. Dennoch lernt das Ensemble aus diesen Varianten, es greift – in den eigenen Augen – Bewährtes wieder auf und bemüht sich, Fehler nicht zu wiederholen. Indem das Ensemble sich immer wieder auf andere Weise mit der Stadt in Verbindung setzt, testet es, wie die Stadt mit ihren Bewohnern, Geschichten, Räumen und Technologien Bestandteil ihrer Arrangements werden kann. Und wie uns der künstlerische Leiter erklärt, erlaubt „das Verlassen des Konzertsaales, [...] einen engeren Bezug zu unserer Umwelt her[zu]stellen, [indem wir] rausgehen und uns damit konfrontieren und die Frage stellen: ‚Wer sind wir in Bezug zur realen Welt draußen, die nicht im Konzertsaal stattfindet? Gibt es Berührungspunkte oder gibt es keine, sind wir da verloren oder können wir da überleben?‘“
In dieser experimentellen Auseinandersetzung mit der Stadt sowie in den immer wieder von neuem gewagten Kooperationen mit Künstlerinnen und Künstlern anderer Sparten entsteht eine Vielfalt an möglichen und unmöglichen Kompositionsvarianten. Die künstlerische Leitung des Ensembles und die beteiligten Künstler fungieren dann weniger als Urheber, sondern vielmehr als Reflexionsinstanzen, die zwischen einer begrenzten Zahl möglicher Kompositionsweisen zu „wählen“ haben. Der Begriff der Wahl ist
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hier jedoch mit Vorsicht zu genießen, impliziert er doch eine Autonomie der Entscheidungsträger. Diese können jedoch nicht als außerhalb – oder gar über – einer Komposition stehende Instanzen verstanden werden, sondern sind immer fester Bestandteil dieser. Ästhetische Urteilskraft entspringt dann weniger dem Genius der Entscheidungsträger, sondern der experimentellen und reflexiven Auseinandersetzung mit den an einer Komposition beteiligten Akteuren und Logiken sowie den in ihrem Zusammenkommen entstehenden Spannungsverhältnissen.
D ISKUSSION /F AZIT Kompositionen versammeln vorübergehend eine Welt, bestehend aus heterogenen Entitäten, und reichen häufig weit über den eigentlichen Ort der musikalischen Inszenierung hinaus. Wie die empirischen Beispiele illustrieren, können Jury-Kommissionen genauso als Teil einer musikalischen Komposition begriffen werden wie städtische Reglements zur Nutzung öffentlicher Räume oder das Werturteil eines Passanten. Diese Akteure kommen jedoch selten ‚allein‘, d. h. ohne ein dichtes Geflecht an bestehenden Bindungen und ordnenden Logiken, da sie immer bereits Bestandteil anderer Ordnungsprämissen sind. Jede Komposition wird somit zu einem Prozess, in dem Ressourcen, Handlungsmacht und Gefühle neu verteilt sowie unterschiedliche Subjektbzw. Objektpositionen, Erinnerungen und Orte ins Leben gerufen werden. In dieser Hinsicht hat Brett Lashua festgestellt, dass „[l]ike many leisure practices, music-making is thus a terrain of struggle and tension that is deeply embedded in material urban environments and a wider political economy“ (Lashua 2011, S. 148).
Dieses Ringen um die Komposition der Stadt und ihrer Musik kann als ein Ringen zwischen verschiedenen Kompositionsweisen verstanden werden. So wurden in der präsentierten Studie beispielsweise neben der experimentellen Logik der Neuen Musik der ökonomische Imperativ der kreativen Stadt, aber auch kleinere Prozesse wie die Organisation einer Grillparty als an der Komposition Beteiligte dargestellt.
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Die empirische Analyse zeigt drei Möglichkeiten auf, wie diese Kompositionsweisen in der Planung und Durchführung einer Konzert-Performance am Werk sein können: Adaptieren, Zusammenfinden und Experimentieren. Diese Unterscheidung ist jedoch als eine rein heuristische zu begreifen. Sie beleuchtet einzelne Aspekte von Kompositionsprozessen, die meist vielschichtiger und komplexer sind, als durch die gewählten Begriffe darstellbar. So kann auch der Prozess des Zusammenfindens verschiedener Akteure zugleich als ein experimentelles Vorgehen gelesen werden. Auch lassen sich im Zusammenfinden und Experimentieren mit Kompositionsweisen immer auch Momente des gegenseitigen Adaptierens beschreiben. Dennoch können die in diesem Kapitel entwickelten Unterscheidungen den an einer Komposition beteiligten Akteuren, ob Musikschaffende, Zuhörer oder Finanziers, zu einer Reflexion darüber verhelfen, wie musikalische Kompositionen entstehen, aus welchen ökonomischen, politischen und künstlerischen Logiken sie hervorgehen und wie sie an ihrem Zustandekommen partizipieren. Die Unterscheidungen können dabei helfen, zu erkennen, wann, im Sinne von Latours einführendem Zitat, Kompromisse eingegangen werden müssen und wann es klüger ist, Kompositionen scheitern zu lassen. Doch sollte dies mit Vorsicht und Umsicht geschehen, sodass Kompositionen ein produktives Spiel mit der Vielfalt der Stadt bleiben und nicht auf einen beklemmenden Stellungskrieg der beteiligten Akteure reduziert werden. In diesem Sinne stimme ich mit Latours Feststellung überein: „It is time to compose — in all the meanings of the word, including to compose with, that is to compromise, to care, to move slowly, with caution and precaution“ (Latour 2010, S. 487).
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Interview Tim Renner, Musikmanager und Professor für Musikbusiness
Tim Renner stieg als Talentsucher 1986 ins Musikgeschäft ein. 1989 übernahm er die Leitung der Polydor-Abteilung Progressive Music. 1994 gründete er die Plattenfirma Motor. Hier baute er Acts wie Rammstein, Sportfreunde Stiller, Tocotronic und Muse auf. 1999 übertrug man ihm die Leitung der Musikaktivitäten des Marktführers Universal. 2003 ernannte ihn das World Economic Forum (Davos/Genf) zum Global Leader of Tomorrow. 2004 legte Renner sein Amt bei Universal nieder. Danach baute er seine eigene Firmengruppe auf, zu der Medienbeteiligungen (Radiosender Motor FM) sowie Internetplattformen, ein Musikverlag und ein Label (Motor Music) gehören. 2009 wurde Tim Renner zum Professor an der Pop Akademie BadenWürttemberg ernannt.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Die Art Musik zu hören hat sich spätestens seit 1998 geändert. Seit dem damaligen Start von Napster geht die Tendenz weg von einer Album-, hin zu einer Track(Song-)Kultur. Der Grund liegt darin, dass nicht das ganze Album (also das „bundle“) erworben werden muss, um einzelne Titel hören zu können.
Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Wertschöpfungsbildung kann durch den Zeitpunkt entstehen, zu dem Künstler im Studio die Konsumenten teilhaben lassen. Ist es möglich, verschiedener Werkstufen (Mixphasen) gewahr zu werden, ermöglicht dies eine Weitervergütung (ähnlich wie das die Einstürzenden Neubauten im Supporter Project bereits vorgemacht haben). Neue Wertschöpfung entsteht
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auch durch Direktnutzung der Kundendaten (und somit ein „cutting off of the middle man“) durch Künstler, ähnlich wie Rammstein das im Rahmen des Direktverkaufs ihrer Tourtickets gemacht haben. Auch der Direktverkauf von Konzertmitschnitten (vor Ort über Sticks oder zum Download/Stream im Netz) wird an Gewicht gewinnen.
Durch was werden diese ausgelöst? Ausgelöst werden diese durch die Möglichkeit des direkten Kunden-/Hörerkontakts.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Die Künstler müssen sich an mehr Transparenz (z. B. während der Studioproduktion) und Kontrollverlust (Konzertmitschnitte werden auch Fehler dokumentieren; Mixe, die man im Studio bereits vor der finalen Freigabe hört, können auch Schwächen offenbaren) gewöhnen, klassische „middle men“ wie Labels ihre Rolle gegenüber dem Künstler als Dienstleister neu definieren.
Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Soziale Netzwerke spielen eine unglaublich wichtige Rolle im Sinne der Kundenbindung. Dies geschieht durch eine ständige Simulation von Teilhabe. Clubs im Sinne von Live Clubs gewinnen an Relevanz, da man dort in Interaktion mit dem jetzt näher und vertrauter wirkenden Musiker und anderen Gleichgesinnten, die man aus den dazugehörigen Foren kennt, kommen kann. Clubs im Sinne von Tanzclubs gewinnen auch an Bedeutung, da das private Hörvergnügen zunehmend allein (Kopfhörer) geschieht und hier ein kollektives Erleben möglich bleibt. Die Regionen wiederum gewinnen an Relevanz, wenn sie zugleich als musikalische Marke funktionieren, so wie Williamsburg (New York) für Alternative Rock, Toronto für Low-Fi oder Berlin für Electronic. Sie bergen nicht nur ein Heilsversprechen, Menschen mit gleichen Neigungen zu treffen, sondern funktionieren in einem digital automatisch breiter werdenden Angebot auch als Sortierkriterium.
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Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Für die Städte und Regionen ist es wichtig, zu begreifen, dass sie Freiräume schaffen müssen. Diese Freiräume entstehen durch geringe Lebenshaltungskosten, noch nicht fest definierte Räume, Möglichkeiten zur akustischen Entfaltung. Zu Letzterem gehören sowohl Clubs oder Probenräume als auch elektronische Kommunikation (Radiolandschaft). Die Aufgabe von Städten und Gemeinden wird hierbei häufig die eines Mittlers (Interessen Immobilienwirtschaft, Lärmschutzverordnungen etc.) sein. Die Ergebnisse gehören aber unmittelbar zur Imagebildung einer Region/Stadt und sind für Ansiedlungsentscheidungen von jüngeren Talenten mindestens so ausschlaggebend wie eine klassische Kulturinfrastruktur (Theater, Oper, Museen und Konzerthäuser).
Klassisch digital Der Virtuelle Konzertsaal der Berliner Philharmoniker Birgit Stöber
K LASSISCH
DIGITAL
Blendendes Blitzlicht lässt eine kleine Gruppe von Menschen auf einer Open-Air-Bühne vor einer riesigen, jubelnden Menschenmenge erleuchten. Die Menschen auf der Bühne sind keine neue Boy Group, sondern Mitglieder eines der weltweit am meisten respektierten Orchester, nämlich der Berliner Philharmoniker mit ihrem Dirigenten, Sir Simon Rattle. Diese Szene stammt aus dem Dokumentarfilm „Trip to Asia“, der während der Asientournee des Orchesters im Jahr 2005 produziert wurde. Die beschriebene Sequenz entstand im taiwanesischen Taipeh, wo das Orchester in der National Concert Hall auftrat, während das Konzert zeitgleich auf Videoleinwänden für die Menschen vor dem Konzertsaal übertragen wurde. Das Erlebnis, wie Popstars gefeiert zu werden, war für die Orchestermusiker überwältigend und inspirierte einen der Musiker, den Cellisten Olaf Maninger, dazu, konkret über neue Wege der Konzertübertragung und damit neue Arten des Publikumskontakts nachzudenken. Maninger ist nicht nur einer der ersten Solocellisten, sondern seit vielen Jahren auch im Medienvorstand des Orchesters. Fünf Jahre später, im Januar 2009, „eröffnete“ die Digital Concert Hall, die weltweit erste digitale Konzerthalle. Seitdem können alle Konzerte der Berliner Philharmoniker, die das Orchester im großen Konzertsaal der Philharmonie spielt, als livestreams im Internet erlebt werden. Alle diese Kon-
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zerte werden in einem Videoarchiv gesammelt und sind über die Webplattform der DCH zugänglich (im Mai 2013 waren es insgesamt knapp 200 Konzertaufnahmen). Doch bevor es zu dieser „Eröffnung“ kam, mussten viele entscheidende Akteure überzeugt und vor allem die adäquate Technik mit dazugehöriger Finanzierung gefunden werden. Dieser Beitrag präsentiert das Projekt „Digital Concert Hall“ als bisher eher seltenes Beispiel für den Einzug der Digitalisierung im klassischen, traditionellen Musikbereich. Dabei wird verdeutlicht, dass mit diesem digitalen Projekt nicht nur neue Übertragungsmöglichkeiten von Ton und Bild geschaffen wurden, sondern auch ein Neudenken von Allianzen, Aufführungspraxen und Rezeption von klassischer Musik eingesetzt hat. Konkret wird in diesem Beitrag die Rolle der Berliner Philharmoniker erläutert, die mit ihrem digitalen Engagement unter traditionellen Kulturinstitutionen nicht zufällig eine Vorreiterrolle einnehmen. Vielmehr kann die Entwicklung der Digital Concert Hall vor dem Hintergrund eines zukunftsorientierten und innovationsstrategischen Handels gesehen werden, das für das Orchester seit langer Zeit charakteristisch ist. Dass in diesem Zusammenhang entscheidende Einzelinitiativen und visionäre, auch externe Akteure eine entscheidende Bedeutung haben, wird bei Betrachtung des konkreten Falles Digital Concert Hall deutlich. Empirisch basiert der Beitrag im Wesentlichen auf Interviews mit dem Solocellisten und Projektinitiator Olaf Maninger, dem Kreativdirektor Christophe Franke und dem Leiter für Marketing und Kommunikation Tobias Möller. Eine der wichtigsten Quellen waren jedoch mehrmalige Besuche der Konzerthalle der Berliner Philharmonie sowie der Digital Concert Hall.
D IE D IGITAL C ONCERT H ALL Wer tagsüber im leeren Konzertsaal der Berliner Philharmonie steht, entdeckt beim genauen Hinsehen sechs kleine Kameras, die rund um das Orchesterpodium installiert sind. Dass diese Kameras beweglich sind und von einem kleinen Videostudio unter dem Dach des Konzertsaals gesteuert werden können, ist nicht unmittelbar erkennbar. Nach Worten des Cellisten Maninger war es für das gesamte Projekt absolut entscheidend, eine technische Lösung zu finden, die weder die konzertierenden Musiker noch das
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Publikum in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Bisher dominierten bei Liveaufzeichnungen von Konzerten aufwändige Beleuchtungstechnik sowie große, massive Kameras, die vor Ort von Kameraleuten bedient werden mussten. Im Gegensatz dazu ist von der Technik der Digital Concert Hall im Konzertsaal sehr wenig zu sehen, während die eigentlichen technischen Installationen in einem entlegenen Dachstudio zu finden sind. Dort stehen Serverboxen und Mischpulte, an denen Bildregisseure, Tonmeister und deren Assistenten so gut wie jedes Konzert der Berliner Philharmoniker anhand der jeweiligen Partitur verfolgen, filmen, mixen und schneiden. Ein Besuch in der Digital Concert Hall Kurzbeschreibung Während die Besucher die Berliner Philharmonie betreten und im Konzertsaal ihre Sitzplätze suchen, beginnt der Konzertbesuch für das virtuelle Publikum mit dem Starten eines Computers und dem Einloggen auf die Homepage der Digital Concert Hall http://www.digitalconcerthall.com. Ebenso wie bei einem Besuch im Berliner Konzertsaal müssen Besucher der Digital Concert Hall Eintrittskarten kaufen, wobei die Wahl besteht zwischen einem 7-Tage-Ticket, einem 30-Tage-Ticket oder einem 12Monats-Ticket. Genau wie im Berliner Konzertsaal werden auch in der Digital Concert Hall Studentenrabatte gewährt. Nach der Registrierung mit Name und Adresse muss der Besucher/die Besucherin online bezahlen, wobei verschiedene elektronische Zahlungsmethoden akzeptiert sind. Falls bis zum Beginn des betreffenden Konzerts bzw. livestreams noch ein wenig Zeit ist, kann der Zuschauer/die Zuschauerin am Computer das auf der Homepage zugängliche Programm sowie Hintergrundinformationen zu den beteiligten Solisten lesen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, in einem kurzen, gut zweiminütigen Filmclip Ausschnitte von einer der vorausgegangenen Proben zu sehen, bei der die Musiker noch nicht einheitlich schwarzweiß gekleidet sind, sondern in ihrer Alltagskleidung zu sehen sind. Ein paar Minuten bevor der Dirigent in Berlin das Podium betritt, beginnt der livestream aus dem Konzertsaal. Von diesem Moment an kann das gesamte Konzert außerhalb des Saals in der Digital Concert Hall gehört und gesehen werden. Während die Musiker und Konzertbesucher im Berliner Konzertsaal in der Pause ihre Plätze verlassen, nutzt die Digital Concert Hall diese Zeit, um ein im Vorab produziertes Interview mit einem der Solisten, Dirigenten oder auch Komponisten abzuspielen. Auf diese Weise werden wei-
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tere Einblicke beziehungsweise Hintergründe zu dem jeweiligen Konzert vermittelt. Seit der Eröffnung im Jahr 2009 haben sich nach Worten von Tobias Möller, dem Leiter der Marketingabteilung, gut 240.000 Nutzer für die Digital Concert Hall registriert, und zwar mit Namen und Adresse. Daher ist der Herkunftsort der Besucher bekannt: So kamen Anfang des Jahres 2013 rund 24 Prozent des virtuellen Publikums aus Deutschland, 17 Prozent aus den USA, 15 Prozent aus Japan, gefolgt von Nutzern aus Großbritannien (5 Prozent), Brasilien (4 Prozent), Kanada, Spanien, der Schweiz, Italien und Australien (je 3 Prozent). Die Digitalisierung hat nach Worten von Hesmondhalgh (2009, S. 58) das traditionelle Denken und Agieren innerhalb der Musikindustrie stark verändert. Gleichzeitig sind neue Formen von Beziehungen zwischen Publikum und Produzenten entstanden. So hat der Besucher/die Besucherin der Digital Concert Hall im Vergleich zu den Berliner Konzertbesuchern den Vorteil, Einblicke hinter die Kulissen zu bekommen und in den Konzertpausen mehr über die jeweiligen Solisten zu erfahren. Da die Digital Concert Hall alle Konzerte in ihrem beständig wachsenden Archiv zugänglich aufbewahrt, kann das Publikum Konzerte auch erneut abrufen, jedoch nicht herunterladen und speichern. Das Geschäftsmodell „alles unter Kontrolle“ „Durch den digitalen Vertrieb sind wir in einer speziellen Situation. Digital Streaming von audiovisuellen Inhalten ist kein großer Markt das ist der Nachteil. Der Vorteil ist, dass wir aber tatsächlich den gesamten Vertriebsweg von der Produktion bis zu dem Punkt kontrollieren, wo es bei dem Nutzer ankommt. Das bedeutet, dass wir eine ganz andere Wertschöpfung haben, wir geben ja keine Vertriebsmarge ab. Da, wo es sonst im physischen Handel ein Label, eine Vertriebsgesellschaft und einen Händler gibt, da gibt es nur uns. Das hat nichts mit Allmachtsfantasien zu tun, sondern einfach damit, dass wir in diesem Segment, in dem wir uns bewegen und das noch sehr neu ist, gut sind“, erklärt Tobias Möller. Entscheidend für das Geschäftsmodell der Digital Concert Hall ist also der ausschließliche Direktvertrieb, der eine Sub-Lizenzierung der Konzerte ausschließt. Als Tochter-GmbH der Stiftung Berliner Philharmoniker erhält die Berlin Phil Media GmbH, die organisatorisch hinter der Digital Concert Hall steht und deren Mit-Geschäftsführer der Digital Concert Hall Projektinitia-
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tor und Cellist Olaf Maninger ist, keine öffentlichen Mittel, sondern wird in erster Linie von der Deutschen Bank unterstützt. So fördert der Hauptsponsor Deutsche Bank ganz konkret die Übertragung von Livekonzerten des Orchesters und deren Aufzeichnungen, während die Berlin Phil Media GmbH mit derzeit acht Mitarbeitern (Anfang 2013) die Einnahmen und Ausgaben bewirtschaftet, die sich aus dem Projekt Digital Concert Hall ergeben. Dabei sah im Herbst 2012 die Preisstruktur in Bezug auf die Einnahmen folgendermaßen aus: Ein zwölf Monatsticket kostete 149 € und machte circa 70 Prozent des Umsatzes aus, während das Monatsabonnement zum Preis von 14,90 € zu 20 Prozent des Umsatzes beitrug. Die weiteren Ticketformen machten 10 Prozent des Umsatzes aus. Die konkrete Preisgestaltung der verschiedenen Ticketformen kam Tobias Möller zufolge „aus dem Gefühl heraus. Es gab keine Referenz dafür. Es hat sich dann herausgestellt, dass wir mit der Preisgestaltung ganz gut liegen. (...) Denn wenn wir ein Konzert kostenlos ins Netz stellen, loggen sich ein paar mehr ein, aber nicht so viel mehr.“ Eine der wesentlichen Aufgaben der Berlin Phil Media GmbH besteht darin, für steigende Ticketverkäufe zu sorgen, da die „sehr, sehr großzügige(n) Anfangsinvestitionen“ der Deutschen Bank (Tobias Möller) mit der Zeit schrumpfen werden. Über genaue Zahlen informiert öffentlich niemand. Für viele potenzielle Sponsoren ist die lange Laufzeit, die ein Projekt wie die Digital Concert Hall hat, keine attraktive Perspektive. Aus Gesprächen mit Kollegen weiß Tobias Möller, dass es „auch in den USA, dem Mutterland des Sponsoring“ äußert schwer ist, Sponsoren über einen langen Zeitraum zu bekommen, ohne klare Aussagen zu Gewinnen oder Rendite machen zu können. Dass die Deutsche Bank als Hauptsponsor für die Digital Concert Hall gewonnen werden konnte, kann mit mittlerweile langjährigen Verbindungen erklärt werden. Bereits seit 1989 engagiert sich die Deutsche Bank als Sponsor bei den Berliner Philharmonikern. Dieses Engagement wurde im Rahmen des im Jahr 2002 ins Leben gerufene „Education-Programm“ sichtbar, das besonders durch das große Tanzprojekt und den Film „Rhythm Is It“ zu einem Markenzeichen der Philharmoniker geworden ist und seither viele Folgeprojekte erlebt hat. „Gesellschaftliche Verantwortung“ ist für die Deutsche Bank als transnationales Unternehmen offiziell die Erklärung für das Engagement bei dieser Art von Projekten und neuen Netzwerken. Dabei sind das „Education-Programm“ und die Digital Con-
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cert Hall nur zwei von vielen Projekten, die die Deutsche Bank im Bereich „Kunst und Musik“ unterstützt.
B ARRIEREN AUF DEM W EG ZUR D IGITALISIERUNG KLASSISCHER M USIK „T OD DES S CHEIBENGESCHÄFTES “ ODER Z UKUNFT DES M USIKVERTRIEBS ? Hesmondhalgh (2009, S. 57) verweist darauf, dass die Digitalisierung in den vergangenen Jahren die Musikunternehmen vor große Herausforderungen und Probleme gestellt hat, und zwar ganz besonders in Bezug auf rechtliche und finanzielle Fragen. Tobias Möller zufolge gab es in der Anfangsphase der Digital Concert Hall mit einigen Plattenfirmen intensive Diskussion über die neue Distributionsart, wobei auch der Vorwurf zu hören war, solch ein Projekt unterstütze den „Tod des Scheibengeschäftes“, den sie mit ihrer Einwilligung auch noch unterstützen sollten. Für die Berliner Philharmoniker hat es das traditionelle Business-Modell der Musikbranche, das ausschließlich auf dem Verkauf von Schallplatten oder CDs mit Plattenlabels als Rechteinhabern basiert, so nie gegeben. Dennoch waren Plattengesellschaften wie zum Beispiel die Deutsche Grammophon, Sony, Sony/BMG und EMI wichtige Partner und sind es auch nach wie vor. „Wir haben uns mittlerweile mit allen Plattenfirmen geeinigt. Einige haben sich am Anfang etwas schwer getan, aber dann haben wir sie gefragt: „Was wollt Ihr denn eigentlich? Ihr wollt doch immer, dass eure Musiker in der Philharmonie auftreten und das Repertoire spielen, das sie gerade aufgenommen haben. Da ist so ein Konzert, das in der Digital Concert Hall übertragen wird, reine Promotion. Und das ist ein streaming, man kann nichts downloaden“ (Tobias Möller). Dabei waren die Plattenfirmen bei Weitem nicht die einzigen wichtigen Akteure, die von dem neuen Projekt überzeugt werden mussten. Nach Worten von Tobias Möller war der erste Schritt, mit dem Orchester zu sprechen, der zweite Schritt mit Simon Rattle, der dritte Schritt mit EMI.
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Die Rolle der Musiker Orchesterdemokratie als Grundpfeiler Alles entscheidend für das gesamte Projekt war die Akzeptanz der Orchestermusiker. Sie sollten sich nicht bei ihrem Spiel gestört oder verunsichert fühlen, denn mit den geplanten Videoaufzeichnungen war ein weitaus stärkeres Exponieren einzelner Musiker unumgänglich beziehungsweise explizit erwünscht. Die notwendige Verankerung des Projekts innerhalb des Orchesters lässt sich auf die bereits seit Gründung des Orchesters im Jahr 1882 bestehenden Grundprinzipien einer umfassenden demokratischen, selbstbestimmten Organisationsform zurückführen. Nicht etwa durch eine Topdown-Entscheidung, sondern nur durch eine starke Unterstützung und Akzeptanz der einzelnen Orchestermusiker ließ sich dieses Projekt realisieren. Diese sogenannte „Orchesterdemokratie“ erstreckt sich nicht nur auf Projekte wie die Digital Concert Hall, sondern auch auf die Auswahl neuer Orchestermitglieder, die Wahl des Chefdirigenten sowie auf die Entscheidung über die eigene Organisationsstruktur, die zuletzt im Jahr 2002 geändert wurde. Bis dahin hatten die Berliner Philharmoniker (bereits seit 1951) den Status einer untergeordneten Behörde des Berliner Senats. Dies bedeutete für die Orchestermitglieder einen beamtenähnlichen Status sowohl im Hinblick auf die Gehaltsstruktur als auch auf die soziale Sicherung. Parallel dazu waren die Orchestermusiker in einer GbR organisiert, um Verwertungsrechte, zum Beispiel von Ton- und Filmaufnahmen, verhandeln zu können. Diese duale Organisationsstruktur war seit den 1990er Jahren stark unter Druck geraten, da der Berliner Senat nach dem Fall der Berliner Mauer nun für viele neue Kulturinstitutionen in der vereinigten Stadt zuständig und finanziell verantwortlich geworden war. Auf britischen Druck von Berliner Behörde zur Stiftung mit Eigenverantwortung Das Orchester hatte sich 1999 für Sir Simon Rattle als neuen Chefdirigenten ab dem Jahr 2002 entschieden, doch dieser forderte aufgrund seiner Erfahrungen aus dem englischen Kulturleben die Abschaffung der dualen Struktur und damit „zeitgemäße Rahmenbedingungen für neue Gestaltungsfreiräume und für die wirtschaftliche Kontinuität des Klangkörpers“ (s. http://www.berliner-philharmoniker.de/orchestergeschichte/sir-simon-rattle/).
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Für ihn war es als Kulturschaffender in Großbritannien in den vergangenen zwei Jahrzehnten nur allzu deutlich geworden, dass „the making of music is not only a cultural and sociological process but an economic one“ (Leyshon et al. 1995, S. 427). Und so führte Rattles Forderung, verknüpft mit der Notwendigkeit auf die schrumpfenden Gelder des Berliner Senats zu reagieren, konkret zu der Umwandlung des Orchesters in die öffentlich-rechtliche „Stiftung Berliner Philharmoniker“, die ohne eigenen Kapitalstock arbeitet und den Philharmonikern künstlerische und wirtschaftliche Eigenverantwortung einräumt. Laut Stiftungsgesetz erhält die Stiftung jährlich einen Zuschuss aus dem Landeshaushalt Berlin. Dieser Zuschuss betrug in den vergangenen Jahren konstant 14,7 Millionen €. Zusätzlich konnte die „Stiftung Berliner Philharmoniker“ die Deutsche Bank Gruppe als größten Privatsponsor gewinnen (Dem Wirtschaftsmagazin Capital zufolge unterstützt die Deutsche Bank das Orchester mit insgesamt rund vier Millionen Euro pro Jahr). Und so erklärt sich auch die personelle Zusammensetzung der Stiftung. Mitglieder des Stiftungsvorstandes sind der Chefdirigent, der Intendant sowie zwei Orchestermusiker, während der Stiftungsrat gegenwärtig neun Mitglieder hat, unter ihnen der Regierende Bürgermeister Berlins Klaus Wowereit und das Mitglied des Vorstands der Deutsche Bank AG Jürgen Fitschen. Schlögls Einschätzung zufolge ist dies bisher „eines der wenigen finanziellen Alternativmodelle in der reformbedürftigen Berliner Kulturlandschaft, da sich die Suche nach Sponsoren und Mäzenen in den wenigsten Bereichen so erfolgreich wie beim prestigeträchtigen Philharmonieorchester gestaltet“ (Schlögl 2011, S. 56). Die Rolle der Solisten und des Chefdirigenten Doch zurück zur Überzeugungsarbeit im Vorfeld der Digital Concert Hall. Einige der Gastsolisten, die mit dem Orchester in Berlin auftraten, zögerten zu Beginn noch mit ihrem Einverständnis, wurden dann aber von Orchestermusikern von der Sinnhaftigkeit des Projektes überzeugt und akzeptierten, nicht nur im Berliner Konzertsaal mit seinen 2.400 Sitzplätzen aufzutreten, sondern gleichzeitig auch im livestream in der Digital Concert Hall vor einer theoretisch unbegrenzten Menge Publikum. Sich während des Spielens eines Konzertes bewusst zu machen, dass noch weitaus mehr Publikum als im Berliner Konzertsaal die Musik hört und die Musiker sieht,
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kann dem Cellisten Maninger zufolge „einen Extra-Kick“ geben und enorm motivieren. Die entgegengesetzte Reaktion ist allerdings auch denkbar. Ein weiterer entscheidender Akteur, der für das Projekt gewonnen werden musste, war der Chefdirigent Sir Simon Rattle, den zu überzeugen keine allzu großen Anstrengungen erforderte. Ihm erschien das Projekt von Beginn an „vollkommen naheliegend“ angesichts der stark veränderten Kulturkonsumgewohnheiten. Seiner Einschätzung nach wollen die meisten Leute Kunst und Kultur auch zu Hause verfügbar haben und zwar dann, wenn sie es wollen. Gleichzeitig gibt es ihm zufolge ein großes Bedürfnis danach, an Live-Events teilzuhaben, was die Digital Concert Hall ermöglicht. Da Sir Simon Rattle seit 1980 bei der Plattenfirma EMI exklusiv unter Vertrag steht, musste diese zusätzlich angefragt und von dem Projekt überzeugt werden, denn wer als Musiker einen Exklusivvertrag hat, braucht eine Freistellung des jeweiligen Plattenvertrags. Und so sind auf der Website der Digital Concert Hall folgende Sätze zu lesen: „Sir Simon Rattle tritt in der Digital Concert Hall mit freundlicher Genehmigung von EMI Classics auf“ oder auch „Magdalena Kožená tritt in der Digital Concert Hall mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Grammophon Gesellschaft auf“. Diese Hinweise, „das ist ein Preis, den zahlen wir sehr gerne“, sagt Tobias Möller. Dabei ist die Digital Concert Hall nicht das einzige digitale Projekt, das die Plattenfirmen vor neue Herausforderungen stellt, wie folgendes Zitat auf der EMI-Website zeigt: „Today EMI Music has agreements with hundreds of digital partners to distribute our music across the globe, covering a huge variety of digital music business models and ideas“ (http://www.emimusic.com/about/, 27. Februar 2013).
D IE B ERLINER P HILHARMONIKER
UND NEUE
M EDIEN
Im vorliegenden Beitrag bleibt der Fokus auf dem Projekt Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker, die sich allerdings auch in anderen digitalen Projekten im klassischen Musikbereich engagieren. So unterstützte das Orchester im Jahr 2011 zum Beispiel aktiv das globale YouTube-Sinfonieorchester, das Nachwuchsmusiker aus aller Welt in einem Online-Projekt zusammenbrachte. Mit ihrer Offenheit für neue technische Entwicklungen unterscheidet sich das Berliner Orchester bereits seit langer Zeit von vielen professionel-
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len Musikerkollegen, welche die Entwicklung von neuen Medientechnologien oft mit harscher Kritik oder zumindest mit Skepsis begleitet haben. Diese Offenheit geht auf die frühen Anfänge des Orchesters und der Plattenproduktion zurück. So erschien bei der 1889 gegründeten Plattengesellschaft Deutsche Grammophon bereits im Jahr 1913 die erste Aufnahme der Berliner Philharmoniker mit Beethovens Fünfter Symphonie. Auch in den folgenden Jahrzehnten bestand eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Orchester und der Deutschen Grammophon, die vor allem in der Zeit zwischen 1956 bis 1989 zu vielen wichtigen Veröffentlichungen führte, als der sehr technikinteressierte Herbert von Karajan dem Orchester als Chefdirigent vorstand. So erlebte das Orchester im Jahr 1961 eine der ersten StereoSchallplattenaufnahmen sowie ein Jahrzehnt später die Präsentation der neuen CD-Technologie in diesem Fall jedoch zusammen mit dem Unternehmen Sony. Für die britische Zeitung The Guardian ist die Digital Concert Hall insofern eine „natürliche Weiterführung der Arbeit“, die mit Herbert von Karajan begann. Die Digital Concert Hall als mediales Innovationsprodukt Bei aller Technikbegeisterung betonen die Macher der Digital Concert Hall, dass der eigentliche Inhalt, der digital übermittelt wird, nicht in den Hintergrund treten darf. „Auch wenn die Digital Concert Hall eine mediale Innovation ist, auf die wir sogar ein bisschen stolz sind, soll an ihr nicht so sehr das Erlebnis eines neuen Mediums, sondern das Erlebnis der Musik im Vordergrund stehen. Wir kommunizieren unsere Plattform daher auch als den ‚virtuellen Konzertsaal der Berliner Philharmoniker‘, der in seiner graphischen Präsentation Elemente der realen Philharmonie aufgreift und animiert. Unser Ziel ist es dabei, das Erlebnis der Digital Concert Hall möglichst stark an das Erlebnis eines wirklichen Konzerts hier in Berlin anzulehnen. Insofern ist die Digital Concert Hall wohl eher ein Musikprodukt als ein Medienprodukt“ (Mailkorrespondenz mit Tobias Möller, 8.4.2010). Das Musik-Medien-Produkt Um dieses Musikprodukt zu vermitteln bedarf es allerdings neuer Medienprodukte. Mit anderen Worten, der Medientechnologiebereich spielt eine sehr entscheidende Rolle. Kam die wesentliche Technik zu Beginn aus Japan von der Firma Panasonic, so ist die Firma Sony seit Herbst 2012 Spon-
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sor im Technologiebereich. Da Sony vor allem im Endbereich „Consumer Electronic“ und im Bereich „professionelle TV-Produktion“ eine starke Position einnimmt und zusätzlich weltweit über eine enorme Reichweite verfügt, zeigten sich die Initiatoren der Digital Concert Hall über dieses neue Engagement überaus erfreut. In einer Pressemitteilung von Sony Deutschland im August 2012 wird Olaf Maninger mit den Worten zitiert, dass sowohl Sony als auch die Berliner Philharmoniker bei der Interpretation Klassischer Musik höchste technologische Ansprüche stellen und aus diesem Grund Sony für das Orchester „ein idealer Partner“ ist. Und Sir Simon Rattle, der ebenfalls zitiert wird, zeigte sich begeistert darüber, „dass unsere Beziehung zu Sony voranschreitet, sich erneuert und Sony uns nicht nur mit neuester, bester Technologie ausstattet, sondern auch unsere Digital Concert Hall zu einem integralen Bestandteil vieler seiner technischen Geräte macht. Dies ermöglicht uns, unsere Musik noch schneller und in noch besserer Qualität zu immer mehr Menschen zu bringen“ (siehe http:// presscentre.sony.eu/, Zugriff am 02.12.2012). Konkret wird die Firma Sony Anfang 2013 unter dem Dach der Berliner Philharmonie ein neues Studio einrichten und die bisher genutzten, vier Jahre alten Kameras der Firma Panasonic auswechseln. Darüber hinaus plant Sony für die Zukunft bei der Entwicklung neuer Technologien und Produkte eine engere Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern, deren Tonmeister und Berlin Phil Media. Ein intensiverer Austausch von Expertenwissen soll Sony zufolge „ebenfalls in die Entwicklung neuer Produkte einfließen“, denn geplant sind konkret „neue Technologien, die ein streaming mit höherer Bild- und Tonqualität ermöglichen“ (ebenda). Auf diese Weise fördert die technische Innovation Digital Concert Hall eigene Entwicklungsdynamiken innerhalb eines der größten Technologieunternehmen, das damit seine im Vorhinein prominente Marktposition auszubauen plant. Dabei ist Sony nicht die einzige Firma, die zur Digital Concert Hall passend neue Produkte entwickelt. Auch der Elektronikhersteller Samsung unterhält mit den Berliner Philharmonikern seit 2011 eine Partnerschaft, um die Musikübertragungen ebenso wie die Musikaufzeichnungen in bestmöglicher Qualität auf internetfähigen Fernsehern präsentieren zu können. Dass die Digital Concert Hall noch viel mehr als ein Musikprodukt ist oder auch mehr als eine Musikplattform, zeigt das aktive soziale Medien-
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und Kommunikationsengagement, das sich parallel entwickelt hat – und zwar eher zufällig und überraschend als von Beginn an strategisch geplant. Die Digital Concert Hall als Kommunikationsplattform und Zukunftsinvestition Das soziale Medien- und Kommunikationsengagement, das um die Digital Concert Hall herum entstanden ist, beschreibt Tobias Möller folgendermaßen: „Was wir aber gar nicht so abgesehen haben am Anfang, ist, dass wir durch die Digital Concert Hall einfach eine größere Präsenz der Berliner Philharmoniker im Internet insgesamt schaffen. Also dadurch, dass wir Videos haben, Clips haben, die wir auf YouTube einstellen, und die schon 15 Millionen Mal geguckt worden sind, dass wir diese Clips auf Facebook posten, wo wir schon über 300.000 Fans haben. Dadurch wird das Orchester im Internet einfach auffindbarer. (...) Das Interesse an den Berliner Philharmonikern bleibt nicht von alleine lebendig. Das meiste dafür tun die Musiker dafür natürlich selbst, aber wir in der Medienabteilung tun eben auch unseren Teil“ (Tobias Möller, 15.11.2012). Dass die Digital Concert Hall mit dazugehörigem Medienengagement im ganz Wesentlichen eine Zukunftsstrategie für die Berliner Philharmoniker ist, wird von allen beteiligten Initiatoren bestätigt. Denn zum einen erleben auch die Berliner Philharmoniker seit geraumer Zeit einen starken Rückgang des CD-Verkaufs und veröffentlichen mittlerweile nur noch fünf neue CDs pro Jahr, von denen insgesamt im besten Fall rund 250.000 Stück verkauft werden. Die Zeiten, zu denen die Philharmoniker weltweit Millionen von Schallplatten und CDs verkauften, sind vorbei. Zum anderen sei das Orchester nach Worten von Tobias Möller nach wie vor „in einer privilegierten Lage. Wo andere schon sehr kämpfen, um ihre Konzerte verkauft zu bekommen, sieht man bei uns selten leere Plätze. Aber die Tendenz, die es insgesamt gibt, müssen wir natürlich auch sehen und wir müssen auch etwas dafür tun, das Interesse an Klassischer Musik wach zu halten. Die Berliner Philharmoniker sind auch nicht vollkommen unangefochten“. Zwar zeigen Untersuchungen der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) für das Jahr 2011 vor allem bei Klassischen Konzerten Umsatzzuwächse um drei Prozent, einem so hohen Niveau wie nie zuvor, doch ist dies für Tobias Müller kein Grund sich zurückzulehnen und sich mit diesen Zahlen zufrieden zu geben. Entscheidend sei es, das Publikum von morgen schon heute anzusprechen, da es zum Beispiel einer Studie des Bonner Zen-
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trums für Kulturforschung zufolge ansonsten dazu kommen wird, „dass die Orchester in absehbarer Zeit nur noch vor Greisen spielen werden“ (Haffner 2007, S. 209). Gleichzeitig verweist die Studie darauf hin, dass „man umso leichter bei der Klassischen Musik bleibt, je früher das Einstiegsalter liegt“ (ebenda). Die Strategie, die ansonsten als hochkulturelles Gut umschriebene „Klassische Musik“ volksnäher zu vermitteln, verfolgt das Orchester ganz bewusst spätestens seit dem Beginn der engen Zusammenarbeit mit Sir Simon Rattle im Jahr 2002. Dazu gehören sowohl neue Vermittlungsmethoden, neue Inhalte sowie neue Infrastrukturen. Konkret gehören dazu das schon erwähnte, von der Deutschen Bank unterstützte Education Programm mit u. a. Familienkonzerten, Aktivitäten in Kindergärten, Lehrerfortbildungen und einem jährlichen Schulorchestertreffen sowie die Öffnung des Repertoires zu Musik, die nicht nur unter die Kategorie „Ernste Musik“ fällt, und natürlich das Projekt Digital Concert Hall, mit dem nach Worten von Tobias Möller für die vielen Fans weltweit, die nicht nach Berlin kommen können, „eine sehr gute zweite Lösung“ geschaffen wurde. Denn das Kernprodukt, die eigentliche Ware, ist immer noch die Musik, die im Berliner Konzertsaal gespielt wird. „Es gibt ein eigentliches Produkt und das geschieht hier im Saal und nur im Saal. Und wir sind hier natürlich alle in dem Medienbereich technikversessen, aber uns ist auch klar, keine Technik wird dieses Erlebnis wirklich eins zu eins ersetzen können. Aber es spricht ja auch sonst nichts dagegen sich eine CD, LP oder auch eine Schellackplatte zu kaufen von etwas, wo man als Nutzer weiß, wie es einzuordnen ist, wie weit es entfernt ist vom Eigentlichen. Natürlich geht es um die Ware Musik, ja in gewisser Weise schon, auch wenn das sehr kommerziell gedacht klingt, aber es geht bei diesen Ablegern, die wir hier produzieren natürlich auch immer um die Referenz auf das Eigentliche. Wir wollen natürlich auch dafür sorgen, dass die Leute das Interesse am eigentlichen Konzert nicht verlieren“ (Tobias Möller). Zweifellos ermöglicht die Digital Concert Hall mit den dazugehörigen Webplattformen eine Pluralisierung von Orten und Beziehungen, die dem Orchester helfen, einerseits einen vermeintlichen elitären Appeal abzuschütteln und andererseits sowohl ein zukünftiges Konzertpublikum an sich zu binden und in neuen medien- und musiktechnologischen Märkten präsent zu sein. Darüber hinaus nehmen die Berliner Philharmoniker mit ihrem digitalen Engagement unter traditionellen Kulturinstitutionen eine Vorrei-
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terrolle ein, was wiederum die Möglichkeiten des Orchestermarketings erneuert und erweitert. Zusätzlich eröffnen die verschiedenen Kanäle der sozialen Medien dem Orchester neue Plattformen, auf denen ein ganz neues Publikum anzutreffen und anzusprechen ist, vor allem in Bezug auf Alter und geographische Herkunft. YouTube, Facebook, Twitter Als wichtigen Bestandteil der neuen Medienstrategie begann die Berlin Phil Media, sich parallel zur Digital Concert Hall bei den Sozialen Medien zu engagieren: zunächst im April 2009 mit dem YouTube-Kanal der Berlin Phil, einen Monat später mit der Einrichtung einer Facebook-Seite, die Ende Mai 2013 gut 381.700 Fans aufweist und im Herbst 2009 zusätzlich mit einer Twitter-Seite, die von fast 48.000 Menschen (Mai 2013) verfolgt wird. Verglichen mit anderen namhaften Orchestern sind dies äußerst hohe Zahlen. Zum Vergleich: Im Mai 2013 hatten die Münchner Philharmoniker gut 5.700 Fans, die Wiener Philharmoniker 12.886 Fans, das London Symphony Orchestra 79.898 und das Chicago Symphony Orchestra 93.180. Doch diese hohen „Fan“-Zahlen zeigen allein das Interesse an dem Orchester von Menschen, die sich den jeweiligen sozialen Netzen angeschlossen haben, und sind nicht etwa Kundenzahlen der Digital Concert Hall. Jones (2000) weist darauf hin, dass „the practice of fandom is mediated by network technologies along with music, as is business practice“ (Jones 2000, S. 218). In diesem Fall ist es ihm zufolge notwendig, „to untangle fandom from marketing“ (Jones 2000, S. 229). Dennoch ermöglichen die neuen Webplattformen die Schaffung einer neuen Publikumsgemeinschaft, die für den kommerziellen Prozess der Musikindustrie, ganz konkret der Schaffung von Publikum und Märkten, entscheidend ist. Zusätzlich kann durch das stärkere Exponieren im Internet von einer noch stärkeren Markenbildung der ohnehin starken Marke „Berliner Philharmoniker“ ausgegangen werden. Die Hoffnung, dass diese Art von selbstverstärkendem Effekt auch auf die anderen sichtbaren Akteure abfärbt, ist bei den Sponsoren Deutsche Bank und Sony unübersehbar.
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Mittlerweile gibt es einige Orchester, die einzelne Konzerte direkt übertragen, doch bisher sind die Berliner Philharmoniker das einzige Orchester, das eine ganze Saison mit rund 30 Konzerten ins Netz stellt. Derzeit entwickelt nach Angaben von Tobias Möller allein das Detroit Symphony Orchestra ähnliche Aktivitäten. Bei der Beantwortung der Frage, warum es gerade den Berliner Philharmonikern gelungen ist, ein derartiges Musik-Medien-Produkt zu entwickeln, kann im Wesentlichen auf das komplexe Netzwerk von Akteuren verwiesen werden, das sich über Jahrzehnte entwickelt hat. Dabei stammen die beteiligten, entscheidenden Akteure bei weitem nicht nur aus dem Berliner Musikleben, sondern international aus den Bereichen Medien, Technologie, Management und Finanzwesen. Und während manche der Entwicklungen bewusst vorangetrieben wurden, ergaben sich andere eher ungeplant. Der jahrzehntelange Aufbau und die nachhaltige Pflege der Marke „Berliner Philharmoniker“, geknüpft an Namen bedeutender Chefdirigenten, hat zweifellos die Zusammenarbeit mit starken Partnern, Sponsoren und Investoren erleichtert. Entscheidend für die Realisierung der Ideen war in jedem Fall die veränderte Organisationsstruktur des Orchesters seit dem Jahr 2002 von einer der Stadt Berlin nachgeordneten Behörde zu einer Stiftung, die nach wie vor öffentliche finanzielle Unterstützung erhält, zusätzlich aber auch private Mittel von Sponsoren und Partnern wie Deutsche Bank, Sony und anderen einwerben und in Anspruch nehmen kann. Dieses Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Akteuren ermöglichte in diesem Fall neue Allianzen und die Entwicklung eines neuen Business-Modells, das nicht nur zu der Entwicklung eines innovativen Musik-Medien-Produkts führte, sondern auch zu neuen Aufführungspraxen und neuen Formaten wie zum Beispiel den Künstlerinterviews in den Pausen der Konzertübertragungen via Digital Concert Hall. Zudem ermöglicht das digitale Projekt neuartige Rezeptionen von klassischer Musik. Dazu können das wiederholte oder auch nur ausschnittweise Ansehen und Anhören der im Archiv hinterlegten Konzerte gehören oder auch der Austausch mit anderen digitalen Konzertgängern parallel auf sozialen Medienplattformen und aber auch das Erleben eines Konzertes in einem gänzlich anderen Kontext als dem des Konzertsaals. Letzteres kann (Revill 2000, S. 605) auch problematische Konse-
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quenzen haben, da „musical meanings and therefore musical immediacies are intimately and inextricably bound into the spatial formations, practices, and processes by which music is performed“.
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Die virtuelle Plattform festigt nicht nur die Marke „Berliner Philharmoniker“ und den Berliner Konzertsaal, sondern eröffnet zusätzlich neue Räume und Gemeinschaften nicht nur innerhalb der Gruppe des virtuellen Publikums, sondern auch unter den Musikern und dem Publikum in Berlin. Doch die Digital Concert Hall ist kein Ersatz für einen eigenen Besuch im Berliner Konzertsaal und ist auch nicht als solcher gedacht, sondern vielmehr als eine neue Art, Musik zu erleben und damit ein neues MusikMedien-Produkt. Genau dieser Punkt hat unter einigen Musikexperten Kritik hervorgerufen, die einen Trend zur Eventisierung konstatieren und gleichzeitig beklagen, dass der eigentliche Inhalt, die Musik und ihr LiveErlebnis weniger wichtig werden, sondern vielmehr der Fokus auf das Visuelle und die Vermittlung von ausgewählten Ausschnitten von individuellen Musikern beherrschend werden. In diesem Zusammenhang sei jedoch auf Unseld (2011) verwiesen, die für einen offenen und kreativen Umgang mit klassischen Konzertformen plädiert: „Alte und neue Konzertformen sollten in Symbiose miteinander treten, sich gegenseitig inspirieren und voneinander profitieren.“ Nach wie vor macht die Digitalisierung im Bereich der Klassischen Musik eher eine Nische aus und ist zuallererst als eine Erweiterung der bereits bestehenden Musikvermittlungs-Plattformen aufzufassen. Es bestehen weiterhin Verträge mit Plattenunternehmen wie zum Beispiel mit der Plattengesellschaft Deutsche Grammophon, deren Geschichte nach Worten Olaf Maningers seit einhundert Jahren eng mit der Geschichte der Berliner Philharmoniker verbunden ist. Und nach wie vor werden CDs eingespielt und verkauft, wenngleich wesentlich weniger als vor zwei Jahrzehnten. Auch wenn die Digital Concert Hall und die dazugehörige Rhetorik den Eindruck eines demokratischen, offenen und leichtzugänglichen Projektes vermitteln möchte, so darf nicht vergessen werden, dass der digitale Besuch einen Computer mit Internetzugang erfordert sowie den Besitz einer Kreditkarte, mit der mindestens € 9,90 für einen Besuch gezahlt werden müssen. Also kann hier auch auf den Begriff des sogenannten „digital divide“
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verwiesen werden, demzufolge die digitale Welt nicht für alle gleich zugänglich ist. Vielmehr sind bestimmte Personengruppen aufgrund ökonomischer, infrastruktureller, geographischer, sozialer und ausbildungsbezogener Aspekte ausgeschlossen. Adams (2009, S. 101) nennt in diesem Zusammenhang ganz konkret Unterschiede „in computer ownership levels, use of the Internet, amount of time spent online, or the ability to navigate the Internet“. Und so ist es für Hesmondhalgh (2009, S. 70) nach wie vor eher ein wohlhabendes und über Zeit frei verfügendes Publikum, das in der Lage ist, Zugang zu der großen Vielfalt der digitalen Welt zu haben. Diese Charakteristik mag sich nicht wesentlich von dem bisher auch analogen Publikum der Berliner Philharmoniker unterscheiden. Ob sich die Digital Concert Hall als eine innovative Zukunftsstrategie für Klassische Symphonieorchester bewähren kann, die auf andere Orchester übertragbar ist, ist nicht nur angesichts der umfangreichen technologischen Investitionen ungewiss. Den „Tod des Scheibengeschäfts“ wird sie nicht zu verantworten haben, sondern dann eine Weiterentwicklung des Klassischen digitalen Musikvertriebs.
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Interview Sebastian Dresel, Beauftragter für Kultur- und Kreativwirtschaften und Janina Klabes, Clustermanagerin Sebastian Dresel, 1975 in Karlsruhe geboren, war Plattenverkäufer, Kleinstlabelbetreiber, (Musik-)Journalist, Radiomusikredakteur bzw. -moderator, Veranstalter und DJ und hat so ziemlich alles nicht fertig studiert, was an den Universitäten Mannheim und Heidelberg ohne NC zu studieren war (insb. Politikwissenschaften), bevor er im Jahr 2007 zum „Beauftragten für Musik und Popkultur der Stadt Mannheim“ beim dortigen Kulturamt wurde. Seit 2010 ist er Mannheimer „Beauftragter für Kultur- und Kreativwirtschaften beim Fachbereich für Wirtschaftsund Strukturförderung“ und sucht anhaltend nach konkreten Förderoptionen auch und gerade auf kommunaler Ebene bzw. nach der Rolle, die Kommunen bei der Förderung von Akteuren spielen können, sollten oder müssen und der „Reichweite“ dieser Förderung vor dem Hintergrund lokalen Handelns in einem grenzenlosen digitalen Umfeld. Insbesondere beschäftigen ihn zeitgemäße professionelle (Kultur-)Förderstrukturen (projektorientierte Kulturförderung im systematischen Gegensatz zu gleichbehandelnder Wirtschaftsförderung), Wirkungsebenen von Kultur- und Kreativwirtschaft in der Stadt(teil)- und Standortentwicklung, Innovationsprozesse im Marktforschungsumfeld, ein allgemeiner Kennzahlenwahn, der Qualitätsbegriff im Allgemeinen sowie fundamentale Verständnisprobleme mit Hochkulturförderung. Schließlich vertritt er die Auffassung, dass kein Weg an verfassten Selbstorganisationsstrukturen der Kreativwirtschaft vorbeiführt. Janina Klabes studierte nach einem abgeschlossenen Grundstudium der Germanistik und politischen Wissenschaft Musikbusiness an der Popakademie Baden-Württemberg. Während dieser Zeit erhielt sie im Rahmen eines studienbegleitenden Stipendiums bei Universal Music Einblicke in das Major-Business. Anschließend arbeitete Klabes bei der Agentur „klinkt“, der Musikverwertung der Popakademie. Seit 2010 leitet sie das EU-geförderte Cluster der Musikwirtschaft Mannheim & Region. Seit 2007 ist Klabes zudem Sängerin der Band MY BABY WANTS TO EAT YOUR PUSSY und Mit-Inhaberin des Artist-Labels ASS HAMMER RECORDS.
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Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Wir betrachten das zunächst aus der Perspektive der Musikliebhaberei: Musik hat sich endgültig entmetropolisiert. Verfügbarkeit und Informationsgrad sind weitestgehend unabhängig von Konzertlandschaft und Einzelhandelsqualität. Aber auch wenn man den Blick auf weniger musikbegeisterte Menschen richtet, wird man attestieren müssen, dass sich der Mainstream weiter atomisieren wird. Man ist jederzeit in der Lage, enorm tiefenscharfe Einblicke in jedes denkbare Genre zu erhalten. Das ist schlicht großartig. Dadurch nähert sich „Pop“ einer zersplitterten Struktur, die früher eher klassischen Szenen zugeschrieben wurde. Was vermutlich nicht zuletzt an der interessanten Eigenheit der Sozialen Medien liegt, den kulturellen Input aus ohnehin vorhandenen Peer-Groups zu speisen. Das Radio (mit wenigen Ausnahmen) erscheint (musikalisch) allenfalls noch als ein Medium der Vergangenheit. Auf Plattformen wie SoundCloud sucht man sich seine „Moderatoren“ oder „DJs“ selbst aus. Warum das eine Rolle spielt? Weil sich vor allem der „mobile“ Musikgenuss so markant geändert hat. Also jene Welt, in der man lange nicht auf die eigene Plattensammlung zurückgreifen konnte (wenn man das eigens angefertigte Mixtape beiseite lässt). Weil man sich heute im Zweifel auch auf dem Laufband unmittelbar genau diesen Song kaufen kann, auf den man jetzt gerade Lust hat. Das heißt ich bin als Musikhörer nirgendwo mehr abhängig von jedweder Planung oder Vorsortierung, und wenn ich auf diese dennoch Wert lege, dann lässt sich das ohne größeren Aufwand bewerkstelligen. Der Begriff „Musikkonsument“ wurde hier mit großer Absicht nicht verwandt – weil er eben verknüpft ist mit der wirtschaftlichen Perspektive von Musik, einem beinahe alle Debatten vollkommen überlagernden Blickwinkel. Der zweifelsfrei eine große Rolle spielt – aber beileibe nicht die einzige. Um also kurz zusammenzufassen: Die Art Musik zu hören ist sehr viel unkomplizierter, individueller, unabhängiger und weniger fremdbestimmt geworden. Die Art Musik zu „konsumieren“ steht auf einem ganz anderen Blatt – einem Blatt, auf dem sich in den nächsten fünf bis acht Jahren eine harte Auseinandersetzung und (im Sinne der Liebhaber) hoffentlich deutlich zielführendere Diskussion zwischen Urhebern, Konsumenten und (verwertender) Industrie abspielen wird.
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Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Möglicherweise in der Übertragung der Logik des Unikate-kennenden klassischen Kunstmarktes. Wer sagt, dass es für ein „Original“ (analog zum Editionswesen der ebenfalls reproduzierbaren Fotografie) keinen Markt gäbe und die Masse (also um in Bilde zu bleiben, den billigen Posterdruck) nicht dennoch erreicht würde? Dies würde einen Paradigmenwechsel bedeuten, der ein „Werk“ als ebensolches und nicht als „Produkt“ versteht. Das Selbstverständnis der „Musikindustrie“ kann man diesbezüglich bereits an der Begrifflichkeit ablesen. Oder (ganz anders) in der zeitlichen Umkehr der Wertschöpfung anhand von Crowdfunding-Ansätzen. Wo sich Labels bislang entschieden haben, ein Projekt zu signen, weil sie sich erhofften, Stückzahlen im Nachhinein abzusetzen, könnte man jetzt in eine ähnliche Maklerposition einsteigen, indem man größer angelegte Crowdfunding-Kampagnen vorfinanziert – in der Überzeugung, genügend Unterstützer zur Refinanzierung aktivieren zu können. Die Arbeitsteiligkeit würde sich dabei lediglich in zeitlicher Perspektive umdrehen. Daran, einschätzen zu können (oder das wenigstens zu glauben), wofür sich die Menschen begeistern lassen, ändert das überhaupt nichts. Das A&R-Wesen ist und bleibt der wesentliche und entscheidende Kern der gesamten Musikindustrie – auch wenn uns hier das Marketing glauben machen wollte, immens viel wichtiger zu sein. Ob ich ein tolles Produkt ans Publikum bekomme, ist natürlich (mit Einschränkungen auch) eine Frage der finanziellen Mittel. Aber dieses unternehmerische Risiko ist der Musikindustrie doch in Fleisch und Blut übergegangen und sollte keine Frage des Zeitpunktes oder des Mediums sein, wann und wo ich Menschen aufrufe, Geld für eine begehrenswerte Kunst auszugeben.
