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German Pages 291 Year 2018
Abhandlungen zum Deutschen und Europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht Band 123
Aktienrechtliche Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat in Bezug auf Steuergestaltungen
Von
Philipp M. P. Schrage
Duncker & Humblot · Berlin
PHILIPP M. P. SCHRAGE
Aktienrechtliche Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat in Bezug auf Steuergestaltungen
Abhandlungen zum Deutschen und Europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht Herausgegeben von Professor Dr. Holger Fleischer, LL.M., Hamburg Professor Dr. Hanno Merkt, LL.M., Freiburg Professor Dr. Gerald Spindler, Göttingen
Band 123
Aktienrechtliche Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat in Bezug auf Steuergestaltungen
Von
Philipp M. P. Schrage
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern und Angelika
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2017/18 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung konnten die bis einschließlich Februar 2018 veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur berücksichtigt werden. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Rainer Hüttemann, der die Arbeit nicht nur betreut, sondern mich vor allem für das Thema begeistert hat. Von Beginn an hat er mein Dissertationsvorhaben in wissenschaftlicher wie auch in persönlicher Hinsicht mit wertvollen Anregungen unterstützt und gefördert. Herrn Prof. Dr. Jens Koch schulde ich Dank für die Erstattung des Zweitgutachtens. Des Weiteren möchte ich den Herren Prof. Dr. Gerald Spindler, Prof. Dr. Hanno Merkt und Prof. Dr. Dr. h.c. Holger Fleischer für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe danken. Ferner darf ich mich bei Frau Regine Schädlich und Frau Diana Güssow vom Verlag Duncker & Humblot für die umfassende Betreuung bei der Erstellung der Druckfassung bedanken. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Dr. Daniel Schlering für die kritische Sichtung des Manuskripts. Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank meinen Eltern Angela und Bruno Schrage sowie meiner Freundin Angelika Meiswinkel, die mich auf dem Weg bis zu diesem letzten Satz stets motivierend begleitet haben. Bonn, im Mai 2018
Philipp Schrage
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kapitel 1 Steuergestaltung
28
A. Definition Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. „Aggressive“ Steuerplanung oder „aggressive“ Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . 32 II. Abgrenzung der „aggressiven“ Steuergestaltung zu Steuerstraftaten, Steuerordnungswidrigkeiten und Tax Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 III. Das Verhältnis von „aggressiver“ Steuergestaltung zur missbräuchlichen Steuergestaltung § 42 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 IV. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 V. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Kapitel 2 Die Pflicht zur Steuergestaltung
42
A. Steuergestaltung als Vorstands- oder Aufsichtsratspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Steuergestaltung als Pflicht des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Steuergestaltung als Pflicht des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Steuergestaltung als aus § 76 Abs. 1 oder § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abgeleitete Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 II. Allgemeiner Maßstab für die Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung . 49
10
Inhaltsübersicht III. Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Kapitel 3 Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
218
A. Die Delegationsfähigkeit der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 B. Die Pflichten der Delegationsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 C. Die Überwachungspflichten des delegierenden Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Die horizontale Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Die vertikale Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 D. Das Verhältnis der vertikalen Delegation der Entscheidungsvorbereitung zur Einholung von Expertenrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
Kapitel 4 Die Haftung der Vorstandsmitglieder für die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG
229
A. Die Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Die Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 C. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I. Die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 II. Die Verletzung der Überwachungspflicht bei Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 III. Die Verletzung der Legalitätspflicht als absolute Grenze der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Inhaltsübersicht
11
Kapitel 5 Die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder für die Verletzung der Auswahl- oder Überwachungspflicht nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG im Kontext der Pflicht zur Steuergestaltung 248 A. Die Tatbestandsvoraussetzungen und die Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . 248 B. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Die Verletzung der Auswahlpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 II. Die Verletzung der Überwachungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Pflichtverletzungen in Delegationsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Kapitel 6 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
263
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Kapitel 1 Steuergestaltung
28
A. Definition Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. „Aggressive“ Steuerplanung oder „aggressive“ Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Abgrenzung der „aggressiven“ Steuergestaltung zu Steuerstraftaten, Steuerordnungswidrigkeiten und Tax Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 III. Das Verhältnis von „aggressiver“ Steuergestaltung zur missbräuchlichen Steuergestaltung § 42 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Innen- vs. Außentheorie – Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 V. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Kapitel 2 Die Pflicht zur Steuergestaltung
42
A. Steuergestaltung als Vorstands- oder Aufsichtsratspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Steuergestaltung als Pflicht des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Steuergestaltung als Pflicht des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Steuergestaltung als aus § 76 Abs. 1 oder § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abgeleitete Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 II. Allgemeiner Maßstab für die Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung . . 49 1. Interessenmonistische und interessenhierarchische Zielkonzeptionen als Maßstab des Leitungsermessens und das Shareholder-Value-Konzept . . . . . . . . . . . 50 2. Die interessenpluralistische Zielkonzeption als Maßstab des Leitungsermessens und das Stakeholder-Value-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
14
Inhaltsverzeichnis 3. Die Bedeutung des Diskurses für die Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4. Entscheidung des Diskurses für die interessenpluralistische Zielkonzeption . . . 59 a) Das Wortlautargument aus § 76 Abs. 1 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Die systematischen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 aa) § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 bb) § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG „nachhaltige Unternehmensentwicklung“ . . . . 60 cc) § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG „zum Wohle der Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . 61 dd) §§ 311 ff. AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Die historischen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 aa) Art. 207 ff. ADHGB (1861) und §§ 178 ff. HGB (1897) . . . . . . . . . . . . . 65 bb) § 70 Abs. 1 AktG (1937), die Vorgängervorschrift des heutigen § 76 Abs. 1 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 cc) § 76 Abs. 1 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 dd) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 ee) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 d) Die teleologischen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 aa) Verbands-/Gesellschaftszweck vs. Unternehmensinteresse . . . . . . . . . . . 83 bb) Schutzbedürftigkeit der Stakeholder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 cc) Prinzipal-Agent-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 dd) Präambel/Ziffer 4.1.1 Deutscher Corporate Governance Kodex . . . . . . . 94 ee) Corporate Social Responsibility . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 ff) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 e) Die verfassungsrechtlichen Argumente aus Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . 103 f) Das europarechtliche Argument – CSR-Richtlinie 2014/95/EU . . . . . . . . . . 107 g) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5. Die (Steuer-)Staaten als Stakeholder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Der deutsche (Steuer-)Staat als Teil des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . 114 aa) Keine verfassungswidrige Flucht ins Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (1) Die Schutzwürdigkeit der Gemeinden im nationalen Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (a) Die Gewerbesteuer und der beschränkte nationale Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (b) Die Schutzwürdigkeit der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Inhaltsverzeichnis
15
(2) Die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates im internationalen Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (a) Keine zwingende Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates aufgrund des internationalen Steuerwettbewerbs im Allgemeinen
131
(b) Die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates aufgrund des gegenwärtigen internationalen Steuerwettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (c) Kein Ausschluss der Schutzwürdigkeit durch die (Mit-)Verantwortung des (Steuer-)Staates für den gegenwärtigen und zukünftigen internationalen Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (d) Stellungnahme und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 (3) Ausblick: Mögliche andere Beurteilung der Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates aufgrund des zukünftigen internationalen Steuerwettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Ausländische (Steuer-)Staaten als Teil des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . 150 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 6. Die sonstigen Stakeholder der Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III. Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Das steuerrechtliche Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Die Interessen der verschiedenen Stakeholder im Hinblick auf die Steuergestaltung und sich daraus ergebende Vorstandspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Das Interesse der Shareholder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Die Interessen der (Steuer-)Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 c) Die Interessen der sonstigen Stakeholder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Die Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Die Legalitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Die Pflicht, Bestand und dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft sicherzustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4. Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG 198 a) „Unternehmerische Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) „Vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information (…) zu handeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Die Einholung von (Steuer-)Expertenrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 bb) Die Beantragung von verbindlichen Zusagen der Finanzbehörden . . . . . 210 c) „Vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 d) Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
16
Inhaltsverzeichnis Kapitel 3 Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
218
A. Die Delegationsfähigkeit der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 B. Die Pflichten der Delegationsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 C. Die Überwachungspflichten des delegierenden Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Die horizontale Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Die vertikale Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 D. Das Verhältnis der vertikalen Delegation der Entscheidungsvorbereitung zur Einholung von Expertenrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
Kapitel 4 Die Haftung der Vorstandsmitglieder für die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG
229
A. Die Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Die Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 C. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I. Die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Wirksame Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Unwirksame Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Unrealisierte Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 II. Die Verletzung der Überwachungspflicht bei Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 III. Die Verletzung der Legalitätspflicht als absolute Grenze der Pflicht zur Steuergestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Kapitel 5 Die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder für die Verletzung der Auswahl- oder Überwachungspflicht nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG im Kontext der Pflicht zur Steuergestaltung 248 A. Die Tatbestandsvoraussetzungen und die Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . 248
Inhaltsverzeichnis
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B. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Die Verletzung der Auswahlpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 II. Die Verletzung der Überwachungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1. Die pflichtwidrige Überwachung unentschiedener Gestaltungen . . . . . . . . . . . . 257 2. Die pflichtwidrige Überwachung entschiedener Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . 258 III. Pflichtverletzungen in Delegationsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Kapitel 6 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
263
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Abkürzungsverzeichnis Abs. AcP AEAO AEUV a. F. AG AGG AktG Anm. AO APA Art. BayObLG BB BC BeckOK Begr. BEPS BFH BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BIP BJR BStBl. BT BT-Drucks. BVerfG BVerfGE bzw. CB CbCR CC CCZ CFl CMS COM CSR
Absatz Archiv für die civilistische Praxis Anwendungserlass zur Abgabenordnung Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Aktiengesellschaft oder Zeitschrift „Die Aktiengesellschaft“ Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Aktiengesetz Anmerkung Abgabenordnung Advance Pricing Agreement Artikel Bayerisches Oberstes Landesgericht Betriebs-Berater Zeitschrift für Bilanzierung, Rechnungswesen und Controlling Beck’scher Online-Kommentar Begründung Base Erosion and Profit Shifting Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Zivilsachen Bruttoinlandsprodukt Business Judgement Rule Bundessteuerblatt Bundestag Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Compliance-Berater Country-by-Country Reporting Corporate Citizenship Corporate Compliance Zeitschrift Corporate Finance law Compliance-Management-System Commission Corporate Social Responsibility
Abkürzungsverzeichnis CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz DATEV DB DBA DCGK d. h. DIW DJT DStR DStZ EIC Einl. endg. EStG et al. etc. EU-Beihilfeverfahrensverordnung EuGH EuZW EWG f./ff. FAS FAZ FG FGO FKAustG Fn. FR FS GesellR GewStG GG ggf. GKKB GmbH Großkomm HGB HHSp hrsg. IAA ICIJ Ifo
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Gesetz zur Sta¨ rkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten Datenverarbeitungszentrale der steuerberatenden Berufe Der Betrieb Doppelbesteuerungsabkommen Deutscher Corporate Governance Kodex das heißt Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Deutscher Juristentag Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuer-Zeitung European Investigative Collaboration Einleitung endgültig Einkommensteuergesetz et alii et cetera Verordnung 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof bzw. Gerichtshof der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende/fortfolgende Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung Finanzgericht oder Festgabe Finanzgerichtsordnung Gesetz zum automatischen Austausch von Informationen u¨ ber Fi¨ nderung weiterer Gesetze nanzkonten in Steuersachen und zur A Fußnote Finanz-Rundschau Festschrift Gesellschaftsrecht Gewerbesteuergesetz Grundgesetz gegebenenfalls Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage Gesellschaft mit beschränkter Haftung Großkommentar Handelsgesetzbuch Hübschmann, Hepp, Spitaler herausgegeben Internationales Arbeitsamt International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V.
20 IRZ ISO IStR-LB i.V.m. IWB IZPB JbFSt JCMS JStG JZ KK KMU KOM KonTraG KonzernR KÖSDI KStG LG lit. MüKo Münch. Hdb. GesR. NGO NJT NJW NJW-RR No. Nr. NWB NY Times NZG OECD OLG RAO RefE RegE RL Rn. S. sog. StAuskV Stbg SteuK StuW StVergAbG TransPuG Tz. u. a.
Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Internationale Rechnungslegung International Organization for Standardization Internationales Steuerrecht Länderbericht in Verbindung mit Internationale Wirtschafts-Briefe Informationen zur politischen Bildung Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht Journal of Common Market Studies Jahressteuergesetz JuristenZeitung Kölner Kommentar Kleine und mittlere Unternehmen Kommission Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich Konzernrecht Kölner Steuerdialog Körperschaftsteuergesetz Landgericht Litera Münchener Kommentar Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts Non-governmental organization National Tax Journal Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Number Nummer Neue Wirtschafts-Briefe New York Times Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Organization for Economic Co-operation and Development Oberlandesgericht Reichsabgabenordnung Referentenentwurf Regierungsentwurf Richtlinie Randnummer(n) Seite(n) sogenannt(e) Steuer-Auskunftsverordnung Die Steuerberatung Steuerrecht kurzgefaßt Steuer und Wirtschaft Steuervergünstigungsabbaugesetz Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizita¨ t Textziffer und andere
Abkürzungsverzeichnis UAbs. Ubg. UMAG vgl. VwVfG WISO WiSt WiWo WM WRP WTO z. B. ZCG ZfB-Special zfwu ZGR ZHR Ziff. ZInsO ZIP ZPO ZRP
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Unterabsatz Die Unternehmensbesteuerung Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts vergleiche Verwaltungsverfahrensgesetz Wirtschafts- und Sozialpolitische Zeitschrift Wirtschaftswissenschaftliches Studium WirtschaftsWoche Wertpapier-Mitteilungen Wettbewerb in Recht und Praxis World Trade Organization zum Beispiel Zeitschrift für Corporate Governance Zeitschrift für Betriebswirtschaft – Special Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik
Einleitung „Aggressive Steuerplanung beeinträchtigt die Steuermoral, wenn Arbeitnehmer und Unternehmen das Gefühl bekommen, sie seien die Dummen, weil ein anderer mit einer anderen steuerlichen Gestaltung die Steuern nahezu vermeiden kann.“1
Diese Aussage des ehemaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble aus dem Jahr 2013 ist im Jahr 2018 aktueller denn je. Wie bereits der weitverbreitete Begriff der „aggressiven Steuerplanung“ verrät, ist das Thema der Dissertation: „Aktienrechtliche Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat in Bezug auf Steuergestaltungen“, ein Politikum. Die „aggressiven“ Steuergestaltungen multinationaler Unternehmen wie Amazon2, Apple3 und Starbucks4 und die damit einhergehende Steuervermeidung haben durch die Medien große Aufmerksamkeit erhalten.5 Im April 2013 veröffentlichten investigative Journalisten unter der Leitung des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) nach Auswertung von geheimen Bank- und Steuerdaten die „Offshore-Leaks“, 2014 folgten die „Luxemburg-Leaks“, 2015 die „Swiss-Leaks“ und wiederum im April 2016 die „Panama-Papers“. Im Mai 2017 hat die European Investigative Collaboration (EIC) die „Malta-Files“ veröffentlicht. Die jüngste Veröffentlichung sind die „ParadisePapers“ des ICIJ vom November 2017. Spätestens seit den Luxemburg-Leaks ist auch die Steuergestaltung deutscher multinationaler Unternehmen (E.ON, Deutsche Bank und Fresenius Medical Care) öffentlich bekannt.6 Ein Bericht zu den jüngst veröffentlichten Malta-Files nennt zudem BASF, BMW, K+S, Lufthansa, und Sixt.7 Infolge dieser Veröffentlichungen ist die Steuergestaltung multinationaler Unternehmen ein Dauerthema, das die Öffentlichkeit ebenso wie die Fachwelt bewegt.8
1 Schäuble zitiert nach: Wüllenweber, Legale Staatsfeinde, stern vom 14. März 2013, Nr. 12, S. 84 (90). 2 Europäische Kommission, SA.38944. 3 Europäische Kommission, SA.38373; Pinkernell, IStR-LB 2014, 59 (59 f.). 4 Europäische Kommission, SA.38374. 5 Wüllenweber, Legale Staatsfeinde, stern vom 14. März 2013, Nr. 12, S. 84. 6 Giesen/Ott/Strozyk/Strunz, Rausgeputzt für das Finanzamt; Obermayer, LuxemburgLeaks zu Eon; so auch Grotherr, Ubg 2015, 360 (360). 7 Dahlkamp/Henrichs/Latsch/Pauly/Schmitt, Wenn kein Postmann klingelt, Der Spiegel vom 20. Mai 2017, Nr. 21, S. 58 (58 ff.). 8 So schrieb beispielsweise Stiglitz Anfang des Jahres 2017 adressiert an die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos in der FAZ: „Zahlt eure Steuern. Das ist der Grundbaustein der unternehmerischen Verantwortung.“ Siehe Stiglitz, Wachstumsrisiko Ungleichheit, FAZ vom 16. Januar 2017, Nr. 13, S. 18.
24
Einleitung
Nicht zuletzt die mediale Aufmerksamkeit hat auch die Politik auf den Plan gerufen. Im Oktober 2015 haben die OECD/G20 die 13 Abschlussberichte ihres Base Erosion and Profit Shifting (BEPS)-Projektes vorgestellt.9 Diese sehen Maßnahmen gegen „aggressive“ Steuergestaltung vor, die von den OECD-Staaten umgesetzt werden sollen. Die Europäische Kommission hat im Juni 2015 fünf Aktionsschwerpunkte für „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union“10 vorgeschlagen und arbeitet aktuell an der schrittweisen Realisierung. Einzelne Maßnahmen wie der automatische Informationsaustausch wurden bereits auf nationaler Ebene umgesetzt.11 Des Weiteren hat die Kommission Beihilfeverfahren gegen die Mitgliedstaaten durchgeführt, die multinationalen Unternehmen, wie Amazon12, Apple13 und Starbucks14, die im Rahmen der Luxemburg-Leaks bekannt gewordenen Steuergestaltungen ermöglicht haben. Sie hat die Staaten dazu verpflichtet, die Steuern bei den Unternehmen durchzusetzen. Dagegen haben sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Unternehmen vor dem EuGH klagt, dessen Entscheidungen noch ausstehen.15 All dies erfordert es, neben der politischen die rechtliche Dimension nicht aus den Augen zu verlieren.16 Diese ist nicht nur durch das Steuer-, sondern auch durch das Gesellschaftsrecht geprägt. Die Frage, ob und gegebenenfalls wie Steuergestaltung von Vorständen und Aufsichtsräten realisiert werden darf oder sogar muss, ist jedenfalls primär gesellschaftsrechtlicher Natur.17 Unter den Rechtswissenschaftlern, die sich mit den damit verbundenen gesellschafts- und steuerrechtlichen Fragestellungen auseinandersetzen, ist allen voran Wolfgang Schön zu nennen. Bereits im Jahr 2006 organisierte er eine internationale Konferenz zum Thema „Tax and Corporate Governance“.18 Im Jahr 2004 ist des Weiteren die Dissertation „Die Haftung der Unternehmensleiter für die Steuerplanung in Kapitalgesellschaften“ 9
Die 13 Berichte sind abrufbar unter: http://www.oecd-ilibrary.org/taxation/oecd-g20-baseerosion-and-profit-shifting-project_23132612 (zuletzt abgerufen am 6. Juni 2017). 10 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europa¨ ischen Union – Fu¨ nf Aktionsschwerpunkte, COM (2015) 302 endg. (im Folgenden: Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg.). 11 ¨ nderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Gesetz zur Umsetzung der A Maßnahmen gegen Gewinnku¨ rzungen und -verlagerungen, BGBl. I 2016, 3000 (im Folgenden: ¨ nderungen der EU-Amtshilferichtlinie). Gesetz zur Umsetzung der A 12 Europäische Kommission, SA.38944. 13 Europäische Kommission, SA.38373; Pinkernell, IStR-LB 2014, 59 (59 f.). 14 Europäische Kommission, SA.38374. 15 Siehe insgesamt dazu unten Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 16 Die diesbezügliche Verantwortung der Rechtswissenschaft betont Mellinghoff, DATEV magazin 2016, 6 (6). 17 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1085 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 120 f. 18 Siehe dazu den von Schön herausgegebenen gleichnamigen Tagungsband Tax and Corporate Governance, insbesondere Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31.
Einleitung
25
von Saßmann und im Jahr 2011 die Dissertation „Corporate Governance und Besteuerung: Der Einfluss des Steuerrechts auf die Pflichten und die Besetzung des Managements von Aktiengesellschaften“ von Stenert erschienen.19 Alle drei sehen – trotz abweichender Argumentationsgänge – den Vorstand einer Aktiengesellschaft grundsätzlich im Interesse der Aktionäre in der Pflicht, langfristig einen möglichst hohen Gewinn nach Steuern zu erwirtschaften.20 Verletzt ein Vorstandsmitglied diese Pflicht, z. B. indem es eine stark steuerreduzierende Gestaltung nicht vornimmt, könnte es dafür grundsätzlich nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG haften. Im Hinblick auf die Höhe des Gewinns des Unternehmens nach Steuern geht es bei der Frage, ob eine Steuergestaltung vorgenommen wird oder nicht, schnell um sehr hohe Summen. Die Höhe des Gewinns nach Steuern wird sich regelmäßig auch auf die Höhe der Gewinnausschüttung an die Aktionäre und auf etwaige Kursgewinne auswirken. Legt man nun das Ergebnis von Schön, Stenert und Saßmann zugrunde, sind Szenarien nicht ausgeschlossen, in denen ein Großaktionär oder ein Aktionärskonsortium Druck auf den Aufsichtsrat ausübt, Haftungsansprüche gegen einen eher „gemäßigt“ steuergestaltenden Vorstand geltend zu machen.21 Der Schaden der Gesellschaft bestünde dabei aufgrund des Unterlassens einer „aggressiven“ Steuergestaltung in den mehr zu zahlenden Steuern.22 Das objektivierte Interesse der Aktionäre als Gesellschafter des Unternehmens ist grundsätzlich nachvollziehbar. Sie haben in das Unternehmen investiert und ein Interesse daran, dass sich die Investition auszahlt. Dies gilt umso mehr, als die private und institutionalisierte Investition und die damit einhergehende Lenkung von (Spar-) Kapital hin zur Realwirtschaft volkswirtschaftlich gewollt ist (optimale Allokation der Ressourcen).23 Insoweit spricht auf einer, wenn auch noch sehr allgemeinen Ebene, einiges dafür, die dargestellte Pflicht des Vorstands zur langfristig möglichst hohen Gewinnerzielung nach Steuern anzuerkennen. Was aber gilt, wenn multinationale Unternehmen beispielsweise mangelnde Abstimmungen im internationalen Steuerrecht (tax arbitrage) dazu verwenden, keine oder extrem reduzierte Steuersätze zu zahlen? Hier wird man sich die Frage stellen müssen, ob es volkswirtschaftlich gewollt und gesellschaftsrechtlich zwingend ist, dass Unternehmen durch gezielte Steuergestaltung einerseits durch den Staat zur Verfügung gestellte Ressourcen, wie Infrastruktur und hoch qualifizierte Arbeitskräfte nutzen, und andererseits durch diese Unternehmen selbst kaum Steuern 19
Saßmann, Haftung Steuerplanung; Stenert, Corporate Governance und Besteuerung. Saßmann, Haftung Steuerplanung, S. 31; Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 59 f. 21 Unter einem Stakeholder-Ansatz ist diese Gefahr dagegen gebannt, siehe Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (36). 22 Zur Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten für Vorteile, die der Gesellschaft aufgrund von Pflichtverletzungen entgangen sind, siehe Loritz/Wagner, DStR 2012, 2189 (2190). Zur Haftung für unrealisierte Steuergestaltungen siehe unten Kap. 4, C. I. 3. (S. 240 ff.). 23 Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, S. 9. 20
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Einleitung
an den Staat zurückfließen.24 Jedoch muss man auch das Verhalten der Staaten sehen: Steueroasen oder Niedrigsteuerländer ermöglichen die „aggressive“ Steuergestaltung.25 Ob es sich beim Phänomen der „aggressiven“ Steuergestaltung lediglich um vereinzelte Extremfälle oder eher um den Normalfall handelt, lässt sich aufgrund des Steuergeheimnisses kaum nachvollziehen. Auch wäre es zu kurz gegriffen, hier allein die Staaten oder die Unternehmen als Verantwortliche hinzustellen. Die stark abweichenden Zahlen bzgl. des vermuteten Steuerausfalls26 sind ebenfalls nur sehr eingeschränkt belastbar. Die mediale Berichterstattung über die Luxemburg-Leaks und die Malta-Files zeigt aber, dass das Szenario grundsätzlich real ist.27 Obwohl eine Haftung der Vorstandsmitglieder auch nach den Auffassungen von Schön, Stenert und Saßmann wegen der Business Judgment Rule nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG regelmäßig ausscheiden dürfte, besteht Anlass genug, die Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat im Hinblick auf die Steuergestaltung der Aktiengesellschaft erneut zu untersuchen. Diese Auffassung teilt auch Schön, wenn er schreibt: „Politisch umstritten und gesellschaftsrechtlich wenig geklärt erscheint vor allem der Bereich der ,aggressiven‘ Steuerplanung.“28
Dies muss selbst dann gelten, wenn eine Haftung in der Regel ausscheidet, denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob der Vorstand sich im Rahmen der Steuergestaltung auch mit den Interessen der (Steuer-)Staaten auseinandersetzen muss oder nicht. Der Entscheidungsprozess wird dadurch erheblich verändert, und Vorstände können nur so auf einer verhältnismäßig sicheren Rechtsgrundlage auch Entscheidungen zu Gunsten der (Steuer-)Staaten und damit letztlich zu Gunsten der Allgemeinheit treffen. Konkret sollen deshalb in der Dissertation vor allem folgende Fragestellungen behandelt werden: Besteht eine Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung und wenn ja, wie ist diese inhaltlich ausgestaltet (Kap. 2 u. 3)? Sind die (Steuer-)Staaten Stakeholder der Aktiengesellschaft und hat der Vorstand deren Interessen bei der Steuergestaltung zu berücksichtigen (Kap. 2 u. 3)? Wann verletzt der Vorstand seine Pflicht zur Steuergestaltung, so dass eine gesellschaftsrechtliche 24 Für den Schutz der staatlichen Interessen vor dem Hintergrund der Steuermoral, siehe Hey, zitiert nach: Meck, Ab in die Steueroase, FAS vom 18. August 2013, Nr. 33, S. 19. 25 Schön, Steuer-Spiel, FAZ vom 12. April 2013, Nr. 85, S. 12. 26 Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) spricht von 90 Milliarden Euro, die allein Deutschland pro Jahr an Steuern einbüße. Die Europäische Kommission geht von rund einer Billion Euro für alle EU-Staaten aus. Davon sollen Deutschland 160 Milliarden Euro betreffen, zitiert nach: Meck, Ab in die Steueroase, FAS vom 18. August 2013, Nr. 33, S. 19; auf lediglich 6 Milliarden Euro kommt dagegen Spengel, DB 2015, Nr. 45, 5. Siehe ausführlich zum Ganzen unten Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 27 Dahlkamp/Henrichs/Latsch/Pauly/Schmitt, Wenn kein Postmann klingelt, Der Spiegel vom 20. Mai 2017, Nr. 21, S. 58 (58 ff.); Giesen/Ott/Strozyk/Strunz, Rausgeputzt für das Finanzamt, S. 84 ff.; Obermayer, Luxemburg-Leaks zu Eon; Wüllenweber, Legale Staatsfeinde, stern vom 14. März 2013, Nr. 12, S. 84; so auch die Einschätzung von Grotherr, Ubg 2015, 360 (360). 28 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1095); ebenso Grotherr, Ubg 2015, 360 (371); Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188).
Einleitung
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Haftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG möglich ist (Kap. 4)? Welche Pflichten treffen den Aufsichtsrat im Hinblick auf Steuergestaltungen und wann verletzt er diese (Kap. 5)? Es werden die Thesen vertreten, dass der Vorstand grundsätzlich zur Steuergestaltung verpflichtet ist. Er muss bei seinen diesbezüglichen Entscheidungen die objektivierten Interessen aller Stakeholder der Aktiengesellschaft berücksichtigen. Allerdings kommt ihm dabei ein weiter Ermessensspielraum zu. Bei der Ausübung seines Leitungsermessens muss der Vorstand auch die Interessen der (Steuer-)Staaten als Stakeholder des Unternehmens berücksichtigen. Eine Verletzung dieser Pflicht liegt vor, wenn der Vorstand die Grenzen seines Leitungsermessens nicht einhält. Der Aufsichtsrat hat die Wahrnehmung der Pflicht zur Steuergestaltung durch den Vorstand zu überwachen.
Kapitel 1
Steuergestaltung Bevor den aufgeworfenen Fragen nachgegangen und die vertretenen Thesen überprüft werden können, ist es unerlässlich, zunächst die Begriffe Steuergestaltung (A.) und „aggressive“ Steuergestaltung (B.) zu definieren.
A. Definition Steuergestaltung Ehe man sich dem Phänomen der „aggressiven“ Steuergestaltung zuwenden kann, gilt es zu klären, was Steuergestaltung allgemein bedeutet. Der Begriff der „Steuergestaltung“ ist missverständlich, da der Steuerpflichtige nicht die Steuern, sondern den Sachverhalt gestaltet und damit mittelbar die anfallenden Steuern.1 Schon 1959 hat das BVerfG entschieden, „(…) daß es grundsätzlich jedem Steuerpflichtigen freisteht, seine Angelegenheiten so einzurichten, daß er möglichst wenig Steuern zu zahlen braucht.“2
Anders ausgedrückt: Wenn ich beispielsweise lieber zuhause am Schreibtisch sitze und an meiner Dissertation schreibe, anstatt einer steuerpflichtigen Tätigkeit nachzugehen, nutze ich meine durch das Grundgesetz geschützte Freiheit. Die Finanzverwaltung kann mich nicht zwingen, einer entgeltlichen Tätigkeit nachzugehen, um die Steuereinnahmen zu erhöhen. Dies darf aber nicht interpretiert werden als „Grundrecht auf ,steueroptimierende Gestaltung‘“.3 Ein solches würde die steuerliche Konzeption des Grundgesetzes bestenfalls verklären und schlimmstenfalls ändern. Letzteres wäre der Fall, wenn man diesem Grundrecht einen über die allgemeine Handlungsfreiheit hinausgehenden Regelungsgehalt beimessen würde. Dann müsste dieser den Gesetzgeber nach Art. 1 Abs. 3 GG binden.4 Ferner müsste es möglich sein, dass der Bürger ein Steuergesetz zurückweisen könnte, indem er sich 1
Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (613 f.). BVerfG, Beschluss vom 14. April 1959 – 1 BvL 23, 34/57, Ehegatten-Mitwirkungsverträge, BVerfGE 9, 237 (250); der BFH folgt diesem in ständiger Rechtsprechung, vgl. nur BFH, Urteil vom 24. April 2007 – I R 35/05, BStBl. II 2008, 253 (255); BFH, Urteil vom 29. August 2007 – IX R 17/07, BStBl. II 2008, 502 (503); BFH, Urteil vom 29. Mai 2008 – IX R 77/06, BStBl. II 2008, 789 (789). 3 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39); zum Begriff siehe Lenz/Gerhard, BB 2007, 2429 (2431). 4 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). 2
A. Definition Steuergestaltung
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auf ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes Grundrecht auf steueroptimierende Gestaltung beriefe.5 Der Steuerstaat des Grundgesetzes ist aber anders konzipiert. Eine Pflicht, Steuern zu zahlen, trifft den Bürger nur dann, wenn er einen Steuertatbestand erfüllt.6 Damit greift der Staat zugleich in die allgemeine Handlungsfreiheit des Bürgers ein, was ein Parlamentsgesetz voraussetzt – sog. Gesetzmäßigkeit der Besteuerung.7 Diese statuiert – vorbehaltlich speziellerer Grundrechte – jedenfalls die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.8 Inhaltliche Grenzen setzt das Grundgesetz dem Staat vor allem mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als generellem Maßstab für die gleiche Verteilung der Steuerlast9 und dem Verbot der Erdrosselungssteuer (Art. 14 Abs. 1 GG).10 Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus rein fiskalischen Gründen – sog. Fiskalzwecknormen – ist dagegen nahezu immer gerechtfertigt, weil die Verhältnismäßigkeit kaum überprüft werden kann.11 Dies ergibt sich aus der allgemeinen Funktion von Steuern, den öffentlichen Haushalt zu finanzieren, damit der Staat alle seine Aufgaben wahrnehmen kann, wobei ein Bezug zu einer konkreten öffentlichen Aufgabe nicht hergestellt werden kann (vgl. auf einfachgesetzlicher Ebene § 3 Abs. 1 AO).12 Da der Staat sich grundsätzlich aus der Wirtschaft heraushält, also im Wesentlichen auf staatliche Unternehmen und eine staatlich determinierte Wirtschaft verzichtet, muss er, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können, am privatwirtschaftlichen Erfolg teilhaben.13 In den plastischen Worten von Paul Kirchhof, „die Steuer ist der Preis der Freiheit.“14 Im Hinblick auf diesen Fiskalzweck ist der Eingriff des Staates immer geeignet und gerechtfertigt.15 Das BVerfG behält sich zwar eine Prüfung der Angemessenheit 5
Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (34). 7 BVerfG, Beschluss vom 25. September 1992 – 2 BvL 5/91 u. a., Grundfreibetrag, BVerfGE 87, 153 (169). 8 BVerfG, Beschluss vom 25. September 1992 – 2 BvL 5/91 u. a., Grundfreibetrag, BVerfGE 87, 153 (169). 9 Siehe z. B. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1990 – 1 BvL 20/84 u. a., Steuerfreies Existenzminimum, BVerfGE 82, 60 (89); BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvR 13/05 u. a., Spekulationsfrist, BVerfGE 127, 1 (27 f.). 10 BVerfG, Urteil vom 24. Juli 1962 – 2 BvL 15, 16/61, Fremdrenten, BVerfGE 14, 221 (241); BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97 (115). 11 BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97 (114 ff.). 12 BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97 (115). 13 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (16). 14 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (16). 15 BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97 (115). 6
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Kap. 1: Steuergestaltung
und Zumutbarkeit vor,16 allerdings – soweit ersichtlich – bisher ohne praktische Konsequenzen.17 Der Eingriff des Staates ist aber aufgrund der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung auf den jeweiligen Steuertatbestand beschränkt.18 Der Bürger wiederum ist jedenfalls aufgrund der allgemeinen Handlungsfreiheit frei, seine Angelegenheiten zu gestalten.19 Er kann grundsätzlich entscheiden, ob er sie so gestaltet, dass er einen Steuertatbestand erfüllt oder nicht.20 Er gestaltet regelmäßig, indem er zivilrechtliche Verträge schließt21 oder bewusst nicht schließt.22 Die Möglichkeit zur steuerlichen Gestaltung ist also der bloße Reflex des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und kein Anspruch.23 Was gilt nun für die Aktiengesellschaft als juristische Person? Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Juristische Personen sind die (voll-) rechtsfähigen Gesellschaften und Vereinigungen, wie z. B. die Aktiengesellschaft (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AktG).24 Eine juristische Person, die außerhalb Deutschlands, aber innerhalb der EU ihren Sitz wählt, kann sich nach dem BVerfG ebenfalls auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen.25 Dies folgt aus dem Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV).26 Das Grundrecht, auf das sich die juristische Person beruft, muss seinem Wesen nach auf diese anwendbar sein (Art. 19 Abs. 3 GG). Nach dem BVerfG ist dies nicht der Fall, wenn der Grundrechtsschutz an Eigenschaften anknüpft, die ausschließlich natürlichen Personen wesenseigen sind.27 Beispielsweise kann eine juristische Person nicht Träger der Menschenwürde sein,
16 BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97 (115 f.). Das Gericht hält dies insbesondere dann für möglich, wenn eine zunehmende Steuerbelastung mindestens einer Mehrheit der Steuerpflichtigen auch im internationalen Vergleich als bedrohliche Sonderentwicklung heraussticht. 17 Siehe auch Hey: „Alle Versuche, das Verhältnismäßigkeitsprinzip als wirkmächtige Schranke gegen den Fiskalhunger des Staates zu etablieren, müssen als gescheitert angesehen werden.“ Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 182. 18 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). 19 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). 20 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). 21 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (12 f., 25). 22 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (70). 23 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). 24 BVerfG, Urteil vom 3. Juni 1954 – 1 BvR 183/54, Gesamtdeutscher Block, BVerfGE 3, 383 (391). 25 BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09, Anwendungserweiterung, BVerfGE 129, 78 (94). 26 BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09, Anwendungserweiterung, BVerfGE 129, 78 (94). 27 BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1997 – 1 BvR 2172/97, Aufzeichnungspflicht, BVerfGE 95, 220 (242).
A. Definition Steuergestaltung
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da diese, dem Wortlaut entsprechend, dem Menschen wesenseigen ist.28 Für die vorliegende Arbeit ist entscheidend, dass nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG juristische Personen durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)29, die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)30 und das Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG)31 geschützt werden. Somit gelten in gleicher Weise auch für juristische Personen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und die grundsätzliche Freiheit ihre Angelegenheiten so zu gestalten, dass sie keine oder geringe Steuern zahlen müssen. Der Gesetzgeber schränkt diese Freiheit durch die einzelnen Steuergesetze ein. Einen Sonderfall bildet die allgemeine Missbrauchsklausel des § 42 AO, da der Gesetzgeber alle missbräuchlichen Gestaltungen, durch die Steuergesetze umgangen werden sollen, für unbeachtlich erklärt (§ 42 Abs. 1 Satz 1 AO). Ein Missbrauch liegt nach § 42 Abs. 2 AO vor, „wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Dies gilt nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind.“
Daraus ergibt sich im Umkehrschluss die grundsätzliche Zulässigkeit von Gestaltungen,32 wenn sie nicht nach § 42 Abs. 2 AO missbräuchlich sind.33 Da sich dies aber bereits aus dem Grundgesetz ergibt, ist diese Feststellung rein deklaratorischer Natur. Der Bedeutungsgehalt des § 42 AO ist umstritten. So wird teilweise vertreten: Ob eine missbräuchliche Gestaltung vorliege, lasse sich allein anhand der einschlägigen Steuertatbestände unter Anwendung des Auslegungskanons ermitteln – sog. „Innentheorie“.34 Die Gegenauffassung, der auch der BFH ganz überwiegend folgt, 28
Enders, in: BeckOK GG, Art. 19 Rn. 40 [Stand: November 2017]. BVerfG, Urteil vom 29. Juli 1959 – 1 BvR 394/58, (Großer) Erftverband, BVerfGE 10, 89 (99); BVerfG, Urteil vom 14. Dezember 1965 – 1 BvR 413/60, Kirchenbausteuer, BVerfGE 19, 206 (215). 30 BVerfG, Urteil vom 4. April 1967 – 1 BvR 84/65, BVerfGE 21, 261 (266); BVerfG, Beschluss vom 14. März 2006 – 1 BvR 2087, 2111/03, Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, BVerfGE 115, 205 (229). 31 BVerfG, Urteil vom 20. Juli 1954 – 1 BvR 459/52 u. a., Investitionshilfe, BVerfGE 4, 7 (352); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290. 32 Ratschow, in: Klein, AO, § 42 Rn. 40 und 42; zur grundsätzlichen Zulässigkeit der Steuergestaltung siehe Empfehlung der Kommission vom 6. Dezember 2012 betreffend aggressive Steuerplanung (2012/772/EU), Abl. Nr. L 338 vom 12. Dezember 2012, S. 41 (im Folgenden: Empfehlung 2012/772/EU). 33 Blumers, BB 2013, 2785 (2786 f.); Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste Seite. 34 Fischer, in: HHSp, § 42 AO Rn. 72 ff. [Stand: März 2008]; Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (22 ff.). 29
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Kap. 1: Steuergestaltung
misst § 42 AO einen eigenständigen Regelungsgehalt zu, unter den zu subsumieren sei und der so den jeweiligen Steuertatbestand von außen erweitere – sog. „Außentheorie“.35 Der Begriff der Steuergestaltung kann aber definiert werden, ohne die nachgelagerte Frage zu entscheiden, wann eine Gestaltung missbräuchlich sei. Die missbräuchliche Steuergestaltung ist unstrittig ein Element des Begriffs Steuergestaltung, aber nicht deckungsgleich mit diesem. Zusammenfassend lässt sich der Begriff der Steuergestaltung wie folgt definieren: Steuergestaltung ist die tatsächliche oder rechtliche Gestaltung eines Sachverhalts durch eine natürliche oder juristische Person mit dem Ziel, durch die Anwendung der Steuergesetze auf die Gestaltung im Ergebnis die Steuerlast zu mindern, ganz zu vermeiden oder Steuervorteile zu erlangen.36
B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung In der juristischen Fachliteratur liest man aktuell Sätze wie, „derzeit scheint unklar, was aggressive Steuerplanung ist“37. Aufbauend auf der Definition der Steuergestaltung fragt sich, ob und wie man nun das Phänomen der „aggressiven“ Steuergestaltung definieren kann.
I. „Aggressive“ Steuerplanung oder „aggressive“ Steuergestaltung Zunächst gilt es zu klären, ob sich der öffentliche Diskurs auf „aggressive“ Steuerplanung oder „aggressive“ Steuergestaltung bezieht. Die Begriffe als solche werden in der Literatur synonym verwendet.38 Da die bloße Steuerplanung keine steuerrechtlichen Folgen auslöst oder vermeidet, sondern erst ihre Umsetzung in Form einer Steuergestaltung, ist letzterer Begriff präziser.39 Nachfolgend wird somit, vorbehaltlich direkter Zitate, der Begriff der Steuergestaltung verwendet.
35 BFH, Urteil vom 27. August 1997 – I R 8/97, BStBl. II 1998, 163 (164 f.); BFH, Urteil vom 8. Mai 2003 – IV R 54/01, BStBl. II 2003, 854 (856 ff.); BFH, Urteil vom 9. Oktober 2013 – IX R 2/13, BStBl. II 2014, 527 (529 ff.); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1151). 36 So im Ergebnis auch Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (39). Schön definiert ausgehend vom Steuertatbestand ohne Perspektivwechsel zum Gestaltenden. 37 Blumers, BB 2013, 2785 (2785). 38 So im Ergebnis auch Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste Seite; zustimmend Blumers, BB 2013, 2785 (2786). 39 Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste Seite; zustimmend Blumers, BB 2013, 2785 (2786).
B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung
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II. Abgrenzung der „aggressiven“ Steuergestaltung zu Steuerstraftaten, Steuerordnungswidrigkeiten und Tax Compliance Als erste inhaltliche Annäherung an den Begriff der „aggressiven“ Steuergestaltung kann festgehalten werden, dass nach einhelliger Auffassung in der Literatur jedenfalls die Steuerhinterziehung nach § 370 AO eine Grenze für jede Steuergestaltung bildet.40 Was verboten ist, darf nicht gestaltet werden.41 Dasselbe muss folglich im Hinblick auf sämtliche Steuerstraftaten (§§ 369 ff. AO) und Steuerordnungswidrigkeiten (§§ 377 ff. AO) gelten. Des Weiteren ist auch die Einhaltung steuerrechtlicher Pflichten der Aktiengesellschaft und ihrer Unternehmensleiter (Tax Compliance) kein Gegenstand über den für Steuergestaltungen disponiert werden dürfte.42 Steuerrechtliche Pflichten der Aktiengesellschaft oder ihrer Organe, wie beispielweise die Entrichtung der Steuern aus den Mitteln der Gesellschaft (§ 34 Abs. 1 Satz 2 AO), sind zu erfüllen.43 Vorstand und Aufsichtsrat ist es auch dann verboten, gegen das Gesetz zu verstoßen, wenn dies für die Aktiengesellschaft im Einzelfall nützlich sein kann.44 Steuergestaltung grenzt sich von Tax Compliance dadurch ab, dass durch die Gestaltung des Sachverhalts Pflichten des Steuerpflichtigen und seiner Vertreter mangels Tatbestandserfüllung gar nicht oder nicht im selben Umfang entstehen. Steuerrechtliche Handlungsgebote oder -verbote der Aktiengesellschaft bzw. ihrer Unternehmensleiter, die durch eine Tatbestandsverwirklichung ausgelöst werden, bilden dagegen eine absolute Grenze für die Steuergestaltung. Wenn die Tatbestandsverwirklichung aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über die Rechtsoder Tatsachenlage strittig ist, müssen die Unternehmensleiter aber das Interesse des Unternehmens wahren.45 Dieses kann auch in einer finanzgerichtlichen Auseinan-
40 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (15); Schmitz/Schneider, NZG 2016, 561 (564); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1095); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 44. 41 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (15); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1095); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 44. 42 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (4 und 9); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 43 ff.; im Ergebnis auch Grotherr, Ubg 2015, 360 (365 – Fn. 29); der Begriff der Tax Compliance ist nicht abschließend geklärt. Für ein weiteres Verständnis, als es vorliegend vertreten wird, sind Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (15); Streck/Binnewies, DStR 2009, 229 (229 ff.). Zur Legalitätspflicht des Vorstands siehe unten Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 43 Einen Überblick über die steuerlichen Pflichten von Aktiengesellschaft und Vorstand gibt Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 668 ff.; ausführlich zur diesbezüglichen Haftung Hick, in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, § 36 Rn. 4 ff. 44 BGH, Urteil vom 27. August 2010 – 2 StR 111/09, NJW 2010, 3458 (3460 – Rn. 29); BGH, Beschluss vom 13. September 2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88 (92 – Rn. 37); Hopt/ Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 134; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 36. 45 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 44.