Durch was werden diese ausgelöst? Selbstverständlich durch das Netz. Oder präziser: durch die Anwendungen, die irgendwelche Leute im Netz bereitstellen. Dass das Netz nicht mit den Gesetzmäßigkeiten der klassischen Medien zu beurteilen ist, sollte sich doch herumgesprochen haben. Es handelt sich hier nicht um einen alternativen Verlautbarungskanal (wir sagen das bei aller Selbstverständlichkeit trotzdem noch einmal, weil man dieser Haltung noch immer begegnet), sondern um einen Marktplatz mit Alleinvertretungsanspruch. Der Einzelhandel (im ganz und gar Allgemeinen) fängt an, das zu realisieren. Was der
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Buchhandel seit einiger Zeit so von sich gibt, klingt jedenfalls schwer nach Musikindustrie 1999. Man muss sich am nächstgelegenen Strand mal umsehen, um das Lieblingsargument „ja, aber so ein Gerät nimmt man ja nicht mit an den See“ zu pulverisieren. Es besteht allerdings die Hoffnung, dass die Musikindustrie ein Beispiel geliefert hat, dass frühzeitige ernstzunehmende und komfortable Angebote hilfreich sein können und konsequente Verneinung und Neophobie zu nichts führt.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Sascha Lobo hat festgestellt, dass man manche Gesellen nicht sympathisch finden muss, um ihnen Recht zu geben. Insofern ist die Kim Dotcomsche Formel: „1. großartige Inhalte schaffen, 2. den Kauf so einfach wie möglich machen, 3. weltweite Veröffentlichung am gleichen Tag, 4. fairer Preis, 5. auf jedem Gerät abspielbar“ ein bedenkenswert primitiver Leitfaden, wenngleich dessen Umsetzung noch ein langer Kampf um Lizenzen und marktbedingt-künstliche Unmöglichkeiten bevorsteht. Dem Konsumenten wäre hiermit freilich kompromisslos entgegengekommen und ihm wäre jede Quasi-Rechtfertigung für „illegales“ Handeln entzogen. Einige der Anforderungen an Labels wurden ja schon genannt. Nämlich unter Umständen radikal die Position und Rolle in der Wertschöpfung zu überdenken. Die größte Herausforderung, welche gleichwohl die unbeachtetste ist, liegt in der Figur des Künstlers – der das „marode Innenleben“ des PopZaubers immer noch durch verklärtes Gehabe überspielt. Weil Armut im Pop-Genre eben nicht sexy ist. Ohne gehörigen DIY-Ansatz lässt sich kaum ein Künstlerdasein wirtschaftlich argumentieren. Und DIY setzt knallhartes Unternehmertum voraus, welches den meisten Jetztmusik-Künstlern nicht nur fremd ist, sondern (zu häufig gehört, um es zu ignorieren) erklärtermaßen fremd sein will und muss. Es ist daher so wagemutig wie richtig, die Künstler selbst für die Misere verantwortlich zu machen, in der sie stecken. Denn wer weiterhin die Augen verschließt vor dem Nichtfunktionieren des good old business, wer weiterhin auf extern eingeleitete Wunder hofft, der wird den Weg aus der Krise nicht finden. Der Künstler selbst muss es sein, der die Wertschätzung seines Gutes einfordert. Und dies zunächst bei sich selbst. Der Künstler muss es sein, der entlohnt werden will und nicht mehr bereit ist, alte Ver-
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marktungsdogmen mitzuspielen, die auf seinem Rücken ausgetragen werden. Dies bedingt auch eine differenzierte und deutlich weniger opportunistische Haltung gegenüber beispielsweise der GEMA, die von Seiten der Musiker immer nur dann massiv in der Kritik steht, wenn sie nicht gerade ausschüttet. Pop-Musik steht dieser Tage am Scheideweg. Sie hat die Wahl, zur Subventionskultur zu werden und neben traditionspflegender „Hochkultur“ um Kulturamtsgelder zu buhlen (und entsprechend zu argumentieren), oder sie nimmt die Kurve, wieder autark wirtschaften (im Sinne von Leben) zu können. Letzteren Wandlungsprozess können weder Politik noch die wenigen etablierten Firmen der Musikwirtschaft noch die deutsche Förderlandschaft initiieren. Andernfalls steht „Popmusiker“-Sein vor der Alternative, kein Berufsbild mehr zu sein sondern bloßes Hobby. Der Anstoß, die Idee, das Umdenken und letztlich die Wut muss vom Musikschaffenden selbst kommen. Künstler müssen absteigen von ihrem toten Ross und es aus Eigenantrieb schaffen, sich landesweit zu organisieren, Forderungen zu stellen und endlich diesbezüglich handeln. Im Übrigen eine Erkenntnis, die sich auf viele kreativwirtschaftliche Teilbranchen übertragen ließe. Das traurige Problem bei der Lobby-Arbeit, zu welcher sich Künstler zusammenschließen und eine Stimme finden müssen: Künstler waren wahrscheinlich noch nie so unpolitisch wie heute.
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? In der vermeintlich „öffentlichen“ Wahrnehmung, die in Wahrheit eine weitgehende Verkürzung auf ohnehin vorhandene Ordnungsstrukturen ist, die sich um einen Freundeskreis oder eine Szene gruppiert, könnte man eine Parallelität zu den großen musikalisch-historischen Ortsbezügen wie Liverpool, Manchester, Seattle oder Detroit herstellen. Nämlich, dass in bestimmten Gruppen weitestgehend unbeobachtet an irgendwelchen Entwürfen gefeilt wurde, bis eine größere (globale) Gruppe das Ergebnis für interessant befand. Nur, dass das eben potenziell öffentlich passiert. Interessiert nur in Wahrheit keinen. Lokale Kristallisationspunkte sind entscheidend. Wenn wir aus Mannheimer Perspektive beobachten, was sich an einer einzigen WG für ein Netzwerk an Komponisten, Musikern, Remixern usw.
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festmachen lässt, dann sind wir sehr zuversichtlich. Steuern lässt sich so etwas erfreulich wenig nur bestmöglich begleiten.
Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Zunächst einmal: indem sie das furchtbar Ernst nehmen. Popförderung ist so viel mehr, als ein bisschen Nachwuchs-Förderung mit Gitarren-Workshop (ohne diese infrage stellen zu wollen). Wer seine zukünftige Kulturlandschaft stärken will, muss sich darauf einstellen, den Kulturschaffenden professionelle Unterstützung zukommen zu lassen. Auf lokaler Ebene, eingebunden in ein vernünftiges nationales Netzwerk. Das hat mit Existenzgründungsförderung genau so viel zu tun wie mit Kulturförderung. Die unsichtbare (und unfassbar kontraproduktive) Mauer zwischen diesen beiden Sphären muss durchbrochen werden. Hochqualitative Kultur bedarf professioneller Kulturschaffender. Die Hochkulturförderstrukturen müssen markant auf lokaler Ebene erweitert werden. Die bisherigen Popförderstrukturen, übertragen auf die Hochkultur, würden zu reinen Laienschauspielhäusern führen, die kein Kulturpolitiker für angemessen hielte. Popkultur ist Kultur, die von Profis geschaffen wird. Das Paradigma „Kultur“ ist: solange kein Geld verdient wird (weil sie so „gut“ ist, dass sie sich nicht von alleine trägt, und im Umkehrschluss können Dinge, die sich alleine tragen, nicht „gut“ sein), ist nur eines: falsch! (Sie erklärt im Übrigen jeden Einzelnen, der seine Lieblingsband der nächstgelegenen Ring-Inszenierung vorzieht, für ungebildet und/oder kulturfern.) Kommunen können sich ganz hervorragend positionieren. Indem sie ihre Förderstrukturen (ob nun Wirtschaftsförderer, Kulturämter, Stadtmarketinginstitutionen usw.) professionell (auch) auf Gegenwartskultur ausrichten. Indem sie anerkennen, dass die Eröffnung eines Musikclubs wichtig für die Stadtkultur ist, dass dieser Club Geld verdienen will und muss, aber vielleicht doch ein paar Zuschüsse braucht, um die anspruchsvolle Konzertreihe nicht der 08/15-Party zu opfern. Kommunen können sich positionieren, indem sie ihren Kulturbegriff erweitern und sich der kulturellen Gegenwart stellen, in der ein gut sortierter Comicladen für viele den gleichen Stellenwert wie ein Museum genießt. Sie können Genehmigungsprozesse im Rahmen der vorhandenen gesetzlichen Regelungen versuchen positiv zu begleiten. Und sie können sich zusammenschließen, um auf Bundesebene dafür zu sorgen, dass es nicht das Baurecht von 19xundsechzig ist, das darüber entscheidet, ob ein Club irgendwo aufmachen darf oder nicht, weil es sich nicht um eine „kulturelle
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Einrichtung“ handle. Sie können weiterhin „ihren“ Künstlern Zugang zu Netzwerken verschaffen. Indem jeder für sich die Mentalität der großen Exportbüros ein bisschen verinnerlicht und die Künstler genau da fördert, wo sie hin sollen und wollen: anderswo. Die x-te Newcomer-Konzertreihe in den eigenen Mauern mag einen speziellen Sinn im Einstieg erfüllen. In der Erschließung von Wertschöpfung ist damit nicht einmal ein Anfang gemacht. Und die Kommunen müssen verstehen, dass die Zielgruppe dieser ganzen Fördermaßnahmen eben nicht allein die Popmusiker sind. Sondern dass eine Stadt, die viele Clubs und Bars beheimatet, in der viele gute (oder (sic!) bekannte) Musiker zu Gast sind oder gar leben und vor allem spielen, für all diejenigen interessanter wird, die gemeinhin als „Talente“ bezeichnet werden. Also all diejenigen, die in den 70er, 80er und 90er Jahren sozialisiert wurden und denen die Anwesenheit von Museen und Theatern schlicht nicht ausreicht. Das sind viele. Sehr viele!
Intermediäre in Wertschöpfungsprozessen
„Underground“ und Kulturproduktion Die Rolle von Distinktionen beim Veranstalten Berliner Techno-Partys Jan-Michael Kühn
E INLEITUNG „David Guetta? Nein danke, das ist mir zu kommerziell“! Solcherlei Abgrenzungen bezüglich Musik und Musikern findet man oft – besonders in der Berliner Techno-Szene, aber auch in anderen Musikszenen (vgl. Strachan 2007; Moore 2007; Andersson 2011). Sie lediglich als individuelles Geschmacksurteil zu deuten, wird jedoch ihrer Bedeutung für Musikszenen nicht gerecht. Sie sind, so die hier argumentierte These, zentrale Bestandteile ihrer Kulturökonomie. Thema dieses Artikels ist die Beantwortung der Frage, wie Veranstalter von Partys elektronischer Clubtanzmusik (kurz: „ETM“) in ausgewählten wirtschaftlichen Arbeitsabläufen subkulturell und sozialstrukturell verwurzelte Distinktionen vollziehen, um ihre präferierte Szene und Musikkultur abzugrenzen, aufzuwerten und zu konservieren. Distinktionen fungieren hier als integrativer ästhetischer Widerstand. Anstatt der in der sozialwissenschaftlichen Literatur etablierten Antagonisierung von Subkultur- und Szenetheorie zu folgen, wird unter Verwendung der Bourdieuschen Konzeptualisierung kultureller Felder (2001) und Sarah Thorntons Theorie subkultureller Hierarchie (1995) ein neuer Ansatz vorgeschlagen: Eine Differenzierung in subkulturelle Szenen und massenkulturelle Szenen. Im Artikel werden die Distinktionen „Kommerz“, „Ausverkauf“ und „Masse“ beschrieben und als punktuelle subkulturelle Orientie-
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rungen konzeptualisiert. Diese erlangen ihre soziologische Relevanz nicht als Tatsachenbeschreibung, sondern über ihren Abgrenzungscharakter und werden damit elementarer Bestandteil der kulturellen Wertschöpfung. Mit dieser Unterscheidung lassen sich unterschiedliche Produktionssphären innerhalb von Musikkulturen, nämlich Szenewirtschaft und Kulturindustrie, systematisch voneinander trennen und darüber hinaus subkulturelle Szenen (bzw. ästhetisch basierte Subkulturen) als zeitgenössische Phänomene spätmoderner gesellschaftlicher Entwicklungen darstellen. Denn als (subkulturelle) Szenewirtschaft bilden sich musikkulturspezifische Infrastrukturen, Organisationsformen, Märkte und eine eigene Wertschöpfungskette. Anstatt kulturindustrielle Produktionsweisen für jede Form von Musik als Normalfall anzunehmen und sozioökonomische Eigenheiten kleinwirtschaftlicher Musikszenen zu marginalisieren, eröffnen sich auf diesem Weg Möglichkeiten, den flüssigen Übergangscharakter zwischen beiden Produktionssphären aus neuer Perspektive zu untersuchen. Zudem werden sozialstrukturelle Unterschiede als Grundlage von Distinktionen identifiziert und erläutert. Folgend wird kurz in die wesentlichen kulturellen Eigenschaften des Feldes eingeführt, anschließend werden die Distinktionen erklärt und am Beispiel der Veranstaltungspraxis exemplifiziert. Empirisch beziehe ich mich auf House/Techno-Musik mit ihren zahlreichen Substilen, welche in Berliner Clubdiscotheken (mehr zu diesem Begriff ab S. 163) wie „Berghain“, „Watergate“ oder „Weekend“ gespielt werden.
D IE KULTURELLEN I NSTITUTIONEN DER B ERLINER C LUBDISCO -K ULTUR Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre entstanden in afroamerikanisch geprägten Vierteln der USA (speziell Detroit, New York und Chicago) neue Formen elektronischer und samplingbasierter Tanzmusik, die sich auf Einflüsse aus Funk, Hiphop, Disco, Soul, Gospel, Reggae und Electro zurückführen lassen (Mathei 2012; Volkwein 2003). Sie ist Loop-basierte, körperbetonte und rhythmusorientierte Musik im Viervierteltakt mit Betonung auf dem Onbeat (dem gleichbleibend intensiven 4/4 Taktschlag), mit einer Geschwindigkeit zwischen 110 und 150 Anschlägen pro Minute (BPM, kurz für „beats per minute“), welche in der Form des Musiktracks (und nicht als Song) mit der Idee geschaffen wurde, als Werkzeuge für DJs
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vor tanzendem Publikum ineinander gemixt zu werden und damit ein endloses und hypnotisches Tanzerlebnis zu fabrizieren. Als Trackform verfügt die Musik über andere Strukturen als Songs (Intro, Breakdown, Mainpart, Breakdown, Mainpart, Outro statt Strophe/Refrain) und ist als Halbfabrikat konzipiert, das seine musikkulturelle Bestimmung erst im Zusammenmischen durch DJs in DJ-Sets vor tanzendem Publikum erlangt. Drei der damals entstandenen musikalischen Stile bilden auch heute noch den wesentlichen Referenzrahmen des subkulturellen Pols der Berliner ETM-Kultur. Clubdiscotheken wie das „Berghain“ oder „about:blank“, welche sich mit großem (auch kommerziellem) Erfolg und gleichzeitig großer Nähe an den Formen der frühen Stile und ihren zeitgenössischen Abwandlungen und Interpretationen orientieren, genießen besonders hohes subkulturelles Kapital. „Detroit Techno“ etwa, geschaffen unter dem Einfluss der Tristesse in der von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit gezeichneten nordamerikanischen Schwerindustriestadt der späten 1980er Jahre, und stark inspiriert durch die deutsche Band „Kraftwerk“, ist eine schnelle und harte Variante der ETM, welche sich in erster Linie durch düstere Klänge, Bosheit und synthetische Klangsphären auszeichnet. Ihre Entstehung, Entwicklung und Popularisierung wird besonders mit den Musikproduzenten Derrick May, Juan Atkins und Jeff Mills verbunden. „House“ erhielt seinen Namen aufgrund der Aufmerksamkeit, die erste Veranstaltungen dieses Stils in einem New Yorker Lagerhaus erzielten („warehouse“). Während die in Chicago geprägten Versionen deutlich härter waren und eher durch den Disco-Sound beeinflusst wurden, spielten für den New Yorker House-Stil vor allem Gospel- und Soul-Einflüsse eine zentrale Rolle. Zudem entstanden besonders bassreiche Varianten, die in erster Linie im „Paradise Garage“ gespielt wurden und dementsprechend den Namen „Garage House“ erhielten. Ästhetisch zeichnen sich beide Stile durch Lockerheit und Fröhlichkeit aus, regen zum vergnügten und in sich gehenden Tanz an. Maßgebliche Akteure ihrer Entstehung und Popularisierung sind Frankie Knuckles, Larry Levan und Marshall Jefferson. Während sich in New York, Chicago und Detroit bereits kleine Szenen um die neuen Musikrichtungen bildeten und einzelne Sound-Elemente und Akteure schon bald in der englischen Rave-Kultur rezipiert wurden, gelang der weltweite Durchbruch der Musik erst mit der in Berlin Ende der 1980er Jahre hervorgegangenen Clubdisco-Kultur (Denk/von Thülen 2012; Vogt 2005). Als mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 die Spal-
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tung der Stadt endete, ahnte noch niemand, dass dies der Beginn für eine neue Jugendkultur sein würde. In der unmittelbaren „Wendephase“ zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung verloren viele Flächen im Osten Berlins ihre durch die DDR festgelegte Nutzung und Kontrolle. Bis die Bundesregierung es schaffte, Ostberliner Gebäude und Flächen zu verwalten, vergingen mitunter viele Jahre. Gleichzeitig gab es in Ost- und Westberlin zahlreiche subkulturell orientierte bzw. marginalisierte Milieus (Künstler, Hooligans, Homosexuelle, Hausbesetzer, Hippies, Punks, usw.), welche diese ungenutzten Flächen und Räume, oftmals Industrieflächen und Kellerräume, zu Freiräumen erklärten und als Wohn- und Erlebnisräume für ihre Zwecke nutzten. Munter wurden beliebige Räume aufgebrochen, auf ihre atmosphärischen Qualitäten hin beurteilt und solange ohne jegliche Genehmigung genutzt, bis sich jemand – in der Regel Behörden oder westdeutsche Eigentümer – meldete und Ansprüche erhob. Da viele Eigentumsverhältnisse bis Mitte der 1990er Jahre gänzlich ungeklärt waren, wurde dieses Verhalten sogar seitens der Polizei toleriert. Durch die Moderatorin Monika Dietl im Jugendprogramm des DDR-Rundfunks, DT 64, hatten House und Techno bereits einige Fans in Berlin; parallel gab es vor der Wende im Westen Berlins den Ufo-Club, welcher viel mit elektronischer Tanzmusik experimentierte. Dort gab es z. B. mittwochs den „Cyberspace Club“ von DJ Tanith, der ein besonderes Faible für harten und düsteren Techno hatte und mit diesem regelmäßig eine ganze Nacht im Ufo gestaltete. Nach dem Mauerfall begannen im „Osten“, mit Akteuren aus Ost und West, die ersten eher beiläufigen Experimente, diese Form harter Musik in den freigewordenen Räumen der Großstadt zu ihrer jedoch damit bald spezifischen Aufführungsform zu bringen: Morbide, schmutzige und leer stehende Keller-Räume wurden zum Charakteristikum der frühen Techno-Szene. Schnell entstand in den verwahrlosten Industriebauten eine vielfältige Clubdisco-Kultur unterschiedlicher Akteure und Musikrichtungen. Gerade die düsteren Sounds des Detroit-Techno verwandelten sich in den heruntergekommenen Industrieräumen und Kellern, unterstützt durch Licht- und Dekorationskonzepte (z. B. Stroboskope), zu ästhetischen Symbiosen aus Raum, Körper, Drogen, Spaß, Musik, Zeitlosigkeit und enthemmter Deregulierung – und trafen rapide auf immer mehr Interessierte. Eine neue Form der Party, die nicht selten 48 Stunden und mehr ging, war entstanden. Mit „Tekknozid“ wurde die erste größere Veranstaltungsreihe gegründet, welche schnell mehrere Tausend Besucher pro Event mobilisier-
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te. Die Clubdisco „Tresor“ buchte die ersten Musikproduzenten aus Detroit auf Partys nach Berlin. Von da ab gab es kein Halten mehr (Rapp 2009; We Call It Techno! 2008): Das Veranstaltungsmodell exportierte sich rasch in viele Städte. Mit der Straßenparade „Loveparade“ trug man diese neue Kultur gerne offen zur Schau – und auch die Medien zeigten großes Interesse für die einerseits als „verrückt“ erklärte Erscheinung, anderseits als „dumpf“ und einfach wahrgenommene Musik und ihre scheinbar unpolitische Spaßorientierung (Meyer 2000; Klein 2004; Hitzler 2001). Viele erkannten schnell die kommerziellen Potenziale der sich als Massenveranstaltungen etablierten „Raves“. Der erste Popularisierungsschub und die damit verbundene deutlich spürbare Kommerzialisierung der Musikevents und der jungen Szenestrukturen sorgten schnell für eine Polarisierung, wie sie Bourdieu (2001) als typisch für kulturelle Felder beschreibt: Am Anfang beteiligten sich zunächst noch viele der Ursprungsakteure mit Enthusiasmus an der Popularisierung der neu entstandenen Jugendkultur, schnell jedoch wuchsen Skepsis und Kritik an den negativ wahrgenommenen Seiten ihrer Kommerzialisierung. Musik und Veranstaltungen veränderten sich rasch zugunsten größerer Massenkompatibilität und die kommerziellen Motive der Großveranstalter stellten sich rasch in Widerspruch zu den ästhetischen Ursprüngen aus den USA. Viele Akteure konnten diese Entwicklung nicht mehr mit ihren Erlebniserwartungen in Einklang bringen und brandmarkten sie als „unauthentisch“. Die ursprünglich originelle Adaption und Umdeutung von Symbolen und Großstadtkultur (z. B. verrückte Frisuren oder Bauarbeiterwesten) wandelte sich zum Klischee des „Ravers“. Enttäuschte Akteure zogen sich in die lokalen Szenen der kleinen, mittlerweile in mehreren Großstädten verbreiteten Clubdiscos zurück und erklärten ihre präferierten ästhetischen Variationen zum Underground. Dieser Begriff dient dazu, die Ästhetiken der Clubdisco-Kultur und ihrer Musik von massenkompatibleren (z. B. „Dance-Pop“, Schlager, Pop & Rock) abzugrenzen und steht damit symbolisch und alltagssprachlich für die subkulturelle Seite eines kulturellen Feldes. Im Gegensatz der Pole bewegt sich diese Kultur bis heute. Seit ungefähr vier Jahren ist jedoch nicht nur in Deutschland (mit Paul Kalkbrenner, Klangkarussell, Wankelmut) sondern auch weltweit (David Guetta, Swedish House Mafia, Skrillex, usw.) ein zweiter Popularisierungsschub festzustellen. Doch dieses Mal scheint die Clubdisco-Kultur vorbereitet und sorgt durch zahlreiche Abgrenzungen vorneweg dafür, dass diese neuen Ästhetiken in ihren Sphären kaum stattfinden – selbst dann,
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wenn sie, wie im Fall von Paul Kalkbrenner oder Wankelmut, aus ihr hervorgegangen sind und ästhetisch kompatibel bleiben.
D IE S UBKULTURALITÄT
VON
M USIKSZENEN
Die Berliner Techno-Szene gilt als das Pulsierendste und Vielfältigste, was Metropolen derzeit weltweit zu bieten haben (vgl. Scharenberg und Bader 2005). Einer der wesentlichen Träger der Attraktivität Berlins sind jedoch nicht der in jeder Stadt auffindbare Normalbetrieb von Konzerten, Opern oder Discotheken, sondern subkulturell orientierte Clubdiscotheken mit Wurzeln in Musikszenen, speziell House & Techno. Die Produktion der Ästhetiken geschieht dabei in kleinteiligen, lokal bis mikro-globalen Szenewirtschaften, in denen die Akteure sich als zuerst Musikfans vergemeinschaften und später zunehmend auch ihren Lebensunterhalt mit der Erlebnisproduktion bestreiten. Selbstverwirklichung geht bei ihnen einher mit dem Agieren auf spezifischen musikkulturellen Märkten, der Berücksichtigung institutionalisierter Erwartungshaltungen, Hedonismus, Distinktionen und Erwerb (Kühn 2011): Ästhetik ist für sie eine Form von Erlebnisorientierung, die sich als Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, spaßigen und subjektiv als lohnend empfundenen Lebens darstellt (Schulze 1995) und in verführerischen Formen realisiert wird (Hitzler/Niederbacher 2010). Die gesellschaftliche Ausbreitung von szeneförmigen Gesellungsformen ist mit grundsätzlichen Veränderungen im Übergang von der vormodernen Agrar- über die moderne Industrie- bis hin zur spätmodernen Wissensgesellschaft zu erklären. Diese Veränderungen werden üblicherweise verstanden als Prozesse der Individualisierung, Globalisierung, Säkularisierung, Demokratisierung von Produktionsmitteln, Neoliberalisierung oder Ästhetisierung (Hitzler et al. 2008; Beck 1986; Reckwitz 2011). Ehemals starre und tradierte Institutionen verlieren an gesellschaftlicher Bedeutung und werden durch flexiblere ersetzt. Diese produzieren immer mehr Wahlmöglichkeiten für einzelne Individuen, übertragen ihnen gleichzeitig aber auch mehr Verantwortung und die zunehmende Notwendigkeit, das eigene Leben zu gestalten (Gross 2005). In diesem Wandel wurde die Phase der Jugend neu definiert und wird mittlerweile nicht mehr als reine Altersphase zwischen Kindheit und Erwachsensein verstanden, sondern als Merkmal (Juvenilität), welches sich in der Spätmoderne zunehmend „ent-
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strukturiert“ und damit auch für ältere Menschen zum kulturellen Bezugsrahmen wird (Gebhardt 2006; Hitzler/Niederbacher 2010). Seit Mitte der 1950er Jahre entstanden zwei Begriffsschulen, welche jugendliche Vergemeinschaftungsformen aus unterschiedlichen Perspektiven modellieren: Die „Subkultur-Theorie“, assoziiert mit dem Namen „Birmingham School“, betonte sozialstrukturell wirksame Größen wie Klasse, Ethnie, Widerstand, Stil, Raum, Authentizität und Identität gegenüber einer hegemonialen Gesellschaft und Kulturindustrie, woraus sich integrative Potenziale ergeben, die Subkulturen ausbilden (Hall/Jefferson 2006; Gelder 2007; Williams 2007). Die „Post-Subkultur-Theorie“ (bzw. post-traditionale Theorie) hingegen postuliert einen flüssigen und ästhetisch-verführenden Spaßcharakter der neuen Gesellungsformen, in denen Klassen, Ethnien und subkulturelle Identitäten über zunehmend weniger lebenspraktische Relevanz verfügen, Stil schnell zum schichtübergreifenden und rein geschmacksbasierten Massenphänomen wird und sich Abgrenzungs- und Widerstandsmotive, wenn sie denn zuvor überhaupt relevant waren, verflüchtigen (Hitzler/Niederbacher 2010; Muggleton/Weinzierl 2003; Bennett/Peterson 2010). Konzeptionelles Problem beider Perspektiven ist, dass sie ihre theoretischen Ansprüche gesellschaftlich exklusiv und umfassend formulieren (z. B. „post-subcultures“) und damit die Komplexität subkultureller Szenen, welche sowohl über ästhetische Formen von Widerstand („underground“) als auch eine gleichzeitig sozialstrukturelle Unterdeterminiertheit (Szenen liegen quer zur Sozialstruktur) verfügen, nicht adäquat beschreiben können. Daher ist es angebracht, einen alternativen theoretischen Weg zu wählen, welcher nicht nur die Prozesse gesellschaftlicher Pluralisierung, sondern auch deren ästhetische und sozialstrukturelle Konsequenzen in die Szenetheorie integriert. Einen ersten explorativen Beitrag dazu soll dieser Text liefern. Wie lässt sich nun ein entsprechender subkultureller Szenebegriff konzeptionieren? In Anlehnung an die Idee symbolischen Kapitals von Pierre Bourdieu (1979) identifizierte Sarah Thornton (1995) in der englischen ClubdiscoKultur die Herausbildung subkultureller Hierarchien, welche durch Distinktionen gegen den Mainstream und die Massenmedien systematisch produziert und zu wesentlichen Bestandteilen der Identifikationsprozesse von Jugendlichen mit ihrer Musik und ihren Treffpunkten werden. Obwohl über-
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trieben und unpräzise, wirken sie als Mythen integrativ für Vergemeinschaftungsprozesse. Pierre Bourdieu (2001) zeigte grundsätzlich in seinen umfangreichen Studien zur Kunst, dass eine Auftrennung in zwei sich gegenüberstehende Pole ein grundsätzliches Merkmal kultureller Felder ist: auf der einen Seite der kulturell autonome und anti-kommerziell orientierte Pol der vermeintlich „reinen“ Kunst mit der größten Nachfrage und Legitimation in den eigenen Produzentenreihen, auf der anderen Seite der massenorientierte, industrielle, heteronome und kommerziell orientierte Pol, verwurzelt im breiten und undistinguierten Publikum. Um beide Fluchtpunkte herum bilden sich Subfelder unterschiedlicher Produktionsweisen, Akteure, Lebensweisen, Überzeugungen und Produkte. Die Verortung der Akteure im Geflecht der Beziehungen solcher kultureller Felder, also ihre Position, reflektiert sich in ihren Positionierungen – den Produkten. Während Thornton in ihrer Betrachtung ästhetische Formen und Erlebnisproduktion noch außer Acht ließ, zeigten Robert Strachan (2007) und Ryan Moore (2007) mithilfe von Bourdieus Verständnis kultureller Felder am Beispiel von englischen Independent-Musiklabels („micro-indies“) bzw. Punk in Kalifornien, dass Distinktionen auch organisatorisch-strukturelle Konsequenzen haben: Durch sie grenzen Akteure in Musikszenen ihren Modus der kleinwirtschaftlichen Kulturproduktion und die Formen ihrer Ästhetiken von jenen ab, die sie als anspruchslos, da zu kommerziell und massenorientiert empfinden. Überträgt man Bourdieus Konzeption kultureller Felder auf Musikszenen, so lassen sich die beiden Pole in flüssige Übergangsformen zwischen subkulturellen und massenkulturellen Szenen übersetzen, welche sich strukturell durch ihre Ausmaße der Abgrenzungen und Form der (wirtschaftlichen) Vergemeinschaftung in ihren ästhetischen Äußerungen unterscheiden. So ist die subkulturelle ETM-Szene durch leidenschaftliche und aktivproduzierende Szeneteilnahme geprägt (z. B. Musiktracks, DJ-Sets) und in kleinwirtschaftlichen Strukturen zwischen vielen Einzelunternehmern organisiert. Die Akteure priorisieren kulturelle Orientierungen gegenüber ökonomischen, ihr Handlungsrahmen ist der einer spezifischen Musikkultur. Sie reproduzieren, mehr oder weniger stark, bestimmte Abgrenzungen gegenüber massenkulturellen Szenen und bilden eigene Infrastrukturen an Labels, Clubdiscos und Vertrieben in eigenen Wertschöpfungsketten aus – die Szenewirtschaft. Ihr subkultureller Fluchtpunkt besteht in einer Utopie, in der es idealerweise nur um die Musik und die Feierei an sich geht, unab-
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hängig von jeder gewinn- oder massenmarktbasierten Orientierung und Einschränkung. Massenkulturelle Szenen hingegen agieren wesentlich nachfrage- und kapitalorientierter: Die Produktion der Inhalte geschieht durch szeneferne Akteure der Musikindustrie und ist ausgelegt auf eine möglichst große und beliebige Zielgruppe, orientiert sich nicht länger an einer spezifischen Musikkultur, sondern re-kombiniert verschiedene Musikkulturen entsprechend ihrer potenziellen Reichweite (Dance-Pop). Ihr massenkultureller Fluchtpunkt besteht aus einer Erfolgsdefinition, die sich primär über Verkaufszahlen und hohe Akzeptanz legitimiert. Gut ist, was möglichst viele Menschen mögen und kaufen. Subkulturelle Abgrenzungen spielen keine Rolle und werden als „snobistisch“ oder „elitär“ abgewertet, und die Infrastrukturen wandeln sich hin zu denen der allgemeinen Kulturindustrie: Radio, Discotheken, Konzerte, Charts oder TV-Auftritte. Unterschiedliche Produktionssphären innerhalb von Musikkulturen sowie ihre flüssigen Übergänge und Interdependenzen lassen sich mit diesem Modell verstehen, von den Wirtschaftsstrukturen kleinteiliger subkultureller Szenen hin zu den massenkulturellen Szenen mit kulturindustrieller Produktionsweise.
K OMMERZ , M ASSE
UND
AUSVERKAUF
Während meiner langjährigen Szeneteilnahme als DJ, Booker und WebTVProduzent im subkulturellen Pol der Berliner Musikszene rund um House/Techno (als DJ Fresh Meat vom Berlin Mitte Institut für Bessere Elektronische Musik), und zusätzlich über zahlreiche Experteninterviews mit Labelbetreibern, Veranstaltern sowie PR- und Booking-Agenturen im Rahmen meiner Dissertation und Diplomarbeit (Kühn 2009), erhob und systematisierte ich drei Distinktionen: Kommerz, Ausverkauf und Masse. Diese punktuellen subkulturellen Orientierungen sind grundlegende Wissensstrukturen des Feldes und werden von vielen Akteuren in unterschiedlicher Intensität und Gleichzeitigkeit reproduziert und angeführt. Als Hintergrundstrukturen werden sie trotz grundsätzlicher Wirksamkeit nicht ständig thematisiert, treten aber immer wieder auf z. B. wenn Veranstalter DJs buchen möchten und diese bzw. deren Musik bewerten. Mit der derzeit zunehmenden Popularisierung von massenkulturell orientierter ETM (Dance-Pop, diese Musik wird derzeit von der Musikindustrie wiederent-
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deckt) werden diese Abgrenzungen darüber hinaus in, zum Beispiel, zahlreichen Blogs und sozialen Netzwerken und auch alltäglichen Gesprächen zwischen Fans und Szeneakteuren vermehrt geäußert. Viele subkulturelle Akteure haben ein tiefgehendes Bedürfnis danach, keinesfalls mit der Erlebnisästhetik der neuen Großveranstaltungen, ihrer Musik und Stars in Zusammenhang gebracht zu werden. Abbildung 1: Alexander Ardelean/DJ 100Tons
Mit punktueller Orientierung ist gemeint, dass die Szeneakteure keine gesellschaftliche Gesamtkritik formulieren oder gar eine Gegenkultur ausbilden, sondern einzelne Distinktionen in einem bestimmten kulturellen Feld entwickeln und annehmen. Diese sind typischerweise übersteigerte und unpräzise Deutungen von Kulturindustrien, ihren Produkten, gesellschaftlichen Normalbiografien und karriereorientierten Berufslaufbahnen. Sie erlangen, und das wird häufig missverstanden, ihre Relevanz nicht als wirklichkeitsgetreue Tatsachenbeschreibung, sondern indem sie für die Akteure reale Handlungskonsequenzen bedeuten und damit soziale Tatsachen produzieren. Wer Musik von z. B. David Guetta oder DJ Tomcraft (s. Abb. 1) ablehnt, wird ähnliche nicht produzieren bzw. DJs buchen, die sie auflegen. Die Distinktionen führen insgesamt tendenziell zu kleinwirtschaftlichen Größen mit begrenzten Quantitäten, denn ein Massenmarkt wäre nur ohne ihre Selektionen erreichbar. Die Abgrenzungen beziehen sich typischerweise nur auf ihre spezifische Musikszene: Andere Produkte der Kulturindustrien, z. B. Hollywood-Filme oder Blockbuster-Videospiele, können präfe-
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rierte Konsumoptionen sein – und sind es oftmals auch. Ästhetische Subkulturen formieren sich um ausgewählte Ästhetiken eines bestimmten kulturellen Feldes; sie greifen nicht zwangsläufig mit ihren Abgrenzungen auf andere alltägliche Erlebnis- und Produktionsformen der Szeneakteure über. Eine Ablehnung von Kommerz unterstellt Gütern (Tracks, Partys, DJSets), dass ihre Ästhetik wesentlich durch die Maximierung von Profit oder das Erreichen großer Menschenmassen gekennzeichnet und damit unauthentisch (Thornton: „phoney“) sei. Bei Debatten um Kommerz geht es also nicht um tatsächlich ablaufende monetäre Prozesse in der Musikkultur wie Tür- oder Bareinnahmen, DJ-Gagen, Musikverkäufe oder Musiktechnik, sondern darum, wie mit Ästhetik umgegangen, in welchem Kontext sie produziert und verwertet wird. Diese Abgrenzung hat ihre Wurzeln in der Struktur der Szenewirtschaft und stabilisiert damit einen eigenen Modus der Involvierung in Kulturproduktion: Diese finde szenebasiert und nicht industriell statt. Ihre Akteure verstehen sich als Teilnehmende einer kleinteiligen Musikkultur, der sie leidenschaftlich angehören. Sie ermöglicht ihnen, in einem musikkulturellen Rahmen auf Basis persönlicher Vorstellungen Szeneteilnahme zu produzieren, Anerkennung zu gewinnen und ohne Ausrichtung an Massenästhetiken sich selbst zu verwirklichen. Authentizität besteht für sie dann, wenn künstlerische Aspekte relevanter sind als monetäre. Die Kulturindustrie fungiert für sie daher als idealisierte Negativfolie: Musik, deren Existenzkriterium wesentlich durch potenzielle Verkaufszahlen bestimmt sei, werde von musikkulturfernen Industrieakteuren mit Normalbiografien zum Zwecke der maximalen Gewinnerwirtschaftung gefördert und verbreitet. Der Vorwurf des Ausverkaufs behauptet als Abgrenzung eine Illegitimität von Akteuren, die nicht aus der kleinteiligen Musikszene stammen und eigene Beiträge auf Basis subkultureller Abgrenzungen einbringen, sondern die Musikkultur als einen zu maximierenden Absatz- oder Werbe-Markt für ihre Produkte betrachten bzw. versuchen, den Verkauf von Produkten durch das Image einer subkulturell produzierten Authentizität auf den Massenmärkten zu fördern. Diesen Akteuren gehe es, so der Vorwurf, nicht um authentische Szeneteilnahme, sondern um szeneexterne Verwertung von subkulturellen Ästhetiken. Damit bereiten sie einer größeren und unselektierten Öffentlichkeit Zugang zu subkulturellen Ästhetiken und werten jene durch massenkompatiblere Adaptionen ab. Außerdem fließe oftmals keine bzw. keine gerechte monetäre Gegenleistung in den subkulturellen Pol der Mu-
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sikkultur zurück – das große Geld würden letztendlich nicht die Urheber einer bestimmten Ästhetik verdienen, sondern jene, die es für die Massen aufbereiten. Subkulturelle Ästhetiken verlassen den subkulturellen Pol, werden von kulturindustriellen Akteuren (in Kooperation mit vereinzelten, dadurch profitierenden Szeneakteuren) massenkompatibel angepasst und maximal verwertet. Kursieren diese Ästhetiken in der allgemeinen Öffentlichkeit, drohen den subkulturellen Akteuren außerdem identitäre Herausforderungen, da ihre Negativfolie wegbricht. Typischerweise zählen zu den Akteuren, denen Ausverkauf angelastet wird, Lifestyle-Marken, Akteure der Musikindustrie wie die Organisatoren der „b-parade“ oder auch Berliner Stadtpolitiker, welche die Clubdisco-Kultur als Standort- und Wirtschaftsfaktor vermarkten. Gleichzeitig aber ist Sponsoring und Kooperation mit externen Akteuren ein fester Bestandteil der Clubdisco-Kultur, da Innenausstattungen oftmals durch große Getränkehersteller finanziert werden. Die Werbebotschaften werden als Reaktion auf Abgrenzungen allerdings eher dezent in Szene gesetzt, Kooperationen mit Sponsoren werden auf Basis persönlicher Präferenzen (und damit auch sozialstrukturellen Hintergründen) gezielt gesucht und auf ästhetische Kompatibilität hin überprüft. Werden die Sponsoren jedoch zu stark in die Außendarstellung involviert, nehmen die distinktiven Bemühungen gegenüber dem Veranstalter zu. Die Abgrenzung gegenüber der Masse definieren Szeneakteure als eine Präferenz fürs Familiäre (nicht zu verwechseln mit „Familie“): Dies ist eine gefühlte und positiv bewertete Atmosphäre auf Veranstaltungen, welche in der Wahrnehmung der Akteure gesteigerte persönliche Beziehungserlebnisse schafft. Als wesentlicher Bestandteil von Clubdisco-Erlebnissen werden Publika präferiert, die über ähnliche Interessen und anschlussfähige soziale Hintergründe (Milieus, Schichten, Alter, symbolische und kulturelle Kapitalien) tendenziell homogene Menschenversammlungen ausbilden, langjährige Teilnehmer der subkulturellen Musikkultur sind und deren Freundeskreise einander potenziell anschließen können. Geteilte Präferenzen und ästhetisch induzierte Erlebnisse von Emotionalität und Freiheit produzieren eine anregende, geteilte Gemeinsamkeit. So bezeichnen sich oftmals auch Labels mit ihrem Personal und ihren Musikproduzenten, Club-Personal oder ganze Booking-Agenturen als Family. Discotheken und Volksfeste sind der erklärte Gegenentwurf zum Familiären der Clubdisco: Beliebige und undefinierte Menschenmassen, ob jung oder alt, tanzen zu populären Stücken der Musikindustrie aus Radio, Fernsehen und Charts,
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dem „Besten der 70er, 80er und 90er“. Die Ähnlichkeit der sozialstrukturellen Hintergründe ist förderlich für das Clubdisco-Erlebnis: Mit gleichgesinnten Menschen können Veranstalter und Gäste im Rahmen der Clubdisco zeitlich ausgedehnt genießen, sich öffnen und anregende Gespräche führen. Diese Form der Gemeinsamkeit wird getragen durch Veranstaltungen zwischen typischerweise 150 bis 2000 Personen, in denen sich der familiäre Charakter aufgrund von Publikumsselektion und realisierbaren ästhetischen Selektionen von Veranstaltern und Bookern potenziell eher entfalten kann als auf Großveranstaltungen, welche allein aus ökonomischen Gründen ein Massenpublikum mobilisieren müssen und dementsprechend weniger selektiv konzipiert sind. Szenen und die sozial ungleiche Gesellschaft Während sich die gerade beschriebenen Formen von Distinktionen wesentlich um die Abgrenzung zum heteronomen Pol bemühen und als erste Konfliktlinie innerhalb einer Musikkultur verstanden werden kann, lässt sich noch eine zweite Konfliktlinie identifizieren. Da post-traditionale Gesellungsformen aufgrund ihres offenen, fluiden und damit sanktionslosem Charakters quer zur Sozialstruktur liegen, die Sozialstruktur selbst aber durch viele Formen von Ungleichheit wie Bildung, Vermögen, Alter oder Geschlecht geprägt ist, wirken diese Ungleichheiten, vermittelt über Schichten und soziale Milieus, in die Szenepraxis zurück und äußern sich dort ihrerseits in schicht- und milieuspezifischer Produktion und Reproduktion von Musikkultur. Die grundsätzlichen Einsichten der Subkultur-Theorie bezüglich der sozialstrukturellen Verbundenheit von kulturellen Praxen und sozialer Herkunft wurden durch die post-traditionale Szenetheorie zu früh verworfen (vgl. Shildrick/MacDonald 2006; Böse 2005; Measham/ Hadfield 2009). Denn wie im Folgenden exemplarisch gezeigt wird, sind unterschiedliche Herkünfte der Szeneakteure keine irrelevanten Größen, sondern wesentliche Bestandteile von Abgrenzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und deshalb auch Teil der Dynamiken zwischen den Polen. Als große Fans von House & Techno bestimmt zwar grundsätzlich die Musikkultur den Rahmen des ästhetisch Gemeinsamen und Probaten. Gleichzeitig jedoch möchten Veranstalter Partys schaffen, auf die sie selbst auch gerne gehen würden, die ihnen und ihren Freunden und Bekannten familiäre Erlebnisse ermöglichen – und dafür spielt die Zusammensetzung des Publikums eine wesentliche Rolle. Bewertungsmaßstäbe für die
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Auswahl der Publikumszusammensetzung werden dabei durch die sozialen Hintergründe der Veranstalter geprägt und manifestieren sich in der Auswahl der DJs, Dekoration, über die Wahl der Promotionsmedien bis hin zu ihrer Durchsetzung durch die Türsteher am Eingang der Veranstaltung. Gunnar Otte (2006; 2007) stellte im Rahmen seiner Studie zum Nachtleben in Leipzig fest, dass sich Veranstaltungsmärkte „auf der Angebotsebene nach Musikgenres und Einrichtungsästhetiken unterscheiden lassen und in der sozialen Komposition ihrer Publika erheblich differieren können. Dabei findet man zum Teil ein Fortwirken schichtspezifischer Unterschiede, die sich alltagsästhetisch über mehrere Jahrzehnte zurückverfolgen lassen: Publika mit überwiegend niedrigen bis mittleren Bildungsabschlüssen, für die die Gesellungsfunktion des Clubkontextes von primärer Bedeutung ist und in denen das ‚Körperkapital‘ offensiv inszeniert wird, stehen Publika mit akademischem Niveau gegenüber, in denen dominant die Kultivierung musikbezogenen Szenekapitals stattfindet“ (Otte 2006). Meiner ethnografischen Einsicht nach tendieren Szeneakteure mit einem Hintergrund aus den Arbeitermilieus oder eher niedrigen Bildungsabschlüssen (kein Abitur) dazu, ETM für gesellschaftlichen Aufstieg jenseits subkultureller Hierarchien zu nutzen. Sie betrachten tendenziell auch Massenevents, Volksfeste und Discotheken als geeignete Orte zur Verfolgung dieses Zwecks und verfügen weniger über die Abgrenzungsambitionen der bildungsintensiven Milieus mit hohem vererbtem kulturellem Kapital (vgl. Rössel/Beckert-Zieglschmid 2002). Akteuren der Kulturindustrien (und auch Mediatoren zwischen Szenen und Industrie) kommen diese Motive entgegen, sodass sich produktive Kooperationen ergeben, die zwischen den unterschiedlichen Produktionssphären vermitteln. Akademiker, Studierende, Lebenskünstler, Medienarbeiter, linkspolitisierte großstädtische Akteure und andere hingegen sind eher Träger umfassender Abgrenzungen, die sie als mittelschichtbasierte Avantgarde sozialstrukturell tendenziell nach unten hin distinguieren. Sie sind sensibilisiert für (und vermutlich wesentliche Träger der) Unterschiede und Abgrenzungen zwischen den beiden Polen des kulturellen Feldes. Die Relevanz der sozialstrukturellen Hintergründe macht die Logiken der Clubdisco-Erlebnisse für die meisten schwer verständlich, damit leicht verrucht, obskur – und gleichzeitig auch wieder attraktiv „undergroundig“: Nicht jeder darf teilnehmen, bis auf die Auserwählten, welche durch die Türsteher nach oberflächlicher Überprüfung für die Teilnahme an der Party
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zugelassen wurden. Wem Einlass gewährt wird, der erfährt eine persönliche Aufwertung und Bestätigung, während anderen aus kaum objektivierbaren Gründen der Zutritt verwehrt wird. Da soziale Ungleichheit im Laufe der Individualisierung an lebenspraktischer Relevanz verloren (Beck 1986; Hitzler 2001), nicht jedoch ihren Einfluss auf gesellschaftliche Chancenverteilung und kulturelle Formen eingebüßt hat, relativieren die Akteure die Wirksamkeit solcher Größen im praktischen Vollzug des Szenealltags bzw. lassen sie ganz außer Acht ohne jedoch die Distinktionen selbst abzuschaffen. Diese werden gerade von bildungsintensiven Milieus benötigt, um die ästhetische Teilnahme an der Szene zu ermöglichen. Die sozialstrukturellen Unterschiede werden aber als praktische Erlebnisprobleme reflektiert und in die Szenepraxis übersetzt. Durch regen Austausch und Veranstaltungsbesuche zirkuliert Wissen über die Hintergründe von Orten und Publika. Fans und Szeneakteure wissen: Im „Weekend“ oder „Cookies“ gehe es gesetzter und schicker zu, ins „Watergate“ dagegen gingen viele Touristen und andere Szenefremde; kleine Kreuzberger Off-Locations seien voll mit Hipstern, im „Sisyphos“ und „Hanger“ träfen sich die alternativen Milieus, und im „Skyclub“, „M-Bia“ oder auf „Ostfunk-Partys“ fänden sich mehrheitlich untere Schichten ein. Die Clubdisco-Veranstaltung Nachdem die theoretischen Grundlagen erörtert wurden, wird am Beispiel von Clubdisco-Veranstaltungen dargestellt, wie sich die Distinktionen in szenewirtschaftliche Praxis übersetzen. Statt des „Clubs“ präferiere ich die Wortschöpfung Clubdisco, denn der Club-Begriff ist selbst bereits ein distinktiver Begriff des Feldes zur Abgrenzung gegenüber Discotheken. Gleichzeitig bezeichnen sich Discotheken gerne als Clubs, um von deren subkulturellem Kapital zu profitieren. Außerdem sind Clubdisco-Veranstaltungen keine klassischen Clubs mit verbrieften Mitgliedschaften, regelmäßigen Mitgliedsbeiträgen und tradierten Aufnahme-Ritualen, sondern richten sich gezielt an anonyme und unkontrollierte, aber milieuspezifische Öffentlichkeiten und offerieren standardisierte Konsumangebote einer bestimmten Musikkultur an oftmals szeneferne und amüsierungswillige Publika – eine Verbindung aus Exklusion, Selektivität und marktorientierter Teilöffentlichkeit. Veranstalter produzieren diese Partys als Teil einer spezifischen Musikszene. Viele professionalisieren ihre Szeneteilnahme und verbinden diese
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mit einer Erwerbsorientierung erwerbliches Handeln sehen sie jedoch nicht als Gewinnmaximierung an, sondern als Auskommen. Sie verbinden die Generierung von ausreichend Einnahmen mit erwerblicher Unabhängigkeit, künstlerischer Freiheit und Leidenschaft zur Musik. In ihrer Szenearbeit balancieren sie ästhetische, subkulturelle und erwerbliche Handlungsorientierungen im Rahmen ihrer präferierten Musikkultur. Die kleingewerbliche und hochgradig prekäre Struktur fördert diese Orientierungen, da sie den Einzelnen weniger Sachzwänge aufbürdet als wenn sie in große Organisationen mit höheren Kosten eingebunden wären (Kühn 2011). Clubdisco-Veranstaltungen umfassen erstens eine funktionale Dimension in der Reproduktion typischer Strukturmuster und erfüllen damit institutionalisierte Erwartungshaltungen (z. B. eine sehr leistungsfähige Musikanlage, Tanzfläche mit DJ-Pult, DJs die House/Techno mischen, Barausschank, selektierte Publika, typische Abläufe und Verhaltensregeln, usw.). Zweitens geht es um die Produktion von Differenz als ästhetische Pointe: Durch abweichende Dekorationen, das Aufgebot an DJs, die Wahl alternativer Veranstaltungsorte oder verführerischer Veranstaltungsnamen sollen Publika angesprochen werden. Nicht aber die Produktion von Originalität oder Neuheit ist die Produktionsnorm, sondern typische Clubdisco-Erlebnisse in den etablierten verführerischen Ästhetiken des subkulturellen Pols der Musikkultur, die eine ausgelassene, erlebnisorientierte Unterhaltung versprechen. Drittens sind sie eine Melange aus Musikkultur, Socialising, Getränke- und Drogenkonsum, Tanz, Flirt, Erotik (vgl. Werner 2001) und der Ästhetik einer mit möglichst vielen Personen gefüllten Veranstaltung. Im Zentrum der zahlreichen Entscheidungsprozesse stehen die persönlichen ästhetischen Präferenzen und distinktiven Haltungen der Veranstalter – aus ihnen entsteht ein Veranstaltungsimage. Publika formieren sich um die als Reihen produzierten Veranstaltungen und schätzen ihre distinktiven Eigenschaften. Typischerweise sind Veranstalter selbst zuerst Szenegänger und Musikfans gewesen, die sich an Veranstaltungen anderer erfreut haben. Die nächste und intensivere Form der Szenezugehörigkeit, die Szenewirtschaft, wird durch eigene Aktivität erreicht: selbst DJ werden, Musik produzieren, Agenturen gründen oder Partys veranstalten. Viele Hobby-DJs werden Veranstalter, weil sie als DJ nicht gebucht werden, aber gerne auflegen möchten und erst durch eigene Veranstaltungen Zugang zu den Netzwerken der Szenewirtschaft erhalten. Der typische Akteur der Szenewirtschaft zeichnet sich also durch seine multiplen Unternehmertätigkeiten als
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Culturepreneur (Lange 2007) aus. Das notwendige Wissen wird in der Regel autodidaktisch durch Szeneteilnahme erworben: Anhand von leicht zugänglichen Technologien wie Computern, Software, Internet und Telefon lassen sich alle notwendigen Abläufe organisieren. Zu den wesentlichen Arbeitsschritten des Veranstaltens gehören DJBooking, Party-Promotion und Publikumsselektion. DJ-Booking ist das Einkaufen von DJs für ein bestimmtes Datum einer Veranstaltung, damit diese gegen Bezahlung DJ-Sets von typischerweise zwei bis fünf Stunden Länge darbieten. Durch ihren musikalischen Stil und eigene Veröffentlichungen sammeln sie Popularitätskapital und schaffen Öffentlichkeiten von Musikfans und Szeneakteuren, welche daraufhin in Clubdiscos gehen, um sie dort spielen zu sehen. Damit sind DJs das wesentliche Marketing-Tool von Veranstaltern. Promotion ist das Bewerben von Veranstaltungen über ausgewählte Medien (z. B. Social-Media-Plattformen, Internetforen, Blogs, Szenemagazine, Stadtmagazine, Flyer), um milieuspezifische Öffentlichkeiten zum Veranstaltungsbesuch zu animieren. Publikumsselektion ist der Prozess der Auswahl an Personen, welche Veranstalter als zuträglich für ihre Clubdisco-Erlebnisse wahrnehmen. Sie geschieht einerseits, und in dieser Weise besonders bekannt und gegenwärtig, durch Türsteher am Abend der Veranstaltung selbst. Andererseits, deutlich subtiler, versuchen Veranstalter, die Formation an Öffentlichkeiten, die sich potenziell für ihre Veranstaltung interessieren, bereits durch Werbung in ausgewählten Medien oder der Auswahl an DJs vorzuselektieren. Typischerweise stehen Veranstalter vor zwei Handlungsproblemen. Erstens müssen sie ausreichend Besucher auf ihre Veranstaltungen locken, damit die Kosten gedeckt, Gewinne erwirtschaftet und die von der gehobenen Füllrate mit Menschen abhängige Clubdisco-Erlebnisse sichergestellt werden – denn schlecht besuchte Veranstaltungen haben für das Image der Veranstalter fatale Konsequenzen. In Berlin geschieht dies vor dem Hintergrund derzeit schnell wachsender und daher wettbewerbsintensiver subkultureller Veranstaltungsmärkte. Zweitens hat die Clubdisco-Kultur einen immanenten Modecharakter und ist damit fortwährendem Wandel unterworfen. Ästhetiken wie Veranstaltungsorte oder Inneneinrichtungen sind rasch überholt und müssen durch andere ersetzt werden, um zum Besuch zu animieren. Wandel heißt nicht, dass Veränderungen originell sein müssen. Oftmals reichen schon stereotype Abwandlungen in bewährten Maßnahmen: Veranstalter buchen
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bekanntere DJs, Veranstaltungsorte werden umgebaut, aufwändigere Lichtkonzepte, Musikanlagen und Dekorationen integriert oder ungezieltere Promotion betrieben, um mehr Menschen zu erreichen. Dieser Verlauf ist für Clubdisco-Veranstaltungen paradigmatisch. Nach erfolgreicher Etablierung setzt auf Seiten des Publikums innerhalb kurzer Zeit Desinteresse ein und führt zu rückläufigen Besucherzahlen. Eine zentrale Herausforderung für Akteure der Szenewirtschaft ist es somit, ihre subkulturelle Ästhetik und Szenezugehörigkeit zu bewahren und sich gleichzeitig stärker zu professionalisieren und kommerzialisieren. Eine leichte Wanderung zwischen den Polen in Richtung des Heteronomen wird für viele Akteure der Szenewirtschaft zu einer organisationalen Überlebensnotwendigkeit – ohne dabei jedoch ihre Orientierung an kleinwirtschaftlichen Produktionsweisen und subkulturellen Ästhetiken aufzugeben. Die Relevanz von Distinktionen fürs Veranstalten Die Effekte der Distinktionen auf das wirtschaftliche Handeln der Veranstalter sind umfassend. Ihre szenebasierte Zugehörigkeit zum subkulturellen Pol einer Musikkultur markiert den Orientierungsrahmen, in welchem die Veranstalter ästhetische Strukturen musikalisch und technisch realisieren. Entsprechend übertragen sie die genannten, mehr oder weniger stark reproduzierten Abgrenzungen auf ihre Veranstaltungspraxis. Ist eine Veranstaltungsreihe erfolgreich, schätzen die Publika beispielsweise die Selektionen des Veranstalters. Werden die Selektionskriterien im Laufe der Zeit geändert oder ändern sich diese zwangsläufig wegen des immanenten Modecharakters, so missbilligen Stammgäste dies mit Kommentaren über die qualitativ sinkende Zusammensetzung der Publika und bleiben den Veranstaltungen fern. Die subkulturellen Orientierungen der Veranstalter durchziehen aber alle Schritte und Segmente der Veranstaltungsorganisation. Beispielsweise müssen DJs ihnen einerseits persönlich gefallen, anderseits müssen sie Kriterien erfüllen, welche auch ihr typisches Publikum als interessant und passend bewertet. Sie kennen sich aber auch nicht immer mit den aktuellen Entwicklungen aus bzw. besitzen keine Kontakte zu bestimmten DJs. Dafür haben Clubdiscotheken Booker, deren wesentliche subkulturelle Kompetenz darin besteht, aktuelle DJs und ihre Musik zu kennen und auf deren Kompatibilität mit dem Image der Clubdisco und ihres eigenen Geschmackes zu überprüfen und mit ihnen schließlich zwei bis drei Nächte pro Woche zu
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gestalten. ETM jenseits des subkulturellen Pols ist tabu. Das Spielen der Musik von David Guetta, DJ Tiesto oder Paul van Dyk etwa passt nicht mehr in die Ästhetiken der Clubdisco-Kultur. Gleichzeitig gibt es aber vielfältige und flüssige ästhetische Spielräume und damit unterschiedliche Publika und Selektionsräume innerhalb des subkulturellen Pols – und somit auch immer unterschiedliche Meinungen darüber, welche ästhetischen Formen nun tatsächlich passen oder nicht. Da DJs um sich und ihre Arbeit Öffentlichkeiten formieren (Popularitätskapital) und diese ein wesentliches Marketing-Tool der Veranstalter sind, spielt ihre sozialstrukturelle Herkunft, zumindest für lokale Events in Berlin, eine große Rolle. Denn schließlich sollen viele Fans des DJs wegen die Veranstaltung besuchen. Veranstalter und DJs, und damit deren Publika, müssen untereinander anschlussfähige soziale Hintergründe haben, damit die gewünschten Clubdisco-Erlebnisse realisiert werden können. Veranstalter und Booker generieren ein Wissen darüber, welchen Milieus DJs entstammen und wägen entsprechend ab, ob ein Booking zustande kommt oder nicht. Dies erkennen sie an der Art, wie DJs sich selbst präsentieren, was für Musik sie machen und in welchen Clubdiscos sie üblicherweise spielen. Oftmals reicht den Veranstaltern schon die Interpretation eines Promotion-Fotos, um Rückschlüsse auf soziale Hintergründe zu ziehen. Für DJs, welche in den Clubdiscos mit hohem subkulturellem Kapital auflegen möchten, ergibt sich damit das Problem, dass sie nicht überall spielen sollten. Booker recherchieren, wo DJs sonst auflegen und interpolieren daraus, welche Öffentlichkeiten sie ansprechen. Wer oft auf Events spielt, die eher von Arbeitermilieus besucht werden, hat es entsprechend schwerer, in angesagte Clubdiscos zu kommen, in denen bildungsintensive Milieus mit hohem subkulturellem Kapital verwurzelt sind. Auch für die Promotion ihrer Events nutzen Veranstalter gezielt bestimmte Medien, deren jeweilige Öffentlichkeiten sie ebenfalls für ihre Vorstellungen als anschlussfähig erachten. Promotion ist eine zwiespältige Sache: Einerseits müssen ausreichend Publika angelockt werden, anderseits ist gerade die Zusammensetzung der Publika Teil der Clubdisco-Erlebnisse – und die Besucher selbst Teil des Produktes „Party“. Veranstalter möchten daher bestimmte, zu ihnen kompatible Milieus ansprechen, aber nicht die „breite Masse“. Darunter verstehen sie Publikumszusammensetzungen, welche unselektiert, unmusikalisch, konsumistisch und mit wenig subkulturellem Kapital ausgestattet sind. Veranstalter haben aus eigener Er-
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fahrung und den Erzählungen anderer ein Wissen darüber, welche Medien tendenziell durch welche Bevölkerungsgruppen gelesen werden und gehen entsprechend bei der Medienauswahl für ihre Werbekampagnen selektiv vor. Gerade von den bildungsintensiven Milieus werden Medien abgelehnt, die wenig musikkulturaffin große Bevölkerungsmassen ansprechen, z. B. Boulevard-Tageszeitungen wie die „Bild“. Bei kleineren Stadtmagazinen variieren die Ansichten. Für manche sind Magazine wie „030“ oder „Zitty“ noch akzeptable Öffentlichkeiten, für andere gelten diese schon als problematisch. Tendenziell jedoch werden auch diese Zeitschriften benutzt, aufgrund ihrer hohen Leserzahlen nicht zuletzt vor allem dann, wenn die Besucherzahlen abnehmen. Auch bei Magazinen wie „Partysan“ oder „Milaro“, die durch Szeneakteure selbst herausgegeben werden, wird differenziert: Viele Veranstalter geben dort keine Anzeigen auf bzw. möchten bewusst nicht gelistet werden, da sie zu viele Leser aus unerwünschten Milieus vermuten. Ein weiteres und immer zentraleres Werbemedium sind Social-Media-Plattformen, Internetblogs, Foren und Onlinemagazine vor allem „Facebook“-Events und „Resident Advisor“. Gerade Facebook-Events werden genutzt, da sie nach dem Mundpropaganda-Prinzip funktionieren und Veranstalter ihr Facebook-Netzwerk immer wieder, z. B. durch Einladungen oder Status-Aktualisierungen, auf ihre Veranstaltungen aufmerksam machen können. Gleichzeitig kritisieren Akteure mit starken subkulturellen Ambitionen die damit entstehenden Reichweitemöglichkeiten und zunehmende Unselektivität. Bewusst kein Facebook-Event für seine Veranstaltung zu erstellen, wird von manchen daher als subkulturelles Statement mit hohem potenziellem Erlebnisgehalt betrachtet. Ein wesentlicher Teil der Produktion familiärer Clubdisco-Erlebnisse ist die Publikumsselektion an der Eingangstür. Deren Struktur ist nicht willkürlich, sondern eingebettet in die sozialen Hintergründe der Veranstalter und damit auch in die Erwartungshaltungen der Stammpublika und einige klassische Regeln des Nachtlebens: keine Männergruppen, nicht zu stark alkoholisiert, nicht zu aggressiv, nicht unter 18 (bzw. 21). Distinktionen, die sonst etwa durch Promotion-, Musik oder DJ-Auswahl im Hintergrund ablaufen, müssen nun, insofern sie nicht für genügend Vorselektion gesorgt haben, über Türsteher (auch „Selekteure“ genannt) am Eingang durchgesetzt werden. Diese bekommen Anweisungen von Veranstaltern anhand bestimmter Merkmale von Gästen in der Warteschlange (z. B. Textilien von bestimmten Marken, spezifische Verhaltensweisen, Symbole oder Alter)
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sozialstrukturelle Hintergründe zu deuten. Diese Hinweise lassen sich umgehen, indem erfahrene Selekteure aus dem Szene- und Freundeskreis der Veranstalter engagiert werden. Denn diese besitzen ähnliche Hintergründe und Präferenzen, sonst wären sie nicht bereits so lange befreundet. Somit entfallen unangenehme Explikationen der typischen pejorativen Begriffe („Prolls“, „Hipster“, „Asis“, „Schicki-Micki“, „Bravo-Leser“, usw.). Abgewiesenen Gästen wird oftmals gesagt, dass sie keinen Spaß haben würden oder falsch gekleidet seien. Selten verstehen diese, was wirklich gemeint ist. So entgegnen die Abgelehnten, dass sie sich umziehen gehen – aber bekommen trotzdem keinen Einlass gewährt. Abgrenzungen aufgrund vermuteter sozialstruktureller Merkmale, welche sich nur symbolisch in Verhaltensweisen und Textilien zeigen, sind nur schwer vermittelbar – vermutlich, weil sie in Widerspruch zu multikulturellen und demokratischen Idealen stehen, die sonst gesellschaftlich gefordert und erwartet werden. Distinktionen sind damit eine stabilisierende Verarbeitungsform, um mit den entkoppelten Widersprüchen aus Realität und Erwartung in der spätmodernen Gesellschaft umzugehen.
S CHLUSS Im Artikel wurde an den Arbeitspraxen des Veranstaltens exemplarisch demonstriert, welche zentrale Relevanz Distinktionen für die Produktion subkulturell orientierter Partys ETM besitzen. Die skizzierte Perspektive einer subkulturellen Szene (oder auch ästhetischen Subkultur) plädiert dafür, im Rahmen von Untersuchungen zur sogenannten Kreativ- und Kulturwirtschaft bzw. Musikindustrie grundsätzliche Eigenschaften kultureller Felder, Effekte von Distinktionen und sozialen Ungleichheiten zu berücksichtigen – und ist verwurzelt in einer soziologischen Analyse struktureller Eigenschaften ästhetisch basierter Formen von Vergemeinschaftung in der kapitalistischen Spätmoderne. Am Beispiel elektronischer Tanzmusik lässt sich zeigen, dass die Berücksichtigung der Merkmale kultureller Felder nötig ist, um die Spezifika der kulturellen Wertschöpfung, und damit auch ihre wirtschaftliche Wertschöpfung, in ihren Dynamiken und ihrer Attraktivität verstehen und erklären zu können. Statische Modelle (Hesmondhalgh 2006), die klassische Branchenstrukturen verallgemeinern und eine entsubkulturalisierte wirtschaftliche Aktivität im breiteren Kontext von Industrie-
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formen mit Nischen ansiedeln, schaffen es nicht, den Kern kultureller Verführungskraft urbaner Clubdiscotheken und Musikszenen und damit die Grundlagen ihrer Reproduktion zu erfassen.
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Interview Alex Ardelean/100Tons, DJ
Alexander Ardelean a.k.a. 100Tons hat seit seiner frühesten Kindheit seitens seines Elternhauses eine klassische Musikausbildung verabreicht bekommen, brach aber in seinen Teenagerjahren in Richtung Rock und Metal aus. Nachdem er 1998 nach Berlin zog, der Stadt, die ihn zum Auflegen zwang, landete er über die Umwege Indie, Britpop, Bastardpop und Nu Skool Breakbeat bei seinem heutigen Techno- und House-Repertoire. Seit 2005 ist er Booker und Resident im Golden Gate Club Berlin. Seit 2012 ist er beruflich nach Zürich gezogen, was ihn aber nicht davon abhält, weiterhin mindestens einmal im Monat im punkigsten aller elektronischen Clubs der Stadt aufzutauchen. Er muss nicht von der Musik leben und will es eigentlich auch gar nicht, da es ansonsten für ihn den Zauber verlieren würde, wie er selbst sagt.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Musik höre ich sehr selektiv. Ich informiere mich in Blogs, lasse mich von anderen DJ-Sets inspirieren, verfolge bestimmte Künstler und Labels, gehe auf genrefremde Partys, lese das Publikum, schnappe Neues auf, packe es zusammen und am Ende kommt immer: aussortieren, aussortieren, aussortieren. Ich kann nicht passiv zuhören, ich muss relativ aktiv mit Musik umgehen, sie auflegen, sie manipulieren, sie remixen, versuchen, welche zu produzieren, mich ans Klavier setzen, mit den Fingern dazu trommeln, etc. Dass ich wenig bis gar nicht fernsehe und Pop aus meinem Leben so gut wie ausblende, merke ich besonders, wenn ich mal wieder einen Mietwagen ohne AUX-IN an der Backe habe. Dann holt mich das sogenannte „Adult Contemporary Radio“ (ja, so heißt das 08/15 Hörfunkformat der westlichen Welt wirklich!) mit einem Schlag in die zeitgenössische Popwelt. 95 Prozent davon empfinde ich als Beleidigung für meine Ohren, und je nach Gemütszustand nehme ich diese Beleidigung auch persönlich, was sich wiederum negativ auf meinen Fahrstil auswirkt.
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Die Zeit, in der ich nach Hause gekommen bin und eine LP oder CD auf- bzw. einlege, um zu entspannen, ist vorbei. Musik höre ich zu 80 Prozent, wenn ich unterwegs bin, und das bin ich viel. Zuhause wurde alles radikal bereinigt: LPs sind aus meinem Zimmer verbannt, CDs auch, Boxentürme sowieso. Die Musik liegt auf dem Rechner oder im iPhone und wird per AirPlay auf meine kleine B&W A5 gestreamt. Physische Kontrolle über die Dateien zu haben ist mir aber extrem wichtig. Die ganzen Cloudlösungen schön und gut, aber ich trau ތdem Braten noch nicht, da ich beim Auflegen auf Programme wie Rekordbox angewiesen bin, die sehr empfindlich auf die Verschiebung von Dateipfaden reagieren. Aber vielleicht habe ich schon morgen dazu eine andere Meinung, denn möglicherweise gibt es dazu ja schon eine andere Lösung, wenn dieser Text abgedruckt ist, das geht ja alles sehr schnell heutzutage.
Wo erwarten sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Es gibt aktuell eine ziemlich erfolgreiche Wertschöpfungskette: Die GEMA. Leider scheint ihr Geschäftsmodell von Mafiafilmen inspiriert und in der Telefax-Realität von 1978 verwurzelt zu sein. Was wir dringend brauchen ist eine Möglichkeit, die allen Künstlern etwas vom GEMA-Kuchen abgibt und nicht nur ihren Topmitgliedern. Die bürokratischen Hürden und Nebelraketen, die die GEMA echten Reformen in den Weg legt, sind nicht auszuhalten. Wenn wir an diesen Topf herankommen könnten, würde es um viele der Musikproduzenten schon mal nicht ganz so schlecht stehen. Zur GEMA-Thematik wurde schon so viel geschrieben und gesagt, dass ich hier auch nicht weiter darauf eingehen möchte. Aber die Frage beinhaltete ja das Wort „neue“: Hier sehe ich eindeutig den bereits bestehenden Trend „durch Gigs verdienen“ weiter ausbaufähig, Pop macht es doch schon vor. Hinzu kommt die ganze neue Technik, Traktor, Ableton, Maschine, etc., die dazu führen wird, dass Musikproduzenten und DJs immer weniger Konserven abspielen, sondern die Musik live vor Ort kreieren. In einer Zeit, in der sich mit Verkaufen von einzelnen Kopien nur noch wenig Profit machen lässt, muss man auf neue Pferde setzen. Wie das Ganze genau aussieht, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht. Es wird aber mit größter Wahrscheinlichkeit keine 1:1-Substitution der vordigitalen Ära sein, auch wenn das manche Medienkonzerne gerne so hätten. Es wird einfach eine neue Ära beginnen, alte Wertschöpfungsmodelle werden ver-
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schwinden (wenn sie nicht schon längst tot sind) und neue werden dazukommen. Was viele vergessen: Die alte Wertschöpfungskette mit haptischen Tonträgern wie LP oder CD ist ja gerade mal ein paar Jahrzehnte alt.
Durch was werden diese ausgelöst? Zuerst kommt immer die Technik. Und wenn die Technik soweit ist, kommt die Phantasie der Menschen. Das Ganze ist eine ziemlich disruptive Kraft und sie funktioniert. Die technischen Möglichkeiten werden die Verdienstmöglichkeiten demokratisieren. Das mag jetzt sehr naiv klingen, aber es ist der Lauf der Geschichte: Im 19. Jahrhundert hat man ein ganzes Orchester gebraucht, um Musik zu machen, im 20. Jahrhundert nur noch eine Jazz- oder Bigband, nach dem Zweiten Weltkrieg genügte bereits eine vierköpfige Rockband, Punk lehrte uns, dass man nicht mehr als drei Akkorde können muss, Indie hat in den 90ern die Majors aufgemischt, Techno hat das Produzieren vom Studio ins Wohnzimmer verlegt, Social Media macht Vertriebe überflüssig, etc. Was ich damit sagen will: Musik hat es immer geschafft, sich vom Diktat des Establishments zu lösen und ich denke, die Zeit ist reif für eine durch Technik demokratisierte Wertschöpfungskette.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Zur Sache mit den Künstlern: Kritiker bemängeln, dass das langsame Verdrängen von Vinyl eine Schwemme an Beliebigkeit hervorgebracht habe, denn mit Traktor könne nun jeder Trottel Musik machen. Das sehe ich anders: Klar gibt es eine Schwemme von fragwürdiger Musik und Neukünstlern, aber gleichzeitig dreht sich auch das Rad der Zeit schneller als nie zuvor. Wer also am Ball bleiben will, muss sich mit der Materie zwangsläufig intensiv auseinandersetzen oder er ist weg vom Fenster. Meiner Meinung nach sind die Einstiegshürden zwar gesenkt worden, allerdings ist die Arbeit, die es braucht, erfolgreich zu sein, geblieben. Ohne Ernsthaftigkeit und Fokussierung wird man es auch im digitalen Zeitalter nicht weit bringen. Der Wannabe-DJ verliert meistens schnell die Lust, wenn er sieht, wie viel Arbeit hinter dem Ganzen steckt. Und die Labels: Labels waren früher ein Geldpool, der es fertiggebracht hat, Platten zu finanzieren und herauszubringen. Aufgrund dieser Fähigkeiten wurden Labels zu Leuchttürmen, was den Musikgeschmack angeht, den sie repräsentieren. Dieser zweite, dem Konsumenten sichtbarere Aspekt ist
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geblieben, denn in Zukunft wird es nicht mehr darum gehen, 25.000 Mark an ein Presswerk zu überweisen und die haptischen Ergebnisse dem Vertrieb und den Radioleuten unterzujubeln. Social Media tritt seinen Siegeszug an und ist noch lange nicht am Ende. Labels müssen für sich eine neue Rolle in dieser Welt finden oder sie werden untergehen. Vielen Technoakteuren dienen ihre Labels aktuell der Selbstvermarktung, das meiste dürfte keinen Gewinn abwerfen, sondern wird offen als Marketingtool angesehen. Kann sein, dass das reicht. Dann wären die Labels wirklich nur noch so etwas wie ein mit bestimmten Emotionen und Assoziationen aufgeladener Markenname, der für eine bestimmte Qualität von Musik steht. Ich bin gespannt, ob das reicht.
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Früher habe ich eher UK-Sound aufgelegt, ein Flug nach London brachte mir also vier Wochen „Vorsprung“ im Plattenkoffer. Seit der Digitalisierung ist das anders: Aufgrund von sozialen Medien sind die Tracks sofort und überall erhältlich, was für den einzelnen Künstler erst einmal ein Vorteil wäre. Umso wichtiger ist es deshalb, dass es in Zukunft brauchbare Wertschöpfungsketten für Musik gibt, ansonsten werden grenzenlose Vorteile von Social Media wie das Nicht-Vorhandensein von Oligopolen oder die niedrige Einstiegshürde schnell von den Nachteilen aufgefressen. Zum Thema Regionen ist Berlin das beste Beispiel: Die Anzahl der Partys, der Venues und der Crews haben exponentiell zugenommen in den letzten fünf Jahren. Und das fällt einem von außen sogar mehr auf als wenn man in der Stadt selbst wohnt. Beispiel: In Städten wie Zürich schreibt die Boulevardpresse über Clubs wie das Kaufleuten (das Pendant dazu in Berlin wäre vielleicht das Felix, ein in der Undergroundszene eher belächelter Club). In Berlin jedoch schreibt die BZ über das Berghain. Jeder in der Stadt weiß, was da drin abgeht und wie es da aussehen soll, obwohl nur ein Bruchteil der Leute drin war. Berlin hat es geschafft, den Underground für sich zum Mainstream zu machen. Das ist so gesehen einmalig auf der Welt und spiegelt sich im aktuellen Tourismusansturm wider. Die Wertschöpfung findet hier bereits statt, und sei es, dass DJs, die mit Berlin oder bestimmten Clubs aus Berlin in Verbindung gebracht werden, weltweit mehr Ansehen genießen und bessere Gagen verlangen können. Geben diese
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Künstler beim Auftritt wiederum eine gute Visitenkarte ab, wirkt sich das auch positiv auf die steigenden Besucherzahlen der Stadt aus.
Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Sagen wirތs mal so: Sie sollten lieber nichts machen, und das meine ich ernst. Bitte, bitte nicht den Aufkleber „Coole Musikstadt“ in Auftrag geben, aber genauso wenig nicht aktiv dazu beitragen, dass Räume, in denen Underground-Musikkultur stattfinden kann, plattgemacht werden. Das Ganze ist ein wilder Garten, der nur so seinen Reiz hat, wie er gerade ist. Ihn zuzubetonieren macht ihn genauso kaputt wie der Versuch, ihn düngen oder das Wachsen der Pflänzchen in Bahnen lenken zu wollen. Vielleicht ernte ich damit ein paar Ohrfeigen, wenn ich sage, dass Geld nicht das Allheilmittel ist, aber eine aktiv subventionierte Musikkultur will glaube ich echt keiner haben. Dennoch schmerzt es mich, zu sehen, wie Millionen beispielsweise in so etwas wie die Elbphilharmonie gesteckt werden, für mich ein Ort, an dem das Establishment sich selbst und das Erbe längst verstorbener Künstler feiert, und zwar mit dem Geld aller Steuerzahler, im Zweifel auch von ein paar armen zeitgenössischen Künstlern, die gerade mal so über die Runden kommen. Es ist schon paradox, aber ich bleibe dabei: Geld an der falschen Stelle kann die Atmosphäre zerstören. Und eine aktive Werbekampagne dazu hätte beispielsweise Berlin gar nicht nötig. Das erledigt schon wie weiter oben beschrieben der Mikrokosmos an Künstlern, deren Musik, deren Publikum und die neuen Kommunikationskanäle.
Journalisten in der Musikwirtschaft De-Professionalisierung durch Algorithmen? Bastian Lange
W ER EMPFIEHLT EIGENTLICH ? E XPERTEN ODER T ECHNIKSYSTEME ? Der Bedeutungsverlust von Großkonzernen in der Musikwirtschaft, den sogenannten „Majors“, als dominante Einheit zur Herstellung von Wertschöpfungsprozessen geht einher mit dem gleichzeitigen Sinken der Bedeutung von wirkmächtigen Bewertungsinstanzen (Renner/Renner 2011) wie Radio, Hitparaden und anderen geschmacksorientierten Empfehlungssystemen. In jüngster Zeit erlangen viele Musikwebsites und digitale Shops mit SocialMedia-Funktionen den Status eines nicht mehr zentralistischen oder personalisierten, sondern eines netzbasierten kollaborativen Empfehlungssystems. Während Bewertungen durch Hitparaden und Charts anhand von Verkaufszahlen ermittelt werden, erfolgen Bewertungen in den SocialMedia-Netzwerken durch das Wissen einer bestimmten sozialen „Masse“, der Crowd. Aufgrund der exponentiell gestiegenen Menge verfügbarer akustischer Artefakte versprechen Bewertungssysteme generell eine Orientierung der Nutzer, die ihren individuellen Geschmacksbedürfnissen entgegenkommt; zugleich bereiten sie eine Hierarchisierung akustischer Artefakte resp. deren Produzenten, Musiker und Bands vor. Dabei kam lange Zeit traditionellen Musikkommunikatoren (Doehring 2011, S. 163) oder Musikempfehlern wie z. B. Musikjournalisten, Radiomoderatoren und weiteren professionellen Veranstaltern, Programmgestal-
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tern, Festivalleitern usw. eine Rolle als Boundary Spanner (Noble/ Jones 2006) oder Cultural Broker (Welz 1996) zu. Sie agierten als Scharniere, Selektierer, aber auch Kontextualisierer musikalischer Artefakte, die die Ergebnisse ihrer Arbeit einer Öffentlichkeit zur Verfügung stellten. Dagegen wächst jedoch die Zahl differenzierter digitaler Bewertungssysteme, die der professionellen Elite von Musikjournalisten, Radiomoderatoren, Veranstaltern und Clubprogrammgestaltern extreme Konkurrenz bereitet. Diese digitalen Bewertungssysteme – in den Anfangsjahren des Internets z. B. Online-Gästebücher, heute namenlose, aber allgegenwärtige OnlineBewertungstools – basieren zunächst auf Algorithmen und bereiten entlang von Sortier-, Bewertungs- und Selektionslogiken die Verbreitung und Akzeptanz von automatisch generierten Geschmacksempfehlungen vor. Dadurch ist eine breite Flut einer fast nicht mehr navigierbaren Bewertungsmasse musikalischer Artefakte entstanden, die die Majors und unabhängige Musiker vor unternehmerische Herausforderungen stellt, aber auch die Frage aufwirft, wie in diesem Grundrauschen musikalischer Artefakte Neues und Relevantes entdeckt werden kann. Dieses Moment bringt zum einen den Widerstreit zwischen auf kognitiven Fähigkeiten beruhender professioneller Expertise und dem wachsenden Einsatz von sozio-technischen Systemen zur Sortierung musikalischer Artefakte zum Ausdruck. Andererseits zeigt sich ein Ringen um die Frage, wer sich alles an der Bewertung von musikalischen Artefakten beteiligt. Dabei steht die Frage im Vordergrund, mit welchem professionellen Status und mit welcher Deutungshoheit professionelle Eliten ausgestattet sind oder sein sollten, um in dem Segment Musik Qualitätsstandards zu gewährleisten und die Autorschaft musikalischer Artefakte zu sichern. Der Artikel baut auf der Leitthese auf, dass sich neue Empfehlungskonfigurationen zu erkennen geben, bei denen sich die etablierten Deutungshoheiten zugunsten von sich neu formierenden Experten-Laien-Konstellationen (neue „Communities“) auflösen. Der Beitrag zeichnet mediale sowie „traditionelle“ Wege der Bewertung nach und fragt, wie sich die Funktion der etablierten „musikalischen Vorkoster“ – der Journalisten – verändert hat. Agieren sie als Kuratoren, als Gatekeeper, als Tastemaker, als Experten oder als Freunde des guten Musikgeschmacks? Wie verhalten sie sich gegenüber dem wachsenden Einfluss digitaler Selektionsmechanismen?
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D ISKUSSIONSKONTEXT Im Folgenden reflektiert der Text das Spannungsfeld zwischen Professionen und digitalen Bewertungs- und Empfehlungssystemen. Er stellt einerseits technische sowie andererseits professionsspezifische Entwicklungen vor und diskutiert die dadurch aufgeworfene Frage, inwiefern digitale Bewertungssysteme zu einer De-Professionalisierung führen oder eine neue Form der Professionalisierung im Feld der Experten, Journalisten und Kritiker ermöglicht. Die folgende Argumentation fokussiert auf das Verständnis von Professionalisierung im Verbund mit technischen Entwicklungen, die dazu führen, dass immer eindringlicher etablierte professionelle Positionen von Empfehlern, Kritikern und Vermittlern zur Disposition stehen. Ziel des Beitrags ist es dabei aber nicht, eine kulturpessimistische Sichtweise auf den schwindenden Einfluss professioneller Vermittler im Bereich traditioneller Empfehlungssysteme musikalischer Artefakte vorzulegen, sondern zu zeigen, wie im Zuge der Digitalisierung die parallel erfolgende Dezentrierung von unterschiedlichen musikalischen Genres, Stilen und Artefakten auch immer neue verfeinerte Bewertungskompetenzen erzeugt. Dabei – so die Leitthese – zeigt sich, dass bezüglich der Funktion von Empfehlern, Kritikern und Musikjournalisten für die Wertermittlung in Kreativbranchen weniger von einer De-Professionalisierung im institutionellen Sinn als von De-Professionalität im Sinne eines Leistungsversprechens gesprochen werden kann. Das bedeutet, dass anders als beim Tausch materieller Güter bei personenbezogenen Dienstleistungen nicht fertige Produkte, sondern Leistungsversprechen auf der Basis eines unvollständigen Vertrags und wechselseitiger Erwartungen angeboten werden, und dass personenbezogene Dienstleistungen ko-produktiv vom Leistungsnehmer und Leistungsgeber erstellt werden. Musikjournalisten „versprechen“ somit auf der Basis ihrer individuellen Kompetenz übergeordnete Beobachtungsfähigkeiten in unterschiedlichen Stilrichtungen, Trendbeobachtungen und Kontextualisierungen von neuen musikalischen Ausdrucksformen. Mieg (2005) stellt ein Verständnis von Professionalisierung vor, das im Kern auf der „Autonomie in der Leistungskontrolle“ der vollzogenen (Dienstleistungs-)Tätigkeiten beruht. In einem weiten Sinn bedeutet Professionalisierung den Übergang von Tätigkeiten zu bezahlter Arbeit, die gewissen einklagbaren Qualitätsstandards unterliegt“ (Mieg 2005). Gerade dies aber stellt sich in den jungen Märkten der Kreativwirtschaft als schwierig her-
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aus, da es derartige unabhängige Instanzen der Sicherung und Wahrung von Qualitätsstandards noch nicht hinreichend gibt. Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass nicht nur ein hohes Maß an Freiheit hinsichtlich der Herstellung von Meinungsführerschaften in diesen Bedeutungsmärkten existiert; der Einzug der Social-Media-Netzwerke befördert auch junge und unabhängige Netzstrukturen wie Blogs, Webseiten und Newsforen. Sie avancieren zu neuen Meinungsplattformen. Diese werden von neuen Autoren gestaltet, die den professionellen Musikjournalisten in etablierten Zeitschriften und Verbänden Konkurrenz machen. Weil die jungen Autoren eine größere Nähe zu Neuentwicklungen in der Musik haben (müssen), gelingt es ihnen, eine unvermittelte Sicht auf noch nicht etablierte Wertbildungen und Stilrichtungen zu gewinnen und kundzutun. Auf neuen netzbasierten Plattformen werden zwei Stränge der Meinungsartikulation und Bewertung von musikalischen Artefakten zusammengeführt. Zum einen stellen neue selbsternannte wie auch etablierte Musikbewerter und Musikjournalisten ihre Positionen vor, zum anderen generiert die Masse an unbekannten Bewertern mithilfe von Online-Bewertungsoptionen im Netz aus der stetig wachsenden Masse musikalischer Artefakte eine Art Vorstrukturierung und Vorsortierung aus fast unübersichtlichen Materialien. Darauf bauen viele neue Bewerter und Journalisten auf, um weitere Verfeinerungen und Kontextualisierungen der Herkunft, der musikalischen Aussage, der individuellen Qualität sowie der Einbindung in Stil- und Diskursgruppen vorzunehmen. Dieser Vorgang ist mehrheitlich einer nicht-institutionalisierten Gruppe von Empfehlern, Kritikern und Musikjournalisten geschuldet, die als relativ anonyme Nutzer-Masse (Crowd) Vorstrukturierungen musikalischer Artefaktensammlungen vornimmt und versucht, wenigen etablierten Journalisten und Radiomoderatoren ihre Meinungsführerschaft und Deutungshoheit streitig zu machen. Erst langsam und in jüngster Zeit formiert sich um bestimmte Musikgattungen und Subgenres eine kleinteilige, in unabhängigen Netzwerken agierende nicht-institutionalisierte Gruppe von Empfehlern, Kritikern und Musikjournalisten, die ihr Leistungsversprechen einer spezialisierten Web-Community anbietet. Dieses Versprechen besteht im Wesentlichen darin, Orientierungs- und Erfahrungswissen direkt und nicht redaktionell gefiltert an Interessierte weiterzugeben. Erst diese Bereitschaft zur konkreten Beteiligung liefert ein Verständnis von der Art und Weise, wie im Web Bedeutungen hergestellt werden. Da-
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mit wird das Internet sprachlich und kulturtechnisch navigierbar. Dies – so die Quintessenz der Argumentation – artikuliert ein Professionalisierungsparadoxon in der Gestalt, dass diese zumeist junge Gruppe von Empfehlern, Kritikern und Musikjournalisten einerseits soziale Nähe zu den Quellen musikalischer Artefakte, ihren Akteuren, Szenen, Aufführungsorten und Produktionskontexten haben muss, andererseits aber unter Professionalisierungskriterien nicht professionell agieren kann. Anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit sozialer Nähe konterkariert Professionalisierung. Unsortierte Meinungen und nur schwach kontextualisierter oder hochgradig unsortierter Meinungsüberschuss dominieren. Die Fähigkeit, musikalische Artefakte entlang unterschiedlicher Musikgenres, sozialer Netzwerke und Stilgattungen zu sortieren und kritisch zu bewältigen, bedarf einer neuen professionellen Elite an Empfehlern, die eher mit dem Digitalen als gegen das Digitale arbeiten, die in der Mannigfaltigkeit von musikalischen Artefakten nicht primär Niveaulosigkeit und kulturellen Verfall sehen. Vielmehr müssen diese Empfehler in der Lage sein, mit einem zeitgemäßen Begriff von „Musik unter Globalisierungsbedingungen“ feine und überraschende Bedeutungsnuancen zu unterscheiden (Binas-Preisendörfer 2012).
DAS
E NDE
DES
J OURNALISMUS ,
WIE WIR IHN KENNEN
Mit brachialen Zuspitzungen wird seit einigen Jahren das Ende des Journalismus, wie wir ihn kennen, diagnostiziert, so der Betreiber der Webplattform www.netzpolitik.org, Markus Beckedahl, auf dem Frankfurter Tag des Online-Journalismus am 14. Mai 2012. Algorithmen seien, so die von Beckedahl auf der Frankfurter Tagung widerlegte Annahme, in der Lage, die Leistungen eines Berufsstandes zu ersetzen. Mit ihrem Urteilsvermögen, ihrer Kritik, ihrer Kontextualisierung und ihren Empfehlungen verbindet sich die Erwartung, dass Journalisten in der Lage sind, aus der mannigfaltigen Vielfalt musikalischer Positionen überhaupt erst ein Bild derartiger Artefakte generieren zu können. Der vielstimmige Chor der Kulturpessimisten weist der digitalen Technologie die Aufgabe zu, einen traditionellen Berufsstand zu zersetzen. Zweifelsohne hat die Digitalisierung nicht nur die Verfügbarkeit von Wissen und Information radikal geändert; auch die Algorithmen selbst haben auf der Basis von Profilaktivitäten (der
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Nutzer) die Fähigkeit entwickelt, „selbstständig“ Neigungen, Präferenzen und Gewohnheiten aus dem Schwarm der Nutzer und Hörer herauszufiltern. Bunz weist in ihrem Buch „Die stille Revolution“ darauf hin, dass Algorithmen zwar technisch gesehen „Handlungsvorschriften [sind, B.L.], die nach einem bestimmten Schema Zeichen umformen“ (Bunz 2012, S. 9). Algorithmen sind aber nicht nur informatische Anweisungen, sondern aus der Sicht ihrer Anwendung heraus als Kulturtechnik anzusprechen, die laut Bunz still daran wirkt, unsere Gesellschaft massiv umzuformen (ebd.). Aus technologischer Sicht ist ein Algorithmus erst einmal eine Verarbeitungsvorschrift, die aus einer endlichen Folge von eindeutig ausführbaren Anweisungen besteht, mit der man eine Vielzahl gleichartiger Aufgaben lösen kann. Ein Algorithmus gibt an, wie Eingabegrößen schrittweise in Ausgabegrößen umgewandelt werden. Die selektierende Wirkung von Webinhalten durch die Digitalisierung tritt dann zutage, wenn unternehmerische Schaltstellen (z. B. Google und Facebook etc.) sowie Provider Webinhalte mit ökonomischem Kalkül vorselektieren und eigenwillige Zuordnungen vollziehen. Darüber hinaus geben sich immer komplexere Programmieroptionen zu erkennen, wodurch vorhandene Web-Inhalte nach bestimmten Neigungen, Profilen und Nutzungsformen strukturiert werden können. Immer komplexere Algorithmen sind dazu fähig, durch ihre Selektion originär neue Inhalte und neue Kombinatoriken von semantischen Inhalten zu „programmieren“. Sie beziehen dabei in ihrer Selektion immer stärker Kontextinformationen bestimmter kultureller, politischer, sozialer und ökonomischer Sachverhalte in die Produktion neuer Inhalte mit ein. Gerade diese Fähigkeit markiert im Kern die originäre Kompetenz professioneller Intermediäre zwischen kultureller Produktion und Publikum: Kritiker sind ganz wesentlich für das Verständnis musikalischer Artefakte verantwortlich. Während die großen Erzählungen vom strukturellen Wandel der Musikindustrie mehrheitlich industrielle Strukturen und deren raumzeitlichen Umorganisationen in den Fokus nehmen, so sind bis dato eher wenige Ansätze vorgestellt worden, die erklären, wie sich in dem Feld der Musikindustrie der Status des Journalisten geändert hat (Döhring 2011). Ebenso oft wird, wie dies die Autoren Döhring (2011) und Fasel (2012) vorstellen, die Reduzierung der Zahl festangestellter Musikjournalisten in Radio, Print und Medien beklagt. Dagegen fragt
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dieser Beitrag, wie sich eine Versprechung von Professionalisierung aufrechterhalten lässt. Anders gedreht: De-professionalisieren Algorithmen?
M USIK -E MPFEHLUNGSSYSTEME DURCH ALGORITHMEN UND DAS S EMANTIC W EB Algorithmen In den letzten Jahren hat sich das Konsumverhalten von Musik dramatisch verändert. Persönliche Musiksammlungen sind gewachsen, die durch technologische Verbesserungen im Bereich von digitalen Netzwerken, immer umfangreichere Speichersysteme, die Portabilität der Geräte und weiterer Internet-Dienste (wie z. B. Apps und andere Webtools) unterstützt werden. Die Verfügbarkeit von enormen Mengen von Musikdateien führt mich zu der Frage, wie derartige Musik systematisiert und verfügbar gemacht wird. Die faktische Verfügbarkeit musikalischer Artefakte im Netz geht mit der Frage einher, inwiefern digitale Sortiermöglichkeiten vonnöten sind, um entlang personalisierter Geschmackspräferenzen Bewertungen und Sortierungen vorzunehmen. Ein Einblick in verändertes Kauf- und Konsumverhalten belegt dies: Soundscan (2012) berichtet in seinem jährlichen Weltbericht: „Digital Tracks reached an all-time high with 1.34 billion units sold in 2012, up 5.1 % vs. 2011“. „Digital album sales accounted for 37 % of all album purchases in 2012 compared to 31 % in 2011, 26 % in 2010, 20 % in 2009, 15 % in 2008, 10 % in 2007 and 5.5 % in 2006.“ Der Nutzer hat Zugriff auf digitale Musiksammlungen, die aber nur durch eine fachgerechte Organisation und Kennzeichnung navigierbar werden. Mit Blick auf die enorme Summe musikalischer Inhalte stellt sich die Frage, wie die 99 % gefunden und sortiert werden, die für Musikkonzerne und Produzenten nicht umsatzrelevant sind: Beispielsweise machen nur 1 % der Interpreten im Jahr 2012 im US-amerikanischen Musikmarkt zwischen 80-90 % des Jahresumsatzes aus (Soundscan 2012). In der Entwicklung von Sortier- und Ordnungsformaten für derartige digitale Sammlungen sind neue Methoden für den Zugriff auf und das Abrufen von Daten entstanden. Dabei sind Interpret, Titel und Genre-Informationen möglicherweise nicht die einzigen Kriterien, mithilfe derer Musik-Konsumenten Musik finden, die sie mögen.
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Über die Auffindbarkeit dieser wenigen Superstars muss man sich keine Sorgen machen, wie aber findet der Zuhörer und das Publikum in den 99 % der übrigen Masse Geschmackvolles, Interessantes und musikalisch Wegweisendes? Da 80 % aller verkauften Alben weniger als nur hundert Mal gekauft werden, besteht ein originäres musikwirtschaftliches Interesse, Menschen Techniken zur Seite zu stellen, mit deren Hilfe sie aus der riesigen Menge an Musikangeboten entsprechende Inhalte filtern, entdecken, personalisieren und empfehlen können. Wie kann aber von technischer Seite aus diese riesige Menge an musikalischen Inhalten organisiert werden? Seit einigen Jahren versuchen Softwareentwickler und Programmierer Empfehlungs- und Bewertungsalgorithmen einzuführen, die es erlauben, genauer vorherzusagen, wie das Publikum Musik nachfragt. Im Musikbereich stellen Algorithmen Suchergebnisse bereit, die Aufschluss darüber geben, was ein Benutzer aufgrund seiner Eingaben, Profildarstellungen und Präferenzen hören könnte, unabhängig davon, wie nützlich die für den Anwender vorgesehenen Empfehlungen sind. Wesentlich verfeinert werden diese Empfehlungen durch direkte Musikhörer-zentrierte Bewertungen auf vorhergehende Empfehlungen. Bewertet wird also nicht das Musikstück als solches, sondern die Stimmigkeit (oder nicht) der bereits existierenden Bewertungen dieses Musikstücks und die dabei ausgesprochenen Empfehlungen zu einer Mehrheitsmeinung. Somit wird ein de-zentrales und netzwerkartiges Feld von Bewertungen eröffnet, bei dem die durch zentrale Institutionen vorgegebenen Wert- und Empfehlungspräferenzen – Charts, Hitparaden und andere Rankings – ihre Gültigkeit hinsichtlich der Vorgabe von Geschmackspräferenzen weitgehend eingebüßt haben. An deren Stelle sind neue Bewertungs- und Empfehlungsformate getreten, die durch verändertes Verhalten der breiten Masse von Musikhörern an Bedeutung gewinnen. Diese Formate orientieren sich zweifelsohne weniger an dem „breiten“ Geschmack als an engeren genrespezifischen Hör- und musikalischen Nutzerprofilen. Ermöglicht wird die Herausbildung von kleinteilig strukturierten genrespezifischen Nutzerprofilen durch komplexe Musik-Empfehlungssysteme.
Semantic Web Das Semantische Web (Deutsch für Semantic Web) ist zu einem umgangssprachlichen Fachterminus avanciert, der generell die Weiterentwicklung des World Wide Web und des Internets anspricht. Im Rahmen der Weiter-
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entwicklung zum Internet der Dinge und Ubiquitous Computing (Bunz 2012) wird von technologischer Seite sowie von Seiten der Technologieforschung daran gearbeitet, dass Maschinen die von Menschen zusammengetragenen Informationen verarbeiten können. All die in menschlicher Sprache ausgedrückten Informationen im Internet sollen mit einer eindeutigen Beschreibung ihrer Bedeutung (Semantik) versehen werden, die auch von Computern interpretiert und verarbeitet werden kann. Die maschinelle Umsetzung und konkrete Handhabung der Daten aus dem von Menschen generierten Datennetz ist aber nur möglich, wenn Maschinen deren Bedeutung eindeutig zuordnen können. Im Kern stellt das World Wide Web eine Option dar, digitale Daten miteinander zu vernetzen. Dagegen erweitert das sogenannte Semantic Web diese Kombinationsarbeit dergestalt, dass es versucht, Informationen auf der Ebene ihres semantischen Gehalts miteinander zu verknüpfen. Während rohe Informationen im World Wide Web lange Zeit nur vom Menschen verstanden, gedeutet und in einen adäquaten Kontext gebracht werden konnten, beginnen komplexe Algorithmen diese Interpretationsleistung zu übernehmen. Ob es sich dabei um ein Textstück oder einen Vornamen, einen Nachnamen, den Namen einer Stadt, den Namen eines Unternehmens oder eine Adresse handelt, ist der Struktur der Internetseiten nicht zu entnehmen. Das behindert die maschinelle Verarbeitung der Inhalte. Das Semantische Web soll die Lösung für diese Probleme darstellen. Die Daten in einem Semantischen Web sind selektiv strukturiert und in einer Form aufbereitet, welche es Computern ermöglicht, sie entsprechend ihrer inhaltlichen Bedeutung zu verarbeiten. Zudem erlaubt ein Semantisches Web Computern (bei Realisierung des Konzeptes), aus den vielen Einzelinformationen neue Informationskombinationen zu generieren. Foafing – „Friend of a Friend (FOAF)“ – ist eines dieser der MusikEmpfehlungssysteme, die Rich Site Summary (RSS)-Verfahren verwenden, um Musik je nach Musikgeschmack Benutzern passgenauer anzubieten. Dabei werden Musik-bezogene Informationen (z. B. ein neu veröffentlichtes Album, künstlerbezogene Nachrichten oder verfügbare Audio-Dateien) mithilfe von sogenannten RSS-feed-XML-Formaten für die InhaltsSyndizierung (d. h. die Herstellung von Verbindung mit Inhalten verschiedener Websites zu einem Themenkomplex) gesammelt. Auf der anderen Seite werden FOAF-Dokumente verwendet, um Präferenzen zu definieren. Foafing bietet somit Benutzern an, mittels FOAF-Profilen aus Musik wei-
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terführende Beschreibungs- und Kontext-basierte Informationen zu extrahieren. Foafing ermöglicht es nun, anderen Hörern Musik auf der Basis bestimmter Benutzer-Einstellungen und spezieller Hörgewohnheiten zu empfehlen. Einer der wichtigsten Vorteile der Schaffung von sozialen Nachbarschaften ist es, dass ein Benutzer ähnliche Nutzer erschließen kann und somit soziale Netzwerke um ähnliche Interessen herum organisiert werden können. Das Hauptziel des Foafing ist es, dass Menschen anderen Menschen Musik empfehlen können. Somit besteht die Möglichkeit, Musik neu zu entdecken und musikalische Inhalte zu erkunden, basierend auf den entsprechenden Benutzereinstellungen, Kontext-basierten Informationssystemen (extrahiert aus verwendeten RSS-Feeds) und Content-basierten Beschreibungen (automatisch aus den Audio-Informationen extrahiert). Foafing ermöglicht es dem Nutzer, Neuerscheinungen musikalischer Artefakte von iTunes, Amazon, Yahoo Shopping etc. zu erhalten, DownloadAngebote von MP3-Blogs und Podcast-Sessions sowie personalisierte Playlists angeboten zu bekommen. Außerdem werden Angebote von anstehenden Konzerten in geographischer Nähe des Hörers präsentiert. Wichtig sind darüber hinaus sogenannte Community-basierte Ansätze, auch als Demographic Filtering bekannt: Sie können genutzt werden, um die musikalischen Hörgewohnheiten und Präferenzen des Nutzers zu identifizieren. Dabei geht es darum, anhand von bestimmten Musikpräferenzen soziale Beziehungen zwischen Nutzern über ihre spezifischen Musikgewohnheiten herzustellen. Dies setzt sich auch im sogenannten Collaborative Filtering fort, das anhand von Benutzereinstellungen für durchgeführte Bewertungen wiederum auf der Basis des Erlernten Vorhersagen für andere Benutzer anbietet. Daran lagert sich auch die Praxis der sogenannten Item-Based Neighborhood an, bei der ähnliche Bewertungen betrachtet werden und diese wiederum anderen mit ähnlichen Profilmatrizen angeboten werden. Während derartige webbasierte Angebote auf verschiedenen Social-MediaPlattformen Alltag sind, drängt sich die Frage auf, inwiefern relevante Kontexte als Erklärungsrahmen durch Algorithmen generiert werden können, um musikalische Artefakten jenseits des Hörens zu erschließen. Zusammenfassend heißt dies, dass musikalische Artefakte zu einem wichtigen Instrument und Medium für die Herstellung von Kommunikation zwischen musikalisch interessierten Internet-Nutzern avanciert sind. Dabei
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sind personenbezogene Attribute, Geschichten, Bilder und Nutzerprofile immer wichtiger geworden. Es zeigt sich, dass das Semantic Web darauf abzielt, auf der Basis maschinenlesbarer Websites Personenprofile zu skizzieren, die wiederum imstande sind, weitere Verbindungen zwischen Profilen herzustellen. FOAF generiert exemplarisch Konventionen und eine digitale Sprache, um websitebezogene Inhalte zu beschreiben und in soziale Netzwerke hin zu vermitteln. Derartige Systeme syndizieren Inhalte, die Daten wie z. B. Nachrichten, Veranstaltungen, Listen, Schlagzeilen, Projekt-Updates sowie Musikinformationen enthalten. Ebenso werden Contents wie z. B. neue MusikReleases, Album-Rezensionen, Podcast-Sessions, Informationen über kommende Veranstaltungen etc. erfasst. Auf dieser algorithmischen Basis generiert dieses System weiterreichende Informationen, indem es bestimmte Benutzer-Profile filtert. Derartige Systeme sind in der Lage, BenutzerHörgewohnheiten zu „verstehen“, indem sie psychologische Faktoren, ökonomisches Verhalten, soziale Beziehungen und musikalische Vorlieben zueinander in Beziehung setzen. In der Musikbranche vollziehen sich derartige Anstrengungen immer mit dem Ziel der Herstellung passgenauer Empfehlungssysteme: Originäre Motivation ist die Herstellung des Zugangs zu 95 % der verfügbaren Musik – zum sogenannten „long tail“ (Anderson 2010) der weitestgehend unbekannten Musikproduzenten. In diesem Zusammenhang wird erwartet, dass sich derartige Filterungsinformationen über neue Musik-Releases, Künstler-Interviews, Album-Rezensionen etc. mithilfe der Partizipation der Nutzer dynamisch verbessern. Dabei sind die Algorithmen immer geschickter in der Lage, generische Kontexte anhand von Informationen über musikalische Artefakte herzustellen. Dies ist die eigentliche Herausforderung für die Gruppe der Journalisten, Empfehler und Kritiker, die bis dato mit ihrer kognitiven, assoziativen und professionellen Leistung für die weiterführende Kontextualisierung musikalischer Artefakte Sorge trugen.
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K ONSEQUENZEN
VON NEUEN B EWERTUNGS STRUKTUREN FÜR DEN S TELLENWERT VON P ROFESSIONALITÄT VS . P ROFESSIONALISIERUNG Nachdem in den vorangegangenen Ausführungen technische Empfehlungssysteme und ihre kontextgenerierenden Leistungen betrachtet wurden, wird im Folgenden der Blick auf den Status der professionellen Elite der intermediären Vermittler musikalischer Artefakte gerichtet. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie diese Berufsgruppe als Bestandteil der Musikindustrie imstande ist, ihr professionelles Leistungsversprechen aufrechtzuerhalten. Zugleich wird danach gefragt, welche Arbeits- und Organisationsform sich Musikjournalisten als Spezialisten für musikalische und musikkontextuelle Belange erschließen, um im Zuge der Verfeinerung von kontextproduzierenden Bewertungssystemen weiterhin professionell arbeiten zu können. Dabei wird diskutiert, wie sich das Verhältnis zwischen professionellem Status auf der einen und Professionalisierung auf der anderen Seite verhält und umgekehrt. Professionalität Aus fachjournalistischen Kreisen heraus (z. B. von Fasel 2012, S. 153) wird die Frage vorgetragen, inwiefern die „Öffnung zum ‚Mitmach-Journalismus‘ wünschenswert“ ist. Fasel überlegt, inwiefern es für die „Qualität des professionellen Journalismus und damit der Vermittlung gesellschaftlich relevanter Informationen und geprüften Wissens nicht besser [wäre, B.L.], Pseudo-Demokratisierungen im Zugang zu professioneller Information zu problematisieren“ (ebd.). Er verweist damit auf die Hoffnung, die am Anfang der digitalen Revolution stand, dass nämlich die Deutungshoheit der professionellen Journalisten, so wie sie Scholl und Weischenberg (1998) zum ersten Male profund vor 15 Jahren beschrieben haben, zunehmen und gesellschaftlich wichtiger werde. Scholl und Weischenberg (1998) verweisen darauf, dass digitale Medien wie Mobiltelefon und Abspielgeräte sowie netzbasierte Musik den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass musikalische Artefakte demokratischer als zu Zeiten der Majordominanz verbreitet werden. Es ging dabei nicht um die Auflösung des Journalismus als vielmehr um die Frage, wie die neuen Rezipienten und Produzenten musikalischer Artefakte in der La-
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ge sind, dem professionellen Journalismus neue Impulse zu geben. Im Kern folgt diese Sichtweise der Hoffnung, dass es zu einer Demokratisierung der Medienproduktion wie auch der Medienrezeption kommt (Fasel 2012). Von Anfang an stand die Vermutung im Raum, dass die Partizipation durch eine hohe Zahl von „Mitmachern“ den jeweiligen Rahmen und die Relevanz der Information erweitern könnte. In Teilen hat die Öffnung des Zugangs zu quasi-journalistischen Leistungen dazu geführt, dass „Musikjournalismus nach wie vor als ein erstrebenswertes Berufsfeld gesehen wird“ (Döhring 2009, S. 26). Döring zufolge besteht nach wie vor der Wunsch, „ein Leben mit ‚der Musik‘, d. h. vor allen Dingen mit den Musikern zusammen, und frei von Konventionen“ zu führen (ebd.). Indem Musikjournalisten einerseits nah an den Musikern sind, besetzen sie die Schaltstelle zwischen der Musikindustrie und dem Publikum und haben somit andererseits eine gewisse Entscheidungsmacht, musikalische Artefakte zu bewerten. Das verleiht ihnen soziales Gewicht, kann aber in der Praxis dazu führen, dass ihre Interessen immer wieder zwischen dem Anspruch und Leistungsversprechen der journalistischprofessionellen Distanz auf der einen und ihren individuellen Neigungen auf der anderen Seite verhandelt werden müssen. Nur den wenigsten gelingt es, künstlerische Texte über Musik und Stilrichtungen mit einem hohen journalistischen Anspruch zu produzieren (z. B. Denk/von Thülen 2012). Professionalität im eigentlichen Sinne verweist also auf berufsbezogene Standards, Identitäten und Rollenzuweisungen, die sich an eine Erwerbstätigkeit mit einem gewissen Maß an Expertise binden. Letztere wurde über fachspezifische Ausbildungen erworben. Professionalisierung Anders als der Begriff der Professionalität spielt der Begriff der Professionalisierung bislang nur indirekt eine Rolle für die Erklärung von Wertschöpfungskonfigurationen in den Kreativmärkten: zum einen dann, wenn es um die Mobilität und Produktivität hochqualifizierter Arbeitskräfte in kreativen Ökonomien geht; zum anderen wird der Begriff zur Beschreibung von Vermittlungsfunktionen von Tacit Knowledge bzw. implizitem Wissen in High-Tech-Clustern und kreativen Milieus verwendet (Bathelt/Malmberg et al. 2004; Maskell/Bathelt et al. 2004). Professionalisierung verbindet als Phänomen und Begriff jeweils Arbeitsbiographien und die Formatierung von Teilmärkten und Berufsgruppierungen. Über die Beobachtung von
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Mobilität und theoretischer Mutmaßung zur Ortsgebundenheit von Tacit Knowledge hinaus bindet Professionalisierung Kreativindustrien an sozialräumliche Konstellationen (Lange 2007). Aus professionssoziologischer Sicht ist Professionalisierung grundsätzlich doppelt explizierbar: erstens unter Betrachtung der Formen und inhärenten Rollen des professionellen Handelns wie auch – zweitens – mit Blick auf die Entwicklung von Berufsgruppen, deren Zugriff auf Märkte, ihre Arrangements mit staatlichen Institutionen sowie die Bedingungen der Berufsgruppenzugehörigkeit (Pfadenhauer 2005a). Diese Explikation lässt sich auch so wenden, dass einerseits von der Professionalisierung von Individuen gesprochen werden kann, andererseits von der Professionalisierung von Märkten, Berufsgruppen oder Institutionen (Mieg 2005). In beiden eben genannten Fällen spiegelt die Statuszuweisung „professionell“ ein Leistungsversprechen wider, das gerade dort, wo es von Kunden- und Abnehmerseite gesucht wird, d. h. in den risikoreichen, schwach institutionalisierten oder bewertungsunsicheren Bereichen, selten vollständig einzulösen ist. Von daher verweist die Professionalität stets auch auf spezifisch institutionalisierte Formen von Kontrolle, Bewertung und Expertentum. Systeme der Kontroll-, Bewertungs- und Expertenfunktionen, so Mieg (2005), lassen sich besonders gut stabilisieren, wenn sie sozialräumlich verankert sind, sei es in ortsgebundenen personalen Netzwerken oder in „professionell bespielten“ Räumen, beispielsweise Arztpraxen, Headquarters oder kreativen Locations (Lange 2007). Die inhärente Kontrollfunktion professionalisierter Tätigkeit ist derzeit der theoretisch bedeutsamste Gegenstand professionssoziologischer Reflexion (Evetts 2003; Freidson 2001). Professionelles Handeln unterliegt weitgehend der Selbststeuerung der Professionellen und ersetzt damit organisationale und andere Formen institutionalisierter Kontrolle sowie deren Steuerungsformen. Die Erwartung professioneller Selbstkontrolle reicht hinein bis in die aktuelle Praxis von Human Resource Management und Unternehmensorganisation: Dort zeigt sich, wie neue Anstellungsverhältnisse der sogenannten Professionals als Ausdruck eines „internen Unternehmers“ organisatorisch in Wert gesetzt werden. Hier erfolgt also Kontrolle als „control at a distance“ (Fournier 1999, S. 280) bzw. als internalisierte Selbstkontrolle. Während jedoch die Selbstkontrolle des internen Unternehmers immer noch vollständig durch das jeweilige Unternehmen begrenzt wird, legitimiert sich die Selbstkontrolle des unabhängig agierenden Professionals ex-
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tern. Hier kommt die Bewertungsfunktion von professionalisierter Tätigkeit ins Spiel. Wenn es heutzutage noch eine dauerhafte Legitimationsquelle von Professionen gibt, so begründet sie sich in der institutionalisierten Kontrolle von Bewertungsstandards für bestimmte Bereiche professionellen Handelns. Klassische Professionen wie z. B. Medizin oder Wissenschaft ebenso wie neue Professionen bzw. professionelle Gruppen wie z. B. Webdesign oder Patent Auctions versuchen, Standards für professionelles Handeln zu definieren und entsprechende Bewertungssysteme – z. B. im Bereich beruflicher Qualifizierung – zu etablieren. Professionen besitzen also gesellschaftlich akzeptierte Definitionsmonopole. Diese Definitionsmonopole und -ansprüche sind keineswegs fixiert, vielmehr stehen sie unter dem Druck der Positionierung im Feld der Berufsgruppen und gesellschaftlichen Akteure (Abbott 1988). Sie unterliegen also dem Wandel und können ganz verschwinden. Diese Dynamik entfaltet sich immer auf verschiedenen Maßstabsebenen (Abbott 1991) – lokal, regional, national und heute global. Je weniger etabliert die Bewertungsstandards auf übergeordneter Maßstabsebene sind, d. h. je weniger professionalisiert ein Bereich ist, desto wichtiger werden lokale Systeme der Bewertungsdefinition. Im Fall der Musikindustrie können lokale Netzwerke für lokale Märkte eine Bewertungsfunktion übernehmen. Dies erfolgt weniger über erzielte Preise als über eine kommunizierte und stabilisierte Leistungsbewertung. Da es im Bereich der Kreativökonomie um Bedeutungsund Differenzproduktion (Caves 2001) geht, kann die Bewertung professioneller Leistung ohnehin nur über eine Mischung etablierter Standards (für Marketing, Design usw.) mit einem Konsens von relevanter, „interessanter“ Differenz, d. h. Neuheit (z. B. von Games), erfolgen. Die dritte Funktion, die Expertenfunktion professionalisierter Tätigkeit, spielt im Bereich der Kreativökonomie nicht nur extern (in Form von Kunden und Öffentlichkeit), sondern auch intern (im Netzwerk) eine Rolle, um Bewertungen zu differenzieren und zu legitimieren. Damit wird auch die Intention und Wirkung „kollektiver“ Kompetenzentwicklung von lokalen Kreativökonomien als professionelle Gruppen definiert. Von daher ist es sinnvoll, von Professionalisierung und nicht einfach von Professionalität oder professionellem Handeln zu sprechen. Professionalisierung bezieht sich wesentlich auf Prozesse individueller, sozialer und sozialräumlicher Art sowie auf Übergänge zwischen unterschiedlichen Handlungsfeldern, z. B. von Freizeittätigkeit oder Kompetenzerwerb zu bezahlter Arbeit oder
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von der Verständigung gleichgesinnter Kreativer hin zu einem Markt. Diese Übergänge sind geprägt und geleitet von Transformationen der Vertrauensregulation (Mieg 2005) (z. B. von Vertrauen in „Experten“ zu Vertrauen in Qualifikationen), der Kompetenzentwicklung (z. B. von individuellerratisch zu akademisch) und der Bewertungsregulation (z. B. von der Steuerung über persönliches Vertrauen hin zu globalisierten, professionellen Netzwerken mit intermediären Strukturen). Professionalisierung ist aus dieser Sicht ein Phänomen sozialer Schließung im Weberschen Sinne. Dieser Begriff ist für das Verständnis der sozialräumlichen Konstitution und Transformation von Kreativökonomien hilfreich. Dabei gilt, dass Professionen sich immer über die sozialräumlichen Kontexte der konkreten Arbeit beweisen bzw. re-konstituieren müssen (Abbott 1988). Im Fall von Musikproduzenten als Bedeutungs- und Differenzproduzenten ist neben der lokalen Marktbewertung immer auch der globale Marktvergleich attraktiv. Bei den Musikmärkten als Bestandteil von Kreativökonomien handelt es sich um Beispiele dafür, dass das jeweilige professionelle Interaktionsfeld unerwartete, substanzielle Änderungen im professionellen Kontaktfeld – dem Aktionsraum im engeren Sinn – auslösen kann. So kann es für einen New Yorker DJ interessant sein, auch eine Berliner Residenz zu haben, um kompetente Differenz zu signalisieren. Unerwartet ist dies, weil weder Notwendigkeiten von Hierarchie (z. B. durch Planung in globalen Unternehmen) oder Markt hier am Wirken sein müssen. Professionalisierung ist in den Kreativökonomien also immer Professionalization – lokale Kompetenz- und Teilmarktbildung im Bezug zu partiellen globalen Vergleichen. Stellenwert von professionellen Bewertern und deren Praxis Zusammenfassend ist Professionalisierung als ein Prozess zu betrachten, in dem sich Vertrauen in einzelne Experten bis hin zu weiter reichenden Qualifikationsstandards entwickelt. Die Anwendung dieses Verständnisses auf den Fall der Musikindustrie wirft mehrere Fragen nach den spezifischen Legitimationsprozessen individueller und kollektiver Expertise (1), nach den Ausprägungen von translokalen Standards im Verhältnis zu lokal gebundener Expertise (2) und der Abhängigkeit von sowie der Distanz zu den Produktionsquellen musikalischer Artefakte auf (3). Die folgenden Diskussionen zeigen anhand der drei skizzierten Dimensionen, dass Professionali-
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sierung in der Musikindustrie zu einem Paradoxon avanciert ist. Zum einen ist der professionelle Status der Bewerter, Empfehler, Kritiker und Selektierer erheblich unter Druck geraten und hat zu einer Aufweichung der professionellen Definitionshoheit des Musikjournalisten geführt. Zum anderen wird das Paradoxon der Professionalisierung dieser Akteursgruppe zeigen, dass die Kritik an der digitalen Wende und dem vermeintlichen Bedeutungsgewinn der Algorithmen als Kontextgeneratoren weniger zu einer DeProfessionalisierung als zu einer Freisetzung dieser Berufsgruppe in nichtinstitutionalisierte Strukturen hinein führt: Journalisten arbeiten immer öfter selbstständig und in ungebundenen Strukturen, und haben demzufolge vordergründig freiere Handhabe in der Ausübung ihrer professionellen Praxis, gleichzeitig aber eine höhere Abhängigkeit zu denen, die ihnen Informationen bereitstellen. Bis dato, so meine Beobachtung, hat diese Berufsgruppe nur partielle Alternativen entwickelt und nur punktuell durch die Ausrufung des „Qualitäts- und Fachjournalismus“ am Aufbau neuer Arbeitsorganisationsstrukturen und deren Institutionen mitgewirkt. (1) Die enorm gewachsene Zahl von bewertenden Mitmachern im webbasierten Musikbewertungsbereich wirkt sich in paradoxer Weise auf den Status des Musikjournalisten aus: Zum einen wird seine Aufgabe als professioneller Selektierer von existierenden kontextgenerierenden Bewertungen und Empfehlungen (1. Ordnung) wichtiger, um anhand seiner sich anschließenden individuellen Expertise (2. Ordnung) diese wiederum neu einzuschätzen. Zum anderen wird sein professioneller Status durch die kontextgenerierende Kraft des sogenannten Semantic Web sowie die Bewertungstätigkeiten des sozialen Schwarms im Netz infrage gestellt. (2) Die Demokratisierung der Musikproduktion hat zu einer unerwarteten Vielzahl semi-professioneller musikalischer Artefakte geführt. Auch haben sich Hörgewohnheiten und Konsumpraktiken radikal geändert, wie sich ebenso die Ausdifferenzierung von musikalischen Genres mit neuen lokalen Stilausprägungen (sogenannten Local Divisions) einstellt (Pfadenhauer 2005b). Die gewachsene Kleinteiligkeit und Szeneabhängigkeit (Lange/Bürkner 2013) derartiger Produktionskontexte bringt es mit sich, dass lokal agierende Empfehler zwar ihre lokale Szene zu bewerten wissen, diese aber nur bedingt mit translokalen Strukturen der Bewertung in Verbindung setzen können. Die lokale Bindung von Expertise im Bereich dieser Bewerter lässt sich – so die These – aufgrund der lokal-stilistischen Eigenheiten nur bedingt einheitlich bewerten. Während man rückblickend in der
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Epoche der Klassik bestimmte kompositorische Standards identifizieren kann, erscheinen diese im Zuge der Herausbildung eigensinniger lokalregionaler Stile und deren Bewertungskulturen als wenig wahrscheinlich. Dies zeigt sich an den Anstrengungen von Majors, sogenannte Local Divisions aufzubauen, die spezifische lokal-regionale Stilrichtungen identifizieren. Anders ausgedrückt: Könnte man die Musikzeitschrift Spex in Shanghai oder im Großraum Istanbul einführen? (3) Folgt man der Idee lokal-regionaler Stilrichtungen, so zeigt sich, dass professionelle Produktionskontexte gerade im elektronischen Musikbereich extrem kleinteilig, klientilistisch und vertrauensorientiert sind. Musikalische Szenezughörigkeit geht mit spezifischen sozialen Geltungsformen wie Vertrauen, Kennerschaft und Erfahrungen einher. Das erfordert von Empfehlern wiederum die Fähigkeit, soziale Nähe zu diesen Produktionskontexten zu haben. Oft erwachsen nur aus dieser Kennerschaft und sozialen Vertrauensbasis weiterführende Vermittlungs- und Bewertungsstrukturen. Daher werden unabhängige Kritiker und Empfehler in die Lage versetzt, an den sozialen Quellgrund musikalischer Artefakteproduktion heranzukommen. Mitunter führt dies dazu, dass Bands ihre Produkte den Fans auf direktem Wege im Web anbieten. Die direkte Vermittlung musikalischer Artefakte geht mit einem Ausschluss und der Bildung sozialer Distanz zu Kritikern und Empfehlern einher. Sie verbaut diesen somit den Zugang zu essenziellen Informationen und Quellen, mit denen sie die ihrem Berufsstand zugeschriebene Fähigkeit zur Kontextbeschreibung derartiger musikalischer Artefakte zu produzieren imstande sind. Soziale Nähe und Distanz werden somit zu zentralen Determinanten im Feld der Musikbewertung, deren Vorhandensein das Leistungsversprechen des Musikjournalisten ermöglicht. Zusammenfassend bedeutet dies, dass Professionalisierung zu einem großen Teil zunächst von informellen sozialen Bindungen sowie NetzwerkAllianzen abhängig ist. Diese erklären zum einen das Hervorkommen von neuen kreativen Musikmilieus; zum anderen stehen sie jedoch Professionalisierungsprozessen diametral gegenüber. Dazu gehört auch, dass die temporäre Organisation von Musikprojekten mit wandelnden Produktionsorten und wechselnden Akteurskonstellationen den nachhaltigen Austausch von Erfahrungen, Wissen und Know-how zwischen Musikjournalisten und Musikproduzenten eher einschränkt, als dass ein längerfristiges und qualitatives Begleiten ermöglicht wird. Das erschwert Professionalisierung nicht
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nur, es macht sie geradezu unmöglich. Das Paradox der Professionalisierung von Musikjournalismus im Bereich der Musikindustrie erfasst daher das Spannungsverhältnis zwischen der im Kern auf Autonomie bedachten kreativen Produktion auf der einen Seite und den Notwendigkeiten der Professionalisierung auf der anderen. Lokale Communities of Practice – so meine These – avancieren zu relevanten Qualitätsbewertungskontexten von Kreativität und Innovation.