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Kap. 1: Steuergestaltung
dersetzung bestehen.46 Die gesetzlich nicht vorgeschriebene Errichtung eines Tax Compliance-Management-Systems (CMS)47, um das Risiko von Verstößen gegen steuerrechtliche Pflichten zu reduzieren, kann zudem ausweislich des BMFSchreibens vom 23. Mai 2016 zu § 153 AO ein Indiz gegen eine vorsätzliche Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung sein.48
III. Das Verhältnis von „aggressiver“ Steuergestaltung zur missbräuchlichen Steuergestaltung § 42 AO Ausgehend von der missbräuchlichen Steuergestaltung fragt sich: Worin besteht der Unterschied zum Begriff der „aggressiven“ Steuergestaltung? Die Europäische Kommission definiert den Begriff im zweiten Erwägungsgrund ihrer „Empfehlung betreffend aggressive Steuerplanung 2012/772/EU“ wie folgt: „Aggressive Steuerplanung besteht darin, die Feinheiten eines Steuersystems oder Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehr Steuersystemen auszunutzen, um die Steuerschuld zu senken.“49
Legt man diese Definition zugrunde, dann ist eine „aggressive“ Steuergestaltung zugleich eine missbräuchliche Steuergestaltung, wenn der Tatbestand des § 42 Abs. 1 S. 1 AO erfüllt ist. Das gilt jedenfalls, wenn man der Außentheorie folgt, wonach § 42 AO einen eigenständigen subsumtionsfähigen Regelungsgehalt hat.50 Der Innentheorie, die in § 42 AO lediglich eine Auslegungsregel für den jeweils einschlägigen Steuertatbestand sieht, ist die Subsumtion unter § 42 AO versagt.51 Die Auffassungen sind eng mit dem Streit verknüpft, ob ein steuerrechtliches Analogieverbot52 existiert.53 Denn wenn man mit der Innentheorie eine Erweiterung durch § 42 AO ablehnt, kann man unter der Prämisse einer effektiven Missbrauchsbekämpfung nicht an der Wortlautgrenze die teleologische Auslegung beenden.54 Der Streit muss – einmal mehr – entschieden werden.
46
Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 44. Siehe dazu vor dem Hintergrund des BMF-Schreibens vom 23. Mai 2016, BStBl. I 2016, 490, Erdbrügger/Jehke, BB 2016, 2455 (2457 ff.). 48 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 23. Mai 2016, BStBl. I 2016, 490, Ziffer 2.6. 49 Empfehlung 2012/772/EU, Abl. Nr. L 338 vom 12. Dezember 2012, S. 41, 41. 50 Siehe dazu mit Nachweisen oben Kap. 1, A. (S. 28 ff.). 51 Siehe dazu mit Nachweisen oben Kap. 1, A. (S. 28 ff.). 52 Siehe dazu die Darstellung bei Tipke, StRO, S. 177 ff. 53 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 54 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 47
B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung
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1. Innen- vs. Außentheorie – Meinungsstand Von den Vertretern der Außentheorie wird zunächst der Wortlaut bzw. die Norm selbst angeführt.55 § 42 AO sei nun einmal geltendes Recht, unter das folglich auch zu subsumieren sei.56 Dagegen wird eingewandt, es handle sich nur um eine Auslegungsregel.57 Dem wird wiederum entgegengehalten, dass es kaum möglich sei, eine bloße Auslegungsregel von einer Norm mit eigenem Regelungsgehalt zu unterscheiden.58 Historisch geht § 42 AO auf § 5 RAO aus dem Jahre 1919 zurück. Seit der Einführung dieser Norm ist ihre Bedeutung umstritten.59 So vertrat damals Becker60 im Wesentlichen die Position der heutigen Innentheorie, während Hensel61 im Kern für die Außentheorie eintrat. Der Blick auf die Anfänge der allgemeinen Missbrauchsklausel liefert somit nicht die Lösung des Streits, sondern zeigt seine Wurzeln. Die jüngere Vergangenheit wird als hilfreicher angesehen.62 Nach überwiegender Ansicht hat sich der Gesetzgeber mit dem reformierten § 42 AO zur Außentheorie bekannt.63 Dies ergebe sich zunächst aus den Tatbestandsmerkmalen der unangemessenen rechtlichen Gestaltung und der außersteuerlichen Gründe.64 Weiter wird angeführt, dass man kaum erklären könne, warum § 42 AO nur zu Lasten des Steuerpflichtigen wirke, wenn dieser eine bloße Auslegungsregel wäre.65 Ferner sei das zunächst geplante Tatbestandsmerkmal der Ungewöhnlichkeit einer Gestaltung nicht übernommen worden und folglich orientiere sich der Gesetzgeber an der bisherigen Rechtsprechung des BFH.66 Abschließend wird angeführt, dass der Gesetzgeber im Jahr 2007 an der Subsidiaritätsklausel des § 42 Abs. 1 Satz 2 AO festgehalten habe und die Innentheorie diese nicht erklären könne.67 Für die Innentheorie kann ein rechtsvergleichendes Argument angeführt werden. In einigen Staaten gibt es keinen Missbrauchstatbestand, sodass die Lösung miss55
Hahn, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (67). Hahn, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (67). 57 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (22). 58 Hahn, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (67). 59 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 60 Becker, Reichsabgabenordnung (2. Auflage), § 5 Anm. 3. 61 Hensel, in: FG Zitelmann, S. 217 (517 ff.). 62 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 63 Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, vor § 42 AO Rn. 8 ff. [Stand: Juli 2017]; Hahn, DStZ 2008, 483 (484); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147); anders dagegen Fischer, in: HHSp, § 42 AO Rn. 74 [Stand: März 2008]. 64 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147); Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (58 ff.). 65 Hahn, DStZ 2008, 483 (484); zustimmend Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 66 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 67 Hahn, DStZ 2005, 183 (186); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 56
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Kap. 1: Steuergestaltung
bräuchlicher Gestaltungen zwangsläufig durch Auslegung erfolgen müsse.68 Dagegen wird eingewendet, die Rechtspraxis in diesen Ländern zeige aber gerade das Bedürfnis nach einem Missbrauchstatbestand.69 Immer mehr Länder würden daher eine Missbrauchsklausel entsprechend der deutschen einführen.70 Die Vertreter der Innentheorie verbinden – bei einer Folgenbetrachtung – die Außentheorie mit der Gefahr einer zunehmend extensiven Anwendung der schon jetzt oft ungenau formulierten Steuergesetze.71 § 42 AO könne als Freifahrtschein von Finanzverwaltung und Rechtsprechung verwendet werden, um Missbräuche zu bejahen, und gehe damit zu Lasten der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung.72 Dem wird von der Gegenauffassung entgegengehalten, jedenfalls die Rechtsprechung gehe verantwortungsvoll mit § 42 AO um und die Reformen des § 42 AO seien gerade der Versuch des Gesetzgebers gewesen, diese Haltung zu ändern.73 Das Steuerrecht bedürfe als fiskalisches Eingriffsrecht besonders einer tatbestandlichen Begrenzung.74 Zwar stelle § 42 AO zunächst eine (gerechtfertigte) Erweiterung des Eingriffs dar, die tatbestandliche Fixierung diene aber umgekehrt auch der Gesetzmäßigkeit und der Steuerplanungssicherheit. Durch die tatbestandliche Fixierung würden nämlich allgemeine Kriterien normiert, nach denen eine Gestaltung als missbräuchlich qualifiziert werden könne oder eben nicht missbräuchlich sei.75 Nach der Innentheorie sei dagegen unklar, woraus Erweiterungen der Steuertatbestände im Wege der Auslegung und Rechtsfortbildung abzuleiten seien.76 Der Fiskalzweck sei aufgrund des unbegrenzten fiskalischen Interesses des Staates völlig ungeeignet.77 Der Gleichheitssatz tauge nicht, denn er verpflichte nur den Gesetzgeber Gleichheitsverstöße zu vermeiden, sei aber kein Besteuerungstatbestand.78 Der Folgerichtigkeitsgrundsatz sei als Maßstab in der Regel zu abstrakt.79 Der Gesetzgeber bleibe in einigen Steuergebieten ein kohärentes System schuldig, an das für eine folgerichtige Auslegung angeknüpft werden könnte.80 Weite Teile des Steuerrechts
68
Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 119. Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 119. 70 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1151). 71 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (22). 72 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (22). 73 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1146 und 1152). 74 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147); Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (33 ff.). 75 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 119. 76 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147 f.). 77 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147); Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (33 f.). Siehe dazu oben Kap. 1, A. (S. 28 ff.). 78 Ausführlich Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (59); zustimmend Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 79 Ausführlich Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (36 ff.); zustimmend Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147 f.). 80 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 69
B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung
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seien somit analogieunfähig.81 Neben dem Einkommen- und Erbschaftsteuerrecht sei dies vor allem bei den Verbrauch- und Verkehrsteuern, die weniger systematisch aufgebaut seien, der Fall.82 Die mit der Innentheorie einhergehenden Unsicherheiten seien zusammenfassend erheblich größer als die bei den Tatbestandsmerkmalen des § 42 AO in ihrer heutigen Form, die durch Rechtsprechung und Literatur präzisiert worden seien.83 Darüber hinaus sprächen von verfassungsrechtlicher Seite der Gesetzesvorbehalt und der Bestimmtheitsgrundsatz gegen die Analogie im Steuerecht und damit gegen die Innentheorie.84 2. Stellungnahme Hier kann und soll nicht der Anspruch erhoben werden, den seit der Einführung des § 5 RAO im Jahr 1919 bestehenden Streit abschließend zu klären.85 Teilweise wird der Streit bereits als überholt bezeichnet86 oder die praktische Bedeutung des Streits als gering abgetan87. Dem ist nur insoweit zuzustimmen, als nach unbestrittener Auffassung für die Beurteilung, ob eine missbräuchliche Gestaltung vorliegt, immer auch die konkreten zivil- und steuerrechtlichen Tatbestände in den Blick genommen werden müssen.88 Rein abstrakt lässt sich der Missbrauch regelmäßig nicht präzise genug bestimmen.89 Praktische Bedeutung hat der Streit aufgrund der erforderlichen Einschränkung des Steuerrechts als Eingriffsrecht bei gleichzeitiger Erforderlichkeit einer „Missbrauchsabwehr“90 aber auch heute noch, wie skizziert wurde. Die Missbrauchsabwehr kann allein im Wege der Auslegung nicht gewährleistet werden, weil – richtigerweise – nicht nur das Analogieverbot anzuerkennen ist, sondern auch ein Auslegungsmaßstab für eine Analogie oft fehlt. Es gilt nach wie vor, was bereits Hensel feststellte: „Die echte Steuerumgehung fängt genau dort an, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt.“91
81
Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 83 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1151). 84 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (41 ff.); zustimmend Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 85 So auch Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147). 86 Drüen, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (64). 87 Ratschow, in: Klein, AO, § 42 Rn. 12 f. 88 Drüen, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (64); Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 9 (22 ff.); Ratschow, in: Klein, AO, § 42 Rn. 12 f. 89 Kirchhof, in: DStJG 33 (2010), S. 64 (68). 90 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1149). 91 Hensel, in: FG Zitelmann, S. 217 (244). 82
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Kap. 1: Steuergestaltung
§ 42 AO beweist beispielsweise in Fällen, in denen der Steuerpflichtige eine Gestaltung nach einem Gesamtplan92 vornimmt, seine Daseinsberechtigung.93 In diesen Fällen erfüllt die einzelne Handlung im Rahmen des Gesamtplans des Steuerpflichtigen weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn und Zweck den Tatbestand der einzelnen umgangenen Norm.94 Bewertet man aber den Gesamtplan, also alle Handlungen, die nach dem Willen des Steuerpflichtigen in einem sachlichen Gestaltungszusammenhang stehen, kann sich eine bewusste Umgehung des Steuergesetzes ergeben.95 § 42 AO ermöglicht es in diesen Fällen, eine Umgehung der Steuergesetze festzustellen und den Sachverhalt steuerrechtlich angemessen zu behandeln.96 Konkrete Beispiele sind die Fälle der Überkreuzvermietung.97 Es besteht somit aber zugleich – zumindest die abstrakte – Gefahr, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung aufgeweicht wird.98 Finanzverwaltung und Finanzgerichte müssen § 42 AO also mit Fingerspitzengefühl anwenden. Dies erfordert vorrangig die Prüfung der zivilrechtlichen Wirksamkeit, die Auslegung des einschlägigen Steuertatbestands sowie ggf. die Anwendung einer speziellen Missbrauchsvorschrift.99 Durch dieses Vorgehen wird in einem gewissen Rahmen auch der Innentheorie Rechnung getragen. Unabhängig davon muss im Ergebnis der Außentheorie zugestimmt werden, insbesondere weil der Gesetzgeber sich – nach zutreffender Auffassung – mit der Neufassung des § 42 AO eindeutig zur Außentheorie bekannt hat. An die Außentheorie knüpft nun ein Ansatz in der Literatur zur Definition der „aggressiven“ Steuergestaltung an. Nachfolgend soll der Meinungsstand zur Definition der „aggressiven“ Steuergestaltung dargestellt und dazu Stellung genommen werden.
IV. Meinungsstand Der Ansatz in der Literatur, der seine Definition der „aggressiven“ Steuergestaltung auf die Außentheorie stützt, definiert den Begriff rein steuerrechtlich. Die Vertreter sehen die Begriffe der missbräuchlichen und „aggressiven“ Steuergestal92
BFH, Urteil vom 18. Januar 2001 – IV R 58/99, BStBl. II 2001, 393 (792); BFH, Urteil vom 18. Dezember 2001 – VIII R 10/01, BStBl. II 2002, 463 (464); BFH, Urteil vom 18. März 2004 – III R 25/02, BStBl. II 2004, 787; aus der Literatur exemplarisch: Offerhaus, FR 2011, 878; Spindler, DStR 2005, 1. 93 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 123. 94 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 123. 95 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 123. 96 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5 Rn. 123. 97 Ausführlich Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 98 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (61). 99 So mit ausführlicher Darstellung Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1149 f.).
B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung
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tung als identisch an.100 Eine „aggressive“ Steuergestaltung liege dementsprechend vor, wenn der Tatbestand des § 42 AO erfüllt sei.101 Steuergestaltungen, die nicht missbräuchlich sind, seien folglich rechtlich zulässig, sodass der Begriff der „aggressiven“ Steuergestaltung keinen eigenen rechtlichen Gehalt habe.102 Nach einem zweiten Ansatz muss die steuerrechtliche Perspektive um eine gesellschaftsrechtliche ergänzt werden.103 Neben der Frage der steuerrechtlichen Zulässigkeit wird also primär jene nach der gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit „aggressiver“ Steuergestaltung durch die Unternehmensleitung104 gestellt.105 Die Vertreter dieses Ansatzes setzen sich damit auseinander, ob die Unternehmensleitung zu „aggressiver“ Steuergestaltung verpflichtet, berechtigt oder ob sie ihr verboten ist.106 Unabhängig davon zu welchem Ergebnis man bzgl. der Pflichten der Unternehmensleitung gelangt, muss nach diesem Ansatz unter dem Begriff „aggressive“ Steuergestaltung mehr verstanden werden als missbräuchliche Steuergestaltung. Dies ergibt sich, wenn man die beiden wesentlichen Ansichten zur gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit von „aggressiver“ Steuergestaltung anwendet und fingiert, dass „aggressive“ und missbräuchliche Steuergestaltung identisch sind. Nach der einen Ansicht muss die Unternehmensleitung im Interesse der Aktionäre einen möglichst hohen Gewinn nach Steuern erzielen.107 Dieses Interesse der Aktionäre steht im Widerspruch zur Vornahme einer missbräuchlichen Steuergestaltung. Denn diese wäre unwirksam und würde zu keinem Gewinn und im Verhältnis zu einer wirksamen Steuergestaltung zu einem Verlust führen. Nach der anderen Ansicht hätte die Unternehmensleitung dagegen die Möglichkeit, im Interesse der übrigen Stakeholder der Aktiengesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen auf „aggressive“ Steuergestaltung zu verzichten. Wenn die Steuergestaltung immer zugleich auch missbräuchlich wäre, wäre diese Auffassung letztlich nahezu bedeutungslos,108 denn die Möglichkeit zum Verzicht würde sich aufgrund der Unwirksamkeit der Gestaltung am Ende nie auswirken. 100 101
Seite. 102
Blumers, BB 2013, 2785 (2786 f.); Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste Seite. So im Ergebnis Blumers, BB 2013, 2785 (2786 f.); Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste
Blumers, BB 2013, 2785 (2786 f.); Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste Seite. Blumers, BB 2013, 2785 (2787); Lohse, BB 2013, Nr. 37, Die erste Seite. 104 Der Begriff der Unternehmensleitung wird hier als Oberbegriff für Vorstand und Aufsichtsrat verwendet. Zu der Frage, ob beide Leitungsorgane sind, siehe die Darstellung bei Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 2; dagegen Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 4. 105 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (10 ff.); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1095 ff.). 106 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1096 f.). 107 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1096 ff.). 108 Abgesehen von etwaigen Reputationsschäden und Ansprüchen auf steuerrechtliche Nebenleistungen, die durch eine nicht Vornahme der Steuergestaltung hätten verhindert werden können. 103
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Kap. 1: Steuergestaltung
V. Stellungnahme Der gesellschaftsrechtliche Definitionsansatz entspricht der Situation der Unternehmensleitung, die zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung regelmäßig nicht sicher sagen kann, ob eine Steuergestaltung missbräuchlich ist oder nicht, zumal eine rechtsverbindliche Entscheidung den Finanzbehörden bzw. Gerichten vorbehalten ist. Ferner spricht für eine abweichende gesellschaftsrechtliche Definition der „aggressiven“ Steuergestaltung die Verortung von § 42 AO im Außenverhältnis, während die Frage nach der gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit einer Steuergestaltung das Dürfen im Innenverhältnis betrifft. Man wird aus gesellschaftsrechtlicher Sicht „aggressive“ Steuergestaltung also abweichend von missbräuchlicher Steuergestaltung im Sinne von § 42 AO definieren müssen.109 Eine Definition des mit „aggressiver“ Steuergestaltung beschriebenen Phänomens sollte des Weiteren auf einen neutraleren Begriff als „aggressiv“ abstellen. Wie noch aufgezeigt werden wird, ist das Phänomen zu komplex für einseitige Schuldzuweisungen.110 Hier wird der Begriff der überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltung gewählt.111 Überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen fallen unter den Oberbegriff der Steuergestaltung. Sie können definiert werden als Gestaltungen, bei denen ein finanzieller Vorteil nicht oder zumindest nicht überwiegend aufgrund einer wertschöpfenden betrieblichen Tätigkeit, sondern durch die legale Ausnutzung der geltenden Steuergesetze erzielt werden soll.112 Mit anderen Worten: In einer Welt ohne Steuern würde die Unternehmensleitung die Gestaltung in der Regel nicht vornehmen.113 Steuerhinterziehungen im Sinne des § 370 AO sind illegal und daher per Definition ausgeschlossen.114 Es kann sich aber um missbräuchliche Steuergestaltungen im Sinne des § 42 AO und vergleichbarer Missbrauchsabwehrklauseln handeln, weil diese nicht illegal, sondern lediglich unwirksam sind.115 § 42 AO verbietet nicht zu gestalten, sondern verhindert als Konkretisierung der allgemeinen Gesetzesumgehung die Umgehung des Steuergesetzes.116 Entsprechend dem Wortlaut kann das 109 Unabhängig davon hat § 42 AO eine Ausstrahlungswirkung, die der Vornahme allzu gewagter Gestaltungen entgegenwirken kann, so – unter Verweis auf Hensel – Hüttemann, zitiert nach: Schüler-Täsch/Schulze, DStR 2015, 1137 (1145). 110 Siehe unten Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (c) (S. 141 ff.). 111 Siehe zu diesem Ansatz insgesamt Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 ff.). Schön beschreibt den Begriff „aggressive“ Steuerplanung aber etwas enger, siehe S. 1095. 112 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090 f.). 113 Siehe zu diesem Aspekt der aggressiven Steuergestaltung Grotherr, Ubg 2015, 360 (363). 114 Siehe dazu oben Kap. 1, B. II. (S. 33 f.). 115 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1088); insoweit jedenfalls missverständlich Schmitz/Schneider, NZG 2016, 561 (564). Sie setzen missbräuchliche Steuervermeidung mit Steuerhinterziehung gleich. 116 BFH, Urteil vom 19. März 1980 – II R 23/77, BStBl. II 1980, 598 (599 f.); BFH, Urteil vom 14. Mai 1986 – II R 22/84, BStBl. II 1986, 620 (620 f.); Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO,
B. Definition „aggressive“ Steuergestaltung
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Steuergesetz gar nicht umgangen werden (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 1 AO). Es handelt sich daher nicht um ein Handlungsverbot.117 Überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen können entsprechend der zitierten Definition der EU-Kommission die Feinheiten eines Steuersystems oder Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehr Steuersystemen ausnutzen (tax arbitrage), um die Steuerschuld zu senken und so einen finanziellen Vorteil zu erlangen. Häufig werden Rechte an Immaterialgütern, Marken, Lizenzen und Patente, oder konzerninterne Verrechnungspreise verwendet.118 Die mangelnde Abstimmung zwischen verschiedenen Steuersystemen wird genutzt, um doppelte Aufwandsabzu¨ ge, doppelte Verlustverrechnungen, doppelte Nichtbesteuerungen von Einku¨ nften oder eine deutlich reduzierte Besteuerung zu erzielen.119 Abzugrenzen sind überwiegend steuerrechtlich motivierte von überwiegend betrieblich motivierten Gestaltungen, z. B. einer Gestaltung zur Senkung der Produktionskosten, mit denen zumindest überwiegend ein finanzieller Vorteil durch eine wertschöpfende betriebliche Tätigkeit erzielt werden soll.120 Überwiegend betrieblich motivierte Gestaltungen sind also sekundär auch steuerrechtlich motiviert. Selbstredend kann das Phänomen der „aggressiven“ Steuergestaltung auch enger gefasst werden,121 aber für den hier verfolgten Zweck, die Pflichten der Unternehmensleitung im Hinblick auf Steuergestaltungen im Allgemeinen zu konkretisieren, ist dies nicht erforderlich. Aufbauend auf die zugrunde gelegten Definitionen des Oberbegriffs Steuergestaltung und der Unterbegriffe überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltung sowie überwiegend betrieblich motivierte Gestaltung soll nachfolgend näher spezifiziert werden, welche aktienrechtlichen Pflichten die Unternehmensleitung im Hinblick auf die Steuergestaltung treffen.
§ 42 AO Rn. 1 [Stand: Juli 2016]; Fischer, in: HHSp, § 42 AO Rn. 135 [Stand: März 2008]; Ratschow, in: Klein, AO, § 42 Rn. 6; Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1088); Seibt, DB 2015, 171 (175). 117 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1088). 118 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 8; für ausführliche Beispiele siehe OECD, Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung – Situationsbeschreibung und Lösungsansätze, S. 87 ff.; speziell zu Verrechnungspreisen siehe Jochum, ZRP 2015, 115. 119 Grotherr, Ubg 2015, 360 (361). 120 Grotherr, Ubg 2015, 360 (362 f.); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090). 121 Siehe beispielsweise die Beschreibung von Grotherr, Ubg 2015, 360 (363 f.). Er sieht die Umschreibung des Phänomens der aggressiven Steuergestaltung durch Tatbestandsmerkmale jedoch selbst als „juristisch nahezu unlösbares Unterfangen“ an, siehe S. 360.
Kapitel 2
Die Pflicht zur Steuergestaltung Nachfolgend wird nun untersucht, ob die Unternehmensleitung der Aktiengesellschaft eine Pflicht zur Steuergestaltung trifft. Dafür ist zunächst zu klären, welches Organ der Aktiengesellschaft die Pflicht zur Steuergestaltung wahrnehmen müsste (A.). Darauf aufbauend wird die Pflicht zur Steuergestaltung aus dem Aktiengesetz abgeleitet und konkretisiert (B.).
A. Steuergestaltung als Vorstandsoder Aufsichtsratspflicht Ob eine Pflicht zur Steuergestaltung den Vorstand oder den Aufsichtsrat verpflichten würde, ist in der Literatur umstritten. Die Hauptversammlung wird dagegen – soweit ersichtlich – von Niemandem für zuständig gehalten.
I. Steuergestaltung als Pflicht des Aufsichtsrats Allein Pöllath sieht – ohne weitere Begründung – den Aufsichtsrat dazu berufen, die wesentlichen Grundzüge der Steuergestaltung zu bestimmen.1 Unter Grundzügen der Steuergestaltung versteht Pöllath Vorgaben bezüglich der Risikobereitschaft des Unternehmens im Hinblick auf Steuergestaltungen.2 Der Vorstand stünde dann in der Pflicht, die vom Aufsichtsrat vorgegebenen Grundzüge der Steuergestaltung gegebenenfalls zu konkretisieren und umzusetzen.
1
Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (11 f.); dies ausdrücklich ablehnend Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1094 – Fn. 34); für eine kooperative Festlegung der Steuerstrategie durch Aufsichtsrat und Vorstand Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 129. 2 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (11).
A. Steuergestaltung als Vorstands- oder Aufsichtsratspflicht
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II. Steuergestaltung als Pflicht des Vorstands Die herrschende Lehre sieht die Steuergestaltung als Pflicht des Vorstands an.3 Dies wird insbesondere mit dessen Funktion in der AG als Leitungs- und Geschäftsführungsorgan begründet.4 Der Gesetzgeber betitelt den vierten Teil des ersten Buches des Aktiengesetzes mit „Verfassung der Aktiengesellschaft“. Verfassung in diesem Sinne meint den Kernbestand der Normen, die Regelungen treffen bezüglich der für die AG handelnden Organe (§§ 76 ff., 95 ff. AktG) und bezüglich der Entscheidung der Aktionäre durch Hauptversammlungsbeschluss (§§ 118 ff., 142 ff. AktG).5 Es geht insbesondere um die Rechte und Pflichten von Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung sowie ihr Verhältnis zueinander.6 Die Verfassung der Aktiengesellschaft beginnt mit § 76 AktG. Dieser überträgt dem Vorstand die Leitung der Aktiengesellschaft in eigener Verantwortung. Danach hat der Vorstand sowohl das Recht als auch die Pflicht, die Gesellschaft zu leiten – sog. „Pflichtrecht“.7 Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG ist er zur Geschäftsführung befugt. Von der ganz herrschenden Meinung wird die Leitung als besonderer Teil der Geschäftsführung angesehen.8 Der Aufsichtsrat hat die vergangene und die zukünftige Geschäftsführung durch den Vorstand zu überwachen (§ 111 Abs. 1 AktG).9 Sie kann ihm aber nicht übertragen werden (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG). Allerdings können ihm für bestimmte Arten von Geschäften aufgrund der Satzung oder eigenen Beschlusses Zustimmungsvorbehalte eingeräumt sein (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG).10 Nach herrschender Meinung werden die Rechte des Aufsichtsrats aber durch das Leitungsermessen des Vorstands als Ausfluss seines eigenverantwortlichen Leitungsrechts begrenzt.11 Insbesondere dürfe der Aufsichtsrat Zustimmungsvorbehalte oder die Abberufung aus wichtigem Grund (§ 84 Abs. 3 AktG) nicht generell in3 Saßmann, Haftung Steuerplanung, S. 119 ff.; Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 106. 4 Saßmann, Haftung Steuerplanung, S. 116 ff.; Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 106. 5 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 4. 6 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, vor § 76 Rn. 1. 7 BGH, Urteil vom 7. März 1994 – II ZR 52/93, BGHZ 125, 239 (246); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 10; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 4; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 14; zum Begriff „Pflichtrecht“ siehe Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 8. 8 Drygala/Staake/Szalai, Kapitalgesellschaftsrecht, S. 415; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 4. Siehe dazu ausführlich unten Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 9 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (128); zur präventiven Überwachung siehe BGH, Urteil vom 25. März 1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127 (129 f.); zur nachgelagerten Überwachung siehe BGH, Urteil vom 25. März 1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127 (129); BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (255). Siehe dazu ausführlich und mit weiteren Nachweisen unten Kap. 5, B. II. (S. 254 ff.). 10 Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 11 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (128 f.). Siehe dazu ausführlich und mit weiteren Nachweisen unten Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.) und Kap. 5, B. II. 1. (S. 257 f.).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
strumentalisieren, um seine Zielvorstellungen gegenüber denen des Vorstands durchzusetzen.12 Die Ausübung des einzelnen Zustimmungsvorbehalts wiederum liegt aber nach ganz herrschender Meinung grundsätzlich im unternehmerischen Ermessen des Aufsichtsrats, wobei er nicht an die Ermessensausübung des Vorstands gebunden ist.13 Damit der Aufsichtsrat seine Überwachungspflicht wahrnehmen kann, muss der Vorstand ihm gemäß § 90 Abs. 1 AktG berichten. Aus dem Katalog der Berichtspflichten des § 90 Abs. 1 AktG wird von der herrschenden Meinung die Aufsichtsratspflicht zur präventiven Überwachung abgeleitet, die in Form einer laufenden Beratung des Vorstands zu realisieren ist.14 Die Hauptversammlung kann über Fragen der Geschäftsführung nur entscheiden, wenn der Vorstand es verlangt (§ 119 Abs. 2 AktG) oder ausnahmsweise eine ungeschriebene Zuständigkeit besteht.15 Aus diesem Verständnis der Verfassung der Aktiengesellschaft ergibt sich für die herrschende Lehre die Steuergestaltung als Vorstandspflicht.16 Des Weiteren wird dies auch mit der enormen Bedeutung von Steuergestaltungen für den Unternehmensgewinn (nach Steuern) begründet.17
III. Stellungnahme Vor dem Hintergrund der Verfassung der Aktiengesellschaft ist der herrschenden Meinung zuzustimmen. Der Gesetzgeber hat sich dazu entschieden, bereits im ersten Absatz der ersten Norm des Teils über die Verfassung der Aktiengesellschaft die eigenverantwortliche Leitung des Vorstands zu regeln. Diese exponierte Stellung unterstreicht der Wortlaut: Der Vorstand hat seine Geschäftsführungspflicht „unter eigener Verantwortung“, das heißt im Verhältnis zum Aufsichtsrat weisungsfrei, wahrzunehmen (§§ 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 Satz 1 AktG).18 Wie der Name „Aufsichtsrat“ bereits verdeutlicht, ist dessen Kernaufgabe dagegen die Aufsicht im Sinne der Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG). Wenn sich Steuergestaltungen erheblich auf die Lage und die Ren12
Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (128 f.); Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 16 ff. 13 Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 127; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 111 Rn. 111; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 72. 14 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (128). 15 Zu den Voraussetzungen einer ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit siehe BGH, Urteil vom 25. Februar 1982 – II ZR 174/80, Holzmüller, BGHZ 83, 122 (130 ff.); BGH, Urteil vom 26. April 2004 – II ZR 155/02, Gelantine, BGHZ 159, 30 (36 ff.). 16 Saßmann, Haftung Steuerplanung, S. 116 ff.; Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 106. 17 Saßmann, Haftung Steuerplanung, S. 20 und 119 ff.; Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 106. 18 BGH, Urteil vom 5. Mai 2008 – II ZR 108/07, NJW-RR 2008, 1134 (1135 – Rn. 13); sehr deutlich unter gleichzeitiger Bezugnahme auf jüngere Reformansätze zur Verbesserung der Zusammenarbeit Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 4.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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tabilität der Gesellschaft auswirken können oder auswirken, trifft den Vorstand diesbezüglich eine Berichtspflicht (vgl. § 90 Abs. 1 Nr. 2 – 4 AktG). Inwieweit der Aufsichtsrat in Bezug auf Steuergestaltungen Zustimmungsvorbehalte beschließen und ausüben kann oder sogar muss, wird noch thematisiert werden.19 Dieses bloße Vetorecht ändert aber ebenso wenig wie die Personalkompetenz des Aufsichtsrats etwas an der grundsätzlichen Zuständigkeit des Vorstands für die Leitung und Geschäftsführung der Aktiengesellschaft. Eine Pflicht zur Steuergestaltung wäre demnach also grundsätzlich dem Vorstand zuzuordnen. In anderen Worten: Wenn eine solche Pflicht besteht, dann muss der Vorstand – vorbehaltlich etwaiger Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Aufsichtsrats – über das Ob und Wie einer Steuergestaltung entscheiden oder dies rechtmäßig delegieren20. Von der Frage des Pflichtigen zu trennen, ist die noch zu behandelnde Frage des Inhalts der Pflicht zur Steuergestaltung. Insoweit ist eine transparente und enge Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat sicherlich im Interesse aller an der Gesellschaft Beteiligten.21
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung Nachfolgend soll nun die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung abgeleitet und inhaltlich konkretisiert werden. Zu Beginn soll der gesetzliche Ausgangspunkt bestimmt und von diesem ausgehend die Pflicht zur Steuergestaltungen allgemein abgeleitet werden (I.). Daran anknüpfend gilt es, einen allgemeinen Maßstab für die Pflicht zur Steuergestaltung zu ermitteln (II.) und anhand dessen die Pflicht zur Steuergestaltung inhaltlich zu konkretisieren (III.).
I. Steuergestaltung als aus § 76 Abs. 1 oder § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abgeleitete Pflicht Aus welcher generellen Pflicht sich konkrete einzelne Pflichten ableiten lassen, ist umstritten. Einerseits wird die eigenverantwortliche Leitungspflicht des § 76 Abs. 1 AktG als generelle Pflicht angesehen, aus der sich konkrete Pflichten ableiten lassen.22 Andererseits wird „die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften
19
Siehe unten Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.) und Kap. 5, B. II. 1. (S. 257 f.). Zur rechtmäßigen Delegation siehe unten Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 21 So wohl auch Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 129. Siehe auch die Präambel und die Ziffern 3.1 und 4.1.2 des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK). 22 Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (165 ff.); zumindest hinsichtlich Leitungsaufgaben auch Henze, BB 2000, 209 (210); ebenso Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 4. 20
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Geschäftsleiters“ nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG als Generalklausel gewählt.23 Es ist aber nicht nur der normative Ausgangspunkt, sondern auch die praktische Relevanz des Streits umstritten. Teilweise wird geltend gemacht, aus der Anknüpfung an § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG folge bereits die vorrangige Berücksichtigung der Aktionärsinteressen, da der Vorstand nach dem Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG Treuhänder der Aktionäre sei.24 § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gehe auf § 241 HGB in der Fassung vom 1. Januar 1900 zurück und damit auf die durch das Aktiengesetz 1937 überholte Vorstellung eines auftragsähnlichen Rechtsverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat.25 Die vom Gesetzgeber gewollte eigenverantwortliche Leitungspflicht und daraus abgeleitete konkretere Pflichten des Vorstands wären daher nur dann nicht vorrangig im Aktionärsinteresse auszuüben, wenn sie allein aus § 76 Abs. 1 AktG abgeleitet würden.26 Die Gegenauffassung hat diesbezüglich keine Bedenken.27 Der Gesetzgeber habe durch die Einfügung der Worte, eine „Pflichtverletzung liegt nicht vor“ in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, klar zum Ausdruck gebracht, dass § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht nur ein Verschuldensmaßstab, sondern auch eine Verhaltenspflicht in Form einer Generalklausel sei.28 Die einleitenden Worte, „eine Pflichtverletzung liegt nicht vor“, im zweiten Satz machten nur Sinn, wenn der erste Satz positiv eine Pflicht beschreibe.29 Auf die Eigenverantwortlichkeit bzw. Weisungsfreiheit des Vorstands wirke sich der Streit aber nicht aus.30 Die erste Auffassung käme über § 76 Abs. 1 AktG zu ähnlichen Ergebnissen.31 Der zweiten Auffassung, nach welcher der Streit nicht entschieden werden muss, ist zuzustimmen. Zwar geht § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG auf § 241 HGB a. F. zurück, doch ist der Verhaltensstandard so offen formuliert, dass eine Wortlautänderung im Rahmen der Aktiengesetze 1937 und 1965 nicht erforderlich war. Eine Auslegung des Begriffs ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter kann beispielsweise auch eine eigenverantwortliche Leitung unter gleicher Berücksichtigung der Inter23 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 5; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 11; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 21. 24 Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (166 f.); OLG Koblenz, Urteil vom 9. Juni 1998 – 3 u 1662/ 89, NZG 1998, 953. 25 Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (167). Ausführlich zur Normgeschichte siehe unten Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). 26 Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (166 f.). 27 Koch vertritt einerseits die Weisungsfreiheit des Vorstands und bejaht andererseits eine Pflicht in Form einer Generalklausel nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, wobei er sich explizit gegen Hüffer stellt. Siehe Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 12, 14, 25 ff., § 93 Rn. 5 und 6. 28 OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 5. 29 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 5. 30 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 25 ff. und § 93 Rn. 5. 31 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 5.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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essen aller an der Aktiengesellschaft beteiligten Interessengruppen ergeben – vorausgesetzt dies entspricht dem Aktiengesetz 1937 bzw. 1965.32 Der Vorstand wäre dann Treuhänder aller Interessengruppen. Der Streit über den normativen Ausgangspunkt muss daher nicht entschieden werden, da er sich im Ergebnis nicht auswirkt.33 Wer die eigenverantwortliche Leitungspflicht des § 76 Abs. 1 AktG als Ausgangspunkt nimmt, muss aufgrund von § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG vom Vorstand bei der Wahrnehmung einzelner aus der Leitungspflicht abgeleiteter konkreter Pflichten die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verlangen – zumal die gegenteilige Erwartung absurd wäre. Umgekehrt konkretisieren Vertreter der Auffassung, die § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG als Generalklausel ansieht, den Begriff der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters bei risikobehafteten unternehmerischen Entscheidungen durch die eigenverantwortliche Leitungspflicht des Vorstands und ihre Grenzen nach § 76 Abs. 1 AktG.34 Der an den Vorstand als Kollegialorgan adressierte § 76 Abs. 1 AktG und der an das einzelne Vorstandsmitglied adressierte § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG stehen also in einer Wechselwirkung.35 Aufgrund der Generalität und der damit einhergehenden Auslegungsoffenheit der beiden Generalklauseln kann man auf beiden Wegen zu denselben oder ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Entscheidend ist daher nicht der Ausgangspunkt, sondern die weitere inhaltliche Konkretisierung der Generalklauseln und der daraus abgeleiteten einzelnen Pflichten. Nachfolgend soll nun die Pflicht zur Steuergestaltung aus den beiden Generalklauseln abgeleitet werden. Zunächst wird § 76 Abs. 1 AktG als Ausgangspunkt gewählt. § 76 Abs. 1 AktG gibt einen generellen Maßstab für die Ausübung der Leitungspflicht durch den Vorstand vor.36 Umstritten ist jedoch, was der Bezugspunkt für diesen Maßstab ist. Einigkeit besteht insoweit, als dass der Vorstand das Interesse der Aktionäre berücksichtigen muss.37 Umstritten ist, ob dieses das einzige Interesse ist, welches er berücksichtigen muss.38 Konkret: Sind neben dem Aktionärsinteresse auch noch die Interessen der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit sowie gegebenenfalls weiterer Interessengruppen39 zu berücksichtigen? Und falls ja, sind diese 32
Siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 4. g) (S. 112 f.). So auch Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 12 und 14, § 93 Rn. 5 und 6; ebenso Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 25 Rn. 2. 34 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 7; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 22 und 47. 35 Dieser Auffassung ist wohl auch Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 f.). 36 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28; Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089). 37 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 37 f.; Hopt, ZGR 1993, 534 (536); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. 38 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 35. Dieser Streit ist nach der hier vertretenen Auffassung unabhängig davon, ob man § 76 Abs. 1 oder § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG als gesetzlichen Ausgangspunkt nimmt. 39 Ob daneben auch die Interessen der Gläubiger und der zukünftigen Aktionäre zu berücksichtigen sind, ist umstritten, siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 6. (S. 158 f.). 33
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Interessen gegenüber dem Aktionärsinteresse gleich- oder nachrangig? Wie bereits ausgeführt, ist das Aktionärsinteresse regelmäßig auf einen möglichst hohen Gewinn gerichtet, von dem die Aktionäre in Form von Dividenden oder Veräußerungserlösen profitieren.40 Ob dieses Interesse auf einen lang- oder kurzfristig möglichst hohen Gewinn ausgerichtet ist, ist an dieser Stelle noch unerheblich.41 In beiden Fällen ist die Höhe des Gewinns sehr von der Steuerlast des Unternehmens abhängig.42 Deswegen ist der Vorstand generell zur Steuergestaltung verpflichtet.43 Da das Aktionärsinteresse nach beiden Auffassungen zu berücksichtigen ist und nur der Grad der Berücksichtigung umstritten ist, muss für die reine Ableitung der Pflicht zur Steuergestaltung der Streit nicht entschieden werden. Nimmt man § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG als Ausgangspunkt kommt man zum selben Ergebnis. Der Sorgfaltsmaßstab des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters ist eine speziellere Ausformung der in den §§ 276 Abs. 2 BGB, 347 Abs. 1 HGB normierten Verhaltensstandards.44 Für die Konkretisierung kommt es nach der hier vertretenen Auffassung auf die eigenverantwortliche Leitung nach § 76 Abs. 1 AktG an. Der Verhaltensstandard wird demnach wie folgt definiert: Der Vorstand einer AG muss so handeln wie ein pflichtbewusster, eigenverantwortlicher Leiter eines Unternehmens derselben Art und Größe, der mit fremden Mitteln wirtschaftet und daher ähnlich einem Treuhänder fremden Vermögensinteressen verpflichtet ist.45 Aus der Anknüpfung an § 76 Abs. 1 AktG, konkret der Verpflichtung gegenüber fremden Interessen, ergibt sich erneut der oben dargestellte Streit über die zu berücksichtigenden Interessen und ihre jeweilige Gewichtung. Auch hier folgt aber – unabhängig vom Streitentscheid – aus dem Aktionärsinteresse nach einem möglichst hohen Gewinn nach Steuern eine Pflicht zur Steuergestaltung. Neben dieser Ableitung aus dem Aktiengesetz ergibt sich die Pflicht zur Steuergestaltung auch aus dem faktischen Zwang des Steuerrechts. Der Vorstand nimmt die Geschäftsführung der AG unter eigener Verantwortung wahr (§§ 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 AktG). Die Geschäftsführung umfasst jede tatsächliche oder rechtsgeschäftliche Handlung des Vorstands für die AG.46 Da es sich bei Steuergestaltungen um tatsächliche oder rechtsgeschäftliche Handlungen handelt, die der Vorstand für die AG vornimmt oder vornehmen lässt, ist die Steuergestaltung Teil der Ge40
Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 f.). Siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 1. (S. 50 ff.). 42 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089). 43 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089). 44 OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 6. 45 BGH, Urteil vom 20. Februar 1995 – II ZR 143/93, BGHZ 129, 30 (34); OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); OLG Köln, Urteil vom 28. Februar 2013 – 18 U 298/11, AG 2013, 270 (571); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 24. 46 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 3; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 9; van Ooy/Oltmanns, in: Heidel, AktG, § 76 Rn. 5. 41
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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schäftsführung.47 Damit ist aber noch nicht gesagt, dass der Vorstand dazu verpflichtet ist, Steuern zu gestalten oder zumindest die Gestaltung zu delegieren. Aufgrund der Steuergesetze hat der Vorstand aber – wenn überhaupt – nur die Wahl durch seine Handlungen einen Steuertatbestand zu erfüllen oder nicht.48 Er wird also faktisch durch das Steuerrecht dazu gezwungen, sich zu den Steuergesetzen zu verhalten, sei es bewusst oder unbewusst.49 Wenn er damit aber faktisch zur Steuergestaltung gezwungen ist, dann muss er diese auch aktienrechtlich pflichtgemäß wahrnehmen, da der Vorstand alle Geschäftsführungsmaßnahmen pflichtgemäß ausüben muss. Somit gelangt man wieder zu den §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.
II. Allgemeiner Maßstab für die Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung Die inhaltliche Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung muss zunächst aus den Generalklauseln als ihrem normativen Ursprung abgeleitet werden. Da sowohl die Konkretisierung nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG als auch nach § 76 Abs. 1 AktG auf die vom Vorstand in seinen Entscheidungen zu berücksichtigenden Interessen hinausläuft, sollen die hierzu vertretenen Ansätze nun näher dargestellt werden (1. u. 2.). Anschließend wird geprüft, ob die unterschiedlichen Ansätze sich auf die Pflicht zur Steuergestaltung inhaltlich auswirken (3.). Hierbei wird die These vertreten, dass es für die inhaltliche Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung darauf ankommt, wessen Interessen der Vorstand bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen hat und in welchem Verhältnis diese Interessen dabei zueinanderstehen. Genauer gesagt, ob der Vorstand interessenmonistisch50/interessenhierarchisch51 zumindest vorrangig im Interesse der Aktionäre (Shareholder/zugleich auch Stakeholder) oder interessenpluralistisch52 auch im Interesse anderer an der Gesellschaft partizipierender Gruppen (Stakeholder), wie Arbeitnehmer und Allgemeinheit, zu agieren hat.53 Es kann dabei nicht um das Interesse konkreter einzelner Personen gehen, sondern um das generalisierte Interesse der Gruppe der Aktionäre und der Arbeitnehmer. Dies ergibt sich bereits aus der regelmäßig praktischen
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Zu der Frage, inwieweit die Steuergestaltung Teil der Leitungspflicht des Vorstands ist, siehe unten Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 48 Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, siehe dazu oben Kap. 1, A. (S. 28 ff.). 49 In diesem Sinne wohl auch Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 106. 50 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 37 f.; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. 51 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 52. 52 Hopt, ZGR 1993, 534 (536); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30. 53 Diese Frage untersucht mit einem abweichenden Ergebnis auch Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 21 ff.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Unmöglichkeit, die Einzelinteressen zu ermitteln.54 Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, wird dabei nur auf die aktuell noch diskutierten Ansichten eingegangen und die Betrachtung entsprechend der These fokussiert.55 1. Interessenmonistische und interessenhierarchische Zielkonzeptionen als Maßstab des Leitungsermessens und das Shareholder-Value-Konzept Nach diesen Zielkonzeptionen ist der Vorstand verpflichtet allein (interessenmonistisch) oder jedenfalls vorrangig (interessenhierarchisch) das Aktionärsinteresse zu verfolgen.56 Die Anhänger dieser Zielkonzeptionen sehen den Vorstand daher (primär) in der Pflicht, eine Gewinnmaximierung des Unternehmens zu erzielen, um den Aktionären den höchstmöglichen finanziellen Nutzen in Form von Dividenden und Kursgewinnen zu bringen.57 Abgeleitet wird die Zielkonzeption regelmäßig aus dem sog. Verbandszweck oder dem sog. Gesellschaftszweck/-interesse.58 Der Zweck der Gesellschaft sei die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit, also die Gewinnerzielung59 – sofern nicht ausdrücklich etwas anderes in der Satzung bestimmt werde –60, denn diese entspreche dem Interesse der Aktionäre als Mitgliedern der Aktiengesellschaft.61 Er sei der Maßstab für die eigenverantwortliche Leitungspflicht des Vorstands nach § 76 Abs. 1 AktG.62) Das sehr viel ältere Konzept der interessenmonistischen Zielkonzeption wurde durch das US-amerikanische Shareholder-Value-Konzept neu belebt.63 Dieses 54 Ein weiteres Argument ergibt sich aus dem Konzernrecht, siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 4. b) dd) (S. 63 f.). 55 Siehe zum Umfang beispielsweise Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 24: „Die rechtsdogmatische Diskussion der vergangenen Jahrzehnte kreiste um den Zentralbegriff des Unternehmensinteresses. Sie wird überlagert – und teilweise verdunkelt – durch eine kaum mehr zu entwirrende Meinungsvielfalt“; zu historischen Zielkonzeptionen siehe ausführlich Birke, Formalziel der Aktiengesellschaft, S. 149 ff. 56 Zum Begriff interessenmonistische Zielkonzeption siehe Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 22 ff.; Fleischer, in: Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, § 1 Rn. 19 ff.; zum Begriff der Interessenhierarchie siehe Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 52; grundsätzlich dieser Ansicht sind Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 76 Rn. 14 f.; Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 76 Rn. 11; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34 ff.; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 121 ff.; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 18 ff.; Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (424 ff.); Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 14 ff.; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22; Zöllner, AG 2003, 2 (7 f.). 57 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 37 f.; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. 58 Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 14 ff.; Zöllner, AG 2003, 2 (7 f.). 59 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 99; Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 14. 60 Mülbert, AG 2009, 766 (772). 61 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 37. 62 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (424 ff.). 63 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 21; Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (424).