F AZIT Der Status des Musikjournalisten als einer zentralen Bewertungsinstanz, die zwischen Musikproduzenten und Fans angesiedelt ist, ist durch die Zunahme von sogenannten Social-Media-Bewertungsplattformen unter Druck geraten. Während sich der Niedergang des klassischen Berufsstandes durch Verkleinerungen von Kultur- und Musikredaktionen sowie das Outsourcen von vormals dauerhaft angestellten Musik- und Kulturjournalisten vollzieht, geben die vorangegangenen Ausführungen zum professionellen Status der demokratischen Meinungsbildung im Kultur- und Musikbereich höchst ambivalente Merkmale zu erkennen. Das Mehr an kleinteiligen und spezialisierten Meinungen, Empfehlungen und Kritiken aus der Gemeinschaft der Netznutzer drückt zum einen die individuelle Chance aus, die eigene Meinung neben dem Chor der Meinungsführerschaften zu platzieren. Im Web konzentrieren sich in Foren, Blogs und Online-SpecialInterest-Bereichen vielfältige Meinungen und Positionen für kleine Leserschaften. Diese Diversifizierung subprofessioneller Expertise liefert aber der Professionalisierung der Musikindustrie (z. B. durch stilistisch, medial und geographisch verstreut agierende Musikproduzenten, vor allem im Bereich des Long Tail) in zweifacher Hinsicht keine Impulse. Die Gemeinschaft der „demokratischen“ Meinungsmacher kann kein Leistungsversprechen beibringen, so wie es dem Berufsstand des Musikjournalisten zugewiesen wurde. Dennoch werden Algorithmen immer besser in der Lage sein, bedeutungsgenerierende Kontexte in die Bewertung musikalischer Artefakte mit einzubeziehen. Das Semantic Web beginnt nicht nur Meistbewertungen von musikalischen Artefakten in Betracht zu ziehen, sondern aus verfügbaren Bedeutungszuweisungen neue Kontexte und Querverbindungen zu generieren.
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Auch diese Entwicklung konterkariert das Leistungsversprechen der Musikjournalisten. Beide Trends wirken sich de-professionalisierend auf den Berufsstand aus. Ausschlaggebend für den institutionellen Niedergang des fest angestellten Musikjournalisten ist zweifelsohne nicht die Digitalisierung, ebenso wenig die Bereitschaft der Netzgemeinschaft, im mannigfaltigen musikalischen Grundrauschen des Long Tail ein Mindestmaß an Bewertungen und Deutungen vorzunehmen. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass sich abseits formalisierter Professionalisierungsprozesse jeweils individuelles, relativ voraussetzungsloses „Schreib“-Talent seinen Weg an die Spitze musikalischer Bewerter und Kritiker bahnen kann. Der wohlgemeinte Hinweis staatlich geförderter Medienanstalten, mit Qualitätsjournalismus in den Nischen der Medienproduktion neue Themen aufzufinden und die verlorengegangene gesellschaftliche Relevanz des Journalismus erneut herzustellen, stellt für manche sicherlich eine Option dar, z. B. dann, wenn die Geschäftsgrundlage und das Betreibermodell funktionieren, organisatorische bzw. institutionelle Unabhängigkeit gegeben ist und professionelle Alleinstellungsmerkmale herausgearbeitet wurden – wie bei dem Journalistennetzwerk „Blockfrei“ in Berlin (http:// blockfrei.net), das als kleines Netzwerk Unabhängigkeit und Professionalität zu vereinen versucht. Der stetige Zuzug von jungen selbsternannten Journalisten wird durch die neuen Medien sehr erleichtert. Begrüßt man dies, so muss man im Gegenzug auch die fehlende Kontrollfunktion professionalisierter Standards, ihrer Leistungsversprechen und Qualitätsstandards in Kauf nehmen. Die Kannibalisierung im Musikmarkt schreitet somit auch in journalistischer Hinsicht voran. Hören wir somit auf Dauer Musik undifferenzierter und weniger kenntnisreich?
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Interview Jonathan Scheiner, Musikjournalist
Jonathan Scheiner wurde 1965 in Banlieue-en-Provençe geboren. Sein Studium der Literatur- und Kunstwissenschaften an der TU Berlin hat er mit dem Magister Artium abgeschlossen. Das „Magisterloch“ hat er als experimenteller Poet in Madrid überbrückt. Dann hat er angefangen, Artikel, Kritiken und Kolumnen für Zeitungen und Magazine zu schreiben. Später kamen Texte für Wohnungsbaugesellschaften und Theater oder auch gesundheitspolitische Newsletter dazu. Für verschiedene Radiosender macht er Porträts über Musiker. Und er produziert regelmäßig eine 24-seitige Musikbeilage. Er lebt mit Frau, Kindern und Katzen in Berlin-Schöneberg und arbeitet in Prenzlauer Berg ࣓ in Sichtweite des Telespargels, Wand an Wand mit dem Pfefferberg.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Groß geworden bin ich mit der guten alten Schallplatte. Ich erinnere mich an Jazz-Improvisationen von zwei Kontrabassisten, über deren Tote weckendem Gekratze und Gezupfe ich wenigstens von einem künstlerisch hochwertigen Papp-Cover hinweggetröstet wurde. Etwas später habe ich dann über die CDs geschimpft, weil mir die Plastik-Verpackung nicht gefiel oder mir die fiepsige Scheibe beim Öffnen vor die Füße purzelte. Und jetzt schimpfe ich über Downloads, weil mir auch dort die visuelle Erotik fehlt. Wenn ich als Freier Journalist online bemustert werde, dann ist für mich das Produkt von vornherein nur die Hälfte wert. Und dennoch habe ich mich arrangiert: Mit dem Hören von Musik via iPhone oder via Homepage der Musiker und Plattformen wie SoundCloud. Und die guten alten Platten mit ihren vergilbten Covern verstauben im Regal.
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Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? In meinem Bereich irgendwo zwischen Jazz, Neuer Musik und Folk – schöpfen die Künstler ihre minimalen Gewinne selbst ab, indem sie auf ihren Homepages Downloads ihrer Musik anbieten. Eine CD wird nur noch im Sinne einer Visitenkarte produziert. Man hat was in der Hand zum Herzeigen. Ohnehin gehe ich nur noch selten eine CD im Laden oder beim Online-Versand kaufen.
Durch was werden diese ausgelöst? Ich hangle mich finanziell durch, indem ich über Musiker für Zeitungen und Radiosender schreibe. Die Trennlinie zwischen dem unabhängig denkenden Kritiker und dem Schreiber über Musik, der das im Auftrag der Labels tut, ist nach wie vor vorhanden, aber er wird perforiert. Kein Mensch zahlt mehr dafür, wenn ich eine Scheibe bluttriefend „zerreiße“. Aber man ist bereit dafür zu zahlen, wenn ich was Nettes schreibe. Das war vor 15 Jahren, als ich anfing mit dem journalistischen Schreiben, noch anders. Inzwischen mache ich eine Musikbeilage, für die ich selbst schreibe und die Redaktion übernehme, aber gleichzeitig die Anzeigen generiere – seinerzeit absolute No-Go-Area! Gute Frage, inwiefern ich da noch unabhängig denke. Aber wie ich höre, ist das längst gang und gäbe. Wer Anzeigen schaltet, bestimmt den redaktionellen Teil. Stimmt’s, Kollegen?
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Ich staune darüber, in welchem Umfang inzwischen Musiker auf Tour sind. Die neue CD erscheint zur Tour. Und ich schreibe nicht mehr über eine neue CD, sondern ich publiziere rechtzeitig zum Tourstart. Die Tour ist die Werbeveranstaltung, auf der man sein Produkt nicht nur anpreist, sondern auch gleich in Form der CD oder Download verkaufen will. Wer gut im Geschäft ist, der spielt über Monate allabendlich. Was für eine monströse Selbstausbeutung!
Musikjournalist | 215
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Und Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Eine Stadt wie Berlin ist nicht deshalb so sexy, weil hier teure Lofts für (Musik-)Manager gebaut werden, sondern weil hier ‚ne Menge los ist in Sachen junger, frischer Musik, die sich in Locations austoben kann, die billig sind. Wowereits Bonmot „arm aber sexy“ droht sich aber unter seiner Regentschaft ins Gegenteil zu verdrehen. Statt Kreativität geht es um Konsum. Oder wann waren Sie das letzte Mal in einem Underground-Club in Mitte? Statt die kreativen Strukturen zu fördern, werden Millionen in den Märkischen Flugsand verbuddelt. Dabei ist in Berlin noch immer eine Menge möglich, was in Hamburg oder München längst gestorben ist: Es geht um das Wunder, dass spontan Musik entsteht, die man so bislang noch nicht gehört hat. Ich halte es geradezu für die Pflicht für Städte und Verwaltungen, Strukturen zu fördern, in denen dieses Wunder entstehen kann. Die Aufgaben sind vielfältig, von erschwinglichen Proberäumen bis hin zum Erhalt von Locations aller Art. Das zieht die richtigen Leute an. Klingt platt, zahlt sich auf Dauer aber aus für Berlin. Und für mich!
Niemand kauft das Recht Musik zu hören Performative Wertschöpfung in digitalen Zeiten Malte Friedrich
Mit der seit über zwei Jahrzehnten virulenten Debatte über Performativität in den Sprach- und Kulturwissenschaften ist es gelungen, theoretische Grenzen zu überschreiten und theoretische Überlegungen mit Empirie zu verbinden. Besonders produktiv war die Auseinandersetzung über den Begriff im Zusammenspiel mit Theatralität und Performance. Das Spektrum reicht dabei von eher theoretischen Arbeiten von Autoren wie Judith Butler oder Pierre Bourdieu bis zu konkreten Anwendungen, wie sie in Deutschland, neben vielen anderen, prominent von Erika Fischer-Lichte durchgeführt wurden. Weil Musik in erster Linie eine performative Kunst ist, die nur entstehen kann, indem sie aufgeführt wird, bietet es sich an, diese Begrifflichkeiten auf Musik und die mit ihr verknüpften Wertschöpfungsketten anzuwenden.1 Dies auch, weil die aktuelle Debatte über die Zukunft der Musikproduktion und Musikindustrie stark auf Tonträger, neue Geschäftsmodelle und Rechte fokussiert ist und so die eigentliche Funktion von Musik als performative Kultur zu wenig Berücksichtigung findet. Denn für den Hörer steht nicht der Besitz eines Tonträgers oder ein Nutzungsrecht im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, an einer Hör-Performance teilzunehmen, über die wiederum performativ eine imaginäre Wirklichkeit hergestellt werden kann. 1
Die Relevanz der Aufführung und des Erschaffens von Musik im Hören diskutiert ausführlich Small (1998). Aktuelle Auseinandersetzungen mit der Performance von Musik finden sich bei Helms/Phelps (2013).
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Der Begriff der Performativität ermöglicht es, die Wertschöpfung von Musik aus einer anderen Blickrichtung zu betrachten, als dies üblicherweise der Fall ist. Dabei geht es weniger um die Entwicklung von Thesen, als vielmehr darum, mit der Bezugnahme der Begriffe Performativität und Wertschöpfung eine argumentative Versuchsanordnung aufzubauen, deren Ergebnisse mit dazu beitragen könnten, über neue Formen der Wertschöpfung und Performances in der Musik nachzudenken. Zentral ist dabei der Gedanke, den insbesondere Simon Frith ausgearbeitet hat, dass nicht nur das Machen von Musik eine Performance darstellt, sondern auch das Hören von Musik. Deshalb soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen Musik, Performativität und Performance herausgearbeitet werden. Daraus leiten sich Möglichkeiten der Wertschöpfung ab, die in digitalen Zeiten nicht länger nachhaltig alleine über Tonträger erfolgen kann. Dazu werden im ersten Abschnitt die Begriffe Performativität und Performance aus der Sicht von Judith Butler und Pierre Bourdieu erläutert. Im zweiten Teil werden die Begriffe auf die Produktion und den Konsum von Musik bezogen und konkretisiert. Der dritte Abschnitt diskutiert zwei Phasen der performativen Musikimagination vor dem digitalen Zeitalter. Das neue performative Regime, das sich aktuell herausbildet, wird im vierten Abschnitt vorgestellt. Der fünfte Abschnitt konzentriert sich dann abschließend auf die daraus folgenden Veränderungen in der Wertschöpfung.
P ERFORMATIVITÄT UND P ERFORMANCE ALS SOZIALE K ATEGORIEN Eine Verbindung zwischen Performance, Performativität und Wertschöpfung herzustellen, scheint zunächst nahe liegend: Musik muss aufgeführt (= performt) werden, um zu existieren. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Performance ist in den letzten Jahren eng im Zusammenhang mit Performativität geführt worden (s. die Arbeiten von Mersch 2002 und Fischer-Lichte 2004). Um die Relevanz und Qualität des Letzteren verständlich zu machen, bedarf es einer knappen Skizze seiner theoretischen Fundierung. Dies muss zunächst als weit vom Thema der Wertschöpfung und Musikkultur entfernt erscheinen, da seine Genese stark aus theoretischen Überlegungen resultiert, die keinen direkten Zusammenhang zur Musikproduktion oder -konsumption aufweisen. Aber nur so lässt sich zeigen,
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dass eine enge Verbindung zwischen Performativität und Performance existiert und gleichzeitig mit diesem Begriffspaar ein neuer Blick auf soziale Zusammenhänge möglich wird, der die Erschaffung und Perpetuierung von Wirklichkeit in den Mittelpunkt stellt. In der Theoriegeschichte der Sozialwissenschaften hat sich schon relativ früh eine Trennung in Makro- und Mikrotheorien vollzogen.2 Im Blickpunkt stehen so entweder globale Entwicklungen und Rahmenbedingungen etwa von Systemen, Institutionen oder Strukturen, oder die aufeinander bezogenen Handlungen von Individuen und die Möglichkeiten und Einschränkungen, die diese leiten und organisieren. Schon seit langem ist es eines der zentralen Ziele der Sozialwissenschaften, diese Unterscheidung in Mikro und Makro aufzuheben und eine einheitliche Theorie zu schaffen, die beide Sichtweisen vereint. Theorien des Performativen lassen sich als ein Versuch charakterisieren, einen Beitrag zu diesem Ziel zu liefern, indem die Defizite einer makrotheoretischen Ausrichtung verringert werden, ohne die darin gewonnenen Erkenntnisse vollständig aufgeben zu müssen.3 Ursprünglich stammt der Begriff Performativität aus der Sprachtheorie von John Austin (Austin 1975). Er bezeichnete damit Sprechakte, die im Gegensatz zu konstativen Aussagen in ihrem Vollzug eine Handlung benennen und zugleich durchführen. Beispiele solcher performativen Sprechakte können die Taufe eines Schiffes, die Eröffnung einer Veranstaltung oder die Schließung einer Ehe sein. Entscheidend ist, dass über den Sprechakt etwas hergestellt wird, das ohne ihn nicht möglich wäre, gleichzeitig aber über eine reine Behauptung oder Aussage hinausgeht.4 Die Idee der Generierung oder Veränderung einer Situation durch Sprechakte oder allgemein durch eine Handlung, also Performativität, wurde aufgegriffen, um makrotheoretische strukturalistische Ansätze zu hinterfragen und weiter zu entwickeln.
2
Zur Mikro-Makro-Problematik siehe Giddens 1988; Heidenreich 1998.
3
Übersichten zur Nutzbarmachung des Begriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften bieten Wulf et al. 2001 und Wirth 2002. Eine kritische Einführung liefern Krämer/Stahlhut 2001.
4
Schon Austin (1975, S. 153-165) bemerkte, dass eine strikte Trennung in konstative und performative Aussagen nicht möglich ist, sondern jeder Sprechakt aus performativen, konstativen und weiteren Elemente besteht.
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Basis des Strukturalismus ist eine Übertragung des Sprachverständnisses von Ferdinand de Saussure auf soziale Phänomene.5 Saussures Ansatz, die Sprache als ein System aufeinander verweisender Zeichen zu deuten, in der zwar Signifikat und Signifikant eines Zeichens arbiträr, die Verweisstruktur der Zeichen untereinander aber bedeutungsgenerierend ist, lässt sich gut auf soziale Sachverhalte übertragen und bietet zugleich ein Instrumentarium zu Systematisierung und Ordnung der Erkenntnisse an. Die Übertragung des explizit unzeitlichen und globalen Ansatzes von Saussure hat aber den Nebeneffekt, dass die Struktur (z. B. von Mythen, Verwandtschaftsbeziehungen oder des Unterbewusstseins) immer statisch zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet wird, in der sie ihre einzelnen Elemente determiniert. Unklar ist in Folge, wie sich die Struktur überhaupt verändern kann und welche Eigenständigkeit ihre strukturell determinierten Elemente noch haben. Weil Performativität die transformative Kraft von Sprechakten betont, bietet der Begriff sich an, die strukturalistische Position kritisch zu hinterfragen, indem das Verhältnis von Sprache als Sprechen (parole) und Sprache als Struktur (language) untersucht wird. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Macht die Sprache oder allgemein das Soziale hat und wen sie zu was ermächtigt. In der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Sprachakten und Sprache lassen sich grob zwei Positionen unterscheiden. Zum einen gilt Performativität von der Struktur bestimmt, während Sprechakten keine eigenständige Kraft zugesprochen wird. Zum anderen gilt der performative Sprechakt als eine Praxis, die nicht vollständig von der Struktur beherrscht wird und deshalb die Kraft besitzt, bestehende Strukturen verändern zu können. Die bekannteste Position der vollständigen Passivität von Sprechakten stammt von Pierre Bourdieu. Für ihn ist das Gelingen eines performativen Aktes alleine an die Legitimität des Sprechenden gekoppelt. „Die magische Wirkung dieser Setzungsakte ist nicht von der Existenz einer Institution zu trennen, die die Bedingungen (für Akteure, Orte, Zeitpunkte usw.) bestimmt,
5
Zur Fundierung einer neuen Sprachwissenschaft siehe Saussure 1967. Die Übertragung des Konzepts in die Sozialwissenschaften skizziert ausführlich Dosse 1999, S. 32-278.
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die erfüllt sein müssen, damit die Magie der Worte wirken kann“ (Bourdieu 1990, S. 52).
Nur die Fähigkeit der ,korrekten ދSprachverwendung und des dazugehörigen Verhaltens, bereitgestellt über einen Habitus, der sich aus der sozialen Position des Sprechers ableitet, erlaubt es dem Sprecher, den Sprechakt erfolgreich durchzuführen. Die Wirkung einer performativen Äußerung ist so an das soziale Feld gekoppelt, durch das die soziale Position des Sprechenden bestimmt wird (ebd., S. 41). „Eine performative Aussage ist immer dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht von einer Person kommt, die auch die ,Macht ދhat, sie auszusprechen oder wenn, ganz allgemein, die jeweiligen Personen oder Umstände nicht ,die richtigen ދsind, ,und den betreffenden Vorgang einzuleitenދ, kurz, wenn der Sprecher für die Worte, die er spricht, keine Autorität hat“ (ebd., S. 77; in einfachen Anführungsstrichen zitiert Bourdieu Austin).
Die Gegenposition zu Bourdieu findet sich bei Judith Butler. Performativität spielt in ihren Überlegungen eine Schlüsselrolle in der Erschaffung einer geschlechtlich bestimmten Identität. Für Butler ist Geschlechtsidentität ein Tun. Ein Tun, das aber nicht durch ein Subjekt „getan“ wird, weil sich dieses im Tun überhaupt erst bildet (vgl. Butler 1991, S. 49). Der performative Akt konstruiert Geschlechtlichkeit, aber gesteuert wird diese von einem Diskurs, der hinter dem Performativen verschwindet und gerade so seine volle Wirkung erzielen kann (Butler 1995, S. 36). Dieser Diskurs macht rigide Vorgaben zum Geschlechtsverhalten. Da dieses Verhalten durch ständige Wiederholung erlernt wird, erhält es den Anschein der Natürlichkeit (vgl. Butler 1991, S. 60): „Performativität wird nicht als der Akt verstanden, durch den ein Subjekt dem Existenz verschafft, was er/sie benennt, sondern vielmehr als jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“ (Butler 1997, S. 22).
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Mit einer solchen Sicht bestätigt sich, ähnlich wie bei Bourdieu, die fast unhintergehbare Macht des Diskurses (das heißt der Struktur).6 Eine Kritik an diesem Diskurs kann nicht einfach über die Umcodierung des Verständnisses von männlich und weiblich gelingen, weil dabei immer schon auf Geschlechtsidentitäten zurückgegriffen werden muss. So wird das Kritisierte im Vollzug unfreiwillig bestätigt. Für Butler gibt es aber doch Möglichkeiten, den Diskurs subversiv ,anzugreifenދ. Das geschlechtsbestimmte Subjekt wird zwar durch den Diskurs „gemacht“, erhält dafür aber auch die Fähigkeit zu sprechen und zu handeln (Butler 1998, S. 43, 64). Auch wenn der Diskurs nicht direkt angegriffen werden kann, besteht sehr wohl die Möglichkeit, durch Sprechakte den Mechanismus des Diskurses zu demaskieren und dadurch zu verändern. Butler schlägt daher vor, den Diskurs zu parodieren, zum Beispiel in der Travestie: „Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz“ (Butler 1991, S. 202). Genauso bestehe im Sprechakt die Möglichkeit, vorhandene Äußerungen zu rekontextualisieren und sie so in einem anderen Licht erscheinen zu lassen (Butler 1998, S. 205-210, 222-225). Damit ist in der Sichtweise von Butler der Diskurs zwar extrem wirkmächtig, weil seine Existenz über die theatrale Performativität verdeckt wird, gleichzeitig schafft er über die theatrale Ansprache die Möglichkeit, ihn durch performative Akte subversiv zu brechen. In dieser Sichtweise kann der performative Akt nur dann transformativ wirken, wenn er die Konstruktion, auf der er basiert, sichtbar werden lässt. Mit anderen Worten bedarf es einer Metapraxis, einer Praxis der Praxis. Dem alltäglichen gewöhnlichen performativen Akt, der nicht auf eine Metapraxis verweist, wird jede Möglichkeit der Veränderung abgesprochen. So dominiert die Struktur (der Diskurs) die Akteure weitgehend und Agency (Handlungsfähigkeit) ist nur in engen Grenzen möglich. Entscheidend ist aber, und das weist über die Wirkung von Sprechakten hinaus und öffnet das Konzept der Performativität auch für andere Bereiche, dass das Gelingen oder Scheitern von Performativität immer an die so-
6
So schreibt Butler (1998, S. 55): „Obgleich das Subjekt zweifellos spricht und es kein Sprechen ohne Subjekt gibt, übt das Subjekt nicht die souveräne Macht über das aus, was es sagt.“
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ziale Situation, in der sie stattfindet, gekoppelt ist.7 Jeder performative Sprechakt ist in einen theatralen Rahmen eingebunden. Der Sprechakt alleine kann nicht etwas in Kraft setzen, dazu bedarf es der Inszenierung und zumindest Elemente eines Rituals, das ihm die soziale Legitimität verschafft, um zu wirken. Mit dieser Bindung an Theatralität lässt sich der Begriff des Performativen aus der engen Bindung an Sprechakte herausführen und auch für allgemeinere Fragen der Sozialwissenschaften nutzen. Genauso wie in der Sprechakttheorie bleibt die Frage, wie es zur Generierung von Wirklichkeit kommt und unter welchen Bedingungen und Einschränkungen dies stattfindet. Performativität erweist sich als eng mit dem Begriff der Performance in Verbindung stehend. Als Performances können alle Handlungen verstanden werden, die sich explizit einer bestimmten Situation oder Rahmung zugehörig zeigen und sich dadurch auf sie beziehen.8 Dieser Rahmen gibt vor, welche theatralen Mittel zum Einsatz kommen, wie man sich in Interaktionen verhält und wie die einzelnen Verhaltensweisen, Äußerungen und Interaktionen zu interpretieren sind.9 Solche Rahmen können und sind oft formalisiert, wie in einem Ritual, können aber auch freier gestaltet sein. Nur mit theatralen Mitteln können Handlungen performativ wirken, denn nur sie können glaubhaft machen, dass die Handlung eine Performance ist, die in einen sozialen Rahmen eingebunden ist, der über die Handlung bestätigt und reproduziert wird. Gleichzeitig erschaffen diese theatralen Handlungen erst die Wirklichkeit, und ohne gerahmte Theatralität und Performances, die sich darauf beziehen, gibt es keine Performativität. Die theatrale Wirklichkeitserzeugung ist immer an externe Faktoren gebunden, die diese ermöglichen und die durch ihre Umsetzung sich zugleich reproduzie-
7
Für die Anwendung auf die populäre Kultur siehe Klein/Friedrich 2003a, S. 198-205.
8
Das entspricht der Bestimmung des Performativen von Dieter Mersch (2002, S. 247): „Die Kunst des Performativen umfasst […] Praktiken, die die Momente der Gesetztheit, des Daß geschieht, des Ereignens, der Singularität, der Materialität und Unumkehrbarkeit aufscheinen lassen.“
9
Nur diese wenigen Sätze verdeutlichen eine Nähe zu Rollen und Rahmentheorien, wie sie prominent von Goffman, aber auch vielen anderen Soziologen entwickelt wurden (vgl. Goffmann 1969, 1980).
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ren. Damit erweist sich Performativität als zentraler Mechanismus der Wirklichkeitserschaffung und der Reproduktion des Sozialen.
P ERFORMATIVITÄT UND P ERFORMANCE IN M USIKKULTUREN Die Ausführungen des vorherigen Abschnitts könnten die Frage provozieren, was das mit Musik und Wertschöpfung zu tun hat. Besonders wenn man sich verdeutlicht, dass Musik keine Sprache ist, oder genauer nicht den gleichen Regeln folgt wie eine Sprache.10 Die schon für die Sprache problematische Unterscheidung in konstative und performative Akte ist für Musik gänzlich unanwendbar, weil nicht klar ist, was Musik „behauptet“ oder „aussagt“. Zu sagen, dass Musik performativ ist, heißt zunächst nicht mehr, als dass in ihrem Vollzug etwas Bestimmtes entsteht. Eine Erkenntnis, die trivial erscheint. Eine etwas differenzierte Betrachtung zeigt aber, dass es durchaus sinnvoll ist, den Begriff der Performativität auf Musik und Wertschöpfungsprozesse anzuwenden. Dazu muss zunächst beachtet werden, dass Musik, wenn sie für ein Publikum aufgeführt wird, über Performances organisiert ist. Zum einen muss die Musik gespielt werden (oder zumindest müssen die Musiker so tun, als ob sie sie spielen würden), zum anderen müssen die Musiker, zum Beispiel durch Kleidung oder Verhalten, verdeutlichen, dass sie genau das machen: Musik aufführen. Auch wenn Musik primär ein auditives Erleben ist, ist es für die Zuhörer wichtig, zusätzlich visuelle Eindrücke zu erhalten. Sie bieten Vorgaben für das eigene Verhalten, erlauben die kulturelle und soziale Zuordnung der Musiker und ihrer Musik und verstärken generell das auditive Erleben. Gewöhnlich wird nur die Aufführung von Musik als Performance beschrieben, aber Simon Frith hat gezeigt, dass auch das Hören von Musik eine Performance darstellt (Frith 1996). Wir hören nicht nur Musik, sondern nutzen, nach Frith, Musik zur Bildung unserer eigenen Identität. Dazu
10 Selbst Adorno, der die Musik nicht als Genuss-, sondern als Erkenntnismittel bestimmte, konstatiert, dass Musik der Sprache zwar ähnlich sei, aber eben keine Sprache: „Wer Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie irre“ (Adorno 2003, S. 649).
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orientieren sich besonders bei populärer Musik die Hörer an der Stimme der Singenden. Hinzu kommen die Performances der Musiker, die ebenfalls Basis für die Identität der Hörer sein können.11 Mit dieser Beschreibung ist aber noch nicht erklärt, was genau die Musik beim Hören erzeugt oder erschafft. Musik bietet offensichtlich dem Hörer eine spezielle Form des Wirklichkeitserlebens, durch die sie sich von allen anderen Sinneseindrücken unterscheidet.12 Dieses Wirklichkeitserleben entzieht sich weitgehend einer sprachlichen Beschreibung, weil sie den Hörenden gerade von der rationalen Sprachbindung entkoppelt, selbst wenn die Musik auch Sprache in gesungener Form enthält.13 Es lassen sich aber einige Besonderheiten benennen, die diese spezielle Form des Erlebens rahmen. Zu nennen ist die Anregung des Körperempfindens und der Motorik (vgl. Nitschke 1989; Klein 1999, 2004; Wicke 2001). Musikhören ist immer zugleich auch Körpererleben. Sie ermöglicht eine einmalige Kombination aus sinnlicher Wahrnehmung und Bewegung, die sich aufeinander beziehen und ineinander verschränken. Das heißt auch, dass Musikhören eine spezielle Form der Performance erlaubt, bei der die Musik in Bewegung umgesetzt wird. Musikkonsum gestattet nicht nur, den Körper in Bewegung zu setzen, sondern bietet auch die Möglichkeit einer speziellen Form der Imagination. Musik stellt ein ideales Medium dar, um hedonistische Tagträume zu erleben, durch die das Alltagsleben idealisiert werden kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund greifen Pop-Lyrics oft Alltagsthemen in idealisierter Weise auf, und korrespondieren die Klänge und die formale Komposition der populären Musik nicht selten mit dem urbanen Raum (Friedrich 2010). Der Musikkonsum bringt nicht nur ein spezifisches, gesteigertes individuelles Körperempfinden, sondern verändert auch die Beziehungen einer Gruppe von Hörern untereinander. Musik ist in der Lage, in Räumen eine bestimmte Atmosphäre zu erschaffen und so alle Beteiligten in einen Hörraum zu integrieren, ohne dass die Einzelnen dabei dieselben Empfindun-
11 Abercrombie und Longhurst (1998) zeigen dies am Beispiel von Fernsehsendungen, aber es gilt genauso für Musiker. 12 Zur Wirkung des Musikhörens vgl. DeNora 2000, S. 16-19. Auf die Probleme einer genauen Bestimmung der Qualität des Musikhörens weist Clarke 2003 hin. 13 Die Schwierigkeiten, über Musik und die Bedeutung von Musik zu sprechen, diskutiert Kramer 2003.
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gen haben müssen. Die Musik erreicht alle Anwesenden und verbindet diese miteinander. In Kombination mit dem Bewegungsimpuls, den Musik vermittelt, kann sie besonders leicht durch kollektive Hörerperformances ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen (Klein/Friedrich 2003b). Zusammengefasst kann Musik performativ Körpererleben, Imagination, Räume und Gemeinschaftlichkeit erzeugen. Das Besondere der Musik liegt genau in diesen performativen Qualitäten, durch die etwas entsteht, was ohne sie so nicht ohne weiteres möglich wäre. Damit lässt sich ein Zusammenhang zwischen Wertschöpfung, Musik und Performativität herstellen. Gewöhnlich stehen der Verkauf von Tonträgern oder das Recht, bestimmte gespeicherte oder im Moment erzeugte Musik hören zu dürfen, im Zentrum der Debatte um die Wertschöpfung von Musik. Es geht also entweder um den Verkauf einer Ware (den Tonträger) inklusive der Nutzungsrechte oder einer Dienstleistung (Aufführung der Musik). Beachtet man aber die performative Kraft der Musik und die mit ihnen verbundenen Nutzungsweisen, dann kaufen die Hörer weder Tonträger noch eine Dienstleistung, sondern eine Hör-Performance, durch die performative Erzeugung von Erleben und Imagination möglich wird. Der Tonträger oder der Besuch einer Veranstaltung sind nur Mittel zum Zweck. Denkt man ein wenig darüber nach, ist das eine triviale Erkenntnis – ein Tonträger oder die Aufführung von Musik hat keinen Wert für den Käufer, wenn er nicht die darin enthaltene Musik nutzen kann.14 Wenn dem so ist, dann muss man bei der Wertschöpfung von Musik aber eben weniger über den allgemeinen Zugang zu Tonträgern oder Aufführungen, sondern mehr über den Zugang zur performativen Qualität von Musik nachdenken. Und genau das geschieht zu wenig. Denn eine kommerzielle Wertschöpfung ist nicht zwangsläufig daran gekoppelt, den Zugang zur Musik einzuschränken, sehr wohl aber muss der Zugang zum einmaligen Erlebnis der Musik eingeschränkt sein. Wie dieses Erleben zur Verfügung gestellt werden kann, ist aber variabel, genauso wie die Stellung und Bedeutung der MusikPerformances.
14 Das gilt auch für den Sammler, der Tonträger als Devotionalie vergangener Ereignisse erwirbt. Auch hier bleibt die Nutzung der Musik zentral, auch wenn sie nur noch ein Referenzpunkt darstellt.
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D ER Z UGANG ZUR PERFORMATIVEN M USIKIMAGINATION VOR DER D IGITALISIERUNG Um die heutigen Bedingungen der Wertschöpfung zu verstehen, sollte man sich zunächst kurz die zwei vorherigen Phasen vergegenwärtigen, in der Performance, Imagination und Wertschöpfung anders organisiert waren. In der ersten Phase, die die längste Zeit der Musikgeschichte umfasst, war Musik ausschließlich eine Performance-Kunst, in der Musikereignisse immer eine Aufführung und Erzeugung dieser Musik darstellte. Ohne die Gegenwart von Musikern existierte keine Musik.15 Dadurch steht die Aufführung der Musik im Mittelpunkt. Daran änderte auch der Kapitalismus nichts Grundlegendes, denn auch hier war Wertschöpfung nur über Konzerte oder Tanzveranstaltungen möglich oder über den Verkauf von Noten und Instrumenten, die wiederum zur Aufführung von Musik genutzt wurden. Die Hör-Performance konnte so immer nur dann einsetzen, wenn die Musik aufgeführt wurde. Dies geschah, das Einüben ausgenommen, fast immer zu einem bestimmten Zweck und in Anwesenheit von Anderen, entweder zur Unterstützung eines Rituals bei kirchlicher Musik oder zur Unterhaltung. Die Hör-Performances und die Imagination bleiben so an den Anlass gebunden, in dessen Rahmen sie stattfinden. Mit der Möglichkeit, Tonsignale aufzunehmen, zu konservieren und sie zu einem späteren Zeitpunkt abzuspielen, verändert sich die Produktions-, Distributions- und Konsumstruktur von Musik vollständig. Die Notwendigkeit der direkten Anwesenheit der Musiker geht mit Tonträgern und Massenmedien verloren und damit auch die Bindung der Performativität an ihren Auftritt. Zusammen mit dem Tonträger entsteht eine Industrie, die seine Produktion und Distribution organisiert. Der Verkauf der Tonträger war so erfolgreich, dass er zur zentralen Einnahmequelle der Musiker und Produzenten und der Musikindustrie wurde. Einhergehend mit dem Verkauf von Tonträgern kommt es zur Schaffung eines Images durch (bewegte) Bilder und Geschichten, die um die Musiker und deren Musik herumgruppiert wurden, deutlich abzulesen an der „Erfindung“ des Stars. Mit Fotos, Filmen oder Musikvideos wurden da-
15 Das gilt auch, wenn es den Typus des Komponisten gibt. Es erweitert sich dadurch nur der Personenkreis, der an der Erschaffung der Musik beteiligt ist.
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bei die Musik und die Musiker intensiv mit Bildern verknüpft, um einen bestimmten Eindruck zu erzeugen und den Popstar mit einem Charakter auszustatten. Der Star verkörpert und visualisiert die Musik. Besonders der Film und das Fernsehen machten es möglich, die Musik mit inszenierten Personen und Geschichten in Zusammenhang zu bringen (vgl. die Beiträge in Faulstich/Korte 1997). Das Musikkonzert wird in dieser Konstellation nicht vollkommen irrelevant. Es hat nur eine andere Funktion als zu der Zeit, in der der Tonträger noch nicht das bestimmende Maß der Musikkultur war. Speziell in der populären Musik dienten Konzerte in dieser Phase weniger der Wertschöpfung als der Bewerbung des Tonträgers und als Beleg der Authentizität des Künstlers. Zudem kann das Konzert der performativen Erschaffung von ritualisierten Vergemeinschaftungsformen dienen, um globale und lokale Szenen, die Images und Tonträger als Basis zur Identitätskonstruktion nutzen, im Konzert zu bestätigen (Friedrich 2010, S. 193-198). Bei Musikveranstaltungen dient die Musik dann nicht nur als Basis von Tagträumen oder zur Erschaffung von Atmosphären, sondern ermöglicht die Umsetzung und Realitätswerdung einer Gemeinschaft, die die Musik gemeinsam erlebt und kontrolliert in Ekstase oder zumindest zu deutlich gesteigertem emotionalem Empfinden gelangen kann.16 Trotzdem wird das Bild des Musikers nicht auf der Bühne erzeugt, sondern wandert in die Tonträger und Images ab. Das Performative der Musik entsteht über die Bilder und Musikproduktionen und nicht im Konzert. Die Konzert-Performances orientieren sich in vielen Fällen an den Bildern, die für die Promotion des Tonträgers erstellt werden (Auslander 1999; Straw 2004). Philip Auslander schreibt zum Beispiel zu einem Konzert von Madonna: „As the personnel involved in staging Madonna’s tours freely admit, the goal of their productions, like that of many rock and pop concerts, is to reproduce the artist’s music videos as nearly as possible in a live setting on the assumption that the
16 Auch wenn es möglich ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ohne dabei auf die direkte Anwesenheit anderer Personen angewiesen zu sein, gelingt eine Bestätigung und Erneuerung der Gruppe doch leichter, wenn auch andere anwesend sind. Wie Gemeinschaft ohne Anwesenheit anderer Personen entstehen kann, zeigen Dayan/Katz (1987) am Beispiel der Fernsehübertragung einer Hochzeit.
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audience comes to the live show expecting to see what it has already seen on television. One could say that because the music video sets the standard for what is ,realދ in this realm, only a recreation of its imagery can count as ,realisticދ. Reciprocally, the fact that images from Madonna’s videos can be recreated in a live setting enhances the realism of the original videos“ (Auslander 1999, S. 30-31).
Mit dem Bedeutungszuwachs von Massenmedien zur Vermittlung eines Images werden einzelne Medienformate zu Faktoren des kommerziellen Erfolgs von Musik. So konnte der Verkauf über das Format der Charts und zentrale Sendungen wie die BBC-Fersehproduktion „Top of the Pops“ zumindest partiell gesteuert werden. In den 1980ern und 1990ern konzentrierte sich die Vermarktung zudem besonders auf das Musikfernsehen und auf Videoclips. Durch die Bild- und Tonträgerproduktion, bei der der Wert der Musik und die wesentlichen Elemente der Performance nicht länger direkt an die Aufführung der Musik gekoppelt sind, verschiebt sich das Performative der Musik in die Medien, genauer: Sie liefern alle nötigen Elemente für die Hör-Performance. Mit der Entkopplung von Musikerstellung und Musiknutzung verändert sich nicht alleine die performative Struktur der Performance, sondern auch die Hör-Performance. Da sie nicht länger an die Anwesenheit von Musikern, sondern nur an Abspielgeräte gebunden ist, entwickelt sie sich zu einem eigenständigen Verhalten, das mit anderen, aber vor allem auch alleine durchgeführt werden kann. Die Umgebung lässt sich, je nach Wunsch, über Musik atmosphärisch aufladen und „gestalten“.17 Mit mobilen Abspielgeräten kann zudem auch der öffentliche Raum mit der eigenen Klangwelt versehen werden (Bull 2000). Da die Musik allgegenwärtig wird, wird es auch die Hör-Performance. Imagination, musikalische, auditive Atmosphären und der Anschluss an eine globale Szene werden und sind bis heute ubiquitär. Das Konzert oder der Clubabend bleibt in dieser Konstellation einer der zentralen Orte, um mit Fremden gemeinschaftlich Musik zu hören. Aber er wird zu einem atypischen Hörerlebnis, dessen Qualität gerade darin besteht, sich vom alltäglichen Musikkonsum zu unterscheiden.
17 Vgl. zum Begriff der Atmosphäre Böhme 1995, und DeNora 2000, S. 131-146 zum Einsatz von Musik zur Stimmung von Räumen.
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Begrenzt wird das alltägliche Hören nur durch die Einschränkung des Zugangs zu klanglich hochqualitativen Aufnahmen. Genau diese lieferten aber den besten auditiven Zugang zur Welt der Imagination, welche wiederum über die Bilder der Schallplattenhülle, in Zeitschriften und im Fernsehen zusätzlich Nahrung bekam.
D AS
NEUE PERFORMATIVE
R EGIME
Mit der Durchsetzung digitaler Netzwerke und der Erweiterung der Zugänge zu Musik scheint die zweite Phase der Wertschöpfung zu Ende zu gehen. Wie an anderer Stelle in diesem Buch schon ausgeführt, sind die Erträge durch den Verkauf von Tonträgern rückläufig oder stagnieren. Das bisher gängige Wertschöpfungsmodell durch den Verkauf von Tonträgern (genauer den Verkauf des Rechts zum Abspielen eines Tonträgers) bietet aktuell keine Zukunftsperspektive. Schon in den 1990ern ist die These aufgestellt worden, dass das Zeitalter der Dominanz der Massenproduktion zu Ende geht. Individualisierung, Diversifizierung des Geschmacks und Überproduktion führen zu einer immer weiter ausgefächerten Produktion nicht nur von Alltagsgegenständen, sondern auch von Kulturgütern. Dem industriellen, modernen und seriellen Zeitalter folgt demnach das spielerische, designorientierte und individuelle Zeitalter, bezeichnet zum Beispiel als Post-Industrie, PostModerne oder Multioptionsgesellschaft (Ash 1994; Kumar 1995). Dass diese Entwicklung auch die Musikkultur erreicht, ist nicht unbedingt überraschend. Mit den digitalen Netzwerken ist aber nicht nur die Möglichkeit geschaffen worden, unbegrenzt verlustfreie Kopien von Musik zu erstellen, diese anderen Nutzern des Internets zur Verfügung zu stellen und so den Verkauf derselben unattraktiv zu machen. Es gibt deutliche Hinweise, dass sich das ganze Regime der Musikproduktion, -distribution und -konsumption verändert. Diese Veränderungen betreffen zunächst weniger die Hör-Performance, genauer, die Wirkung auf diese resultiert nicht aus sich selbst heraus, sondern leitet sich aus den Veränderungen in der Produktion und Distribution ab. Mit der Digitalisierung ist nicht nur der Zugang zu kostenfreier Musik angewachsen, sondern das Angebot an Musik ist noch einmal deutlich angestiegen. Es wird immer leichter, eine sehr große Menge an Musik überall
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zur Verfügung zu haben (oder bei der Speicherung auf ein mobiles Gerät mitzunehmen). Überall alles hören zu können, ist mittlerweile Realität geworden. Erweitert zeigt sich nicht nur der Zugang zu Musik, sondern auch die Vorselektion und Bewertung der Musik hat sich verändert. Wie Lange in diesem Buch zeigt, hat das Internet mit seiner Vielstimmigkeit zu einem Bedeutungsverlust der klassischen Massenmedien geführt, die bisher bei der Bewertung und Selektion der Musik ,behilflich ދwaren. Sie werden erweitert durch eine Vielzahl von Bewertungsinstanzen und Plattformen, die im Internet eine Auswahl von Musik anbieten. Die Folge ist, dass es zwar weiterhin einen sogenannten Mainstream gibt, aber er wird umgeben von einer Vielzahl weiterer musikalischer Strömungen und popkultureller Bewegungen (Holert/Terkessidis 1994). Gleichzeitig gibt es auch weiterhin mächtige Institutionen (z. B. die Verkaufscharts des iTune-Stores der Firma Apple, das englische nationale Radio (BBC), Gesangswettbewerbe wie „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) oder „Unser Star für den Eurovision Songcontest“ (Pro 7/ARD), über die das popkulturelle Feld strukturiert und damit auch der Verkauf von Tonträgern oder Konzertkarten mitgesteuert wird. Musikgruppen oder Musiker, die ein sehr breites Publikum ansprechen und hohe Verkaufszahlen erreichen, sind nicht verschwunden. Große Stückzahlen verkaufter Tonträger einzelner Musiker und die Diversifizierung des Angebots sind aktuell kein Widerspruch. Durch die Erweiterung der Bewertungsinstanzen kommt es auch zur Veränderung in der Verbindung von Musik, Lebensweise und Performance. Quelle vieler Inszenierungen und Performances waren in der vorherigen Phase zunächst lokale Szenen. Im Popdiskurs wurden sie oft als Subkulturen bezeichnet. Solche Szenen bildeten sich zum einen durch lokale Entwicklungen, bei der sich eine bestimmte Lebensweise in einer Musik kristallisiert und ausdrückt. Zum anderen waren die Medien, die über diese neuen Formen berichteten, mit an ihrer Erschaffung beteiligt, indem sie ihre Authentizität und Avantgardequalitäten hervorhoben und die oft lose miteinander verbundenen Musiker, Einstellungen und Inszenierungsweisen bündelten und als eine Einheit darstellten (Friedrich 2010, S.183-188). Im Zusammenspiel aus lokaler Entwicklung und globaler Verbreitung konnten immer wieder neue Szenen entstehen, die die ganze Popkultur beeinflussten. Stile wie Punk, HipHop oder Techno wären ohne Medienbe-
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richterstattung nie zu globalen Phänomen geworden (Klein/Friedrich 2003c). Ohne zentrale Medien, welche die ,Botschaften ދeinzelner Szenen einer größeren Anzahl an Personen zugänglich machen, wird die ,Erfindung ދeiner Subkultur komplizierter. Aktuell ist daher auch mehr die Bildung von Szenen zu beobachten, bei denen einzelne Gruppen und Interpreten, teilweise aus der gleichen Region stammend, einer bestimmten Musikrichtung zugeordnet werden (z. B. Dream-Pop, Retromania, MontrealSzene), ohne dass damit ein bestimmter Lebensstil verbunden sein müsste und ohne dass diese Musikstile völlig neue Ausdrucksformen bereithalten müssten. Infrage gestellt sind also nicht nur das Verkaufsmodell über Tonträger, sondern auch die Bewertungsinstanzen und die Koppelung von Musik mit Lebensweisen, und so die Adressierung bestimmter Zielgruppen. Eine Auswirkung der „Krise“ des Tonträgers ist die Verlagerung der Wertschöpfung auf die Konzert-Performance. Anders als digital zugängliche Musik lässt sich der Zugang zu Konzerten und Clubabenden auch weiterhin problemlos kontrollieren und einschränken. So ist es wenig verwunderlich, dass sich in den letzten Jahren die Eintrittspreise für Konzerte deutlich erhöht haben. Es wäre aber vorschnell, von einem neuen Zeitalter der Performance-Musik zu sprechen.18 Die Konzerte werden bisher nicht teuer, weil das Interesse an ihnen zunimmt, sondern weil die Ausgaben für Tonträger sinken. Zu beobachten ist aber die Veränderung des Verhältnisses von Tonträger und Konzert. Waren Konzerte früher mit der Ausnahme von Clubabenden ein Mittel der Werbung für den Verkauf von Tonträgern, sind sie jetzt selber Wertschöpfung. Tonträger und Image werden zum
18 Die Relevanz von Konzerten hat nie vollständig aufgehört. Es ist kein Zufall, dass sich seit Anfang der 70er Jahre Musikszenen etablieren, bei denen die Performances der Musiker stark auf die Erschaffung von Gemeinschaften abzielen. Mit HipHop und Techno entstehen Musikkulturen, deren Erfolg zwar auch über Medien und Tonträger garantiert wird, deren zentrales Ereignis aber das Konzert darstellt. Eine erste Rückkehr der Bedeutung des Konzerts als performatives Ereignis, das den Musiker in den Mittelpunkt stellt, ist deshalb auch im Zusammenspiel von DJs und Rappern zu sehen, bei denen der Tonträger als Ausgangspunkt für die Erschaffung neuer Musik im Konzert genutzt wird (Klein/ Friedrich 2003, S. 154-158).
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Werbemittel für das Konzert und das Konzert bleibt weiterhin Werbemittel zur Anregung des Kaufs von Tonträgern. Nicht nur diese Entwicklung, sondern auch die noch weiter verstärkte Notwendigkeit, auf sich aufmerksam machen zu müssen, führt dazu, dass das Image von Musikern weiterhin einen sehr hohen Stellenwert hat. Die Vorstellungen über Musiker sind weiterhin an Medien gekoppelt und resultieren nicht oder nur selten aus dem Erlebnis eines Konzerts oder Clubabends. Was aber geschieht, ist, dass die Konzertperformance, die nicht selten aus der Bilderwelt der Musikgruppe abgeleitet ist, wiederum in die mediale Bilderwelt zurückgespeist wird, z. B. durch Konzertmitschnitte, die im Internet zu sehen sind. Image und Konzert, mediale Performativität und Konzertperformativität vermischen sich zu einem Gesamtbild und Gesamtklang. Genauso wie die medialen Bilder nicht verschwinden oder an Bedeutung verlieren, bleibt der Tonträger, die vorproduzierte oder aufgenommene Musik, die über ein Medium zugänglich ist, im Zentrum aller Musikkulturen. Nicht nur wird immer noch über die Bereitstellung von Musik Geld verdient, sondern die Basis des Erfolgs eines Musikers ist von dieser abhängig. Im Zentrum des neuen Musikregimes steht also weiterhin die Produktion von Musik, die nicht auf einen bestimmten Augenblick begrenzt ist. Selbst Musik, die live eingespielt wird oder eine einmalige Zusammenstellung bestehender Musik ist (zum Beispiel bei einem DJ-Set), wird aufgenommen und in vielen Fällen in die Netze gespeist. Die immer weiter ansteigende Anzahl an Tonaufnahmen zwingt im Rahmen einer Aufmerksamkeitsökonomie alle Beteiligten zu weiteren, eigenen Musikproduktionen.19 Damit einhergehend ist die Erschaffung eines Images in Form von Bildern, Reportagen oder Interviews genauso wichtig wie im vorherigen Regime.
19 Die Internetplattform soundcloud.com zeigt eindrücklich, welche Ausmaße die Produktion von Musik mittlerweile angenommen hat.
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DER
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Mit der Veränderung der Musikproduktion und -distribution sind starke Ängste wie Hoffnungen verbunden. Diese lassen sich in zwei Szenarien verdichten. In einem negativen Szenario, nicht selten von Vertretern der Musikindustrie vorgetragen, wird der Untergang der kreativen Vielfalt und Neuschöpfungen befürchtet. Ohne monetäre Entlohnung und ein professionelles Umfeld, das Talente entdeckt, aufbaut und einem breiten Publikum zugänglich macht, könnte der musikalische Standard nicht gehalten und die Breite des Angebots nicht garantiert werden. Dieses Szenario hat gemessen an der aktuellen Situation wenig Überzeugungskraft. Zum einen zeigen sich trotz der Schwierigkeiten der Musikindustrie keine Hinweise auf eine Verarmung oder Einschränkung des Angebots. Aber selbst wenn die etablierte Unterhaltungsindustrie tatsächlich ihr Angebot reduzieren müsste, hieße das nicht, dass es zu einer Reduktion des Angebots insgesamt käme. Zum einen könnten kleinere Labels wichtiger werden, die das Angebot an Musik sicherstellen, zum anderen wird schon jetzt ein großer Teil der Musik ohne Entgelt von den Musikern bereitgestellt, ohne dass eine Industrie die Musik ausgewählt, die Mittel für die Produktion bereitgestellt und den Tonträger beworben oder vertrieben hätte. In einem positiven Szenario kann sich die Musikwelt vollkommen von den Restriktionen einer Musikindustrie trennen und so, ohne Bevormundung und Erfolgsdruck, eine neue freie Musik schaffen, an der alle gleichermaßen teilhaben können. Daraus resultiert nicht nur eine neue kollektive Form der Musikproduktion, sondern auch eine neue Musik, mit der das repetitive und atomisierte Musikmachen überwunden wird.20 Auch diese positive Variante besitzt wenig Überzeugungskraft. Selbst wenn die neuen digitalen Produktionsformen sich langsam hin zu kollektiven Musikproduktionen entwickeln und der Austausch von Musik und musikalischen Ideen so einfach wie noch nie ist, wird Musik immer mehr mit Software von Einzelpersonen entwickelt.21 Und auch die Vorstellung einer
20 Die klassische Form einer solchen Utopie, noch ohne Bezug zu Digitalisierung, liefert Attali 1985. 21 So hat sich die Musikproduktionssoftware Ableton nach Angaben des Unternehmens alleine rund 1,7 Millionen Mal verkauft (Quelle: http://www.youtube.com/ watch?v=Y7dIkonCfFE, Abruf: 04.04.2013).
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freien Musikproduktion ist nur partiell zutreffend. Jeder und jede kann zwar mittlerweile der gesamten Welt mit Netzzugang seine Musik frei anbieten, aber um eine Entlohnung für die Produktion zu enthalten, bedarf es auch weiterhin der Mithilfe von vermittelnden Institutionen, die die Wertschöpfung organisieren. Diese Institutionen besitzen aber Zulassungsbeschränkungen und Restriktionen, die auch im neuen Musikregime nicht unbedingt kleiner geworden sind. Es ist daher weder mit dem Untergang der Musik noch mit der Befreiung von allen Zwängen zu rechnen. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist auch nicht zu erwarten, dass die Produktion und der Konsum von Musik vollkommen aus einer monetären Logik herausgelöst werden könnten. Speziell populäre Musik ist immer schon in der Spannung zwischen Kommerz und dem Versuch entstanden, sich von diesem zu befreien. Und das gilt nicht nur für die Produktion, sondern auch für den Konsum, bei der die Bereitschaft, die Arbeit der Musiker zu entlohnen, vom Wunsch der freien Zugänglichkeit der Musik konterkariert wird. Die Wertschöpfung über Musik wird folglich nicht beendet, sondern umstrukturiert. Wenn man sich bewusst macht, dass der Hörer nicht für das Recht, die Musik zu hören, zahlt, sondern für die Möglichkeit der Teilhabe an der performativen Imagination, und es nicht länger möglich ist, den Zugang zu Tonträgern nachhaltig einzuschränken, dann lassen sich aus dem bisher Ausgeführten zwei Möglichkeiten zukünftiger Wertschöpfung ableiten. In beiden Fällen geht die Entwicklung weg von der einfachen massenhaften Bereitstellung von Musik hin zur Betreuung, Schaffung und Gestaltung von Erlebnissen, mit anderen Worten, hin zur Schaffung des Rahmens von performativen Musikereignissen. Die erste mögliche Weiterentwicklung bezieht sich auf das schon jetzt wachsende Konzertgeschäft. Bis jetzt sind Konzerte immer noch in den meisten Fällen der Versuch einer Umsetzung schon vorher aufgenommener Musik und bestehender Images. Es ist aber möglich, Konzerte noch mehr zu einmaligen Ereignissen umzugestalten, die sich noch deutlich stärker als heute voneinander unterscheiden. Gleichzeitig könnten sie auf vielfältige Weise erweitert und variiert werden: durch Kombination mit anderen Veranstaltungstypen, durch die Garantie der Einmaligkeit einer Aufführung oder durch die starke Begrenzung der Anzahl der Zuhörer. Genauso lassen sich singuläre Musikereignisse auch mit asynchronen Zugängen oder Tonträgern verbinden – z. B. dem Zugang zu Konzerten über das Internet gegen
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Bezahlung oder dem verbilligten oder freien Zugang zu Musikstücken oder Streaming-Angeboten im Anschluss an das Konzert. Um die „Einmaligkeit“ eines Konzertes zu verstärken, müsste die vorgetragene Musik individueller werden. Das könnte, wie im Jazz, über Improvisationen gelingen, es wäre aber auch möglich, neue Formen zu entwickeln, wie die Schaffung jeweils völlig neuer Musikstücke oder von Stücken, die im Zusammenspiel mit den Zuhörern entstehen. Eine weitere Möglichkeit besteht in der verstärkten Kombination der Musik mit anderen performativen Künsten (zum Beispiel Theater, Tanz, Performance). Die medialen Verarbeitungen solcher singulärer Ereignisse können jeweils wieder als Zeitdokumente verkauft oder als Werbemittel in die medialen Netze gespeist werden.22 Eine zweite Möglichkeit der Wertschöpfung leitet sich aus dem Überangebot der Musik ab. Schon heute ist es möglich, Musik gegen Gebühr aus dem Internet zu streamen. Aus Millionen von Musikstücken können die Abonnenten sich ihr eigenes Programm zusammenstellen. Die Software dieser Angebote wie Last FM oder Aupeo erlaubt es schon jetzt, entsprechend der Vorlieben des Hörers, ihm ähnliche Musik anzubieten, die er vielleicht noch nicht kennt. Das funktioniert so lange, wie der Kunde vergleichbare Musik hören möchte, um seine Imagination anzuregen. Ausbaufähig ist aber die Bereitstellung von Musik, die der Abonnent nicht kennt und ihm trotzdem gefallen könnte. Die Fähigkeit des Computers, aus den Hörgewohnheiten abzuleiten, was dem Hörer noch gefallen könnte, ist keineswegs ausgereizt. Genauso könnte die Zusammenstellung der Musik nach den Wünschen des Abonnenten erhöht werden, z. B. durch die Möglichkeit, die Stücke ineinander zu mischen, wenn sie für eine Party eingesetzt werden. Zudem könnte die Darstellung und Präsentation über die Verknüpfung mit Bildern, Texten oder bewegten Grafiken ausgebaut werden. Alles was neue Formen der Hör-Performance ermöglicht und über den einfachen Konsum von Musik hinausgeht, könnte neue Wertschöpfungen erlauben. Die Musik auf andere Art zu hören, im Zusammenspiel mit einer virtuellen Welt, die Informationen und Hörer miteinander in Kontakt
22 Damit diese erweiterte Wertschöpfung über das Konzert gelingt, müsste sich die Musik und vor allem ihre Performance ändern. Wenn aber das Konzert wieder in das Zentrum der Wertschöpfung gelangt, dann ist es plausibel anzunehmen, dass auch die Musiker ihre Fähigkeiten beim Spielen der Musik erhöhen werden.
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bringt, wäre genau der Mehrwert, den das einfache Abspielen von Musik nicht bietet. Auch hier geht es um die Schaffung singulärer Hörerlebnisse, bei denen nicht nur zählt, was abgespielt wird, sondern wie es zustande kommt, wer daran teil hat und was zusätzlich zur Musik mitgeliefert wird.
F AZIT Mit einem Begriff wie Performativität ist es möglich, neue Sichtweisen zu generieren, die stärker als bisher Entwicklungen und Verknüpfungen auf unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen können. Er erweist sich als nützlich beim Verständnis neuer Kultur- und Ausdrucksformen, wie sie durch die Digitalisierung und Vernetzung angestoßen werden. In Bezug auf die Veränderungen in der Musikkultur zeigt sich: Wenn die nicht-legale Kopie von Musikstücken in Zukunft nicht nachhaltig unterbunden wird, dann ist es zur Wertschöpfung im Rahmen von Musikproduktionen notwendig, neue performative Formen der Hör-Performances zu schaffen, entweder im Rahmen der digitalen Medien oder durch die Schaffung und Vermarktung von einmaligen Ereignissen, die sich zugleich in bekannten theatralen Rahmen bewegen. Das Hauptproblem der Musikindustrie ist danach nicht die Unmöglichkeit der Wertschöpfung, sondern die schwierige Abwendung von einem alten Geschäftsmodell, das auf Massenproduktion fixiert ist. Radikalisiert man die hier angestellten Überlegungen, so ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass aus Sicht der Wertschöpfung Musik nicht länger als Ware oder Recht betrachtet werden darf, sondern als ein Medium der Hör-Performance. Nur dann kann es gelingen, die Musikindustrie davor zu bewahren, langsam ein Auslaufmodell zu werden.
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Interview Sascha Kösch, Musikjournalist
Seit fast 25 Jahren DJ und über 20 Jahren Autor (u. a. für so diametral verschiedene Magazine wie Spex und Frontpage) ist Sascha Kösch seit 1997 Herausgeber, Mitgründer, Redaktionsmitglied und Admin von De:Bug, Zeitung für elektronische Lebensaspekte, und begleitet die Entwicklung neuer Technologien und elektronischer Musik. Als Redakteur bei Engadget frönt er seiner Gadget-Faszination und (nicht nur) mit einer wöchentlichen Livestreaming Show, UR Wedding, seiner DJLeidenschaft.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Berufsbedingt höre ich ja schon immer vor allem Musik in einem bestimmten Genre. Mit klassischen Broadcast-Medien für Musik wie Radio oder Ähnliches hatte ich auch damals (vor diesem Zeitraum) nichts zu tun, und höre Radio auch jetzt z. B. nur beim Taxifahren. Obendrein teste ich nahezu alles was es an neuer Software im Bereich Musik so gibt, speziell wenn es um neue Arten des Hörens oder Teilens online geht. Die größte Tendenz die es geben mag, wäre, dass sich mein Hören weitestgehend um den Rechner herum orientiert hat. Was Promos betrifft, landet bei mir mittlerweile ein überwiegender Teil digital via Mail oder diverse Messaging-Services, auch wenn die Menge an CDs und Vinyl, die man für eine Zeitung wie De:Bug bekommt, immer noch bekommt, nicht zu unterschätzen ist. Aufgrund meiner kompletten Abneigung gegenüber CDs habe ich CDs aber z. B. immer schon erst nach dem Rippen auf den Rechner von dort aus gehört. Vinyl spielt auch zu Hause noch eine große Rolle, auch wenn ich mittlerweile meist auch digital als DJ auflege. Natürlich habe ich alle CloudMusik und Filesharing-Varianten getestet, keine davon konnte aber meine Hörgewohnheiten bislang mehr als für eine Woche Begeisterung wirklich verändern, unterwegs höre ich nach wie vor eh nur meine eigenen Mixe
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(das auch schon länger als fünf bis acht Jahre) und Cloud-Locker (neben den klassischen Streaming-Angeboten wie Spotify, Rdio etc.) sind bei der extremen Fluktuation neuer Musik, der ich „ausgesetzt“ bin, auch nur marginal interessant. All das führt vor allem dazu, dass ich Musik immer mehr und immer schneller skippe und immer besser in der Lage bin, auch aus wenigen Sekunden Musik-Information herauszuziehen, ob dieser oder jener Track für mich interessant sein könnte. Die zwei Dinge die sich über die letzten fünf bis acht Jahre konsequent verändert haben, sind mehr und mehr Musik über YouTube zu suchen (wobei Hören da meist eher eine Qual ist, was ich vermeide) und natürlich SoundCloud. Für mich ist das der einzige Online-Service, der sich konsequent als wichtige Quelle für neue Musik durch diesen Zeitraum entwickelt hat.
Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Kurze Antwort: überall. Ich denke, der Tonträger hat noch nicht ausgedient und wird auch in Kürze nicht komplett marginalisiert werden. StreamingEinnahmen wachsen bei allen, gelegentlich scheinen die Verkäufe über diesen Weg (auch was ganze Länder betrifft) durch mehr Durchdringung solcher Services den klassischen Verkauf von Einheiten statt zu kannibalisieren, eher noch anzutreiben. Die Tendenz für Künstler, alles selbst in die Hand zu nehmen, ist längst noch nicht da wo sie speziell für Klein- und Kleinstverdiener längst sein könnte, und ich sehe immer mehr Musiker, die jetzt erst nach und nach entdecken, dass man seine Musik auch selbst relativ unproblematisch verkaufen kann. Natürlich liegen noch Berge von MP3-Einnahmen bei z. B. der GEMA und die Sperrkonten werden langsam aufgelöst, sodass damit auch ein Bewusstsein entwickelt werden könnte, dass sich über diese Wege Geld verdienen lässt. Natürlich werden auch Live-Verdienste, Merchandising, Werbeverträge und generell Zweitverwertungsketten immer relevanter werden. Mit Musik über Bande Geld verdienen also. Auch klassische Online-Services wie YouTube, SoundCloud etc. könnten noch weitaus besser in diesen Rahmen eingebunden werden. Sämtliche Ideen, was z. B. Liveauftritte im Netz und deren Monetarisierung betrifft, sind längst noch nicht ausgereift, Crowdfunding-Projekte in den letzten Jahren schon weit gekommen, Selbstvermarktung bei Werbetreibenden steckt noch in den Kinderschuhen, Verkäufe von Samples (als Sample-
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Packs etc.) ist bislang noch weitestgehend ein Geschäft in der Hand weniger Firmen. Man sollte auch das Geschäft mit Musik-Daten nicht vergessen, an dem Musiker letztendlich auch (in welchem komplexen Geldfluss auch immer) teilhaben könnten und werden, was zum einen auf der Basis von Überlegungen wie z. B. einer Nähe von gewissen Musikstilen zu gewissen Marken und Produkten funktionieren dürfte, aber auch was z. B. exakte regionale Charts und damit Aufmerksamkeits-Relevanz betrifft, im einfachen Beispiel: Band möchte eine Tour machen, weiß aber nicht wo die Konzerte ausverkauft sein können, Facebook aber, oder Spotify, d. h. finanziell erfolgreichere Planung. Ich erwarte an allen möglichen Stellen ein weiteres Ausufern von stellenweise sicherlich auch bizarren Geschäftsmodellen rings um Musik, vor allem im Online-Bereich, von denen sich letztendlich nur sehr wenige als für den Künstler wirklich relevant herausstellen werden. Die Beispiele einzeln aufzuzählen dürfte den Rahmen sprengen, aber denken wir mal an folgende Situation: Man geht ohne vorher zu fragen in einen Club, hört einen DJ, hört genau die Musik, die man immer hören wollte, und dann? Nirgendwo im Raum schwirrt eine Playliste abgreifbar herum, die sich perfekt monetarisieren ließe, nirgendwo räumlich wirklich begrenzte Information über den Abend, vor dem Club weiß niemand wirklich, was drinnen musikalisch vorgeht, und die GEMA erfährt sowieso nichts von all dem. Alles Dinge die längst nicht mehr sein müssten, und die jede Menge neue Wertschöpfungsketten ermöglichen könnten.
Durch was werden diese ausgelöst? Jenseits der Innovation auf dem Sektor Online, was die reine Programmierung betrifft, die heute schon weit mehr an Spaß mit Musik ermöglichen würde, ist vor allem ein einfacheres und globales, zumindest aber EUweites (in unserem Fall) Lizenzierungsrecht notwendig, denn nicht selten werden ja amüsante und vielversprechende Projekte wie z. B. Turntable.fm (von YouTube wollen wir da mal gar nicht reden) dadurch in ihrer möglichen Entwicklung geblockt. Es dürfte in den nächsten Jahren eine Menge an Entwicklung in dem Bereich zwischen Verwertern und Verwertungsgesellschaften geben, vor allem was eine Vereinfachung, aber auch eine Preisminderung betrifft, denn gerade der Sektor der Verwertungsgesellschaften hängt dem Internet doch sehr arg hinterher. Bandbreite ist ein weiterer Faktor, der solche Geschäftsmodelle extrem behindert, auch wenn es
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mittlerweile Dinge wie eine Spotify-Flatrate inklusive endlosem Datenvolumen der Telekom gibt, so wird man doch viel zu oft auf enge Kanäle zurückgeworfen. Speziell im Auto (dort wo klassischerweise das Radio noch regiert) dürfte sich diese Situation in den nächsten Jahren rasant ändern. Der dritte entscheidende Faktor dürfte eine Verbesserung der Kommunikations-Schnittstelle zwischen den einzelnen Plattformen sein. Es gibt bislang keine gültige weltweite Musik-DNA auf die man zugreifen könnte, kein semantisches Web von Musik, und bei allen Möglichkeiten, die diverseste APIs der Services bieten, stößt man bei den möglichen Verbindungen viel zu oft auf Grenzen und für einen normalen User auf Dinge, die er nicht nachvollziehen wird. Beispiel: Wenn ich ein Musikstück höre, kann ich es zwar mithilfe des Apps Shazam oder ähnlichen Varianten mit Glück identifizieren lassen, lande dann aber weder bei meiner bevorzugten Kaufplattform oder meiner persönlichen Musikhörsituation, noch bei dem Künstler selber und dessen Direktverdienstmöglichkeiten, noch bei meiner Lieblings-Info-Seite dazu, noch beim nächsten Auftritt etc., und Feedback an der wirklich relevanten passenden Stelle kann ich auch nicht abgeben.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Für Labels dürfte vor allem eine Anforderung immer wichtiger werden, einen umfassenden Service und ein umfassendes Reporting an ihre Künstler liefern zu können, und sich im Markt so gut auszukennen, dass alle neuen Methoden transparent für den Künstler so gut ausgewertet werden, dass er sich um möglichst wenig kümmern muss. Ausgangslage zur Zeit ist ja, eigentlich ist ein Künstler fast schon blöd, mit einem Label zusammenzuarbeiten und nicht selber seine Musik zu verwerten, denn der reine Zugang zum Markt, die Distributionswege und die Promotionmöglichkeiten etc. stehen ihm in den meisten Fällen selbst zur Verfügung. Die Label dagegen verdienen eigentlich immer weniger, weil sie nicht zuletzt immer größerer Konkurrenz im Musikmarkt, aber auch den angrenzenden Märkten, die Zeit und Aufmerksamkeit fordern, und natürlich auch einer immer „kostenloseren“ Verfügbarkeit ausgesetzt sind. Damit meine ich nicht nur Piraten, Releaseflut, Streaming etc. sondern auch ganz banale Dinge wie Facebook oder Games oder Video, die schlichtweg Zeit von möglichem Musikkonsum kappen. Gleichzeitig ist die Hauptanforderung von Künstlern natürlich, eine Übersicht zu bekommen nicht nur über all die Möglichkeiten, die sich
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ihm selbst bieten für Verkauf von Musik oder anderen Dingen bzw. seiner Zeit, für Promotion und Distribution etc., welche Images solche Möglichkeiten oder eine Verweigerung derer mit sich bringen (z. B. banal formuliert: Ist es cool oder uncool auf Beatport, SoundCloud, Spotify etc. zu sein) und was er davon selber leisten kann oder will und wie sich diese Entscheidung auf Verträge, die er mit Labeln oder anderen schließt, auswirken würde. Das alles ist für beide nur schwer zu bewerkstelligen, d. h. es dürfte in Zukunft noch mehr Tools und Medien geben, die diese Arbeit und solche Entscheidungen für beide leichter machen.
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Targeting bzw. die massive Reduktion von Streuverlust ist bei Werbung ja längst zu einem der Paradigmen der Zeit geworden und lässt sich online in einem bislang völlig unbekannten Maß spezifizieren und detaillieren. Natürlich sollte und müsste die Musik-Wertschöpfungskette fähig sein, dort anzusetzen und mit ähnlichen Methoden oder im Rückfluss dieser Methoden daran teilhaben. Das meint natürlich auch soziale Netzwerke oder Clubs, und natürlich findet ein Feedback zwischen diesen statt. Die Produktion ortsbezogener Daten, bis runter zur einfachen Message auf Facebook, explodiert ja nach wie vor. Bislang z. B. ist es in den größten Teilen allerdings völlig uneinsichtig, welche Relevanz diese Daten eigentlich erzeugen könnten, außer vielleicht für Marketingprofis. Wie im oben genannten Beispiel der Tourplanung via Spotify oder Facebook ist es aber durchaus relevant und dürfte auch irgendwann greifbarer angeboten werden, als nur in den FB-Insights einer Fanpage. Bislang z. B. ist es höchst müßig herauszufinden, welche Webseiten wo eigentlich wirklich massiv genutzt werden. Einfachstes Beispiel: Wenn ich wissen will, wie und wo sich Menschen in Köln über Clubabende informieren, bin ich auf umständlichste meist eher anekdotische Erfahrungen angewiesen, statt irgendwo nachsehen zu können. Dabei darf man weder den ortsbezogenen viralen Effekt diverser Netzwerke noch eben die Erfahrung derjenigen vor Ort unterschätzen. Auch Zusammenschlüsse von sozialen Einheiten wie zuletzt z. B. bei Clubs in Berlin gegen die GEMA darf man nicht unterschätzen.
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Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Ich denke die Frage geht vor allem in Richtung Politik? Wenn ja, dann wären natürlich dezidierte Musikbeauftragte in einer Stadt oder Region sinnvoll, die sich nicht nur in dem weiten Feld der Musikproduktion ihrer Region auskennen, sondern auch in deren Verhältnis zur gesamten Distributions- und Promotions-Kette (das schließt soziale Netzwerke mit ein). Den Mangel an Information diesbezüglich schätze ich als massiv ein, selbst dort, wo es solche Leute gibt. In Abwägung einer generellen Strategie für die jeweilige Stadt oder Region ließe sich aber sicherlich in allen Bereichen nur dann wirklich etwas Sinnvolles machen, weil nur dort, wo man die eigenen Stärken (und Schwächen) kennt, eine Investition wirklich sinnvoll sein kann.
Musikevents als Bühnen für den Urheberrechtsdiskurs1 Elke Schüßler und Leonhard Dobusch
AUSGANGSPUNKT : F ELDKONFIGURIERENDE V ERANSTALTUNGEN IN KREATIVEN F ELDERN „Events“ in der Form von Konferenzen, Festivals, Messen oder Preisverleihungen spielen eine bedeutende Rolle in symbolintensiven kreativen Märkten (Moeran/Strandgaard-Pedersen 2011). Bei derartigen Veranstaltungen, in der organisationssoziologischen und wirtschaftsgeographischen Literatur auch als feldkonfigurierende Veranstaltungen („field-configuring events“, Lampel/Meyer 2008), Wertwettkämpfe („tournament of values“, Moeran 2010, basierend auf Apparudai 1988), Wettkampfrituale („tournament rituals“, Anand/Watson 2004) oder temporäre (Maskell et al. 2006) und zyklische (Power/Jansson 2008) Cluster bezeichnet, werden die ökonomischen, sozialen und symbolischen Ressourcen von Akteuren eines organisationalen Feldes produziert, sichtbar gemacht, verhandelt und bewertet (Lampel 2011). In diesem Beitrag interessieren wir uns für die Rolle solcher feld-
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Dieser Artikel trägt unterschiedliche Einsichten zusammen, die in einem zwischen 2008 und 2011 von Elke Schüßler, Leonhard Dobusch und Lauri Wessel an der Freien Universität Berlin durchgeführten Forschungsprojekt über Events in der deutschen Musikwirtschaft entwickelt und teilweise bereits in Dobusch/ Schüßler (2013), Schüßler/Sydow (2013) und Schüßler et al. (2013) zum Ausdruck gebracht wurden. Die empirische Analyse folgt Dobusch/Schüßler (2013).
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konfigurierenden Veranstaltungen in der aktuellen Umbruchssituation in der Musikwirtschaft, in der eine hohe Unsicherheit über erfolgsbringende Geschäftsmodelle besteht und sich alternative Wertschöpfungskonfigurationen entwickeln. Die Musikindustrie zählt zu den sogenannten Urheberrechtsindustrien, deren Kernaufgabe es ist, urheberrechtlich geschützte Inhalte zu schaffen, zu produzieren und zu vermarkten. Das zentrale Geschäftsmodell der Musikindustrie – der Verkauf von CDs an Konsumenten – steht unter Druck, seit im Zuge der Digitalisierung der Online-Tausch von MP3-Dateien Ende der 1990er Jahre zum Massenphänomen wurde (z. B. Green 2002; Liebovitz 2006; Molteni/Ordanini 2003; Tschmuck 2006). Wie jüngere Entwicklungen im Film- und E-Book-Bereich (z. B. Øiestad/Bugge 2013) oder auch in der Nachrichtenproduktion (z. B. Koch 2008) zeigen, war die Musikindustrie in dieser Hinsicht auch ein Vorreiter für andere kreative Branchen. Der digitale Wandel ist hierbei aber nicht nur für Geschäftsmodelle und Unternehmensstrategien selbst von Bedeutung, sondern auch für die ihnen zugrunde liegenden regulativen Institutionen wie das Urheberrecht und standardisierte Kopierschutztechnologien („Digitales Rechtemanagement“, DRM) sowie für den gesellschaftlichen Wert kultureller Güter generell (Dolata 2008; Lessig 2003). Es ergeben sich somit weitreichende Veränderungen in den betroffenen kreativen Feldern, deren Form und institutionelle Grundlagen noch lange nicht abschließend geklärt sind. Ein organisationales Feld ist definiert als „a community of organizations that partakes of a common meaning system and whose participants interact more frequently and fatefully with one another than with actors outside of the field“ (Scott 1994, S. 207-208). In kreativen Feldern beziehen sich solche Interaktionen zwischen Feldakteuren entsprechend auf eine bestimmte kreative Aktivität. Kreative Felder sind demnach nicht mit Kreativindustrien gleichzusetzen, weil sie nicht nur Produzenten und Konsumenten kreativer Güter umfassen, sondern auch andere beteiligte Akteure wie Kritiker, Bildungsinstitutionen oder Schutzherren, die zusammen einen sichtbaren Bereich institutionellen Lebens bilden (vgl. Delacour/Leca 2011). Veranstaltungen sind als „sites of negotiating values“ (Moeran/Strandgaard-Pedersen 2011) in kreativen Feldern besonders wichtig, weil symbolintensive Güter ihren ökonomischen Wert nicht auf Basis ihres Kundennutzens, sondern durch sozial bedingte, erfahrungsbasierte und von Intermediären gesteuerte Geschmacksbildungsprozesse erhalten (Bourdieu 1993/
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1971; Caves 2000; Hirsch 2000; Lampel et al. 2000). Film-, Buch-, oder Musikpreise beispielsweise signalisieren die Qualität eines kulturellen Gutes und beeinflussen so die Auswahlentscheidungen von Konsumenten, was wiederum das symbolische und ökonomische Kapital der am Schaffensprozess beteiligen Akteure erhöht (z. B. Anand/Jones 2008; Gemser et al. 2008). Musikfestivals eröffnen durch ihre Programmentscheidungen Angebote zur Klassifizierung von Musik und beeinflussen so die Entstehung neuer Genres (Paleo/Wijnberg 2006). Messen oder Ausstellungen wiederum können durch die Größe und Anordnung von Ständen und Objekten Statusunterschiede in Szene setzen und hierdurch bestärken (z. B. Moeran 2011). Bestehende Analysen richten ihren Blick dabei meist auf Leitveranstaltungen wie die Grammy-Preisverleihungszeremonien (Anand/Watson 2004), die Londoner und Frankfurter Buchmesse (Moeran 2010) oder die London Fashion Week (Entwistle/Rocamora 2006). Dabei fokussieren diese Studien deren Rolle bei der routinehaften Strukturierung von Beziehungen, Machtverhältnissen oder Kapitalformen in den entsprechenden kreativen Feldern, in die sie eingebettet sind. Nur wenige Studien untersuchen hingegen, wie sich die erweiterte Event-Landschaft solcher Felder dynamisch verändert, zum Beispiel weil führende Veranstaltungen in ihrer Rolle hinterfragt, mit Alternativen konfrontiert oder gar deinstitutionalisiert werden. Typischerweise gibt es in kreativen Feldern verschiedene kommerzielle und nicht-kommerzielle Veranstaltungen, die um Förderungsmöglichkeiten, Aufmerksamkeit und Besucherzahlen kämpfen (Rüling/Strandgaard Pedersen 2010). Gerade in Umbruchsituationen ist zu erwarten, dass sich auch Verschiebungen in der Event-Landschaft eines kreativen Feldes ergeben, die einerseits bestimmte übergeordnete Veränderungsprozesse widerspiegeln, andererseits diese womöglich auch vorantreiben. Im Feld der Bildenden Kunst beispielsweise war der Pariser „Salon de peinture et de sculpture“, eine bereits im Jahr 1663 gegründete regelmäßige Kunstausstellung, lange die zentrale feldkonfigurierende Plattform, bis sie aufgrund ihrer zunehmend konservativen Ausrichtung Ende des 19. Jahrhunderts von impressionistischen Künstlern wie Monet und Manet boykottiert und letztendlich durch ein neues, auf Kunsthändler, Galerien und Kritikern basierendes Selektionssystem ersetzt wurde (Delacour/Leca 2011). Feldkonfigurierende Veranstaltungen in kreativen Feldern müssen somit gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen und neue Impulse setzen, um
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ihr stil- und geschmacksprägendes Mandat aufrechterhalten zu können (vgl. auch Rülings Studie des Internationalen Zeichentrickfilmfestivals in Annecy; Rüling 2011). Basierend auf einer empirischen Analyse von Konferenzen in der deutschen Musikevent-Landschaft zwischen 2001 und 2010 arbeiten wir in diesem Beitrag heraus, welche Rolle Veranstaltungen bei der Entwicklung neuer Wertschöpfungskonfigurationen im kreativen Feld der Musikwirtschaft spielen. Konkret untersuchen wir mithilfe der argumentativen Diskursanalyse Hajers (1993), wie sich die Event-Landschaft in der deutschen Musikwirtschaft über die Zeit verändert hat und welche Rolle einzelne Veranstaltungen bei der Diskussion um neue Wertschöpfungsmöglichkeiten gespielt haben.
K ONFERENZEN
ALS DISKURSIVE R ÄUME : GESCHÄFTSMODELLE , WERTE UND REGULIERUNG VERHANDELN Basierend auf Hajer (1995, 2003) haben die Organisationsforscher Hardy und Maguire (2010) Konferenzen der Vereinten Nationen jüngst als diskursive Räume beschrieben, in denen Akteure unterschiedliche Ansichten über sie betreffende Themen und Probleme diskutieren und dabei ihre favorisierten Lösungsvorschläge durchzusetzen versuchen. Akteure können diese Räume gezielt nutzen, um in einem organisationalen Feld neue Narrative ins Spiel zu bringen, die institutionelle Veränderungen provozieren. Diese Beschreibung trifft auch auf andere Veranstaltungskontexte zu. McInerney (2008) beispielsweise illustrierte am Fallbeispiel von Technologiekonferenzen, wie institutionelle Unternehmer das organisationale Feld von Technologien für gemeinnützige Organisationen in den USA dauerhaft prägten, indem sie bei einer wichtigen Strategiekonferenz dem üblichen gerechtigkeitsorientierten Diskurs gesellschaftlich akzeptierte ökonomische Argumente entgegensetzten und so finanzielle Unterstützung für ihr Unterfangen gewinnen konnten. Neue Event-Formate wie „Barcamps“ oder „Unkonferenzen“ mit einem von den Teilnehmern definierten und gestalteten Programm werden gezielt dafür eingesetzt, um einen offenen Dialog zu befördern und innovative Ideen hervorzubringen (z. B. Wolf et al. 2011).
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Im Kontext der sich verändernden Musikwirtschaft eröffnen verschiedene Veranstaltungen derartige diskursive Räume. Viele Messen und Festivals bieten zusätzlich zum Kernprogramm Diskussionspanels und Workshops. Darüber hinaus gibt es eigenständige Konferenzen oder Tagungen, bei denen musikwirtschaftliche Themen diskutiert werden. In der deutschen Musikwirtschaft gibt es eine Reihe international sichtbarer Veranstaltungen, allen voran die 1989 gegründete Popkomm, einst die drittgrößte Musikmesse weltweit, bis sie 2009 unter Verweis auf die Krise der Musikindustrie temporär abgesagt und 2012 endgültig eingestellt wurde. Parallel zum Niedergang der Popkomm kam es in Deutschland zur Gründung vieler neuer Events, die als Bühne für die Diskussion des technologischen und geschäftlichen Wandels und dessen Konsequenzen für Praktiken der Musikproduktion, -distribution und -konsumtion dienen. Diese Neugründungen adressierten nicht nur zentrale Fragestellungen wie jene nach gesellschaftlichen und kulturellen Werten oder dem Urheberrecht, sondern experimentierten auch mit neuen Veranstaltungsformaten abseits des klassischen Messekonzepts. Angesichts dieser dynamischen Entwicklung kann der Fall der deutschen Musikwirtschaft als ein geeignetes Untersuchungsfeld für die Rolle von Veranstaltungen bei der Entwicklung neuer Wertschöpfungskonfigurationen angesehen werden (Flyvbjerg 2006). Wichtig ist hierbei nicht nur die Frage, wie und von wem Veranstaltungen als diskursive Räume genutzt werden, sondern auch, wer durch die Neugründung oder Veränderung von Veranstaltungen überhaupt welche diskursiven Räume schafft. Das Konzept der diskursiven Räume entstammt Hajers Ansatz der Argumentativen Diskursanalyse (Hajer 1993, 2005 und 2008). Diskursive Räume bilden sich um ein bestimmtes Themen- und Problemfeld herum – in unserem Fall besteht es in der Digitalisierung und deren Konsequenzen für bestehende Geschäftsmodelle in der Musikindustrie sowie in einer möglicherweise notwendigen Reform des Urheberrechts (Dobusch/Quack 2013). In diesen diskursiven Räumen werden in Prozessen der Diskursstrukturierung und Diskursinstitutionalisierung neue Wertschöpfungsorientierungen verhandelt, die im Laufe der Zeit eine neue dominierende Problemdefinition hervorbringen, welche sich dann in neuen institutionellen Praktiken und Arrangements manifestiert (Hajer 1993). Nach Hajer müssen diskursive Prozesse also immer auch im Zusammenhang mit den sozialen Praktiken, durch die ein Diskurs (re-)produziert wird, verstanden werden.
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Hajer definiert Diskurs folglich als „ein Ensemble von Ideen, Konzepten und Kategorien (….), durch das ein Phänomen mit Bedeutung versehen wird, und welches durch ein bestimmtes, identifizierbares Set von Praktiken produziert und reproduziert wird“ (Hajer 2008, S. 278). Für die Durchführung einer Argumentativen Diskursanalyse schlägt Hajer vor, unterschiedliche Story-Lines zu identifizieren, die von verschiedenen Diskurs-Koalitionen als Medium politischen Handelns verwendet werden, um komplexe Diskursinhalte und unterschiedliche Argumente zusammenzufassen. So wird gemeinsames Handeln möglich, auch wenn von einem völligen Einverständnis zwischen den beteiligten Akteuren nicht auszugehen ist. Eine Story-Line ist demnach ein „knackiges Statement“ (Hajer 2008, S. 277), das eine Erzählung zusammenfasst und als Kurzform in Diskussionen genutzt werden kann. Die Bildung von Story-Lines setzt die diskursive Affinität, also die Bezogenheit bestimmter Argumente voraus. Eine Diskurs-Koalition bildet sich dann, wenn aus unterschiedlichen Gründen eine Gruppe von Akteuren ein bestimmtes Set von Story-Lines verwendet, um mehrdeutige soziale Phänomene politisch zu rahmen und handlungsfähig zu werden. Diese Koalition muss dabei nicht unbedingt intendiert oder abgestimmt sein, sondern folgt aus der konkreten diskursiven Praktik der jeweiligen Akteursgruppen. Im Folgenden legen wir dar, wie wir bestimmte diskussionsorientierte Veranstaltungen in der deutschen Musikwirtschaft als Ankerpunkte für argumentativen Austausch ausgewählt haben. Auf diese Weise versuchen wir, die Entwicklung von Story-Lines und Diskurs-Koalitionen in Bezug auf neue Wertschöpfungskonfigurationen im Angesicht der Digitalisierung nachzuzeichnen. Wir beginnen unsere Analyse im Jahr 2001, ein aus rechtlicher Perspektive kritischer Zeitpunkt für die Entwicklung der deutschen Musikindustrie, weil nach der Verabschiedung einer neuen EU-Urheberrechtsrichtlinie im Jahr 2001 nationale Urheberrechtsreformen in Angriff genommen wurden und entsprechende Debatten um den Wert kultureller Güter, neue Geschäftsmodelle und mögliche Regulierungsreformen in – teilweise neuen – diskursiven Räumen aufflackerten.
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AUFBAU
DER
E MPIRISCHEN U NTERSUCHUNG
Fallauswahl Um Makro-Dynamiken, also die Zahl fortlaufender, neu gegründeter und eingestellter Veranstaltungsserien in der Event-Landschaft der deutschen Musikwirtschaft zu erfassen, betrachten wir zum einen die Entwicklung aller Veranstaltungen, die zwischen 2001 und 2010 mit diskussionsorientierten Formaten wie Panels oder Workshops ausgestattet waren. Zum anderen analysieren wir detailliert die Repräsentation von vier ausgewählten Veranstaltungsreihen in der Presse, um Story-Lines und DiskursKoalitionen zu identifizieren: die Popkomm (zunächst in Köln und später in Berlin), die all2gethernow (a2n) in Berlin, die c/o pop/C’n’B in Köln und das Reeperbahn Festival/Campus in Hamburg. Diese vier Fälle sind für unsere Fragestellung relevant, weil sie jeweils andere Wertvorstellungen propagieren und unterschiedliche Geschäftsmodelle repräsentieren. Gleichzeitig werden sie in der Öffentlichkeit häufig gegenübergestellt und haben – mit Ausnahme der Popkomm – eine vergleichbare Größe (s. Tab. 1). Die Popkomm steht für das „klassische“, von den Major-Labels dominierte und auf dem Verkauf physischer Tonträger basierende Musikgeschäft. Sie fand im Zeitraum von 1990 bis 2003 jährlich in Köln statt und zog 2004 im Rahmen ihrer Internationalisierungsstrategie nach Berlin um. Sony BMG gab jedoch im Jahr 2008 seinen Rückzug von der Popkomm bekannt, weil das Messeformat nicht mehr zeitgemäß sei und stattdessen Diskussionsforen zu Themen wie Open Innovation und neuen Geschäftsmodellen erforderlich seien. Im folgenden Jahr verzeichnete die Popkomm einen Buchungsrückgang von knapp 50 % im Vergleich zum Vorjahr, was die Veranstalter zur Absage bewegte. Im Jahr 2010 kam es dann zur Neuauflage der Popkomm unter dem Dach der vom Berliner Senat vorangetriebenen Berlin Music Week, bis der Event dann 2012 wieder eingestellt wurde.
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Tabelle 1: Eckdaten der vier Veranstaltungsreihen Popkomm
c/o pop/ C’n’B
a2n
Reeperbahn Festival/Campus
Gründung, Standort
.|OQ 2004-2011 (ohne 2009), Berlin
2004/2009, Köln
2009, Berlin
2006/2009, Hamburg
Programmatischer Fokus
Fachmesse, Kongress und Festival für alle Bereiche der populären Musik
Festival für elektronische Popmusik, Fachtagung für Kreativindustrien
Barcamp zur Diskussion alternativer Geschäftsmodelle, gerichtet an Künstler, Blogger und die Open-SourceBewegung
Festival für Independent Musik und Kongress rund um das LiveMusik-Geschäft
ca. 1000
ca. 1000
ca. 1500
ca. 15.000 Fachbesucher (ohne Festival)
Quelle: Eigene Recherchen in Fachzeitschriften, Medienberichten und den Websites der Veranstaltungen
Nach der Abwanderung der Popkomm nach Berlin entstand im Jahr 2004 am ursprünglichen Popkomm-Standort Köln die c/o pop (kurz für „Cologne on Pop“), die sich rasch auch international als Musikfestival für in erster Linie elektronische Musik etablieren konnte, aber auch als Diskussionsplattform für Themen, die mit der Zukunft der Musikwirtschaft im Zuge der Digitalisierung zu tun hatten. 2009 wurde das Festival um die C’n’B (kurz für „Creativity and Business“) Convention erweitert, eine zweitägige Austauschplattform für die Kreativwirtschaft und die Unterhaltungsindustrie. In Berlin gründeten Protagonisten der digitalen Szene und OpenSource-Bewegung im Jahr 2009 die a2n als Alternative zur abgesagten Popkomm. Nach einem Intermezzo als Teil der Berlin Music Week existiert die a2n seither Dachmarke für mehrere kleinere, über das Jahr verteilte und größtenteils in Berlin stattfindende Diskussionsveranstaltungen und Workshops. Das Reeperbahn Festival in Hamburg hingegen wurde 2006 als Livemusik-Festival nach dem Vorbild der erfolgreichen South by Southwest in
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Texas gegründet und im Jahr 2009, dem Jahr der ersten Popkomm-Absage, um den Konferenzteil Reeperbahn Campus ergänzt. Es zeigt sich also, dass sich diese vier Veranstaltungsreihen im wechselseitigen Bezug zueinander entwickelt haben und dabei das Ziel verfolgten, jeweils eigene Akzente in der Entwicklung der Musikwirtschaft zu setzen. Daher scheint ein Vergleich der durch diese Veranstaltungen angestoßenen Diskussion in Bezug auf Geschäftsmodelle, Werte und Urheberrecht fruchtbar. Datenbasis und Datenanalyse
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Für die Analyse der gesamten Event-Landschaft haben wir zunächst das Archiv der „Musikwoche“, der führenden deutschsprachigen Branchenzeitschrift für den Bereich der populären Musik, nach den Begriffen „Konferenz“, „conference“ and „camp“ durchsucht und eine Aufstellung aller Treffer pro Jahr unseres Untersuchungszeitraums vorgenommen. Hierbei haben wir 77 Nennungen ermittelt, von denen auf Grund unseres Fokus auf die deutsche Musikwirtschaft alle ausländischen Events (z. B. den Amsterdam Dance Event) und Events aus anderen Branchen (z. B. die Frankfurter Buchmesse) in der Auswertung nicht berücksichtigt wurden. Daran anschließend haben wir auf der Basis von Online-Recherchen Informationen über Ausrichtung, Inhalte und Eckdaten der verbleibenden Veranstaltungen recherchiert. Auf diese Weise konnten wir die Zahl der für unsere Untersuchung relevanten Veranstaltungen weiter verringern und beispielsweise internationale Events ausklammern, die nur einmal in Deutschland stattfanden (z. B. die World Music Expo). Am Ende erreichten wir eine Gesamtzahl von 24 verschiedenen Veranstaltungen bzw. Veranstaltungsreihen (siehe Tab. A.1 im Anhang). Im zweiten Schritt haben wir eine Argumentative Diskursanalyse jener Medienberichterstattung durchgeführt, die durch die von uns fokussierten vier Events angestoßen wurde. Hierzu haben wir in regionalen Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Rheinische Post Düsseldorf, Hamburger Abendblatt) und nationalen Zeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung) sowie in den Branchenzeitschriften Musikwoche und Musikmarkt (nur 2008-2010) nach Artikeln gesucht, die auf diese Veranstal2
Eine detailliertere Beschreibung unserer Datenbasis und Datenanalyseverfahren findet sich in Dobusch/Schüßler (2013).
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tungen im Untersuchungszeitraum zwischen 2001 und 2010 Bezug nahmen. Die Datenanalyse verlief mehrstufig. Um unterschiedliche Story-Lines zu identifizieren, haben wir zunächst Passagen in den Medientexten herausgesucht, die auf neue Wertschöpfungskonfigurationen im Zusammenhang mit Möglichkeiten der Digitalisierung hinwiesen. Hierbei haben wir auf Schlüsselbegriffe wie „Urheber“, „Eigentum“, „Werte“, „Rechte“, „downloads“, „digital rights management“ oder „Pirat“ geachtet, die wir im Zuge unseres manuellen Kodierprozesses als relevant identifiziert haben. In diesen 434 Passagen haben wir dann in einem zweiten Schritt unterschiedliche Argumentationslinien herausdestilliert und diese in 34 unterschiedlichen Behauptungen („claims“) zusammengefasst. Gemäß dem Ansatz der „political claims analysis“ von Koopmans und Statham (1999) umfassen solche Behauptungen unterschiedliche Forderungen, Vorschläge, Kritiken oder Entscheidungen von Akteuren in einem bestimmten Konfliktfeld (Haunss/Kohlmorgen 2009). Die insgesamt 381 von uns kodierten Behauptungen haben wir dann den einzelnen Akteuren zugeordnet. Auf diese Weise konnten wir nachvollziehen, welcher Akteur welche Behauptung zu welchem Zeitpunkt gemacht hat. In einem letzten Schritt wurden die 34 unterschiedlichen Behauptungen, sofern möglich, hinsichtlich ihres Bezugs zu Urheberrecht und Geschäftsmodellen als entweder „konservativ“ oder „reformistisch“ eingeteilt. Dabei wurden diese auch einer von drei übergeordneten Story-Lines im Hajerschen Sinne zugeordnet, die im Folgenden noch genauer beschrieben werden: „Musik als Ware“, „Musik als Service oder Marketingwerkzeug“ und „Musik als Gemeingut“. Sechs Behauptungen ließen sich nicht zuordnen, weil sie andere Story-Lines repräsentierten (siehe Tab. A.2 im Anhang). Da derartige Behauptungen aber immer nur vereinzelt auftraten, haben wir sie in unserer weiteren Analyse vernachlässigt. Unsere Auswertung der Medienberichterstattung fand vor dem Hintergrund einer umfassenderen Datenerhebung statt. Mindestens einer von uns nahm zwischen 2008 und 2010 an der c/o pop/C’n’B teil, an der Popkomm im Jahr 2010 und an der a2n (sowohl 2009 als auch 2010). Außerdem führten wir in der Zeit von 2008 und 2010 Interviews mit insgesamt 16 Veranstaltern aus den Organisationsteams unserer vier Events und acht weitere Interviews mit unterschiedlichen Feldexperten.
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E RGEBNISSE Die deutsche Musikevent-Landschaft 2001-2010 Zwischen 2001 und 2010 konnten wir einen Anstieg von Veranstaltungen mit Diskussionsformaten von nur fünf im Jahr 2001 auf 20 im Jahr 2010 beobachten (s. Abb. 1). Die einzigen Veranstaltungsreihen, die, wenn auch mit Unterbrechungen, über den gesamten Zeitraum hinweg stattfanden, waren die Popkomm, das DJ Meeting und Music City Hamburg. Von diesen war die Popkomm der einzige Event von internationaler Bedeutung. Im Gegensatz dazu ist Music City Hamburg ein regionales Event und das DJ Meeting eine ausschließlich an die DJ-Szene gerichtete Kombination aus Messe und Konferenz. Einige Veranstaltungen, wie die c/o pop/C’n’B und das Reeperbahn Festival samt Campus, sind in erster Linie Musikfestivals mit zusätzlichen Konferenzformaten. Andere, wie die Popkomm, My Music oder die Pop Up, sind Messen mit Festival- und Konferenzteilen. Manche Veranstaltungen schließlich fungierten vorrangig als Diskussionsplattformen, entweder zu Spezialthemen wie die Green Music Initiative oder zu allgemeineren Fragen wie das Future Music Camp. Als erste Veranstaltungsreihe vom Event-Kalender verschwunden war im Jahr 2004 Musik und Maschine in Berlin. Organisiert von Dimitri Hegemann (Besitzer des Clubs Tresor in Berlin) und Jeff Mills (Techno-DJ aus Detroit) war dies einer der ersten Events in Deutschland, bei dem Fragen zu Urheberrechtsreformen oder zu der Rolle von Major-Labels in der Musikwirtschaft debattiert wurden. Das zuerst in Stuttgart und dann in Mannheim abgehaltene Branchentreffen pop:forum endete 2005, ebenso wie die Munich Mobile Music Conference, die erst ein Jahr zuvor gegründet worden war. Pate des pop:forum, dessen Ziel es war, die Zukunft der Musikindustrie zu diskutieren, war Gerd Gebhardt, zum damaligen Zeitpunkt Leiter des Bundesverbandes Musikindustrie. Die kurzlebige Mobile Music Conference fokussierte auf Geschäftsmodelle, die aus der Verbindung von Musik und Mobiltelefonen basieren. Zwei weitere Veranstaltungsreihen endeten 2009: die relativ kleine Musikfachtagung der CDUnahen Konrad-Adenauer-Stiftung und die Popkomm. Letztere feierte nach einem Jahr Pause aber ihre Wiederauferstehung unter dem Dach der Berlin Music Week.
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Abbildung 1: Entwicklung der Event-Landschaft in der deutschen Musikwirtschaft
Quelle: Eigene Erhebungen
Während einige der Veranstaltungen eine offen konservative Position in Bezug auf die Urheberrechtsregulierung einnahmen und damit auf den Schutz existierender Geschäftsmodelle abzielten (z. B. Popkomm), behandelten andere jeweils breitere Themen wie beispielsweise das integrative Potenzial von Musik im Kontext von Migrationspolitik (Musikfachtagung). Zwei im Jahr 2009 gegründete Events, das Future Music Camp und die a2n, setzten bewusst auf ein Barcamp an der Stelle eines konventionellen Konferenzformats, um offenere Debatten über die Zukunft der Musikindustrie und diesbezüglicher Urheberrechtsregulierung zu initiieren. Beide Events konzentrierten sich deshalb auch auf digitale Geschäftsmodelle, wenngleich nur die a2n in der Open-Source-Bewegung verankert ist. Betrachtet man die Entwicklung der Event-Landschaft im Zeitverlauf, so sticht vor allem die steigende Zahl unterschiedlicher Veranstaltungen in einer als krisenhaft wahrgenommenen Phase der Branche ins Auge. Die Veranstaltungsorganisatoren kamen dabei nur zum Teil aus der Musikwirtschaft selbst. Der größere Teil setzte sich aus Vertretern des Telekommunikations- und IT-Bereichs (Mobile Music Conference, Cebit Sounds, a2n), der politischen Stiftungen (Musikfachtagung) oder der Kommunalpolitik (forward2business-Zukunftskongress) zusammen.
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Story-Lines und Diskurs-Koalitionen Eine Betrachtung der absoluten Häufigkeiten einzelner Behauptungen im Zeitverlauf erlaubt es uns, drei Phasen mit einer jeweils dominanten StoryLine zu unterscheiden (s. Abb. 2 und für Zitatbeispiele Tab. A.3 im Anhang). Abbildung 2: Dominante Story-Lines im Zeitverlauf
Quelle: Eigene Erhebungen
In der ersten Phase zwischen 2001 und 2003 wurde technologischer Kopierschutz in Form von Digital Rights Management (DRM) als zentrale Antwort auf die Krise der Musikindustrie diktiert. Mit der Hilfe von DRM sollte das Urheberrecht besser durchgesetzt und so das dominante „Musik als Ware“-Geschäftsmodell, basierend auf dem Einzelverkauf von Musiktiteln und -alben, auch im Internet etabliert und gesichert werden. Voraussetzung für das Funktionieren von DRM-Strategien war deren rechtliche Absicherung in Form des gesetzlichen Verbots, „wirksame“ Kopierschutzmaßnahmen zu umgehen („anti-circumvention provisions“). Derartige Bestimmungen waren Mitte der 1990er Jahre in internationalen Abkommen
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wie TRIPS vorgesehen, mussten aber erst in nationale Urheberrechtsgesetze implementiert werden. In Deutschland fanden strafbewehrte Sanktionen für die Umgehung von Kopierschutztechnologien im sogenannten ersten Korb im September 2003 Eingang ins Urheberrecht, was von Industrievertretern begrüßt wurde: „Doch jetzt wollen die Plattenkonzerne zurückschlagen […] in Kürze [soll] das neue Urheberrechtsgesetz in Kraft treten, das unter anderem das Umgehen eines Kopierschutzes auf Musik-CDs verbietet“ (Hamburger Abendblatt 2003). Gleichzeitig mehrten sich Forderungen nach neuen Geschäftsmodellen, weil die Branche immer mehr unter Druck geriet. Vor allem Akteure außerhalb des Kernbereichs der Musikindustrie propagierten das „Musik als Service oder Marketingwerkzeug“-Modell und wollten sich so einen Platz in neu entstehenden Wertschöpfungskonfigurationen sichern (z. B. „Microsoft kommt mit seinem neuen Angebot dem Konkurrenten Apple zuvor, dessen Online-Laden Musicstore bisher nur Musikfans in den Vereinigten Staaten offensteht“; FAZ 2003). In der zweiten Phase zwischen 2004 und 2007 begannen die großen Labels mit der Einführung und Vermarktung von DRM-Technologien, was zu einer allgemein niedrigeren Diskursintensität führte. Sowohl die Behauptung, Filesharing sei für die Krise der Musikindustrie verantwortlich, als auch die Diskussion alternativer Geschäftsmodelle rückten in den Hintergrund. Stattdessen nahmen Statements über erfolgreiche Online-Geschäftsmodelle zu, zum Beispiel: „Das Musikgeschäft im Internet boomt in Deutschland wie nie zuvor“ (Hamburger Abendblatt 2006). Ab 2008, dem Beginn der dritten Phase, wurde immer klarer erkennbar, dass DRM keine Lösung für die Probleme der Musikindustrie darstellte. Nachdem zuerst EMI Ende 2007 den Verzicht auf DRM verkündet hatte, zogen die anderen Major-Labels binnen weniger Monate nach. In dieser Phase wurde wieder vermehrt ein stärkeres staatliches Engagement zur Urheberrechtsdurchsetzung im Internet gefordert: „Dieter Gorny, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Musikindustrie, plädierte für einen verschärften Kampf gegen Raubkopien. ‚Der Begriff Bagatelle ist tödlich‘, sagte er“ (Hamburger Abendblatt 2008). Den Höhepunkt dieser Phase bildete mit Sicherheit die Absage der Popkomm, welche für die Verbreitung der Botschaft instrumentalisiert wurde, dass Internet-Filesharing illegal und die Ursache für die Krise der Musikindustrie sei. Dieser Behauptung stellten sich diesmal jedoch mehr Akteure entgegen als in der ersten Phase;
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sie spielten den Ball an die Musikindustrie zurück, indem sie ihr mangelnde Innovationsfähigkeit vorwarfen: „Seipenbusch [damals Vorsitzender der Piratenpartei, Anm. d. Verf.] fiel vor allem durch Äußerungen auf wie die, ihn erinnere ‚das Gejammer der Musikindustrie an die Pferdekutscher nach der Einführung des Automobils‘“ (Musikwoche 2009). Diese alternative Story-Line manifestierte sich auch in der Gründung neuer Konferenzen, allen voran der a2n. Aber zusätzlich zu dem neuerlichen Auftauchen der Idee von Musik als Service bzw. Marketingwerkzeug (z. B. „Die Musik wie cum grano salis alle digitalen Inhalte seien nur noch als ‚add-on‘, als Kundenbindungsinstrument in Verbindung mit anderen Produkten zu Geld zu machen“; FAZ 2008) wurde eine neue Story-Line sichtbar, die Musik als ein Gemeingut propagierte. Diesbezügliche Vorschläge wie beispielsweise eine Kulturflatrate zur Legalisierung von Filesharing wurden von neuen Akteuren wie der Piratenpartei in die Debatte eingebracht (z. B. „Alles muss erlaubt sein, sofern kein kommerzieller Hintergrund besteht!“; Musikmarkt 2009). Im Kontext der vier untersuchten Veranstaltungen zeigt sich nun folgendes Bild (s. Abb. 3): Während die a2n, die c/o pop/C’n’B und das Reeperbahn Festival/Campus überwiegend mit reformistischen Positionen repräsentiert waren, war die Popkomm-Berichterstattung von konservativen Behauptungen dominiert. Hinzu kommt, dass viele der im Zusammenhang mit der c/o pop/C’n’B und der a2n geäußerten konservativen Behauptungen aus Verweisen auf die Popkomm-Absage im Jahr 2009 resultierten. Daher finden sich konservative Behauptungen in der Berichterstattung über alle vier Veranstaltungen, obwohl nicht alle dieser Events derartige Behauptungen stützten. Veranstaltungsorganisatoren können also nur eingeschränkt kontrollieren, welche mediale Diskussion durch ihren Event ausgelöst wird. Von den 122 konservativen Behauptungen mit Bezug zur Popkomm wurden 29 im Jahr der Popkomm-Absage getätigt.
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Abbildung 3: Positionen je Event
Quelle: Eigene Erhebungen
Die Rolle der Presse als keineswegs neutraler Mittler wird deutlich, wenn man die Akteure hinter den jeweils vorgebrachten Behauptungen in den Blick nimmt (s. Abb. 4). Medienakteure berichteten nicht nur über Behauptungen von Organisatoren und anderen Akteuren, sondern beteiligten sich auch selbst als aktive Kommentatoren am Diskurs. In dem von uns untersuchten Zeitraum wiesen die journalistischen Kommentatoren eine starke Schlagseite in Richtung reformistischer Positionen im Verhältnis zwei zu eins auf – größtenteils, indem sie konservative Behauptungen von Industrievertretern kritisch begleiteten.
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Abbildung 4: Positionen je Akteursgruppe
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Insgesamt haben wir 21 verschiedene Akteursgruppen identifiziert, die sich bei den von uns betrachteten Veranstaltungen an der Auseinandersetzung über neue Geschäftsmodelle in der Musikwirtschaft und über eine Reform des Urheberrechts beteiligten. Der sichtbarste Akteur neben journalistischen Kommentatoren selbst war Popkomm-Gründer und Präsident des Bundesverbandes Musikindustrie Dieter Gorny. Er alleine war für knapp ein Viertel aller Behauptungen verantwortlich, nicht zuletzt durch seine vielzitierte Begründung der Popkomm-Absage unter Verweis auf InternetPiraterie. Nach Dieter Gorny waren Industrie-Akteure wie die Vertreter von Major- und Independent-Labels sowie deren Verbände mit konservativen Aussagen deutlich erkennbar. Zusammen waren sie für mehr als die Hälfte aller Behauptungen (153 von 381) verantwortlich. Dieser konservativen Gruppe stand eine kleinere Gruppe von reformistisch orientierten Akteuren gegenüber: Vertreter komplementärer Industrien (z. B. Computerspielehersteller, Internet-Service-Provider u. a.), die Piratenpartei und verschiedene Experten wie Professoren, Journalisten und Blogger. Die Hälfte der Behauptungen von Kunstschaffenden konnte hingegen nicht eindeutig als konservativ oder reformistisch klassifiziert werden. Denn während diese tendenziell den Pro-Urheberrechtspositionen der Industrieakteure zustimmten, äußern sie auch Unzufriedenheit mit deren Vergütungspraktiken. Am wenigsten in der Debatte vertreten waren die Organisatoren des Reeperbahn Festivals/Campus – möglicherweise wegen ihrer inhaltlichen Ausrichtung auf das Live-Musik-Geschäft, in dem neue Geschäftsmodelle und rechtliche Fragen eine weniger zentrale Rolle spielen. Tim Renner, früherer Geschäftsführer von Universal Music Deutschland und jetzt Geschäftsführer der Motor-Mediengruppe, Autor, Professor und Mitgründer der a2n ist mit sehr unterschiedlichen Behauptungen vertreten – abhängig von seiner jeweiligen Rolle zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
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Abbildung 5: Konservative und reformistische Diskurs-Koalitionen
266 | Elke Schüßler und Leonhard Dobusch
Verorten wir die durchschnittlichen Positionen der verschiedenen Akteursgruppen auf einem Kontinuum von konservativ bis reformistisch (s. Abb. 5), so lassen sich zwei Diskurs-Koalitionen im Sinne Hajers identifizieren. Am konservativen Ende des Spektrums positioniert waren Dieter Gorny, die Verwertungsgesellschaft GEMA, der Deutsche Musikverleger-Verband und Tim Renner zu seiner Zeit als Universal-CEO. Teil dieser Koalition, allerdings in leicht abgeschwächter Form, waren auch Musikschaffende und ihre Interessenvertretungen, die sich 2009 im Nachgang zur c/o pop/C’n’B als Allianz deutscher Musik-Autorenverbände zusammengefunden hatten. Schließlich befanden sich auch Major- und Independent-Labels sowie Politiker in der konservativen Hälfte des Meinungsspektrums. Am reformistischen Ende hingegen waren keine Akteure vertreten, die unmittelbar in die traditionelle, warenförmige Wertschöpfungskette der Musikindustrie integriert sind. Stattdessen fanden sich dort Medienvertreter, diverse Experten, Konsumenten und Akteure aus komplementären Feldern der Musikwirtschaft, wie z. B. der Computerspieleindustrie, und schließlich die Veranstaltungsorganisatoren selbst – mit Ausnahme der Popkomm.
D ISKUSSION
UND
AUSBLICK
Unsere Analyse lässt im Wesentlichen drei Beobachtungen zu. Erstens nutzen Teilnehmer Events weniger als Diskussionsplattform, um miteinander in den Austausch zu treten, als vielmehr, um sich ihrer Positionen zu vergewissern und diese öffentlichkeitswirksam kundzutun. Zweitens hat das Schaffen – oder Abschaffen – von Konferenzen oder ähnlichen Veranstaltungsformaten selbst eine starke Signalwirkung für eine breitere Öffentlichkeit und ist deshalb eine effektive diskursive Strategie. Drittens deuten die Zunahme der Zahl der Veranstaltungen und das Experimentieren mit neuen Veranstaltungsformaten darauf hin, dass Events mindestens zwei Rollen bei der Entstehung neuer Wertschöpfungskonfigurationen spielen: als Mediatoren in Unsicherheitssituationen sowie als eigenständiges Geschäftsmodell. Zu 1.: Wir haben im Kern zwei Diskurs-Koalitionen rekonstruiert, eine konservative und eine reformistisch orientierte, die durch die diskursive Affinität (Hajer 2008) ihrer Argumente zusammengehalten werden – selbst wenn sie nicht unbedingt dieselben Ziele und Wertvorstellungen teilen.