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stammt aus der Ökonomie und wurde 1986 durch das gleichnamige Werk von Alfred Rappaport öffentlich bekannt.64 Für das erheblich ältere deutsche Aktienrecht kann es daher nur insoweit Bedeutung erlangen, als es sich mit diesem deckt oder in dieses später Einzug gehalten hat. In der deutschen aktienrechtlichen Literatur wird der Begriff Shareholder-Value uneinheitlich verwendet.65 Zunächst wird vertreten, Shareholder-Value bedeute die Gewinnmaximierung des Unternehmens, konkret die Maximierung des Eigenkapitals, da dies dem Aktionärsinteresse entspreche.66 Die Interessen der anderen Stakeholder seien nur insoweit zu berücksichtigen, als sie im Aktionärsinteresse lägen.67 Dies sei der Fall, wenn es erstens durch spezielle Gesetze (z. B. zum Arbeitsschutz) vorgegeben sei, zweitens erforderlich sei, um sich die anderen Stakeholder für die Zukunft gewogen zu halten oder drittens dazu diene, den öffentlichen Ruf der AG als „Good Corporate Citizen“ zu fördern.68 Dies wird teilweise auch als moderates Shareholder-Value-Konzept bezeichnet.69 Es wird davon ausgegangen, dass sich ethisches Handeln langfristig auszahle, „ethic pays“, und damit im Aktionärsinteresse liege.70 Das Aktiengesetz stehe einem so verstandenen Shareholder-Value nicht entgegen, und der Gesetzgeber habe den Shareholder-Value-Ansatz inzwischen auch ausdrücklich anerkannt.71 Andere vertreten, Shareholder-Value bedeute ökonomisch eine Marktwertmaximierung im unmittelbaren Aktionärsinteresse.72 In Abgrenzung dazu gehe es nach der klassischen Konzeption des Aktienrechts um die Gewinnmaximierung der Gesellschaft als Verband, von der die Aktionäre nur reflexartig aufgrund ihrer Mitgliedschaft profitierten.73 Auch nach dieser Auffassung ist der Ansatzpunkt der Wert des Eigenkapitals.74 Allerdings wird in Abgrenzung zur obigen Auffassung ausgeführt, die Gesellschaft müsse diesen stets anders beurteilen als die Aktionäre, da letztere ihren Anteil am Eigenkapital marktbezogen bewerten müssten, während die Gesellschaft, die selbst keine Anteile am Marktportfolio halte, eine marktunabhängige Bewertung vornehmen müsse.75 Dies wirke sich konkret aus, da es nach der
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Rappaport, Creating Shareholder Value. So auch festgestellt von Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (425). 66 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 29 ff. 67 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 44. 68 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 38; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 23. 69 Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 23. 70 Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 23. 71 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 36; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 23. 72 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (429 ff.). 73 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (431 ff.). 74 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (429 ff.). 75 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (429 ff.). 65
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Marktwertmaximierung eher zu Gewinnausschüttungen kommen müsse.76 Der Gesetzgeber habe durch die Aktienrechtsreformen in jüngerer Zeit nun die Marktwertmaximierung neben der Gewinnmaximierung als Verbandszweck anerkannt.77 Folgt man dieser Ansicht, bedeutet dies im Ergebnis zugleich die ausschließliche Berücksichtigung des Aktionärsinteresses. Eine Maßnahme des Vorstands ist danach nur zulässig, wenn sie sich auszahlt.78 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Sämtliche Shareholder-Value-Interpretationen laufen auf einen Vorrang des Aktionärsinteresses hinaus. Gerade vor dem Hintergrund der letzten Finanzkrise wird ein auf kurzfristige Gewinne ausgerichtetes Shareholder-Value-Konzept in der deutschen Aktienrechtsliteratur aktuell aber nicht vertreten.79 Vorstandsentscheidungen zugunsten der anderen Stakeholder müssen gleichzeitig auch im zumindest langfristigen Aktionärsinteresse liegen, in anderen Worten, sich zumindest langfristig auszahlen. 2. Die interessenpluralistische Zielkonzeption als Maßstab des Leitungsermessens und das Stakeholder-Value-Konzept Bei Zugrundelegung einer interessenpluralistischen Zielkonzeption80 ist der Vorstand verpflichtet, die Interessen aller partizipierenden Gruppen im Wege praktischer Konkordanz auszugleichen.81 Dies wird auch kurz als Unternehmensinteresse bezeichnet.82 Die Aktiengesellschaft ist Trägerin des Unternehmens (vgl.
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Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (429 ff.). Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 ff.). 78 Mülbert, AG 2009, 766 (774); insoweit derselben Meinung Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 99. 79 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53. 80 Grundsätzlich dieser Ansicht sind unter anderem OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. April 2015 – III-1 Ws 429/14, 1 Ws 429/14, ZInsO 2015, 2221 (2222); OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (127 und 140 f.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30 ff.; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (105 ff.); Raiser/Veil, Kapitalgesellschaften, S. 148 – § 14 Rn. 14; K. Schmidt, GesR, S. 805 f. – § 28 II 1 a); Seyfarth, Vorstandsrecht, S. 324 f. – § 8 Rn. 18; van Ooy/Oltmanns, in: Heidel, AktG, § 76 Rn. 8; Wellhöfer, in: Wellhöfer/Peltzer/Müller, S. 101 (116 – Rn. 25); Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 19 Rn. 22; wohl auch Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 62, 74 ff., 94. 81 Hopt, ZGR 1993, 534 (536); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 33; Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (155 – Fn. 69). Letzterer spricht insoweit von Konkordanztheorie. 82 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (127); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 36; zur Verwendung des Begriffs Unternehmensinteresse auf Grundlage eines interessenhierarchischen Ansatzes siehe beispielsweise Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 121 ff.; aus der Betrachtung ausgeblendet werden hier vereinzelt vertretene Ansätze, die das Unternehmen als selbstständigen von der Gesellschaft unabhängigen Interessenträger ansehen oder Unternehmen und Gesellschaft integrieren wollen, siehe dazu den Überblick bei Fleischer, in: Spindler/ Stilz, AktG, § 76 Rn. 24 ff. 77
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§§ 3 Abs. 1, 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG).83 Da der Vorstand nach § 76 Abs. 1 AktG die Gesellschaft leitet, leitet er vor allem das von ihr getragene Unternehmen.84 An der Gesellschaft partizipierende Gruppen sind nach ganz überwiegender Meinung jedenfalls die Aktionäre, die Arbeitnehmer und die Allgemeinheit.85 Ob weitere Interessengruppen, wie die Gläubiger86 oder zukünftige Aktionäre87, dazu gehören, ist dagegen umstritten.88 Die Grenze der Interessenberücksichtigung bilde in jedem Fall die Vorstandspflicht, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft und des von dieser getragenen Unternehmens sicherzustellen.89 Innerhalb des so bemessenen großen Rahmens bestehe auch Raum, die Aktionärsinteressen in Richtung des Shareholder-Value-Konzeptes aufzuwerten.90 Abgeleitet wird dieser Ansatz unmittelbar aus der eigenverantwortlichen Leitungspflicht des Vorstands nach § 76 Abs. 1 AktG, insbesondere der historischen Entwicklung der Norm und des sich daraus ergebenden Ermessensspielraums.91 In der Literatur wird der aus der Ökonomie stammende Begriff des Stakeholder-Value inzwischen synonym für eine interessenpluralistische Zielkonzeption verwendet.92 Wie für das Shareholder-ValueKonzept gilt auch für das Stakeholder-Value-Konzept, dass es nur insoweit für das deutsche Aktienrecht Geltung haben kann, als es sich mit diesem deckt. Das ökonomische Stakeholder-Value-Konzept wurde bekannt durch das 1984 von R. Edward
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Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 10. Siehe des Weiteren §§ 39 Abs. 1 Satz 1, 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2, 87 Abs. 1 Satz 3, 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 179 Abs. 2 Satz 2, 179a Abs. 1 Satz 1, 275 Abs. 1 Satz 1, 276 AktG. 84 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 10. 85 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 76 Rn. 10; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28; nach einer Mindermeinung ist das Allgemeininteresse seit dem Aktiengesetz 1965 nicht mehr erfasst, so Hopt, ZGR 2000, 779 (799). Siehe dazu ausführlich unten Kap. 2, B. II. 4. c) S. 64 ff.). 86 Ob die Gläubiger dazu gehören, ist umstritten: dagegen beispielsweise Koch, in: Hüffer/ Koch, AktG, § 76 Rn. 28; dafür beispielsweise Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 51. 87 Dafür beispielsweise Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 75; dagegen ist wohl Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28. 88 Siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 6. (S. 158 f.). 89 OLG Hamm, Urteil vom 10. Mai 1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263 (1268); Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (127); Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (168 ff.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 34; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 51a. Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). 90 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 33; im Ergebnis ähnlich Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 74 ff., 77, 94. 91 OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (167 f.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28 ff. Siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). 92 Wie durch die z. B. von Fleischer skizzierte Entwicklung des Diskurses deutlich wird: Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 21 ff.; siehe exemplarisch Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (151 f.).
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Freeman publizierte Werk „Strategic Management: A Stakeholder Approach“.93 Freeman definiert Stakeholder in einem weiten strategischen Sinn als „any group or individual that can affect or is affected by the achievement of a corporation’s purpose“.94
Stakeholder ist danach also jede Gruppe oder jedes Individuum, das die Realisierung eines Unternehmensziels beeinflussen kann oder davon beeinflusst wird. Dazu gehörten auch die Shareholder.95 Es verstehe sich von selbst, die Auswirkungen der eigenen Handlungen auf andere zu berücksichtigen, ebenso wie deren Auswirkungen auf einen selbst.96 Folglich müsse die Unternehmensleitung die StakeholderInteressen in ihre Entscheidungen einbeziehen.97 Dies setze voraus, ihr Verhalten, ihre Werte und ihren Hintergrund einschließlich des gesellschaftlichen Kontexts zu verstehen.98 Die Stakeholder-Beziehungen müssten auf drei unterschiedlichen Ebenen nachvollzogen werden: auf Ebene der Gesamtorganisation, der Prozessebene (standard operating procedures) und auf Ebene der täglichen Verhandlungen.99 So könnte die Unternehmensführung und insbesondere die strategische Planung durch die Berücksichtigung der Stakeholder-Interessen reformiert werden.100 Auf lange Sicht müsste die Berücksichtigung der verschiedenen Stakeholder-Interessen ausgeglichen sein.101 Es gehe darum, den Wert für alle Stakeholder zu steigern.102 Inzwischen lasse sich die Forschung rundum das Stakeholder-ValueKonzept in vier Bereiche einteilen: normative Theorien und Unternehmen, Corporate Governance und organisationsbezogene Theorie, Corporate Social Responsibility und Performance und schließlich strategisches Management.103 Es gebe auch deswegen nicht das eine Stakeholder-Value-Konzept, das noch dazu für alle Unternehmen funktioniere.104 Es handle sich vielmehr um ein Genre mit unterschiedlichen „Stakeholder-Geschichten“, die sich aus den unterschiedlichen Kontexten und Umweltfaktoren der Unternehmen ergäben.105 Alle müssten aber Gewinne erwirtschaften und Stakeholder-Interessen berücksichtigten.106
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Freeman, Stakeholder Approach. Freeman, zfwu 2004, 228 (229). 95 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 96 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 97 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 98 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 99 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 100 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 101 Freeman, zfwu 2004, 228 (231). 102 Freeman, zfwu 2004, 228 (232). 103 Freeman, zfwu 2004, 228 (233 f.). 104 Freeman, zfwu 2004, 228 (231 f.). 105 Freeman, zfwu 2004, 228 (232). 106 Freeman, zfwu 2004, 228 (232). 94
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Die Grundzüge des dargestellten ökonomischen Stakeholder-Value-Konzepts und die interessenpluralistische Zielkonzeption decken sich weitestgehend. Dies gilt umso mehr, als in der deutschen ökonomischen Forschung der Stakeholder-Value insbesondere als Gegenkonzept zum Shareholder-Value behandelt wird.107 Unterschiede bestehen im Hinblick auf die Definition der Stakeholder, also die Frage, wer Stakeholder ist. Wie bereits ausgeführt, werden in der aktienrechtlichen Rechtsprechung und Literatur teilweise nur Aktionäre, Arbeitnehmer und die Allgemeinheit als Stakeholder angesehen, teilweise werden auch weitere Interessengruppen, wie Gläubiger und künftige Aktionäre, eingeschlossen. Letztere Auffassung deckt sich im Ergebnis wohl weitestgehend mit der skizzierten ökonomischen Stakeholder-Definition.108 Welcher Auffassung zu folgen ist, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden.109 3. Die Bedeutung des Diskurses für die Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung Ob der Diskurs für die Konkretisierung von einzelnen Vorstandspflichten, wie der Pflicht zur Steuergestaltung, Relevanz hat, ist in der Literatur umstritten. Nachfolgend wird zunächst der Meinungsstand dargestellt (a)) und dann dazu Stellung genommen (b)). a) Meinungsstand Die grundsätzliche Relevanz des Diskurses für die Bestimmung eines allgemeinen Maßstabs für die inhaltliche Konkretisierung einzelner Vorstandspflichten wird in der Literatur teilweise als gering eingestuft.110 Die verschiedenen Auffassungen lägen in der Praxis nicht weit auseinander. Zum einen seien die Interessen der Aktionäre und der anderen Stakeholder in vielen Fällen langfristig deckungsgleich, da ein rentables Unternehmen grundsätzlich die Voraussetzung für die Befriedigung aller Interessen sei und dauerhafte Rentabilität und Bestand von allen gefordert würde.111 Ein Unternehmen, das keine Gewinne erwirtschafte, könne auch keine Aufwendungen für soziale Zwecke tätigen oder überdurchschnittliche Bedingungen für Arbeitnehmer schaffen.112 Ohne überdurchschnittliche Arbeitsbedingungen sei es 107
Siehe zu dieser Einschätzung Hansen/Bode/Moosmayer, zfwu 2004, 242 (245 f.). Zu diesem Ergebnis gelangt auch Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 19 Rn. 21. 109 Siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 6. (S. 158 f.). 110 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 44; Hopt, ZGR 2000, 779 (799); Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53; eine messbare praktische Relevanz verneinen Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, S. 8 f. – § 1 Rn. 11. 111 OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 44; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53 und 62 f.; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 112 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 108
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wiederum schwer, gute Mitarbeiter zu gewinnen.113 Ebenso sei es schwer, ohne Zuverlässigkeit gegenüber Kapitalgebern auf Dauer Kapital am Markt zu beschaffen.114 Schließlich werde auch ein Unternehmen, das seinen finanziellen Vorteil rücksichtlos und um jeden Preis verfolge, seine Reputation einbüßen und somit langfristig nicht erfolgreich sein.115 Zum anderen könnten die Interessen der anderen Stakeholder auch nach einem interessenmonistischen bzw. -hierarchischen Ansatz im Rahmen des Leitungsermessens berücksichtigt werden, sofern sie langfristig auch im Aktionärsinteresse lägen.116 Die Notwendigkeit eines Ermessensspielraums ergebe sich bereits aus den für Vorstandsentscheidungen erforderlichen Prognosen und Abschätzungen.117 Umgekehrt lasse ein interessenpluralistischer Ansatz einen weiten Ermessensspielraum, in dem das Aktionärsinteresse stark berücksichtigt werden könne.118 Als Gegenbeispiel für die Relevanz kann eine Einschätzung von Hüffer aus dem Jahr 2007 dienen. Nach diesem ist die Frage, welche Interessen fu¨ r Leitungsentscheidungen des Vorstands maßgeblich sind, ein Zukunftsthema.119 Dies entspricht den Stimmen in der Literatur, die den generellen Zielkonflikt als praxisrelevant ansehen und in Extremfällen sogar eine Haftung des Vorstands- oder Aufsichtsrats bei Verstoß gegen eine interessenhierarchische Zielkonzeption für möglich halten.120 Im Hinblick auf die Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung ist die Relevanz des Diskurses ebenfalls umstritten. Schön ist der Meinung, dass die interessenmonistische/-hierarchische und die interessenpluralistische Zielkonzeption im Hinblick auf die Steuergestaltung langfristig zu denselben Ergebnissen kommen.121 Dies gelte jedenfalls, solange man nicht den Staat als Stakeholder anerkenne 113 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 31; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 114 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 31; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 115 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 31; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 116 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 44. 117 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 44. 118 OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 44. 119 Hüffer, in: Bayer/Habersack, S. 334 (386); von entscheidender Frage sprechen Mertens/ Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 6; die praktische Relevanz des Streits bejaht auch Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (155 f.); ebenso von Werder, in: FS Schwark, S. 285 (289). 120 Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (156 f.); von Werder, in: FS Schwark, S. 285 (289). 121 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14). Für ihn ist dieses Ergebnis aber wohl auch noch nicht abschließend, denn er schreibt „auf den ersten Blick“ seien keine unterschiedlichen Ergebnisse erkennbar. Losgelöst von dem Diskurs schreibt Schön in einer jüngeren Veröffentlichung, die Beschreibung des Formalziels der Aktiengesellschaft sei eine „Kernaufgabe deutscher Aktienrechtswissenschaft“, siehe Schön, ZHR 180 (2016), 279 (279). Die Ableitung klarer Handlungsleitlinien für die Steuergestaltung aus dem Gesetz verneint, vorbehaltlich der monistischen Zielkonzeption, Koch, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter,
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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oder ein „radikales“, d. h. ein auf kurzfristige Gewinnmaximierung ausgerichtetes Shareholder-Value-Konzept verfolge.122 Zu einem anderen Ergebnis gelangen Stenert und Haarmann.123 Nach ihrer Auffassung wirkt sich der Streit auf die Pflicht zur Steuergestaltung aus.124 Dies leiten sie wie folgt her: Wenn der Vorstand mindestens primär die Interessen der Aktionäre verfolgen müsse, führe dies mitunter zu anderen Ergebnissen, als wenn der Vorstand die Interessen aller Stakeholder in einem ausgeglichenen Verhältnis verfolgen würde.125 Denn im ersten Fall müsse sich das Aktionärsinteresse der Gewinnmaximierung durch Minimierung der Steuerquote in der Regel durchsetzen.126 Dies gelte unabhängig davon, ob der Staat Stakeholder sei.127 b) Stellungnahme Der Diskurs ist ein Gegenwartsthema.128 Bemerkenswert ist zunächst, dass selbst die Stimmen in der Literatur, welche die Relevanz als gering einstufen, sich klar zu einer Position bekennen und viele Seiten darauf verwenden, den Diskurs darzustellen.129 Auch die Flut an Literatur zu diesem Thema legt eine andere Einschätzung der Relevanz nahe.130 Zutreffend ist, dass die dauerhafte Rentabilität und der Bestand des Unternehmens von allen als Grundvoraussetzungen anerkannt werden. Wer einen Vorrang des Aktionärsinteresses vertritt, zieht die Grenzen des Leitungsermessens aber enger, da danach jede Entscheidung langfristig auch im Aktionärsinteresse liegen muss. 50 Jahre AktG, S. 65 (75); ähnlich auch Schmitz/Schneider, NZG 2016, 561 (564). Unter Verweis auf das unternehmerische Ermessen des Vorstands verneinen sie jegliche Pflicht zur Steuergestaltung. 122 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14). 123 Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 und 192); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 32 ff. 124 Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 32 ff. 125 Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 32 ff. 126 Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 32 ff. Stenert selbst verfolgt einen Mittelweg. Danach hat der Vorstand grundsätzlich dem Interesse der Aktionäre zu folgen, er könne jedoch in Extremfällen dem Interesse eines anderen Stakeholders den Vorzug geben. 127 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 32 ff. und 73 ff. Dies ergibt sich daraus, dass er sein Ergebnis beibehält, obwohl er die Stakeholder-Eigenschaft des Staates nachher ablehnt. 128 Zu dieser Einschätzung kommt auch Seibert, AG 2015, 593 (596). 129 Siehe beispielsweise Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 21 – 55; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 52 – 123. 130 Siehe dazu nur die Übersicht zum Schrifttum bei Kort, in: Großkomm AktG, § 76.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Letztlich läuft damit jede Vorstandsentscheidung auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung hinaus. Die Entscheidung des Vorstands muss sich nach der zugrundeliegenden Prognose für die Aktionäre quantifizierbar auszahlen. Eine interessenpluralistische Ausrichtung geht hingegen darüber hinaus. Indem die Interessen der anderen Stakeholder gleichrangig neben dem Aktionärsinteresse stehen, bekommen diese einen eigenen Wert. Die anderen Stakeholder-Interessen müssen sich nicht langfristig mit dem Aktionärsinteresse decken und sich somit auch nicht monetär auszahlen.131 Sieht man den Vorrang der Aktionärsinteressen als Regelfall an, dann ist zudem der Begründungsaufwand, um eine Entscheidung im Arbeitnehmerinteresse zu rechtfertigen, erheblich höher, als wenn alle Interessen gleichrangig nebeneinander stehen. Verdeutlichen kann dies ein Vergleich mit dem öffentlichen Verwaltungsrecht. Der Vorrang des Aktionärsinteresses ist einem Fall des intendierten Ermessens vergleichbar.132 Im Fall eines intendierten Ermessens sind die Anforderungen an die Begründung für eine Ermessenentscheidung reduziert, sofern man der Intention der Norm folgt, also dem von der Norm vorgesehenen Regelfall.133 Es gilt zu begründen, warum ein atypischer Fall vorliegt und das Ermessen anders als im Regelfall ausgeübt werden soll. Selbiges würde für das Leitungsermessen des Vorstands gelten, wenn man einen Vorrang des Aktionärsinteresses anerkennt. Würde der Vorstand vom Regelfall des Vorrangs des Aktionärsinteresses abweichen, wäre der Begründungsaufwand dafür deutlich erhöht. Des Weiteren erkennen auch diejenigen, welche die geringe Relevanz des Diskurses betonen, an, dass es in Abhängigkeit von der verfolgten Zielkonzeption mitunter zu abweichenden Ergebnissen kommen kann.134 Verdeutlicht werden soll dies durch ein Beispiel: Wenn eine Standortverlagerung aus überwiegend steuerlichen Gründen erfolgt, so wird dies regelmäßig im Aktionärsinteresse sein, da die Verlagerung zu einem höheren Gewinn nach Steuern führen soll. Anders dürfte das Interesse der Arbeitnehmer aussehen. Dies wird generell wohl unternehmensweit solidarisch gegen eine Standortverlagerung und damit für den Erhalt der Arbeitsplätze der bestehenden Belegschaft auszulegen sein. Eine interessenhierarchische Zielkonzeption käme in der Regel zum Vorrang des Aktionärsinteresses und damit zu einer Standortverlagerung, während nach einer interessenpluralistischen Zielkonzeption eher eine Entscheidung zu Gunsten des Arbeitnehmerinteresses und damit 131 Zu diesem Ergebnis kommen vor dem Hintergrund von Aufwendungen für soziale Zwecke Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (101 ff.); zustimmend Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 19 Rn. 26; zu diesem Ergebnis kommt aus ökonomischer Sicht auch Schreyögg, AG 2009, 758 (765 f.). 132 Ähnlich Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 35, der einen Vergleich zu ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften zieht und einen Vorrang der anderen Stakeholder-Interessen in atypischen Sachverhalten ausnahmsweise anerkennt. Der dadurch ebenfalls entstehende höhere Begründungsaufwand ergibt sich bei Stenert nur aus dem Kontext. 133 Tiedemann, in: BeckOK VwVfG, § 39 Rn. 40 [Stand: 01. 01. 2018]. 134 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 43 f.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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eine Standorterhaltung möglich wäre. Selbst, wenn eine Entscheidung in beiden Fällen auch zu Gunsten der Arbeitnehmer möglich wäre, so liegt der praktische Unterschied immer im Begründungsaufwand. Selbst wenn man Schöns Auffassung folgen würde, wonach der Diskurs keine Relevanz hat, wenn das Aktionärsinteresse langfristig ausgerichtet sein muss und der (Steuer-)Staat kein Stakeholder der Aktiengesellschaft ist, müsste der Diskurs entschieden werden. Denn, wie bereits eingangs erläutert, wird vorliegend die These vertreten, dass der (Steuer-)Staat Stakeholder der Aktiengesellschaft ist. Aufgrund der Relevanz des Diskurses muss dieses „aktienrechtliche Jahrhundertproblem“135 also vor dem Hintergrund der Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung einmal mehr entschieden werden. 4. Entscheidung des Diskurses für die interessenpluralistische Zielkonzeption Die Entscheidung des Diskurses, ob der Vorstand einer interessenpluralistischen oder einer interessenmonistischen/-hierarchischen Zielkonzeption verpflichtet ist, gliedert sich nach dem juristischen Auslegungskanon. Neben Wortlaut (a)), Systematik (b)), historischer (c)) und teleologischer Auslegung (d)) werden außerdem verfassungs- (e)) und europarechtliche Wertungen (f)) erörtert. a) Das Wortlautargument aus § 76 Abs. 1 AktG § 76 Abs. 1 AktG lautet: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten.“ Anknüpfungspunkt für die Weisungsfreiheit und das Leitungsermessen des Vorstands ist die Leitung „unter eigener Verantwortung“.136 Die Weisungsfreiheit und das Leitungsermessen ist allgemein anerkannt.137 Damit unterscheidet sich die Position des Vorstands erheblich vom weisungsgebundenen Geschäftsführer einer GmbH. Umstritten ist allerdings der Maßstab des Leitungsermessens des Vorstands bzw. seine inhaltliche Konkretisierung, d. h., welche Interessen wie zu berücksichtigen sind. Darüber trifft der Wortlaut aber keine unmittelbare Aussage. Daraus könnte man einerseits schließen, der Vorstand sei völlig frei darin, welche Interessen er wie berücksichtigt. Andererseits könnte Ausgangspunkt für eine Einschränkung der Bezugspunkt der eigenverantwortlichen Leitung 135 Fleischer, in: Hommelhoff/Hopt/von Werder, S. 185 (212); zum Unternehmensinteresse schreibt er, es gebe eine „kaum mehr zu entwirrende Meinungsvielfalt“, siehe Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 25. Gleichzeitig relativiert Fleischer aber auch die Bedeutung des Diskurses für die Lösung praktischer Probleme, siehe § 76 Rn. 44. 136 Statt vieler Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 22. 137 Für die Vertreter einer interessenmonistischen Zielkonzeption siehe exemplarisch Mülbert, AG 2009, 766 (772 ff.); für die interessenhierarchische Zielkonzeption Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 41; für die interessenpluralistische Zielkonzeption Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
sein, also die „Gesellschaft“. Allerdings hängt die Konkretisierung dann davon ab, wie man die Gesellschaft nach dem Auslegungskanon definiert. Man wird aber jedenfalls annehmen dürfen, dass der Gesetzgeber, wenn er eine alleinige Berücksichtigung des Aktionärsinteresses gewollt hätte, dem Vorstand nicht die Leitung unter eigener Verantwortung zugewiesen hätte, sondern dies eindeutig ins Gesetz geschrieben hätte. Des Weiteren spricht die Formulierung auch eher für eine Gleichrangigkeit der zu berücksichtigenden Interessen, da andernfalls die eigene Verantwortung eingeschränkt wäre, ohne dass sich diese Einschränkung ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben würde. Aufgrund der offenen Formulierung lässt sich die Ableitung eines Vorrangs des Aktionärsinteresses aus dem Wortlaut allein aber nicht widerlegen. b) Die systematischen Argumente Systematische Argumente ergeben sich sowohl aus dem einfachen Aktienrecht (aa) – cc)) als auch aus dem Konzernrecht (dd)). aa) § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG Gemäß § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG kann die Bestellung zum Vorstandsmitglied und die Ernennung zum Vorsitzenden des Vorstands durch den Aufsichtsrat nur widerrufen werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Nach Satz 2 ist ein wichtiger Grund eine grobe Pflichtverletzung, die Unfähigkeit zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung oder der Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus der weite Ermessensspielraum des Vorstands.138 Selbst bei einer leichten Pflichtverletzung kann das einzelne Vorstandsmitglied – vorbehaltlich eines Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung oder einer sich darin zugleich offenbarenden Unfähigkeit zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung – nicht abberufen werden. Welche Interessen der Vorstand bei der Ausübung seines Ermessens wie berücksichtigen soll, ergibt sich daraus aber jedenfalls nicht ausdrücklich. Allerdings spricht die Weite des Ermessensspielraums wiederum eher für eine Gleichrangigkeit der Interessen als für eine Beschränkung auf den Vorrang des Aktionärsinteresses. bb) § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG „nachhaltige Unternehmensentwicklung“ Nach § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG ist die Vergütungsstruktur des Vorstands durch den Aufsichtsrat auf eine „nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten“. Ausweislich des Wortlauts gilt dies nur für börsennotierte Aktiengesellschaften, wobei auch nicht börsennotierte Aktiengesellschaften nach dem Willen des Gesetzgebers
138
Henze, BB 2000, 209 (211).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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grundsätzlich nachhaltig agieren sollen.139 Aus dem Adjektiv „nachhaltig“ wird teilweise auf einen allgemeinen Nachhaltigkeitsbegriff geschlossen, wonach sich die Vergütung des Vorstands und damit auch der Vorstand an der Erhaltung der Ressourcen auszurichten habe, was neben ökonomischem auch soziales und ökologisches Handeln erfordere.140 Weitere Autoren sind zudem der Auffassung, der Vorstand müsse aufgrund der Nachhaltigkeit jedenfalls sämtliche Stakeholder-Interessen berücksichtigen.141 Es findet sich allerdings auch deutliche Kritik an diesen Auffassungen, wonach sie zu weitgehend seien, da es dem Gesetzgeber lediglich um die langfristige Ausrichtung der Vorstandsvergütung gehe.142 Im Ergebnis ist keine der Auffassungen zwingend. Allerdings spricht für die ersten beiden Auffassungen, dass die Nachhaltigkeitsdebatte zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens im Jahr 2009 beflügelt durch die Finanzkrise bereits in vollem Gange war. Dies spricht dagegen anzunehmen, der Gesetzgeber habe dessen Bedeutung verkannt und nur einen stärkeren Begriff für langfristig gesucht.143 cc) § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG „zum Wohle der Gesellschaft“ Indem Vorstandsmitglieder nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht haften, wenn sie bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durften, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, wird ihr weiter Ermessensspielraum haftungsrechtlich abgesichert.144 Des Weiteren ergibt sich daraus wiederum, dass die Gesellschaft der Bezugspunkt für das Handeln des Vorstands ist. Im Verhältnis zu § 76 Abs. 1 AktG ist der Wortlaut von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG etwas konkreter, weil ein Handeln „zum Wohle der Gesellschaft“ als Voraussetzung für den Haftungsausschluss deklariert wird. Was unter dem Wohle der Gesellschaft zu verstehen ist, muss jedoch ebenfalls konkretisiert werden. Einerseits wird vertreten, das Gesellschaftswohl entspreche dem Gesellschaftsinteresse im Sinne eines Vorrangs des Aktionärsinteresses.145 Dies ergebe sich aus dem folgenden Auszug aus der Begründung des Regierungsentwurfs:
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Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13433, S. 10. Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (57 f.); Röttgen/Kluge, NJW 2013, 900 (902 ff.). 141 Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 991; Ringleb, in: Ringleb/Kremer/Lutter/von Werder, DCGK (5. Auflage), Rn. 772. 142 Konkret gegen die Auffassung von Röttgen/Kluge wenden sich Louven/Ingwersen, BB 2013, 1219 (1220 ff.); für ein zeitliches Verständnis ist auch Grotherr, Ubg 2015, 360 (368); ebenso Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 69. 143 Siehe dazu die ausführliche Darstellung der Gesetzgebungsmaterialien von Röttgen/ Kluge, NJW 2013, 900 (902 ff.). 144 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 9 und 11. Nach diesem ist die rechtliche Absicherung aber nicht abschließend, sondern wird durch konkret normierte Pflichten ergänzt, bei deren Erfüllung dem Vorstand ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum eingeräumt ist. 145 Mülbert, AG 2009, 766 (772 f.). 140
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung „Ein Handeln zum Wohle der Gesellschaft liegt jedenfalls vor, wenn es der langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte oder Dienstleistungen dient.“146
Es wird vertreten, diese Formulierung sei gleichbedeutend mit dem Gesellschaftsinteresse der Aktiengesellschaft, die nach dem Gesetz typischerweise auf den Gesellschaftszweck der Gewinnerzielung ausgerichtet sei, dem wiederum der Vorrang des Aktionärsinteresses entspreche.147 Andererseits wird eingewandt, gerade aus dem Bezug auf das Gesellschaftswohl ergebe sich jedenfalls eine Absage an den Interessenmonismus.148 Hätte der Gesetzgeber allein das Aktionärsinteresse als Maßstab im Blick gehabt, so hätte er nicht „zum Wohle der Gesellschaft“, sondern „zum Wohle der Gesellschafter“ ins Gesetz geschrieben.149 Der Gesetzgeber habe nur den damaligen Minimalkonsens zum umstrittenen Begriff des Unternehmensinteresses als Grundlage nehmen wollen und weder das Unternehmensinteresse als Bezugspunkt aufgeben noch eine interessenmonistische Ausrichtung normieren wollen.150 Der Wortlaut ist weitestgehend deutungsoffen. Während bei § 76 Abs. 1 AktG die eigenverantwortliche Leitung noch eher für eine Gleichrangigkeit spricht, steht hier das Gesellschaftswohl kontextuell allein. Es kommt also darauf an, was man unter der Gesellschaft und ihrem Wohl versteht. Zutreffend ergibt sich daraus eine Absage an den Interessenmonismus, jedoch keine Aussage über Interessenpluralismus oder Interessenhierarchie. Gegen die dargestellte Ableitung des Gesellschaftsinteresses im Sinne einer Interessenhierarchie aus der Begründung des Regierungsentwurfs spricht zunächst, dass dieser im Kontext des Gesellschaftswohls ausdrücklich vom „Unternehmensinteresse“ und nicht vom „Gesellschaftsinteresse“ spricht.151 Jede Ableitung wird aber dadurch relativiert, dass der Regierungsentwurf insgesamt nicht sauber zwischen den Begriffen Unternehmensinteresse und Gesellschaftsinteresse trennt; von letzterem Begriff spricht dieser bezüglich der „erleichterten“ Durchsetzung von – unter anderem – Ansprüchen nach § 93 Abs. 2 AktG nach den §§ 147, 148 AktG.152 Zum Tatbestandsmerkmal des Handelns „auf der Grundlage angemessener Information“ wird in der Begründung des Regierungsentwurfs ausgeführt:
146 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; zustimmend und darauf verweisend Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 15/5693, S. 16. 147 Mülbert, AG 2009, 766 (772 f.). 148 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 37. 149 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 37. 150 Spindler, in: MüKo AktG, § 96 Rn. 46. 151 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 152 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 20.
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„Das Gesetz möchte den Mut zum unternehmerischen Risiko nicht nehmen, zugleich aber Unbesonnenheit und Leichtsinn auf Kosten der Kapitalgeber und der Arbeitnehmer keinen Vorschub leisten.“153
Hier wird das Interesse der Arbeitnehmer neben dem der Aktionäre als schutzwürdig anerkannt, allerdings ohne eine Aussage über deren Rangverhältnis zutreffen. Dies spricht erneut gegen den Interessenmonismus. Bezüglich Interessenpluralismus oder -hierarchie lässt sich aber auch insoweit aus der Begründung des Regierungsentwurfs keine Entscheidung für eine der beiden Auffassungen ableiten. dd) §§ 311 ff. AktG Ein Argument gegen den Interessenmonismus wird des Weiteren aus dem Konzernrecht, konkret den §§ 311 ff. AktG, abgeleitet.154 Die §§ 311 ff. AktG regeln den sog. faktischen Konzern, der immer dann vorliegt, wenn kein Beherrschungsvertrag zwischen einem herrschenden und einem beherrschten Unternehmen geschlossen wird. Das herrschende Unternehmen ist in diesem Fall verpflichtet, einen etwaigen Nachteil, den es dem beherrschten Unternehmen zugefügt hat, auszugleichen. Diese Regelung gilt auch, wenn das herrschende Unternehmen Alleinaktionär des beherrschten Unternehmens ist und kein Interesse am Nachteilsausgleich hat.155 Daraus wird ein generelles vom konkreten Aktionärsinteresse unabhängiges Interesse der Aktiengesellschaft abgeleitet.156 Selbst wenn man grundsätzlich wegen der praktischen Notwendigkeit auf ein objektiviertes Aktionärsinteresse abstelle, so könne sich dieses doch nicht gegen ein im Fall der Einpersonen-Aktiengesellschaft konkret feststehendes Aktionärsinteresse durchsetzen.157 Es lasse sich nämlich nicht begründen, warum ein objektives Aktionärsinteresse am Ausgleich bestehen sollte, wenn es konkret nicht vorhanden ist.158 Die Pflicht zum Nachteilsausgleich lasse sich bei der Einpersonen-Aktiengesellschaft nur mit den Interessen anderer Stakeholder, insbesondere der Gläubiger, begründen.159 Diese Argumentation überzeugt. Sie spricht nicht nur gegen eine interessenmonistische, sondern auch gegen eine interessenhierarchische Zielkonzeption der Aktiengesellschaft. Letzteres würde jedenfalls dann gelten, wenn man, wie hier, darunter versteht, dass jede Maßnahme zu Gunsten anderer Stakeholder sich langfristig für die Aktionäre auszahlen muss. In der geschilderten Fallkonstellation 153 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; zustimmend und darauf verweisend Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 15/5693, S. 16. 154 Siehe zu diesem Argument Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 155 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 156 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 157 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 158 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 159 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. Zur Stakeholder-Stellung der Gläubiger siehe unten Kap. 2, B. II. 6. (S. 158 f.).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
spricht nämlich nichts für eine derartige Annahme; vielmehr ist gerade die vorherige Nachteilszufügung im Aktionärsinteresse erfolgt. Man könnte einwenden, es handle sich hier gerade um einen Fall, in dem das Aktiengesetz durch den Vorstand bindendes zwingendes Recht die Interessen der anderen Stakeholder – wie sonst auch – angemessen schütze. Dies sei hier den Besonderheiten des Konzernrechts geschuldet. Diese bestehen darin, die atypische Störung des grundsätzlichen Gleichlaufs von Gesellschafts- und Gesellschafterinteresse zum Schutz etwaiger Gläubiger und Minderheitsaktionäre auszugleichen.160 Es ändere aber wiederum nichts an der Pflicht des Vorstands, sein grundsätzliches Leitungsermessen vorbehaltlich zwingender Vorschriften am Aktionärsinteresse auszurichten. Dies widerspricht jedoch der Auffassung der ganz herrschenden Meinung, nach der das Leitungsermessen nach § 76 durch § 311 AktG nicht eingeschränkt oder aufgehoben wird.161 Zusammenfassend machen die §§ 311 ff. AktG deutlich, dass ein vom Aktionärsinteresse abweichendes Interesse der Aktiengesellschaft im Gesetz seinen Niederschlag findet. Dieses Interesse besteht im Konzernrecht typischer Weise aus den Interessen der Gläubiger und der Minderheitsaktionäre. ee) Zwischenergebnis Die systematischen Argumente sprechen alle gegen eine interessenmonistische Zielkonzeption der Aktiengesellschaft. Sie passen besser zu einer interessenpluralistischen Zielkonzeption der Aktiengesellschaft. Dies gilt insbesondere für die Schlussfolgerungen aus den §§ 311 ff. AktG. Zeichnet sich so auch eine Tendenz ab, so kann eine interessenhierarchische Zielkonzeption allein aufgrund von systematischen Argumenten aber nicht ausgeschlossen werden. c) Die historischen Argumente Zu Beginn der historischen Auslegung wird die Entwicklung der Verfassung der Aktiengesellschaft fokussiert auf das Leitungsermessen des Vorstands dargestellt (aa) – cc)). Anschließend werden die aktuell daraus für die Zielkonzeption der Aktiengesellschaft abgeleiteten Argumente erläutert (dd)) und zu diesen Stellung genommen (ee)).
160 Zu dieser Funktion des Konzernrechts siehe Habersack, in: Emmerich/Habersack, Aktien-/GmbH-KonzernR, AktG § 311 Rn. 1. 161 KG, Beschluss vom 3. Dezember 2002 – 1 W 363/02, ZIP 2003, 1042 (1049); Altmeppen, in: MüKo AktG, § 311 Rn. 443; Bödeker, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 311 Rn. 35; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 311 Rn. 48; Müller, in: Spindler/Stilz, AktG, § 311 Rn. 62.