Musikevents als Bühnen für den Urheberrechtsdiskurs | 267
Diese Koalitionen treffen einerseits im Rahmen von Events aufeinander, andererseits lassen sich die meisten Events selbst der einen oder der anderen Seite zuordnen. Einige Akteure positionieren sich am Rand dieser Diskurs-Koalitionen, wie beispielsweise die Organisatoren des Reeperbahn Festivals/Campus – und beeinflussen hierdurch auch den Diskurs, indem sie bestimmte Debatten nicht weiter mit betreiben. Auch die Musikschaffenden selbst lassen sich nicht ganz eindeutig einer Position zuordnen. Zwar sind sie eher konservativ, führen aber eigentlich einen anderen Diskurs, nämlich den über die Rolle und Praktiken von Verwertungsgesellschaften. Auch wenn von den „Konservativen“ die Vergütung der Künstler immer als eigentliches Ziel des Urheberrechts allen Argumenten vorangestellt wird, so werden dabei doch die tatsächlichen Praktiken der Labels und Verwertungsgesellschaften verschleiert, denn letztlich sind es diese Organisationen, die am meisten vom Urheberrecht profitieren. Die beiden extremen Diskurs-Koalitionen sowie die eher randständigen Vertreter von Minderheitspositionen scheinen bei den Events allerdings nicht in einen Austausch miteinander zu treten, sondern richten ihre Behauptungen in erster Linie an Dritte, v. a. die Politik und die Öffentlichkeit (siehe Rucht 2004). So sind es keine „regulatorischen Unterhaltungen“ (Black 2002), die wir beobachten, sondern eher eine Form von „regulatorischer Propaganda“ – diskursive Strategien, die darauf abzielen, öffentliche und politische Unterstützung für bestimmte Positionen zu mobilisieren. Nicht zuletzt deshalb zielte ein Event wie die a2n darauf ab, eine Alternative zu gängigen EventFormaten zu bieten, die tatsächlich einen Austausch ermöglicht. Die regulatorische Propaganda nahm besonders dann zu, wenn es einen klaren Adressaten – in der Regel die Politik – für bestimmte Behauptungen gab. Zu 2.: Vor allem Veränderungen in der Event-Landschaft haben einen großen diskursiven Effekt. Entsprechend hat die Popkomm-Absage 2009 die höchste Medienaufmerksamkeit innerhalb unseres gesamten Untersuchungszeitraums erzielt. Das Absagen von etablierten – wenn nicht sogar: institutionalisierten – Events kann also eine hoch medienwirksame Strategie sein, um öffentliche Diskurse zu beeinflussen. Im Gegenzug zeigt das Beispiel der a2n, wie die Gründung von Events die diskursive Affinität zwischen unterschiedlichen Behauptungen fördern und in einer Form bündeln kann, dass Story-Lines erkennbar werden. Durch die spontane Gründung der a2n in der Lücke, die durch die Popkomm-Absage entstanden war, schuf sie Raum für eine soziale Bewegung (Dobusch/Quack 2013)
268 | Elke Schüßler und Leonhard Dobusch
unterschiedlicher Akteure – von Open-Source-Aktivisten über die Piratenpartei bis hin zu Teilen der digitalen Musikszene. Auf diese Weise trug die Event-Gründung dazu bei, Themen wie die Einführung einer Kulturflatrate auf die öffentliche Agenda zu setzen. Interessanterweise waren große Technologiefirmen wie Microsoft oder Apple kaum im deutschen Mediendiskurs vertreten – wohl weil ihnen ein starker industrieorientierter Event wie die frühere Popkomm fehlte. Zu 3.: Die Veranstaltungsorganisatoren waren im diskursiven Prozess nicht nur als Mediatoren präsent, sondern handelten meist aus einem ideellen und vor allem auch wirtschaftlichen Eigeninteresse heraus. Sie nutzten gezielt Lücken in der Event-Landschaft (z. B. c/o pop, a2n), um ihren eigenen Event zu lancieren und positionierten sich programmatisch mitten in hitzige Debatten hinein, um mediale Aufmerksamkeit, höhere Besucherzahlen oder auch Fördergelder zu erlangen. Events sind also nicht nur „sites of negotiating values“ (Moeran/Strandgaard Pedersen 2011), sondern selbst ein Produkt, mit dem in kreativen Feldern Werte geschaffen werden (Schüßler/Sydow 2013). So sind nicht nur Live-Events eine zunehmend wichtige Einnahmequelle in der Musikwirtschaft; auch diskussionsorientierte Veranstaltungen haben eine bedeutsame Rolle in neuen Wertschöpfungskonfigurationen als Orte der Sinnstiftung und Bewältigung von Unsicherheiten. Entsprechend entwickelten die c/o pop und das Reeperbahn Festival im Laufe der Zeit zusätzliche Diskussionsformate. Ihr Charakter bewegte sich somit weg vom reinen Live-Musik-Anbieter und hin zu Plattformen für den inhaltlichen Austausch. Für die weitere Forschung wäre es interessant, diese deutsche Entwicklung mit anderen Ländern zu vergleichen (z. B. mit der Hadopi-Initiative in Frankreich; Blanc/Huault 2013) und transnationale Entwicklungen in den Blick zu nehmen. So bleibt offen, ob die Dynamik in der Event-Landschaft mit ihrer starken Zunahme an Veranstaltungen ein alleiniges Phänomen der deutschen Musikwirtschaft ist oder sich auch in anderen Ländern und anderen krisenhaften Feldern beobachten lässt.
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270 | Elke Schüßler und Leonhard Dobusch
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Musikevents als Bühnen für den Urheberrechtsdiskurs | 271
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272 | Elke Schüßler und Leonhard Dobusch
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Musikevents als Bühnen für den Urheberrechtsdiskurs | 273
ANHANG Tabelle A.1: Entwicklung der Event-Landschaft Event
Standort
Gründung
Ende
Munich Mobile Music Conference
München
2004
2005
Hamburger Musikforum
Hamburg
2004
-
Popkomm
Köln/Berlin
1989
2012
all2gethernow
Berlin
2009
-
Future Music Camp
Mannheim
2009
-
CeBit Sounds!
Hannover
2010
-
c/o pop /C’n’B
Köln
2004
-
DJ Meeting
Oberhausen
1990
-
filmtonart Tag der Filmmusik
München
2009
-
forward2business-Zukunftskongress
Halle (Saale)
2002
-
Green Music Initiative Roundtable
Berlin
2009
-
jazzahead!
Bremen
2006
-
Kinderlied-Kongress
Hamburg
2007
-
Jetztmusikfestival 2010/Time Warp
Mannheim
2007
-
Music City Hamburg
Hamburg
1997
-
Musik und Maschine
Berlin
2000
2003
Musikfachtagung
Berlin
2002
2008
My Music
Friedrichshafen/ Dresden
2007
-
Pop Up Messe Forum Musik
Leipzig
2002
-
pop:forum
Stuttgart/ Mannheim
2000
2005
Popmeeting Niedersachsen
Celle
2007
-
Pop-Open Stuttgart
Stuttgart
2005
-
Reeperbahn Campus
Hamburg
2009
-
SoundTrack_Cologne
Köln
2004
-
274 | Elke Schüßler und Leonhard Dobusch
Tabelle A.2: Häufigkeiten der Behauptungen und Zuordnung zu Story-Lines Konservativ (13 Behauptungen) Internet Filesharing als Krisenursache
Häufigkeiten 63
Staatliches Handeln ist erforderlich („Musik als Ware“)
40
DRM ist die Lösung („Musik als Ware“)
21
Kunstschaffende müssen vergütet/ihre Rechte respektiert werden
16
Internet-Filesharing ist Diebstahl („Musik als Ware“)
10
Urheberrechtsdurchsetzung funktioniert („Musik als Ware“)
7
Kulturflatrate funktioniert nicht/wäre neue GEZ-Gebühr
6
Die rechtliche Basis des Urheberrechts muss akzeptiert werden („Musik als Ware“)
6
Piratenpartei will nur Stimmen sammeln/ist unseriös
6
Creative Commons funktioniert nicht („Musik als Ware“ )
4
Neue Geschäftsmodelle funktionieren nicht („Musik als Ware“ )
4
Kulturelle Vielfalt/Qualität wird zusammen mit Arbeitsplätzen vernichtet
3
GEMA-Gebühr/GEMA funktioniert
Gesamt (konservativ)
3
189
Reformistisch (15 Behauptungen) Neue Geschäftsmodelle sind am entstehen („Musik als Service“)
29
Die Musikindustrie ist nicht innovativ/ein Auslaufmodell
25
DRM funktioniert nicht
24
Die Industrie muss und kann sich ändern („Musik als Service“)
19
Internet Filesharing (allein) ist nicht das Problem
11
Kriminalisierungsstrategien werden nicht funktionieren
10
Die Industrie kriminalisiert Fans
10
Urheberrecht ist ein Anachronismus/wird von der Industrie instrumentalisiert („Musik als Gemeingut“)
9
Internet Filesharing sollte legalisiert werden
7
Die Verteilung von GEMA-Tantiemen ist zu kompliziert
6
Kulturflatrate ist eine Chance („Musik als Gemeingut“)
5
Das Internet darf nicht reguliert werden („Musik als Gemeingut“)
5
Konsumenten und andere Industrien müssen in Debatte mit einbezogen werden („Musik als Service“)
4
Open-Content-Lizenzen sind eine Chance („Musik als Gemeingut“)
4
Kunstschaffende müssen neue Rollen einnehmen (z. B. Self-publishing)
Gesamt (reformistisch)
2
170
Andere (6 Behauptungen) GEMA schützt Kunstschaffende nicht
6
Es gibt überhaupt keine Krise
6
Moralische Fragen werden als rechtliche bzw. wirtschaftliche Fragen behandelt
4
Die neue Generation ist eine Piratengeneration
4
Musikschaffende hatten es immer schon schwer
1
Wir haben noch nie für die Musik selbst bezahlt
1
Gesamt (andere)
22
Gesamt (alle)
381
Musikevents als Bühnen für den Urheberrechtsdiskurs | 275
Tabelle A.3: Zitatbeispiele für die dominanten Story-Lines je Phase Story-Lines
Phase I: 2001-2003
Phase II: 2004-2007
Phase III: 2008-2010
Musik als Ware
29 Behauptungen
19 Behauptungen
41 Behauptungen
„Neue Musik-CDs wird es künftig fast nur noch mit Kopierschutz geben. Die großen Plattenfirmen wollen damit das illegale Brennen von CDs stoppen“ (SZ 2001)
„Das ist vor allem die onlinebasierte und mobile Auslieferung von Songs und Videoclips. Systeme hierfür, Software für sogenanntes Digital Rights Management (DRM), zeigten Unternehmen wie die Schweizer SDC AG, die französische Musiwaves oder die deutsche Coremedia AG“ (RP 2005)
„Wir kommen um eine Regulierung im Internet nicht herum“ (MW 2008)
„Daß in Zukunft das Knacken des zunehmend installierten Kopierschutzes bei CDs in Deutschland verboten werden soll, wertet er (Gerd Gebhardt, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Phonoverbände, Anm.) als großen Erfolg“ (FAZ 2002) „Die Musikunternehmen fordern ein entschiedeneres Handeln des Gesetzgebers gegen illegale Kopien“ (SZ 2002) Musik als Service oder Marketingwerkzeug
„Ohne DRM geht bei den Platzhirschen des Tonträgergeschäfts noch nichts“ (MW 2006) „Eigentlich müsste der Staat hier also einwirken (…)“ (SZ 2007)
„Gorny machte […] auch die ‚Untätigkeit der Politik‘ im Kampf gegen das Internet-Raubkopieren von Musik verantwortlich“ (FAZ 2009) „Der Vertreter der deutschen Tonträgerindustrie warnte hingegen eindringlich davor, ‚das Urheberrecht auf dem Altar der digitalen Coolness zu opfern“ (MM 2009) „Es sei ein Skandal, dass die Urheber bei vielen neuen Businessmodellen im Internet leer ausgingen. ‚Diese Art der Enteignung ist nicht hinnehmbar.‘ (Georg Oeller, Vorstandsmitglied der GEMA, Anm.)“ (MW 2009)
18 Behauptungen
14 Behauptungen
20 Behauptungen
„Die Ansicht, daß der Tonträger CD mittelfristig ein Auslaufmodell sei, scheint allgemein geteilt zu werden. Der Idealtyp dieser Zukunftsvision dürfte ein Käufer sein […] während ihm automatisch der Chip mit Pre-Paid-Musikabonnement belastet wird“ (FAZ 2001)
„Musik wird als Gratisbeilage und Werbegeschenk genutzt, um Waschmittel oder Hardware an den Mann zu bringen“ (FAZ 2004)
„Was sind nun die aktuellen Trends im digitalen Entertainment? Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als würden die alten Diskussionen um Chancen und Risiken von YouTube oder Myspace fortgeführt, das Music-ondemand-Modell verfeinert, noch einmal das illegale Downloaden torpediert und abermals die Erotik der Nische entdeckt. Aber es hat sich in der Branche etwas geändert, und zwar fundamental“ (FAZ 2008)
„Um gegenzusteuern werde die Musikbranche im Spätherbst ein zentrales Angebot für das legale Herunterladen von Songs aus dem Internet starten“ (HA 2003) „Microsoft kommt mit
„Andererseits bieten sie der Industrie neue Vertriebs- und Marketingkanäle: Viele Newcomer des vergangenen Jahres wie die Arctic Monkeys wurden zuerst über Blogs bekannt“ (BZ 2006) „Der MusikStreaming-Service mSpot/Remix wurde entwickelt, um Musik an die - nach eigener Zählung – ‚zwei Bil-
„Der Musikverkauf via Internet funktioniert nur in Verbindung mit anderen Geschäftsmodellen – er ist sozusagen der kleine Keks
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Story-Lines
Musik als Gemeingut
Phase I: 2001-2003
Phase II: 2004-2007
Phase III: 2008-2010
seinem neuen Angebot dem Konkurrenten Apple zuvor (…)“ (FAZ 2003)
lionen Handynutzer‘ auf der ganzen Welt auszuliefern“ (BZ 2007)
zum Cappuccino“ (MW 2008)
keine Behauptungen
2 Behauptungen
21 Behauptungen
„Die Rechteinhaber sollten mit alternativen Lizenzmodellen arbeiten, sonst werden Kreativität und Vielfalt abgewürgt“ (MW 2007)
„Die hoffnungsvollsten Modelle sind immer noch Flatrate-Modelle (…)“ (SZ 2009)
„Daher ein Ja für eine klar definierte Kulturflatrate!“ (MW 2007)
„Die Industrie habe ihre Hausaufgaben gemacht und stelle sich mit digitalen Angeboten dem technischen Wandel“ (MM 2009)
„Die Piratenpartei ist das Aushängeschild dieser Bewegung, deren Aktivisten die Eingriffe in das Internet für eine Beschneidung elementarer Bürgerrechte halten“ (BZ 2009) „[H]eutzutage [sei es] sowieso unmöglich, einen wahrhaft ‚neuen‘ Song zu komponieren und sich daher auch das Urheberrecht und die GEMA erledigt hätten“ (BZ 2010)
Legende: BZ = Berliner Zeitung, FAZ = Frankfurter Allgemeine Zeitung, HA = Hamburger Abendblatt, MM = Musikmarkt, MW = Musikwoche, RP = Rheinische Post, SZ = Süddeutsche Zeitung
Interview Alex Schulz, Musik- und Eventmanager
Alexander Schulz gründete zum Ende seines Studiums der Angewandten Kulturwissenschaften 1992 den Inferno Musikverlag wie auch 1993 das Label Jam Records. Neben dem Studium sammelte er Erfahrungen als Booker für Stadtteilkulturzentren und Musikfestivals und war als Regieassistent am Thalia Theater Hamburg tätig. Die von ihm 1998 gegründete Eventagentur Inferno Events GmbH & Co. KG zählt im Bereich Corporate Events Unternehmen wie Unilever und Lufthansa zum Kundenstamm und richtet auch öffentliche Veranstaltungen wie die „Hamburger Theaternacht“ und die „Nacht des Wissens“ aus. In Kooperation mit der Karsten Jahnke Konzertdirektion GmbH fungiert die Agentur als Gesellschafter der Reeperbahn Festival GbR, die seit 2006 unter Führung von Schulz das jährlich stattfindende Reeperbahn Festival organisiert.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? A. Recorded Music: Vor ca. fünf Jahren: Fast ausschließlich via iTunes, selten physischer Tonträger (CD). Seit zwei Jahren fast ausschließlich via Spotify (Streaming), selten physischer Tonträger (CD). Seit ca. einem Jahr tatsächlich auch mobile Streaming-Nutzung. B. Radio: Journalistisches Musikradio stationär: private, digitale Stationen (teilw. nicht-national). Journalistisches Musikradio mobil (im Fahrzeug): Terrestrische, öffentlich-rechtliche Programme nur noch spätabends/nachts. C. Live: Vermehrt objektiv unpopulärere Künstler auch in Spielstätten mit geringer Kapazität.
278 | Interview Axel Schulz
Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Ich erwarte anhaltend steigende Wertschöpfungsbildungen im Bereich Live-Entertainment und im Lizenzgeschäft für Nutzung von Musik in verwandten Teilmärkten der Kreativwirtschaft, insbesondere im Bereich Film, und dabei v. a. im Games & Mobile-Bereich. Außerdem im Lizenzgeschäft über weltweit verknüpfte Direct Licensing-Plattformen, die mit einfachen Buy-Out-Bewertungen arbeiten. Für den Bereich Publishing erwarte ich mittelfristig eine geringe Reduktion. Der Bereich Recorded Music wird sich weiter rückläufig entwickeln.
Durch was werden diese ausgelöst? Die Bildung neuer Wertschöpfungen in bestimmten Teilmärkten von Musikwirtschaft ist eng verbunden mit dem Wegfall derselben in anderen Bereichen. Weshalb ich nachfolgend kurz eine Entwicklungs-Prognose für jeden Teilmarkt wage. Recorded Music: Der für die Musikwirtschaft ehemals treibendeTeilmarkt „Recorded Music“ ist weltweit spürbar rückläufig aufgrund der extrem geringen Royalties beim Geschäft mit nicht-physischen Alben, die bei Produkten, die via Streaming angeboten werden, sogar fast nicht mehr messbar sind (und dazu kaum transparent in der Abrechnung). Das Umsatzvolumen für Recorded Music in Deutschland hat sich in 2012 zwar erstmals nicht reduziert zum Vorjahr. Dennoch erwarte ich für Deutschland mittelfristig einen weiteren, drastischen Rückgang in diesem Musikwirtschaftssegment, denn weiterhin werden über 70 % des Gesamtumsatzes mit physischem Tonträger erzielt. Soviel wie in keinem anderen Industrieland. Generationsbedingt wird sich das ändern. Die Hauptnutzungsart für populäre Musik (im Übrigen auch für E-Musik, sobald hier ein Standard für Suchfunktionen gefunden ist) wird mittelfristig weltweit Streaming sein. Das ist bei den Major-Labels bekannt. Nicht von ungefähr lautete der Titel eines internen internationalen Meetings eines Majors „If the world was Swedish...“. Im Herkunftsland von Spotify erfolgt bereits 90 % der Nutzung von Musik via Streaming. Entsprechend gering ist inzwischen das Gesamtumsatzvolumen. Die Erträge sind auch in anderen Territorien so gering, dass häufig schon heute das Budget für den umfänglichen Aufbau neuer Künstler fehlt,
Musik- und Eventmanager | 279
in dem ehemals wichtigsten Teilmarkt in der Musikwirtschaft, der für Jahrzehnte verantwortlich war für den Künstleraufbau. Publishing: Die Entwicklung des Musikverlagsgeschäftes hängt ähnlich wie die im Bereich „Recorded Music“ stark ab vom Nutzungsverhalten der Rezipienten. Allerdings bin ich guter Hoffnung, dass die Verwertungsgesellschaften für die Urheber wenigstens noch einigermaßen auskömmliche Bewertungsparameter mit den Streaming-Services werden verhandeln können. Darüber hinaus wird es noch lange stabile Einnahmequellen für die Urheber aus den Verwertungsarten Radio, Film, Werbung, usw. geben. Die Debatte um die illegale, komplett kostenlose Nutzung von Musik wird nach meiner Ansicht keine große Rolle mehr spielen, sobald sich die kostengünstige Nutzungsart Streaming durchgesetzt hat. Live-Entertainment: Seit dem Wegfall der Einnahmen aus dem Tonträger- bzw. Recorded-Geschäft ist der Teilmarkt Live-Entertainment jener, auf den alle Augen in E- und U-Musikwirtschaft weltweit gerichtet sind. Über das singuläre, emotionale Erlebnis wird noch Geld verdient. Die Preise für Konzert-Tickets haben sich in den vergangenen fünf bis acht Jahren erheblich erhöht. Die Konzertveranstalter zeigen landläufig recht unbekannte Künstler schon vor kleinem Publikum und riskieren bei der aussterbenden Spezies großer, bekannter internationaler Acts schon einmal hohe Garantiegagen, obwohl Künstlers Tour fast nie mehr durch ein neues Album und die angeschlossenen Promotion-Aktivitäten begleitet wird.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Der Künstler selbst oder aber seine Konzertdirektion ist heutzutage Motor für den Künstleraufbau. Nicht mehr (ausschließlich) die Labels oder die sogenannte Recorded Industry. Und auch nicht mehr die (Format-)RadioStationen. Wir erleben heute ein noch nie dagewesenes Angebot an Shows für ein kleines Publikum mit neuen Künstlern, die entweder in einem sehr frühen Stadium bereits einen Vertrag mit einer Konzertagentur haben, oder aber sich vor allem auf Basis der Sozialen Netzwerke bis zu einem bestimmten Grad erfolgreich selbst vermarkten. Die ehemaligen Major-Labels der Recorded Industry haben das Potenzial im Segment Live-Entertainment erkannt; sie bezeichnen sich inzwischen ja auch als Entertainment Companies.
280 | Interview Axel Schulz
Warner Music ist unter den verbliebenen drei Majors den konsequentesten Weg gegangen: Mit Neuland Concerts wurde vor fünf Jahren eine konzerneigene Konzertagentur gegründet. Neue Künstler sollen teilmarktübergreifend für die nächsten Alben und die nächsten Tourneen unter Vertrag genommen werden. Universal Music kooperiert eng mit der Marek Lieberberg Konzertdirektion. Die Majors suchen nach Provisionsmodellen an den Ticketverkäufen für Konzerte mit Künstlern, die an ihre Häuser für recorded Produkte gebunden sind. Kleinere Labels treten heute ebenfalls häufig auch als Konzertveranstalter auf. Künstler, die keinen Konzertagenten zur Seite haben, vermarkten sich oft selbst/sind ihre eigene Firma für alle Belange/Segmente in der Musikwirtschaft (360-Grad-Modell).
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Für die große und weiter anwachsende Anzahl DIY-Künstler sind soziale Netzwerke existenziell. Ohne die Netzwerke funktionierte die Selbstvermarktung nicht. Das Direct-to-Fan-Modell basiert auf den sozialen Netzwerken. Es erlaubt eine viel geringere Menge an Fans/Käufern und kleinteiliges, individuelles (Inter-)Agieren, weil die Marge aus jedem Einzelprodukt relativ hoch ist aufgrund der sehr verkürzten Wertschöpfungskette. Außerdem kann der DIY-Künstler, sofern er alle Teilmärkte selbst verantwortet (360 Grad), seinem Fan gleich mehrere Artikel anbieten (Ticket/Merchandising-Artikel/physischen Tonträger, usw.). Dasselbe gilt für kleinere und ganz kleine Labels, die inzwischen auch das Konzertgeschäft für ihre Künstler abwickeln. Die kleinen Spielstätten für Live-Musik gewinnen aus den oben genannten Gründen an Bedeutung für den Künstleraufbau und die Einführung neuer Künstler. Sie haben empfehlenden Charakter für die Rezipienten. Denn die in der digitalen Welt nahezu unendliche Verfügbarkeit von Musik benötigt Orientierungshilfe und Katalysatoren. Die klassischen Labels erfüllen diese Rolle nicht mehr. Solche Künstler, die sich durch eine Live-Show emotional beim Zuhörer empfehlen, können aus der großen Masse des gleichberechtigten (digitalen) Angebotes hervorstechen.
Musik- und Eventmanager | 281
Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Urbane Regionen können die neue, kleinteiligere Struktur in der Musikwirtschaft einerseits durch Maßnahmen in der Stadtentwicklungspolitik unterstützen, in dem nämlich einerseits (Arbeits-)räume für kleine und kleinste Firmen und andererseits Spielstätten für Live-Musik vorgehalten werden. Beide sind ohne Unterstützung selten wettbewerbsfähig gegenüber anderen Märkten/Nutzungsarten. Städte können außerdem durch sehr zielgenaue, spitze Programme auf die veränderten Strukturen in der Musikwirtschaft eingehen und die inzwischen kleinen Marktteilnehmer regional fördern. In Hamburg kennen wir u. a. die „Labelförderung“, den „Club-Award“ für kleine Spielstätten, die „Music Works“ für neue, musikbezogene, digitale Business-Modelle sowie den „Live Music Account“, der kleine Spielstätten (teil-)entlastet von den GEMA-Gebühren.
Wertschöpfung und Neue Medien
Das 360º-Musikschaffen im Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie Peter Tschmuck
Z UR E INLEITUNG EINE B ESTANDSAUFNAHME Die digitale Revolution in der Musikindustrie1 hat nicht nur die Distribution von Musik grundlegend verändert und aus einem Produkt eine Dienstleistung gemacht, sondern es hat sich auch das Netzwerk der Akteure im Wertschöpfungsnetzwerk vollkommen neu gestaltet. Unternehmen, die früher nicht oder nur am Rande mit der wirtschaftlichen Verwertung von Musik zu tun hatten, rückten im letzten Jahrzehnt ins Zentrum der Wertschöpfung. Hinlänglich bekannt ist mittlerweile die dominante Rolle, die Apple am digitalen Downloadmarkt spielt. Aber auch Internet-Startups wie das Onlineverkaufsportal Amazon, die Suchmaschine und Mikrowerbeplattform Google, das Social-Media-Netzwerk Facebook oder der Messagingservice Twitter haben begonnen, Musikangebote in ihr Leistungsspektrum aufzunehmen. War in den Jahrzehnten vor dem Millenium Musik nur für die elektronischen Medien, die Filmindustrie, die Gamesindustrie und die Werbewirtschaft von Bedeutung, so haben heutzutage viele Unternehmen unterschied1
Die ausführliche Begründung, warum es sich um einen revolutionären Umbruch der Wertschöpfungsstrukturen und um keinen graduellen Wandel handelt, findet sich bei Tschmuck (2003).
286 | Peter Tschmuck
lichster Branchen Musik als Verkaufsargument für ihre Güter und Dienstleistungen entdeckt. Autohersteller bieten die neuesten Modelle mit Autoradios an, die einen bestimmten Musikstreamingservice vorprogrammiert haben. Fluglinien richten Downloadshops ein, damit Fluggäste Bonuspunkte für Kundenbindungsprogramme beim Kauf von Musikdownloads sammeln können. Bei Supermarktketten lassen sich mit Sammelkarten Musiktracks aus Onlineshops erwerben und Kaffeehausketten betreiben eigene Labels, um den Umsatz ihrer Geschäftsfilialen durch hauseigene Musikproduktionen anzukurbeln usw. usf. Musik eröffnet also neue Wertschöpfungspotenziale, die weit über die klassischen Formen der Musikvermarktung hinausgehen. Dreh- und Angelpunkt sind dabei die Verwertungsrechte, die per Gesetz ausschließlich den Urhebern zukommen. Früher war es allerdings so, dass die Urheber und ausübenden Künstler auf die Verwertungsstrukturen der Unternehmen der Musikindustrie angewiesen waren. Dazu mussten die Nutzungsrechte an den Werken auf die Verwerter – Verlag und Label –übertragen werden. Das deutsche Urhebervertragsrecht sieht zwar die nicht-exklusive und somit einfache Übertragung eines Nutzungsrechts vor,2 die Rechteverwerter konnten aber aufgrund ihrer dominanten Marktstellung in der Vergangenheit auf der exklusiven Übertragung der Werknutzungsrechte bestehen. Die digitale Revolution in der Musikindustrie hat allerdings die Abhängigkeit der Musikschaffenden von den Verwertungsstrukturen traditioneller Akteure der Musikindustrie erheblich verringert. Aktuelle Beispiele aus jüngster Zeit belegen dies. Zahlreiche Bands und Einzelkünstler sind dazu übergegangen, ihre Musik direkt übers Internet zu verbreiten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die britische Rockband Radiohead, die 2007 damit für Aufsehen sorgte, dass sie ihr Album „In Rainbows“ in einem Preisband von Null bis US$ 99,99 zum Download zur Verfügung stellte. Es ist zwar bemerkenswert, dass trotz der Möglichkeit des Gratisdownloads mehr als ein Drittel der Fans durchaus bereit waren im Durchschnitt US$ 6 für das Album zu bezahlen, was der Band Einnahmen von mehr als US$ 3 Mio. bescherte. Letztendlich war aber das Ganze eine ausgeklügelte Promotionsaktion für die zwei Monate später erscheinende
2
Siehe dazu § 31 Abs. 1-3 im Gesetz zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern vom 22. März 2002. Bundesgesetzblatt Jg. 2002, Teil 1, Nr. 21.
Das 360 O -Musikschaffen
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Deluxe-CD-Box, für die US$ 81 hingeblättert werden mussten. Von dieser Luxusedition wurden in kürzester Zeit mehr als 100.000 Stück verkauft, was Radiohead weitere Einnahmen von über US$ 8 Mio. einbrachte (siehe Kot 2009, S. 232-240). Radiohead hat also das Potenzial für die Selbstvermarktung über das Netz aufgezeigt. Natürlich hat das Experiment nur wegen des hohen Bekanntheitsgrades der Band funktionieren können, aber die freie Abgabe von Musik hat durchaus auch bei weniger bekannten Künstlern ihre Nachahmer gefunden. Dabei hat sich bei so manchen Musikschaffenden die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit dem direkten Verkauf von Musik ohnehin nur ein bescheidenes Einkommen zu erzielen ist und der Werbe- und Promotionswert des Gratiszugangs zu Musik für Konzerte und für die Erhöhung des Bekanntheitsgrades die Einkommenseinbußen bei weitem aufwiegen. Allerdings fehlen bis dato wissenschaftlich gesicherte empirische Belege für diese Annahme. Die Möglichkeiten der Selbstvermarktung von Musikschaffenden gehen aber über die Direktdistribution von Musik über das Netz weit hinaus. Crowdfunding ermöglicht es, die Fans um einen Finanzierungsbeitrag für Musikproduktionen, Konzerte oder Marketingaktionen zu bitten. Plattformen für User Generated Content wie YouTube, Social-Media-Netzwerke wie Facebook und Messaging-Services wie Twitter eröffnen neue Wege, sich eine Fanbasis aufzubauen und den Kontakt mit Fans zu pflegen. Mit Wertschöpfungspartnern anderer Entertainment-Branchen (Games, Film, TV etc.) und mit der Werbewirtschaft können Kooperationen eingegangen werden, um zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen. Auch neue Kooperationspartner aus der Telekommunikationsindustrie, Transport- und Beherbergungswirtschaft und anderen Branchen, die Musik als Content nutzen wollen, können von den Musikschaffenden gewonnen werden. Alle diese Wege der Einnahmengenerierung stehen erst seit den Umwälzungen im Wertschöpfungsnetzwerk der Musikwirtschaft einzelnen Musikschaffenden offen und können bei entsprechendem Engagement genutzt werden.
288 | Peter Tschmuck
D IE V ERÄNDERUNG DES W ERTSCHÖPFUNGSNETZWERKS IN DER M USIKINDUSTRIE Im traditionellen Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie stand der Tonträger als zentrale Ertragsquelle wirtschaftlich im Mittelpunkt. Alle anderen Funktionen waren der Tonträgerproduktion und -distribution untergeordnet. Die PR- und Marketingmaßnahmen zielten darauf ab, möglichst viele Musikinteressierte zum Kauf einer CD anzuregen, und sogar Konzerte und andere Live-Events wurden lediglich als Promotionsinstrument für den Tonträgerabsatz angesehen. Mit dem Tonträger rückten die Verlage und Label spätestens seit den 1950er Jahren ins Zentrum der Wertschöpfungsprozesse der Musikindustrie (Abb. 1). Abbildung 1: Der Rechte- und Tantiemenstrom im traditionellen Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie
Verlag Musikschaffende
LABEL
Verwertungsgesellschaften
Rechtenutzung Tantiemenstrom
Quelle: Eigene Darstellung
Im traditionellen Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie stellten die Label und die mit ihnen wirtschaftlich eng verbundenen Musikverlage die Gatekeeper dar. Urheber mussten i. d. R. einen Verlag finden, damit ihr Werk überhaupt erst verbreitet werden konnte. Waren sie zudem in Personalunion auch die Interpreten ihrer eigenen Werke, so war der Plattenvertrag, wie das immer noch genannt wird, das Ziel aller Bestrebungen. Je größer und wirtschaftlich einflussreicher das Label war, desto besser er-
Das 360 O -Musikschaffen
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schien es den Künstlern und ihrem Management. Über die vertraglich zugesicherte Umsatzbeteiligung konnte bei entsprechenden Verkaufszahlen ein Einkommen erzielt werden, mit dem es sich gut leben ließ.3 Über die Verwertungsgesellschaften konnten die Urheber und Interpreten noch zusätzliche Einnahmen aus der Lizenzierung ihrer Werke für unterschiedlichste Nutzungen erzielen. Allerdings mussten die Künstler den Verlagen, den Labels und auch den Verwertungsgesellschaften exklusive und zeitlich wie auch örtlich unbegrenzte Nutzungsrechte an ihren Werkleistungen einräumen. Das war aber insofern kein Problem, als es einzelnen Musikschaffenden ohnehin nicht möglich war, eine Musikproduktion durchzuführen und die Tonträger dann an den Handel zu vertreiben. Die Kosten für eine Musikproduktion in einem voll ausgestatteten, professionellen Tonstudio waren für Privatpersonen unerschwinglich. Die Vertriebswege für Tonträger waren zudem nur kapitalstarken Unternehmen zugänglich und an das Einsammeln von Tantiemen von einzelnen Musiknutzern war ohnehin nicht zu denken. Das alles hat sich mittlerweile geändert. Der Computer wurde zum zentralen Instrument der Musikproduktion und es gibt in den meisten Fällen keine Notwendigkeit mehr, in ein voll ausgestattetes Tonstudio zu gehen. Die Musikproduktion im eigenen Wohnzimmer ist schon längst keine Utopie mehr. Zudem lässt sich Musik heutzutage in digitaler Form über Content-Aggregatoren wie The Orchard, Tunecore oder Rebeat bei geringem Kostenaufwand in alle wichtigen Streaming- und Downloadportale weltweit einstellen. Und schließlich erlaubt die Creative-Commons-Lizenzierung von Musik den Urhebern, die Nutzung ihrer Musik abseits von Verwertungsgesellschaften zu kontrollieren. Die Musikschaffenden haben also die Möglichkeit bekommen, sich eines Netzwerks an Dienstleistungsanbietern zu bedienen, was nicht nur zu einer Autonomie von traditionellen
3
An dieser Stelle muss einschränkend hinzugefügt werden, dass Brancheninsider stets davon ausgegangen sind, dass bestenfalls 20 Prozent der Produktionen in der Lage waren, die Kosten einzuspielen. Ein kleiner Anteil von diesen 20 Prozent waren dann die eigentlichen Cash Cows, die die Verluste der anderen 80 Prozent decken mussten. Das bedeutet aber auch, dass die Musiker erst dann in den Genuss einer Umsatzbeteiligung kamen, wenn die Kosten einer Produktion eingespielt waren. Somit war es nur einigen wenigen Musikern vergönnt, zu den gut verdienenden Stars zu gehören.
290 | Peter Tschmuck
Rechteverwertern geführt, sondern die Musikschaffenden ins Zentrum des Wertschöpfungsnetzwerks gerückt hat (Abb. 2). In weiterer Folge werden nun die Veränderungen in der Wertschöpfung in den einzelnen Bereichen genauer untersucht. Abbildung 2: Der Rechte- und Tantiemenstrom im neuen Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie
digital
Musikproduktion Marketing und PR
Musikdistribution physisch
neue Partner
Musikschaffende
SyncRechte
Rechtenutzung
CD-Verkauf
Konzerte Merchandising
Tantiemenstrom
Quelle: Eigene Darstellung
Musikproduktion Auch heute noch ist die Finanzierung von Musikproduktionen die Domäne der Plattenlabels. Dennoch haben sich neue Finanzierungsformen wie das Crowdfunding etabliert, die es den Musikschaffenden erlauben, unabhängig von Labels zu agieren. So gelang es der US-amerikanischen Musikerin Amanda Palmer über die Plattform Kickstarter, im Mai 2012 mehr als US$ 1 Mio. an „Spenden“ für ihr neuestes Album einzusammeln. Mehr als 20.000 Fans waren bereit, das Projekt finanziell zu unterstützen, was einen durchschnittlichen Finanzierungsbeitrag von mehr als US$ 50 bedeutet. Medienberichten zufolge brachten 35 Unterstützer sogar mehr als US$ 5000 auf,
Das 360 O -Musikschaffen
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um das Album-Release zu ermöglichen.4 Damit wird auch das Grundprinzip von Crowdfunding sichtbar (siehe dazu auch Schwienbacher und Larralde 2010 sowie Bartelt und Theil 2011). Über eigens dafür eingerichtete Websites oder über spezielle Internetplattformen wie Sellaband, Kickstarter, IndieGogo, Startnext oder mySherpas können KünstlerInnen zum Beispiel ein Musikprojekt (Musikalbum, Konzerttour, Marketingaktion für ein neues Album etc.) vorstellen und Finanzierungsanteile an Interessierte anbieten. Der Preis für die Anteile und die Mindesthöhe der Finanzierung muss von den KünstlerInnen vorab festgelegt werden. Erst wenn diese Mindestsumme an Unterstützung zusammenkommt, wird das Projekt realisiert und die UnterstützerInnen erhalten dann eine Gegenleistung in Form von CDs, Konzertkarten, Anteile an den Einnahmen einer Konzerttour usw. Sollte die Mindestsumme aber nicht erreicht und das Projekt somit nicht realisiert werden können, geht das Geld wieder zurück an die Fans.5 Auch wenn diese Form der Vorfinanzierung von Musikprojekten historische Vorbilder6 hat, so hat es durch die Möglichkeit, über das Internet eine breite Masse anzusprechen, eine neue wirtschaftliche Qualität bekommen. Allerdings steckt dieses Finanzierungsmodell noch in den Kinderschuhen, wie eine Studie des Instituts für Kommunikation in sozialen Medien (ikosom) für den deutschsprachigen Raum belegt. Die meisten Plattformen existieren erst seit kurzer Zeit7 und können daher noch nicht so vie-
4
Billboard.biz: „Amanda Palmer Hits $1 Million Mark on Kickstarter Campaign“, 28. Mai 2012.
5
Nach diesem All-or-Nothing-Prinzip funktionieren die allermeisten Onlineplattformen.
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Bereits im 18. Jahrhundert war es üblich, dass Impresarios und Komponisten vom meist zahlungskräftigen, adeligen Publikum Subskriptionsbeiträge erbaten, um die Aufführung einer Oper oder eines Konzerts vorab finanziell sicherzustellen. Erst wenn der nötige Finanzierungsbedarf zustande gekommen war, wurden diese sogenannten Subskriptionskonzerte auch tatsächlich abgehalten. Siehe dazu das Beispiel von Georg Friedrich Händel (Dahlhaus 2008, S. 189-190).
7
Vorreiter im deutschsprachigen Raum war die 2006 in den Niederlanden gegründete Plattform sellaband, die allerdings im Februar 2010 Konkurs anmelden musste. Die Konkursmasse samt Markenrechten wurde von einem in München ansässigen Investmentfonds übernommen und die Plattform wurde quasi neu
292 | Peter Tschmuck
le erfolgreiche Projekte vorweisen. In der ikosom-Studie (2012) werden z. B. nur zehn Crowdfunding-Projekte für Musikalben-Produktionen, die zwischen Juni 2010 und April 2011 auf sechs deutschen CrowdfundingPlattformen angeboten wurden, erfasst. Davon konnten lediglich drei realisiert werden. Die durchschnittlich erreichte Fördersumme belief sich dabei auf € 2.699 pro Album bei einer Anzahl von 85 UnterstützerInnen (d. h. durchschnittlich € 35 pro UnterstützerIn). Damit liegt die Fördersumme für erfolgreich finanzierte Musikalben im Mittelfeld von dreizehn erfassten Förderkategorien.8 Von Einzelfällen wie Amanda Palmer einmal abgesehen, nimmt sich das Fördervolumen, das bislang über Crowdfunding für Musikprojekte erzielt werden konnte, noch recht bescheiden aus, aber es ist Potenzial vorhanden, das von Musikschaffenden stärker genutzt werden sollte. Musikdistribution Es ist absehbar, dass die Umsätze mit digitalen Musikverkäufen die Tonträgerumsätze bald überholen werden. So berichtete die British Phonographic Industry (BPI 2012) Ende Mai 2012, dass im ersten Quartal des Jahres die digitalen Umsätze 55,5 Prozent der Gesamtumsätze ausmachten und somit erstmals höher als die Umsätze aus den Tonträgerverkäufen waren. Im aktuellen Bericht der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI 2012, S. 41) werden die Großhandelsumsätze im digitalen Musikvertrieb in den USA mit US$ 2,21 Mrd. im Vergleich zu US$ 1,84 Mrd. an Tonträgerumsätzen für 2011 ausgewiesen. In den anderen umsatzstarken, phonografischen Märkten – Japan,9 Deutschland10 und Frankreich11 –
gegründet (NRC Handelsblad: „After bankruptcy, investors take on Sellabandތs debts“, 25. Februar 2010). 8
Neben Musikalben auch noch Games, Infomaterial, Magazine, Bücher, Kunstprojekte, Unternehmen, Aktionen, Studien, Entwicklungshilfe, Filme, Hörspiele, Veranstaltungen. Aus der ikosom-Studie geht leider nicht hervor, wie viele der erfolgreich finanzierten zwanzig Veranstaltungen einen Musikbezug aufwiesen und ob es auch in anderen Kategorien Projekte mit Musikbezug gab.
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In Japan lag der digitale Anteil 2011 bei 20 Prozent der Gesamtumsätze. Die digitalen Umsätze gingen seit 2009 sogar um 21 Prozent zurück, was aber vor allem am starken Schrumpfen des Marktes für Ringtones und Ringbacktones liegt
Das 360 O -Musikschaffen
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liegt der Anteil digitaler Musikverkäufe zwar noch um die 20 Prozent oder darunter, aber auch hier weisen die digitalen Musikverkäufe steil nach oben, wohingegen die Tonträgerumsätze von Jahr zu Jahr einbrechen. So manche kleinere Märkte haben die Konversion vom physischen zum digitalen Musikmarkt schon längst vollzogen. So liegt der Anteil digitaler Musikverkäufe laut aktuellem IFPI-Bericht (IFPI 2012) in Ecuador bei 52 Prozent, in Südkorea bei 54 Prozent, in Thailand bei 60 Prozent und in China bei 74 Prozent. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass sich der phonografische Markt im digitalen Paradigmenwechsel befindet und der digitale Musikkonsum immer stärker die Oberhand gewinnt. Damit kommt dem digitalen Musikvertrieb eine immer größere Bedeutung im neuen Geschäftsmodell der Musikindustrie zu. Die Musikschaffenden können sich von traditionellen Intermediären wie den Labels emanzipieren und sich neuer Partner wie Content-Aggregatoren bedienen, um ihre Musik verbreiten zu lassen. So ermöglicht der in Österreich ansässige digitale Musikvertrieb Rebeat (www.rebeat.com)12 das Einstellen eigener Musiktracks mithilfe einer Software in über 300 Download- und Streamingportale weltweit. Mittels einer Trackersoftware kann nachvollzogen werden, in welchen Musikportalen die eigenen Produkte verfügbar sind. Selbst gestaltbare Widgets ermöglichen zudem das Abspielen von Musikbeispielen auf der eigenen Homepage oder in Social-Community-Sites wie Facebook oder MySpace. Ein
(-26,4 Prozent seit 2009), wohingegen die Downloadumsätze um 18,8 Prozent seit 2009 zulegten (RIAJ 2012, S. 2). 10 In Deutschland war der Anteil digitaler Musikverkäufe mit 15 Prozent am Gesamtumsatz vergleichsweise niedrig. Allerdings stieg der digitale Musikumsatz im Vergleich zum Vorjahr um 21,2 Prozent und legte im ersten Halbjahr 2012 um weitere 32 Prozent zu (BVMI 2012). 11 In Frankreich wurde mit digitalen Musikdienstleistungen – Download, Streaming und Mobile Music – 2011 ein Marktanteil von 21,1 Prozent erzielt. Der digitale Musikumsatz stieg im Vergleich zum Vorjahr um 25,7 Prozent (http:// www.snepmusique.com/fr/cpg1-431127-385752-Le-marche-de-la-musiqueenregistree-en-2011.html). 12 Eine ausführliche Darstellung zu Rebeat findet sich im Blog zur Musikwirtschaftsforschung (http://musikwirtschaftsforschung.wordpress.com/2010/03/31/ neue-geschaftsmodelle-in-der-musikindustrie-rebeat/).
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Abrechnungsmodul erlaubt nachzuvollziehen, wie viele Tracks verkauft wurden, wie hoch der damit verbundene Umsatz war und wie viel an Auszahlungen zu erwarten ist. Ein Rechtemanagement stellt sicher, dass allfällige Urheberrechtsabgaben an die Verwertungsgesellschaften bzw. Lizenzabgaben an Partnerunternehmen weitergeleitet werden. Auf diese Weise kann eine Musikschaffende gegen ein geringes Entgelt für die Software und für das Einstellen eines Tracks den digitalen Musikvertrieb selbst in die Hand nehmen und bekommt auch noch das Rechtemanagement dazugeliefert. Ähnlich gelagerte Angebote bieten auch The Orchard oder Tunecore an. Die CD hingegen wird als Umsatzträger immer unwichtiger, auch wenn in manchen Märkten, wie bereits oben beschrieben, der Ertragsanteil der CD noch immer an die 70 Prozent ausmacht. Dennoch kann die Prognose gewagt werden, dass die CD, ähnlich wie die Vinyl-Schallplatte schon jetzt, ein Nischendasein für Sammler und Liebhaber fristen wird. Für die Musikschaffenden ist aber die CD immer noch ein wichtiges Prestigeobjekt. Sie ist quasi eine Visitenkarte, die an Konzertveranstalter, MusikjournalistInnen, Fans usw. verteilt werden kann. Und sie bringt im direkten Verkauf im Rahmen von Konzerten immer noch relevante Umsätze. Im Januar 2010 wurde in einem Blogpost eine Berechnung angestellt, wie viele CDs, Album-Downloads und Musikstreams eines Albums getätigt werden müssten, damit eine MusikerIn das monatliche Mindesteinkommen von US$ 1.160 erzielt. Die Berechnung bringt ein ernüchterndes Ergebnis. Müssten bei selbst hergestellten und vertriebenen CDs lediglich 143 Stück verkauft werden, um diesen Betrag zu erzielen, so sind es bereits 3.871 Stück CD, die im Einzelhandel um US$ 9,99 verkauft werden müssten. Im Amazon- und iTunes-Downloadshop braucht man bereits 12.399 digitale Albenverkäufe, um das Mindesteinkommen zu erzielen. Schließlich müsste ein ganzes Album 4,5 Millionen Mal auf Spotify gestreamt werden, damit die US$ 1.160 monatlich zusammenkommen (Abb. 3). Diese Zahlen belegen, dass die Musikschaffenden in Zukunft nicht mehr damit rechnen dürfen, über direkte Musikverkäufe ein relevantes Einkommen zu erzielen. Die Verbreitung von Musik über Download- und Streamingportale hat vor allem einen Promotionseffekt für andere Produkte und Musikdienstleistungen, vor allem für Live-Musikveranstaltungen.
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Abbildung 3: Wie viel muss in den einzelnen Vertriebswegen abgesetzt werden, um den US-Mindestlohn von US$ 1.160 monatlich zu erzielen?
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Quelle: Eigene Darstellung nach http://thecynicalmusician.com/2010/01/ the-paradise-that-should-have-been/.13
Live-Musikbusiness Die Rolle von Konzerten, Festivals und anderen Live-Musikveranstaltungen für die Einkommenserzielung von Musikschaffenden hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Das lässt sich bereits an den publik gemachten Einkommenszahlen für die Superstars der Musikszene ablesen. In der vom Billboard Magazine veröffentlichten „Top 40 Money Makers List“ werden die geschätzten Einkommen angeführt, die von MusikerInnen in den USA im Jahr 2011 erzielt wurden. Die Liste führt die Singer-Songwriterin Taylor Swift mit einem Jahresverdienst aus Musikumsätzen von US$ 35,7 Mio. an. Davon entfielen US$ 29,8 Mio. auf Nettoeinnahmen aus der „Fearless“-Tournee, womit 83,5 Prozent des Einkommens aus dem Konzertbusiness stammen. Der Rest von 17,5 Prozent bzw. US$ 5,9 Mio. verteilt sich aus Einnahmen aus dem Verkauf von Tonträgern und digitalen Tracks sowie aus Verlagstantiemen und Zahlungen von Verwertungsgesell-
13 Last.fm hat sein Streaming-Angebot im April 2010 eingestellt und wird hier nur zu Vergleichszwecken angeführt.
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schaften. Der erfolgreiche US-Countrymusik-Star Jason Aldean hat mit seiner „My Kinda Party“-Tour US$ 9,1 Mio. verdient, was einem Anteil an seinen Gesamtnettoeinnahmen von 67,9 Prozent entspricht. Insgesamt fällt auf, dass ein Großteil der Top-40-Spitzenverdiener Konzerttourneen im Jahr 2011 absolviert hat und die Einnahmenanteile aus dem Live-Business stets mehr als 50 Prozent ausmachten: z. B. Paul McCartney (92,5 Prozent), Elton John (91,7 Prozent), Rod Stewart (87,5 Prozent), Enrique Iglesias (81,1 Prozent), Keith Urban (80,3 Prozent), Usher (74,6 Prozent), Britney Spears (72,3 Prozent), Sugarland (71,4 Prozent), Kate Perry (55,5 Prozent). Der geringere Teil der angeführten KünstlerInnen hat mehr mit Musikverkäufen (physisch wie auch digital) und Tantiemen verdient wie z. B. Adele, Rihanna, Michael Bublé, Lady Antebellum, Justin Bieber und die Beatles, die allesamt in den Charts ganz oben zu finden waren. Allerdings belegen sie in der Top-40-Liste nicht die vordersten Ränge.14 Der internationale Live-Musikmarkt hat in der Tat im letzten Jahrzehnt geboomt. Verantwortlich dafür ist nicht nur die digitale Revolution, die selbst etablierte KünstlerInnen dazu „zwingt“ auf Tournee zu gehen, sondern auch der Strukturwandel im Veranstaltungsbusiness selbst. War das Live-Business traditionell immer regional und kleinteilig organisiert, so hat das Auftreten von SFX Entertainment Ende der 1990er Jahre die LiveMusikindustrie revolutioniert. SFX begann durch den Aufkauf der wichtigsten Konzertveranstalter in den USA den Markt zu kontrollieren. Nach einigen Eigentümerwechseln und der Umformung von SFX zu Live Nation ist dann durch den Zusammenschluss mit dem marktführenden Ticketingunternehmen (Ticketmaster) und mit der weltweit größten Künstleragentur (Front Line Management) ein marktbeherrschendes Konglomerat entstanden, das horizontal wie auch vertikal integriert ist.15 Live Nation und einige wenige andere Player wie z. B. die Anschutz Entertainment Group (AEG) haben das Konzertwesen zu einem milliardenschweren Geschäft gemacht, in dem über Economies of Scale Effizienzgewinne erzielt werden konnten, die über großzügige Umsatzbeteiligungen von mehr als 80 Prozent an die KünstlerInnen weitergegeben werden konn-
14 Am weitesten vorne auf Platz 10 rangiert die internationale britische Hitparadenstürmerin Adele. 15 Zur Entwicklungsgeschichte von SFX Entertainment bzw. Live Nation siehe Budnick und Baron (2011).
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ten. Damit wurden Konzerttourneen für die Stars zu einem wirtschaftlich attraktiven Geschäftsfeld. Immer mehr namhafte Acts, die jahrelang nicht live zu sehen waren, gingen in den 2000er Jahren auf Tournee und befeuerten den Boom. Die Kehrseite der Medaille war, dass es für weniger bekannte KünstlerInnen aufgrund der erhöhten Konkurrenz durch die Stars schwieriger wurde, im Live-Geschäft Fuß zu fassen. Zudem wachsen auch die Bäume im Musikveranstaltungsmarkt nicht in den Himmel. So ist der deutsche Musikveranstaltungsmarkt zwischen 2007 und 2009 um 19,5 Prozent geschrumpft, um 2011 den historischen Höchstwert des Jahres 2007 mit € 2,76 Mrd. fast wieder zu erreichen (GfK 2012, S. 4). Allerdings sind im gleichen Zeitraum die Produktionen aufwändiger und kostenintensiver geworden. Zudem haben sich die Honorarforderungen der Stars ebenfalls stark erhöht, was insgesamt auf die Gewinnmargen drückt, wie aus einer Presseaussendung des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft in Deutschland hervorgeht.16 Dennoch sind die Konzerteinnahmen das wichtigste Standbein für MusikerInnen aller Genres und machen i. d. R. das Gros der Gesamteinnahmen aus. Merchandising Mit dem Live-Business steht das Merchandising in engem Zusammenhang. Darunter werden die Produktion, der Vertrieb und die Werbung für Markenartikel verstanden, die das gleiche Logo oder die gleiche Botschaft transportieren wie ein bekanntes Markenprodukt (siehe dazu genauer Lyng 2003, S. 369-374). Im Musikbusiness ist die Marke die KünstlerIn bzw. die Band, die Markenartikel in Form von T-Shirts, Kappen, Schals, Schirmen etc. herstellen und vertreiben lassen, auf die das KünstlerInnen-Image wertsteigernd übertragen wird. Somit können diese Gebrauchsartikel zu einem höheren als dem üblichen Marktpreis für derartige Produkte abgegeben werden, was eine zusätzliche Einkommensquelle für Musikschaffende darstellen kann. Die Superstars der Musikbranche schöpfen dieses Potenzial schon seit langem aus. So betreibt Beyoncé Knowles seit 2005 die Markenmoden16 Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft: „Bundesverband und Musikmarkt veröffentlichen aktuelle GfK-Studie zum Veranstaltungsmarkt“, Presseaussendung vom 26. Juli 2012.
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Linie „House of Deréon“, über die Sportkleidung, Modeaccessoires, Handtaschen und Schuhe in nordamerikanischen Geschäften vertrieben werden. Vor allem bei VertreterInnen des Hip-Hop/Rap erfreuen sich eigene Modelinien besonderer Beliebtheit (siehe z. B. bei Charnas, 2010). Aber auch bei heimischen Acts kann das Geschäft mit Merchandisingartikeln umfangreich ausfallen, wie die Homepage der Kastelruther Spatzen, einer aus Südtirol stammenden Gruppierung der volkstümlichen Musik, belegt. Im Fanshop kann aus einem riesigen Sortiment an Fanartikeln von Schlüsselanhängern, Autokissen, Fahnen, Schals, T-Shirts, Schirmkappen, Socken, Halstüchern, Bierkrügen, Kaffeetassen, Aschenbechern, Wandtellern, Uhren bis hin zur Trachtenmode und Südtiroler Spezialitäten erworben werden. Rechtemanagement Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Verwertung von Musik sind die den Musikschaffenden zufallenden Rechte. Vor allem das Synchronisationsrecht, das darin besteht, Musik mit anderen Medieninhalten zu verbinden, kann eine interessante Einkommensquelle für Musikschaffende darstellen. Üblicherweise wurde die Nutzung der Synchronisationsrechte früher an die Musikverlage übertragen, die diese dann an kommerzielle Nutzer aus dem Film- und TV-Bereich, der Games-Industrie und aus der Werbebranche lizenzierten. Da für die Lizenz eines einzigen Musiktitels einer bekannten KünstlerIn nach Angaben von Brancheninsidern fünfstellige Eurobeträge verlangt werden,17 sind kommerzielle Musiknutzer dazu übergegangen, mit aufstrebenden aber noch weniger bekannten Acts zusammenzuarbeiten. Die großen Spieleentwickler haben sogar ihre eigenen Musikabteilungen mit angestellten KomponistInnen eingerichtet, um Musik für die Games produzieren zu lassen. In der Regel werden aber frei schaffende MusikerInnen und MusikproduzentInnen mit solchen Aufträgen betraut. Zudem gibt es Spiele, bei denen Musik sogar der Hauptinhalt ist. Diese sogenannten musikzentrierten Games ermöglichen den NutzerInnen, aktiv über eine Schnittstelle zur Spielekonsole mitzumusizieren und neuerdings 17 Siehe dazu Angaben des Präsidenten des Österreichischen Verbandes für Unterhaltungssoftware (ÖVUS), Dr. Niki Laber in einem Interview (Blog zur Musikwirtschaftforschung: „Die Relevanz des Spielemarkts für das Musikbusiness“, 15. März 2011).
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auch mitzutanzen. Auch wenn der wirtschaftliche Boom solcher Spiele abgeflaut ist, bieten sie nicht nur eine gute Plattform für Star-Acts, sondern auch für Bands mit einem weniger hohen Bekanntheitsgrad. Die Absatzzahlen einzelner Spiele erreichten mehrfache Millionenhöhe wie z. B. Guitar Hero 3 mit 15,5 Mio., Guitar Hero 5 mit 3,8 Mio., Rock Band: The Beatles mit 3,5 Mio. oder Guitar Hero: Metallica mit 2,2 Mio.18 Die werbetreibende Industrie beginnt auch eine immer wichtigere Rolle als Partner für Musikschaffende zu spielen. Die Zusammenarbeit zwischen der Musikindustrie und der Werbebranche reicht ins späte 19. Jahrhundert zurück, als die Musikverlage der New Yorker Tin Pan Alley,19 von werbetreibenden Firmen finanziert, Notenblätter populärer Songs Zeitungen und Zeitschriften beilegten, um den Absatz zu steigern. Die Zusammenarbeit setzte sich dann im neuen Medium Radio in den 1920er und 1930er Jahren fort, als werbetreibende Firmen ganze Musiksendungen aber auch einzelne KünstlerInnen sponsorten. Erst die Verlagerung der Werbebudgets zum Fernsehen in den 1950er und 1960er Jahren und der wirtschaftliche Aufschwung der Tonträgerindustrie im Verlauf der sogenannten Rock ‚n‘ Roll-Revolution führten zum Auflösen der engen Bande zwischen der Musikindustrie und Werbebranche (siehe dazu Wang 2012). Im Zuge der digitalen Revolution bekommt aber die Zusammenarbeit zwischen Musik- und Werbeindustrie eine neue Qualität und wirtschaftliche Relevanz. So ist die aus Trinidad und Tobago stammende Rapperin Nicki Minaj 2010 eine mehrjährige Werbekooperation mit dem US-amerikanischen Softdrink-Hersteller Pepsi eingegangen, in deren Rahmen beispielsweise die 2010 erschienene Single „Moment for Life“ als Werbemusik für diverse Spots eingesetzt wurde.20 Damit wandelt die KünstlerIn in den Fußstapfen von Michael Jackson, der 1983 mit seiner Sponsoringzusammenarbeit mit Pepsi eine neue Ära eingeläutet hat. Aber auch unbekannte KünstlerInnen haben die Chance, mit werbetreibenden Unternehmen zusammen zu arbeiten, wie die aus Nashville stammende Singer-Songwri-
18 Siehe dazu: http://www.gamrreview.com/, letzter Zugriff am 27. August 2012. 19 Die Tin Pan Alley war jener Straßenzug in New York, wo sich Ende des 19. Jahrhunderts die großen Musikverlage angesiedelt haben. Der Name leitet sich von den verstimmten Klavieren in den Büros der Musikverlage ab, die an das Anschlagen von Zinntöpfen erinnerten (siehe dazu Suisman 2009). 20 Billboard.biz: „Pepsi Teams With Nicki Minaj“, 1. Mai 2012.
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terin Jessica Frech belegt, die durch selbst erstellte YouTube-Videos die Aufmerksamkeit des südkoreanischen Autoherstellers Hyundai auf sich gezogen hat. Hyundai hat sie mit dem Verfassen eines Werbesongs für einen US-weit eingesetzten Werbespot beauftragt, in dem sie selbst sogar die Möglichkeit erhielt aufzutreten, um ihren Song zu präsentieren.21 Es kann sich also durchaus lohnen, die Zusammenarbeit mit Film- und TV-Firmen, Werbeagenturen und werbetreibenden Firmen sowie Spieleentwicklern einzugehen, um zum einen neue Einkommensquellen zu erschließen aber zum anderen auch, den eigenen Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Neue Wertschöpfungspartner Es sind längst schon nicht mehr die Plattenlabels, die für Musikproduktionen verantwortlich zeichnen. Unternehmen, die ursprünglich außerhalb der Musikindustrie standen, haben Kernaufgaben der Wertschöpfung übernommen. So hat im März 2007 die US-amerikanische Kaffeehauskette Starbucks ein hauseignes Label – Hear Records – ins Leben gerufen, auf dem Paul McCartney seine erste Produktion nach seinem Abgang von der EMI herausgebracht hat. In der Folge haben auch James Taylor, Joni Mitchell und Carly Simon auf dem Starbucks-Label Alben herausgebracht (Knopper 2009, S. 245). Allerdings hat die Kaffeehauskette, die sich mit den Musikproduktionen eine Umsatzsteigerung im Stammgeschäft versprochen hat, im April 2008 ihren Anteil an Hear Music an die Concord Music Group verkauft. Ein anderes Beispiel dafür, dass Branchen-Outsider als Financiers für Musikproduktionen auftreten, ist die US-amerikanische Einzelhandelskette Wal-Mart. Im Herbst 2007 begann der Vertrieb des neuen Studioalbums der Eagles „Long Road Out Of Eden“, das mithilfe der Kaufhauskette produziert wurde und exklusiv in den Filialen von Wal-Mart erhältlich war (Knopper 2009, S. 245). Wal-Mart war auch sehr früh im digitalen Musikvertrieb engagiert. Kurz nach der Eröffnung des iTunes-Onlinestores durch Apple hat die Handelskette Ende 2003 eine Downloadplattform für Musik im Internet eingerichtet. Allerdings fristete der Wal-Mart-Musikshop ein
21 Billboard.biz: „Auto Tune: Whoތs The Girl In That Hyundai TV Commercial?“, 21. Dezember 2011.
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Schattendasein neben iTunes und anderen Downloadplattformen und wurde im August 2011 vom Netz genommen. Das letzte Beispiel zeigt, dass branchenfremde Unternehmen nur dann in der Musikindustrie aktiv sind, wenn es ihnen gelingt, mit Musik einen Zusatznutzen in anderer Form zu stiften. So wird kolportiert, dass Apple mit iTunes nach neun Jahren gerade einmal in den USA den Break-evenPunkt erreicht hat und in vielen anderen Märkten Verluste im Downloadgeschäft einfährt. Allerdings hilft das breite Angebot an Medieninhalten den Umsatz für die unterschiedlichen Abspielgeräte – Laptops, iPods, iPhones, iPads – anzukurbeln. Ebenso wie Apple sieht auch der Onlinehändler Amazon.com in der Musik einen Loss-leader, der Traffic auf die AmazonHomepage bringt, wo dann Produkte mit höherer Gewinnspanne verkauft werden können. Die Zusammenarbeit mit neuen Wertschöpfungspartnern von außerhalb der Musikindustrie macht für Musikschaffende nur dann Sinn, wenn sie in der Lage sind, Umwegrentabilität für diese Unternehmen zu erzeugen. Viele Unternehmen aus musikfremden Branchen wie der Telekommunikation, dem Transportwesen (z. B. Fluglinien und Reisebusunternehmen), der Gastronomie, der Hotellerie- und Beherbergungswirtschaft etc. benötigen Musikinhalte, um ihre Kernleistungen aufzuwerten. Das Schaffen von Mehrwert ist für Musikschaffende eine Möglichkeit, zusätzliche Einkommensquellen anzuzapfen. PR und Marketing „PR und Marketing“ ist eine weitere Domäne der Plattenlabels, die durch die digitale Revolution gefallen ist. Heutzutage bieten Social-MediaNetzwerke und User-Generated-Content-Plattformen eine Reichweite zur Erzielung von Aufmerksamkeit an, von der Musikschaffende früher nur träumen konnten. Mithilfe von selbst gemachten YouTube-Videos, die seine Mutter online gestellt hat, konnte der 13jährige Justin Bieber 2007 die Aufmerksamkeit des Musikmanagers Scooter Brown und des Hip-HopMusikers und Produzenten Usher Raymond erregen, die ihn in ihrer Managementagentur unter Vertrag nahmen und einen Plattendeal mit Island Records der Universal Music Group einfädelten.22 In diesem Fall war der Internetauftritt lediglich das Sprungbrett für eine in der Folge traditionelle Karriere im Musikbusiness. 22 New York Times: „Justin Bieber Is Living The Dream“, 31. Dezember 2009.
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Für die britisch-portugiesische Singer-Songwriterin Ana Free ist die Nutzung von YouTube und Social-Media-Plattformen Teil eines Geschäftsmodells, das wirtschaftlich nachhaltig funktioniert. Im Januar 2007 hat die KünstlerIn erstmals YouTube-Videos von ihren Performances auf der Wohnzimmer-Couch online gestellt. Am Ende des Jahres wiesen die Clips nicht nur 700.000 Zugriffe auf, sondern sie erregten die Aufmerksamkeit des portugiesischen Telekom-Anbieters Zon, der den Song „In My Place“ 2008 in einem TV-Spot einsetzte. Dies erregte zusätzlich Aufmerksamkeit in Portugal, was den Downloadabsatz des Songs auf iTunes so stark beflügelte, dass er die Singles-Verkaufschart für drei Monate anführte. Der wirtschaftliche Erfolg in Portugal ermöglichte die Produktion der EP „Radian“, die 2010 veröffentlicht wurde und der KünstlerIn Auftritte in Miami und New York City verschaffte. Dies wiederum lenkte die Aufmerksamkeit internationaler Stars wie Shakira und James Morrison auf Ana Free, deren Konzerte sie mit einem Gastauftritt eröffnen durfte. Ab diesem Zeitpunkt meldeten sich namhafte Musikclubs und Konzertveranstalter, die sie im Programm haben wollten. All diese Aktivitäten erhöhten weiter ihren Bekanntheitsgrad. Ihr YouTube-Videokanal zählt bereits mehr als 82.000 registrierte Abonnenten und 3 Mio. Views und ihre Videos auf YouTube wurden insgesamt mehr als 31 Millionen Mal angeklickt. Die damit gewonnene Fanbase erlaubte es der Musikerin, im Frühjahr 2012 mithilfe der Crowdfunding-Plattform Pledge Music mehr als £ 10.000 für ihr Debütalbum einzusammeln, das noch 2012 erscheinen soll.23 All dies erreichte die Künstlerin ohne Unterstützung durch eine Managementagentur, ein Label oder einen Verlag. Sie benötigt nicht einmal eine BookerIn, um Konzerttermine zu organisieren, weil die Veranstalter von sich aus auf sie zukommen. Eine eigene Künstler-Homepage gibt es auch nicht, sondern die gesamte Kommunikation läuft über Facebook, YouTube und Twitter. Das Beispiel von Anna Free, aber auch von anderen DIY-KünstlerInnen zeigt, dass es durchaus möglich ist, eine Karriere als MusikerIn abseits der traditionellen Akteure aufzubauen, die auch wirtschaftlichen Erfolg bringt. Es gilt dabei zu beachten, dass neue und alte Medien in einem Kommunikationsmix verzahnt zum Einsatz kommen, um einen gegenseitigen Verstär-
23 Zu Ana Free siehe Billboard.biz: „How Ana Free Became A YouTube Phenom, Topped Charts, Opened For Shakira Without Label Or Mgmt“, 14. Februar 2012.
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kungseffekt auszulösen. So wie es heutzutage nicht mehr möglich ist, allein auf Basis von TV und Radio eine Karriere aufzubauen, reicht auch die Nutzung neuer Medien dazu (noch) nicht aus. Bei allen Erfolgsbeispielen zeigt sich, dass ab einem bestimmten Punkt in der Karriere TV- oder Radioauftritte wichtige Elemente für die PR-Arbeit sind, die wiederum wichtige Inputs für Social-Media- und User-Generated-Content-Plattformen liefern.
V OM 360°-M USIKSCHAFFEN ZUR M USIK -P ROSUMPTION /A RTEPRENEUR Vom 360°-Deal zum 360°-Musikschaffen Früher beruhte die Wertschöpfung in der Musikindustrie in erster Linie auf dem Absatz von Tonträgern. Verkaufte sich eine Produktion überdurchschnittlich gut, dann konnten alle Beteiligten wirtschaftlich davon profitieren. Diese Zeiten sind aber unwiederbringlich vorbei. Heutzutage müssen gleichzeitig mehrere Einnahmequellen, wie ausführlich im zweiten Abschnitt dargestellt, angezapft werden. Dafür hat sich der Begriff der 360°Vermarktung durchgesetzt. Das Konzept wurde in dieser neuartigen Ausformung das erste Mal von der EMI umgesetzt, als mit Robbie Williams 2002 ein sogenannter „unified rights deal“ mit einem Vorschussvolumen von US$ 160 Mio. ausgehandelt wurde. Damit wurde sichergestellt, dass die EMI nicht nur an den Tonträgerverkäufen verdient, sondern auch anteilige Einnahmen aus dem Verlagsgeschäft und aus den Live-Auftritten des Künstlers erhält. Aufsehen erregt hat aber erst der 360°-Deal, den der Veranstaltungskonzern Live Nation im Oktober 2007 mit Madonna um kolportierte US$ 120 Mio. auf zehn Jahre abgeschlossen hat. Die Vereinbarung inkludiert dabei nicht nur digitale und physische Musikverkäufe sowie die von Live Nation veranstalteten Konzerte, sondern auch Merchandising, Sponsoring, Branding und Einnahmen aus der Arbeit mit Fanclubs. Damit wird es Live Nation möglich, sämtliche Wertschöpfungsbereiche mit den für die Vertragsdauer vereinbarten Musikproduktionen gegen zu verrechnen. In weiterer Folge schloss Live Nation weitere 360°-Verträge ab: Mit der irischen Rockband U2 wurde im März 2008 ein US$ 100 Mio.-Deal für einen Zeitraum von zwölf Jahren abgeschlossen, in dem Live-Auftritte, Merchandising, Übertragung der Bildrechte sowie Rechte an der Website und an den Fanclubs inkludiert sind. Mit dem Rap-Superstar Jay-Z wurde
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im April 2008 ein Zehnjahres-Vertrag über US$ 150 Mio. abgeschlossen, der Live-Auftritte, Musikproduktionen, Verlagstätigkeit, Künstlermanagement und sämtliche Labelaktivitäten umfasst. In einem Zehnjahres-Vertrag mit dem Latino-Star Shakira über US$ 70 Mio. wurde im Juli 2008 ein Paket bestehend aus Live-Auftritten, Merchandising und Musikproduktionen geschnürt. Erwähnenswert ist noch der drei Alben und sämtliche TourAktivitäten umfassende Vertrag mit der kanadischen Rockband Nickelback für geschätzte US$ 50-70 Mio. (Budnick/Baron, 2011, S. 309-310). Es fällt aber auf, dass Live Nation nach 2008 nur mehr wenige 360°Verträge abgeschlossen hat, was auf Probleme in der Abwicklung mit den bereits eingegangenen Deals schließen lässt. Es gilt nämlich dabei zu bedenken, dass auch ein Konzern wie Live Nation, der auf das Veranstaltungs- und Ticketingbusiness spezialisiert ist, erst einmal die Kompetenzen in all den anderen Geschäftsfeldern – Musikproduktion, Verlagswesen, Merchandising, Künstlermanagement, Fan Club-Betreuung etc. – erwerben muss. Für eine KünstlerIn macht es nämlich erst dann Sinn, einen 360°Deal einzugehen, wenn sichergestellt ist, dass der Partner auch wirklich all diese Funktionen auf einem professionellen Niveau erfüllen kann. Das verursacht aber wiederum Kosten, die erst verdient werden müssen. Die Warner Music Group bietet seit 2004 seinen KünstlerInnen sogenannte „expanded rights agreements“ an, die auch das Künstlermanagement umfassen, wodurch Warner auch an den Einnahmen abseits des traditionellen Musikproduktions- und -verlagsgeschäfts partizipiert. Dazu hat Warner im Laufe der Jahre zahlreiche Künstleragenturen weltweit aufgekauft bzw. Kooperationsvereinbarungen geschlossen, um die entsprechenden Kompetenzen verfügbar zu haben. Allerdings zeigt der aktuelle Quartalsbericht der Warner Music Group, dass der Geschäftsbereich Künstlermanagement (artist services and expanded rights) lediglich 8,6 Prozent der Gesamteinnahmen des Konzerns ausmacht, die immer noch vom Musikproduktionsgeschäft (recorded music) mit einem Umsatzanteil von 64,5 Prozent dominiert wird. Zudem sind die Einnahmen aus dem Künstlermanagement im Vergleich zum Vorjahr um 16,4 Prozent zurückgegangen. Aber auch Independent-Labels sind längst schon dazu übergangenen, ihren KünstlerInnen nicht nur mehr die typischen Label-Leistungen anzubieten, sondern einen Rundumservice im Sinn von 360°-Vereinbarungen. Als Beispiel genannt werden soll die in Wien ansässige ink Music, unter deren Dach nicht nur ein Label (schoenwetter), sondern auch eine Booking-
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Agentur, eine Promotions- und PR-Agentur und ein Musikverlag mit einer Sync-Rights-Agentur (swimmingpool) firmieren, deren Einkommensströme es ermöglichen sollen, Kosten aus den einzelnen Geschäftsbereichen gegen zu verrechnen. Wie aber die Ausführungen gezeigt haben, sind Musikschaffende grundsätzlich nicht mehr auf die Verwertungsstrukturen von Intermediären angewiesen, sondern können (und müssen in den meisten Fällen auch) ein 360°-Selbstmanagement betreiben. Dazu bedarf es natürlich auch der entsprechenden wirtschaftlichen Kenntnisse und der Zeit, sich um Aufgaben abseits der künstlerischen Kernaktivitäten zu kümmern. Dafür braucht es vermehrt Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote, die KünstlerInnen ermächtigen, sich wirtschaftlich auf eigene Beine zu stellen. Ab einem bestimmten Erfolgslevel kann es dann sinnvoll sein, sich einem professionellen Management anzuvertrauen, um sich in erster Linie auf das Musikschaffen selbst zu konzentrieren. Im Einklang mit einer ManagerIn können dann Partner im Wertschöpfungsnetzwerk ausgewählt und mit ihnen eine temporäre Zusammenarbeit eingegangen werden. Damit rückt die Musikschaffende ins Zentrum dieses Netzwerks und kann verschiedene Einkommensströme, wie bereits ausführlich beschrieben, für sich kanalisieren. In diesem Sinn kann von einem 360°-Musikschaffen gesprochen werden, das nicht nur künstlerische, sondern auch wirtschaftliche und rechtliche Aspekte umfasst. Engelmann et al. (2012) haben dazu auch den Begriff des Artepreneurs ins Spiel gebracht, die/der an Schnittstelle zwischen künstlerischer und wirtschaftlicher Sphäre tätig sein muss, um nachhaltig ihre/seine Existenz sichern zu können. Dabei sind Musikschaffende auf ein soziales Netzwerk angewiesen, in dem viele der oben diskutierten Funktionen von Familienangehörigen, Freunden und Fans übernommen werden. Zudem sind die Ansprüche einer professionellen Vermarktung in den letzten Jahren gestiegen. Wesentlich mehr Kanäle als früher müssen heute bedient werden. Beispielsweise umfasst die Release von Pinks Album „Funhouse“ 191 Einzelprodukte wie zwei verschiedene Alben- und drei DVD-Versionen, zwölf unterschiedliche digitale Alben, fünf digitale Singles und fünfzehn MobileDownload-Varianten sowie zahlreiche Klingeltöne und Remix-Tracks (siehe dazu RIAA, 2010, S. 15). Es ist klar, dass allein diese Palette an Produktvarianten von einer Musikschaffenden allein nicht bereitgestellt wer-
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den kann. Rechnet man den Aufwand für Marketing- und PR-Arbeit hinzu, so stößt die Selbstvermarktung rasch an ihre Grenzen. Es bedarf also auch im digitalen Zeitalter des wirtschaftlichen Erfolgs, um sich Partner im Wertschöpfungsnetzwerk leisten zu können, die die verschiedenen Aufgaben arbeitsteilig erfüllen. Da das Musikgeschäft aber weiterhin von einem Winner-takes-it-all-Markt geprägt ist, wird es nur einer kleinen Gruppe von Stars vorbehalten sein, hohe Einkommen aus verschiedenen Quellen zu beziehen. Die große Masse der MusikerInnen wird aber weiterhin nicht von ihrem Musikschaffen leben können, wie aktuelle Studien zur sozialen und wirtschaftlichen Situation von KünstlerInnen belegen (siehe z. B. L&R Sozialforschung 2008). Dennoch hat sich die Ausgangslage für die KünstlerInnen verbessert und Studien zeigen, dass sich der Superstareffekt im digitalen Zeitalter abgeschwächt hat (Krueger 2005; Giles 2005 sowie Volz 2006). Erklärt wird dies durch das Sinken bzw. Verschwinden von Markteintrittsbarrieren und dem Machtverlust traditioneller Gatekeeper. Allerdings gewinnen neue Gatekeeper im Online- und Mobile-Musikgeschäft an Einfluss und es entstehen dadurch neue Abhängigkeiten. Insgesamt haben sich also die Zugangsmöglichkeiten zum Musikmarkt verbessert, aber gleichzeitig ist der zu verteilende Ertragskuchen kleiner geworden und die Konkurrenz um diesen hat sich wesentlich verschärft. Vom 360 O-Musikschaffen zur Musik-Prosumption Die Entwicklung zum 360°-Musikschaffenden bzw. Artepreneur ist aber auch noch nur ein Durchgangsstadium zu einem noch viel weiter reichenden Wandel, der sich bereits abzeichnet. Die Entwicklung der Medien im Verlaufe der digitalen Revolution hat die Trennung zwischen aktivem Musikschaffen und passivem Musikkonsum obsolet gemacht. Die sich ausbildenden Netzwerke im Musikbusiness ermöglichen im verstärkten Ausmaß die Partizipation im Wertschöpfungsprozess. Die Bandbreite reicht dabei von Kommentaren in Musikblogs, Erstellen von Profilen in Social-MediaNetzwerken, die Nutzung von RSS-Feeds bis hin zum Betreiben eigener Blogs, dem Hinaufladen von selbst gemachten Musikvideos auf YouTube und dem Anfertigen von Mashups und Remixes von Musikstücken. Winter (2012) bezeichnet das Phänomen der zunehmenden Partizipation von Musikfans im Schaffensprozess von Musik als Pull-Musikkultur im Gegensatz zu der von Medienanbietern jahrzehntelang betriebenen
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Push-Musikkultur. Dabei handelt es sich nicht um eine reine Do-ItYourself-Bewegung, sondern um ein neues Netzwerk von ineinander fließenden Produktions-, Distributions-, Kommunikations- und Konsumprozessen, die durchaus gleichzeitig stattfinden können. Dafür wurde der Begriff der Prosumption bzw. der ProsumerIn herangezogen, der erstmals von Alvin Toffler in seinem Bestseller „New Wave“ 1980 verwendet wurde. Er bezeichnet darin eine Person, die konsumiert, was sie selbst produziert hat, wobei hierbei nicht an Subsistenzwirtschaft zu denken ist, sondern an einen Akt, der durch technologische Innovationen erst ermöglicht wird. Der Medienwissenschafter Marshall McLuhan hat bereits 1972 gemeinsam mit Barrington Nevitt im Buch „Take Today“, das Prosumer-Konzept inhaltlich umrissen, wonach durch die elektronische Technologie die KonsumentIn auch zur ProduzentIn werden kann. Vierzig Jahre später sind aus diesen Prophezeiungen konkrete Tatsachen geworden. Musikfans beteiligen sich aktiv in der Produktion, der Distribution und der Kommunikation von Musik. Das bereits besprochene Crowdfunding, d. h. die Vorabfinanzierung von Musikleistungen durch Musikfans stellt dabei nur einen Aspekt dar. Übergeordnet ist dabei das Konzept des Crowdsourcing. Auf der Website www.crowdsourcing.com wird folgende Definition geboten: „Crowdsourcing is the act of taking a job traditionally performed by a designated agent (usually an employee) and outsourcing it to an undefined, generally large group of people in the form of an open call.“ Jeff Howe, von dem diese Definition stammt, zählt dabei in seinem Konzept von Crowdsourcing (Howe 2008, S. 281-282) nicht nur das Crowdfunding, sondern auch Crowdwisdom, Crowdcreation und Crowdvoting. Crowdwisdom geht von der Erkenntnis aus, dass eine Gruppe von Personen über mehr Wissen verfügt als eine Einzelperson, wodurch es über kollektive Intelligenz möglich wird, soziale Netzwerke zu bilden, die Innovationen vorantreiben können (z. B. Wikipedia). Crowdcreation nutzt hingegen die Kreativität der Masse, um neue Inhalte zu produzieren, wie das im Fall von User-Generated-Content (Stichwort YouTube) passiert. Schließlich wird beim Crowdvoting das Urteilsvermögen der Masse herangezogen, um Vorlieben und Trends aufzudecken (z. B. Ratings in diversen Websites). Dabei beschreibt das Crowdsourcing lediglich die Möglichkeiten, wie sich Unternehmen, aber auch Einzelpersonen wie Musikschaffende, die Kreativität der vielen Internet-UserInnen zunutze machen können.
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Dabei steckt im Konzept der Crowdsourcing bereits das Element der Prosumption. Diese enge Verkopplung zwischen Fans und MusikerInnen, die Crowdsourcing erst ermöglicht, mag für viele Musikgenres etwas Neuartiges sein. Für die Club- und DJ-Kultur der elektronischen Musikszene ist dies bereits lange gelebte Praxis. Eine Klubmusikkultur zeichnet sich gerade dadurch aus, dass eine Szene die Voraussetzung für künstlerisches Schaffen einerseits und wirtschaftliche Existenzsicherung andererseits ist. Lange und Bürkner (2010, S. 61-64) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Hybridisierung der Wertschöpfungsprozesse. Die materielle und soziokulturelle Dimension der Wertschöpfung sind eng verflochten. Somit lässt sich das Musikschaffen (verstanden als Erzeugung kultureller Artefakte) nicht mehr von der ökonomischen Verwertung trennen. Im Zentrum steht der Live-Auftritt der KünstlerIn, die in erster Linie derivative Werke schafft und damit selbst schon eine Form der Prosumption betreibt. Der Live-Auftritt ist eingebettet in einer Szene, die Reputation für die DJs aufbauen aber auch wieder zerstören kann. Damit beteiligen sich die Musikfans direkt an der Wertschöpfung. Sie schaffen damit aber auch Marktwert, der außerhalb der Szene monetarisiert werden kann. Tonträger dienen in einer solchen Konfiguration lediglich als Beleg und Dokumentation der künstlerischen Entwicklung. In einem fortlaufenden Schaffensstrom, der im engen Austausch mit der Szene und den Fans erfolgt, die am Wertschöpfungsprozess auch partizipieren, kommt es zur Auflösung des abgeschlossenen Werkes. Ergebnis des künstlerischen Prozesses ist nicht mehr der Song, sondern der Track, der inhaltlich anschlussfähig und veränderbar ist. Es geht also nicht mehr darum, ein fertiges Werk zu schaffen, sondern um den Schaffensprozess selbst, der zur Prosumption wird. Musik wird also verwendet und weiterverarbeitet und nicht nur mehr passiv konsumiert. Diese neuen Praktiken stoßen aber an zahlreiche rechtliche Grenzen, wie Helberger et al. (2009) aufzeigen. Nicht nur urheberrechtliche Bestimmungen werden dabei verletzt, sondern auch Fragen des E-Commerce, des Konsumentenschutzes und Datenschutzes werden davon berührt. Die Euphorie über die Demokratisierung von partizipativen Schaffensprozessen ist dabei fehl am Platz. Der Missbrauch von NutzerInnendaten für Werbezwecke, das kostenlose Einbinden von Fans ins Werkschaffen, die Problematik der Kreditvergabe (ohne rechtliche Absicherung) im Crowdsourcing sind nur einige der Problembereiche, die sich mit der Prosumption auftun. Zu-
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dem bewegen sich bestimmte Formen der Prosumption wie das Filesharing, Filehosting und Linklisting in rechtlichen Grauzonen und werden immer wieder auch für die Umsatzeinbrüche in der phonografischen Industrie verantwortlich gemacht (siehe z. B. Peitz/Waelbroeck 2004; Liebowitz 2006, 2008; Zentner 2006). Dem stehen aber auch Studien entgegen, die keinen negativen Zusammenhang zwischen Filesharing und Umsatzrückgängen herstellen können (z. B. Oberholzer-Gee 2007; Bhattacharjee et al. 2007; McKenzie 2009). Sollte der Grad der Prosumption im Musikbereich zunehmen, so wird keineswegs die schöne, neue Welt anbrechen, sondern neue Probleme mit sich bringen, die sich erst in Umrissen abzeichnen, und für die es erst Lösungen zu entwickeln gilt.
R ESÜMEE Das Wertschöpfungsnetzwerk der Musikindustrie hat sich im Verlauf der digitalen Revolution grundlegend verändert. War ursprünglich der Tonträger das zentrale Element aller Wert schöpfenden Prozesse und das Label somit der wichtigste Gatekeeper in diesen Prozessen, so hat die Digitalisierung dafür gesorgt, dass die Musikschaffenden ins Zentrum der Wertschöpfung gerückt sind. Sie sind heutzutage in der Lage, die Finanzierung von Musikproduktionen, die nur mehr einen Bruchteil von früher kosten, über Crowdfunding selbst sicherzustellen. Der frühere Flaschenhals der Musikdistribution ist durch digitale Vertriebswege und Content-Aggregatoren so verbreitet worden, dass es Musikschaffenden möglich geworden ist, sich selbst um die weltweite Verbreitung ihrer Musik zu kümmern. Live-Auftritte sind zur wichtigsten Einkommensquelle in allen Musikgenres geworden und ermöglichen den Aufbau einer wirtschaftlich tragfähigen Fanbase. Ergänzend dazu kann über Merchandising und die Erteilung von Synchronisationsrechten an Spieleentwickler, werbetreibende Unternehmen und Filmproduktionsfirmen zusätzliches Einkommen generiert werden. Neue Wertschöpfungspartner von außerhalb der angestammten Musikindustrie können für eine temporäre, projektbezogene Zusammenarbeit gewonnen werden, um neue Geldquellen zu erschließen. Und schließlich kann mithilfe neuer Internet-basierter Medien – Social-Media-Sites und User-GeneratedContent-Plattformen – die Promotion und das Marketing in die eigene Hand
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genommen werden. Das Ins-Zentrum-Rücken der Musikschaffenden hat dazu geführt, dass nicht eine Einnahmequelle allein mehr ausreichend ist, um eine wirtschaftliche Existenz mit Musikschaffen zu begründen, sondern mehrere Quellen gleichzeitig. So entsteht ein 360°-Musikschaffen, das von einem Artepreneur wahrgenommen werden muss. Dabei beginnen die Grenzen zwischen aktivem Musikschaffen und passivem Musikkonsum immer mehr zu verschwimmen. Musikfans partizipieren in verschiedenster Weise an der Produktion, Distribution und Kommunikation von Musik und beginnen aktiv Musik zu verwenden. Das Ergebnis ist der neue KünstlerInnen-Typus der Musik-ProsumerIn, die Musik verwendet und weiterverarbeitet. Dadurch wird das abgeschlossene Werk z. B. in Form eines Songs obsolet und durch den anschlussfähigen und veränderbaren Track ersetzt. Damit stoßen die ProsumerInnen mit ihrem derivativen Werkschaffen an rechtliche Grenzen. Auch wenn das Artepreneurship und die Prosumption neue Wertschöpfungspotenziale eröffnen, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass damit auch neue Problemfelder rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Natur entstehen, für die erst Lösungsansätze entwickelt werden müssen.
L ITERATUR Bartelt, Denis/Theil, Anna (2011): „Crowdfunding – Der neue Weg für private, öffentliche und unternehmerische Förderung in der Kultur- und Kreativwirtschaft“, in: Friedrich Loock/Oliver Scheytt (Hg.), Kulturmanagement & Kulturpolitik. Die Kunst Kultur zu ermöglichen, Stuttgart: Dr. Josef Raabe Verlag (Teil F 3.7), S. 2-30. Bhattacharjee, Sudip/Gopal, Ram D./Lertwachara, Kaveepan/Marsden, James R./Telang, Rahul (2007): „The Effect of Digital Sharing Technologies on Music Markets: A Survival Analysis of Albums on Ranking Charts“, in: Management Science 53 (9), S. 1359-1374. Budnick, Dean/Baron, Josh (2011): Ticket Masters. The Rise of the Concert Industry and How the Public Got Scalped, New York: ECW Press. Charnas, Dan (2010): The Big Payback. The History of the Business of Hip-Hop, New York: New American Library.
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Interview Olaf Kretschmar, Clustermanager und Vorstandsvorsitzender der Berlin Music Commission
Olaf „Gemse“ Kretschmar (Marketingwirt/Diplomphilosoph) hat 1993 den damals international bekannten Club „Delicious Doughnuts Research“ gegründet und bis 1997 betrieben. Das „Doughnuts“ zählt zu den Gründungsinstitutionen der Berliner Clubszene und war ein Karrieresprungbrett vieler bekannter Künstler und Kulturunternehmer. 1997 folgte der zweite Club, das Oxymoron. Hier war er bis 2007 als Geschäftsführer und Booker tätig. Im Jahre 2000 hat Olaf Kretschmar gemeinsam mit Alexander Wolf und Sascha Disselkamp die Clubcommission Berlin e.V. gegründet. Von 2002 bis 2008 war er Pressesprecher und Geschäftsführer der Clubcommission. Er war 2003 Mitbegründer des Veranstaltungsmagazins Freshguide in Berlin, wo er bis 2007 als Geschäftsführer tätig war. Von 2003 bis 2008 hat Olaf Kretschmar monatliche Kolumnen sowie Beiträge für verschiedene Publikationen zur Clubkultur geschrieben. Gemeinsam mit Rainer Grigutsch hat er 2005 eine Trendstudie zu Werten, Konsum- und Kommunikationsverhalten von Clubgängern und 2007 eine Studie über das wirtschaftliche Potenzial der Club- und Veranstalterbranche in Berlin verfasst. Seit 2008 ist er Cluster-Manager und seit 2011 Vorstandsvorsitzender der Berlin Music Commission. 2009 war Olaf Kretschmar Mitinitiator der Berlin Music Week und 2010 Vorsitzender des Organisationskomitees der ersten Berlin Music Week. Seit 2011 leitet er die Kampagne „Musik 2020 Berlin“.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Radikal. Und paradoxerweise spielten Last.fm und SoundCloud dabei eine untergeordnete Rolle, es ist ein „Zurück auf Anfang“: Vinyl und Radio! Die 90er bis Mitte der Nuller Jahre hab ich im Club und auf Konzerten zugebracht. 15 Jahre im Spirit der elektronischen Musik, wir wähnten uns als
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Pioniere auf diesem Feld. Für mich war das Spiel irgendwann am Ende. An irgendeinem verregneten Sonntag nach vier Tagen Party in Folge hab ich erschöpft meinen alten Plattenspieler hervorgekramt. Die alte Technik war ein neuer Zugang zu altem Sound – den Ursprüngen des Pop, Blues, Soul, Funk, Metal, Jazz, Folk, aber auch Mangelsdorff, Schönberg, Alban Berg, Eisler. In unseren abgestellten Plattensammlungen sind krasse Schätze verborgen. Im Grunde bin ich aber ein Radio-Maniac. On Air via Digitalradio – es mag kauzig klingen, aber neben YouTube ist das heute mein am meisten genutzter Musikbezug. Und nebenher: Ich liebe es, mir von genialen Musikkoryphäen neue Sounds und Entwicklungen aufzeigen zu lassen – eine aussterbende Spezies! Angesichts der DIY-basierten Flut an Musik ist heute klassischer Musikjournalismus als Supporter und Navigator wichtiger denn je.
Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion und durch was werden diese ausgelöst? Das Potenzial der traditionellen Tonträger- und Livesegmente ist ausgereizt. Zuwächse sind hier nur noch über internen Verdrängungswettbewerb realisierbar. Parallel dazu schafft Digitalisierung die technologischen Grundlagen für völlig neue Praxismodelle respektive Wertschöpfungen. Zu maßgeblichen Entwicklungstreibern werden neue soziale Netzwerke mit ungleich komplexerer wie speziellerer Architektur als das Massenmodell Facebook und vor allem das mobile Internet. Dieser Prozess steht noch ganz am Anfang. Aktuell mangelt es neben spezifizierten sozialen Netzwerken auch rechtlich wie technologisch an adäquaten Verwertungsstrukturen. Kurzfristig sehe ich funktionale Geschäftsmodelle im crossmedialen Bereich und in der Vernetzung der unterschiedlichen Kreativwirtschaftssegmente, wie z. B. Music/Film oder Music/Games. Hier bietet die Berlin Music Commission mit ihrer Plattform MOST WANTED: MUSIC für Berliner Akteure eine gute Möglichkeit für internationale Vernetzung und professionelles Coaching.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Gutes Thema für ‚ne Dissertation, hier nur die Schlagworte: Kooperation ist keine kommunistische Heilslehre, sondern Grundlage modernen Wirt-
Clustermanager und Vorstandsvorsitzender der Berlin Music Commission
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schaftens. Das Teilen von Informationen, Know-how und Kontakten, schwächt nicht, sondern stärkt. Es ist die Basis für Ergänzung durch Partner und für gemeinschaftliche Projekte, die ungleich flexibler, innovativer und leistungsfähiger sind als die Angebote der alten Industrie. Zwingend notwendig ist gleichwohl Professionalisierung auf internationalem Standard. Die alten Verhaltensmuster wie Abschottung, Isolationismus, „Ich gegen den Rest der Welt“, sind zu ersetzen durch Öffnung und Strategien zur Branchenkonvergenz. Das setzt Spezialisierung voraus und Aufbau von Alleinstellungsmerkmalen durch Verknüpfung von Expertisen und Dienstleistungen. Maßgeblich ist dabei Spezifik, 360-Grad-Modelle sind Bullshit. Wenn alle alles machen, ist der Markt verstopft und keiner mehr anschlussfähig. Positioniere Dich international. Last but not least: Digitalisierung ist nicht Dein Feind, sondern Deine Zukunft. Es braucht Mut zur Innovation, digitale Kompetenz, Professionalität und Offenheit.
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Mit Verlaub, bei dieser Reorganisation sind eher andere Komponenten relevant. Zunächst spielen aus meiner Sicht Branchennetzwerke eine entscheidende Rolle. Also bottom-up organisierte Interessencluster, welche Prozesslücken in den Wertschöpfungsketten zu schließen vermögen, den Akteuren zielgenau bei ihrer Professionalisierung und Vernetzung helfen, Expertisen bündeln und Plattformen für Kooperationen aufbauen. Clubs sind in diesem Kontext als soziales Bezugssystem und künstlerisches Soundlabor grundlegend. Es bringt uns aber keinen Schritt weiter, unentwegt Einzelkomponenten der Kette zu hypostasieren. Musikwirtschaft ist nach wie vor sehr Old-School-männlich aufgestellt. Besitzstandswahrend mit abgeschotteten Einflussfeldern und Claims. Das Management in der Branche muss jünger, weiblicher, offener und vernetzter werden! Wie viele Frauen in den Führungspositionen der Musikwirtschaft kennst Du? In Berlin zeigen Akteurinnen, dass der feminine Weg besser funktionieren kann als der etablierte Modus der alten Platzhirsche. Die Grabenkämpfe mit ihren ideologischen Besetzungen gehören abgeschaltet. Club, Indie-Label, Major, Verlag, IT, Software, Bildungsinstitut, Netzwerk usw. sind als systemische Komponenten arbeitsteilig, transparent und modular begehbar zu organisieren. Das ist nix Neues, aber was sich hier so locker hinsagen lässt, ist in Praxi ein Minenräumkommando. Die
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verkrustete Musikwirtschaft kämpft sich zu Recht durch einen Umbruch. Die Wagenburgmentalität hängt vielen alten Kämpen noch immer in den Kleidern. Nach Jahrzehnten der Kultivierung von Abgrenzung und tradierten Geschäftsmodellen korreliert das Handlungsmuster vieler Musikunternehmer nach wie vor zu wenig mit den strategischen To Dos. Vielleicht vermag vor einem derartigen Hintergrund überhaupt erst ein Netzwerk das Ego der Einzelnen zu dimmen, verbinden und transformieren in einen kooperativen Modus Operandi. Die Berlin Music Commission wurde 2007 übrigens exakt in der Aufgabenstellung gegründet, die Branche zu öffnen, Abgrenzung zu reduzieren, den Unternehmen bei ihrer Professionalisierung zu helfen und die verschiedenen Akteure der Wertschöpfungskette an einen Tisch zu bringen. Ein heterogenes Kooperationsnetzwerk, welches seinesgleichen sucht und international als professioneller Partner der Berliner Musikwirtschaft wohl auch geschätzt wird. Gleichwohl: Die strategische Stärke ist zugleich auch eine operative Schwäche, weil eben nicht identische Geschäftsmodelle mit konformen Interessenlagen gebündelt werden können. Dieser Umstand schränkt die Refinanzierungsmöglichkeiten derartiger Branchennetzwerke über ihre Mitglieder ein und erfordert daher teilweise Unterstützung durch die öffentliche Hand. Da moderne Branchennetzwerke nicht nur im Interesse ihrer Mitglieder tätig sind, sondern sich für Themen wie z. B. Standortentwicklung, Internationalisierung, Branchenumstrukturierung und Wirtschaftsförderung engagieren, praktizieren sie öffentliche Aufgaben. Vor diesem Hintergrund halte ich eine institutionelle Teilförderung für unabdingbar.
Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Hier derselbe Rat: „Alle machen alles“ vermeiden, stattdessen an den Standorten anhand der vorhandenen Potenziale Alleinstellungsmerkmale identifizieren und konsequent ausbauen, miteinander sprechen und vor diesem Hintergrund Musikstandorte arbeitsteilig verbinden sowie als Gesamtgebilde international zu vermarkten. Darüber hinaus kann ich mein Mantra nur wiederholen: Branchennetzwerke stärken, international und branchenübergreifend vernetzen und auf Augenhöhe zu Politik und Verwaltung positionieren.
Die Entwicklung der Medien als „Ursachen“ und als „Wesen“ musikbezogener Wertschöpfung Carsten Winter
I NTRO Der Beitrag erläutert den Wandel der Wertschöpfungsbedingungen in der Musikkultur mit Bezug auf die Entwicklung von Medien als Mitteln zur Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musik. Es wird gezeigt, wie neue Medien als neue Mittel zuerst Ursachen für neue Wertschöpfungsprozesse werden und dann mit ihrer Institutionalisierung zu einem Teil ihres Wesens im Sinne von Adam Smith. Um diese Perspektive auf Wertschöpfung angemessen verstehen zu können, wird das von Michael E. Porter (1999 [1985]) begründete Verständnis von Wertschöpfung in den umfassenderen Kontext der Untersuchung von Adam Smith (1999 [1776]) über Wesen und Ursachen von Reichtum als Wertschöpfung gestellt und weiterentwickelt. Empirisch greifbar wird, wie und warum mit neuen Medien in welchem Moment der Produktion, Allokation, Wahrnehmung und Nutzung von Musik was als Wert für wen geschöpft wird. Es wird deutlich, wie die Entwicklung neuer Medien jeweils neue Wertschöpfungsmöglichkeiten eröffnet und warum Märkte dafür wichtiger wurden, bis sie nun im Kontext neuer Wertschöpfungsprozesse in der „Pull-“ oder „On-DemandMusikkultur“ an Bedeutung einbüßen. Deutlich wird außerdem, dass es um der Schöpfung von Wert willen überfällig ist, mehr über Wertschöpfung jenseits von Märkten als Orten, an denen Güter auf der Basis des Einsatzes
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von Geld getauscht werden, nachzudenken. Hier wird explizit gegen eine Ausweitung des Begriffs Markt votiert. Es wird nicht angenommen, dass alle Formen von Tausch über Märkte organisiert werden, sondern vielmehr - wie sozialtheoretisch üblich, zwischen verschiedenen symbolisch generalisierten Medien (Geld, Macht usw.) und Gruppen von Kommunikationsmedien unterschieden. Aktuell ist musikbezogene Wertschöpfung vor allem aus der engen Perspektive der Musikwirtschaft ein Thema. Tonträgerunternehmen, die Wert schaffen, indem sie Musik von Künstlern produzieren und verkaufen, verdienen mit dieser Art und Weise, Wert zu schöpfen, immer weniger Geld.1 Ihre Klagen sind so unüberhörbar wie bisher ihr Unvermögen, Wertschöpfungsmöglichkeiten zu entfalten, die sich durch neue Medien ergeben.2 Erläutert wird im Kontext der Entwicklung der Medien entsprechend, warum ein marktorientiertes Verständnis von Wertschöpfung diese Entfaltung verhindert und warum die musikbezogene Wertschöpfungsforschung medienspezifischer ausgerichtet sein sollte. Die Ausrichtung baut auf der üblichen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Unterscheidung von vier Gruppen von Medien in Bezug auf die jeweils erforderliche Technologie auf: Die älteste Gruppe sind die Primär- oder Menschmedien. Bei ihnen handelt es sich um Träger medialer Rollen (z. B. „Minnesänger“) und Institutionen wie „Theater“. Mit ihnen wird öffentliche Kommunikation und Kultur wie Musik ohne Technologie konstituiert. Druck- oder Sekundärmedien wie „Buch“, „Zeitung“ oder „Zeitschrift“ erfordern Technologie zur Produktion öffentlicher Kommunikation und Kultur; elektronische oder Tertiärmedien wie „Kino“, Schallplatte“, „Radio“ oder „Fernsehen“ erfordern zusätzlich Technologie zu ihrer Reproduktion. Neue digitale Netzwerk- bzw. Quartärmedien verfügen darüber hinaus über Übertragungstechnologie und Software. Medium ist nicht „das Internet“ – es ist eher mit Funkwellen vergleichbar –, sondern jeweils eine konkrete Einrichtung, an die im Hinblick auf ihre Leistungen im Rahmen von Kommunikation generalisierte Erwartungen bestehen – YouTube, Facebook usf. Die Unterschei-
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Der globale Umsatz der Musikwirtschaft hat sich seit 1999 mehr als halbiert. Im Jahr 2012 stieg der Umsatz erstmalig wieder – um 0,3 Prozent auf global insgesamt 16,5 Mrd. US-Dollar (IFPI DMR 2013).
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Dokumentiert hat dies in der lesbarsten Form immer noch Tim Renner (2004).
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dung der verschiedenen Phasen von Musikkultur entsprechend der Entwicklung der Medien übernehme ich weitestgehend von Faulstich (2000). Neue Musikmedien erlauben es Leuten oft, aus ihrer subjektiven Sicht mit Bezug auf Musik mehr Wert zu schöpfen: Nach der Entwicklung von Lied- und Notendrucken, von Radio, Schallplatten und Fernsehen belegt das aktuell die Entwicklung digitaler Netzwerkmedien wie Napster, MySpace, YouTube oder SoundCloud. Sie unterscheiden sich von anderen in der Geschichte entwickelten Medien, da mit ihnen nicht mehr nur oder vor allem Unternehmen und öffentliche Organisationen mit Bezug auf Musik etwas von Wert für andere schaffen können, indem sie Musik produzieren und verteilen, sondern erstmalig auch Musiker und Freunde von Musik unabhängig von diesen und ohne wie diese notwendig Gewinne erwirtschaften zu müssen oder zu wollen. Dass sie Wert sowohl anders generieren, als auch andere Werte schöpfen als Unternehmen oder öffentliche Institutionen, wird viel zu selten gesehen (vgl. Winter 2011). In der Folge der Entwicklung neuer Medien entstehen neue Möglichkeiten musikbezogener Wertschöpfung durch Medien, zuerst als neue leistungsfähigere Produktionsmittel (Marx 1967 [1869], S. 196 ff.) und später zusätzlich als institutionalisierte Medien im Sinne sozialer Tatsachen (Durkheim 1991 [1885]): Indem neue Technologien zur Produktion und Verteilung von Kommunikation in der Folge der Etablierung ihrer Wahrnehmung und Nutzung als „Medien“ institutionalisiert werden, werden aus ihnen als Mittel zur Überwindung der Unwahrscheinlichkeiten von Kommunikation (Luhmann 2001 [1981]) zugleich auch „soziale Tatsachen“.3 Als Medien, als institutionalisierte Mittel für Kommunikation in Gesellschaft, an die konkrete Erwartungen bestehen, an denen sich all jene orien-
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Durkheim definiert soziale Tatbestände wie folgt: „… sie bestehen in besonderen Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb der Einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft derer sie sich ihnen aufdrängen. Mit organischen Erscheinungen sind sie nicht zu verwechseln, denn sie bestehen aus Vorstellungen und Handlungen, ebenso wenig mit psychischen Erscheinungen, deren Existenz sich im Bewusstsein des Einzelnen erschöpft. Sie stellen also eine neue Gattung dar und man kann ihnen mit Recht die Bezeichnung ‚sozial‘ vorbehalten. Sie gebührt ihnen. Denn da ihr Substrat nicht im Individuum gelegen ist, so verbleibt für sie kein anderes als die Gesellschaft …“ (Durkheim 1991 [1895], S. 107).
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tieren, die mit ihnen etwas im Rahmen von Kommunikation machen, sind sie Teil der sozialen Umwelt. Ihre Nutzung erlaubt die Gestaltung der Qualität und Quantität bedeutungsvoller Beziehungen zu Musik ebenso wie zu Leuten. Sie bleiben deshalb „Produktionsmittel“ dieser Beziehungen, ebenso wie sie deren soziale Umwelt oder Lebenswelt sind. Als neue Mittel und neue soziale Tatsachen machen sie Beziehungen wahrscheinlicher, die immer häufiger mit diesen neuen Mitteln realisiert werden, weshalb ihre Nutzung die Qualität und Quantität bestehender Beziehungen notwendig verändert: Einerseits werden mit den neuen Mitteln im Rahmen der neuen Beziehungen neue Erfahrungen möglich, die für die, die diese Erfahrungen machen, von Wert sind (Joas 1999). Andererseits verändert diese Entwicklung die Quantität und Qualität bestehender Beziehungen und der über diese realisierten wertschöpfenden Prozesse (Winter 2006). Dies zeigt sich in Musikwirtschaft und Musikkultur vermutlich früher und deutlicher als in anderen medial konstituierten Zusammenhängen: Hier sind die Verluste in der Folge der Konstitution neuer Beziehungen und Transformation bestehender Beziehungen zu Musik sowie musikbezogener sozialer Beziehungen in der Folge der Entwicklung neuer Medien der Gegenstand der Klagen der Musikwirtschaft, und hier können sie geradezu wie in einem Labor beobachtet werden.
U RSACHEN UND W ESEN DES R EICHTUMS VON M USIKKULTUR Es wäre unnötig, musikbezogene Wertschöpfung zu einem wissenschaftlichen Thema zu machen, wenn deren Ursachen und Wesen leicht zu bestimmen wären. Offenbar ändern sich diese in der Zeit. Damit wird es erforderlich, die Frage von Adam Smith neu aufzuwerfen, die er in seiner vermutlich ersten und heute berühmten Wertschöpfungsstudie gestellt hat: die Frage nach den Ursachen und dem Wesen der Wertschöpfung und also des Reichtums – hier aber nicht von Völkern, sondern viel konkreter von Musikkultur. Aus den angeführten Gründen (der ständigen Neu- und Weiterentwicklung der Produktionsmittel der Musikkultur und ihrer Institutionalisierung als jeweils neuen sozialen Tatsachen) dürfte diese Frage heute anders zu beantworten sein als zu der Zeit, als er seine Theorie der Wertschöpfung vorgelegt hat (1999 [1776]), die noch heute ein legitimer Rah-
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men ihrer Beantwortung ist. Smith selbst würde diese Frage vermutlich nicht im Rahmen seiner Theorie von 1776 beantworten, sondern im Kontext seiner konzeptuellen Vorannahmen: Er hatte damals das „Wesen“ und die „Ursachen“ von Reichtum nicht an sich diskutiert, sondern mit Bezug auf Probleme des „Merkantilismus“. Vermutlich würde er deshalb heute neue Wertschöpfungsmöglichkeiten des 21. Jahrhunderts betonen und diese als ihr neues „Wesen“ und ihre „Ursachen“ im Unterschied zu denen der Wertschöpfung im ausgehenden 20. Jahrhundert hervorheben – vorausgesetzt sie steigern Wohlfahrt nachhaltig und schaffen mehr Verteilungsgerechtigkeit. Heute erlaubt die Rückschau auf die Entwicklung von Medien, Musikwirtschaft und die Argumentation von Smith ein neues, dynamischeres Verständnis von Wertschöpfung als zu seiner Zeit,4 die freilich noch nicht so dynamisch war. An der Entwicklung und Entfaltung der aktiven Generierung von Wert waren in der Musikkultur damals weniger Akteure beteiligt, so wie auch viel weniger Medien in Anwendung gebracht wurden als heute. Zu Lebzeiten von Adam Smith wurde Musikkultur, die eine repräsentative „Live-Musikkultur“ in meist höfischen und religiösen Kontexten war, in London von Bürgern aktiv medial transformiert. Der Umgang mit neuen Druckmedien konstituierte eine neue „Aufführungs-Musikkultur“. Auf die Frage, ob diese neuen Medien die Musikkultur einer Nation „reicher“ machen oder nicht, was damals sicher umstritten war, hätte Adam Smith eine klare Antwort gegeben: Über den Reichtum einer Musikkultur entscheidet nicht allein, ob und wo ein musikalisches Werk – wie z. B. Mozarts Spatenmesse – (ur-)aufgeführt wird (im Salzburger Dom, 1776), sondern ihr
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Meine Argumentation folgt in Teilen der sehr plausiblen Argumentation von Yochai Benkler (2006), dessen „The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom“ sehr gut illustriert, wie die Argumentation von Smith heute neu entfaltet werden kann. Trotz insbesondere richtiger „methodologischer Überlegungen“ (ebd., S. 16-18) verhindert sein Verständnis von Medien als Massenmedien (ebd., S. 172 ff.) ihr Verständnis als Produktionsmittel, das erst ein Verständnis der Dynamik von Wertschöpfung und der Rolle dabei erlaubt.
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Beitrag zum Reichtum aller Konsumenten (eines Volkes).5 Während dieser Beitrag in einer „Live-Musikkultur“ allein durch die Aufführung und damit für ihre Zuhörer geleistet wird, ist er in einer „Aufführungs-Musikkultur“ durch die zusätzlich verbreitete Menge an Notendrucken und durch Freunde der Musik, die über Noten verfügen, diese lesen und in der Folge für sich und andere aufführen können, größer. Die Verbreitung von Notendrucken trug in London früher als an anderen Orten zum Wachstum des Reichtums der Musikkultur bei. Hier war in den 1720er und 1730er Jahren der Notenstich durch Stahlstempel auf ein höheres Qualitätsniveau gehoben worden. Spätestens seit dieser Zeit erlauben Notendrucke immer mehr Leuten, Musik aufzuführen, zu verteilen, wahrzunehmen und zu nutzen. Der größere Reichtum einer auch auf Noten- und Liederdrucken basierenden „Aufführungs-Musikkultur“ gegenüber der ausschließlichen „LiveMusikkultur“ ergibt sich dabei nicht von allein, sondern erst im Zuge der praktischen Realisierung der neuen, zusätzlichen Wertschöpfungsoptionen: Wertschöpfung und Reichtum, das ist hier zentral, resultieren nicht aus der Tatsache, dass es Drucke gibt und später Opernhäuser oder Schallplatten. Sie sind das Resultat von Aktivitäten in den Wertschöpfungsmomenten einer Musikkultur. Deshalb kann schon in der Produktion und Verteilung von Noten- oder Lieddrucken ein Wert an sich gesehen werden. In der Regel entsteht Wert im Sinne von Smith aber erst, wenn ein Druck nicht nur gedruckt, verteilt und wahrgenommen wird, sondern wenn er auch – etwa zur Aufführung von Musik – genutzt wird, mit dem Druck also der „einzige Sinn und Zweck aller Produktion“ erreicht wird (so formuliert es Smith 1999 [1776], S. 645). Die Produktion und Verteilung von Musikdrucken hat demnach zur Folge, dass mit Musik sowohl von mehr Leuten als auch häufiger Wert geschöpft werden kann als unter den Bedingungen einer „Live-Musikkultur“,
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Es war, wie unten noch weiter ausgeführt wird, eine der wichtigsten Leistungen von Adam Smith, die Wohlfahrt des Konsumenten ins Zentrum ökonomischer Überlegungen zu stellen: „Konsum ist der einzige [!] Sinn und Zweck aller Produktion; und das Interesse des Produzenten sollte nur insoweit berücksichtigt werden, als es für die Förderung des Konsumenteninteresses nötig sein mag. Diese Maxime ist so selbstverständlich, dass es unsinnig wäre, sie beweisen zu wollen“ (1999 [1776]), S. 645).
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die Wertschöpfung an den Ort und Moment der Live-Aufführung binden. Diese Bindung veranschaulicht das folgende Modell der Wertschöpfung in der „Live-Musikkultur“ (Abb. 1). Es hebt hervor, dass der Moment der Aufführung in der „Live-Musikkultur“ mit dem ihrer Wahrnehmung und Nutzung identisch ist, die freilich individuell und sozial unterschiedlich erlebt werden. In dem Modell steht das „M“ für das Medium, also den Träger der Rolle, der Musik live darbietet (die Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musik fallen zeitlich und räumlich zusammen). Der Pfeil visualisiert, wie stark die Produktion und Verteilung von Musik in der „LiveMusikkultur“ durch Macht- und Repräsentationsverhältnisse am Aufführungsort geprägt ist (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Die Wertschöpfungsmomente in der Live-Musikkultur
M Produktion von Musik
M
Wahrnehmung von Musik
M
Verteilung von Musik
M
Nutzung von Musik
Quelle: Eigener Entwurf
Die kommerziell erfolgreiche Produktion und Verteilung populärer Noten und ihre Nutzung verändert die in Abbildung 1 angezeigte Logik und macht den Reichtum einer Musikkultur stärker vom Umfang und vom Umgang mit gedruckt vorliegender Musik abhängig. Das befreit quasi die Schöpfung von Wert mit Musik aus herrschaftlichen Kontexten, weshalb der Pfeil nicht mehr in den Kontext und Moment der Nutzung von Musik hineinreicht. Der „Wert“ von Musik wird von Käufern der Lied- und Notendrucke immer komplexer geschöpft. Er ergibt sich immer häufiger erst durch die eigen- und widerständige „Nutzung“ in der Realisierung von neuen Freiheiten im Umgang mit Musik auf Basis der erworbenen Drucke. Diese sind nicht allein Freiheiten der Aufführung eines Werkes, sondern die seiner Interpretation und (oder vor allem) auch der sozialen Ausgestaltung der Aufführung, des Ortes der Aufführung und – nicht zu vergessen! – der Zusammenstellung des
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Publikums. Diese neuen Freiheiten sind ein wichtiger Ausgangspunkt bürgerlicher Identitätskonstruktion. Im Umgang mit Musik nobilitiert sich das Bürgertum als kreativer Leistungsadel gegenüber geweihtem Klerus und dem Geburtsadel der Zeit. Wesentlich ist die neue Möglichkeit der Schöpfung von Wert in der Folge der immer kreativeren und sozial autonomeren „Nutzung“ von Noten und Texten an neuen, von der Produktion und Verteilung von Musik getrennten Orten. Diese Freiheit im Moment und Kontext der Nutzung visualisiert das folgende Modell (Abb. 2). Der größere Reichtum der Musikkultur ergibt sich ausgehend von den neuen Möglichkeiten, Musik zu nutzen, für die Noten- und Lieddrucke immer individuellere und vielfältigere Voraussetzungen schufen. Abbildung 2: Wertschöpfung in der Aufführungs-Musikkultur
Produktion von Musik
M
Verteilung von Musik
M
Wahrnehmung von Musik
M
Nutzung von Musik
Quelle: Eigener Entwurf
Der Wert, der mit Druckmedien auf der damals neuen Basis ihrer Produktion durch private Unternehmer und ihrer Verteilung über Märkte generiert wird, erschöpft sich nicht darin, dass mehr „Nutzer“ zum Reichtum von Musikkultur beitragen. Dieser Wert ist auch der „Preis“, der gezahlt wird. Er macht Urheber und Akteure der Musikkultur reicher, ohne die diese nicht möglich wäre. Jede neue Möglichkeit der Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musikmedien löst weitere Wertaktivitäten aus, in deren Folge der Wert von Musik in privaten und später öffentlichen bürgerlichen Kontexten entfaltet und die Institutionalisierung von Musikschulen, Musikunterricht, Konzerthäusern, Musikern und Musiklehrern begonnen wird. Notendrucke und auch die um sie herum als soziale Tatsachen etablierten Institutionen setzen den Markt als Bedingung ihrer Verteilung voraus. Ohne eine Produktion mit einer Perspektive auf Refinanzierung und die Möglichkeit der Organisation der Verteilung von Musik in der Form physischer Lied- und Notendrucke über einen Markt hätte es bürgerliche
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Musikkultur nicht in ihrer historisch Wirklichkeit gewordenen Form gegeben. Deshalb wurden ihre beiden „Ursachen“, die Drucke und der Markt, schließlich zum „Wesen“ von Musikkultur als „Aufführungs-Musikkultur“: In ihr wird Musik als Wert vor allem geschöpft, wenn aufgeführt wird, was gedruckt ist. Das setzt voraus, dass sie komponiert, aufgeschrieben, gedruckt und zugänglich ist, was – so Smith – umso eher möglich ist, je mehr Eigentums- und Vertragsfreiheiten Privatunternehmer haben, je freier Märkte sind und je freier mit Geld umgegangen werden kann. Sind Druckmedien, Privatunternehmer, Eigentums- und Vertragsfreiheit, Geld und Märkte deshalb sowohl eine notwendige „Ursache“ des Reichtums von Musikkultur wie nach ihrer Institutionalisierung auch ihr „Wesen“? Ja und nein: ja, weil die musikbezogene Wertschöpfung mit Drucken als marktorientierte Akteurs- und Wertschöpfungskonfiguration Musikkultur damals reicher gemacht hat; nein, weil später wiederum neue Medien als Wertschöpfungsmittel entwickelt wurden, die abermals mehr Leuten einen häufigeren und aus ihrer Sicht rationaleren wertschöpfenden Umgang mit Musik erlaubten. Diese Bedeutung von Medien als Produktions- oder Wertschöpfungsmittel für Musikkultur und ihren Wandel wird oft übersehen. Sie ist in der Transformation der „Aufführungs-Musikkultur“ in der Folge der Entwicklung und Nutzung neuer „elektronischer“ oder „Tertiärmedien“ auf dem Weg zur „Konserven-Musikkultur“ erneut greifbar. Elektronische Medien ermöglichen erstmalig eine akustische Wertschöpfung in den nun selbstbestimmteren Momenten der Wahrnehmung und Nutzung von Musik. Radio, Schallplatte und Fernsehen erlauben es sogar Leuten, die keine Noten lesen und aufführen können, mit Musik Wert zu schöpfen (vgl. Abb. 3). Die zusätzlichen Freiheiten werden hier visuell sichtbar, weil der Pfeil nur noch die Produktion und Verteilung von Musik umfasst. Abbildung 3: Wertschöpfung in der Konserven-Musikkultur
Produktion von Musik
M
Quelle: Eigener Entwurf
Verteilung von Musik
M
Wahrnehmung von Musik
M
Nutzung von Musik
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Neue Akteure wie z. B. Plattenfirmen produzieren aufgrund der internationalen Erfolge einzelner Interpreten Schallplatten immer globaler. So werden sie zu Major-Labels und der Musikfernsehsender MTV später sogar die wertvollste Medienmarke der Welt.6 Im Zuge der Entwicklung elektronischer Musikmedien etablieren sich wieder neue Medienorganisationen als Wertschöpfungsakteure – ohne Marktakteure sein zu müssen. Auch öffentlich-rechtlich organisierte und institutionalisierte Organisationen tragen mit ihren Angeboten zum Reichtum der Musikkultur bei. Die Branchen „Live Music“, „Publishing“ und „Recorded Music“ bilden den Kern der Musikwirtschaft (Wikström 2009). Abbildung 4 stellt die Aktivitäten der Akteure dieser Branchen in erweiterten Wertschöpfungsketten dar. Sie berücksichtigen auch die jenseits der Wertschöpfung hin zum Markt durch die Nutzer stattfindende Wertschöpfung. Wert wird hier vor allem in Form von LiveAuftritten, Drucken und Tonträgern bzw. Clips für Konsumenten sowie sodann durch deren Umgang damit geschaffen (vgl. Abb. 4). Diese auf der Basis der Kontexte und Momente von Musik als Kommunikation konzipierte Wertschöpfungskette bezieht die auf Smith zurückgehende, seit den Cultural Studies übliche Erkenntnis mit ein, dass ein generativer Prozess wie „Wertschöpfung“ als Gesamtzusammenhang aller Teilprozesse konzeptualisiert werden sollte, in denen ursächlich Wert geschöpft wird und die so letztlich auch ihr Wesen sind. Das Modell erweitert und vereinfacht die Wertkette von Michael E. Porter (1999 [1985], S. 99), die fünf primäre und vier unterstützende Wertaktivitäten unterscheidet. Die Vereinfachung des Prozessmodells von Porter erlaubt die Integration zweier verschiedener theoretischer Vorannahmen, die beide für das Verständnis des Gesamtprozesses „Wertschöpfung“ zentral sind: erstens die Annahme, dass es um die Transformation eines Inputs in einen Output geht (Porter), der in den Wertschöpfungsstufen jeweils in verschiedenen Formen vorhanden ist. Und zweitens die Vorannahme, dass der Prozess auch ein medialer Kommunikationsprozess ist, in dem Medien Mittel zur Überwindung der Unwahrscheinlichkeit kommunikativer Beziehungen sind (Luhmann 2001 [1981]). Beide Vorannahmen werden integriert, weil nur ihre Integration erlaubt zu verstehen, warum Medien überhaupt produziert und
6
Nach Business Week und Interbrand war MTV 2004 das fünfte Jahr in Folge die wertvollste Medienmarke der Welt. Quelle: http://www.mcdepk.com/mtvpartnership/downloads/mtv_global_fact_sheet.pdf.