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aa) Art. 207 ff. ADHGB (1861) und §§ 178 ff. HGB (1897) Nach den Art. 207 ff. ADHGB (1861) und nachfolgend nach den §§ 178 ff. HGB (1897) war die Generalversammlung, die Vorgängerin der Hauptversammlung, das zentrale Organ der Aktiengesellschaft.162 Der Vorstand war ihr gegenüber weisungsabhängig und somit bloß ausführendes Organ.163 Ähnliches galt für den erst ab 1870 fakultativen Aufsichtsrat.164 Er wurde von der Generalversammlung gewählt und sollte die Geschäftsführung des Vorstands überwachen.165 Zwar oblag dem Vorstand die Geschäftsführung, doch konnte die Generalversammlung diese jeder Zeit an sich ziehen, Weisungen erteilen oder Vorstands- sowie Aufsichtsratsmitglieder abberufen bzw. ersetzen.166 Des Weiteren konnten dem Aufsichtsrat über die Satzung Geschäftsführungsbefugnisse eingeräumt werden.167 Dies geschah dann regelmäßig in der Form, dass der Aufsichtsrat dem Vorstand die Richtlinien für seine Geschäftsführung vorzugeben hatte und darüber hinaus beliebig Weisungen erteilen konnte.168 Der liberale Ansatz des Gesetzes scheiterte aber zunehmend in der Rechtswirklichkeit.169 Ein wachsender Streubesitz prägte die Zusammensetzung der meisten Aktiengesellschaften, was die nur bedingt effektive Wahrnehmung der umfänglichen Rechte der Generalversammlung zur Folge hatte.170 Das so regelmäßig entstehende Leitungsvakuum wurde ebenso regelmäßig durch den Vorstand oder den Aufsichtsrat gefüllt.171 Mitunter dominierten die Aktiengesellschaften aber auch anonyme Großaktionäre oder Aktionärsgruppen, welche die weisungsabhängigen Verwaltungsorgane zur Verfolgung ihrer persönlichen Interessen instrumentalisierten.172 Dies alles war eine Verkehrung des gesetzlichen Leitbilds und schuf zugleich den Boden für Reformdiskussionen.173 Im Wesentlichen gab es drei Reformrichtungen.174 162
Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 7. Hüffer, in: Bayer/Habersack, S. 334 (339 f.); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 7. 164 Fleischer, in: FS Heldrich, S. 597 (605); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 7. 165 Fleischer, in: FS Heldrich, S. 597 (605); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 7. 166 Fleischer, in: FS Heldrich, S. 597 (605); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 7 f. 167 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 8. 168 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., vor § 70. 169 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 9. 170 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 9. 171 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 9. 172 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 9. 173 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 5; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 10 ff. 174 Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (26 f.). 163
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Die erste Reformrichtung wollte die Rechte der Aktionäre als Eigentümer der Gesellschaft stärken.175 Erreicht werden sollte dies unter anderem durch ein Auskunftsrecht des Einzelaktionärs, Mindesterfordernisse für Umfang und Aktualität der Bilanz und die Abschaffung sämtlicher Instrumente wie Mehrstimmrechtsaktien, Vorratsaktien etc.176 Die zweite Reformrichtung ging auf Walter Rathenaus Schrift „Vom Aktienwesen“ aus dem Jahr 1917 zurück.177 Danach sollten die Rechte der Aktionäre gemindert werden, um die Aktiengesellschaften als volkswirtschaftlich bedeutsame Gebilde zu schützen und am gesamtvolkswirtschaftlichen Interesse auszurichten.178 Der Ansatz Rathenaus wurde in der Literatur weiterentwickelt unter dem schillernden Begriff des „Unternehmens an sich“.179 Den Begriff des „Unternehmens an sich“ prägte Fritz Haußmann, der allerdings – anders als Rathenau – ein Eigeninteresse des Unternehmens ablehnte und darunter stattdessen ein Gesamtinteresse verstand, das sich aus den divergierenden Stakeholder-Interessen ergebe.180 Dieses Gesamtinteresse gehe im Konfliktfall den Interessen der einzelnen Stakeholder vor.181 Damit eng verbunden ist auch der Begriff des Unternehmensinteresses, der erstmals in der Abhandlung „Die wirtschaftliche Methode im Gesellschaftsrecht“ von Karl Geiler im Jahr 1927 auftaucht.182 Geiler verstand darunter die Summe aller Interessen, die Stakeholder an die AG richten und die der Vorstand ausgleichen soll.183 Die dritte Reformrichtung schließlich wollte den Status quo erhalten. Weder sollten durch die Aktiengesellschaft gesamtwirtschaftliche Interessen verfolgt noch die Rechte der Aktionäre gestärkt werden.184 Die faktische Vorherrschaft der
175
Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (26). Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (26). 177 Rathenau, Vom Aktienwesen; siehe dazu Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (26 f.). 178 Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (26 f.); zu Rathenaus Konzept der Gemeinwirtschaft, das die Grundlage seiner Ausführungen zur AG bildet, siehe Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (449 ff.). 179 Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (26 f.); Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (478 f.). 180 Haußmann, Bankarchiv 30 (1930/31), 57 (58); ausführlich dazu Spindler, in: Bayer/ Habersack, S. 440 (478 ff.). 181 Haußmann, Bankarchiv 30 (1930/31), 57 (62 ff.); ausführlich dazu Spindler, in: Bayer/ Habersack, S. 440 (478 ff.). 182 Geiler, Gruchots Beiträge 68 (1927), 1927, 593 (612); ausführlich dazu Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (478 ff.). 183 Geiler, Gruchots Beiträge 68 (1927), 1927, 593 (612); ausführlich dazu Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (478 ff.). 184 Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (27). 176
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Verwaltung sollte bestehen bleiben und lediglich einzelne Anpassungen schwerere Missbräuche verhindern.185 Die Reform ließ aber noch bis 1937 auf sich warten. bb) § 70 Abs. 1 AktG (1937), die Vorgängervorschrift des heutigen § 76 Abs. 1 AktG Durch die Aktienrechtsreform 1937 wurden die Rechte und Pflichten der drei Organe in erheblichem Umfang und zudem weitestgehend zwingend neu bestimmt.186 Im Großkommentar zum Aktiengesetz von 1961 wird dies als die „wichtigsten und grundlegenden Änderungen der Reform von 1937“ bezeichnet.187 Inhaltlich beruhte die Reform vor allem auf Reformentwürfen aus den Jahren 1930188 und 1931189 sowie auf den diesen vorangegangenen Empfehlungen der Reformkommission des Deutschen Juristentages190 und der Wirtschaftsenquete191 und auf den nachfolgenden Verhandlungen des Aktienrechtsausschusses des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats192.193 Dem Entwurf von 1930 war eine umfangreiche Befragung der Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaft auf Basis von neun Fragebögen und über 700 Fragen vorausgegangen, in deren Beantwortung sich die skizzierten Reformrichtungen widerspiegelten.194 Die Entwürfe von 1930 und 1931 wandten sich von der Vorstellung einer allein den Aktionärsinteressen dienenden AG ab und erkannten die gestiegene volkswirtschaftliche Bedeutung und das Allgemeininteresse an.195 Dies stellte einen Mittelweg zwischen den Reformrichtungen dar.196 In den erläuternden Bemerkungen zum Entwurf von 1930 heißt es: „Der Entwurf verkennt nicht, daß das Gedeihen eines Unternehmens in hohem Maße davon abhängt, daß den leitenden Persönlichkeiten schnelles Entschließen und rasches Handeln ermöglicht wird. Eine zu starke Beengung der in der Verwaltung tätigen Kräfte, insbesondere auf dem Gebiete der Finanzierung, wu¨ rde den Interessen des Unternehmens und 185
Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (27). Fleischer, in: FS Heldrich, S. 597 (605 f.); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 17. 187 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., vor § 70. 188 Reichsjustizministerium, Aktiengesetz Entwurf 1930. 189 Reichsjustizministerium, Aktiengesetz Entwurf 1931. 190 DJT, Bericht Aktienrechts Kommission. 191 Wirtschaftsenquete, Generalbericht. 192 Protokolle der Verhandlungen des Aktienrechtsausschusses des Vorläufigen Reichwirtschaftsrats, abgedruckt bei Hommelhoff, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 71 (101 ff.). 193 Hommelhoff, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 71 (74 f.); Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 12; Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (447); zur Einverleibung durch das NS-Regime siehe beispielsweise Teichmann/Koehler, AktG, § 70 Anm. 1. 194 Schubert, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 9 (29). 195 Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (482 f.). 196 Spindler, in: Bayer/Habersack, S. 440 (483). 186
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung damit der Aktionäre und der Allgemeinheit zuwiderlaufen. Der gesteigerten Macht der Verwaltungen bei der Betreuung fremden Kapitals muß jedoch eine gesteigerte Rechenschaftspflicht und Kontrolle entsprechen.“197
Eine weisungsfreie Leitung des Vorstands sahen aber weder der Entwurf 1930 noch 1931 vor.198 Maßgeblich für die spätere Kodifizierung waren insbesondere die Verhandlungen im Aktienrechtsausschuss des Vorläufigen Reichswirtschaftsrat in den Jahren 1932/33.199 Dieser verfolgte als zentrales Motiv die Selbstständigkeit des Vorstands.200 Der Aktienrechtsausschuss erkannte die tatsächliche Macht der Vorstände, forderte, diese rechtlich abzusichern und gleichzeitig durch die Kompetenzen der anderen Organe auszugleichen.201 Damit wurden die Voraussetzungen für die spätere Kodifikation der Weisungs- und Entscheidungsfreiheit des Vorstands geschaffen sowie die wesentlichen Grundlagen für die heutige Verfassung der Aktiengesellschaft gelegt.202 Diese den Kern des neuen Aktiengesetzes bildenden Vorarbeiten verleibten sich die Nationalsozialisten ein und spickten sie mit nationalsozialistischer Terminologie.203 Nach der Machtergreifung gründete der Reichsjustizkommissar am 26. Juni 1933 die Akademie für Deutsches Recht, deren Aufgabe es sein sollte, den Einzug der nationalsozialistischen Weltanschauung in das deutsche Recht „wissenschaftlich“ vorzubereiten.204 Im Januar 1934 tagte erstmalig der Ausschuss für Aktienrecht dieser Akademie.205 Zu Beginn der inhaltlichen Arbeit betonte der Ausschussvorsitzende unter anderem die Bedeutung des Führerprinzips für eine Reform des Aktienrechts und verwies auf den ersten Paragraphen des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934. Dieser lautete:206
197
Reichsjustizministerium, Aktiengesetz Entwurf 1930, S. 95. Reichsjustizministerium, Aktiengesetz Entwurf 1930, S. 22 ff. – §§ 61 ff.; Reichsjustizministerium, Aktiengesetz Entwurf 1931, S. 9 ff. – §§ 61 ff. 199 Hommelhoff, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 71 (73 ff.). 200 Hommelhoff, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 71 (74 f.). 201 Hommelhoff, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 71 (75). 202 Hommelhoff, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform Weimarer Republik, S. 71 (74 f.). 203 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 10; Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. XLVI; Seibert, AG 2015, 593 (593); Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (152 f.). 204 Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. VIII f. 205 Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 3. 206 Akademie für Deutsches Recht – Ausschuss für Aktienrecht, Bericht über die erweiterte Sitzung des Ausschusses vom 9. Februar 1934, S. 2, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 20. 198
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„Im Betrieb arbeiten der Unternehmer als Führer des Betriebs, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke und zum gemeinen Nutzen von Volk und Staat.“207
Nach der Auffassung des Ausschussvorsitzenden sollte dieser als Leitsatz über der Diskussion zur Rolle des Führerprinzips im Aktiengesetz stehen.208 Der erste Bericht des Ausschussvorsitzenden wurde 1934 vorgelegt.209 Darin verwies dieser erneut auf den angeführten Paragraphen und schrieb unter anderem über die Rolle des Führerprinzips im geltenden und kommenden Aktienrecht.210 Das Führerprinzip müsse auch in der Aktiengesellschaft angewendet werden, jedoch seien die Pflichten eines „Wirtschaftsführers“ in einer Aktiengesellschaft andere als die des „politischen Führers“ des Staates.211 Beide seien zwar verpflichtet, dem Staat und dem Volk zu dienen, doch könne der Wirtschaftsführer dies nur mittelbar, indem er den Betrieb im Sinne der Betriebszwecke und zum gemeinem Nutzen von Volk und Staat führe.212 Ein wirtschaftlicher Betrieb habe immer die Erzielung eines Gewinns als Ziel.213 Grundsätzlich entspreche das geltende Aktienrecht, jedenfalls im Außenverhältnis, bereits einem so verstandenen Führerprinzip.214 Reformbedarf bestehe im Innenverhältnis: Die unabhängige Führung durch den Vorstand sei eindeutig im Gesetz zu regeln. Bei Kollegialorganen sei ein alleinvertretungsberechtigter Vorstandsvorsitzender zwingend und die Kompetenzen der anderen Gesellschaftsorgane seien zugunsten des Vorstandes entsprechend zu reduzieren und eindeutig abzugrenzen.215 Die unabhängige Führung müsse gleichzeitig zu einer stärkeren Haftung führen.216 Unter anderem schlug der Ausschussvorsitzende vor, die herausgehobene Stellung
207
§ 1 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 20. 208 Akademie für Deutsches Recht – Ausschuss für Aktienrecht, Bericht über die erweiterte Sitzung des Ausschusses vom 9. Februar 1934, S. 2, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 20. 209 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 473 ff. 210 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 12 ff., abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 484 ff. 211 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 13, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 485. 212 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 13, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 485. 213 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 13, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 485. 214 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 13, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 485. 215 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 12 ff., 22, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 484 ff., 494. 216 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 20 ff., abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 492 ff.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
und Verantwortung des Vorstands durch einen neuen ersten Absatz in der Bestimmung zur Vertretungsbefugnis zu kodifizieren:217 „Der Vorstand ist der Führer der Aktiengesellschaft. Er hat die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Betriebes und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Staat es erfordern. Für seine Geschäftsführung trägt er die selbstständige Verantwortung.“218
1935 legte das Reichsjustizministerium aufbauend auf die Ergebnisse des Ausschusses für Aktienrecht sowie vor allem auf die grundsätzlichen Vorarbeiten aus der Weimarer Republik einen neuen Entwurf des Aktiengesetzes vor.219 Dieser sah erstmals ausdrücklich die Weisungsfreiheit des Vorstands vor, verwies dabei aber auf das Führerprinzip. § 69 Abs. 1 AktG des Entwurfs zum Aktiengesetz von 1935 lautete: „Der Vorstand ist der Führer der Aktiengesellschaft. Er hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Betriebes und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es erfordern.“220
Diese Normierung des Führerprinzips wurde durch das Reichswirtschaftsministerium kritisiert, was zu der Änderung führte, die der späteren Gesetzesfassung entsprach.221 Warum das Reichsjustizministerium die Vorschrift ohne Widerstand änderte, lässt sich auf Basis der Ministerialakten nicht mehr nachvollziehen.222 § 70 Abs. 1 AktG 1937 lautete: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es fordern.“223
Damit wurde die Leitung nicht nur exklusiv dem Vorstand übertragen, sondern auch erstmalig ein Leitungsmaßstab für diese normiert.224 Im neu geschaffenen Aktiengesetz wurden die Rechte der Hauptversammlung massiv beschnitten und im Gegenzug die des Vorstands erheblich erweitert.225 Gegenüber Hauptversammlung 217 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 18, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 490. 218 Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Aktienrecht, S. 18, abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. 490. 219 Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. XL. 220 Abgedruckt bei Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. XL – Fn. 127. 221 Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. XLII. 222 Schubert, Akademie für Deutsches Recht – Protokolle, S. XLV f. Dort findet sich auch ein möglicher Erklärungsansatz. 223 Abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 593 f. 224 So bereits Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 1; aus der aktuellen Literatur Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 60; die Amtliche Begründung spricht ausdrücklich von einer Richtlinie für die Leitung der Gesellschaft, abgedruckt bei Klausing, Aktiengesetz 1937, S. 58 f. 225 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 14.
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und Aufsichtsrat war der Vorstand nun weisungsfrei (§§ 95, 103 AktG 1937).226 Hintergrund für diese Änderungen war nach den „vor-nationalsozialistischen“ Reformdiskursen insbesondere die wachsende volkswirtschaftliche Bedeutung der Aktiengesellschaft als Organisationsform der Großunternehmen.227 Aufgrund dieser Bedeutung sollte die Geschäftsführung nicht mehr von der Mehrheit der Aktionäre, die oft nicht über die erforderliche fachliche Vorbildung und Kenntnis des Unternehmens verfügten, sondern von den entsprechend vorgebildeten, hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern verantwortet werden.228 Dies entsprach teilweise der bereits skizzierten Verkehrung des früheren gesetzlichen Leitbilds in der Rechtswirklichkeit.229 Nur wenn der Vorstand der Hauptversammlung eine Maßnahme zur Entscheidung vorlegte, konnte diese noch entscheiden, dann allerdings für den Vorstand verbindlich (§ 103 Abs. 2 AktG 1937).230 Der Aufsichtsrat wiederum wurde völlig von der Geschäftsführung ausgeschlossen und war nunmehr ausschließlich für die Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands zuständig (§ 95 Abs. 1 und 5 AktG 1937).231 Er wurde von der Hauptversammlung gewählt und bestellte die Vorstandsmitglieder.232 Neben der Leitung fiel nun auch die Feststellung des Jahresabschlusses in den Zuständigkeitsbereich des Vorstands, allerdings vorbehaltlich der Zustimmung des Aufsichtsrats (§ 125 AktG 1937).233 Das ermöglichte es dem Vorstand, grundsätzlich nach Belieben und auf Kosten der Aktionärsdividenden stille und offene Rücklagen zur Selbstfinanzierung zu bilden.234 Die Hauptversammlung entschied lediglich noch über die Verwendung des im Jahresabschluss ausgewiesenen Reingewinns (§ 126 AktG 1937), der bereits bilanziell um Wertberichtigungen, Abschreibungen, Rücklagen und Rückstellungen gemindert war (§ 131 Abs. 2 AktG 1937).235 Parallel zum Rechte- und Pflichtenzuwachs von Vorstand und Aufsichtsrat wurde auch die Haftung für Pflichtverletzungen erweitert.236 226
Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 14 f. Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., vor § 70, § 70 Anm. 1 und 10. 228 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., vor § 70; Teichmann/Koehler, AktG, § 70 Anm. 1. Letzterer stellt zudem klar, dass dies bereits vor dem NS-Regime gedacht und erarbeitet worden war; siehe auch die Amtliche Begründung, abgedruckt bei Klausing, Aktiengesetz 1937, S. 56 f. 229 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 10. Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 4. c) aa) (S. 65 ff.). 230 Fleischer, in: FS Heldrich, S. 597 (605); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 15. 231 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 17. 232 Fleischer, in: FS Heldrich, S. 597 (605); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 15. 233 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 16. 234 Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 6; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 16. 235 Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 16. 236 Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 17. 227
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cc) § 76 Abs. 1 AktG In den ersten Jahren der Bundesrepublik galt das Aktiengesetz 1937 und insbesondere § 70 Abs. 1 AktG 1937 im Wesentlichen unverändert fort.237 Es wurde nun im Lichte der Sozialen Marktwirtschaft interpretiert.238 Nach der herrschenden Meinung galt § 70 Abs. 1 AktG 1937 auch nach der Verabschiedung des Art. III des von der Militärregierung erlassenen Gesetzes Nr. 1.239 Danach war die Anwendung deutscher Gesetze verboten, soweit sie nationalsozialistische Grundsätze enthielten.240 Die nationalsozialistisch geprägte Terminologie ändert nichts an der sachlichen Rechtfertigung.241 Davon ging auch § 71 Abs. 1 AktG des Referentenentwurfs von 1958 zur Aktienrechtsnovelle aus,242 ebenso wie der spätere Regierungsentwurf.243 Anlass für die Reformdiskussion war vor allem das Ziel, die trotz Währungsreform und Wirtschaftswunder nur schleppend voranschreitende Herausbildung eines leistungsfähigen Kapitalmarkts zu beschleunigen.244 Die Aktiengesellschaft war zwar die Rechtsform der Großunternehmen, doch war der Streubesitz gering, was wiederum auf die in Folge der Selbstfinanzierung raren Dividenden zurückgeführt wurde.245 Daher sollte vor allem der Vorstand in seinem Recht, Rücklagen zu bilden, ebenso eingeschränkt werden (§ 58 Abs. 2 AktG) wie in dem, stille Reserven zu schaffen (§§ 266 ff. HGB).246 Ein weiterer Reformgrund war neben anderen die Verbannung nationalsozialistischer Terminologie aus dem Aktiengesetz.247 § 71 Abs. 1 des Referentenentwurfs von 1958 lautete dementsprechend: 237
Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 18; Teichmann/Koehler, AktG, Einl. 5 c). Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 11; Teichmann/ Koehler, AktG, § 70 Anm. 3. 239 Godin/Wilhelmi, in: Godin/Wilhelmi, AktG, 2 Aufl. , § 70 Anm. 2; Schmidt/MeyerLandrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 10; Teichmann/Koehler, AktG, Einl. 2. 240 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 10; Teichmann/ Koehler, AktG, Einl. 2. 241 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 10; Teichmann/ Koehler, AktG, Einl. 2. 242 Schmidt/Meyer-Landrut, in: Großkomm AktG, 2. Aufl., § 70 Anm. 10. 243 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 92. 244 Schäffer (Bundesminister der Justiz/CSU), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7638 ff.; Kropff, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 1 (4); Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 18. 245 Schäffer (Bundesminister der Justiz/CSU), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7638 ff.; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 18; zum Reformziel, die Aktie attraktiver zu machen, siehe Kropff, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 1 (4 f.). 246 Schäffer (Bundesminister der Justiz/CSU), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7638 ff.; Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 24. 247 Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 18; über die terminologischen Änderungen hinaus hat sich dieses Reformziel inhaltlich auf die Reform kaum ausgewirkt, zu diesem Ergebnis kommt Kropff, in: Bayer/Habersack, S. 670 (698 ff.). 238
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„Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Unternehmens, seiner Arbeitnehmer und Aktionäre, sowie das Wohl der Allgemeinheit es erfordern.“248
In der Begründung des Referentenentwurfs wurde ausdrücklich die Gleichrangigkeit der verschiedenen vom Vorstand zu berücksichtigenden Interessen betont.249 Diese Fassung wurde im späteren Regierungsentwurf nicht übernommen. Stattdessen wurde die noch heute geltende Fassung des § 76 Abs. 1 AktG gewählt: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten.“
In der Regierungsbegründung heißt es aber: Die Regelung des § 76 Abs. 1 AktG entspreche § 70 Abs. 1 AktG 1937.250 Die Ableitung einer darüberhinausgehenden Gemeinwohlklausel, die einen Vorrang des öffentlichen bzw. staatlichen Interesses normiert, ist nach – zutreffender – heute ganz herrschender Meinung abzulehnen.251 Der Verzicht auf die Übernahme des Leitungsmaßstabs des § 70 Abs. 1 AktG 1937 wird im Regierungsentwurf wie folgt begründet: Die Berücksichtigung der Belange der Aktionäre und Arbeitnehmer bei Maßnahmen des Vorstands verstehe sich von selbst und müsse daher nicht ausdrücklich im Gesetz stehen.252 Gleiches gelte für die Belange der Allgemeinheit.253 Gefährde der Vorstand durch gesetzeswidriges Verhalten das Gemeinwohl, so könne die Gesellschaft nach § 382 AktG aufgelöst werden.254 Der Entwurf wurde das erste Mal im Jahr 1960 in der dritten Wahlperiode des Bundestages eingebracht.255 Die erste Lesung erfolgte am 7. Dezember 1960.256 Der Abgeordnete Barzel (CDU/CSU-Fraktion) betonte in seiner Rede die Selbstverständlichkeit der Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit und der Arbeitnehmer.257 Anschließend kündigte er die grundsätzliche Bereitschaft der Fraktion an, in den Ausschüssen zu diskutieren, ob dies wieder ausdrücklich in den Geset-
248
Bundesjustizministerium, RefE Aktiengesetz, S. 30. Bundesjustizministerium, RefE Aktiengesetz, S. 223. 250 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 121; darauf verweist auch OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919). 251 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 32; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 84; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 33; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 60 f. 252 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 121; darauf verweist auch OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919). 253 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 121; darauf verweist auch OLG Frankfurt, Urteil vom 17. August 2011 – 13 U 100/10, AG 2011, 918 (919). 254 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 121. 255 Begr. RegE, BT-Drucks. 3/1915. 256 BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7638 ff. 257 Barzel (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7647. 249
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zesentwurf aufgenommen werden sollte.258 Der Abgeordnete Heinemann erwiderte darauf, der Vorstand sei wegen des Wegfalls des Leitungsmaßstabs im Gesetzesentwurf nicht mehr auf das Gesellschaftswohl im Ganzen sowie das Wohl der Arbeitnehmer, Aktionäre und der Allgemeinheit ausgerichtet.259 Obwohl der Regierungsentwurf dies für selbstverständlich halte, bäte er darum, diesen „Orientierungsmaßstab“ für die Vorstandsentscheidungen „in seiner größeren Ausdrucksform“ wieder in den Gesetzesentwurf aufzunehmen.260 Das Gesetz wurde in der dritten Wahlperiode nicht mehr verabschiedet und wurde so 1962 während der vierten Wahlperiode gleichlautend erneut eingebracht.261 Die erste Lesung erfolgte am 23. Februar 1962.262 Der Bundesminister der Justiz Stammberger machte in seinen Ausführungen deutlich: Die Rechte der Aktionäre als wirtschaftliche Eigentümer sollten durch die Reform gestärkt und auf keinen Fall weiter geschwächt werden.263 Unabhängig davon teile man aber die Auffassung Rathenaus insoweit, als Großunternehmen nicht mehr nur ein Gebilde privatrechtlicher Interessen, sondern ein nationalwirtschaftlicher Faktor seien.264 Niemand wolle Aktiengesellschaften zu bloß privatwirtschaftlich gebundenen Gesellschaften zurückbilden.265 Um die Attraktivität für die Anleger zu steigern, solle aber auch ebenso sicher eine weitere Sozialisierung verhindert werden.266 Der Abgeordnete Deist (SPD-Fraktion) äußerte konkret im Hinblick auf die Streichung des Leitungsmaßstabs, dass viele Kommentatoren bezüglich der Selbstverständlichkeit anderer Auffassung seien.267 Beispielsweise würde die Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen als Ausnahmefall des deutschen Aktienrechts bezeichnet.268 Es sei also falsch, insoweit von einer Selbstverständlichkeit auszugehen.269 258 Barzel (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7647. 259 Heinemann (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7655. 260 Heinemann (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7655. 261 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171. 262 BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 579 ff. 263 Stammberger (Bundesminister der Justiz/FDP), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 583 f. 264 Stammberger (Bundesminister der Justiz/FDP), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 583. 265 Stammberger (Bundesminister der Justiz/FDP), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 583. 266 Stammberger (Bundesminister der Justiz/FDP), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 583 f. 267 Deist (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 590. Er führt seine Auffassung ausdrücklich auf das Unternehmen an sich zurück, S. 585 ff. 268 Deist (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 590.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Der Abgeordnete Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion) vertrat den Standpunkt: Es sei selbstverständlich richtig, dass neben den Aktionären als wirtschaftlichen Eigentümern andere Interessen zu berücksichtigen seien.270 Auch stimme er dem Abgeordneten Deist insofern völlig zu, als dass die Aktionäre nicht allein entscheiden sollten.271 Dies ergebe sich aber auch in keiner Weise aus dem Gesetzesentwurf, der, vereinfacht gesagt, nur das Recht der Hauptversammlung, über die Gewinnverteilung zu entscheiden, stärke und die Rücklagenbildung für die Verwaltung erschwere.272 Nach der Aussprache wurde der Gesetzesentwurf zur weiteren Beratung federführend an den Rechtsausschuss übertragen; mitberatend wurden der Wirtschaftsausschuss sowie der Ausschuss für Arbeit tätig.273 Wie sich aus dem Bericht des Rechtsauschusses ergibt, wurde ein Änderungsantrag gestellt, der das Ziel verfolgte, einen § 72a AktG einzuführen.274 Dieser sollte bestimmen, dass die Gesellschaft das Unternehmen unter Berücksichtigung des Wohls seiner Arbeitnehmer, der Aktionäre und der Allgemeinheit zu betreiben habe.275 Begründet wurde dieser wie folgt: § 72a sei erforderlich, damit § 70 Abs. 1 AktG 1937 – wenn gleich abgewandelt – überhaupt weiter gelte.276 Die Streichung des Leitungsmaßstabs könnte zu einer Änderung der Rechtsprechung führen.277 Die Gerichte könnten daraus schließen, dass der Vorstand – anders als bisher – das öffentliche Wohl und das Wohl der Arbeitnehmer nicht mehr beachten müsse.278 Schließlich sei die Pflicht von Gesellschaft, Aufsichtsrat und Vorstand neben dem Aktionärsinteresse auch das Arbeitnehmerinteresse und das öffentliche Interesse zu berücksichtigen von so grundsätzlicher Bedeutung, dass sie nicht einfach nur stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt werden könne.279 Sie müsse ausdrücklich normiert werden.280
269
Deist (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 590. Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 595. 271 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 596. Bezüglich der Lehre vom Unternehmen an sich, auf die der Abgeordnete Deist sich beruft, führt er an derselben Stelle aus, die Juristen hätten zwar juristische Personen geschaffen, die Träger von Rechten und Pflichten sein könnten, aber handeln könnten diese allein nicht. Aus diesem Grund gebe es auch kein Unternehmen an sich. 272 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 596. 273 BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 601. 274 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 275 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 276 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 277 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 278 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 279 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97 f. 280 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. 270
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Der Antrag wurde von der Mehrheit sowohl im Rechts- als auch im Wirtschaftsausschuss abgelehnt.281 Wie sich aus dem Ausschussbericht ergibt, wurde aber ausdrücklich daraufhin gewiesen, dass man die Auffassung der Antragsteller teile, nach der jede Aktiengesellschaft, auch wenn sie auf Gewinnerzielung ausgerichtet sei, sich in die Gesamtwirtschaft und die Interessen der Allgemeinheit einzufügen habe.282 Dies ergebe sich auch aus § 396 AktG.283 Weiter sei die Berücksichtigung des Wohls der Arbeitnehmer in einem sozialen Rechtsstaat selbstverständlich und ergebe sich darüber hinaus auch aus einer Vielzahl von Vorschriften, die diesen Grundsatz konkretisierten.284 Es verstehe sich schließlich ebenfalls von selbst, dass eine Gesellschaft auch nicht über die Interessen ihrer Arbeitnehmer hinweggehen dürfe.285 In Folge dieser Selbstverständlichkeiten habe ein potentieller § 72a AktG keine eigenständige Bedeutung.286 Im Falle seines Einzugs in das Gesetz bestehe aber die Gefahr, dass ihm eine eigenständige Bedeutung zugemessen würde.287 Diese würde konkret in einem Rückschluss aus der Reihenfolge auf die Bedeutung bestehen, so als solle das Wohl der zuerst aufgezählten Arbeitnehmer das der Aktionäre überwiegen und beide jeweils wiederum das Wohl der Allgemeinheit.288 Diese Gefahr spreche schließlich ebenfalls gegen die beantragte Ergänzung.289 In der sich an die Ausschussberatungen anschließenden zweiten Lesung wurde erneut ein Antrag auf Einfügung eines § 72a gestellt, der inhaltlich denen in den Ausschüssen entsprach.290 Der Abgeordnete Reischl (SPD-Fraktion) wiederholte in seiner Begründung im Wesentlichen die bereits im Ausschussbericht erwähnten Gründe.291 Zu dem Argument, Gerichte könnten aus der Streichung falsche Schlüsse ziehen, führte er ergänzend aus, der Leitungsmaßstab habe auch die Funktion Vorstand und Aufsichtsrat vor unberechtigten Haftungsansprüchen schützen.292 Wenn der Vorstand beispielsweise im gesamtwirtschaftlichen Interesse von einer Preiserhöhung Abstand nähme, bestünde ohne normierten Leitungsmaßstab die Gefahr, dass die Aktionäre eine Schadensersatzklage wegen des entgangenen Gewinns initiierten.293 Nur die ausdrückliche Normierung eines Leitungsmaßstabs schütze den 281
Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. 283 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. Dort heißt es ausdrücklich „auch“. 284 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. 285 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. 286 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 287 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 288 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 289 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97. 290 BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom S. 9217 ff. und 9276 f. – Anlage 6. 291 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217. 292 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217. 293 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217 f. 282
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Vorstand sicher davor, Schadensersatz leisten zu müssen, wenn er im Einzelfall das öffentliche Interesse oder das Arbeitnehmerinteresse dem Aktionärsinteresse vorziehe.294 Der Abgeordnete Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion) erwiderte darauf, zweifelsfrei habe der Vorstand einer Aktiengesellschaft das Aktionärsinteresse, das Arbeitnehmerinteresse und das Allgemeinwohl zu berücksichtigen.295 Es sei selbstverständlich und müsse daher nicht ins Gesetz geschrieben werden.296 Dies gelte allein deshalb, da andernfalls der Gesetzgeber für den Fall einer Interessenkollision eine starre Rangfolge der Interessen ins Gesetz schreiben müsse.297 Auch nach der Auffassung des Abgeordneten Reischl sei dies aber nicht möglich, da über den Vorrang von Fall zu Fall zu entscheiden sei.298 Über die Einzelfälle zu entscheiden, obliege dem Vorstand – gegebenenfalls zusammen mit dem Aufsichtsrat.299 Würde man die Interessen ins Gesetz aufnehmen, müssten sie in irgendeiner Reihenfolge ins Gesetz geschrieben werden.300 Allein über diese Reihenfolge würde zwischen den drei Parteien des Bundestages wahrscheinlich ein heftiger Streit ausbrechen.301 Der Abgeordnete Reischl habe aber insoweit Recht, als die Gerichte eine Änderung der Rechtslage aus der Streichung ableiten könnten.302 Um dem vorzubeugen, habe er diese Frage im Bericht des Rechtsausschusses angeschnitten.303 Obwohl man das Anliegen des Abgeordneten Reischl voll anerkenne, sei im Ergebnis eine gesetzliche Regelung abzulehnen.304
294
Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217 f. 295 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 296 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 297 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 298 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 299 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 300 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 301 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 302 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 303 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 304 Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Der Abgeordnete Aschoff (FDP-Fraktion) schloss sich den Ausführungen seines Vorredners Wilhelmi an.305 Die Rangfolge der Interessen sei schwer zu regeln.306 Weitergehend habe er Bedenken, ob der Vorstand einer Aktiengesellschaft überhaupt verpflichtet sei, das Allgemeinwohl zu berücksichtigen.307 Er würde dies nur aus der Sozialverpflichtung des Grundgesetzes ableiten, woraus sich die Richtung und zugleich die Grenze ergebe.308 Zusammengefasst hat das im Wesentlichen noch heute geltende Aktiengesetz von 1965 die durch das Aktiengesetz 1937 vollzogene Verfassungsänderung bestätigt: Die Rechte und Pflichten der Organe sind im Kern unverändert geblieben.309 Aus dem dargestellten Inhalt des Gesetzgebungsverfahrens werden in der Literatur im Hinblick auf die Zielkonzeption jedoch unterschiedliche Schlüsse gezogen. dd) Meinungsstand Teilweise wird geltend gemacht der Gesetzgeber des Jahres 1965 habe den Leitungsmaßstab des § 70 Abs. 1 AkG 1937 bewusst nicht übernommen und damit dessen Abschaffung klar zum Ausdruck gebracht.310 Dafür spreche auch die Streichung des im Referentenentwurf noch vorgesehenen Leitungsmaßstabs im Regierungsentwurf, weil sich die Berücksichtigung der Belange von Aktionären, Arbeitnehmern und der Allgemeinheit von selbst verstehe.311 Noch deutlicher ergebe sich dies aus den Debatten im Plenum und den Ausschüssen des Bundestages, in denen ein Leitungsmaßstab kein Thema mehr gewesen sei.312 Äußerungen über die Selbstverständlichkeit und daher Überflüssigkeit einer solchen Bestimmung hätten sich ausschließlich auf den abgelehnten § 72a bezogen.313 Dieser hätte aber auf die Führung des Unternehmens durch die Gesellschaft abgestellt, und eine Bestimmung in diesem Sinne sei mit einem Leitungsmaßstab für die Leitung der Gesellschaft
305
Aschoff (FDP-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. Aschoff (FDP-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 307 Aschoff (FDP-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 308 Aschoff (FDP-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 309 Dies entspricht der Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 120 f.; ebenso Stammberger (Bundesminister der Justiz/FDP), BT-Plenarprotokoll 4/17, Sitzung vom 23. Februar 1962, S. 580; siehe auch Spindler, in: MüKo AktG, vor § 76 Rn. 19; hinsichtlich des Aufsichtsrats siehe Lutter, in: Bayer/Habersack, S. 389 (412 ff.). Zur Verfassung der AG siehe oben Kap. 2, A. II. (S. 43 f.). 310 Zuerst Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (142); zustimmend Birke, Formalziel der Aktiengesellschaft, S. 172; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 60 f. 311 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (142); Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 60 f. 312 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (142); zustimmend Baas, Leitungsmacht und Gemeinwohlbindung, S. 68. 313 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (142 f.); zustimmend Baas, Leitungsmacht und Gemeinwohlbindung, S. 68 f. 306
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durch den Vorstand nicht vergleichbar.314 Daher seien die Äußerungen zur Selbstverständlichkeit und Überflüssigkeit in der Regierungsbegründung und im Rechtsausschuss ebenfalls nicht vergleichbar bzw. inhaltsgleich.315 Dies ergebe sich zwar nicht eindeutig aus dem Antrag zur Einführung des § 72a, wohl aber aus den missglückten Interpretationsversuchen der Literatur zu § 70 Abs. 1 AktG 1937, von dem sich § 72a erheblich unterschieden hätte.316 Einige Vertreter eines interessenmonistischen oder interessenhierarchischen Ansatzes sind der Auffassung, die Wertungen des Gesetzgebers von 1965 seien im Zeitablauf und vor dem Hintergrund neuer Wertungen durch nachfolgende Gesetzesnovellen „verblasst“.317 Hiergegen wird eingewandt, dass die Beweislast für ein Abrücken des Gesetzgebers von seiner ursprünglich interessenpluralistischen Zielkonzeption bei der Gegenauffassung liege.318 Um den Beweis zu führen, werden zunächst die Änderungen im Rahmen des KonTraG319 von 1998 angeführt, konkret der erleichterte Rückerwerb eigener Aktien nach § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG sowie die Möglichkeit zur Einräumung von Aktienoptionen für Führungskräfte durch bedingte Kapitalerhöhung nach § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG.320 Der Rückerwerb von Aktien sei ein anerkanntes Mittel zur Stabilisierung oder sogar Steigerung des Börsenkurses und damit gleichzeitig des Shareholder-Value.321 Aktienoptionen für den Vorstand wiederum dienten gerade dazu, die Geschäftsführung am Aktionärsinteresse eines möglichst hohen Börsenkurses und damit zugleich eines möglichst hohen Shareholder-Value auszurichten.322 Es wäre absurd davon auszugehen, der Gesetzgeber würde solche Aktienoptionen bewusst ins Gesetz schreiben und gleichzeitig dem Vorstand verbieten, seine Geschäftsführung am Shareholder-Value auszurichten.323 Schließlich wird auf § 315a HGB verwiesen, der das HGB für die internationale Rechnungslegung öffnet.324 In den aufgeführten Gesetzesänderungen käme folglich die Anerkennung des Shareholder-Value-Konzeptes durch den Gesetzgeber und 314
Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (143); zustimmend Baas, Leitungsmacht und Gemeinwohlbindung, S. 68 f. 315 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (143); dagegen Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (153 – Fn. 56). 316 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (143). 317 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 23; ebenso Goslar, in: Wilsing, DCGK, Ziff. 4.1.1 Rn. 14; Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 f. und 437 ff.); insoweit ebenfalls zustimmend Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (158 f.). 318 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30. 319 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG), BGBl. I 1998, 786 (im Folgenden: KonTraG). 320 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 23; insoweit zustimmend Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (158 f.). 321 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 f. und 437 ff.). 322 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 f. und 437 ff.). 323 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 f. und 437 ff.). 324 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 23 und 36.
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damit nun die interessenmonistische bzw. interessenhierarchische Zielkonzeption der Aktiengesellschaft zum Ausdruck.325 Dies spiegle sich insbesondere auch in der Begründung des Regierungsentwurfs wider, in dem auf die „werteorientierte Unternehmensführung“ abgestellt werde.326 Teilweise wird der Shareholder-Value sogar als „Leitmotiv“ des Gesetzgebers des KonTraG bezeichnet.327 Dem wird entgegengehalten, der Gesetzgeber des KonTraG habe den Begriff der werteorientierten Unternehmensführung nicht in den Gesetzestext übernommen.328 Des Weiteren seien werteorientierte Unternehmensführung und Shareholder-Value nicht identisch.329 Die Zielsetzung einer werteorientierte Unternehmensführung ließe sich zwar aus den §§ 71 Abs. 1 Nr. 8, 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG und § 315a HGB ableiten und sei unzweifelhaft auch angezeigt, doch folge daraus nicht deren Alleinoder Vorrangstellung im Verhältnis zu anderen Zielsetzungen.330 Andere gesetzliche Entwicklungen der Vergangenheit, wie die paritätische Arbeitnehmermitbestimmung, sprächen außerdem gegen die Vorstellung, der Gesetzgeber wolle die historischen Wurzeln kappen.331 Die Wertungen des KonTraGs seien jedenfalls zu schwach, um den Beweis einer Willensänderung des Gesetzgebers führen zu können.332 Der seit 1937 geltenden Weisungsfreiheit des Vorstands, die der demokratische Gesetzgeber 1965 bestätigt habe, entspreche nur die interessenpluralistische Zielkonzeption.333 Eine interessenmonistische und auch eine interessenhierarchische Zielkonzeption wären letztlich ein Rückfall auf die Gesetzeslage vor 1937, der mit dem geltenden Aktiengesetz vor dem Hintergrund der historischen Auslegung nicht zu vereinbaren sei.334 Weiter wäre die Bedeutung des Arbeitnehmerinteresses und des Allgemeininteresses sehr stark reduziert, wenn das Aktionärsinteresse grundsätzlich Vorrang genieße und erstere sich langfristig mit diesem decken müssten.335 Dies stünde im offenen Widerspruch zur Regierungsbegründung, nach der § 76 Abs. 1 AktG dem § 70 Abs. 1 AktG 1937 entspreche und sich die Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit von selbst verstehe.336 Dies müsse auch den Vertretern eines interessenhierarchischen Ansatzes entgegengehalten werden, die annehmen, eine Interessenhierarchie sei mit dem Willen des 325
Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 36 f. Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 36. 327 Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 76 Rn. 14. 328 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 73. 329 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 73. 330 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30. 331 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16. 332 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30. 333 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30. 334 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30 f. 335 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31. 336 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31; Koch, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 65 (74); Kropff, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 1 (3). 326
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Gesetzgebers vereinbar.337 Schließlich spreche der in der Regierungsbegründung zum Ausdruck kommende Wille des Gesetzgebers auch gegen die Annahme, es gebe keinen inhaltlichen Maßstab für das Leitungsermessen.338 ee) Stellungnahme Trotz der „Aktienrechtsreform in Permanenz“339 ist der Maßstab für das Leitungsermessen des Vorstands von 1965 bis heute im Wesentlichen gleich geblieben. Bereits durch § 70 Abs. 1 des Aktiengesetzes 1937 „wurde erstmals der Rahmen des Gesellschaftsrechts gesprengt und in Abkehr vom HGB eine unternehmensrechtliche Richtlinie fu¨ r die Ausu¨ bung der Leitung aufgestellt.“340 Die zweifach durch „und“ verbundene Aufzählung der zu berücksichtigenden Interessen ohne eine Hierarchisierung im Wortlaut des § 70 Abs. 1 AktG spricht gegen eine Rangfolge der Interessen. Auch aus der amtlichen Begründung zum Aktiengesetz 1937 ergibt sich keine Rangfolge.341 Diese stellt vielmehr auf das alleinige Recht des Vorstands zur Leitung unter Wahrung der Interessen ab.342 Nach der Regierungsbegründung, dem Ausschussbericht des Rechtsausschusses und den Aussagen im Plenum soll der geltende § 76 Abs. 1 AktG dem früheren § 70 Abs. 1 AktG 1937 – trotz der Streichung des Leitungsmaßstabs – entsprechen.343 Die erste Gegenauffassung, nach der die Streichung des Leitungsmaßstabs den gewandelten Willen des Gesetzgebers des Jahres 1965 ausdrücke, verkennt die dargestellten gegenteiligen Aussagen der Regierungsbegründung sowie der Abgeordneten im Plenum und im Bericht des Rechtsausschusses.344 Dasselbe gilt für das Argument, die „Entsprechens-Aussage“ in der Regierungsbegründung sei mit denen im Plenum und im Rechtsausschuss zu den Änderungsanträgen wegen der Wesensverschiedenheit von § 71 Abs. 1 des Referentenentwurfs 1958 und § 72a der Änderungsanträge unvergleichbar, da sich ersterer auf die Leitung der Gesellschaft und letzterer auf das Unternehmen bezieht.345 Durch diese Auffassung hat sich die sowohl von Reischl als auch von Wilhelmi gesehene Gefahr realisiert, dass aus der Streichung falsche Schlüsse gezogen werden könnten.346 Reischl wollte dem mit 337
Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31. Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 29 f. 339 Noack, NZG 2008, 441; Zöllner, AG 1994, 336 (336); mit Blick auf die letzten 25 Jahre auch Seibert, AG 2015, 593 (593). 340 Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 60. 341 Amtliche Begründung, abgedruckt bei Klausing, Aktiengesetz 1937, S. 3 und 56 ff. 342 Amtliche Begründung, abgedruckt bei Klausing, Aktiengesetz 1937, S. 58 f. 343 Begr. RegE abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 97 f. 344 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) cc) (S. 72 ff.). 345 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (142 f.). 346 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217 f.; Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 338
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seinem Änderungsantrag entgegenwirken und Wilhelmi durch den von ihm verfassten Bericht des Rechtsausschusses.347 Auch wenn die SPD-Fraktion mit dem Bezugspunkt des Unternehmens einen im Detail abweichenden Ansatz verband,348 geht das Argument der Wesensverschiedenheit daher fehl. Die Gegenauffassung räumt zudem auch selbst ein, dass sich dies aus dem Änderungsantrag selbst nicht ergebe.349 Der entscheidende Streitpunkt zwischen den Fraktionen war (nur) die Notwendigkeit der Normierung der zu berücksichtigen Interessen nicht dagegen deren Rangfolge.350 Diese sollte gerade wegen unterschiedlicher Auffassungen der politischen Lager nicht im Gesetz zementiert, sondern vom Vorstand von Fall zu Fall entschieden werden.351 Dies ergibt sich auch aus der Ablehnung des Änderungsantrags bezüglich § 72a im Rechtausschuss wegen der Gefahr eines falschen Rückschlusses auf die Rangfolge. Ebenso hat auch der damals zuständige Referatsleiter im Justizministerium, Bruno Kropff, im Jahr 2015 rückblickend die Streichung im Regierungsentwurf damit begründet, dass man den Rückschluss auf eine Rangfolge habe verhindern wollen, zumal die Aufzählung im Referentenentwurf nicht alphabetisch war.352 Aus all dem ergibt sich im Umkehrschluss: Kein Interesse eines Stakeholders soll qua Gesetz Vorrang vor einem anderen haben.353 Dies entspricht aber allein der interessenpluralistischen Zielkonzeption. Dagegen verbietet sich der Schluss, nur die konkrete Rangfolge des Änderungsantrags sei nicht gewollt. Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Mehrheit ihre gewünschte Rangfolge ins Gesetz geschrieben oder zumindest die Reihenfolge der Aufzählung entsprechend angepasst. Dieses Argument wird, unabhängig vom Dissens über die ausdrückliche Regelung in Form eines § 72a, durch den inhaltlichen Konsens aller Ausschussmitglieder und der Regierung verstärkt. Der historische Gesetzgeber hat sich damit zum Interessenpluralismus bekannt. Die zweite Gegenauffassung kann – richtigerweise – den Beweis für eine spätere Willensänderung des Gesetzgebers nicht führen. Der Wortlaut des § 76 Abs. 1 AktG 347 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217 f.; Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 348 Heinemann (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7655. 349 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (143). 350 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217 f.; sich auf diesen beziehend Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/ 184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218; letzterem zustimmend Aschoff (FDP-Fraktion), BTPlenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 351 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217 f.; sich auf diesen beziehend Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/ 184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218; letzterem zustimmend Aschoff (FDP-Fraktion), BTPlenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 352 Kropff, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 1 (3 – Fn. 12). 353 Dieses Ergebnis benennt auch Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 60.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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ist seitdem unverändert geblieben. Eine Willensänderung des Gesetzgebers ergibt sich auch aus keiner anderen nachfolgenden Gesetzesänderung. Ein bloßes Verblassen dieses Willens durch Zeitablauf vermag allgemein, trotz der langjährigen Diskurse, nicht zu überzeugen. Es ist der parlamentarische Gesetzgeber, der allein unmittelbar demokratisch-legitimiert ist. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht wird vor allem in den letzten Jahren nicht müde, diesen hohen Stellenwert des parlamentarischen Gesetzgebers immer wieder zu betonen.354 Nach dem Willen des Gesetzgebers gilt damit noch heute die interessenpluralistische Zielkonzeption. d) Die teleologischen Argumente Nachfolgend sollen nun die wesentlichen teleologischen Argumente dargestellt und dazu jeweils Stellung genommen werden. Im Einzelnen wird auf folgende Punkte eingegangen: der Verbands- bzw. Gesellschaftszweck und sein Verhältnis zum Unternehmensinteresse (aa)), die Schutzbedürftigkeit der Stakeholder (bb)) und der Prinzipal-Agent-Konflikt (cc)). Darüber hinaus werden die Auswirkungen des Deutschen Corporate Governance Kodex (dd)) und der Debatte über die soziale Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility (CSR) (ee)) auf den Diskurs thematisiert. aa) Verbands-/Gesellschaftszweck vs. Unternehmensinteresse Der allgemeinere Terminus Verbandszweck kann im Hinblick auf die Rechtsform der Aktiengesellschaft auch konkreter als Gesellschaftszweck355 bezeichnet werden.356 Umstritten ist dessen Verhältnis zum Unternehmensgegenstand (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG).357 Schwerpunktmäßig wird dieser Streit allerdings im GmbH-Recht geführt358 und ist für die hier behandelte Fragestellung irrelevant.359 Die herrschende 354 BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2007 – 2 BvE 2/07, Tornado-Einsatz Afghanistan, BVerfGE 118, 244 (263 ff.); BVerfG, Urteil vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03, AWACS-Einsatz (Türkei), BVerfGE 121, 135 (161 ff.); BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u. a., LissabonVertrag, BVerfGE 123, 267 (340 ff.); zur besonderen Bedeutung des Gesetzgebers im Steuerrecht siehe Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (31 ff.). 355 Es werden auch die Begriffe Verbands- und Gesellschaftsinteresse verwendet, siehe Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 52a. 356 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (439); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 22. 357 Guter Überblick bei Pentz, in: MüKo AktG, § 23 Rn. 70 ff. 358 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22. 359 Relevant ist der Streit im Zusammenhang mit der Frage, ob für eine Änderung des Gesellschaftszwecks die zur Änderung des Unternehmensgegenstands erforderliche Mehrheit des § 179 Abs. 2 AktG ausreicht, oder ob ein einstimmiger Beschluss nach den allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsätzen gemäß § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB erforderlich ist. Letzteres entspricht der herrschenden Meinung. Statt vieler siehe Pentz, in: MüKo AktG, § 23 Rn. 70 ff.; die Gegenauffassung wird inbesondere unter Hinweis auf Praktikabilitätsgesichtspunkte unter anderem vertreten von Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22.