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verteilt sowie auch wahrgenommen und genutzt werden. Dieses Modell erlaubt zu verstehen, warum es in der Folge der Entwicklung neuer Medien als neuen Mitteln ursächlich sowohl zu neuen Formen der Produktion und Verteilung als auch der Wahrnehmung und Nutzung von Medien zur Konstitution von Musikkultur kommt und sich in der Folge auch das Wesen Musikkultur und Musikwirtschaft verändert. Abbildung 4: Die Kernwertschöpfungsprozesse der Musikwirtschaft
Live Music Verteilung
Wahrnehmung
Nutzung
Booking
Eintritts-Karten
Darbietung
LifeErlebnis
Produktion
Verteilung
Gewinn
Produktion
Publishing Musik-Verteiler, komm.Vertrieb
Wahrnehmung
Nutzung
B-2-B, Druck, Marketing
Darbietung, Nutzung
Gewinn
Komposition, A&R
Recorded Music Verteilung
Wahrnehmung
Nutzung
Vetrieb, Handel, Medien
Marketing, Promotion
Privater Konsum
Gewinn
Produktion A&R, Audioproduktion
Quelle: Eigener Entwurf
Die Teilung von Wertaktivitäten in Musikkultur und Musikwirtschaft als Arbeit war die längste Zeit immer auch eine kommerzielle Differenzierung von Wertmöglichkeiten, die auf einer kommerziellen Entwicklung der Medien zur Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musik aufbaute. In deren Folge wuchsen Umsätze, Gewinne und die Zahl von Unternehmen und Märkten kontinuierlich, und die Musikwirtschaft wurde eine immer reifere Medienwirtschaft, in der mit immer mehr Medien immer komplexer Wert geschöpft und der Reichtum von Musikkultur und wirtschaft gesteigert wurde. Heute scheint die Gleichung, dass der Reichtum der Musikkultur größer wird, wenn der Reichtum der Musikwirtschaft größer wird, nicht mehr aufzugehen.
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D IGITALE N ETZWERKMEDIEN UND DIE NEUE W ERTSCHÖPFUNG VON M USIKKULTUR Musikkultur und Musikwirtschaft haben sich erheblich verändert, seit Shawn Fanning mit John Fanning und Sean Parker 1999 Napster, das erste digitale Netzwerkmedium zum Tausch digitaler Musik, entwickelt hat. Das war zu erwarten. Bisher hat die Entwicklung neuer Medien mit einer sowohl technologischen wie auch neuen kulturellen Form immer eine Transformation von Musikkultur und Musikwirtschaft angestoßen. Nach der Transformation der „Aufführungs-“ in eine „Konserven-Musikkultur“ war in der Folge der Entwicklung digitaler Netzwerkmedien (ausf. Winter 1998) also eine neue Transformation der Musikkultur zu erwarten. Digitale Netzwerkmedien wie Napster, die auch als „Peer-to-Peer“(P2P)-Medien bezeichnet werden, erfordern zusätzlich zu Technologie zur Produktion (wie die Druckmedien) und Reproduktion (wie elektronische Medien) Software und Client-Server-Technologie, die es ihren vernetzten Nutzern letztlich erlaubt, auch auf die Produktion und Verteilung digitaler Daten Einfluss zu nehmen. Ihre Etablierung hat auch sie längst zu einem Teil des „Wesens“ der Musikkultur gemacht. Wie zuvor elektronische Medien und davor Druckmedien sind sie heute eine zentrale Bedingung und Voraussetzung der Schöpfung von Wert in der Musikkultur, deren Bedeutung noch nicht vollständig verstanden werden kann, weil längst noch nicht alle ihre Implikationen absehbar sind. Oft stehen diesem Verständnis problematische Begriffe im Weg, wie „Social Media“ oder „Web 2.0“. Ist denn die „Zeitung“ nicht sozial oder das „Bürgerradio“? Vor allem ist das „Web“, das „Internet“, kein Medium! Es ist mit der Post (das Medium ist der Brief) oder den Funkwellen des Rundfunks vergleichbar (Radio und Fernsehen sind hier die Medien). Die ökonomische Bedeutung der Medien erschließt sich nur, wenn wir sie als Produktions- oder Wertschöpfungsmittel verstehen. Ein Verständnis z. B. digitaler Netzwerkmedien als „Social Media“ steht diesem Verständnis im Weg. Der Begriff unterstellt Intentionalität; dass sie quasi an sich sozial sein können, was (zumindest noch) nicht der Fall sein kann. Wichtiger wäre es hier, Medien konsequenter als „soziale Tatbestände“ im Sinne Durkheims zu verstehen oder als „affordance“, als spezifische Möglichkeit zum Handeln (vgl. ausf. Winter 2013a). Die Bezeichnung „affordance“ konfundiert aber, was Smith als „Ursache“ und „Wesen“ sinnvollerweise trennt.
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Medien sind als „Produktionsmittel“ sowohl „Ursache“, wie sie „sozialer Tatbestand“ und auch „Wesen“ von Musikkultur und Musikwirtschaft sind. Beide Begriffe heben hervor, dass Bedingungen von Wertschöpfung gemacht sind, es sind sozial-emergente Phänomene. Medien konstituieren neue kommunikative soziale Erwartungen und Beziehungen als soziale Tatsachen, auf deren Basis mit ihnen als Mitteln in Momenten der Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musik Möglichkeiten der Generierung von Wert realisiert werden können. Mit neuen digitalen Netzwerkmedien wie zuerst Napster (1999) und später Last.fm (2002), MySpace (2003), Facebook (2004), YouTube (2006) oder SoundCloud (2007) – um nur einige zu nennen – verfügen gewöhnliche Leute heute erstmalig in einem Ausmaß über Medien als Mittel, mit denen sie auch durch die Verteilung und sogar Produktion von Musik Wert generieren können. Die Bedeutung dieser Neuerung, dass nun Organisationen oder Unternehmen Medien als Mittel zur Produktion und Verteilung oder wie früher sogar auch zur Organisation ihrer Wahrnehmung und Nutzung nicht mehr nur für den eigenen Gebrauch konstituieren oder sich um ihren Gebrauch konstituieren, kann überhaupt nicht überschätzt werden. Trotzdem wird diese Bedeutung häufig übersehen: Das ist etwa der Fall, wenn Medien nur als Organisation oder Institution verstanden werden. Digitale Netzwerkmedien zeichnet aber aus, dass ihre soziale, kulturelle, politische und ökonomische Bedeutung auf der Basis einer historisch erneut weitergehenden Differenzierung der Möglichkeiten zur Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Kommunikation bzw. hier von Musik als Kommunikation entfaltet wird: Die Organisation oder Unternehmung, die digitale Netzwerkmedien wie „Napster“, „YouTube“, „MySpace“, „Spotify“ oder „SoundCloud“ produziert, betreibt diese nicht mehr so, wie früher ein Label oder MTV die Musikangebote medial bereitgestellt hat. Vielmehr besteht ihr Geschäftsmodell darin, diese Medien für Wertaktivitäten bereitzustellen, für die sonst Organisationen bzw. Unternehmen erforderlich waren. Deshalb war der Schock groß, als erkannt wurde, dass gewöhnliche Leute mit Napster bei der Generierung von Wert in der Folge des Teilens von Musik auf einmal erfolgreicher zu sein schienen als Unternehmen oder Organisationen der Musikwirtschaft. Wie nach jeder Entwicklung eines neuen Mediums wurde erst einmal erwartet und behauptet, dass „die Welt zugrunde“ gehe (vgl. ausf. Faulstich 2000 [1997]): So titelt Green (2002), dass Napster die “ Mittel, mit dem die Büchse der Pandora geöffnet wurde,“ öffnet. Tatsächlich schufen „Nutzer“ mit Nap-
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ster das damals am schnellsten wachsende Netzwerk der Welt, in dem im Januar 2001 zwei Milliarden Musikdateien geteilt wurden (ebd.), bevor es schließlich verboten wurde. Diese Zahlen bestätigen Urheberrechtsverletzungen, die Green beklagt, aber sie sagen nichts darüber aus, ob und wie viel zusätzlicher Wert in der Erfahrung von Musik von welchen Leuten mit Napster, der Büchse der Pandora, wirklich geschöpft wurde: Wir wissen nicht, wie viele der getauschten Dateien angehört wurden. In meiner Argumentation geht es hier aber auch nicht um einen Vergleich der getauschten Dateien etwa mit der Zahl von Musikdrucken oder Musikstücken auf Schallplatten, die Unternehmen verkaufen. Es geht noch nicht einmal darum, wie viel Konsumentennutzen gestiftet wurde. Vielmehr geht es hier zunächst darum zu erkennen und anzuerkennen, dass sogenannte „Konsumenten“ oder „Nutzer“ Musik mit dem neuen digitalen Netzwerkmedium Napster teilen konnten, ohne dabei auf Unternehmen und Marktstrukturen angewiesen zu sein. Erstmalig haben sie unabhängig von Märkten und Unternehmen mit dem (Ver-)Teilen von Medien Wert generiert – schließlich können die geteilten Musikdateien unabhängig von Unternehmen produziert worden sein. Damit bewahrheitet sich erneut, was Joshua Meyrowitz (1999 [1985]) mit Bezug auf das „Fernsehen“ als „Produktionsfaktor“ angedeutet, aber konzeptionell nicht entwickelt hat (vgl. Winter 2013a): Ein neues Medium in einer Umgebung ist nie die alte Umgebung plus das neue Medium, sondern stets eine neue Umgebung.7 Meyrowitz zeigt mit seiner Studie „No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior“, wie sich Fernsehen nicht aufgrund der Inhalte auf soziales Verhalten „auswirkt“, sondern aufgrund seiner Form. Er schlägt vor, Medien eher als „Produktionsmittel“ denn als „Inhalt“ zu verstehen. Dann würden wir eher erwarten, so Meyrowitz, dass die Entwicklung neuer Medien unsere Kultur so herausfordere, wie die Entwicklung von Produktionsmitteln unsere Gesellschaft. Es würden andere Aspekte wie „Arbeitsteilung“, „sozialer Zusammenhang“ oder der „MoralKodex“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, auf die er nicht weiter Bezug nimmt. Der Vorschlag, neue Medien wie eine neue Generation von
7
„Wenn ein neuer Faktor in eine alte Umgebung eingebracht wird, dann – so lernen wir aus der Systemtheorie und der Ökologie – ist das Ergebnis nicht die alte Umwelt plus der neue Faktor, sondern eine neue Umwelt“ (ebd., S. 53).
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Produktionsmitteln zu verstehen, die unsere Umwelt nicht additiv prägen, sondern eine neue Umwelt konstituieren, deutet erneut die Komplexität der Medien als „soziale Tatsachen“ und „Produktionsmittel“ an. Diese müssen wir verstanden haben, wenn wir die Bedeutung von Medien für die Entwicklung der Musikwirtschaft seit Napster verstehen wollen, die viele Akteure lange nicht verstehen wollten, die hofften, dass die Push-Kultur der Musikindustrie wieder zurückkommt. Derzeit basteln weltweit immer mehr Leute mit immer neuen und immer mehr digitalen Netzwerkmedien an der Errichtung neuer „Pull-“ oder „On-Demand-Musikkulturen“ (ausf. Winter 2011). Dabei steht Interessierten mit Last.fm (2002), MySpace (2003), Facebook (2004), YouTube (2006) oder SoundCloud (2007) – um wieder einige zu nennen – ein immer mächtigeres Arsenal digitaler Mittel zur Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung musikbezogener Wertschöpfung zur Verfügung. Die Bedeutung, die Tonträgerunternehmen im Zeitalter der „PushMusikkultur“ einmal hatten, werden sie nicht zurückgewinnen können. Dafür haben schon zu viele Künstler und Freunde der Musik zu oft von den neuen Freiheiten gekostet, die die neuen digitalen Netzwerkmedien erlauben. Sie sind nicht mehr nur „Nutzer“ oder „Konsumenten“, sondern immer häufiger „Prosumer“ (Winter 2012), so wie „Künstler“ immer häufiger „Artepreneure“ sind: Entrepreneure, die wie kundige Prosumer mit digitalen Netzwerkmedien musikbezogen völlig neuartig und völlig neue Werte schöpfen – je nach Wissen und Kompetenz eröffnen sie sich mit diesen neue Möglichkeiten der nun nicht mehr linearen, sondern vernetzten Produktion, Verteilung oder Wahrnehmung und Nutzung von Musik (Abb. 5): Abbildung 5: Wertschöpfung in der Pull- oder On-Demand-Musikkultur
Produktion von Musik
M Verteilung von Musik
M M
Artepreneur Prosumer
M M
Wahrnehmung von Musik
M Nutzung von Musik
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In der Folge der Transformation der „Konserven-Musikkultur“ in eine „Pull“- oder „On-Demand-Musikkultur“ verlieren etablierte Push-Wertschöpfungsaktivitäten an Bedeutung. Dieser Bedeutungsverlust erschließt sich keiner ökonomischen Diskussion der Probleme von Entlinearisierung und Dis-Intermediation. Geöffnet wird nicht nur ein weiterer Moment und Kontext musikbezogener Wertschöpfung für ein paar weitere Akteure, und alles andere bleibt wie es ist. Wenig ist geblieben, wie es einmal in der Musikwirtschaft war. Daran ändert auch nicht, dass es im Jahr 2012 erstmalig nach 1999 global wieder ein kleines Umsatzwachstum von 0,3 Prozent gegeben hat (IFPI DMR 2013), das aus den steigenden Umsätzen im Umfeld digitaler Netzwerkmedien stammt, die Leute gerade dazu nutzen, Wert unabhängig von Unternehmen zu schöpfen! Die Ordnung von Musikkultur und Musikwirtschaft verändert sich gegenwärtig ähnlich grundlegend wie zu der Zeit, als Leute mit Drucken eine Ordnung auflösten, in der die Verteilung von öffentlicher Orientierung an Orte gebunden war. Seit Napster verlieren Märkte gegenüber Netzwerken an Bedeutung, wie früher Orte wie z. B. Kirchen gegenüber gedruckter Orientierung an Bedeutung verloren haben. Bedeutung und Wert hat heute zunehmend, was in Netzwerken, im „Raum der Ströme“ (Castells 2001) mit Netzwerkmedien musikbezogen generiert wird: durch Kommentare, Tausch, Kritik, Co-Kreation oder sogar die Organisation der Co-Finanzierung von Musik. Musikkulturen von gewöhnlichen Leuten und Künstlern haben sich also erheblich verändert. Ihr Reichtum bemisst sich nicht allein daran, wie viele Notendrucke oder Musikkonserven produziert, verteilt oder besessen werden, sondern auch an ihrem Zugang und ihrer Teilhabe, wobei für Künstler „Fans“ und „Follower“ sowie die daraus resultierenden Netzwerke auch eine kommerzielle, monetäre Bedeutung haben. Aber auch ihre konkrete Wertschöpfung verändert sich: Netzwerkmedien machen auf der Basis unmittelbarer Erreichbarkeit immer einfachere Kooperationen ohne Verträge und Preisabsprachen möglich. In der netzbasierten Tauschökonomie ist alles von Wert, was in Netzwerken getauscht und geteilt werden kann. Das ist viel mehr, als auf einem Markt im Sinne von Smith, also auf der Basis von Verträgen und einem Umgang mit Geld, getauscht werden kann. Im Rahmen ökonomischer Konzeptualisierungen entdecken wir erst wieder, dass nicht nur das von Wert ist, für das ein Preis gezahlt wird, sondern dass es vor allem für digitale Güter neue Möglichkeiten intelligenter, inkludieren-
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der und nachhaltiger Schöpfung von Wert gibt oft auf der Basis geringerer Transaktionskosten.8 Die Entwicklung digitaler Netzwerkmedien als Produktionsmittel verändert die gesamte Umwelt von Wertaktivitäten in Musikkultur und Musikwirtschaft. Sie sind deshalb im Sinne von Durkheim „soziale Tatsachen“. Als Mittel der Produktion von Kultur haben sie nicht nur unseren kulturellen Alltag und unsere kulturellen Praktiken, sondern auch die Umwelt von Unternehmen verändert. Erfahrungen des Teilens, Kommentierens, Tauschens, Kritisierens usf. in der digitalen „Pull-“ oder „On-Demand-Musikkultur“ verändern unser Wertgefüge, da mit diesen Aktivitäten neue, dauerhafte Erfahrungen neuer Freiheiten und Zwänge verbunden sind (vgl. Joas 1999). Neue digitale Netzwerkmedien wie MySpace, YouTube oder SoundCloud sind heute ebenso Mittel und „Ursache“ wie zugleich auch soziale Tatsachen, Umwelt und „Wesen“ im Kontext musikbezogener Wertschöpfung. Sie kann vermutlich am besten verstanden werden, wenn ihr Gesamt an Mitteln ebenso wie die Komplexität ihrer Kontexte so differenziert wie möglich verstanden und berücksichtigt werden. Nachdem rekonstruiert wurde, wie und warum sich musikbezogene Wertschöpfung in der Folge der Entwicklung neuer Medien kontinuierlich verändert hat und dabei immer mehr verschiedene Akteure immer verschiedenere Werte mit Musik im Rahmen ihrer Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung schöpfen konnten und können, wird die Dynamik des Schöpfens von Musik in der immer vernetzteren Musikkultur im Rahmen eines komplexer vernetzten Wertschöpfungsmodells konzipiert.
D IE K ONZEPTION DER NEUEN D YNAMIK VON W ERTSCHÖPFUNG IN DER M USIKKULTUR Die Erweiterung einer Konzeption des Prozesses und der Möglichkeiten von Wertschöpfung ist wie deren Differenzierung und Spezifikation eine übliche wissenschaftliche Aufgabe. Mal geht es darum, neue Möglichkeiten konzeptuell zur Geltung zu bringen, wie es Adam Smith getan hat, der
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Vgl. hierzu ausf. seit Castells 2002 insbes. Benkler 2006; Winter 2006, 2012 sowie ausf. Winter 2013b am Beispiel neuer Potenziale und Perspektiven der Berliner Musikwirtschaft.
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Konsum zum Ziel der Produktion erhob, Karl Marx, der die Rolle der Produktionsmittel herausstellt, oder Josef Schumpeter, der die Rolle des Unternehmers für Innovationen hervorhebt. Die Entdeckung von Medien als Produktionsmitteln und sozialen Tatsachen der musikbezogenen Generierung von Wert macht es erforderlich, deren Rolle konzeptuell angemessener zu berücksichtigen. Explizit wird dabei an eigene Vorarbeiten angeknüpft, die oben die Basis der Differenzierung der drei Kernwertschöpfungsprozesse musikbezogener Wertschöpfung waren (Live, Publishing, Recorded) und ihrer Erweiterung um das Moment bzw. den Kontext der Nutzung (vgl. dazu die Ausführungen oben, Abb. 4 und ausf. Winter 2013b). Beschrieben wurde eine solche Situation etwa von Gary Hamel und C. K. Prahalad (1995). Sie erkannten, dass keine Theorie „Erfolge“ (ebd., S. 10) kleiner Herausforderer in Branchen mit kapitalstarken Unternehmen erklären konnte, weil offenbar „ein Großteil (…) der Wettbewerbsrealität“, die diese ausmacht, „außerhalb der Grenzen der bestehenden Theorien“ lag (ebd., S. 10). Die gegenwärtige Situation in der Musikwirtschaft ließe sich kaum treffender auf den Punkt bringen. Hamel und Prahalad erweiterten Strategie und Wertschöpfungstheorie erheblich: Sie erklären den Erfolg kleiner Herausforderer damit, dass diese früher realisiert hätten, wie sich infolge der Digitalisierung von Gütern Grenzen zwischen Märkten, Branchen und Produkten auflösten (ebd., S. 71-79), und entwickeln ein Verständnis von Strategie als vorausblickender Entfaltung und Entwicklung insbesondere von „Kernkompetenzen“. Unter „Kernkompetenz“ verstehen sie keine einzelne Kompetenz, sondern Fähigkeitsbündel, die erstens einen „überdurchschnittlichen Beitrag zu dem vom Kunden wahrgenommenen Wert“ leisten, es Unternehmen zweitens erlauben, sich von der Konkurrenz „abzuheben“ und die drittens „ausbaufähig“ sind (ebd., S. 309 ff.). Jüngere Erfolge in der Musikwirtschaft zeigen, dass dieser Nutzen, das Abheben von der Konkurrenz und die Ausbaufähigkeit, oft im Rahmen von Kooperationen realisiert wurden, die nur schwer kopiert oder imitiert werden können. Ein jüngeres Beispiel ist die Kooperation von Spotify und Telekom, deren Musikflatrate nicht auf das Datenvolumen für Internetverbindungen angerechnet wird. Sie erlaubt jedem Abonnenten die unbegrenzte Nutzung der Spotify-Musikbibliothek und dadurch jedem Nutzer unbegrenzte Musiknutzung. Hier sind klassische Tonträgerunternehmen nur als
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Spotify-Anteilseigner beteiligt, die weder besonderen Kundennutzen stiften noch sich von der Konkurrenz abheben oder ihr eigenes Geschäftsmodell ausbauen. Andererseits gehören Teile von Spotify anderen Unternehmen der Tonträgerbranche. Hier geht es aber nicht darum, viele Beispiele anzuführen, wo Musikunternehmen erfolgreich „Vorausblick“ entwickelt oder sich durch ein „Management von Transformationsschritten“ neue Wertperspektiven erarbeitet haben, sondern darum, die Dynamik musikbezogener Wertschöpfung zu verstehen. Die Spotify/Telekom-Kooperation belegt, dass viele neue branchenfremde Unternehmen musikbezogen „Vorausblick“ entwickeln und auch ein entsprechendes „Management von Transformationsschritten“ eingeleitet haben. Sie verdienen oftmals Geld, indem weniger in Tonträger, sondern in Träger neuer digitaler Netzwerkmedien wie Smartphones, Tablets und Konsolen, in Apps und Computerspiele oder etwa auch in iTunesGutscheine und Streaming-Services investiert wird. Unternehmen, die Medien und Angebote wie die angeführten produzieren und verteilen, sind in der digitalen Wirtschaft längst Teil der unternehmerischen Umwelt von musikbezogener Wertschöpfung. Grenzen verschwimmen aber nicht nur zwischen Unternehmen, Märkten und Branchen. Strategieforscher wie Hamel, Prahalad oder Porter fordern heute einhellig, dass Wertschöpfung nicht mehr nur auf den Markt (dort wo Gewinn erwirtschaftet wird) neu ausgerichtet werden sollte. Vielmehr haben sie neue wertschöpfungskritische Grenzen entdeckt. Für Prahalad/Ramaswamy (2004) ist das die Grenze der Co-Creation mit Kunden. Sie empfehlen deshalb die Integration von Kunden als Wertschöpfungsakteure. Für Hamel (mit Green 2008) ist diese Grenze die Unternehmung selbst in ihrer überkommenen, hierarchischen Form. Er fordert daher ihre Innovation als „Web 2.0“-Organisation. Für Porter und Kramer wiederum ist diese Grenze die zwischen Unternehmen und Gesellschaft (Porter/ Kramer 2006). Sie empfehlen, Wertschöpfung stärker auf Gesellschaft auszurichten. Wie sehr die neuen Empfehlungen mit der Entwicklung von Medien als Produktionsmittel sowie als neue soziale Tatsachen zusammenhängen, kann nirgendwo so konkret beobachtet werden wie im Kontext musikbezogener Wertschöpfung – offenbar sind bei keiner anderen Form von Wertschöpfung mehr leidenschaftliche und verschiedene sowie mehr und weniger professionelle Akteure involviert.
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In der neuen „Pull-“ bzw. „On-Demand-Musikkultur“ (Winter 2012) kann beobachtet werden, was diese Grenzen in Wertschöpfungsprozessen verschiebt und welche Rolle in diesem Zusammenhang Unternehmen in Zukunft spielen dürften. Die wichtigsten Grenzen musikbezogener Wertschöpfungsprozesse sind nach wie vor das Medium selbst sowie die Bedingungen und Voraussetzungen in dem Kontext und Moment, in dem etwas mit ihm gemacht wird, Musik also produziert, verteilt, wahrgenommen oder genutzt wird. Da digitale Netzwerkmedien immer häufiger mobil genutzt werden, werden sie immer mehr selbst eine Umwelt von Kontexten (Kaufmann/Winter 2013b). Das lässt sich z. B. bei Konzerten beobachten, in denen Nutzer dieses immer häufiger nicht nur aufzeichnen und fotografieren, sondern es sogar streamen oder bei Twitter darüber berichten. Nutzer werden als „Prosumer“, die über Produktionsmittel verfügen, im Zeitalter digitaler Netzwerkmedien durch diese Mittel eine immer größere Ursache wie auch ein immer größerer Teil des – wie Smith sagen würde – „Wesens“ im Wertschöpfungsprozess. Wer über Geld verfügt oder auf Wertaktivitäten von Unternehmen zurückgreifen möchte, wird das weiter auch in kommerziellen Zusammenhängen tun, in denen Unternehmen natürlich eine zentrale Rolle spielen. Diese werden sich im Zuge der neuen Ursachen und neuen Verteilung von Mitteln zur Produktion und Verteilung von Musik sowie auch zur Organisation ihrer Wahrnehmung und Nutzung allerdings (erneut) neu erfinden. Der ehemalige Kunde wird ein immer maßgeblicherer Wertschöpfungsakteur, während Unternehmen im besten Fall Partner seiner Wertschöpfung bleiben. Ansonsten werden sie sich mit der für sie neuen Rolle als Zulieferer unterstützender Wertaktivitäten anfreunden müssen. Für viele Wertakteure in der Kultur- und Kreativwirtschaft, die sich eher als Gesetzgeber und Interpreten der Kultur denn als Dienstleister verstehen, bedeutet diese Aussicht auf die neuen Ursachen von Wertschöpfung und dieses neue Wesen von Wertschöpfung also sicherlich keine kleine Herausforderung. Für Adam Smith wäre diese Transformation der Musikkultur in eine „Pull-“ oder „On-Demand-Musikkultur“ noch völlig unvorstellbar: Zum einen, da nicht mehr der Markt und die Arbeitsteilung innerhalb der Wirtschaft die Grundlage freier Wertschöpfung darstellt. Zum anderen, da die Entwicklungen jenseits kommerzieller Märkte und Unternehmen in der Wirtschaft neue und vielleicht immer größere Wertschöpfungsvorteile erschaffen kann. Trotzdem hat er damals beklagt, dass die Märkte seiner Zeit
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viel zu klein seien, noch echte Grenzen der Arbeitsteilung, die in dem Maße weiterentwickelt wird, wie Märkte wachsen (1999 [1776] insb. Buch 1. Kap. 3). Für ihn wird in der Zukunft der kommerzialisierten Gesellschaft jeder zum „Kaufmann“.9 Obwohl heute immer mehr Leute Unternehmer ihrer Popkultur werden (vgl. ausf. Kaufmann/Winter 2013a), ist Kommerzialisierung nicht die Richtung, in die sich Musikkultur und Gesellschaft derzeit zu entwickeln scheinen. Das belegt zuletzt ein Forschungsprojekt, in dem 38 Akteure der Berliner Musikwirtschaft zu ihren Wertschöpfungspotenzialen und perspektiven befragt wurden.10 Sie bestätigen, dass neue Wertschöpfungsperspektiven nicht von Marktakteuren erwartet werden, sondern in der Folge des Ausbaus der Kooperationen unter Künstlern, mit Fans und mit musikmarktfernen Akteuren, z. B. als Markenpartnern. Wie könnte nun ein konzeptuelles Verständnis der nicht für ein Unternehmen/eine Organisation tätigen gewöhnlichen Leute oder Künstler als wertschöpfenden Medien-„Nutzern“ aussehen, die nicht notwendig kommerzielle Absichten verfolgen? Selbst in konzeptuell neu- und weitentwickelten Strategietheorien werden aktiv wertschöpfende Leute vor allem als Kunden gedacht.11 Andersherum reicht es auch nicht aus, Manager als „Consumer“ zu denken (Prahalad/Ramaswamy 2004, S. 155-170). Die Zeit ist vielmehr reif, Konsumenten auch als Manager und Unternehmer zu denken (ausf. Kaufmann/Winter 2013a). Angedeutet ist das beispielsweise in
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„Sobald einmal die Arbeitsteilung durchweg eingeführt ist, lässt sich nur mehr ein sehr kleiner Teil der Bedarfe eines Menschen aus dem Ertrag seiner eigenen Arbeit decken. Den weitaus größeren Teil davon deckt er, indem er den gesamten über seinen eigenen Verbrauch hinausgehenden Ertragsüberschuss seiner eigenen Arbeit nach Bedarf gegen entsprechende Teile des Arbeitsertrages anderer Menschen tauscht. Jeder lebt somit vom Tausch, wird also gewissermaßen zum Kaufmann und die Gesellschaft selbst wird zu einer richtigen kommerzialisierten Gesellschaft“ (ebd., S. 105).
10 Die Interviews erfolgten im Rahmen eines Forschungsprojekts am IJK der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover für die Berlin Music Commission eG (vgl. ausf. Winter 2013b). 11 „The most basic change has been a shift in the role of the consumer from isolated to connected, form unaware to informed, from passive to active“ (Prahalad/Ramaswamy 2004, S. 2).
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Charlene Lis und Josh Bernoffs „Groundswell“ (2008), in dem sie Wertaktivitäten gewöhnlicher Leute als Kunden mit Bezug auf ihre medialen Wertschöpfungskompetenzen genauer unterscheiden, als es andere vor ihnen tun (vgl. etwa Berman 2004). Li und Bernoff entwickeln eine Social Technographics Ladder, die es auf nachvollziehbare Art und Weise erlaubt, Vorausblick zu entwickeln: Jede Stufe ihrer Leiter zeigt ein größeres – wie sie schreiben – „Involvement“ an, das m. E. besser als aktiveres Wertschöpfungsengagement interpretiert werden sollte: „Inactives“, „Spectators“, „Joiners“, „Collectors“, „Critics“ und „Creators“ (ebd., S. 43; vgl. zur Diskussion ausf. Winter 2012). Die Erforschung der Wertschöpfungspotenziale und -perspektiven der Berliner Musikwirtschaftsakteure zeigte, dass diese neuen Wertschöpfungsperspektiven, die Li und Bernoff beschreiben, nicht nur für Kunden, sondern auch für Künstler eröffnet werden können. Im gleichen Maße, wie aus „Consumern“ „Prosumer“ werden, indem sie Ladder-Kompetenzen erwerben, werden Künstler zu „Artepreneuren“; zu „Entrepreneuren“ ihrer Kunst. Indem Musik-Freunde und Musik-Künstler die Netzwerkmedien-Kompetenzleiter erklimmen, vergrößern sie die Möglichkeiten der Entwicklung des Reichtums der Musikkultur bzw. von musikbezogener Wertschöpfung. Für Musikschaffende nimmt die Vernetzung mit ihren Fans, die auf verschiedenste Art und Weise an deren Wertschöpfung partizipieren, einen immer höheren wirtschaftlichen Stellenwert ein, weil in Netzwerken alles von Wert ist, was in ihnen getauscht werden kann (vgl. ausf. Winter 2013b). Diese Erkenntnis ist für das Verständnis der konkreten, sich ändernden Wertschöpfung von Künstlern als „Artepreneuren“ und von Freunden der Musik als echten „Wertschöpfungspartnern“ zentral. Dabei hat es sich in der Forschung bewährt, vier Kompetenzebenen als Ebenen von Wertaktivitäten zu unterscheiden, auf denen eigenständige Wertschöpfungskonfigurationen entfaltet werden, die quasi als „Wesen“ dieser Form der Wertschöpfung bezeichnet werden können (vgl. Abb. 6). Je medienkompetenter Musikschaffende und Musiknutzer werden, desto weniger sind sie auf die klassischen Musikmarktakteure als Intermediäre angewiesen. Immer mehr Fans helfen z. B. Musikschaffenden auf allen erdenklichen Wertschöpfungsstufen: Von der Produktion etwa im Zusammenhang mit SoundCloud über Bandcamp, Deezer4Artist oder Glue, über die Verteilung bzw. das Teilen von Musik und die Organisation ihrer Wahrnehmung durch
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Likes, Kommentare usf. bis hin zu einer immer weitergehenden Vernetzung ihrer Nutzung etwa im Kontext von Spotify und Facebook – um nur einige Beispiele zu nennen. DJs, so bestätigt meine Forschung, lassen sich im Rahmen ihrer Vernetzung über Facebook, Twitter oder Skype auf fast allen Stufen der Wertschöpfung regelmäßig von Prosumern helfen. Diese Wertschöpfungshilfe ist durchaus mit der Organisation von Hausmusik(-konzerten) in der Folge der Druckmedien und der Entwicklung bürgerlicher Musikkultur vergleichbar – nur dass heute eben noch viel mehr Leute daran beteiligt sein können. Die im Modell (vgl. Abb. 6) angeführten vier Typen von Künstlern und Konsumenten als Wertakteuren sind derzeit mit den Medien, die sie als Mittel verwenden, die maßgeblichen Treiber bzw. Ursachen der Steigerung des Reichtums von Musikkultur. Ihre Wertaktivitäten prägen die gegenwärtige Musikkultur und Musikwirtschaft zunehmend. Es wird angenommen, dass diese sich mit der Entwicklung der Medien und der Kompetenzen jener, die sie als Mittel zur Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung von Musik verwenden, fortwährend dynamisch ändern. Auf der ersten Ebene sind Kunden auch im Umgang mit Netzwerkmedien quasi klassische „Nutzer“. Sie nutzen z. B. einen Browser, um im Netz zu „surfen“. An Musikkultur partizipieren sie im Rahmen ihrer Aktivitäten vor allem als Käufer der Musikwirtschaft. Sie schöpfen Wert, wie Kunden von Drucken oder Platten dadurch Wert schöpfen, dass sie diese erwerben und für sich nutzen. Etwas aktiver sind auf der zweiten Ebene die „NetPublisher“, die Wert in der Form von Kommentaren, Hinweisen und Links generieren – durch Aktivitäten, die zuvor etwa Journalisten von Musikzeitschriften vorbehalten waren. Stufe 3 der Aktivitäts- oder Partizipationsleiter von Musikkultur und Musikwirtschaft ist durch Verteilungs- und Allokations-Aktivitäten charakterisiert, die früher allein von größeren Organisationen realisiert werden konnten. Sie gehören heute für viele Künstler, die vielfältigste Dateien, z. B. Promo-Material, verschicken, zum Alltag, indem sie sich durchaus von ihren Fans unterstützen lassen, mit denen sie – seit es SoundCloud gibt oder Crowdfunding-Plattformen wie z. B. Kickstarter – immer häufiger auf verschiedenste Art und Weise kollaborieren. Das neue dynamische Wertschöpfungsmodell macht empirisch greifbar, wie und warum heute immer mehr verschiedene Leute mit Bezug auf Musik im Rahmen ihrer Produktion, Verteilung, Wahrnehmung und Nutzung für die Öffentlichkeit oder auch für private Freunde Wert schöpfen. Es
Quelle: Eigener Entwurf Eintritts-Karten
Booking
Darbietung
Wahrnehmung
Musik-Verteiler, komm.Vertrieb
Komposition, A&R
B-2-B, Druck, Marketing
Wahrnehmung
Verteilung Vetrieb, Handel, Medien
A&R, Audioproduktion
Marketing, Promotion
Wahrnehmung
Privater Konsum
Nutzung
Darbietung, Nutzung
Nutzung
LifeErlebnis
Nutzung
Gewinn
Produktion
Recorded Music
Verteilung
Produktion
Publishing
Verteilung
Produktion
Live Music Gewinn
Künstler
NetSurfer
NetPublisher
Socializer
Co-Creator
Artrepreneur
Kunsument
NetSurfer
NetPublisher
Socializer
Co-Creator
Prosumer
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Abbildung 6: Das dynamische Wertschöpfungsmodell der On-Demand-Musikkultur
Gewinn
Aktivität
Aktivität
Entwicklung von Medien und Musik | 345
veranschaulicht, wie und warum heute mehr Wertschöpfung außerhalb der klassischen Wertschöpfungsprozesse organisiert wird. Deutlich wird, dass und warum die durch Netzwerkmedien vernetzt konstituierte On-DemandMusikkultur schon heute ein viel größerer Wertschöpfungsraum ist. In ihm können viel mehr verschiedene Akteure mit Bezug auf Musik aktiv sein als in jeder Musikkultur vor ihr. In diesem neuen Raum der Musikkultur verändert sich die Bedeutung von Unternehmen und Märkten, weil sie keine exklusive und konstitutive Rolle in Wertschöpfungsprozessen mehr innehaben. Scheint da eine postkapitalistische Musikwirtschaft auf, die auf intelligenteren, inkludierenderen und nachhaltigeren ökonomischen Prinzipien basieren könnte, weil in ihr mehr Leute, die mit Musik kein Geld verdienen wollen oder müssen, Ursache und Wesen musikbezogener Wertschöpfung sein können?
L ITERATUR Benkler, Y. (2006): The Wealth of Networks. How Social Production Transforms Markets and Freedom, New Haven, London: Yale University Press. Berman, Saul (2004): Media and Entertainment 2010. Open on the Inside, Open on the Outside: The Open Media Company of the Future. An IBM Institute for Business Value Future Series Report. Castells, Manuel (2001): The Internet Galaxy. Reflections on the Internet, Business, and Society, Oxford: Oxford University Press. Durkheim, Emile (1991 [1885]): Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Faulstich, Werner (2000): „Musik und Medium. Eine historiographische Skizze von den Anfängen bis heute“, in: Werner Faulstich, Medienkulturen, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 189-200. Green, Matthew (2002): „Napster Opens Pandora’s Box: Examining How File-Sharing Services Threaten the Enforcement of Copyright on the Internet“, in: Ohio State Law Journal 63 (2), S. 799-819. Hamel, Gary/Prahalad, Coimbatore Krishnarao (1995): Wettlauf um die Zukunft, Wien: Ueberreuther. Hamel, Gary (mit Bill Green) (2008): Das Ende des Managements. Unternehmensführung im 21. Jahrhundert, München: Econ.
346 | Carsten Winter
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Interview Wolfgang Voigt, Künstler und Musikproduzent
Wolfgang Voigt lebt und arbeitet als Künstler und Musikproduzent in Köln. Seit den frühen 90er Jahren veröffentlichte Voigt unter einer Vielzahl von Pseudonymen und Projektnamen unterschiedlichste Spielarten elektronischer Musik. Er gilt als wichtigster Wegbereiter des formstreng-minimalistischen Konzept-Techno (Cologne-Minimal-Techno) und ist Mitbegründer des weltweit erfolgreichen Kölner Labels KOMPAKT, welches 2013 sein 20-jähriges Firmenjubiläum feiert. Heute widmet sich Voigt vor allem der Weiterentwicklung seiner konzeptionellen Ideen von abstraktem Minimalismus und Ambiente und veröffentlicht handgemachte Sammlerplatten und Editionen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Musik.
Wie hat sich Ihre Art, Musik zu hören, in den letzten fünf bis acht Jahren geändert? Die Zeiten sind noch schnelllebiger geworden, somit auch die Hörgewohnheiten. Der MP3-Boom im Netz, die omnipräsente Verfügbarkeit von allem, lässt das einzelne Musikstück immer mehr in der Masse der Musikstücke untergehen. Aus Sicht des Labels ist die Aufmerksamkeit auf genügend Ohren verteilt, um wichtige Dinge nicht zu überhören. Was die eigenen Hörgewohnheiten betrifft, gibt es einerseits eine eher zeitlose, persönliche Top Ten, die eigene Musik und die Umfeldmusik, die man hört. Und es gibt die Masse der Gegenwartsmusik, die man mehr oder weniger zur Kenntnis nimmt.
Wo erwarten Sie neue Wertschöpfungsbildungen im Bereich der Musikproduktion? Der Markt ist seit langem im Umbruch. Die Einbrüche bei physischen Tonträgern werden erst sehr langsam durch die Zuwächse im Bereich der digi-
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talen Umsätze (legale, bezahlte Downloads) kompensiert. Neu ist ein eher hochpreisiges Sammlersegment im Bereich der anspruchsvollen Vinyledition, in exklusiver Verpackung und limitierter Auflage, die sich ein Teil der Kundschaft leisten kann und will. KOMPAKT ist in der Lage, diesen kleinen aber feinen Markt mit seinem international aufgestellten Versand zu erreichen.
Durch was werden diese ausgelöst? Durch die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kundschaft. Die einen wollen MP3s auf ihr iPod laden, die anderen sind eher exklusive Sammler von aufwändigen Vinyl- oder CD-Editionen. Wieder andere sind DJs, die immer noch oder zum Teil auch schon wieder mit Schallplatten auflegen. Als Musikunternehmen muss man Strukturen und Wege finden, auf diese Marktgegebenheiten zu reagieren.
Welche veränderten Anforderungen an Akteure wie Künstler oder Labels gehen damit einher? Für uns ist das halt immer auch eine Frage der Haltung: Man muss sich, gemessen an den Absatzmöglichkeiten von vor fünf bis acht Jahren, sozusagen auch wieder auf die Wurzeln besinnen. Erst kommt Musik, dann vielleicht Geld. Man muss flexibler sein. Man muss die Produktionskosten noch mehr im Blick haben und überholte Verteilungsschlüssel im Einnahmenbereich zum Teil komplett neu denken. Man muss Synergien im Blick haben. Viele Künstler bringen heute nicht mehr ihre Musik (ob nun digital oder physisch) in Umlauf, um in erster Linie an deren Verkauf zu verdienen (was aber nicht heißt, dass das nicht auch funktionieren würde), sondern als Referenz, um Auftritte in Clubs zu bekommen, für die sie in der Regel bezahlt werden.
Welche Rolle spielen soziale Netzwerke, bestimmte Orte wie Clubs oder Regionen bei der Reorganisation der Musik-Wertschöpfungskette? Natürlich gehört die permanente Verbreitung von Information, von Quatsch und Tratsch auf sämtlichen digitalen Plattformen, heute zum alltäglichen Szenario. Für den Künstler, oder den, der es werden will, dient die physische Präsenz, das Sehen und gesehen Werden an vermeintlich hippen Orten, in der Regel immer noch der Steigerung des persönlichen Marktwerts.
Künstler und Musikproduzent | 351
Als Label muss ich sehen, das ich meine Stammkundschaft und Fangemeinde pflege und ausbaue und bezüglich der Wertschöpfungskette so gut wie möglich, auch international, direkt erreiche.
Wie können Städte und Regionen sich dazu positionieren? Es gab und gibt eine Identifikation mit Stadt und Region. Es gibt immer noch einen „Sound of Sowieso City“ der hilfreich bei der Definition des eigenen Stils oder Genres ist und eine Abgrenzung zu „Sound of Anderswo City“ sein kann. Es spielt aber schon lange keine Rolle mehr, ob man aus Berlin oder Plochingen kommt, um erfolgreich gute Musik in Umlauf zu bringen.
Zu den Autorinnen und Autoren
Hans-Joachim Bürkner hat sich als Wirtschafts- und Sozialgeograph in den vergangenen Jahren mit ausgewählten Problemen der Stadt- und Regionalentwicklung auseinandergesetzt. Daneben ist er immer wieder als Jazzmusiker und Vertreter von Musikerinitiativen aktiv gewesen. Seit 2002 ist er als Professor für Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Universität Potsdam (www.geographie.uni-potsdam.de) sowie am Leibniz-Institut für Regional- und Strukturplanung (Erkner) tätig (www.irs-net.de/kontakt/ mitarbeiter.php?id=6). Seine Arbeits- und Interessenschwerpunkte in der Stadtforschung liegen in den Themenbereichen „Sozialräumliche Disparitäten“, „Milieus“, „Creative Industries“ und „Urban Governance“. Zuletzt hat er zusammen mit Bastian Lange über Wertschöpfungsprozesse in der elektronischen Clubmusikproduktion publiziert. Jüngere Veröffentlichungen: Lange, Bastian/Bürkner, Hans-Joachim (2010): „Wertschöpfungsketten in der Kreativwirtschaft – Der Fall der elektronischen Klubmusik“, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 54 (1), S. 46-68; Bürkner, Hans-Joachim (2009): „Der lokale Staat im Feld kreativer Nischenökonomien“, in: Bastian Lange/Ares Kalandides/Birgit Stöber/Inga Wellmann (Hg.), Governance der Kreativwirtschaft. Diagnosen und Handlungsoptionen, Bielefeld: transcript, S. 247-259. Kontakt: [email protected] Leonhard Dobusch forscht als Juniorprofessor für Organisationstheorie am Management-Department der Freien Universität Berlin u. a. zu transnationaler Urheberrechtsregulierung und dem Management digitaler Gemeinschaften. Nach Abschlüssen in Wirtschaftswissenschaft (2003) und Rechtswissenschaft (2004) an der Universität Linz promovierte er 2008 im DFG-
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Graduiertenkolleg „Pfade organisatorischer Prozesse“ an der Freien Universität Berlin. Danach war er als Postdoc am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und an der FU Berlin tätig, unterbrochen durch Aufenthalte als Gastwissenschaftler an der Stanford Law School sowie dem Wissenschaftszentrum Berlin. Jüngere Veröffentlichungen: Dobusch, Leonhard/Mader, Phil/Quack, Sigrid (Hg.) (2013): Governance across borders: Transnational fields and transversal themes. A blogbook, Berlin/Köln: epubli; Dobusch, Leonhard/ Quack, Sigrid (2013): „Framing standards, mobilizing users: Copyright versus fair use in transnational regulation”, in: Review of International Political Economy, 20 (1), S. 52-88. Kontakt: [email protected] Malte Friedrich, geb. 1969, Dipl.-Soz., lebt in Berlin, seit 2005 Leiter des Instituts für soziologische Meinungsforschung (IsoMe), forscht im Bereich der Kultursoziologie, Stadtforschung und Umweltsoziologie; in seinem Dissertationsprojekt beschäftigte er sich mit dem Zusammenhang von populärer Musik, Imagination und Stadt; von 1999 bis 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „Korporalität und Urbanität. Die Inszenierung des Ethnischen am Beispiel Hip-Hop“, im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Theatralität“. Jüngere Veröffentlichungen: Friedrich, Malte (2010): Urbane Klänge, Popmusik und Imagination der Stadt, Bielefeld: transcript; Malte, Friedrich (2005): „Skandalsuperstar. Die inszenierten Grenzüberschreitungen des Rappers Eminem“, in: Claudia Gerhards/Stephan Borg/Bettina Lambert (Hg.), TV-Skandale, Konstanz: UVK-Verlag, S. 225-240; Friedrich, Malte/ Klein, Gabriele (2003): Is this real? Die Kultur des HipHop, 4. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kontakt: [email protected] Jan-Michel Kühn studierte Soziologie an der Technischen Universität Berlin und diplomierte mit einer fokussierten Ethnografie über die Produktion elektronischer Tanzmusik in Homerecording-Studios. Derzeit verfasst er eine Dissertation über Wirtschaften und Arbeiten in Musikszenen am Promotionskolleg „Die Produktivität von Kultur“ und wird durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung finanziert. Darüber hinaus ist er seit ca. 2005 regelmäßig als DJ „Fresh Meat“ im Berliner Nachtleben rund um
Zu den Autorinnen und Autoren | 355
House & Techno aktiv, arbeitet als Booker für Veranstalter und betreibt das „Berlin Mitte Institut für Bessere Elektronische Musik“. Dort produziert er WebTV-Sendungen und bloggt rund um die Berliner Techno-Szene. Er verbindet seine wissenschaftliche Orientierung und private Leidenschaft, um ästhetische, distinktive und erwerbliche Dimensionen von Musikszenen zu verstehen, zu erklären und zu verorten. Jüngere Veröffentlichungen: Kühn, Jan-Michael (2011): „Die Szenewirtschaft elektronischer Tanzmusik Eine explorative Skizze“, in: Journal der Jugendkulturen 17, Berlin; Kühn, Jan-Michael (2011): „Fokussierte Ethnografie als Forschungsmethode am Beispiel der Untersuchung von Technomusik-Produzenten in Homerecording-Studios“, in: Studentisches Soziologiemagazin, 4 (1), Halle. Kontakt: http://www.berlin-mitte-institut.de Bastian Lange, Dr. phil., ist Stadt- und Wirtschaftsgeograph. Er forscht und lehrt zu den Themenbereichen Kreativwirtschaft, Governancefragen, Innovationsprozesse und Raumentwicklung. Bastian Lange hat in Marburg und Edmonton Geographie, Ethnologie und Stadtplanung studiert und an der Johann-Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, Institut für Geographie, 2006 promoviert. Er ist Mitglied des Georg-Simmel-Zentrums für Metropolenforschung an der Humboldt Universität zu Berlin. Jüngere Veröffentlichungen: Lange, Bastian/Bürkner, Hans-Joachim (2013): „Value-creation in the creative economy The case of electronic club music in Germany“, in: Economic Geography 82 (2), S. 149-169; Lange, Bastian (2011): „Accessing Markets in Creative Industries – Professionalisation and social-spatial strategies of Culturepreneurs in Berlin“, in: Entrepreneurship and Regional Development 23 (3), S. 259-279; Lange, Bastian/Büttner, Kerstin (2010): „Spatialisation patterns of translocal knowledge networks: Conceptual understandings and empirical evidences of Erlangen und Frankfurt/Oder”, in: European Planning Studies 18 (6), S. 989-1018. Weitere Infos: www.bastianlange.de, Kontakt: [email protected] Christoph Michels ist Assistenzprofessor für Kulturwissenschaften an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Er studierte Architektur und Stadtentwicklung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich
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und promovierte im Jahr 2009 von der Universität St. Gallen im Bereich der Organisationsforschung. Seine Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle zwischen Architektur und Organisationsforschung und fokussieren auf die Möglichkeiten einer partizipativen Raumplanung, die Veränderung urbaner Mobilitätsformen sowie die Produktion von Atmosphären öffentlicher Räume. Kontakt: [email protected] Elke Schüßler ist Juniorprofessorin für Organisationstheorie am Management-Department des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschung beschäftigt sich mit Fragen von institutioneller und strategischer Innovation, Kreativität und Pfadabhängigkeit in unterschiedlichen Kontexten. Ihre mehrfach ausgezeichnete Dissertation analysiert die Wertschöpfungsstrategien deutscher Bekleidungshersteller zwischen 1945 und 2008. Derzeit leitet sie ein DFG-Wissenschaftliches Netzwerk zum Thema „Field-Configuring Events“ und gibt ein Sonderheft zum Thema „Digital Technology and Creative Industries: Disassembly and Reassembly“ heraus. Jüngere Veröffentlichungen: Schüßler, Elke/Rüling, Charles/Wittneben, Bettina (2013): On melting summits: The limitations of field-configuring events as catalysts of change in transnational climate policy“, in: Academy of Management Journal, pre-print publication (DOI: 10.5465/amj.2011. 0812); Dobusch, Leonhard/Schüßler, Elke (2013): „Theorizing path dependence: A review of positive feedback mechanisms in technology markets, regional clusters and organizations”, in: Industrial and Corporate Change 22 (3), S. 617-647. Kontakt: [email protected] Birgit Stöber verließ nach ihrem Studium der Geographie, Politologie und Publizistik Ende der 1990er Jahre ihre Heimatstadt Berlin und arbeitete in Kopenhagen als Journalistin. Nach einigen Jahren praktischer Erfahrung, kehrte sie ins akademische Milieu zurück und schrieb an der Kopenhagener Universität ihr PhD über die Rolle und Bedeutung von Massenmedien bei der Schaffung neuer Räume. Seit 2004 lehrt und forscht Birgit Stöber an der Copenhagen Business School (CBS) in den Bereichen Cultural und Communication Studies sowie Creative Industries mit dem Forschungsschwerpunkt (neue) Medien und Musik. Im Herbst 2011 ließ sich Birgit
Zu den Autorinnen und Autoren | 357
Stöber für zwei Jahre von ihrer Stelle als Associate Professor an der CBS beurlauben, um an der Dänischen Botschaft in Berlin als Presseattaché zu arbeiten. Jüngere Veröffentlichungen: Stöber, Birgit (2011): „Fixed Links and Vague Discourses about Culture and the Making of Cross-Border Regions“, in: Culture Unbound: Journal of Current Cultural Research 2011 (3), S. 229-242; Ooi, Can-Seng/Stöber, Birgit (2010): „Authenticity and Place Branding: The Arts and Culture in Branding Berlin and Singapore“, in: Britta Timm Knudsen/Anna Marit Waade (Hg.), Re-inventing Authenticity: Tourism, Places and Emotions, Bristol: Channel View Publications, S. 6679. Kontakt: [email protected] Peter Tschmuck ist Universitätsprofessor für das Fach Kulturbetriebslehre am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Musikwirtschaftsforschung, Kunst- und Kulturökonomik, Kulturpolitikforschung sowie Kulturmanagement. Er lehrt zudem an der Wirtschaftsuniversität Wien, an der Donau-Universität Krems und an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. 2010 war er Gastprofessor an der James-Cook-University in Townsville und Cairns (Australien). 2012 erschien in zweiter Auflage sein Standardwerk „Creativity and Innovation in the Music Industry“. 2013 gab er gemeinsam mit Philip Pearce und Steven Campbell „Music Business and the Experience Economy. The Australasian Case“ heraus. Gegenwärtig fungiert er als Mitherausgeber des Lexikons der Musikwirtschaft. Gegenwärtig fungiert er als Mitherausgeber des Lexikons der Musikwirtschaft sowie eines Sammelbandes zur australischen Musikwirtschaft. Peter Tschmuck betreibt seit Jahren den Blog zur Musikwirtschaftsforschung, organisiert jährlich die Vienna Music Business Research Days und gibt gemeinsam mit Dennis Collopy und Carsten Winter das International Journal of Music Business Research heraus. Kontakt: [email protected] Carsten Winter, Dr. phil. habil., ist seit 2007 Universitätsprofessor für Medien- und Musikmanagement am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) der Hochschule für Musik, Theater und Medien
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Hannover. Er lehrte und lernte u. a. in Lüneburg, Siegen, Colorado, Bremen, Nottingham, Ilmenau, Klagenfurt, Shanghai und Kaohsiung. Seine Forschung erkundet Möglichkeiten und Grenzen der strategischen und zivilgesellschaftlichen Entwicklung von Beziehungen, Medien und Räumen im Kontext des Wandels von Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft – mit einem Schwerpunkt Musikkultur und Musikwirtschaft. In diesem Kontext initiierte er 2010 die Young Scholars Research Days im Rahmen der International Music Business Research Days in Wien und 2012 gründete mit Peter Tschmuck und Dennis Collopy das International Music Business Research Journal (IMBRJ), das er gemeinsam mit ihnen herausgibt. Jüngere Veröffentlichungen: Winter, Carsten (2012): „How media prosumers contribute to social innovation in today’s new networked music culture and economy“, in: International Journal of Music Business Research 1 (2), S. 46-73; Winter, Carsten (2011): „Die Berliner Musikwirtschaft in der Momentaufnahme. Vernetzte Entwicklungen, neue Chancen und gesamtwirtschaftliche Bedeutung“, in: Peter Tschmuck (Hg.), Focus Musik. Neue Töne der Musikwirtschaft. White Paper, Wien: Departure, S. 74-77; Winter, Carsten (2011): „Von der Push- zur Pull-Kultur (-Innovation)“, in: Christian Holst/Karin Janner/Axel Kopp (Hg.), Social Media im Kulturmanagement: Wie Online-Geschäftsmodelle und das mobile Web das Kulturmanagement revolutionieren, Frechen: mitp, S. 149190. Kontakt: [email protected]
Kultur- und Medientheorie bei transcript Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.)
Auditive Medienkulturen Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung
2013, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1686-6 Der Band »Auditive Medienkulturen« versammelt aktuelle Forschungen zu medial vermittelten Klang- und Hörkulturen und bietet einen fundierten und breit angelegten Überblick über aktuelle methodische Zugänge im Feld der Sound Studies. Die Fallstudien behandeln u.a. Recording Cultures von der Popmusik bis zur Bioakustik, Kulturen der Klanggestaltung vom Instrumentenbau über das Filmsounddesign bis zur auditiven Architektur sowie Rezeptionskulturen zwischen Ambient und Radio, Kopfhörer und Stereoanlage, Konzertsaal und Diskothek. Indem sich die Beiträge den Zusammenhängen zwischen Klang, Medientechnologien und kultureller Praxis widmen, verdeutlichen sie auf je unterschiedliche Weise, dass es sich bei Klang- und Hörphänomenen um kulturelle Objekte handelt, die nicht unabhängig vom Kontext ihrer historischen Entwicklung sowie vielfältiger Materialisierungen und Mediatisierungen betrachtet werden können.
www.transcript-verlag.de