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Meinung im Aktienrecht sieht Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck in einer Mittel-Zweck-Relation.360 Der Gesellschaftszweck bezeichnet dabei den Zweck des Zusammenschlusses, während der Unternehmensgegenstand das Mittel beschreibt, um diesen zu erreichen.361 Das Gesetz gibt insoweit beispielhaft vor, dass Industrie und Handelsunternehmen als Unternehmensgegenstand „die Art der Erzeugnisse und Waren, die hergestellt und gehandelt werden sollen, näher anzugeben“ haben (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG). Die Angabe des Unternehmensgegenstands dient unter anderem der Begrenzung der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands.362 Der Vorstand ist nach § 82 Abs. 2 AktG grundsätzlich an Beschränkungen seiner Geschäftsführungsbefugnis durch die Satzung gebunden. Überschreitet der Vorstand diese Grenze, kann er sich nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG schadensersatzpflichtig machen.363 Der Gesellschaftszweck muss nach der herrschenden Meinung – anders als der Unternehmensgegenstand (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG) – nicht ausdrücklich in die Satzung aufgenommen werden (Umkehrschluss aus § 23 Abs. 3 und 4 AktG).364 Allerdings sieht die ganz herrschende Lehre einen Gesellschaftszweck als essentialia negotii des Gesellschaftsvertrags an,365 die aber nach herrschender Lehre eben nicht
360 BayObLG, Beschluss vom 15. Dezember 1975 – 2 Z 53/75, NJW 1976, 1694 (1694 f.); OLG Hamburg, Beschluss vom 18. September 1967 – 2 W 125/67, BB 1968, 267 (267); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22; Sailer-Coceani, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 9 Rn. 10 f.; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 21; Vetter, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 23 Rn. 13. 361 BayObLG, Beschluss vom 15. Dezember 1975 – 2 Z 53/75, NJW 1976, 1694 (1694 f.); OLG Hamburg, Beschluss vom 18. September 1967 – 2 W 125/67, BB 1968, 267 (267); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22; Sailer-Coceani, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 9 Rn. 10 f.; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 21; Vetter, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 23 Rn. 13. 362 Limmer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 23 Rn. 16; Pentz, in: MüKo AktG, § 23 Rn. 78 ff.; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 22; Vetter, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 23 Rn. 13. 363 BGH, Urteil vom 5. Oktober 1992 – II ZR 172/91, BGHZ 119, 305 (332); BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 (1959 f. – Rn. 16.). In der Entscheidung aus dem Jahr 2013 ist der BGH in seiner Terminologie etwas unpräzise. Er spricht sowohl vom Unternehmenszweck als auch vom Unternehmensgegenstand. Dabei bezieht er sich auf die Entscheidung aus dem Jahr 1992, die nur vom Unternehmensgegenstand spricht. In der Sache geht es auch in beiden Entscheidungen um eine Überschreitung des Unternehmensgegenstands, da Geschäfte vorgenommen werden, die von diesem nicht gedeckt sind. Dafür, dass der BGH zwischen Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck als Satzungsbestimmungen unterscheidet spricht auch die Interpretation durch aktuelle und ehemalige Mitglieder des 2. Senats, siehe dazu Henze/Born/Drescher, AktR Höchstrichterliche Rechtsprechung, S. 3 – Rn. 8. 364 BayObLG, Beschluss vom 15. Dezember 1975 – 2 Z 53/75, NJW 1976, 1694 (1694 f.); OLG Hamburg, Beschluss vom 18. September 1967 – 2 W 125/67, BB 1968, 267 (267); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22, § 82 Rn. 9; Limmer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 23 Rn. 18; Sailer-Coceani, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 9 Rn. 10 f.; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 21; andere Auffassung Pentz, in: MüKo AktG, § 23 Rn. 76. 365 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22; Limmer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 23 Rn. 18; Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (439); Pentz, in: MüKo AktG, § 23 Rn. 76; Solveen, in:
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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ausdrücklich bestimmt sein muss. Da die schriftliche Aufnahme des Gesellschaftszwecks in die Satzung fakultativ ist, wird er regelmäßig nicht in die Satzung aufgenommen, was seine Bestimmung erschwert.366 Nach der ganz herrschenden Meinung besteht dieser dann regelmäßig in der Gewinnerzielung, was sich ebenso regelmäßig aus der Auslegung des Unternehmensgegenstands ergibt – Schluss aus dem Mittel auf den Zweck – und als vom Aktiengesetz intendierter Gesellschaftszweck anzusehen ist.367 Er bindet nach allgemeiner Ansicht den Vorstand.368 Umstritten ist aber, was Gewinnerzielung als Gesellschaftszweck bedeutet, was sich wiederum auf das Leitungsermessen des Vorstands bei seinen Entscheidungen auswirkt. Des Weiteren wird auch vertreten, mit dem KonTraG sei die Marktwertmaximierung neben der Gewinnerzielung als gesetzestypischer Gesellschaftszweck anerkannt worden.369 Nachfolgend wird der wesentliche Meinungsstand dargestellt und Stellung bezogen. Die Vertreter einer interessenmonistischen oder interessenhierarchischen Zielkonzeption sehen den Gesellschaftszweck in der Gewinnerzielung und/oder Marktwertmaximierung370 im alleinigen oder vorrangigen Aktionärsinteresse, was jeweils auch als Shareholder-Value bezeichnet wird.371 Sie machen diesen Gesellschaftszweck gleichzeitig zum alleinigen Bezugspunkt des Leitungsermessens des Vorstands.372 Die Aktiengesellschaft bestehe als Gesellschaft (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 AktG) nur, weil sich ihre Gesellschafter zu einem bestimmten Zweck, dem Gesellschaftszweck, zusammengeschlossen hätten.373 Der Schluss aus dem Unternehmensgegenstand auf den Gesellschaftszweck führe regelmäßig zum Zweck der Gewinn- und/oder Marktwertmaximierung.374 Dies entspreche auch der Konzeption Hölters, AktG, § 23 Rn. 21; Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 422; Vetter, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 23 Rn. 13. 366 Limmer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 23 Rn. 18; Röhricht/Schall, in: Großkomm AktG, § 23 Rn. 127; Sailer-Coceani, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 9 Rn. 10 f.; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 21. 367 Röhricht/Schall, in: Großkomm AktG, § 23 Rn. 127; Sailer-Coceani, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 9 Rn. 10 f.; Vetter, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 23 Rn. 13. 368 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 82 Rn. 9; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 21. 369 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 ff.). 370 Zur unterschiedlichen Interpretation des Shareholder-Value-Konzepts siehe oben Kap. 2, B. II. 1. (S. 50 ff.). 371 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (433 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 21 ff.; im Ergebnis auch Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46 ff.); offenlassend dagegen Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14). 372 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 36a; Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (438 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 34 ff.; Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 14, 18; im Ergebnis auch Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46 ff.); offenlassend dagegen Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn.14). 373 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (439); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 22. 374 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 27 f.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
des Gesetzgebers des KonTraG.375 Wenn ausdrücklich kein Gesellschaftszweck bestimmt sei, müsse dieser Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung berücksichtigt werden.376 Dies gelte auch für vor dem KonTraG gegründete Aktiengesellschaften ohne ausdrückliche Satzungsbestimmung des Gesellschaftszwecks.377 Aus Gründen der Rechtssicherheit gelte stets die aktuelle Zielkonzeption des Gesetzes für alle Aktiengesellschaften ohne ausdrückliche Satzungsbestimmung des Gesellschaftszwecks.378 Denn andernfalls müsse der Rechtsverkehr nicht nur die Satzung, sondern auch noch das Gründungsdatum beachten, um den Gesellschaftszweck zu bestimmen.379 Die Vertreter eines interessenpluralistischen Ansatzes sind der Auffassung, Gewinnerzielung als gesetzestypischer Gesellschaftszweck bedeute dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft und des von dieser getragenen Unternehmens (vgl. auch § 91 Abs. 2 AktG) und sei von einem gemeinnützigen Gesellschaftszweck abzugrenzen.380 Der Vorstand habe im Rahmen seines Leitungsermessens die Interessen aller Stakeholder im Wege praktischer Konkordanz auszugleichen, wobei die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft die Grenze bilde.381 Dies wird begrifflich auch als Unternehmensinteresse gefasst.382 Ein anderes teleologisches Verständnis widerspreche dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers.383 Insbesondere bliebe bei einem aus dem Gesellschaftszweck abgeleiteten Vorrang des Aktionärsinteresses von den Interessen der übrigen Stakeholder letztlich nicht mehr viel übrig.384 Der BGH hat eine ausdrückliche Positionierung bisher vermieden. Der für das Aktienrecht zuständige II. Zivilsenat des BGH spricht in seinen jüngeren Entscheidungen mal vom Unternehmens-, mal vom Gesellschaftsinteresse, mal von beidem.385 Eine Definition, was er darunter versteht, bleibt er aber schuldig.386 Nach 375
S. 31. 376
Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (439); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung,
Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (438 f.). Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (438 ff.). 378 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (439). 379 Mülbert, in: FS Röhricht, S. 421 (439). 380 Goslar, in: Wilsing, DCGK, Ziff. 4.1.1 Rn. 20; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 22, § 76 Rn. 34 f., § 82 Rn. 9 f.; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (109 f.); als Vertreter eines interessenhierarchischen Ansatzes insoweit zustimmend Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53. 381 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 23 Rn. 21; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (113). 382 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (127); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 36; von Werder, DB 2007, 297 (297). 383 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 30. 384 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31. 385 „Gesellschaftsinteresse“, BGH, Urteil vom 13. März 1978 – II ZR 142/76, BGHZ 71, 40 (44); BGH, Urteil vom 19. April 1982 – II ZR 55/81, BGHZ 83, 319 (321); BGH, Urteil vom 377
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der Auffassung des früheren Senatsmitglieds Hartwig Henze wendet sich der BGH direkt den betroffenen Interessen und Personen zu, anstatt sich lange damit aufzuhalten, abstrakte Begriffe zu bewerten.387 Es sei aber bekannt, dass der BGH eine interessenpluralistische Zielkonzeption vertrete und darunter neben Aktionärs- und Gläubigerinteressen auch das Arbeitnehmer- und das öffentliche Interesse fasse.388 Der Rang der Interessen müsse dabei im Einzelfall in den Grenzen des Gesetzes unter Beachtung der Wirkung der Grundrechte auf das einfache Recht beurteilt werden.389 Dem ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen. Eine zwingende teleologische Auslegung lässt sich aus dem Gesetz allein nicht ableiten. Als Grundlage für die Auslegung bleiben neben dem Wortlaut der eigenverantwortlichen Leitung (§ 76 Abs. 1 AktG) vor allem § 23 AktG und die Aktiengesellschaft als Zusammenschluss der Aktionäre zu einem gemeinsamen Zweck. Während die Aktiengesellschaft „als Veranstaltung der Aktionäre“390 eher für eine interessenmonistische/-hierarchische Zielkonzeption spricht, weist die eigenverantwortliche Leitung eher in Richtung Interessenpluralismus. Ein substanzielles teleologisches Auslegungsergebnis ist aber wegen der Offenheit der Bestimmungen nur unter Zuhilfenahme der historischen Auslegung391 möglich. Dann aber ergibt sich, dass nur die interessenpluralistische Zielkonzeption dem Vorstand sein durch den demokratischen Gesetzgeber des Jahres 1965 im Wesentlichen bestätigtes Leitungsrecht belässt.392 Ergänzend zu den konkreten Ausführung zu § 76 Abs. 1 AktG im Rahmen der historischen Auslegung ergibt sich dies auch aus der Einleitung der Begründung zum Regierungsentwurf des Aktiengesetzes 1965. Danach soll die Aktiengesellschaft „sich wirtschaftlich betätigen“, und die Rechte der Aktionäre als wirtschaftliche Eigentümer weitestgehend erhalten bleiben.393 Allerdings müssten diese Rechte beschränkt werden, um die Erreichung des gemeinsamen Zwecks, zu dem sich die Aktionäre freiwillig verbunden hätten, zu erreichen und „um die Wahrung u¨ bergeordneter
23. Juni 1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 (139); Gesellschaftsinteresse aus unternehmerischer Sicht, BGH, Urteil vom 23. Juni 1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 (139); „Interesse des Unternehmens“, BGH, Urteil vom 5. Juni 1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (331); „Interesse der Gesellschaft“, BGH, Urteil vom 7. März 1994 – II ZR 52/93, BGHZ 125, 239 (241); „Unternehmensinteresse“, BGH, Urteil vom 28. November 1988 – II ZR 57/88, BGHZ 106, 54 (65); BGH, Urteil vom 23. Juni 1997 – II ZR 132/93, BGHZ 136, 133 (136); BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (197); BGH, Urteil vom 21. Dezember 2005 – 3 StR 470/04, Mannesmann, BGHSt 50, 331 (338); sachliches unternehmerisches Interesse, BGH, Urteil vom 7. März 1994 – II ZR 52/93, BGHZ 125, 239 (243). 386 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 27; Henze, BB 2000, 209 (212). 387 Henze, BB 2000, 209 (212). 388 Henze, BB 2000, 209 (212). 389 Henze, BB 2000, 209 (212). 390 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 37. 391 Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). 392 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 93. 393 Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 93.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ziele zu gewährleisten.“394 Die Aktiengesellschaft könne nur durch Organe handeln, wobei die Hauptversammlung als Organ der Aktionäre die Rechte erhalten müsse, die der Eigentümerstellung ihrer Mitglieder entspreche.395 Es sei aber unverkennbar, dass die komplexen und schnelllebigen Wirtschaftsverhältnisse nur durch eine fachlich befähigte und rechtlich entscheidungsfähige Geschäftsführung bewältigt werden könnten.396 Daher werde die starke Stellung des Vorstands im Wesentlichen beibehalten.397 Auch in diesen einleitenden Ausführungen des Gesetzgebers zeigt sich bereits dessen Wille, die Leitung der Gesellschaft (auch weiterhin) allein dem Vorstand anzuvertrauen, der dabei die Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit zu berücksichtigen hat.398 Nach der Gegenauffassung würde dieses Konzept des Gesetzgebers, das durch vielfältige Kontroll- und Informationsrechte, die Personalkompetenz von Aufsichtsrat und Hauptversammlung und das Damoklesschwert der persönlichen Haftung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder abgesichert wird,399 durch den Gesellschaftszweck gesprengt. Ein Gesellschaftszweck, der zwar notwendig ist, aber nach herrschender Meinung nicht einmal in die Satzung geschrieben werden muss. Dies wird durch die Gesetzesbegründung zu § 23 AktG gestützt, in welcher der Gesellschaftszweck gar nicht mehr thematisiert wird, sondern lediglich die beispielhaften Konkretisierungen des Unternehmensgegenstands.400 Der Gesellschaftszweck ist daher nicht in der Gewinn- oder Marktwertmaximierung, sondern in der Gewinnerzielung im Sinne dauerhafter Rentabilität zu sehen.401 Diese bildet zugleich die Grenze für das Leitungsermessen des Vorstands. Wie Koch zutreffend ausführt, bliebe andernfalls von den Interessen der übrigen Stakeholder nicht mehr viel übrig.402 bb) Schutzbedürftigkeit der Stakeholder Die Vertreter eines interessenmonistischen/-hierarchischen Ansatzes sehen die Aktionäre naturgemäß als schutzbedürftiger an als die übrigen Stakeholder.403 Insbesondere seien die Aktionäre als Eigenkapitalgeber Residualgläubiger.404 Da ihre 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404
Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 93. Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 93. Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 93. Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 93. Zu Letzterem siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). Siehe dazu ausführlich unten Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.). Begr. RegE, BT-Drucks. IV/171, S. 105. Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31. Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 18; Zöllner, AG 2003, 2 (8). Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 33; Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (476 f.).
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Investition in das Unternehmen somit am wenigsten geschützt sei, müsse der Vorstand diese durch eine vorrangige Berücksichtigung des Aktionärsinteresses schützen.405 Die anderen Stakeholder, vor allem die Arbeitnehmer, würden durch die große Zahl an stetig zunehmenden gesetzlichen Bestimmungen, z. B. des Arbeitsoder Umweltschutzes, ausreichend geschützt.406 Des Weiteren seien sie auch dazu im Stande, ihre Interessen durch vertragliche Bestimmungen zu wahren, während den Aktionären dies wegen des Grundsatzes der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) regelmäßig verwehrt sei.407 Der Vorstand übe sein Leitungsermessen daher bereits pflichtgemäß aus, wenn er alle gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen zum Schutze der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit einhalte.408 Er könne darüber hinausgehen, müsse dies aber nicht.409 Außerdem hätten Kapitalmarkt und Wettbewerb eine selbstreinigende Kraft.410 Unternehmen, die für eine rücksichtslose Unternehmenspolitik bekannt seien, würden durch die Reaktionen der Marktteilnehmer, etwa von Abnehmern, Investoren und Arbeitnehmern, reguliert.411 Eine zu geringe Entlohnung der Arbeitnehmer führe beispielsweise zu deren Abwanderung, und Unternehmen, die dafür bekannt seien, hätten Probleme neue Arbeitskräfte zu gewinnen.412 Demgegenüber sind nach den Vertretern eines interessenpluralistischen Ansatzes alle Stakeholder grundsätzlich gleich schutzbedürftig.413 Welches Interesse in einem konkreten Konfliktfall den Vorrang verdiene, müsse der Vorstand im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens von Fall zu Fall entscheiden.414 Insbesondere die Verfolgung sozialer Zwecke im Allgemeininteresse sei aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel des Staates erforderlich.415 Ein Vorrang des Aktionärsinteresses
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Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 33. Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 33; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 18; Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 16; dies auch auf das Steuerrecht übertragend Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (476). 407 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 18. 408 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 18; Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 16; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. 409 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 18; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22; wohl etwas enger Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 16. 410 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 31 f.; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. Siehe zu diesem Argument oben Kap. 2, B. II. 3. (S. 55 ff.). 411 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 31; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 412 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 31; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19. 413 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31 ff. Siehe insoweit bereits oben Kap. 2, B. II. 3. (S. 55 ff.). 414 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31 ff.; K. Schmidt, GesR, S. 805 f. – § 28 II 1 a). 415 Gehrlein, NZG 2002, 463 (463 f.); Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (101). 406
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
ergebe sich auch nicht aus der Stellung der Aktionäre als Residualgläubiger.416 Während Aktionäre ihr Risiko im Portfolio diversifizieren könnten, seien die Arbeitnehmer regelmäßig viel stärker an das konkrete Unternehmen gebunden, in das sie mit ihrer Arbeitsleistung investieren würden, um sich eine Existenzgrundlage zu schaffen.417 In der Konsequenz würden sich Vorstandsentscheidungen daher nicht selten auch stärker auf sie auswirken.418 Die gegenüber den Aktionären gleichwertige Schutzbedürftigkeit der Allgemeinheit werde insbesondere durch von Unternehmen verursachte Umweltverschmutzungen verdeutlicht.419 Schließlich hätten hybride Finanzinstrumente und Derivate das Risiko von Eigen- und Fremdkapitalgebern in weiten Teilen angeglichen, was die Sinnhaftigkeit dieser Differenzierung relativiere und zugleich die gleichwertige Schutzwürdigkeit der Gläubiger zeige.420 Zuzustimmen ist der interessenpluralistischen Auffassung. Der Einwand, die anderen Stakeholder seien aufgrund des Schutzes durch spezielle Gesetze ausreichend geschützt, greift nicht durch, da das Aktiengesetz selbst die Interessen der (Minderheits-)Aktionäre schützt. Dies verdeutlicht auch der Missbrauch dieses Schutzes durch räuberische Aktionäre. Zwar werden die Interessen der anderen Stakeholder durch spezielle Gesetze geschützt, doch hätten sie nach der Gegenauffassung bei unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands regelmäßig das Nachsehen gegenüber dem Aktionärsinteresse. Der Vorstand könnte die Interessen der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit aus seinen Überlegungen streichen, solange er sich nur an die geltenden Gesetze und Verträge hielte. Damit würden die Aktiengesellschaften zugleich aus der sozialen Verantwortung entlassen. Dieses Ergebnis widerspricht nicht nur dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers,421 es überzeugt auch in der Sache nicht. Vor allem bei börsennotierten Aktiengesellschaften können die Aktionäre ihre Aktien jeder Zeit verkaufen, während ein Arbeitsplatzwechsel für den Arbeitnehmer regelmäßig deutlich schwieriger ist. Die Allgemeinheit wiederum kann sich Aktiengesellschaften oft schwerlich bis gar nicht entziehen. Die von der Gegenauffassung außerdem angeführte selbstreinigende Kraft von Kapitalmarkt und
416 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 61; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (107). 417 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 61; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (107). 418 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 61; Kuhner, ZGR 2004, 244 (260 f.); Mertens/ Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (107); Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 72. 419 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 61; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (107). 420 Klöhn, ZGR 2008, 110 (138); Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (107). 421 Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.).
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Wettbewerb wird nach der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise teilweise auch von ihren eigenen Vertretern skeptischer gesehen.422 cc) Prinzipal-Agent-Konflikt Als Hauptargument für eine interessenmonistische/-hierarchische Zielkonzeption der Aktiengesellschaft im Sinne des Shareholder-Value-Konzeptes wird angeführt, durch diese würde der Prinzipal-Agent-Konflikt gelöst oder zumindest entschärft.423 Durch die eindeutige Zielvorgabe der Gewinnmaximierung lasse sich klar bestimmen, ob der Vorstand als Agent im Sinne seines Prinzipals, der Aktionäre, gehandelt habe.424 Einem Missbrauch der Leitungsmacht würde so Einhalt geboten. Dieser Vorteil des Shareholder-Value-Konzepts verdeutliche zugleich die Schwäche einer interessenpluralistischen Zielkonzeption.425 Nicht selten würden die verschiedenen Stakeholder-Interessen sich widersprechen, z. B. ein möglichst hoher Jahresüberschuss und die Arbeitszufriedenheit, was dann auf ein „Null-Summenspiel“ hinausliefe.426 Der Ausgleich der verschiedenen Stakeholder-Interessen unter Wahrung der dauerhaften Rentabilität der Gesellschaft sei keine klare Zielvorgabe.427 Indem der Vorstand frei wählen könne, welchen Stakeholder er bei einer konkreten Entscheidungen bevorzuge, seien der Willkür Tür und Tor geöffnet.428 Insbesondere die Rechtfertigung durch Gemeinwohlbelange berge die Gefahr, dass der Vorstand diese als „carte blanche“429 missbrauche, um eigene Interessen zu fördern.430 Ein interessenpluralistischer Ansatz erhöhe somit die Kontrollkosten des Unternehmens.431 Des Weiteren stiegen auch die Finanzierungskosten.432 Dass der Vorstand Entscheidungen zu Lasten der Aktionäre treffen könne, würde von (zukünftigen) Aktionären bei ihren Investitionsentscheidungen eingepreist.433 422
Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 34. Vor dem Hintergrund der letzten Finanzkrise wird auch generell von einer „ernsthafte[n] Legitimitätsprobe“ für die interessenmonistische/-hierarchische Zielkonzeption gesprochen, siehe Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (477 f.). 423 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34; Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (477). 424 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34. 425 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34. 426 Kuhner, ZGR 2004, 244 (253 f. und 270 f.); ähnlich auch Zöllner, AG 2003, 2 (8). 427 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34; Mülbert, AG 2009, 766 (770 f.). 428 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34; Hopt, ZHR 175 (2011), 444 (447); Kuhner, ZGR 2004, 244 (254); Mülbert, AG 2009, 766 (771). Anders ist dies nach Hopt aber im Fall von mitbestimmungspflichtigen Aktiengesellschaften mit Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat zu beurteilen. 429 Mülbert, AG 2009, 766 (771). 430 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34; Kuhner, ZGR 2004, 244 (254); Mülbert, AG 2009, 766 (771). 431 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34; Kuhner, ZGR 2004, 244 (254). 432 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34. 433 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34.
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Dagegen wird von Seiten der interessenpluralistischen Zielkonzeption eingewandt, die US-amerikanische Principal-Agent-Theorie könne für das deutsche Aktienrecht nicht die Frage lösen, welche Interessen der Vorstand zu berücksichtigen habe.434 Der Vorstand sei weder Agent der Aktionäre noch der anderen Stakeholder, sondern wenn überhaupt Agent der Gesellschaft.435 Seit 1937 bestehe zwischen den Aktionären und dem Vorstand kein Auftragsverhältnis mehr.436 Zwar öffne eine interessenpluralistische Zielkonzeption dem Vorstand weite Handlungsspielräume, die mit einer Missbrauchsgefahr behaftet seien, umgekehrt habe aber eine Ausrichtung der Vorstandsvergütung am Shareholder-Value in der Praxis dazu geführt, diesen kurzfristig durch „Taschenspieler-Tricks“437 zu steigern.438 Gegen eine Ausrichtung des Vorstandhandelns am Shareholder-Value spreche aber insbesondere, dass dieser bisher den Beweis seiner Geeignetheit als Handlungsmaßstab schuldig bliebe.439 Denn erstens sage die bessere Bestimmbarkeit des Shareholder-Value nichts über dessen Qualität aus, zu rechtmäßigen und gerechten Entscheidungen zukommen.440 Zweitens habe es sich mit der Bestimmbarkeit schnell erledigt, wenn der für die Bestimmung des Shareholder-Value entscheidende Zeitraum die gesamte Existenz des Unternehmens sei.441 Genau dies werde aber von seinen Vertretern postuliert.442 Die Bestimmbarkeit werde noch weiter relativiert, da die Vertreter443 des Shareholder-Value auch weiche Faktoren, wie Arbeitnehmerzufriedenheit, stabile Vertragsbeziehungen und die Reputation des Unternehmens, berücksichtigen würden, solange sie langfristig dem ShareholderValue dienen könnten.444 Diese weichen langfristig verfolgten Faktoren ließen sich aber kaum monetär bewerten.445 Eine ex ante Bestimmung, ob eine Maßnahme den Shareholder-Value steigere, sei dann aufgrund des hohen Prognoseelements kaum
434
Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 60. BGH, Urteil vom 25. Februar 1982 – II ZR 174/80, Holzmüller, BGHZ 83, 122 (134); Hüffer, in: Bayer/Habersack, S. 334 (356); Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 60; Mertens/ Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 16. 436 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 60. 437 Semler, in: FS Hopt, S. 1391 (1391); zustimmend Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 70. 438 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 70. 439 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 71; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 440 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 71. 441 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 71; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17. 442 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 32. 443 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 38. 444 Hüttemann, in: FS Schaumburg, S. 405 (418); Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (108); Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 73. 445 So im Hinblick auf CSR-Maßnahmen Hüttemann, in: FS Schaumburg, S. 405 (418); die Anforderungen an Vorstandsentscheidungen über CSR-Maßnahmen insoweit selbst relativierend Mülbert, AG 2009, 766 (773). 435
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überprüfbar und damit ebenso unpräzise wie die interessenpluralistische Zielkonzeption.446 Zustimmung verdient erneut die interessenpluralistische Auffassung. Der Shareholder-Value kann vom Vorstand für eine konkrete Maßnahme aufgrund seines unbestimmten, langen Zeitmoments und der weichen Faktoren kaum hinreichend bestimmt werden. Um über das „Ob“ und „Wie“ einer Maßnahme zu entscheiden, bietet er somit inhaltlich keinen Mehrwert gegenüber einer interessenpluralistischen Zielkonzeption.447 Dann erscheint es aber ehrlicher, ausdrücklich auf eine pflichtgemäße Interessenabwägung des Vorstands im Sinne der interessenpluralistischen Zielkonzeption abzustellen. Eben diese überprüfen auch die Gerichte, wenn sie angerufen werden, um über die Haftung eines Vorstandsmitglieds zu entscheiden.448 Einem möglichen Freiheitsmissbrauch des Vorstands wird durch die Grenze der dauerhaften Rentabilität,449 die weiteren durch Rechtsprechung und Literatur entwickelten und vom Gesetzgeber bestätigten Ermessensgrenzen,450 die mögliche Haftung seiner Mitglieder nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG451 und der Aufsichtsratsmitglieder bei Nichtverfolgung (§ 116 Satz 1 AktG), seine Bindung an das Gesetz, nicht zuletzt an die Vorschriften des Strafgesetzbuchs, wie die Untreue nach § 266 StGB452 und allgemein durch die Verfassung der Aktiengesellschaft453, ausreichend entgegengewirkt.454 Wesentliche Bestimmungen der Verfassung der Aktiengesellschaft sind insoweit die Bindung an die Satzung (§ 82 Abs. 2 AktG) sowie die Berichtspflichten (§ 90 AktG), Zustimmungsvorbehalte (§ 111 Abs. 4 446 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 17; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (108); Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 73; den von ihm selbst verfolgten Shareholder-ValueAnsatz insoweit ebenfalls relativierend Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 103. 447 Siehe dazu beispielsweise Seibt, DB 2015, 171 (174 f. und 177). Er vertritt eine interessenhierarchische Zielkonzeption, lässt dem Vorstand bei der Entscheidung über Steuergestaltungen aufgrund potentieller Reputationsverluste oder -gewinne aber einen weiten Ermessensspielraum, sodass letztlich vom Vorrang der Aktionärsinteressen nichts mehr übrig bleibt. 448 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (140 f.). Zu Nachweisen der Rechtsprechung siehe oben Fn. 385. 449 Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (168 ff.); zustimmend Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 33. Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). 450 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (140 f.). Siehe dazu unten mit weiteren Nachweisen unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.) und Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.). 451 Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (124 und 139). Siehe dazu unten Kap. 4, A. (S. 229 ff.). 452 Siehe dazu BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 185/01, BGHSt 47, 148; BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187; BGH, Urteil vom 21. Dezember 2005 – 3 StR 470/04, Mannesmann, BGHSt 50, 331; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. April 2015 – III-1 Ws 429/14, 1 Ws 429/14, ZInsO 2015, 2221 (2221 f.). 453 Siehe dazu oben Kap. 2, A. II. (S. 43 ff.). 454 Henze, BB 2000, 209 (212 f.); explizit im Hinblick auf Steuergestaltungen auch Cahn, in: JbFSt 2014/2015, S. 194 (194 f.).
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Satz 2 AktG) und die Personalkompetenz (§ 84 AktG) zugunsten des Aufsichtsrats. Beispielsweise wird ein Vorstand, der konsequent gegen Vorschläge des Aufsichtsrats entscheidet, wahrscheinlich nicht wieder bestellt werden.455 Die präventive Wirkung, die der Gesetzgeber insbesondere der Haftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG beimisst, zeigt sich im Haftungsausschluss nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Dieser wurde ins Gesetz aufgenommen worden, um einer ökonomischschädlichen Risikoaversion des Vorstands entgegenzuwirken und dessen Leitungsermessen zur haftungsrechtlichen Seite hin abzusichern.456 Auch der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) dürfte sich in präventiver Hinsicht positiv auswirken. Schlussendlich kann wohl davon ausgegangen, dass die Vorstände börsennotierter (Publikums-)Aktiengesellschaften bereits stark durch den Börsenwert des Unternehmens sowie die darüber berichtende Presse zu einer Beachtung des Aktionärsinteresses angehalten werden, während bei nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften, aufgrund der regelmäßig größeren Nähe zwischen Aktionären und Unternehmensleitung, der Einfluss der Aktionäre auf die Unternehmensleitung ohnehin in aller Regel ausreichend sein dürfte. dd) Präambel/Ziffer 4.1.1 Deutscher Corporate Governance Kodex Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich aus dem Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) Argumente hinsichtlich des Diskurses ergeben und welches rechtliche und sachliche Gewicht diese haben. Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) gilt nur für börsennotierte oder kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaften (§ 161 Abs. 1 AktG). Allerdings empfiehlt der Kodex in seiner Präambel auch nichtbörsennotierten Aktiengesellschaften seine Beachtung. Vorstand und Aufsichtsrat von börsennotierten oder kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaften müssen jährlich erklären, dass dem Kodex entsprochen wurde oder begründen, warum von ihm abgewichen wurde (§ 161 Abs. 1 AktG; comply or explain). Diese Erklärung muss auf der Internetseite der Gesellschaft permanent für die Öffentlichkeit abrufbar sein (§ 161 Abs. 2 AktG). Die Bestimmungen des Kodex sind unterteilt in drei Kategorien: „Empfehlungen“, die durch das Wort „soll“ im Text kenntlich gemacht werden, „Anregungen“, die durch das Wort „sollte“ gekennzeichnet werden und schließlich „Beschreibungen gesetzlicher Vorschriften und Erläuterungen“, die ohne „soll“ oder „sollte“ stehen (Präambel Abs. 11 DCGK). Anregungen unterscheiden sich von Empfehlungen dadurch, dass eine Abweichung von ihnen nicht offengelegt werden muss (Präambel Abs. 11 DCGK). Seit dem 18. Juni 2009 enthält der Kodex in Ziffer 4.1.1 die ausdrückliche Vorgabe an den Vorstand, neben den Belangen der Aktionäre auch die der anderen Stakeholder im Rahmen des alle Stakeholder einschließenden Unternehmensinteresses zu berücksichtigen. Ziffer 4.1.1 DCGK lautet seitdem: 455 456
Fuhrmann, in: Fuhrmann/Linnerz/Pohlmann, DCGK, S. 239. Siehe dazu ausführlich unten Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.).
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„Der Vorstand leitet das Unternehmen in eigener Verantwortung im Unternehmensinteresse, also unter Berücksichtigung der Belange der Aktionäre, seiner Arbeitnehmer und der sonstigen dem Unternehmen verbundenen Gruppen (Stakeholder) mit dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung.“
Bereits seit dem Inkrafttreten des Kodex am 26. Februar 2002 war der Maßstab für die Leitung des Vorstands das Unternehmensinteresse. Ziffer 4.1.1 DCGK lautete zuvor: „Der Vorstand leitet das Unternehmen in eigener Verantwortung. Er ist dabei an das Unternehmensinteresse gebunden und der Steigerung des nachhaltigen Unternehmenswertes verpflichtet.“
Des Weiteren wurde die Bindung von Vorstand und Aufsichtsrat an das Unternehmensinteresse ebenfalls von Anfang an in den Ziffern 4.3.1 (früher Ziffer 4.3.3) und 5.5.1 sowie in Absatz 6 der Präambel des DCGK beschrieben. In Ziffer 3.1 DCGK heißt es außerdem, dass Vorstand und Aufsichtsrat zum Wohle des Unternehmens eng zusammenarbeiten. Der Begriff des Unternehmensinteresses wird ebenfalls seit dem 18. Juni 2009 in Absatz 2 der Präambel des DCGK definiert und als Maßstab für Vorstand und Aufsichtsrat bestätigt: „Der Kodex verdeutlicht die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat, im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse).“
Mit der letzten Änderung vom 7. Februar 2017 wurde zudem ein Satz 2 ergänzt, der lautet: „Diese Prinzipien verlangen nicht nur Legalität, sondern auch ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten (Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns).“
Vor der Änderung betonte der Absatz das Aktionärsinteresse: „Der Kodex verdeutlicht die Rechte der Aktionäre, die der Gesellschaft das erforderliche Eigenkapital zur Verfu¨ gung stellen und das unternehmerische Risiko tragen.“
Die Regierungskommission hat die Präambel und die Ziffer 4.1.1 als Antwort auf die mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise einhergehende Kritik am Shareholder-Value-Konzept geändert.457 Nach dem Verständnis der Regierungskommission handelt es sich dabei lediglich um eine Klarstellung mit bewusster Signalwirkung, die einem reinen Shareholder-Value-Konzept eine Absage zugunsten des Stakeholder-Value-Konzepts erteilt.458 Die Allgemeinheit gehört dabei zu den nicht 457
Hecker, BB 2009, 1654 (1655); Müller, Rede anla¨ sslich der 8. Konferenz Deutscher Corporate Governance Kodex, S. 4 ff., 9 f. 458 Müller, Rede anla¨ sslich der 8. Konferenz Deutscher Corporate Governance Kodex, S. 9 f.; von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 111; an einer bloßen Klarstellung zweifelnd Hecker, BB 2009, 1654 (1658); eine Revolution aus betriebswirtschaftlicher Sicht sehen Lingnau/Kreklow, ZCG 2011, 192 (192 ff.).
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ausdrücklich genannten Stakeholdern, die im Rahmen des Unternehmensinteresses zu berücksichtigen sind.459 Der Kodex trifft allerdings keine ausdrückliche Aussage darüber, ob er das Unternehmensinteresse interessenpluralistisch oder interessenhierarchisch versteht.460 Während der „Bestand des Unternehmens“ unstrittig dem Verständnis des Unternehmensinteresses in der Literatur entspricht, wird das „Ziel nachhaltiger Wertschöpfung“ als zweite Zielbestimmung der Definition unterschiedlich ausgelegt. Dass beide Ziele „im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft“ verwirklicht werden müssen, wird in der Literatur nicht weiter thematisiert.461 Axel von Werder, der von der Gründung bis zum Januar 2016 selbst Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex war, versteht den DCGK interessenhierarchisch.462 Die Aktionäre als Residualgläubiger müssten „besondere Aufmerksamkeit“ bei der Bestimmung des Unternehmensinteresses erfahren.463 Die übrigen Stakeholder-Interessen seien über das Gesetz, vertragliche Verpflichtungen und Marktzwänge hinaus „angemessen“ zu berücksichtigen.464 Angemessen sei die Berücksichtigung der Stakeholder-Interessen, solange dadurch der Unternehmenswert nachhaltig gesteigert werde.465 Der Wert eines Unternehmens ergibt sich nach von Werder – bemerkenswerter Weise – allerdings nach dessen Fähigkeit, die Ansprüche aller Stakeholder dauerhaft zu erfüllen, um somit die für den Fortbestand des Unternehmens notwendige Unterstützung der Stakeholder auf Dauer sicherzustellen.466 Dabei geht er davon aus, dass die verschiedenen Stakeholder-Interessen auch auf lange Sicht konträr sein können.467 Folglich muss sich nach von Werder die Berücksichtigung der Interessen anderer Stakeholder nicht langfristig für die Aktionäre auszahlen. Die Begriffe Unternehmenswert und Wertschöpfung setzt er im Ergebnis gleich. 459 Müller, Rede anla¨ sslich der 8. Konferenz Deutscher Corporate Governance Kodex, S. 5; Weber-Rey, WM 2009, 2255 (2257). 460 Goslar, in: Wilsing, DCGK, Ziff. 4.1.1 Rn. 13. 461 Da die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) an den Gesetzgeber adressiert sind, wird dies lediglich als verfehlt bezeichnet, siehe von der Linden, in: Wilsing, DCGK, Präambel Rn. 29. 462 von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 802 ff.; so auch Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 43, § 76 Rn. 52 ff., 121 ff. 463 von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 111 und 804. 464 von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 804. 465 von Werder, in: Ringleb/Kremer/Lutter/von Werder, DCGK (5. Auflage), Rn. 321; auf diese Konkretisierung verzichtet er in der aktuellen Auflage, siehe von Werder, in: Kremer/ Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 804. 466 von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 804; ausführlich zum Konzept der Wertschöpfung aus betriebswirtschaftlicher Sicht, insbesondere zu dessen Vorzügen als breiterem, die Leistungen aller Stakeholder berücksichtigendem Erfolgsmaß gegenüber dem Shareholder-Value-Konzept siehe Lingnau/Kreklow, ZCG 2011, 192 (193 ff.). 467 von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 803; für geringe praktische Unterschiede dagegen Goslar, in: Wilsing, DCGK, Ziff. 4.1.1 Rn. 17.
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Eine andere Kommentierung setzt dagegen nachhaltige Wertschöpfung mit nachhaltiger Gewinnmaximierung im Interesse der Aktionäre gleich.468 Eine dritte Auffassung versteht den Kodex grundsätzlich interessenpluralistisch, wobei teilweise auf die auch hier vertretene Entscheidung des Gesetzgebers zum Interessenpluralismus abgestellt wird.469 Dies scheint auch dem Verständnis des damaligen Vorsitzenden der Regierungskommission Klaus-Peter Müller zu entsprechen, der in seiner Rede nach dem Beschluss der Änderungen im Jahr 2009 ausführte, den Interessen aller Stakeholder einschließlich der Aktionäre müsse man insgesamt gleichermaßen gerecht werden.470 Bevor dazu Stellung genommen wird, ob der Kodex interessenpluralistisch oder interessenhierarchisch zu verstehen ist, muss zunächst klar gestellt werden, was der Kodex für die Entscheidung des Diskurses leisten kann. Sofern der Kodex gesetzliche Bestimmungen beschreibt oder erläutert, ergeben sich die Pflichten nur aus dem Aktiengesetz.471 Sofern es sich um Erläuterungen des Aktiengesetzes handelt, haben diese somit für die Auslegung des Aktiengesetzes formal dasselbe Gewicht wie eine Auffassung in der Literatur.472 Die gesonderte Behandlung rechtfertigt sich aber aus der hohen tatsächlichen Bedeutung des Kodex in der Rechts- und Unternehmenspraxis, die deutlich über eine einzelne Literaturauffassung hinaus geht. Diese Bedeutung zeigt die überwiegende Anwendung der Empfehlungen durch die Unternehmen. Ausweislich der Entsprechenserklärungen wird knapp 80 % der Empfehlungen durch die Unternehmen entsprochen.473 Nicht zuletzt deswegen steht der Kodex auch immer wieder in der Kritik.474 Von der tatsächlichen Bedeutung zu trennen ist die umstrittene Frage, ob Vorstandsmitglieder eine Pflichtverletzung begehen, wenn sie eine falsche Entspre468
Fuhrmann, in: Fuhrmann/Linnerz/Pohlmann, DCGK, S. 242. Hecker, BB 2009, 1654 (1655); Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 15; van Kann/ Keiluweit, DB 2009, 2699 (2700); von der Linden, in: Wilsing, DCGK, Präambel Rn. 28. 470 Müller, Rede anla¨ sslich der 8. Konferenz Deutscher Corporate Governance Kodex, S. 5. 471 Bayer/Scholz, in: Spindler/Stilz, AktG, § 161 Rn. 30; Goette, in: MüKo AktG, § 161 Rn. 32; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 161 Rn. 8; von der Linden, in: Wilsing, DCGK, § 161 Rn. 14. 472 BGH, Urteil vom 16. Februar 2004 – II ZR 316/02, Mobilcom, BGHZ 158, 122 (127). Der BGH hat die Empfehlungen des Kodex als einen Punkt unter mehreren bei der Auslegung von § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 bzw. § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG berücksichtigt. Es ging um die Frage, ob Aktienoptionsprogramme zugunsten des Aufsichtsrats zulässig sind. Aus der Literatur siehe Hölters, in: Hölters, AktG, § 161 Rn. 44; Lutter, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 1918; insoweit jedenfalls missverständlich Hecker: „Zu beachten ist, dass es sich bei der Anknu¨ pfung an den Stakeholder-Value nicht um eine Empfehlung oder Anregung handelt, sondern um eine Konkretisierung des ,Unternehmensinteresses‘ und der dem Kodex zugrunde liegenden Zielsetzung. Diesem Leitprinzip sind die Organe bei der täglichen Unternehmensfu¨ hrung auf der Grundlage des Kodex verpflichtet.“ Siehe Hecker, BB 2009, 1654 (1655). 473 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 161 Rn. 3. 474 Siehe beispielsweise Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 161 Rn. 3 ff.; zur möglichen Rechtfertigung siehe Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Rn. 88. 469
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chungserklärung nach § 161 Abs. 1 AktG abgeben, weil sie sich tatsächlich nicht an die „Empfehlungen“ halten.475 Ausweislich des Wortlauts bezieht sich § 161 Abs. 1 AktG nur auf „Empfehlungen“ und der Kodex greift diesen Terminus in Absatz 11 seiner Präambel auf.476 Auf diese Frage muss hier jedoch nicht eingegangen werden, da im Wortlaut der Präambel und der Ziffer 4.1.1 weder ein „soll“ noch ein „sollte“ vorkommt. Folglich handelt es sich nach dem Selbstverständnis des Kodex um Beschreibungen und Erläuterungen der §§ 76, 93 AktG (Präambel Abs. 11 DCGK).477 Hinsichtlich des Diskurses lässt sich aus dem Kodex Folgendes ableiten: Zunächst ist die Ausrichtung des Unternehmensinteresses am Ziel nachhaltiger Wertschöpfung zu beachten, das dem Vorstand die Berücksichtigung und angemessene Befriedigung aller Stakeholder-Interessen in eigener Verantwortung vorgibt. Dieses Verständnis entspricht auch dem betriebswirtschaftlichen Konzept der Wertschöpfung.478 Eindeutig ist zudem die Absage des Kodex an eine interessenmonistische Zielkonzeption der Aktiengesellschaft. Darüber, ob das Unternehmensinteresse des Kodex dagegen interessenhierarchisch oder -pluralistisch zu bestimmen ist, sind sich dagegen selbst die damaligen Mitglieder der Regierungskommission nicht einig. Wenn man, wie nach der hier vertretenen Auffassung, einen Raum für die Auslegung aufgrund des Willens des Gesetzgebers von vornherein als nicht gegeben ansieht, kann man streng genommen auch den Kodex nur interessenpluralistisch verstehen.479 Der Kodex will das Gesetz hier ja nur beschreiben und erläutern. Unabhängig von diesen Überlegungen zur Folgerichtigkeit bleibt es aber dabei, dass sich aus der bloßen Auslegung des Kodex nicht ergibt, ob dieser interessenhierarchisch oder -pluralistisch zu verstehen ist. Die vorherige Fassung des Absatzes 2 der Präambel spricht eher für die Interessenhierarchie und führt mit der Stellung der Aktionäre als Residualgläubiger auch ein typisches Argument für diese Zielkonzeption an.480 Dagegen kann man zunächst den geänderten Wortlaut anführen, allerdings beharrt die Regierungskommission darauf, keine inhaltliche Änderung des Kodex vorgenommen zu haben. Unabhängig davon sprechen die geänderten Formulierungen aber für ein interessenpluralistisches Verständnis des Kodex. Dies gilt insbesondere auch für das zuletzt in die Präambel eingefügte Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns481. Nur die interessenpluralistische Zielkonzeption bietet eine verhältnismäßig sichere Rechtsgrundlage für den Vorstand, um als Ehrbarer Kaufmann die Interessen 475
Siehe dazu die Darstellung bei Goette, in: MüKo AktG, § 161 Rn. 82 ff. Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 161 Rn. 3; von der Linden, in: Wilsing, DCGK, § 161 Rn. 14. 477 Goslar, in: Wilsing, DCGK, Ziff. 4.1.1 Rn. 20; Mülbert, AG 2009, 766 (771). 478 Lingnau/Kreklow, ZCG 2011, 192 (193 ff.). 479 Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). 480 Zum Argument der Residualgläubigerstellung der Aktionäre siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) bb) (S. 88 ff.). 481 Siehe zur Historie des Leitbilds des Ehrbaren Kaufmanns unten Kap. 2, B. II. 4. d) ee) (S. 99 ff.). 476
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sämtlicher Stakeholder zu berücksichtigen. Ob dieses Verständnis schon immer dem Kodex entsprach oder erst mit den Änderungen 2009 und 2017 in diesen Einzug gehalten hat, kann daher letztlich offenbleiben. Zusammenfassend spiegelt die Auslegung des Kodex den in der Literatur auch sonst bestehenden Diskurs wieder, wobei insbesondere die jüngeren und jüngsten Änderungen für ein interessenpluralistisches Verständnis des Kodex sprechen. Diese verdeutlichen zugleich die Aktualität des Diskurses. ee) Corporate Social Responsibility Der Diskurs, insbesondere die Berücksichtigung des Allgemeininteresses, weist große Parallelen zur nach wie vor aktuellen Debatte über die soziale Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility (CSR)) auf, die im angelsächsischen Raum begonnen hat.482 Diese soll daher nachfolgend kurz dargestellt und ihre Auswirkungen auf den Diskurs untersucht werden. Inhaltliche Schnittmengen des CSR-Begriffs bestehen etwa mit den Begriffen Nachhaltigkeit ((Corporate) Sustainability)483, Business Ethics, Business and Society sowie Corporate Citizenship (CC),484 wobei die Übergänge fließend sind.485 Insbesondere die EU-Kommission hat mit ihrem Grünbuch „Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen“486 im Jahr 2001 die Debatte auf Europa ausgeweitet.487 Darin definiert die Kommission CSR „als ein Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmensta¨ tigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren.“488 Weiter katalysiert durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise ist CSR heute in aller Munde.489 Die Bundesregierung hat in ihrem „Aktionsplan CSR“ vom Okto-
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Hüttemann, in: FS Schaumburg, S. 405 (405). Der Begriff der Nachhaltigkeit bildet dabei den Oberbegriff, siehe Bundesregierung, Aktionsplan CSR, S. 3 f.; ebenso Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (48 ff.). 484 Hüttemann, in: FS Schaumburg, S. 405 (405). 485 Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (48 ff.); zum CSR-Begriff siehe auch Hüttemann, AG 2009, 774 (774 f.). 486 Grünbuch vom 18. Juli 2001, Europäische Rahmenbedingungen fu¨ r die soziale Verantwortung der Unternehmen, KOM (2001) 366 endg. (im Folgenden: Grünbuch vom 18. Juli 2001, KOM (2001) 366 endg.). 487 Hüttemann, in: FS Schaumburg, S. 405 (405 f.). 488 Grünbuch vom 18. Juli 2001, KOM (2001) 366 endg., S. 7 – Rn. 20; darauf verweisend Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, Eine neue EU-Strategie (2011 – 14) fu¨ r die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR), KOM (2011) 681 endg., S. 4 (im Folgenden: Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg.). 489 So auch die Einschätzung in der Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 5; ebenso Bundesregierung, Aktionsplan CSR, S. 5 und 23. 483
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ber 2010 ausdrücklich auf diese Definition abgestellt.490 Im Oktober 2011 hat die Kommission „Eine neue EU-Strategie (2011 – 14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR)“491 mit einer ebenfalls neuen und generelleren CSR-Definition vorgelegt. Danach ist CSR „die Verantwortung von Unternehmen fu¨ r ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“492. Darin kommt die Multidimensionalität zum Ausdruck, welche die Kommission CSR beimisst.493 Bemerkenswerterweise wird die Freiwilligkeit nicht mehr in der Definition erwähnt.494 Nach Ansicht der Kommission setzt CSR auf einer ersten Stufe die Einhaltung von Gesetzen und Tarifverträgen voraus.495 Über die Einhaltung des Rechts hinaus sollen die Unternehmen auf einer zweiten Stufe systematisch „soziale, ökologische, ethische, Menschenrechts- und Verbraucherbelange in enger Zusammenarbeit mit den Stakeholdern in die Betriebsfu¨ hrung und in ihre Kernstrategie“ integrieren, damit „die Schaffung gemeinsamer Werte fu¨ r die Eigentu¨ mer/Aktionäre der Unternehmen sowie die u¨ brigen Stakeholder und die gesamte Gesellschaft optimiert“ wird.496 Die Kommission wünscht sich die Federführung der Unternehmen, die sich bei der Entwicklung von CSR an dem Kernbestand globaler Leitlinien und Grundsätze zur CSR orientieren können.497 Dazu zählen nach Auffassung der Kommission498 jedenfalls die OECDLeitsätze fu¨ r multinationale Unternehmen499, die zehn Grundsätze des Global Compact der Vereinten Nationen500, die ISO-Norm 26000 zur sozialen Verantwortung501, die dreigliedrige Grundsatzerklärung des Internationalen Arbeitsamtes (IAA) u¨ ber multinationale Unternehmen und Sozialpolitik502 und die Leitprinzipien der Vereinten Nationen fu¨ r Unternehmen und Menschenrechte (United Nations
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Bundesregierung, Aktionsplan CSR, S. 2. Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg; vorausgegangen war die Mitteilung der Kommission vom 22. März 2006, Umsetzung der Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung: Europa soll auf dem Gebiet der sozialen Verantwortung der Unternehmen führend werden, KOM (2006) 136 endg. (im Folgenden: Mitteilung der Kommission vom 22. März 2006, KOM (2006) 136 endg.). 492 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 7; inzwischen existiert eine Vielzahl von Definitionen, siehe dazu Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (49). 493 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 8 f. 494 Zur Reduzierung des Merkmals der Freiwilligkeit siehe auch Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (61). 495 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 7. 496 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 1, 4, 7. 497 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 8 f. 498 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 8; siehe auch Bundesregierung, Aktionsplan CSR, S. 3 f. 499 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011). 500 UN Global Compact, The Ten Principles of the UN Global Compact. 501 ISO 26000:2010 Guidance on social responsibility. 502 IAA, Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik. 491
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Guiding Principles on Business and Human Rights)503. Die Rolle der Behörden sei dabei unterstützender Natur, die sich primär in freiwilligen Initiativen zeigen solle, erforderlichenfalls aber auch aus rechtlichen Vorschriften bestehen könne, um beispielsweise die Transparenz zu steigern und Marktanreize zu schaffen.504 Es stellt sich somit die Frage, ob die CSR-Debatte sich ohne ihre Verrechtlichung auf das Leitungsermessen des Vorstands auswirkt. Die bereits genannten globalen Leitlinien und Grundsätze zur CSR wie die OECD-Leitsätze fu¨ r multinationale Unternehmen sind allesamt unverbindlich und beruhen auf der Freiwilligkeit der Unternehmen.505 Die zunehmende Verrechtlichung506 durch den nationalen und europäischen Gesetzgeber wird in der Literatur daher teilweise sehr kritisch gesehen, da sie die konzeptionelle Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung der Unternehmen konterkariere.507 Die neue EU-Strategie zur sozialen Verantwortung sei auf eine weitere Verrechtlichung ausgerichtet.508 Jenseits dieser Verrechtlichung handelt es sich nach Kort bei CSR im Hinblick auf das Leitungsermessen weitgehend um „alten Wein in neuen Schläuchen“.509 CSR ginge über die Begriffe des Allgemeininteresses oder des Gemeinwohls wenn überhaupt insoweit hinaus, als sie stärker das „globale Allgemeininteresse“ berücksichtige, etwa nach weltweit gerechten Arbeitsbedingungen oder globalem Umweltschutz.510 Es sei jedoch unmöglich, aus dem weitestgehend unbestimmten CSR-Begriff konkrete rechtliche und haftungsrelevante Maßstäbe für das Leitungsermessen des Vorstands abzuleiten.511 Dass es sich bei CSR um alten Wein in neuen Schläuchen handle, verdeutliche auch ihre von Klink512 aufgearbeitete wirtschaftshistorische Dimension.513 Ideengeschichtlich gehe CSR auf den Begriff des „Ehrbaren Kaufmanns“ zurück, dem etwa der italienische Kaufmann des späten Mittelalters514 oder der Hansekauf503
United Nations, Guiding Principles on Business and Human Rights. Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 9. 505 IAA, Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik, S. 3; ISO 26000:2010 Guidance on social responsibility, S. 20; OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 15 und 19; UN Global Compact, The Ten Principles of the UN Global Compact; United Nations, Guiding Principles on Business and Human Rights, S. 1 und 13 ff. 506 Siehe exemplarisch die sog. CSR-Richtlinie unten Kap. 2, B. II. 4. f) (S. 107 ff.). 507 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 42; Kort, NZG 2012, 926 (927 f.). 508 Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (51 und 60). 509 Vgl. Matthäus 9,17; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88 und 93. 510 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88; Kort, NZG 2012, 926 (927). 511 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88; Kort, NZG 2012, 926 (927). 512 Klink, ZfB-Special 2008, Nr. 3, 57 (57 ff.). 513 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88; Kort, NZG 2012, 926 (928). 514 Klink, ZfB-Special 2008, Nr. 3, 57 (62 ff.); zustimmend im Hinblick auf den Begriff der Nachhaltigkeit Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (46). 504
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mann515 Pate gestanden hätten.516 Im 20. Jahrhundert sei dieser durch Sombart weiterentwickelt worden, der sich bereits mit dem Verhältnis des Ehrbaren Kaufmanns zur Gesellschaft auseinandergesetzt habe.517 Dies sei im Kern nichts anderes als die heute unter dem Stichwort CSR geführte Debatte.518 Da CSR eine historische Dimension habe, also nicht neu sei, müsse man eine auf ihr aufbauende Änderung des Leitungsermessens bezweifeln.519 Rehbinder greift das Bild vom alten Wein in neuen Schläuchen auf, um ein anderes zu zeichnen.520 Er sieht das CSR-Konzept einer globalisierten Welt mit all seinen darunter gefassten Themen, vom Umweltschutz bis zur Korruptionsbekämpfung, als deutlich umfangreicher als den aktienrechtlichen Begriff des Allgemeininteresses an.521 Auch andere Stimmen in der Literatur sind den CSR-Entwicklungen gegenüber positiv gestimmt.522 Insbesondere vor dem Hintergrund der weiter voranschreitenden Entwicklung auf europäischer Ebene und den stetig zunehmenden gesellschaftlichen Erwartungen an Unternehmen, sei es – auch ökonomisch (Reputation als Wettbewerbsfaktor)523 – „ein Gebot der Zeit“, dass Unternehmen aktiv und freiwillig CSR-Standards implementierten.524 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die aktuelle CSR-Debatte wird zwar in der Literatur sowohl positiv als auch negativ gesehen, jenseits einer Verrechtlichung leitet aber niemand neue konkrete Handlungsmaßstäbe für den Vorstand daraus ab. Das Aktiengesetz nimmt, anders als beim DCGK, auch keinen Bezug auf die globalen Leitlinien. Vielmehr wird CSR teilweise synonym mit dem althergebrachten Begriff des Allgemeininteresses verwendet.525 Einigkeit besteht auch insoweit, als der Begriff des Allgemeininteresses spätestens durch die Debatte globaler verstanden werden muss.526 Dies ist Ausdruck eines gewandelten Verständnisses der sozialen Verantwortung von Unternehmen in einer globalen, vernetzten Welt, in der multinationale Unternehmen agieren. Dadurch wird zugleich ein Unterschied zu den historischen Wurzeln des Ehrbaren Kaufmanns deutlich. Der Begriff des Allge515
Klink, ZfB-Special 2008, Nr. 3, 57 (68 f.). Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 92; Kort, NZG 2012, 926 (928). 517 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 92; Kort, NZG 2012, 926 (928); siehe dazu Klink, ZfB-Special 2008, Nr. 3, 57 (57 und 70 ff.). 518 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 92; Kort, NZG 2012, 926 (928). 519 Kort, NZG 2012, 926 (928). 520 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (11 ff.). 521 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (15); ähnlich Eufinger, EuZW 2015, 425 (425). 522 Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (62 ff.). 523 Siehe dazu Seibt, DB 2015, 171 (171 ff.); unter Verweis auf die Wirtschaftswissenschaften auch Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88. 524 Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (68). 525 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 34; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 35; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 77. 526 Dazu, inwieweit § 76 AktG hierfür offen ist, siehe unten Kap. 2, B. II. 5. b) (S. 150 ff.). 516
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meininteresses ist so generell, dass er konkretisiert werden muss. Er kann daher innerhalb der dogmatischen Grenzen „globaler“ ausgelegt werden. Auch trägt die Debatte dazu bei, der Reputation von Unternehmen als Wettbewerbsfaktor weiteren Auftrieb zu verleihen. Insoweit enthalten die alten Schläuche auch ein paar Tropfen neuen Wein. Selbst Kritiker hinsichtlich der Auswirkungen von CSR auf das Aktienrecht gehen davon aus, dass die Bedeutung von CSR noch weiter zunehmen wird.527 ff) Zwischenergebnis Allein aufgrund der teleologischen Auslegung lässt sich ein interessenpluralistischer Ansatz nicht als zwingend darlegen, es sprechen aber die besseren Argumente für ihn. Aufbauend auf die historischen Argumente ist ein aus dem Verbandszweck abgeleiteter Vorrang des Aktionärsinteresses folgerichtig abzulehnen, da andernfalls die eigenverantwortliche Leitung des Vorstands faktisch aufgehoben würde.528 Des Weiteren sind die Aktionäre auch nicht schutzwürdiger als die anderen Stakeholder, denn Arbeitnehmer sind regelmäßig deutlich enger an das Unternehmen gebunden als Aktionäre, die ihr Risiko diversifizieren und ihre Beteiligung leicht veräußern können.529 Die Allgemeinheit wiederum kann sich dem Unternehmen gar nicht entziehen. Das Hauptargument der Gegenauffassung, die Lösung des PrinzipalAgent-Konflikts, kann das Shareholder-Value-Konzept bei Lichte betrachtet nicht leisten.530 Es scheitert an dem zu langen Bemessungszeitraum und dem regelmäßig unmöglichen Nachweis, dass sich die einzelnen gewinnmindernden Aufwendungen zugunsten der anderen Stakeholder langfristig für die Aktionäre auszahlen. Schließlich zeigen auch die Änderungen des DCGK in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit und die aktuelle CSR-Debatte einen Trend zum Interessenpluralismus. e) Die verfassungsrechtlichen Argumente aus Art. 14 GG Aus Art. 14 GG werden sowohl Argumente für eine interessenpluralistische als auch für eine interessenmonistische/-hierarchische Zielkonzeption abgeleitet.531 Vertreter des letzteren Konzepts betonen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. Demgegenüber sei die Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 GG – so auch die Auffassung des BVerfG532 – ausschließlich als Rege527 Siehe beispielsweise Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 42; Mülbert, AG 2009, 766 (767). 528 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 31. Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) aa) (S. 83 ff.). 529 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) bb) (S. 88 ff.). 530 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.). 531 Die Ambivalenz betonen Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (106). 532 BVerfG, Urteil vom 10. März 1981 – 1 BvR 92/71, Gondelbahn, BVerfGE 56, 249 (260).
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lungsauftrag an den Gesetzgeber adressiert.533 Diese Auslegung sei geboten, da andernfalls die Gerichte aus Art. 14 Abs. 2 GG eine Pflicht zur Berücksichtigung des Allgemeinwohls ableiten und für den Vorstand handhabbar konkretisieren müssten.534 Eine solche Konkretisierung sei aber mangels eines Maßstabs, jenseits der die Sozialbindung konkretisierenden einfachen Gesetze, willkürlich.535 Durch ein solches Rückgriffsrecht auf die Verfassung würden die Gerichte zugleich ihrer Bindung an das einfache Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) enthoben.536 Aufgrund des fehlenden Konkretisierungsmaßstabs und des Schutzes des Eigentums der Aktionäre (Art. 14 Abs. 1 GG) müsse erst recht eine noch weitergehende Vorstandspflicht zur aktiven Förderung des Allgemeininteresses abgelehnt werden.537 Vertreter der interessenpluralistischen Zielkonzeption leiten dagegen auch aus der Sozialbindung des in der Aktie verkörperten Eigentums die Pflicht des Vorstands zur gleichwertigen Berücksichtigung des Arbeitnehmer- und Allgemeininteresses ab.538 Zwar sei das Privateigentum der Aktionäre durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt, doch dies werde durch die Weisungsunabhängigkeit des Vorstands im Verhältnis zu den Aktionären relativiert.539 Diese Entscheidung des Gesetzgebers stehe der Ableitung eines Vorrangs des Aktionärsinteresses aus Art. 14 Abs. 1 GG entgegen.540 Richtigerweise kann aus Art. 14 GG weder eine interessenmonistische/-hierarchische noch eine interessenpluralistische Zielkonzeption abgeleitet werden. Gleichzeitig steht die Verfassung auch keiner dieser Zielkonzeptionen entgegen. Nach der zutreffenden Auffassung des BVerfG ist Art. 14 Abs. 2 GG ausschließlich ein Regelungsauftrag an den Gesetzgeber.541 Umgekehrt muss aber auch das Eigentum erst durch den Gesetzgeber in Form von Inhalts- und Schrankenbestimmung ausgestaltet werden (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG).542 Dies wird umso deutlicher, als es 533 Mülbert, AG 2009, 766 (769 f.); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 306 [Stand: Juli 2010]; Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 15; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22; insoweit zustimmend Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (106). 534 Mülbert, AG 2009, 766 (770). 535 Mülbert, AG 2009, 766 (770). 536 Mülbert, AG 2009, 766 (770); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 306 [Stand: Juli 2010]. 537 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 87; Kort, NZG 2012, 926 (926 f.). 538 Rittner, in: FS Gessler, S. 139 (146 ff.); Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 62; Spindler, Unternehmensinteresse als Leitlinie des Vorstandshandelns, S. 19; ohne klare Positionierung auch Säcker, BB 2009, 282 (283); als Vertreter der Interessenhierarchie auch Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 33. 539 So als Vertreter der Interessenhierarchie Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 61. 540 So als Vertreter der Interessenhierarchie Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 61. 541 BVerfG, Urteil vom 10. März 1981 – 1 BvR 92/71, Gondelbahn, BVerfGE 56, 249 (277). 542 BVerfG, Urteil vom 7. August 1962 – 1 BvL 16/60, Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263 (278); BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1967 – 1 BvR 169/63, Grundstücksverkehrsgesetz, BVerfGE 21, 73 (79); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (339 f.); BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 1981 – 1 BvL 77/78, Naßauskiesung, BVerfGE 58, 300 (330).
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sich in der Terminologie des BVerfG um „gesellschaftsrechtlich vermitteltes Eigentum“543 handelt, das deutlich komplexer ausgestaltet ist als bloßes Sacheigentum. Wenn der Gesetzgeber sich einmal für eine Inhalts- und Schrankenbestimmung entschieden hat, ist diese zugleich auch Maßstab für die Reichweite der Eigentumsgarantie.544 Die Bestandsgarantie des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), der Regelungsauftrag zu dessen Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2) und die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) stehen nach dem BVerfG in einer unlösbaren Verbindung und müssen durch den Gesetzgeber im Wege praktischer Konkordanz ausgeglichen werden.545 Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ist dabei umso größer, je mehr das Eigentumsobjekt aus der persönlichen Sphäre des Eigentümers gelöst ist, wenn also auch andere Nichteigentümer oder sogar die Allgemeinheit auf dieses angewiesen sind – „sozialer Bezug und soziale Funktion des Eigentums“.546 Umgekehrt ist diese umso geringer, je mehr das Eigentum die Funktion erfüllt, die persönliche Freiheit des einzelnen Grundrechtsträgers zu sichern – privater Bezug/Funktion.547 Diese erfordert regelmäßig eine unmittelbare Nutzungs- und Verfügungsmöglichkeit des Eigentümers.548 In jedem Fall muss aber die Zuordnung des Eigentumsobjekts zum Eigentümer ebenso gewahrt bleiben wie seine Substanz.549 Generell gilt also: Bei sozialer Funktion oder sozialem Bezug des Eigentums verfügt der Gesetzgeber nach dem BVerfG über eine relativ weite Einschätzungsprärogative.550 Bereits 1962 hat das BVerfG im Feldmühle-Urteil551 zum grundrechtlichen Schutz des Aktionärs Stellung genommen. Seitdem gilt in ständiger Rechtsprechung: 543
(278). 544
BVerfG, Urteil vom 7. August 1962 – 1 BvL 16/60, Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263
BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (339 f.). 545 BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1967 – 1 BvR 169/63, Grundstücksverkehrsgesetz, BVerfGE 21, 73 (83); BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1976 – 1 BvL 19/75 u. a., Contergan, BVerfGE 42, 263 (294); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (340). 546 BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1976 – 1 BvL 19/75 u. a., Contergan, BVerfGE 42, 263 (294); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (340 f.). 547 BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1976 – 1 BvL 19/75 u. a., Contergan, BVerfGE 42, 263 (294); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (340 f.). 548 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (341). 549 BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1976 – 1 BvL 19/75 u. a., Contergan, BVerfGE 42, 263 (295); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (340). 550 BVerfG, Urteil vom 8. Juli 1976 – 1 BvL 19/75 u. a., Contergan, BVerfGE 42, 263 (294); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (341). 551 BVerfG, Urteil vom 7. August 1962 – 1 BvL 16/60, Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263.
106
Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Die Aktie verkörpert das „gesellschaftsrechtlich vermittelte Eigentum“, das nach dem Aktiengesetz sowohl ein Mitgliedschafts- als auch ein Vermögensrecht umfasst.552 In seinem Mitbestimmungs-Urteil553 konkretisiert das BVerfG weiter: Gesellschaftsrechtlich vermittelt bedeutet, dass vor allem das Aktienrecht die Rechte des Aktionärs aus dem Anteilseigentum bestimmt und begrenzt.554 Danach besteht dessen Nutzungsmöglichkeit nur im Wert der Aktie, unmittelbar nutzen kann er sein Eigentum nicht.555 Verfügen kann der Aktionär ebenfalls nur mittelbar über die Hauptversammlung – außer er verkauft seine Aktien.556 Insoweit unterscheidet sich das Anteilseigentum erheblich vom Sacheigentum, bei dem der Eigentümer über die Nutzung seines Eigentumes unmittelbar selbst entscheidet und ihm zugleich die Auswirkungen der Nutzung zugerechnet werden.557 Beim Anteilseigentum an der Aktiengesellschaft führt der Grundsatz der Fremdorganschaft hingegen dazu, dass der Vorstand weisungsunabhängig das von den Aktionären zur Verfügung gestellte Kapital nutzt.558 Aus der weitestgehend gelösten Konnexität zwischen den Aktionären als Anteilseigentümern und der Nutzung des Eigentums ergibt sich die große Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in diesem Bereich.559 Der soziale Bezug und die soziale Funktion des aktienrechtlichen Anteilseigentums zeigen sich zudem in ihrer großen volkswirtschaftlichen Bedeutung. Im Feldmühle-Urteil hat das BVerfG insbesondere wegen dieser bereits auf die Konkretisierung der Sozialbindung des Art. 14 Abs. 2 GG im damals noch geltenden § 70 Abs. 1 AktG verwiesen.560 In der Delisting-Entscheidung561 aus dem Jahr 2012 verweist das BVerfG auf
552
BVerfG, Urteil vom 7. August 1962 – 1 BvL 16/60, Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263 (278); BVerfG, Urteil vom 7. Mai 1969 – 2 BvL 15/67, Rheinstahl, BVerfGE 25, 371 (119); BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (342); BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, Delisting, BVerfGE 132, 99 (119). 553 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290. 554 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (342). 555 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (342). 556 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (342). 557 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (342). 558 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (343). 559 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (342 f). 560 BVerfG, Urteil vom 7. August 1962 – 1 BvL 16/60, Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263 (282). 561 BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, Delisting, BVerfGE 132, 99.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
107
die volkswirtschaftliche Bedeutung großer börsennotierter Aktiengesellschaften.562 Daraus verfassungsrechtlich die Vorstandspflicht zur Berücksichtigung des Allgemeininteresses über die geltenden Gesetze hinaus abzuleiten, ginge aber zu weit. Man könnte das Feldmühle-Urteil für sich allein zwar so verstehen,563 die weitere Entwicklung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung gebietet aber eine andere Lesart.564 Es bleibt bei der großen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, der insoweit die Sozialbindung des Eigentums einfachgesetzlich auch anders ausgestalten kann, wie zum Beispiel durch Umverteilung der Steuereinnahmen im Sozialrecht. Umgekehrt kann aus diesem Grund auch keine interessenmonistische/ -hierarchische Zielkonzeption aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitet werden. Nach der hier vertretenen Auffassung hat sich der Gesetzgeber des Aktiengesetzes aber für den Interessenpluralismus entschieden und mit § 76 Abs. 1 AktG die Sozialbindung des Eigentums konkretisiert.565 Dies hat das BVerfG im Feldmühle-Urteil für das Aktiengesetz 1937 als verfassungskonform bestätigt566 und daran für das geltende Aktiengesetz im Mitbestimmungs-Urteil festgehalten, wo es ausführt: „Die eigenverantwortliche Nutzung des von den Anteilseignern zur Verfügung gestellten Kapitals ist dem Vertretungsorgan und Leitungsorgan übertragen (vgl. § 76 Abs. 1 AktG), dem dabei die Wahrung von Interessen aufgegeben ist, die nicht notwendig diejenigen der Anteilseigner sein müssen.“567
f) Das europarechtliche Argument – CSR-Richtlinie 2014/95/EU Das aktuellste und wichtigste Beispiel für eine Verrechtlichung im CSR-Bereich ist die sog. CSR-Richtlinie 2014/95/EU568, welche die Bilanz-Richtlinie 2013/34/ 562 BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, Delisting, BVerfGE 132, 99 (120 und 124). 563 BVerfG, Urteil vom 7. August 1962 – 1 BvL 16/60, Feldmühle-Urteil, BVerfGE 14, 263 (282); für eine solche zeitgenössische Interpretation ist Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 25. 564 Vgl. BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (339 ff.); BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/08, Delisting, BVerfGE 132, 99 (119 ff.). 565 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). 566 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (282). 567 BVerfG, Urteil vom 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., Mitbestimmung, BVerfGE 50, 290 (343). 568 Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1 (im Folgenden: CSR-Richtlinie 2014/ 95/EU). Da der Diversity-Bericht für die hier behandelte Fragestellung nicht relevant ist, wird auf diesen nicht eingegangen.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
EU569 ändert.570 Aus dieser europäischen Richtlinie bzw. ihren Umsetzungsgesetzen leitet namentlich Hommelhoff für die Vorstände der betroffenen Unternehmen die rechtsverbindliche Pflicht zur Verfolgung einer interessenpluralistischen Zielkonzeption im Rahmen ihres Leitungsermessens ab.571 Bevor diese Ableitung kritisch geprüft wird, sollen zunächst die wesentlichen Bestimmungen der CSR-Richtlinie dargestellt werden. Danach sind Großunternehmen, die von öffentlichem Interesse sind und zum Zeitpunkt des Bilanzstichtags durchschnittlich mehr als 500 Mitarbeiter im Geschäftsjahr beschäftigt haben, nach den Umsetzungsgesetzen verpflichtet, eine nichtfinanzielle Erklärung in den Lagebericht aufzunehmen (Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/34/EU). Unternehmen sind nach der Richtlinie von öffentlichem Interesse, wenn sie unter das Recht eines Mitgliedsstaats fallen und ihre Aktien oder Anleihen an einem geregelten Markt in der EU zugelassen sind, des Weiteren auch bestimmte große Kreditinstitute und Versicherungen (Art. 2 Nr. 1 lit. a) – d) RL 2013/34/EU). Großunternehmen sind hier Unternehmen, die eine Bilanzsumme von mindestens 20 Millionen Euro oder Nettoumsatzerlöse von mindestens 40 Millionen Euro ausweisen (Art. 3 Abs. 4 RL 2013/34/EU). Die Mitgliedstaaten können die Pflicht aber auch auf andere Unternehmen ausdehnen.572 Europaweit werden voraussichtlich etwa 6000 Unternehmen die Berichtspflicht erfüllen müssen.573 In der nichtfinanziellen Erklärung müssen die Großunternehmen sich mindestens zu den Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Umwelt-, Sozial-, und Arbeitnehmerbelange sowie auf die Wahrung der Menschenrechte und die Korruptionsbekämpfung erklären (Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 RL 2013/34/EU).574 Darüber hinaus müssen sie auch ihre Konzepte (inklusive etwaiger Due-Diligence-Prozesse) zur Verfolgung dieser Belange sowie deren Ergebnisse beschreiben und, falls sie konzeptlos agieren, dies begründen (Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 lit. b) und c) 569 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 u¨ ber den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, Abl. Nr. L 182 vom 29. Juni 2013, S. 19 (im Folgenden: BilanzRichtlinie 2013/34/EU). 570 Ähnlich Eufinger, EuZW 2015, 425 (428); Hommelhoff, in: FS Kübler, S. 291. Einen Rechtsakt zur Offenlegung von nichtfinanziellen Informationen hatte die Kommission bereits in der Mitteilung zu ihrer neuen CSR-Strategie angekündigt, siehe Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 14 f. 571 Hommelhoff, in: FS Kübler, S. 291 (297 f.); bereits in diese Richtung Hommelhoff, in: FS Hoyningen-Huene, S. 137 (144). 572 CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgrund 14. 573 Eufinger, EuZW 2015, 425 (426). 574 Für eine alternative nichtfinanzielle Erklärung durch die Konzernmuttergesellschaft gilt die Parallelregelung Art. 29a CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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sowie Satz 2 RL 2013/34/EU). Weiter müssen die wesentlichen Risiken, die diesen Belangen vor dem Hintergrund der Geschäftstätigkeit des Großunternehmens drohen, ebenso benannt werden wie die Maßnahmen des Großunternehmens zu ihrer Reduzierung (Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 lit. d) RL 2013/34/EU). Sofern dies relevant und verhältnismäßig ist, sollen die Unternehmen in diese Risikoberichterstattung auch ihre Geschäftsbeziehungen, Erzeugnisse oder Dienstleistungen miteinbeziehen. Der Lagebericht muss im Hinblick auf all diese Vorgaben sämtliche Informationen enthalten, die fu¨ r das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind (Art. 19a Abs. 1 UAbs. 1 2013/34/EU). Für die Bereitstellung der Informationen können die Unternehmen auf nationale, unionsbasierte oder internationale Rahmenwerke575 zurückgreifen (Art. 19a Abs. 1 UAbs. 3 RL 2013/34/EU). Bis zum 6. Dezember 2016 mussten die Mitgliedstaaten die Änderungen umsetzen, die ab dem Kalender-/Geschäftsjahr 2017 für die erfassten Großunternehmen gelten sollen (Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 und 2 RL 2014/95/EU). Ausweislich der Erwägungsgründe der Richtlinie 2014/95/EU sollen den Großunternehmen durch diese aber keine über die geltenden Gesetze hinausgehenden inhaltlichen Pflichten auferlegt werden, sondern lediglich eine Berichtspflicht bezüglich der CSR-Aktivität in einem gewissen Mindestumfang statuiert werden.576 Dadurch soll die Relevanz und Vergleichbarkeit dieser Informationen erhöht und es Investoren, Verbrauchern und anderen Interessenträgern ermöglicht werden, an diese zu gelangen.577 Die Informationen sollen ferner dabei helfen, die Auswirkungen der Unternehmen auf die Gesellschaft zu messen, zu überwachen und zu handhaben.578 Die Angabe nichtfinanzieller Informationen sei ein wesentliches Element, um den Übergang zu einer nachhaltigen globalen Wirtschaft zu bewältigen, da so langfristige Rentabilität mit sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz verbunden werde.579
575 In Erwägungsgrund 9 der Richtlinie werden als Beispiele für internationale Rahmenwerke unter anderem die hier schon im Rahmen der Ausführungen zur CSR erwähnten genannt, siehe CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgrund 9. In der Begründung des Regierungsentwurfs zum CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz wird ausdrücklich der Deutsche Nachhaltigkeitskodex als Rahmenwerk genannt, siehe Begr. RegE, BT-Drucks. 18/9982, S. 46. 576 CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgründe 3 und 5. 577 CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgründe 3 und 21. 578 CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgrund 3. 579 CSR-Richtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgrund 3.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Die Berichtspflicht wird teilweise kritisch gesehen, da Unternehmen weder nach deutschem noch nach europäischem Recht zu Maßnahmen im Allgemeininteresse verpflichtet seien.580 Das Bestehen einer solchen Pflicht würde aber durch die Einführung einer Berichtspflicht vorausgesetzt, da eine Berichtspflicht andernfalls unangemessen und rechtlich problematisch wäre.581 Des Weiteren würde der Lagebericht so überdehnt.582 Andere sehen die Berichtspflicht dagegen grundsätzlich positiv und bezeichnen diese sogar als „Markstein“583 in der Entwicklung der CSR.584 Durch die Richtlinie würde der Zustand der Beliebigkeit beendet, was zugleich dem Wettbewerb zuträglich sei.585 Der generelle Einzug der CSR in die Unternehmenspraxis sei nur durch Verrechtlichung zu erreichen, insbesondere könne sich so keiner unbemerkt entziehen.586 Da den Unternehmen auch keine verpflichtenden Vorgaben gemacht würden, wie sie CSR zu praktizieren hätten, sei die Richtlinie auch offen gegenüber der weiteren Entwicklung.587 Kritisiert wird von den grundsätzlichen Befürwortern dagegen die Offenheit der Berichterstattung, die Beliebigkeit der dieser zugrundeliegenden Standards sowie die damit einhergehende schlechte Vergleichbarkeit.588 Letztere werde weiter dadurch erhöht, dass es den Mitgliedstaaten überlassen sei, ob eine Inhaltskontrolle durch eine unabhängige externe Stelle erfolgen muss (Art. 19a Abs. 6 RL 2013/34/EU).589 Nach der Richtlinie muss der Abschlussprüfer nur prüfen, ob eine nichtfinanzielle Erklärung vorliegt (Art. 19a Abs. 5 RL 2013/34/EU). Wie eingangs erwähnt ist namentlich Hommelhoff der Auffassung, dass der europäische Gesetzgeber für die von der Richtlinie betroffenen Unternehmen eine interessenpluralistische Zielkonzeption für verbindlich erklärt und ShareholderValue-Ansätze zu Grabe getragen habe.590 Die verbindlichen Berichtspflichten über 580
Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 97. Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 97. 582 Jobst/Kapoor, CFl 2013, 243 (249 f.); zustimmend Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 97; insoweit wohl ebenfalls zustimmend Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (31); ähnlich Hommelhoff, in: FS Hoyningen-Huene, S. 137 (143 f.). 583 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (22 und 25). 584 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (22 und 25); Spießhofer, NZG 2014, 1281 (1287). Letztere ist im Hinblick auf die Umsetzung aber sehr kritisch. 585 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (26). 586 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (27); für eine weitere Verrechtlichung wohl auch Spießhofer, NZG 2014, 1281 (1287). 587 Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (27). 588 Eufinger, EuZW 2015, 425 (426); Rehbinder, in: Deinert/Schrader/Stoll, CSR, S. 10 (27 ff.); Roth-Mingram, NZG 2015, 1341 (1343, 1346); Spießhofer, NZG 2014, 1281 (1285 ff.). 589 Eufinger, EuZW 2015, 425 (427); Spießhofer, NZG 2014, 1281 (1286). 590 Hommelhoff, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 13 (15 – Fn. 12); Hommelhoff, NZG 2015, 1329 (1330); Hommelhoff, in: FS Kübler, S. 291 (297 f.). Seibert sieht eine „klare Abkehr“ von Shareholder-Value-Ansätzen und eine „Hinwendung zum Stakeholder-Ansatz“ als dahinterstehendes Motiv des europäischen und nationalen Gesetzgebers, so 581
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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die Art und Weise der Verfolgung oder Nichtverfolgung nichtfinanzieller Unternehmensziele würden sich auf die Zielkonzeption für die Organe der betroffenen Aktiengesellschaften auswirken.591 Der Vorstand müsse zukünftig die Gewinnerzielung und die nichtfinanziellen Unternehmensziele im Rahmen seines Leitungsermessens gegeneinander abwägen und ausgleichen.592 Der Aufsichtsrat habe den Vorstand auch insoweit zu überwachen und müsse seine unternehmerischen Entscheidungen, z. B. die Ausübung eines Zustimmungsvorbehalts, ebenfalls daran ausrichten.593 Die Verortung dieser Änderungen der Unternehmensverfassung in der europäischen Bilanzrichtlinie bezeichnet Hommelhoff als „Camouflage“.594 Der deutsche Gesetzgeber solle diese nicht durch eine bloße Erweiterung von § 289 und § 289a HGB fortsetzen, sondern eine Umsetzung im materiellen Gesellschaftsrecht, konkret in den §§ 23, 76 Abs. 1, 90 und 93 AktG, vornehmen, um den materiell-rechtlichen Gehalt nicht zu verschleiern.595 Aufgrund der Generalklauseln § 76 Abs. 1 und § 93 Abs. 1 AktG handle es sich aber, wie auch Ziffer 4.1.1 DCGK596 zeige, so oder so nicht um einen Systembruch mit dem deutschen Aktiengesetz.597 Andere Autoren lehnen Auswirkungen der Richtlinie auf die Verfassung der Aktiengesellschaft und eine dortige Umsetzung dagegen ab.598 Es handle sich um eine bloße Änderung des Bilanzrechts.599 Wenn der Europäische Gesetzgeber das Aktienrecht in den Mitgliedsstaaten, konkret die Zielkonzeption der Aktiengesellschaft, harmonisieren wolle, dann müsse er ein europäisches Gesellschaftsrecht schaffen.600 Über bloße Berichtspflichten im Sekundärrecht, hier im Bilanzrecht, und den entsprechenden nationalen Umsetzungsgesetzen ließe sich dies nicht erreichen.601 Eine solche „mittelbare Harmonisierung“ sei dogmatisch unzulässig.602 unter Verweis auf Hommelhoff Seibert, AG 2015, 593 (596); ähnlich Nietsch, NZG 2016, 1330 (1334). Ob damit auch eine Änderung des Unternehmensgegenstands verbunden sei, macht Nietsch vor allem von der weiteren Entwicklung und dem Berichtsverhalten der betroffenen Unternehmen abhängig. 591 Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 76 Rn. 12; Hommelhoff, in: FS Kübler, S. 291 (298). 592 Hommelhoff, in: FS Kübler, S. 291 (298). 593 Hommelhoff, in: FS Kübler, S. 291 (298). 594 Hommelhoff, in: FS Hoyningen-Huene, S. 137 (144). 595 Hommelhoff, NZG 2015, 1329 (1330); Hommelhoff, in: FS Hoyningen-Huene, S. 137 (144). Er weist darauf hin, dass die Umsetzung im Detail noch entwickelt werden müsse. 596 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) dd) (S. 94 ff.). 597 Hommelhoff, NZG 2015, 1329 (1331 ff.). 598 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 7; Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 97; für eine Umsetzung in den §§ 289 f. HGB auch Roth-Mingram, NZG 2015, 1341 (1342); Schön, ZHR 180 (2016), 279 (283 und 287 f.). 599 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 7; Schön, ZHR 180 (2016), 279 (288). 600 Schön, ZHR 180 (2016), 279 (287 f.). 601 Schön, ZHR 180 (2016), 279 (287 f.). 602 Schön, ZHR 180 (2016), 279 (288).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Der Deutsche Gesetzgeber hat die Richtlinie mit dem CSR-Richtlinien-Umsetzungsgesetz vom 11. April 2017 umgesetzt.603 Die Umsetzung ist im Bilanzrecht erfolgt. Es handelt sich im Wesentlichen um eine restriktive eins zu eins Umsetzung der Richtlinie,604 mit denselben Kritikpunkten insbesondere hinsichtlich der Vergleichbarkeit,605 sodass darauf für die hier verfolgte Argumentation nicht näher eingegangen werden muss. Erwähnenswert ist aber, dass einige Wahlrechte der Mitgliedsstaaten an die Unternehmen weitergereicht werden. Diese können danach insbesondere entscheiden, ob sie die Berichterstattung im Lagebericht oder in einem eigenen nichtfinanziellen Bericht vornehmen wollen (§ 289b Abs. 3, § 315b Abs. 3 HGB). Wie der Gesetzgeber durch Umsetzung im Bilanzrecht aber deutlich gemacht hat, gehen die Schlussfolgerungen Hommelhoffs zu weit. Auf den Punkt gebracht werden die Unternehmen nicht zu sozialem Handeln verpflichtet. Sie müssen lediglich darüber berichten, wenn sie es tun oder warum sie es nicht tun. Zumindest eine Entscheidung über Interessenhierarchie oder Interessenpluralismus ist damit aber nicht getroffen. Dass über die geltenden Gesetze hinaus die Möglichkeit sozial verantwortlichen Handelns in erheblichem Umfang möglich sein soll – zutreffenderweise wären die Berichtspflichten andernfalls sinnlos – kann aber als Absage an den Interessenmonismus verstanden werden. Ob die CSR-Richtlinie deswegen aber eine europarechtskonforme Auslegung gegen eine interessenmonistische Zielkonzeption verlangt bzw. verlangen kann, ist mehr als fraglich. Dagegen sprechen nicht nur die benannten dogmatischen Bedenken, sondern auch, dass die Richtlinie auch ausweislich der Erwägungsgründe neben den Berichtspflichten eben keine Pflichten zu sozial verantwortungsvollem Handeln begründet. Nach der hier vertretenen Auffassung steht die Richtlinie ohnehin im Einklang mit dem Willen des (historischen) Gesetzgebers. Inwieweit die Berichtspflichten und der damit möglicherweise einhergehende öffentliche Druck zu einem Mehr an sozial verantwortlichem Handeln führen, bleibt abzuwarten.606 g) Stellungnahme In der Gesamtschau der anhand des Auslegungskanons entwickelten und dargestellten Argumente müssen sich hier die historischen Argumente für eine inter603 Gesetz zur Sta¨ rkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz), BGBl. I 2017, 802 (im Folgenden: CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz). 604 Boecker/Zwirner, SteuK 2016, 426 (430); Kajüter, IRZ 2016, 507 (507); so bereits zum Referentenentwurf Bayer/Schmidt, BB 2016, 1923 (1925); ebenso Müller, BB 2016, Nr. 19, Die erste Seite. Der einzige von der Richtlinie abweichende Punkt, den Müller benennt, einen Vergleich mit dem Vorjahr in den Bericht aufzunehmen, wurde im Regierungsentwurf gestrichen, siehe dazu Art. 1 Nr. 3 a), aa) RefE. 605 Siehe dazu Nietsch, NZG 2016, 1330 (1330 ff.). 606 Zuversichtlich Eufinger, EuZW 2015, 425 (424).
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essenpluralistische Zielkonzeption durchsetzen, die dabei insbesondere auf die teleologische Auslegung ausstrahlen. Wie ausführlich dargelegt wurde, ist der von der Gegenauffassung in Anspruch genommene Auslegungsspielraum aufgrund des eindeutigen Willens des Gesetzgebers weder 1965 noch später eröffnet worden.607 Darüber hinaus überzeugt eine am Shareholder-Value ausgerichtete interessenmonistische/-hierarchische Zielkonzeption auch in der Sache nicht. Da sie den Prinzipal-Agent-Konflikt aufgrund des die gesamte Existenz der Gesellschaft umfassenden Zeitmoments und der Berücksichtigung monetär nur sehr eingeschränkt bewertbarer Faktoren, wie beispielweise Auswirkungen auf andere Stakeholder, nicht lösen kann.608 Wie auch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verdeutlicht, sind unternehmerische Entscheidungen des Vorstands zudem regelmäßig durch ein hohes prognostisches Element geprägt, was naturgemäß mit Unsicherheit einhergeht. Mit der Exaktheit des Handlungsmaßstabs fällt aber auch das wesentliche Argument für eine interessenmonistische/-hierarchische Zielkonzeption. Die Entscheidung des Gesetzgebers von 1965 dem weisungsunabhängigen Vorstand die Entscheidung zwischen den Interessen der Stakeholder im Einzelfall aufzugeben, entspricht auch bis heute dem Vorgehen der Rechtsprechung, nicht zuletzt des BGH. Dieser prüft die Rechtmäßigkeit einer Vorstandentscheidung im Einzelfall, indem er die betroffenen Interessen vor dem Hintergrund der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen im Licht der Grundrechte gegeneinander abwägt.609 Schließlich sprechen auch die jüngeren und jüngsten Änderungen des DCGK für eine interessenpluralistische Auslegung des Gesetzes. Es entspricht auch dem internationalen Trend,610 vor allem der Agenda des Europäischen Gesetzgebers.611 Dies liegt insbesondere an der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung vieler (börsennotierter) Aktiengesellschaften, welche durch die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise wieder stark ins Bewusstsein gekommenen ist. Insbesondere diese Bedeutung rechtfertigt die interessenpluralistische Zielkonzeption auch sachlich. Nach der interessenpluralistischen Zielkonzeption muss der Vorstand die Interessen aller Stakeholder der Aktiengesellschaft bei seinen Entscheidungen berücksichtigen und von Fall zu Fall entscheiden, welchem Stakeholder-Interesse er jeweils den Vorrang einräumt.
607
Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.). 609 So die authentische Beschreibung des ehemaligen Mitglieds des 2. Senats Henze, BB 2000, 209 (212). 610 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 74. 611 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) ee) (S. 99 ff.) und Kap. 2, B. II. 4. f) (S. 107 ff.). 608
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
5. Die (Steuer-)Staaten als Stakeholder Bei Zugrundelegung der interessenpluralistischen Zielkonzeption stellt sich die Frage, welche Interessen der Vorstand bei seinen Entscheidungen berücksichtigen muss, d. h., wer Stakeholder der Aktiengesellschaft ist. Im Hinblick auf die Pflicht zur Steuergestaltung fokussiert sich diese Frage primär darauf, ob der deutsche (Steuer-)Staat als Teil des Allgemeininteresses Stakeholder der Aktiengesellschaft ist. Daher soll diese nun untersucht werden (a)). Daran schließt sich die Folgefrage an, ob auch ausländische (Steuer-)Staaten Stakeholder der Aktiengesellschaft sind (b)). a) Der deutsche (Steuer-)Staat als Teil des Allgemeininteresses Ist die Bundesrepublik Deutschland als (Steuer-)Staat Stakeholder der Aktiengesellschaft? Muss ihr Interesse vom Vorstand berücksichtigt werden? Während sich der BGH zur Stakeholder-Stellung des (Steuer-)Staates noch nicht geäußert hat, lehnen die Stimmen, die sich in der Literatur überhaupt damit beschäftigen bzw. dazu Stellung genommen haben, diese nahezu einstimmig ab.612 Das Interesse des (Steuer-)Staates sei nur in dem Maße zu berücksichtigen, als es zugleich dem Aktionärsinteresse diene, z. B. um Reputationsschäden im Verhältnis zum Finanzamt oder zur Öffentlichkeit zu vermeiden.613 Steuern seien aus Sicht des Unternehmens Kosten wie jede anderen, die es soweit wie möglich zu minimieren gelte.614 Für eine Beachtung der Fiskalinteressen der Tätigkeitsländer multinationaler Unternehmen plädieren dagegen die OECD-Grundsätze für multinationale Unternehmen, auch wenn sie diese Staaten nicht explizit als Stakeholder bezeichnen.615 Von Vertretern der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, namentlich von Grotherr, wird der Staat als Steuergläubiger explizit als Stakeholder der Aktiengesellschaft angesehen.616 Einige 612 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (10 und 18 f.); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14, 1098 f.); letzterem zustimmend Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 35; ebenfalls zustimmend Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 90; im Ergebnis zustimmend Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 23; ebenfalls wohl im Ergebnis zustimmend Spindler, in: FS Hommelhoff, S. 1133 (1134); Scholderer, in: Krempf/Lüderssen/Volk, Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, S. 177 (179); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 ff.; zumindest im Ergebnis anders Schmitz/Schneider, NZG 2016, 561 (564). Letztere stellen es dem Vorstand mit Verweis auf das unternehmerische Ermessen völlig frei, wie er Steuern gestaltet. 613 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (19 ff.); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1097 f.); Seibt, DB 2015, 171 (173 ff.). 614 Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (607 ff.); Saßmann, Haftung Steuerplanung, S. 31; Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 59 f. 615 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 70 ff. 616 Grotherr, Ubg 2015, 360 (362 und 364); unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit auch Schulze, BC 2013, 338 (341); aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Zöllner, Corporate Governance, S. 83.
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Autoren, unter diesen auch Schön, stellen zudem fest, dass nach dem StakeholderValue-Konzept der (Steuer-)Staat Stakeholder ist.617 An anderer Stelle lehnt Schön dessen Stakeholder-Stellung nach dem deutschen Aktienrecht aber explizit ab.618 Vorliegend wird die Stakeholder-Stellung des Staates vertreten.619 Im Folgenden soll diese aus dem Allgemeininteresse hergeleitet werden. Sowohl die Regierungsbegründung als auch der Rechtsausschuss bleiben eine Definition des Allgemeininteresses schuldig. Einen Ansatzpunkt bietet eine Aussage des Abgeordneten Reischl (SPD-Fraktion) zu § 70 Abs. 1 AktG 1937 im Rahmen der zweiten Beratung zum heute geltenden Aktiengesetz von 1965: „Unsere pluralistische Gesellschaftsordnung verlangt aber die Beru¨ cksichtigung der drei tragenden Faktoren des Unternehmens nach wie vor, nämlich der Faktoren Kapital, Arbeit und öffentliches Interesse, wozu die Abnehmerschaft, aber auch der Staat und alle diejenigen, die zum Gedeihen des Unternehmens beitragen, gehören.“620
Reischls Definition des öffentlichen Interesses kann selbstredend nicht einfach mit dem Willen des Gesetzgebers gleichgesetzt werden, dennoch ist sie in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens fasst er den Staat ausdrücklich unter den Begriff des öffentlichen Interesses; zweitens definiert er dieses ähnlich offen wie Freeman seinen späteren Stakeholder-Begriff, was die Aktiengesellschaft für einen umfänglichen Stakeholder-Ansatz öffnen würde.621 Die Begriffe Allgemeininteresse, Gemeinwohl etc. sind mit dem des öffentlichen Interesses deckungsgleich – insbesondere sind sie alle gleich unbestimmt, was es ermöglicht, den Staat hierunter zu fassen. Auf Reischls Definition wurde in den grundsätzlich zustimmenden Antworten der anderen Abgeordneten nicht eingegangen.622 Reischl leitete seine Definition ausdrücklich mit einem Verweis auf die zu diesem Zeitpunkt noch geltende Fassung des § 70 Abs. 1 AktG 1937 ein, wonach vom Vorstand unter anderem der „gemeine Nutzen von Volk und Reich“ zu beachten war.623 Jenseits der nationalsozialistischen Terminologie habe dieser einen richtigen Kern.624 Eine Auslegung nach 617
Den Staat und seine Untergliederungen als Stakeholder sieht Bonin, Leitung der Aktiengesellschaft, S. 178 f.; Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (36). Nach dem ökonomischen Stakeholder-Value-Konzept beschreibt von Werder „die Allgemeinheit in Form des Staates (Infrastrukturen gegen Steuern)“ als Stakeholder, siehe von Werder, in: Hommelhoff/Hopt/von Werder, S. 3 (9); ebenso Schmidt/Weiß, in: Hommelhoff/Hopt/von Werder, S. 161 (165); OLG Koblenz, Urteil vom 9. Juni 1998 – 3 u 1662/89, NZG 1998, 953. 618 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14 und 1098 f.). 619 Siehe oben Einleitung. 620 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217. 621 Siehe oben Kap. 2, B. II. 2. (S. 52 ff.). 622 Inhaltlich voll zustimmend Wilhelmi (CDU/CSU-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218; zurückhaltender in Hinblick auf die Berücksichtigung des Allgemeinwohls dagegen Aschoff (FDP-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9218. 623 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217. 624 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217.
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dem Wortlaut spricht in der Tat dafür, in der Begriffspaarung „Volk und Reich“, das „Reich“ als Staat zu verstehen,625 auch wenn es sich faktisch um einen totalitären Unrechtsstaat handelte. Ebenfalls jenseits der Terminologie dieses Unrechtsstaats soll, wie bereits ausführlich dargelegt wurde, nach dem Willen des demokratischen Gesetzgebers von 1965 diese Bestimmung inhaltlich fortgelten, um zugleich die Weisungsunabhängigkeit des Vorstands zu sichern.626 Stenert weist auf eine terminologische Wandlung hin: Bereits im Referentenentwurf von 1958 wurde nur noch vom „Wohl der Allgemeinheit“627 gesprochen, was sich auch in den heute sonst noch verwendeten Begriffen „öffentliches Interesse“628, „Gemeinwohl“629, „Allgemeininteresse“630 etc. widerspiegelt.631 Sofern man den Gesetzgeber des Jahres 1965 mit seinem Fortgeltungswillen hinsichtlich § 70 Abs. 1 AktG 1937 in seiner Nachkriegsinterpretation632 ernst nimmt,633 wird man aber davon ausgehen müssen, dass diese Begriffe den Staat einschließen. Mithilfe der subjektiv-historischen Auslegung und dem historischen Wortlaut lässt sich ergo die Stakeholder-Stellung des (Steuer-)Staates herleiten und das staatliche Interesse als Teil des Allgemeininteresses begründen. Auch Stenert erkennt die subjektiv-historische Auslegung als „Indiz“ für eine Stakeholder-Stellung des Staates an.634 Jedenfalls nicht ausdrücklicher Wille des Gesetzgebers ist dagegen Reischls offene Definition des öffentlichen Interesses, die sich aber mit dem offenen Wortlaut von § 76 Abs. 1 AktG vereinbaren lässt.635 Nachfolgend soll die These von der Stakeholder-Stellung des Staates weiter belegt und zu den Argumenten der Gegenauffassung Stellung genommen werden.
625
Diesen Schluss ebenfalls für möglich haltend Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 79. 626 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) cc) (S. 72 ff.). 627 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) cc) (S. 72 ff.). 628 Davon spricht beispielsweise Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. 629 Davon spricht beispielsweise Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 26. 630 Davon sprechen beispielsweise van Ooy/Oltmanns, in: Heidel, AktG, § 76 Rn. 8. 631 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 79 f. 632 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) cc) (S. 72 ff.). 633 Die große Bedeutung des parlamentarischen Gesetzgebers betont insbesondere das BVerfG, siehe BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2007 – 2 BvE 2/07, Tornado-Einsatz Afghanistan, BVerfGE 118, 244 (263 ff.); BVerfG, Urteil vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03, AWACS-Einsatz (Türkei), BVerfGE 121, 135 (161 ff.); BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Lissabon-Vertrag, BVerfGE 123, 267 (340 ff.); zur besonderen Bedeutung des Gesetzgebers im Steuerrecht siehe Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (31 ff.). 634 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 80. 635 Siehe in diesem Kontext auch unten Kap. 2, B. II. 6. (S. 158 f.).
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aa) Keine verfassungswidrige Flucht ins Privatrecht Jede weitere argumentative Darlegung erübrigt sich, wenn die StakeholderStellung des (Steuer-)Staates verfassungswidrig ist. Diese Ansicht vertritt Stenert.636 Wenn der Staat sich selbst zum Stakeholder der Aktiengesellschaft mache, sei der Vorstand verpflichtet, die Steuergesetze stets fiskusfreundlich auszulegen und Gesetzeslücken in dessen Interesse zu schließen.637 Eine privatrechtliche Generalklausel mit dieser Rechtsfolge sei ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff, da er gegen den Gesetzesvorbehalt, konkret den Bestimmtheitsgrundsatz, verstoße.638 Der Gesetzgeber könne nicht ins Privatrecht fliehen, um den im Steuerrecht geltenden strengen Gesetzesvorbehalt639 zu umgehen.640 Wenn der Gesetzgeber eine solche Generalklausel ins Aktiengesetz schreiben würde, wäre Stenert ohne Zweifel zuzustimmen. Die Stakeholder-Stellung des Staates zwingt den Vorstand aber nicht, die Steuergesetze fiskusfreundlich auszulegen, sie ermöglicht es ihm lediglich – innerhalb der Grenzen seines Ermessens.641 Der Vorstand ist also innerhalb seines Ermessensspielraums frei, legale Steuergestaltungen vorzunehmen oder von ihnen abzusehen. Noch entscheidender für die Verfassungskonformität ist die mangelnde Möglichkeit des Staates, die Berücksichtigung seines Interesses gegen die Aktiengesellschaft rechtlich durchzusetzen.642 Die Vorstandspflicht, die staatlichen Interessen im Rahmen seiner Entscheidungen zu berücksichtigen, ist als bloße Innenpflicht gegenüber der Gesellschaft ausgestaltet. Weder kann der Staat rechtlich gegen eine Vorstandsentscheidung vorgehen, selbst wenn sie eine Pflichtverletzung gegenüber der Gesellschaft darstellt, noch kann er einen Schadensersatzanspruch nach § 93 Abs. 2, 5 AktG geltend machen. Im letzteren Fall fehlt es bei einer wirksamen Steuergestaltung zu Lasten des Staates grundsätzlich an einem Schaden der Gesellschaft.643 Sofern man in dieser Art der Berücksichtigung der Interessen des Staates überhaupt einen Grundrechtseingriff sieht, ist diese Ausgestaltung im Aktienrecht vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips und der Sozialgebundenheit des Eigentums (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 636
Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 84 ff. Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 88. 638 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 88. 639 Siehe oben Kap. 1, A. (S. 28 ff.). 640 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 88. 641 Zu den Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung siehe unten Kap. 2, B. III. 3. (S. 184 ff.). 642 So im Hinblick auf das Gemeinwohl bereits Baas, Leitungsmacht und Gemeinwohlbindung, S. 252 ff. Er leitet dieses allerdings rechtsformübergreifend aus dem Grundgesetz ab, siehe S. 85 ff. Das Fiskalinteresse von Bund, Ländern und Gemeinden sieht er als Gemeinwohlmaßstab an, der neben anderen § 76 Abs. 1 AktG konkretisiere, S. 117. Dass der Staat kein einklagbares Recht auf Berücksichtigung seines Interesses hat, betont wiederholt auch Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (36 und 61); Europäische Kommission, SA.37667. Gegen eine Ableitung aus dem GG siehe oben Kap. 2, B. II. 4. e) (S. 103 ff.). 643 Siehe dazu noch ausführlich unten Kap. 4, C. I. 1. (S. 234 ff.). 637
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Satz 1 und 14 Abs. 2 GG) jedenfalls gerechtfertigt.644 Von einer verfassungswidrigen Flucht ins Privatrecht kann also keine Rede sein. bb) Die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates Ein wesentliches Argument der Gegenauffassung ist die vermeintlich mangelnde Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates. Dieser habe es erstens selbst in der Hand, seinen Steueranspruch durch Gesetze effektiv zu gestalten.645 Zweitens stehe er als selbstvollstreckender Gläubiger mit dem Mittel des Verwaltungsakts besser da als andere Gläubiger646 und habe mit § 69 AO eine eigene Anspruchsgrundlage gegen die Vertreter der Aktiengesellschaft.647 Der Steuergesetzgeber habe, oftmals auch auf Raten der Finanzverwaltung hin, die immer komplexeren Steuergesetze selbst geschaffen und damit auch ihre Lücken.648 Somit sei er aber auch der nicht schutzwürdige Verursacher.649 Des Weiteren seien die Interessen des (Steuer-)Staates im internationalen Steuerwettbewerb der Nationalstaaten ambivalent.650 Einerseits ginge es ihm zwar um das klassisch fiskalische Ziel staatlicher Einnahmen, andererseits verfolge er aber auch das Ziel, Investitionen im Inland zu fördern und davon mittelbar zu profitieren, z. B. durch positive Effekte am Arbeitsmarkt.651 Die Investoren würden aber vor allem mit Steuererleichterungen bis hin zur Nullbesteuerung ins Land geholt.652 Nach dem hier vertretenen Ansatz ist der Staat dagegen schutzwürdig. Der Staat ist in keiner Funktion – auch nicht als Fiskus – ein Selbstzweck. In den plastischen Worten des Chiemseer Entwurfs: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“653
644
Zur weiten Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers siehe oben Kap. 2, B. II. 4. e) (S. 103 ff.). 645 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1098 f.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 84 ff. 646 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 87 ff. Er verweist auf Schön, der insoweit vom anpassungsfähigsten aller Gläubiger spricht, siehe Schön, in: FS Westermann, S. 1469 (1470 ff.). 647 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 88 ff. 648 Blumers, BB 2013, 2785 (2786). 649 Blumers, BB 2013, 2785 (2786). 650 Schön, Steuer-Spiel, FAZ vom 12. April 2013, Nr. 85, S. 12. 651 Schön, Steuer-Spiel, FAZ vom 12. April 2013, Nr. 85, S. 12. 652 Schön, Steuer-Spiel, FAZ vom 12. April 2013, Nr. 85, S. 12. 653 Art. 1 Abs. 1 Chiemseer Entwurf, Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder. Dieser ist in Art. 1 Abs. 1 GG aufgegangen, siehe Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 1 [Stand: Januar 2010].
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Ebenso wie der Staat ist auch die Steuer kein Selbstzweck.654 Jenseits des Diskurses über die verschiedenen Steuerrechtfertigungslehren655 liegt es auf der Hand, dass der Staat ohne Steuern seine öffentlichen Aufgaben nicht erfüllen kann.656 Allein deshalb ist die Auffassung, Steuern seien aus Sicht des Unternehmens eine Kostenposition wie jede andere, z. B. Rohstoffpreise, die es zu minimieren gelte,657 fragwürdig. Der qualitative Unterschied liegt in der Funktion. Während alle anderen Kosten des Unternehmens nur bestimmten Personen oder Gruppen dienen, stehen Steuern im Dienste des öffentlichen Gemeinwesens und damit – idealiter – jedes einzelnen Bürgers. Seer bezeichnet den Steuergläubiger daher treffend als „Treuhänder von Gemeinwohlinteressen“658. Unternehmen wiederum nutzen unter anderem die aus Steuergeldern finanzierte Infrastruktur, greifen auf an öffentlichen Bildungseinrichtungen ausgebildete Arbeitskräfte zurück und profitieren von der Rechtssicherheit etc.659 Insofern ist es grundsätzlich angemessen, dass der Staat am Gewinn der Unternehmen partizipiert. Vorliegend soll aber nicht eine Lanze für das Äquivalenzprinzip zur Steuerrechtfertigung gebrochen werden. Der dargestellte Zusammenhang ist lediglich Teil der Begründung der grundsätzlichen Schutzwürdigkeit des Staates bei Vorstandsentscheidungen. Da der Vorstand nach der hier vertretenen Auffassung lediglich die Möglichkeit erhält, Steuernormen fiskusfreundlich auszulegen, droht auch nicht die Entfesselung des Leviathans. Wer dem Vorstand jedoch diese Möglichkeit verwehrt, indem er die Stakeholder-Stellung des Staates verneint, der entlässt die Aktiengesellschaft entweder völlig aus der Entscheidung über das „Ob“ von Steuergestaltungen oder schreibt der Hauptversammlung diese zu. Ersteres würde bedeuten, dass eine Aktiengesellschaft anders als der einzelne Bürger grundsätzlich gegen den (Steuer-)Staat arbeiten muss. Während jeder Bürger hinsichtlich Steuergestaltungen eine freie Entscheidung treffen kann, würde die Aktiengesellschaft von dieser befreit. Und das, obwohl die einzelne Aktiengesellschaft nicht nur volkswirtschaftlich exorbitant bedeutsamer ist als der einzelne Bürger, sondern – und das ist entscheidend – auch deutlich mehr Möglichkeiten zur Steuergestaltung hat. Der Gesetzgeber würde allein wegen der Wirkung niemals ins Gesetz schreiben: Alle Bürger müssen ihre Steuerlast soweit wie möglich reduzieren. 654
Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 127. Nach zutreffender Ansicht stehen die Rechtfertigungslehren ohnehin neben- und nicht gegeneinander, siehe Rodi, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, S. 19; zustimmend Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 127. 656 Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (918); Scherf, WiSt 2014, 608 (612); Spindler, Stbg 2010, 49 (49). 657 Siehe dazu bereits Fn. 614. 658 Seer, DStR 2016, 1289 (1290). 659 Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (50); Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (918). Siehe auch Hey, zitiert nach: Meck, Ab in die Steueroase, FAS vom 18. August 2013, Nr. 33, S. 19; Scherf, WiSt 2014, 608 (612). Dies entspricht den Standortfaktoren im Steuerwettbewerb, siehe dazu unten Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (a) (S. 131 ff.). 655
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Die Annahme, er habe dies für Aktiengesellschaften im Aktiengesetz getan, erscheint nicht viel wahrscheinlicher.660 Wer dagegen die Hauptversammlung als entscheidungsbefugt ansieht, kommt nur formal zu einem anderen Ergebnis. Die Entscheidung kann nämlich aus wirtschaftlichen Gründen, da das Unternehmen im Wettbewerb steht – dazu gleich –, nicht generell, sondern nur von Fall zu Fall getroffen werden. Ein genereller Verzicht auf Steuergestaltungen würde zu einem erheblichen Wettbewerbsnachteil führen. Die somit erforderliche Einzelfallentscheidung kann die in der Regel jährlich zusammentretende Hauptversammlung aber nicht leisten. Folglich wird sie sich zum „Ob“ von Steuergestaltungen nicht äußern, was faktisch zum selben fragwürdigen Ergebnis wie die erste Alternative führt. Überzeugender erscheint es daher, den Vorstand als entscheidungsbefugt anzusehen. Damit der Vorstand innerhalb seiner Ermessensgrenzen frei entscheiden kann, muss der Staat als Stakeholder angesehen werden. Jenseits dieser Erwägungen verstrickt sich die Gegenauffassung aber auch in einen Widerspruch, wie der amerikanische Rechtswissenschaftler Avi-Yonah herausgearbeitet hat.661 Verneint man die Stakeholder-Stellung des Staats und sieht somit den Vorstand grundsätzlich in der Pflicht, die Steuerlast soweit wie möglich zu minimieren, kann sich bei optimaler Pflichterfüllung des Vorstands ein Szenario ergeben, in dem kein Unternehmen mehr Steuern zahlt bzw. die Steuereinnahmen deutlich geringer ausfallen.662 Dies wu¨ rde letztlich dazu fu¨ hren, dass der Staat aufgrund geringerer Einnahmen seine öffentlichen Aufgaben, insbesondere seine Verpflichtung zur Daseinsvorsorge gegenu¨ ber der Bevölkerung, nicht mehr ausreichend wahrnehmen könnte.663 Den Unternehmen wiederum wäre es verwehrt, dies im erforderlichen Umfang auszugleichen.664 Somit entstände ein nicht akzeptables soziales Defizit.665 660 Der Staat könnte dies eher tun, weil das Steueraufkommen aller Bürger deutlich höher ist als das aller Aktiengesellschaften. 661 Avi-Yonah, in: Tax and Corporate Governance, S. 183 (195); Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 11 f. und 27 ff. Er stellt sich damit ausdrücklich gegen die sog. „Friedman Doctrine“, die einem strikten Shareholder-Value entspricht. An den Anfang seines Aufsatzes stellt er als Antithese Friedmans Aussage: „The imposition of taxes and the expenditure of tax proceeds are governmental functions (…) The whole justification for permitting the corporate executive to be selected by the stockholders is that the executive is an agent serving the interests of his principal. This justification disappears when the corporate executive imposes taxes and spends the proceeds for ,social‘ purposes.“ Siehe Friedman, The Social Responsibility Of Business Is to Increase Its Profits, NY Times vom 13. September 1970, S. SM17. 662 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 11 und 27 f.; Avi-Yonah, in: Tax and Corporate Governance, S. 183 (194 f.). 663 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 11 f. und 27 f.; Avi-Yonah, in: Tax and Corporate Governance, S. 183 (194 f.). 664 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 11; Avi-Yonah, in: Tax and Corporate Governance, S. 183 (194 f.). Erwähnenswert ist in diesem
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Dagegen ließe sich einwenden, die fehlenden Steuereinnahmen könnten durch die Erhöhung anderer Steuern kompensiert werden. In Deutschland betrug das Aufkommen der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer als wesentliche direkte Steuern der Aktiengesellschaft im Jahr 2012 zusammen 9,9 % des Gesamtsteueraufkommens.666 Gegen deren mögliche Kompensation bringt Avi-Yonah zwei grundsätzliche Argumente vor, wobei er die Frage der Steuergerechtigkeit ausdrücklich außen vor lässt.667 Erstens stieße eine so erhebliche Steuererhöhung auf massiven öffentlichen Widerstand – vor allem, wenn die Einkommensteuer erhöht würde – und wäre damit politisch schwer durchsetzbar.668 Zweitens sei eine weitere Erhöhung des Einkommensteuersatzes mit der Gefahr behaftet, ineffizient zu sein und demoralisierend auf den einzelnen Steuerzahler zu wirken.669 Beide Argumente sind prognostischer Natur. Hinter dem Effizienzeinwand verbirgt sich letztlich der Gedanke der sog. „Laffer Curve“670. Die Argumentation mit der Laffer Curve ist schwierig, da man nie weiß, wo der Scheitelpunkt ist und wo man sich gerade auf der Kurve befindet, weshalb sich damit sowohl ein steigendes als auch ein sinkendes Steueraufkommen erklären lässt.671 Entscheidend ist aber das Argument des öffentlichen Widerstands im Sinne der politischen Realisierbarkeit einer derartigen Umverteilung der Steuerlast zur Kompensation der Mindereinnahmen. Die politische Realisierbarkeit ist von der öffentlichen Kenntnis bzw. Meinung abhängig, die primär von den Medien und sekundär wohl auch von NGOs bestimmt wird. Selbst wenn der Gesetzgeber die Kompensation zeitlich strecken und auf verschiedene vor allem indirekte Steuern verteilen würde,672 wäre im aktuellen öffentlichen Klima, das geprägt ist durch die Panama-Papers und Luxemburg-Leaks, jede in diese Richtung zielende Maßnahme mit starker medialer Kritik verbunden. Gerade in Zeiten von Haushaltsüberschüssen hieße dies zugleich, Wasser auf die populistischen Mühlen linker und rechter politischer Parteien zu gießen. Deshalb dürfte es an einem diesbezüglichen politischen Willen fehlen. Die politische ReaKontext die Arbeit von Fifka, der empirisch aufgearbeitet hat, dass nach dem Selbstverständnis der 100 größten deutschen Unternehmen Infrastruktur sowie Gesundheits-, Alten- und Krankenversorgung staatliche Aufgaben sind, die aus Steuern und Abgaben, zu denen die Unternehmen beitragen, zu erfüllen sind. Siehe Fifka, Corporate Citizenship in Deutschland und den USA, S. 280 f. 665 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 27 f.; Avi-Yonah, in: Tax and Corporate Governance, S. 183 (194 f.). 666 Bundeszentrale für politische Bildung, Steuereinnahmen nach Steuerarten. 667 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 28 f. 668 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 28. 669 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 28. 670 Laffer, The Laffer Curve. 671 Mankiw, Principles of Economics, S. 165. 672 Zur Unmerklichkeit der Steuererhebung durch indirekte Steuern siehe allgemein Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 11; zu dieser Wirkung des Vielsteuersystems siehe Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 54.
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lisierbarkeit in Deutschland kann daher auf absehbare Zeit – jenseits von Gerechtigkeitserwägungen – zu Recht bezweifelt werden. Als weiteres Argument kommt hinzu, dass der Steuerwettbewerb – dazu gleich – sich auch auf die anderen Steuerarten auswirkt und einer Erhöhung entgegenwirkt.673 Im Ergebnis spricht daher viel für den von Avi-Yonah aufgezeigten Widerspruch der Gegenmeinung. Dagegen lässt sich einwenden, dass der Staat es praktisch niemals zu diesem Extremszenario kommen lassen würde. Das Argument der Gegenauffassung, der selbstgesetzgebende und -vollstreckende Staat sei nicht schutzwürdig, zielt genau in diese Richtung. Dagegen lässt sich zunächst einwenden, dass auch die anderen Stakeholder der Aktiengesellschaft, wie beispielsweise die Arbeitnehmer, durch umfangreiche Gesetze geschützt werden und dennoch zumindest nach der interessenpluralistischen Zielkonzeption schutzwürdig sind. Im Hinblick auf große (multinationale) Aktiengesellschaften ist insbesondere die Arbeitnehmermitbestimmung im Aufsichtsrat zu nennen. Trotz dieses nicht unberechtigten Einwands bleibt ein qualitativer Unterschied zwischen dem Staat und sonstigen Stakeholdern. Nur der Staat hat die Möglichkeit, die Gesetze selbst ändern und vollstrecken zu können. Eben diese Möglichkeit wird aber durch grenzüberschreitende Gestaltungen und den internationalen Steuerwettbewerb der Staaten erheblich relativiert. Neben dem internationalen Steuerwettbewerb gibt es in Deutschland bei der Gewerbesteuer auch einen nationalen Steuerwettbewerb. Dieser soll nachfolgend ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden ((1)), um darauf aufbauend Rückschlüsse hinsichtlich der Schutzwürdigkeit der im internationalen Steuerwettbewerb stehenden Staaten zu ziehen ((2)). (1) Die Schutzwürdigkeit der Gemeinden im nationalen Steuerwettbewerb Vorliegend soll die Frage untersucht werden, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen die im nationalen Steuerwettbewerb stehenden Gemeinden schutzwürdige Stakeholder der Aktiengesellschaft sind. Dazu wird zunächst dargestellt, wie die Gewerbesteuer ausgestaltet ist und wie sie durch diese Ausgestaltung einen nationalen Steuerwettbewerb ermöglicht ((a)). Anschließend soll dann die aufgeworfene Frage beantwortet werden ((b)). (a) Die Gewerbesteuer und der beschränkte nationale Steuerwettbewerb Nach der Finanzverfassung steht das Gewerbesteueraufkommen den Gemeinden zu (Art. 106 Abs. 6 GG).674 Für die finanzielle Handlungsfähigkeit der Gemeinden ist die Gewerbesteuer essentiell,675 weshalb ihr Interesse daran groß ist. Die Ge673 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 804. Eine generelle Erhöhung der Einkommensteuer würde sich auch auf die Einkünfte aus Gewerbebetrieb und damit auf die für die deutsche Wirtschaft so relevanten Personengesellschaften auswirken. 674 Über die Gewerbesteuerumlage sind aber Bund und Land an den Einnahmen beteiligt (§ 6 Gesetz zur Neuordnung der Gemeindefinanzen (Gemeindefinanzreformgesetz)). 675 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/1517, S. 11.
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werbesteuer belastet als Realsteuer den Gewerbebetrieb (§ 2 GewStG), ohne die individuellen Verhältnisse des Betriebsinhabers zu beachten.676 Die Tätigkeit von Kapitalgesellschaften gilt immer im vollen Umfang als Gewerbebetrieb (§ 2 Abs. 2 Satz 1 GewStG). Aufgrund der Gewerbesteueranrechnung bei Personengesellschaften (§ 35 EStG) und wegen der hohen Freibeträge trifft die Gewerbesteuer primär die großen Kapitalgesellschaften, d. h. insbesondere auch Aktiengesellschaften.677 Trotz erheblicher Kritik an der so noch verschärften Sonderbelastung gewerblicher Gewinne seitens der Literatur678 haben das BVerfG und der BFH die Gewerbesteuer wiederholt für verfassungsgemäß erklärt.679 Neben der Körperschaftsteuer ist die Gewerbesteuer die wesentliche direkte Steuer für Aktiengesellschaften.680 Die wirtschaftliche Bedeutung der Gewerbesteuer für Gemeinden und Aktiengesellschaften indiziert die Summe der Steuermessbeträge, die für Kapitalgesellschaften681 im Jahr 2011 bei insgesamt 5.668.663.000 E lag.682 Der Steuermessbetrag als Bemessungsgrundlage für die Steuerschuld ergibt sich, indem der positive Gewerbeertrag einer Aktiengesellschaft mit der Steuermesszahl in Höhe von 3,5 % multipliziert wird (§ 11 GewStG). Wenn verschiedene Gemeinden hebeberechtigt sind, im Regelfall weil die Aktiengesellschaft über Betriebsstätten in verschiedenen Gemeinden verfügt, wird die sog. Zerlegung angewendet (§ 28 GewStG). Maßstab für die Zerlegung sind grundsätzlich die Arbeitslöhne (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 GewStG). Entscheidend für die Hebeberechtigung der einzelnen Gemeinde ist, wie hoch die Summe der Arbeitslöhne der Betriebsstätten auf ihrem Gemeindegebiet im Verhältnis zur Gesamtsumme der Arbeitslöhne aller Betriebsstätten ausfällt (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 GewStG). Die einzelne Gemeinde setzt die Steuer durch Anwendung ihres von der Gemeindevertretung bestimmten Hebesatzes fest (§ 16 GewStG). Im Hebesatzrecht der Gemeinden ist der nationale Steuerwettbewerb angelegt. Im Jahr 2014 hatte beispielsweise Eschborn einen Hebesatz von 285 %, Rheinbach von 452 %, Frankfurt am Main von 460 %, Köln von 475 %, München von 490 % und Bonn ebenfalls von 490 %.683 Nach einer jüngst veröffentlichten Studie des Instituts Finanzen und Steuern lasse sich auf lokaler Ebene jedoch nur ein bedingter Steuerwettbewerb
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Hüttemann, in: Bayer/Habersack, S. 1212 (1254). Hüttemann, in: Bayer/Habersack, S. 1212 (1255). 678 Statt vieler Montag, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 12 Rn. 1 f. 679 BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1977 – 1 BvR 15/75, Gewerbesteuerpflicht, BVerfGE 46, 224; BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2001 – 2 BvR 1488/93, FR 2001, 367; BFH, Urteil vom 18. September 2003 – X R 2/00, BStBl. II 2004, 17. 680 Hüttemann, in: Bayer/Habersack, S. 1212 (1254 ff.). 681 Darunter wurden auch Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften sowie Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit erfasst. 682 Statistisches Bundesamt, Gewerbesteuerstatistik. 683 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hebesätze von Realsteuern 2014. 677
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feststellen.684 Zum gegenteiligen Ergebnis mit dem Schwerpunkt auf den Raum Frankfurt kam eine Studie des Ifo Instituts im Jahr 2009.685 Jedenfalls locken Gemeinden die Unternehmen immer wieder mit niedrigen Hebesätzen zu einer Standortverlagerung oder standortübergreifenden Umstrukturierung. Ein prominentes Beispiel ist der Umzug der Zentrale der Deutschen Börse AG von Frankfurt ins fünf Kilometer entfernte Eschborn; das Unternehmen vermeidet so jährlich ca. 60 Millionen Gewerbesteuer.686 Ein anderes Beispiel ist Haribo – auch wenn die Gesellschaftsform der GmbH & Co. KG Gestaltungen im Hinblick auf die Gewerbesteueranrechnung nach § 35 EStG ermöglicht. Im Jahr 2007 umwarb der Bürgermeister von Rheinbach das Unternehmen öffentlich mit der Option, die Gewerbesteuer zu senken, falls das Unternehmen seine Zentrale von Bonn in die Gemeinde verlege.687 Inzwischen hat Haribo sich aber für Grafschaft entschieden.688 Dort liegt der Hebesatz aktuell bei 330 %.689 Diese Beispiele sollen nicht darüber hinweg täuschen, dass Standortverlagerungen oder -umstrukturierungen multikausale Entscheidungen sind, wobei wesentliche Faktoren auch die Verkehrs- und Digitalinfrastruktur sowie der Arbeitsmarkt sind.690 Auch sind dem Gewerbesteuerwettbewerb seit 2004 bundesweit gewisse Grenzen gesetzt. Der Gesetzgeber hat mit der Änderung des Gewerbesteuergesetzes 2003 nicht nur die Erhebung einer Gewerbesteuer als zwingend vorgeschrieben (§ 1 GewStG), sondern auch einen Mindesthebesatz von 200 % festgesetzt (§ 16 GewStG). Damit sollten gezielt „Gewerbesteueroasen“ ausgetrocknet werden.691 Noch im Jahr 2003 gab es Gemeinden mit einem Hebesatz von 0 %, beispielsweise Altenhüttendorf oder Beiersdorf-Freudenberg in Brandenburg.692 Schlagzeilen machte das Dorf Norderfriedrichskoog, das im Jahr 2000 mit 38 Einwohnern ca. 500 Unternehmen beherbergte, darunter Tochterunternehmen von Lufthansa, Unilever, Tchibo und der Deutschen Bank.693 Bis zum Jahr 2003 galt auch hier ein Hebesatz von 0 %.694 Bereits ein Jahr vor der Einführung des Min684 Wagschal/von Wolfersdorff, Update Gewerbesteuer und Grundsteuer, ifst-Schrift 508, S. 40 ff. 685 Büttner/Kauder, Wettbewerbsposition Frankfurt und Umland, S. 88 f. 686 Schäfers, Der Wettbewerb der Städte; wit/dapd/dap, Deutsche Börse flieht aus Frankfurt. 687 Schäfers, Der Wettbewerb der Städte. 688 Busse, Haribo macht Rheinland-Pfalz froh. 689 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hebesätze von Realsteuern 2014. 690 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 72; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 31 f. Die Ausführungen zum internationalen Steuerwettbewerb gelten insoweit entsprechend. 691 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/1517, S. 17 und 19. 692 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hebesätze von Realsteuern 2003. 693 Clorius, Dreizehn Höfe, fu¨ nfhundert Firmen; Schmidt, Norderfriedrichskoog – das verlorene Steuerparadies hinterm Deich. 694 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Hebesätze von Realsteuern 2003.
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desthebesatzes wurde diesem Steuerparadies durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz695, das insoweit auch als „Lex Norderfriedrichskoog“696 bezeichnet wurde, bereits spürbar der Hahn zugedreht (§ 8a GewStG a. F.).697 Mit Einführung der Erhebungspflicht und des Mindesthebesatzes wurde diese Regelung wieder aufgehoben. Der Steuerwettbewerb wird zudem mittelbar durch den kommunalen Finanzausgleich entschärft. Der nationale Steuerwettbewerb ist damit insgesamt ein beschränkter Wettbewerb. (b) Die Schutzwürdigkeit der Gemeinden Vor diesem Hintergund soll nun die Frage untersucht werden, ob die Interessen der im beschränkten nationalen Steuerwettbewerb stehenden Gemeinden schutzwürdig sind, d. h., ob der Vorstand diese als Stakeholder-Interessen bei seiner Entscheidung berücksichtigen muss. Vorliegend wird die These vertreten, dass die Interessen der Gemeinden, in denen das Unternehmen öffentliche Infrastruktur etc. nutzt, schutzwürdig sind. Die einzelne Gemeinde steht im nationalen Steuerwettbewerb mit allen anderen Gemeinden. Als Wettbewerbsunterworfene kann die einzelne Gemeinde aufgrund damit verbundener Wettbewerbsnachteile nicht beliebig ihren Hebesatz festlegen. Sie konkurriert mit anderen Gemeinden um Steuersubjekte, indem sie ein KostenNutzen-Verhältnis zwischen ihrem Hebesatz und ihren Standortfaktoren anbietet.698 Wesentliche Standortfaktoren der Gemeinden sind die digitale und öffentliche Infrastruktur sowie der lokale Arbeitsmarkt.699 Hinzu kommt, dass die Rechtsetzungskompetenz der Gemeinden im Wesentlichen auf ihr Hebesatzrecht beschränkt ist. Die einzelne Gemeinde kann die Gesetze, insbesondere die Hebesätze anderer Gemeinden, durch die sie Steuerverluste erleidet, nicht ändern. Diese Wettbewerbssituation wird allerdings dadurch relativiert, dass der Steuerwettbewerb, wie dargestellt, beschränkt ist. Für die Schutzwürdigkeit und damit die Stakeholder-Stellung der im Wettbewerb stehenden einzelnen Gemeinde spricht aber die wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens vor Ort. Ein Unternehmen, das in einer Gemeinde ansässig ist, nutzt die Standortfaktoren der Gemeinde für die eigene Wertschöpfung. Die Gemeinde trägt durch ihre öffentliche Infrastruktur etc. zur Wertschöpfung des Unternehmens bei, was für ihre Schutzwürdigkeit spricht. 695
Gesetz zum Abbau von Steuervergu¨ nstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergu¨ nstigungsabbaugesetz – StVergAbG) vom 16. Mai 2003. 696 Clorius, Dreizehn Höfe, fu¨ nfhundert Firmen. 697 Zum Abzug der großen Konzerne in der unmittelbaren Folge des Steuervergünstigungsabbaugesetzes siehe Clorius, Dreizehn Höfe, fu¨ nfhundert Firmen. 698 So im Hinblick auf den internationalen Steuerwettbewerb Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 45 und § 7 Rn. 72; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 19 und 24. Diese Erwägungen gelten beim nationalen Steuerwettbewerb entsprechend. 699 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 72; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 31 f.
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Damit wird nicht auf die überkommene Rechtfertigung700 der Gewerbesteuer als solcher durch die Äquivalenztheorie abgestellt, sondern das Äquivalenzprinzip zur Begründung der aktienrechtlichen Stakeholder-Stellung von Gemeinden im Rahmen von Vorstandsentscheidungen herangezogen. Aus diesem Grund greift auch der Einwand nicht, dass Steuern nach § 3 Abs. 1 AO Geldleistungen ohne Gegenleistung für eine besondere Leistung sind.701 Die Rechtfertigung für die Einbeziehung von Gemeindeinteressen in Vorstandsentscheidungen muss nicht deckungsgleich mit der Rechtfertigung der Steuer sein und ist es auch nicht. Das gilt selbst dann, wenn das Gemeindeinteresse bloß fiskalisch ist. Denn ein möglicher Grundrechtseingriff durch die Einbeziehung von Gemeindeinteressen in der hier vertreten Art ist, wie bereits dargelegt,702 viel geringer als der Eingriff durch die Steuern selbst. Allerdings erstreckt sich die Pflicht des Vorstands nur soweit, rechtmäßige Gemeindeinteressen einzubeziehen. Im Hinblick auf das Interesse am Gewerbesteueraufkommen haben aber sowohl das BVerfG als auch der BFH die Rechtsmäßigkeit der Gewerbesteuer bestätigt.703 Die Gegenmeinung in der Literatur lehnt die Schutzwürdigkeit und StakeholderStellung von Gemeinden ab.704 Der rechtssetzende Staat sei auch hier nicht schutzwürdig.705 Daran ändere auch die sehr geringe Rechtsetzungskompetenz der Gemeinden nichts, die sich im Wesentlichen auf die Höhe des Hebesatzes beschränke.706 Die formellen Schranken des Grundgesetztes seien zu wahren (Art. 105, 28 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 GG).707 Wenn das Grundgesetz den Gemeinden keine weitergehende Rechtsetzungskompetenz gewähre, dürfe dies nicht über das Privatrecht umgangen werden.708 Ein solches Gesetz sei verfassungswidrig.709 Eine Rücksichtnahme auf Gemeinden sei aber möglich: Zum einen aufgrund des Arbeitnehmerinteresses an der Standort- und lokalen Arbeitsplatzerhaltung, zum anderen wegen eines möglichen finanziellen Schadens durch einen Reputationsverlust in der
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Hüttemann, in: Bayer/Habersack, S. 1212 (1254). Diesen Einwand bringt Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 83. 702 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) aa) (S. 117 f.). 703 BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1977 – 1 BvR 15/75, Gewerbesteuerpflicht, BVerfGE 46, 224; BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2001 – 2 BvR 1488/93, FR 2001, 367; BFH, Urteil vom 18. September 2003 – X R 2/00, BStBl. II 2004, 17. 704 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (21 f.); Scholderer, in: Krempf/Lüderssen/Volk, Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, S. 177 (179); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 85 ff. 705 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 86. 706 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 86. 707 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 86 f. 708 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 86 f. 709 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 86 f. 701
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Öffentlichkeit und konkret gegenüber der Gemeinde, der primär zu Lasten der Aktionäre ginge.710 Besondere Beachtung verdient der Einwand der formellen Verfassungswidrigkeit. Eine Berücksichtigung des Gemeindeinteresses könnte gegen das Grundgesetz verstoßen, weil der nationale Steuerwettbewerb, seit der Einfügung des Hebesatzrechtes der Gemeinden im Jahr 1969, im Grundgesetz angelegt ist (Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG).711 Andererseits hat das BVerfG die Einschränkung des Steuerwettbewerbs durch die Erhebungspflicht und den Mindesthebesatz mit dem Zweck, Steueroasen zu verhindern, als verfassungsgemäß anerkannt.712 Der Steuerwettbewerb ist also nicht uneingeschränkt gewährleistet und durch die hier vertretene Art der Berücksichtigung des Gemeindeinteresses im Rahmen der Vorstandsentscheidungen wird auch nur sehr bedingt auf ihn eingewirkt. Im Wesentlichen erhält der Vorstand lediglich die Möglichkeit, aus Rücksicht auf das Gemeindeinteresse beispielsweise auf einen Standortwechsel zu verzichten. Die formellen Schranken des Grundgesetzes werden also aus denselben Gründen gewahrt wie die materiellen.713 Unabhängig von verfassungsrechtlichen Erwägungen lässt sich die Schutzwürdigkeit verneinen, wenn man die Rechtsetzungskompetenz des Bundes zur Aufhebung des Steuerwettbewerbs den Gemeinden zurechnet, weil beide Teil des Staates sind. Dies kann im Ergebnis aber nicht überzeugen. Gerade auch aufgrund des lokalen Bezugs zwischen Unternehmen und Gemeinden muss es möglich sein, dass der Vorstand die Interessen einer Gemeinde bei seinen Entscheidungen berücksichtigen darf. Es überzeugt beispielweise nicht davon auszugehen, eine Aktiengesellschaft, die lange in einer Gemeinde ansässig ist, eventuell der Hauptarbeitgeber ist und möglicherweise auch noch den Gemeindenamen in ihrem Namen führt, dürfe die Interessen der Gemeinde bei ihren Entscheidungen in keiner Weise berücksichtigen. Dies scheint letztlich auch die Gegenauffassung so zu sehen, da sie die Interessen der Gemeinde jedenfalls mittelbar anerkennt, wenn sie sich mit dem Interesse der übrigen Stakeholder vor allem der Aktionäre decken. Dies basiert aber auf der empirisch nicht belegten Annahme, dass sich nationale „Gewerbesteuerflucht“ in Folge von Reputationsverlusten gewinnmindernd auf das Unternehmen auswirkt. Die Arbeitnehmerinteressen helfen, wenn eine Betriebsstätte lediglich zur Steuerersparnis in eine nahegelegene (kleine) Nachbargemeinde verlegt werden soll, ebenfalls nicht weiter. Ein Reputationsverlust gegenüber der Wegzugsgemeinde dürfte für die Aktionäre, jedenfalls im Fall des vollständigen Wegzugs des Unternehmens, zudem regelmäßig irrelevant sein. 710 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (21 f.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 85. 711 BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 – 2 BvR 2185/04 und 2189/04, Gewerbesteuer Mindesthebesatz, BVerfGE 125, 141 (158). 712 BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 – 2 BvR 2185/04 und 2189/04, Gewerbesteuer Mindesthebesatz, BVerfGE 125, 141 (158 ff.). 713 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) aa) (S. 117 f.).
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Daher ist es im Ergebnis überzeugender, Gemeinden, die einen Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens leisten, als Stakeholder anzusehen. Darauf, wie die kollidierenden Interessen verschiedener gemeindlicher Stakeholder vom Vorstand zu hierarchisieren sind, wird später noch eingegangen werden.714 Abschließend nur zur Sicherheit der erneute Hinweis: Die grundsätzliche Stakeholder-Stellung einer Gemeinde bedeutet nicht, dass sich deren Interesse zwingend gegen die Interessen der anderen nichtstaatlichen Stakeholder durchsetzt. Der Vorstand entscheidet frei innerhalb seiner Ermessensgrenzen715, welchem Interesse er im Einzelfall den Vorrang einräumt. Die Gemeinde hat keinerlei Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung des Vorstands. (2) Die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates im internationalen Steuerwettbewerb Die Ausführungen zum nationalen Steuerwettbewerb sollen nun fruchtbar gemacht werden, um die Frage zu beantworten, ob der im internationalen Steuerwettbewerb stehende (Steuer-)Staat schutzwürdiger Stakeholder der Aktiengesellschaft ist. Insoweit muss bereits eingangs festgestellt werden, dass sich das Argument des lokalen Bezugs von Unternehmen und Gemeinden im nationalen Steuerwettbewerb, wie bereits die Begrifflichkeit lokal zeigt, nicht mit der gleichen Schlagkraft auf das Verhältnis von multinationalen Unternehmen und Staaten im internationalen Steuerwettbewerb übertragen lässt. Andere Argumente lassen sich dagegen besser überleiten. Durch das Nebeneinander verschiedener Nationalstaaten ist der einzelne Staat mit seiner Gesetzgebung und Vollstreckung grundsätzlich auf sein Staatsgebiet beschränkt.716 Hier besteht eine Parallele zu den auf ihr Gemeindegebiet beschränkten Gemeinden, was damit auch für die Schutzwürdigkeit des Staates im internationalen Steuerwettbewerb spricht. Anders wäre dies nur zu beurteilen, wenn der Staat ein Weltstaat wäre, der die Steuern global per Gesetz bestimmen und seine „Gewinnbeteiligung“ durchsetzen könnte. Es besteht weiter ein „Gestaltungsgefälle“ zwischen dem einzelnen Nationalstaat und multinationalen Unternehmen,717 das deutlich ausgeprägter ist als das zwischen „multikommunal“ agierenden Unternehmen und Gemeinden bei der Gewerbesteuer. Während ein multinationales Unternehmen verhältnismäßig einfach einen internationalen Sachverhalt gestalten kann, ist es für den einzelnen Nationalstaat unmöglich, mit einem internationalen Steuergesetz darauf zu reagieren. Allerdings kann der Staat das Unternehmen mit einem nationalen Gesetz nach dem Welteinkommensprinzip besteuern und somit Steuern auf die weltweiten Gewinne erheben. 714 715 716 717
Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.). Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 3. (S. 184 ff.) und Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.). Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (8). So auch Liebert, WISO Nr. 2 (2006), 54 (64).
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Diesbezüglich setzt der internationale Steuerwettbewerb der Staaten718 dem einzelnen Staat aber Grenzen. Tatsächlich geht es nämlich nicht um ein Nebeneinander, sondern – wie im nationalen Steuerwettbewerb – um ein Gegeneinander der Staaten, die zueinander im Wettbewerb stehen.719 Dieser sog. internationale Steuerwettbewerb ist der Wettbewerb zwischen Staaten um Steuersubjekte, in dem die Staaten wiederum ein Kosten-Nutzen-Verhältnis zwischen der Steuerbelastung und ihren Standortfaktoren anbieten.720 Standortfaktoren sind hier insbesondere die Infrastruktur, die Qualifikation der Arbeitskräfte, die Stabilität der Wirtschaft und Gesellschaft, das Rechts- und Finanzsystems, vor allem der Schutz materiellen und geistigen Eigentums, die Vertragskultur, die Marktgröße, die Absatzchancen sowie die Nähe von Produktion und Markt.721 Die Unternehmen als „Kunden“ der staatlichen Wettbewerber müssen bei der Beurteilung der „Kosten“ nicht nur Steuern, sondern Abgaben jeglicher Art, insbesondere Sozialabgaben722, einbeziehen. Die Ermittlung des Effektivsteuersatzes ist für die Unternehmen schwierig,723 weshalb den tariflichen Steuersätzen eine hohe Signalwirkung zukommt.724 Die Bewertung der Standortfaktoren als „Nutzen“ ist mindestens ebenso schwer und stark prognostisch.725 Insgesamt ist die erforderliche Bewertung deutlich komplexer als beim nationalen Steuerwettbewerb. Der Wettbewerb der Staaten nimmt proportional zur immer noch weiter voranschreitenden Globalisierung zu.726 Unternehmen und Kapital aber auch hochqualifizierte Arbeitskräfte sind heute mobiler als jemals zuvor.727 Waren am Anfang der 1990er Jahre ca. 7.000 Unternehmen grenzüberschreitend tätig, stieg die Zahl bis
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Siehe dazu allgemein Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb. Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (8); Seer, IWB 2006, Nr. 7, 313 (313 ff.). 720 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 45 und § 7 Rn. 72; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 19 und 24; aus finanzwissenschaftlicher Sicht Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (47 f. und Fn. 7). 721 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 72; Oeter, in: Hilf/Oeter, WTO-Recht, § 1 Rn. 3; Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (8 f.); Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 31 f.; aus finanzwissenschaftlicher Sicht Haucap, Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb in Europa?, S. 5 f.; Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (47 f.). 722 Zur entscheidenden Bedeutung der Sozialversicherungsbeiträge aufgrund ihrer Höhe, siehe Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 163. 723 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 72; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 34. 724 Bundesministerium der Finanzen, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2015, S. 11; aus finanzwissenschaftlicher Sicht, siehe Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (47 f. und Fn. 6). 725 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 72; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 34. 726 Fifka, Corporate Citizenship in Deutschland und den USA, S. 3; siehe dazu insgesamt auch OECD, Addressing BEPS, S. 28 ff. 727 Haucap, Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb in Europa?, S. 4; Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (46 f.). 719
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zum Jahr 2003 auf 65.000.728 Neben der Gesamtzahl wuchs auch die wirtschaftliche Bedeutung multinationaler Unternehmen rapide.729 Zur Jahrtausendwende waren von 100 der größten Wirtschaftseinheiten der Welt bereits 51 Unternehmen und nur noch 49 Volkswirtschaften.730 Bereits zu diesem Zeitpunkt betrug der Umsatz der 200 größten Unternehmen der Welt fast 30 % des Weltsozialprodukts, wobei 20 dieser Unternehmen ihren Sitz in Deutschland hatten.731 Während die Wirtschaftskraft der Volkswirtschaften sich von 1985 bis 1999 verdoppelte,732 stieg der Umsatz der 200 größten Unternehmen in derselben Zeit um über 360 %.733 Der damit insgesamt einhergehende Bedeutungs- und Machtzuwachs der multinationalen Unternehmen hat auf der anderen Seite zu einem nicht unerheblichen Bedeutungs- und Machtverlust der Nationalstaaten geführt.734 Für die Nationalstaaten stellt der internationale Steuerwettbewerb heute den wesentlichen Faktor für die Gestaltung ihres Steuerrechts dar.735 Dies entspricht auch dem Selbstverständnis des deutschen Gesetzgebers, wie beispielsweise der Gesetzentwurf zur Reform des Unternehmenssteuerrechts 2008 zeigt.736 Wie die EUKommission und auch die Gegenauffassung zutreffend feststellen, befindet sich der im Wettbewerb stehende Staat in einer „Zwickmühle“.737 Einerseits hat er ein fiskalisches Interesse an den unmittelbaren Steuereinnahmen aus der Körperschaftsteuer und sieht sich politisch dem öffentlichen Druck nach mehr Steuergerechtigkeit ausgesetzt.738 Andererseits muss er Einnahmen durch Steuern generieren, um seine öffentlichen Aufgaben zu erfüllen, was ihm nur gelingt, wenn er Investoren, Unternehmen und Arbeitsplätze im Land hat sowie auf lange Sicht Know-how und Innovation sichert.739
728 Koopmann/Franzmeyer, IZPB 2003, Nr. 280, 12 (12); zur Verschärfung des Steuerwettbewerbs seit den 90er Jahren siehe Genschel/Kemmerling/Seils, JCMS 2011, 585 (593 ff.). 729 OECD, Action Plan on BEPS, S. 7. 730 Anderson/Cavanagh, Top 200 – The Rise of Corporate Global Power, S. 6 und 9. Verglichen wurden die Unternehmensumsätze und die Bruttoinlandsprodukte. 731 Anderson/Cavanagh, Top 200 – The Rise of Corporate Global Power, S. i und 8; Fifka, Corporate Citizenship in Deutschland und den USA, S. 4. 732 Fifka, Corporate Citizenship in Deutschland und den USA, S. 4. 733 Anderson/Cavanagh, Top 200 – The Rise of Corporate Global Power, S. 5. 734 Fifka, Corporate Citizenship in Deutschland und den USA, S. 2 ff.; Haucap, Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb in Europa?, S. 4. 735 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 71; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 14; aus ökonomischer Sicht beispielsweise Działo, Comparative Economic Research 2015, Nr. 2, 37 (52). 736 Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BT-Drucks. 16/4841, S. 1 und 31. 737 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 6; so auch die Gegenauffassung siehe Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (8 f.). 738 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 6. 739 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 6.
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(a) Keine zwingende Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates aufgrund des internationalen Steuerwettbewerbs im Allgemeinen Während hinsichtlich der Beschreibung des internationalen Steuerwettbewerbs bis hierher grundsätzlich Konsens besteht, ist die finanzwissenschaftliche Frage, ob dieser insgesamt positiv oder negativ ist, hoch umstritten.740 Die Positionen bewegen sich zwischen einem „Race-to-the-Bottom“, an dessen „Ziel“ der Staat seine öffentlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen könne,741 und einer Optimierung der Mittelverwendung durch den Staat bei gleichzeitiger Begrenzung der Macht des Leviathans.742 Die „Race-to-the-Bottom“-These spricht für eine Schutzwürdigkeit des Staates, weil so dem Steuerwettbewerb in gewisser Weise entgegengewirkt werden könnte. Wenn der Staat Stakeholder der Aktiengesellschaft wäre, hätten die Vorstände die Möglichkeit, auf einer verhältnismäßig sicheren Rechtsgrundlage von Gestaltungen abzusehen. Die Leviathan-These spricht gegen die Schutzwürdigkeit des Staates, weil für diese aufgrund der positiven Wirkung des Steuerwettbewerbs kein Bedürfnis bestehen würde. Für die Leviathan-These spricht, dass der (Steuer-)Staat generell-abstrakt einen unbegrenzten Finanzbedarf und damit ein unbegrenztes Fiskalinteresse hat.743 Verfassungsrechtlich verdeutlicht dies die mangelnde Beschränkung des staatlichen Steuereingriffs durch die Freiheitsrechte.744 Der vom Staat verfolgte Fiskalzweck kennt freiheitsrechtlich – jenseits des Verbots der Erdrosselungssteuer745 – keine inhaltlichen Grenzen.746 Ob der Steuereingriff zur Deckung des staatlichen Finanzbedarfs erforderlich und verhältnismäßig ist, kann im Hinblick auf reine Fiskalzwecknormen, die den Großteil der Steuernormen ausmachen, nur der Gesetz-
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Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 25. Sinn, in: Oberhauser, Fiskalföderalismus in Europa, S. 9 (9 f. und 37 f.); tendenziell in diese Richtung OECD, BEPS, Action 5, Final Report, S. 12; Neumann-Tomm, IStR 2015, 436 (437); entschieden gegen den Steuerwettbewerb und für die „Race-to-the-Bottom“-These ist Kirchhof, JZ 2016, 105 (112 f.); Pinkernell, IStR 2014, 273 (273). Dies wird auch als „klassische wohlfahrtsökonomische Sicht“ bezeichnet, siehe Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (47 f.). 742 Gerken, Der Wettbewerb der Staaten, S. 30 f.; positiv auch Lüdicke, DStZ 2015, 664 (666 f.); siehe insgesamt mit weiteren Nachweisen Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 25 ff.; eine Darstellung der steuertheoretischen Argumente findet sich bei Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (46 ff.). 743 Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29; aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Zöllner, Corporate Governance, S. 83. 744 Siehe oben Kap. 1, A. (S. 28 ff.). 745 BVerfG, Urteil vom 24. Juli 1962 – 2 BvL 15, 16/61, Fremdrenten, BVerfGE 14, 221 (241); BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 2003 – 2 BvL 1/99 u. a., BVerfGE 108, 186 (233); BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, Halbteilungsgrundsatz, BVerfGE 115, 97 (115). 746 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 182 ff. 741
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
geber entscheiden.747 Andernfalls müssten die Gerichte ihre Vorstellung von zweckmäßigen Staatsausgaben an die Stelle der gesetzgeberischen Vorstellung setzen, was nicht nur der Gewaltenteilung, sondern auch dem Demokratieprinzip zuwiderliefe.748 Der Steuerwettbewerb könnte diese Lücke schließen und disziplinierend auf die Staaten wirken. Demgegenüber steht die „Race-to-the-Bottom“These. Empirische Forschungen der Finanzwissenschaften, die zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen, gibt es auch in jüngerer Zeit.749 Die Empirie zeigt jedenfalls, dass die tariflichen Steuersätze der Unternehmenssteuern in der EU im Zeitraum von 1995 bis 2014 von durchschnittlich 35 % auf 23 % gesunken sind.750 Denselben Trend zeigt ein Vergleich der OECD-Länder, wo sich der durchschnittliche tarifliche Steuersatz auf Unternehmensgewinne751 von 1986 bis 2012 ausgehend von 47,5 % fast halbiert hat.752 Die Wirtschafts- und Finanzkrise und der damit einhergehende Konsolidierungsdruck auf die Staaten haben zu einer gewissen Stagnation der Entwicklung geführt.753 So liegt der durchschnittliche Steuersatz in den OECD-Ländern seit 2010 bei ca. 25 %.754 In Deutschland ist der Körperschaftsteuersatz von 56 % zu Beginn der 1990er Jahre auf heute 15 % gefallen, wobei allerdings die Gewerbesteuer hinzukommt.755 Die Entwicklung der sinkenden Körperschaftsteuersätze bis hin zur Nullbesteuerung in Steueroasen ist ein globales Phänomen.756 Insbesondere die EU- und OECD-Länder haben dies aber durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zumindest teilweise kompensiert.757 Das Steueraufkommen aus den Unternehmensgewinnen ist in den OECD-Ländern trotz sinkender Steuersätze von 1975 bis 2011 von 2,3 % auf 3,1 % des BIP gestiegen, wobei jedoch Japan, Italien, Groß747
Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 20 und 182 f. Im Ergebnis auch Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 182. 749 Eher gegen die „Race-to-the-Bottom“-These Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45; dafür Genschel/Kemmerling/Seils, JCMS 2011, 585. 750 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 4. 751 Der Steuersatz auf Unternehmensgewinne im Hinblick auf die OECD-Länder wird von Steidl/Wigger definiert als die Summe von Körperschaftsteuersatz und lokalen Unternehmenssteuersätzen, z. B. der Gewerbesteuer in Deutschland. 752 Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (49); ähnlich Haucap, Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb in Europa?, S. 1 f. Als Datenbasis verwenden beide OECD-Daten. 753 Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (49). 754 Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (49). 755 Hüttemann, in: Bayer/Habersack, S. 1212 (1222, 1236, 1245). 756 Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 18 f.; Frenz, WRP 2016, Nr. 3, 1. 757 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5; OECD, Addressing BEPS, S. 16 f.; Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (50 f.); zur Kompensation Deutschlands durch die Ausweitung der Bemessungsgrundlage im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 2008, siehe Bach, DIW Wochenbericht 2013, Nr. 22+23, 3 (9 f.). 748
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britannien und Deutschland einen Einnahmenrückgang zu verzeichnen haben.758 Dagegen ist die effektive steuerliche Belastung von Unternehmensgewinnen in den OECD-Ländern im Zeitraum von 1998 bis 2011 von 29,9 % auf 24,2 % gesunken.759 In Deutschland lag die effektive steuerliche Belastung bezogen auf Kapital- und Personengesellschaften im Zeitraum von 2001 bis 2008 bei durchschnittlich 21 %.760 Nach einer anderen Studie zur effektiven Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften in den 28 EU-Mitgliedstaaten ist Deutschland jedoch insbesondere wegen der Gewerbesteuer aktuell auf Platz 23,761 wobei auf Platz 1 die niedrigste Besteuerung entfällt. Schaper stellt in seiner Dissertation „Steuerstaat im Wettbewerb“ aus dem Jahr 2014 fest, die „Race-to-the-Bottom“-These lasse sich empirisch weder bestätigen noch widerlegen.762 Diesem Ansatz soll hier aufgrund der nicht eindeutigen empirischen Forschung gefolgt werden. Wäre die „Race-to-the-Bottom“-These empirisch belegt, spräche sie für die Schutzwürdigkeit des Staates. Aus dem unsicheren empirischen Befund lässt sich dagegen nur das Argument im Zweifel für die Schutzwürdigkeit des Staates ableiten. So können die Vorstände selbst entscheiden, wie sie den Steuerwettbewerb beurteilen und entsprechend entscheiden. Da die Unternehmen selbst im Wettbewerb stehen, droht keinerlei Gefahr, dass der Steuerwettbewerb durch das Absehen von Steuergestaltungen völlig zum Erliegen kommt und der Leviathan entfesselt wird. (b) Die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates aufgrund des gegenwärtigen internationalen Steuerwettbewerbs Nach der zutreffenden Auffassung der OECD und G20 sowie der EU-Kommission leidet der Steuerwettbewerb gegenwärtig an einem Regulierungsdefizit, ist nicht selten unfair und somit für das Allgemeinwohl mehr schädlich als hilfreich.763 Nach 758 Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (50 und Fn. 14); ähnlich Haucap, Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb in Europa?, S. 2. 759 Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (51); ähnlich Haucap, Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb in Europa?, S. 2. Die OECD weist daraufhin, dass die aktuellen Studien zu effektiven Steuersätzen entweder nicht dieselbe Methode verwenden oder nicht denselben Zeitraum betrachten, weswegen diese nahezu nie vergleichbar sind. Siehe OECD, Addressing BEPS, S. 21. 760 Bach, DIW Wochenbericht 2013, Nr. 22+23, 3 (1 und 10). 761 Spengel, DB 2015, Nr. 45, 5 (5). 762 Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 43; ähnlich aber tendeziell kritischer zur „Raceto-the-Bottom“-These Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (45, 49 ff., 67). 763 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 8 f.; das Regulierungsdefizit sehen auch Fehling/Schmid, IStR 2015, 493 (496); OECD, BEPS, Action 5, Final Report; mit Verweis auf OECD, Harmful Tax Competition; Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 13 Rn. 149. Deutlich schärfer ist die Kritik von NGOs wie Oxfam oder tax justice network, die vor allem die negativen Folgen für Schwellen- und Entwicklungsländer betonen, siehe beispielsweise Christensen, National Competitiveness: A Dangerous Obsession; Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %.
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den empirischen Analysen der OECD sind besonders Entwicklungsländer von den Auswirkungen des unfairen Steuerwettbewerbs betroffen.764 OECD und G20, EUKommission sowie weite Teile der Wissenschaft sind sich daran einig, dass Steuerwettbewerb jedenfalls dann regelmäßig unfair im Sinne von schädlich für das Allgemeinwohl ist, wenn ausländischen Unternehmen selektiv Steuervorteile gewährt werden, die inländischen Unternehmen nicht zur Verfügung stehen (sog. unfairer Steuerwettbewerb).765 Des Weiteren ist der Steuerwettbewerb regelmäßig schädlich, wenn der Ort der Wertschöpfung und der Ort der Besteuerung auseinanderfallen.766 Vor allem der Wettbewerb um Kapital und mobile Einkommen wie Unternehmensgewinne wird regelmäßig unfair geführt. Beispielsweise bieten die Staaten den Unternehmen sog. Patent- oder Lizenzboxen.767 Wenn allerdings anstatt der Produktion bloß Kapital in Niedrigsteuerländer verlagert werden soll, reduziert sich die Anzahl der relevanten Standortfaktoren aus Sicht der Unternehmen im Wesentlichen auf die Stabilität des Rechts- und Finanzsystems.768 Dementsprechend kann der Wettbewerb um bloßes Kapital als Steuersubstrat auch leicht von Staaten mit ansonsten eher schlechten Standortfaktoren geführt werden.769 Scherf führt unter Verweis auf das Äquivalenzprinzip zutreffend aus: Der aktuelle Steuerwettbewerb ist schädlich, weil Unternehmen zwar die hochwertige Infrastruktur etc. des einen Staates für ihre Wertschöpfung nutzen, die Gewinne aber in einem anderen Staat niedrig versteuern können und somit nicht ausreichend zur Finanzierung der genutzten Infrastruktur etc. des Staates der Wertschöpfung beitragen.770 Unbestritten ist es in globalen Wertschöpfungsketten und insbesondere im Bereich der digitalen Wirtschaft schwierig, den Ort der Wertschöpfung zu bestimmen.771 Für das einzelne Unternehmen ist es allerdings deutlich leichter festzustellen, 764 OECD, Action Plan on BEPS, S. 8; OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15; zu diesem Ergebnis kommt auch Stiglitz, Wachstumsrisiko Ungleichheit, FAZ vom 16. Januar 2017, Nr. 13, S. 18. 765 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 4 ff.; für Indizien zur Bestimmung von schädlichem Steuerwettbewerb, siehe bereits Anlage 1 zur Mitteilung des Rates vom 1. Dezember 1997, Abl. Nr. C 2 vom 6. Januar 1998, S. 1, 2 (im Folgenden: Code of Conduct Unternehmensbesteuerung); OECD, BEPS, Action 5, Final Report, S. 19 ff.; Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 74; Seer, IWB 2006, Nr. 7, 313 (315 f. und 321). 766 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 10 ff.; OECD, BEPS, Action 5, Final Report, S. 3; Finke/Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15); Jochum, ZRP 2015, 115 (115); Klein, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 5 (6). 767 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 74; für eine Übersicht, welche Länder eine Patentbox eingeführt haben, siehe BT-Drucks. 18/1238, S. 2. 768 Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (48). 769 Scherf, WiSt 2014, 608 (611 f.). 770 Scherf, WiSt 2014, 608 (612); ähnlich OECD, Action Plan on BEPS, S. 8; ebenso auf empirischer Grundlage OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15. 771 OECD, Action Plan on BEPS, S. 11.
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wo welcher Teil seiner Wertschöpfung erfolgt, als für die nationalen Gesetzgeber, die dies in abstrakt-generellen Regelungen abbilden müssen. Im Vergleich mit dem nationalen Steuerwettbewerb fehlt es dem internationalen Steuerwettbewerb gegenwärtig an ausgleichenden und begrenzenden Regelungen. Weder gibt es einen dem Mindesthebesatz vergleichbaren internationalen Mindeststeuersatz noch einen dem kommunalen Finanzausgleich vergleichbaren internationalen Finanzausgleich. Schließlich gibt es auch kein Institut, das – vergleichbar der Zerlegung – typisiert an die tatsächliche Wertschöpfung vor Ort anknüpft. Die bestehenden Regelungen reichen nicht aus, um einen fairen Steuerwettberb zu gewährleisten. Zwar geht insbesondere die Kommission auf europäischer Ebene auf der Grundlage des Verbots staatlicher Beihilfen gezielt gegen Mitgliedstaaten vor, die Unternehmen in Form von Steuervorbescheiden selektive Vergünstigungen eingeräumt haben (Art. 107 Abs. 1 AEUV).772 Die bisher ergangenen Aufforderungen an Luxemburg, von Fiat773 und Amazon774 die möglicherweise zu Unrecht gewährten Steuervergünstigungen zurückzufordern, sowie an die Niederlande775 im Fall Starbucks und an Irland776 im Fall Apple liegen jetzt allerdings dem EuGH vor. Geklagt haben bisher neben Luxemburg, den Niederlanden und Irland auch Fiat, Starbucks und Apple.777 Die Entscheidung der Kommission gegenüber Luxemburg wegen Mc Donald’s778 steht noch aus. Am 11. Januar 2016 hat die Kommission zudem eine Steuernorm als mit dem Beihilferecht unvereinbar erklärt.779 Nach Auffassung der Kommission war es nach dieser belgischen Norm ausschließlich multinationalen Unternehmen möglich, ihre Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage um 50 % bis 90 % zu verringern.780 Dies wiederum erfolgte über Steuervorbescheide, die auf Grundlage der Norm erlassen wurden.781 Die belgischen Steuerbehörden hatten diese unter dem Slogan „Only in Belgium“ beworben.782 Die Regelung haben ca. 35 größtenteils europäische Unternehmen in Anspruch genommen, von denen Belgien nun wiederum ca. 700 Mio E 772 Zu Luxemburg, Irland und Belgien als Beispielen für Steueroasen siehe Seer, IWB 2006, Nr. 7, 313 (314 f.). 773 Europäische Kommission, SA.38375. 774 Europäische Kommission, SA.38944. 775 Europäische Kommission, SA.38374. 776 Europäische Kommission, SA.38373. 777 EuGH, T-755/15 und T-816/17, Luxemburg/Kommission; EuGH, T-759/15, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission; EuGH, T-760/15, Niederlande/Kommission; EuGH, T-636/16, Starbucks und Starbucks Manufacturing Emea/Kommission; EuGH, T-778/16, Irland/Kommission; EuGH, T-892/16, Apple Sales International und Apple Operations Europe/ Kommission. 778 Europäische Kommission, SA.38945. 779 Europäische Kommission, SA.37667. 780 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/42. 781 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/42. 782 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/42.
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zurückfordern muss.783 Beim EuGH sind in dieser Sache aktuell um die 30 Klagen anhängig.784 Es bleibt generell abzuwarten, wie der EuGH entscheiden wird, insbesondere inwieweit er das Beihilfeverbot bei der Anerkennung von Verrechnungspreisregeln durch Steuervorbescheide als verletzt ansieht. Insoweit finden sich Stimmen, die mangels mathematischer Exaktheit des Fremdvergleichs auf eine bloße Evidenzkontrolle785 oder Vertretbarkeitskontrolle786 schließen. Unabhängig von der Entscheidung des EuGH ist die Wirkung des Beihilferechts durch seine Ausrichtung auf selektiv begünstigende Maßnahmen begrenzt. Darüber hinaus bleibt das Problem des Steuerwettbewerbs um bloßes Kapital und die Gestaltungsmöglichkeiten in Drittstaaten. Es darf auch nicht übersehen werden, dass gerade der harmonisierte Binnenmarkt787 und in diesem Kontext vor allem die Zinsen-Lizenzgebühren-Richtlinie788 sowie die Rechtsprechung des EuGH789 den Unternehmen für überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen enorme Spielräume eröffnet haben.790 Multinationale Unternehmen machen sich das globale Regulierungsdefizit des gegenwärtigen Steuerwettbewerbs durch überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen791 mit zunehmender Tendenz und teilweise extrem zunutze.792 Eine exakte empirische Bestimmung des Umfangs ist jedoch aufgrund des aktuell verfügbaren Datenmaterials zurzeit nicht möglich und wird auch zukünftig aufgrund der Komplexität des Themas schwierig bleiben.793
783
Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/42. Europäische Kommission, SA.37667. 785 Jochum, ZRP 2015, 115 (117 f.). 786 Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (353 f.). 787 Zur Wirkung des Binnenmarktes auf den Steuerwettbewerb, siehe beispielsweise Seer, IWB 2006, Nr. 7, 313 (315). Europa sei aufgrund seines harmonisierten Binnenmarktes mit einem nicht harmonisierten Unternehmenssteuerrecht besonders anfällig für ein „Race-to-theBottom“. 788 Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 u¨ ber eine gemeinsame Steuerregelung fu¨ r Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebu¨ hren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, Abl. Nr. L 157 vom 26. Juni 2003, S. 49 (im Folgenden: ZinsenLizenzgebühren-Richtlinie 2003/49/EG). Umsetzung in Deutschland durch §§ 50d, 50 g EStG. 789 Insbesondere EuGH, Urteil vom 12. September 2006 – C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995. 790 Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (5); die wettbewerbsfördernde Wirkung des Binnenmarktes konstatieren aus finanzwissenschaftlicher Sicht beispielsweise Steidl/Wigger, in: Theurl, Europa am Scheidweg, S. 45 (45). 791 Siehe oben Kap. 1, B. V. (S. 40 f.). 792 OECD, Addressing BEPS, S. 6; eine Zunahme des Phänomens konstatieren auch Finke/ Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15). 793 Zu diesem Ergebnis im Hinblick auf Gewinnverlagerungen und Gewinnverkürzungen, siehe OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 16, 79; OECD, Addressing BEPS, S. 15; zu diesem Ergebnis kommen auch Finke/Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15). 784
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Nach Auffassung der OECD sprechen allerdings viele Faktoren und Studien für eine erhebliche Verbreitung.794 Im Abschlussbericht zu Aktionspunkt 11 des BEPSProjektes kommt die OECD zu dem Ergebnis, dass Steuerausfälle zwischen 4 % und 10 % des weltweiten Körperschaftsteueraufkommens durch BEPS verursacht werden.795 Mehrere Studien796 zeigen eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Ort der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit bzw. Investition und dem Ort, an dem die Gewinne steuerlich geltend gemacht werden.797 Als empirisch belegt gilt inzwischen, dass Finanzierungen innerhalb des Konzerns, Verrechnungspreise und Immaterialgüter die relevantesten Formen grenzüberschreitender überwiegend steuerrechtlich motivierter Gestaltungen sind.798 Nach Auffassung der EU-Kommission hätte das Steueraufkommen der Unternehmenssteuern in der EU aufgrund der Ausdehnung der Bemessungsgrundlagen und der wachsenden Zahl der Unternehmen eigentlich steigen müssen.799 Tatsächlich ist es aber von 1996 bis 2012 tendenziell stabil geblieben.800 Eine mögliche Ursache hierfür seien „aggressive Steuergestaltungen“ multinationaler Unternehmen.801 Empirische Aussagen im Hinblick auf den Umfang überwiegend steuerrechtlich motivierter Gestaltungen durch deutsche Unternehmen sind verhältnismäßig selten. Ruf kommt in seiner 2007 erschienen Dissertation „Steuerwettbewerb, Empirie und die Definition der Effektivsteuersätze“ zu dem Schluss: „Der hohe Anteil von Finanzinvestitionen in Irland, Belgien und den Niederlanden legt die Vermutung nahe, dass es deutschen Unternehmen durch Steuerplanung mittels Finanzierungsgestaltungen und Verrechnungspreisen gelingt, der hohen deutschen Steuerbelastung auszuweichen, ohne dazu Realinvestitionen ins Ausland verlagern zu mu¨ ssen.“802
794 OECD, Addressing BEPS, S. 15; OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 79; zu den sechs wesentlichen Faktoren siehe OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15 f. 795 OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15 und 79. 796 Für einen Überblick siehe OECD, Addressing BEPS, S. 15 ff. und Anhang B; OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 79 ff. 797 OECD, Addressing BEPS, S. 15, 20; OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15 f. 798 Ramboll Management Consulting/Corit Advisory, European Commission, Taxation Papers, No. 61 (2015), S. 7 Fn. 1; ähnlich Finke/Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15); unter Verweis auf Heckemeyer/Overesch, Multinationals’ Profit Response to Tax Differentials: Effect Size and Shifting Channels. 799 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5. 800 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5. 801 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5. 802 Ruf, Steuerwettbewerb, Empirie und die Definition von Effektivsteuersätzen, S. 206 f. Datenbasis war die Mikrodatenbank Direktinvestitionsbestände der Deutschen Bundesbank. Nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Forschung waren alle deutschen Unternehmen mit Kapitalverflechtungen zum Ausland (Outbound-Investitionen) meldepflichtig, wenn das deutsche Mutterunternehmen mit mindestens 10 % an der Tochtergesellschaft beteiligt war und die Bilanzsumme von Tochtergesellschaften mehr als 3 Mio. Euro betrug.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Ein aktueller Bericht der Nichtregierungsorganisation Oxfam zeigt, dass von 200 untersuchten Unternehmen, unter denen die 110 größten Unternehmen der Welt sowie die Partner des Weltwirtschaftsforums in Davos waren, – was einige deutsche Unternehmen einschließt – neun von zehn Unternehmen eine Unternehmenspräsenz in mindestens einer Steueroase haben.803 Im Zeitraum von 2001 bis 2014 haben sich die Investitionen der Unternehmen in diesen Steueroasen fast vervierfacht.804 Über konkrete Steuergestaltungen und ihren Umfang ist damit jedoch nichts gesagt. Die Studie wurde am 18. Januar 2016 anlässlich des Weltwirtschaftsforums veröffentlicht. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2013 kommt für das Jahr 2008 bezüglich der Unternehmenssteuern für Personen- und Kapitalgesellschaften zu einer Besteuerungslücke von 90 Milliarden Euro bzw. 3,7 % des BIP.805 Als eine mögliche Ursache wird die Gewinnverlagerung auf ausländische Standorte genannt, wobei allerdings angenommen wird, dass die Unternehmenssteuerreform 2008 dem insbesondere mit der Zinsschranke und der Beschränkung der Funktionsverlagerung zumindest teilweise entgegengewirkt habe.806 Spengel hält dieses und vergleichbare Ergebnisse für fragwürdig.807 Basierend auf den Ergebnissen in den BEPS-Abschlussberichten wendet er die relative Obergrenze der Steuermindereinnahmen von 10 % auf das aktuelle Körperschaft- und Gewerbesteueraufkommen von 60 Milliarden Euro an und kommt somit zu absoluten Steuerausfällen von höchstens 6 Milliarden Euro.808
803 Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 5 und 20; darauf verweisend auch Frenz, WRP 2016, Nr. 3, 1; zum Vorgehen siehe Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 39 Fn. 105. Oxfam hat sich dabei auf die Top 110 der Forbes 2000 Liste gestützt, darunter sind die deutschen Unternehmen Allianz, Volkswagen AG, Daimler, BMW, Siemens, Deutsche Telekom, BASF, Bayer, Munich Re und auf die Liste der Partner des Weltwirtschaftsforums, welche die Allianz, AUDI AG, Deutsche Bank, Deutsche Post DHL, Siemens und die Volkswagen AG erfasst. Steueroasen sind für Oxfam Länder, die typischerweise zur Steuervermeidung verwendet werden, wie Bermuda und die Cayman Islands, aber auch Luxemburg, Irland die Niederlande und die Schweiz. 804 Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 5 und 20; Datenbasis war die Coordinated Portfolio Investment Survey (CPIS) Datenbank des Internationalen Währungsfonds, siehe Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 39 Fn. 106. 805 Bach, DIW Wochenbericht 2013, Nr. 22+23, 3 (3 und 9 f.). 806 Bach, DIW Wochenbericht 2013, Nr. 22+23, 3 (11 f.); siehe auch die Studien von Buettner/Wamser, NJT 2013, Nr. 66 (1), 63 (84 f.); Dischinger/Riedel, 95 (2011), 691 (700 f.); Dischinger, Profit Shifting by Multinationals: Indirect Evidence from European Micro Data, S. 15 f. 807 Spengel, DB 2015, Nr. 45, 5; siehe auch die Untersuchung von Watrin/Thomsen, StuW 2016, 3 (3 ff.). 808 Spengel, DB 2015, Nr. 45, 5.
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Zusammengefasst spricht auch ohne exakte Bestimmung des Umfangs einiges empirisch dafür, dass neben den US-Konzernen809 wie Amazon810, Apple811, Starbucks812 etc. jedenfalls auch multinational ausgerichtete deutsche Konzerne den Steuerwettbewerb durch überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen nutzen.813 Indiz dafür sind jedenfalls die Standorte von vielen deutschen Konzernen in Steueroasen.814 Vor allem die durch die Luxemburg-Leaks (E.ON, Deutsche Bank und Fresenius Medical Care)815 und jüngst die Malta-Files (BASF, BMW, K+S, Lufthansa und Sixt) bekannt gewordenen Fälle liefern einen indiziellen Befund.816 Der gegenwärtige Steuerwettbewerb und die daraus resultierenden Steuergestaltungen multinationaler Unternehmen haben darüber hinaus weitere schädliche Auswirkungen. Die Staaten gehen teilweise dazu über, die Steuern für weniger mobile Unternehmen, vor allem kleinere und mittlere Unternehmen (KMUs), und den Faktor Arbeit zu erhöhen.817 Damit wird die Wachstumsfähigkeit von KMUs reduziert, da weniger Kapital reinvestiert werden kann sowie negative Arbeitsanreize geschaffen und Neueinstellungen erschwert werden.818 Hinzu kommt, dass KMUs regelmäßig mangels Größe oder aufgrund rein nationaler Ausrichtung vergleichbare Gestaltungen nicht vornehmen können und schon deswegen einen Wettbewerbsnachteil erleiden.819 Die OECD kommt zu dem Ergebnis, dass multinationale Unternehmen ihren effektiven Steuersatz im Verhältnis zu vergleichbaren bloß national ausgerichteten Unternehmen um 4 bis 8,5 Prozentpunkte reduzieren können.820 Der Effekt sei bei großen multinationalen Unternehmen und Unternehmen mit Patenten am größten.821 Einige multinationale Unternehmen haben so nicht nur einen er809
So im Hinblick auf US-Unternehmen Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 1 ff., 19, 25, 27. 810 Europäische Kommission, SA.38944. 811 Europäische Kommission, SA.38373. 812 Europäische Kommission, SA.38374. 813 So auch die Einschätzung von Grotherr, Ubg 2015, 360 (360). 814 Freitag/Hansen/Kiani-Kreß, Angenehme Nebeneffekte, WiWo vom 15. April 2013, Nr. 16, S. 44. 815 Giesen/Ott/Strozyk/Strunz, Rausgeputzt für das Finanzamt; Obermayer, LuxemburgLeaks zu Eon. 816 Dahlkamp/Henrichs/Latsch/Pauly/Schmitt, Wenn kein Postmann klingelt, Der Spiegel vom 20. Mai 2017, Nr. 21, S. 58 (58 ff.). 817 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5; OECD, BEPS, Action 5, Final Report, S. 11; Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 20; Scherf, WiSt 2014, 608 (612); zum schleichenden Wechsel von der synthetischen zur dualen Einkommensteuer in Deutschland siehe auch Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 76 ff. 818 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5. 819 OECD, Action Plan on BEPS, S. 8; Fehling/Schmid, IStR 2015, 493 (496); Grotherr, Ubg 2015, 360 (361); Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 20. 820 OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15, 80. 821 OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 80.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
heblichen Wettbewerbsvorteil, sondern können auch ihre Marktmacht ausbauen, was zu konzentrierteren Märkten führen kann, die den Wettbewerb hemmen.822 Ein sich in diese Richtung entwickelndes Steuersystem läuft Gefahr, die Volkswirtschaft zu schädigen.823 Weiter verschärft wird der Wettbewerb zudem durch die Kreativität der Steuerberatung824 – längst nicht alle Gestaltungen beruhen auf gewollten Gesetzeslücken oder Vergünstigungen.825 Als relevanteste negative Auswirkung des Steuerwettbewerbs der Staaten und der Steuergestaltung multinationaler Unternehmen sehen OECD und EU-Kommission die Wirkung auf die Steuermoral der Bürger an.826 Die an den Beginn der Arbeit gestellte Aussage des ehemaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble findet sich somit hier in der Begründung der Stakeholder-Stellung des Staates wieder: „Aggressive Steuerplanung beeinträchtigt die Steuermoral, wenn Arbeitnehmer und Unternehmen das Gefühl bekommen, sie seien die Dummen, weil ein anderer mit einer anderen steuerlichen Gestaltung die Steuern nahezu vermeiden kann.“827
Auch in der Literatur wird diese Einschätzung von nicht wenigen und sogar von Vertretern der Gegenauffassung geteilt.828 Die Staatshaushalte sanieren sich nach der Wirtschafts- und Finanzkrise primär auf Kosten der Bürger.829 Nach Stiglitz sind die wirklichen Verlierer des Steuerwettbewerbs die Armen und die ganz normalen Bürger weltweit.830 Die dargelegten negativen Auswirkungen in Folge des Regulierungsdefizits des gegenwärtigen Steuerwettbewerbs sprechen, gerade auch im Vergleich mit dem nationalen Steuerwettbewerb, allesamt für die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates. 822
OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 80. Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 5. 824 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 3; OECD, Action Plan on BEPS, S. 7 f.; Avi-Yonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 26; Wüllenweber, Legale Staatsfeinde, stern vom 14. März 2013, Nr. 12, S. 84. 825 Nach Hüttemann weist „das geltende Steuerrecht zahlreiche bedachte und unbedachte Unvollständigkeiten und Widersprüchlichkeiten auf.“ Siehe Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1151). 826 OECD, Addressing BEPS, S. 15; OECD, Action Plan on BEPS, S. 8; Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 2; der Einschätzung der Kommission hinsichtlich der Defizite der aktuellen Besteuerung zustimmend Finke/Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15). 827 Schäuble zitiert nach: Wüllenweber, Legale Staatsfeinde, stern vom 14. März 2013, Nr. 12, S. 84 (90). 828 Fehling/Schmid, IStR 2015, 493 (496); Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (918); Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (9); Scherf, WiSt 2014, 608 (612); im größeren Kontext wachsender Ungleichheit auch Stiglitz, Wachstumsrisiko Ungleichheit, FAZ vom 16. Januar 2017, Nr. 13, S. 18. 829 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 2; Finke/ Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15). 830 Stiglitz, Wachstumsrisiko Ungleichheit, FAZ vom 16. Januar 2017, Nr. 13, S. 18. 823
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(c) Kein Ausschluss der Schutzwürdigkeit durch die (Mit-)Verantwortung des (Steuer-)Staates für den gegenwärtigen und zukünftigen internationalen Steuerwettbewerb Die Gegenauffassung verneint die Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates, weil die Staaten für diesen Status quo selbst verantwortlich seien.831 Ihr ist insoweit zuzustimmen, als dass viele Staaten bewusst Steuervorteile geschaffen haben, beispielweise spezifische Ertragsarten niedriger besteuern, Patentboxen vorsehen und Unternehmen in Form von Steuervorbescheiden Vergünstigungen einräumen, oder nicht gegen die Praktiken der Unternehmen vorgehen.832 Auch sind alle Staaten am Rückgang der Körperschaftsteuersätze beteiligt. Wenn man allerdings daraus die alleinige Verantwortlichkeit des einzelnen Staates ableitet, wird man der Lage des Staates nicht gerecht. Dieser befindet sich in einer Wettbewerbssituation, die er weder allein geschaffen hat noch einseitig durch Gesetze steuern oder gar beenden kann. Der Wettbewerb ist die faktische Folge von Vielstaatlichkeit, mobilen Unternehmen und offenen Märkten. Es genügt ein Staat, der Vergünstigungen einräumt, um alle anderen Staaten in Zugzwang zu bringen. Es ist kaum vorhersehbar, wie viele Unternehmen eine neue Gestaltungsmöglichkeit wahrnehmen werden, wobei dies auch von den Erfolgsaussichten vor dem Hintergrund der sonstigen damit verbundenen Kosten abhängt. Verantwortlich ist in dieser Situation – wenn überhaupt – der agierende Staat; die reagierenden Staaten sind lediglich gezwungene Mitläufer. Wenn man hier die zur Reaktion gezwungenen einzelnen Staaten für verantwortlich erklärt, rechnet man die Verantwortlichkeit des Wettbewerbstreibers den anderen zu. Man könnte argumentieren, dass auf lange Sicht jeder Staat mal der Wettbewerbstreiber sein wird. Diese wechselseitige Zurechnung überzeugt aber nicht, da die Zwangslage im Wettbewerb verkannt wird und die souveränen Staaten zwar für ihre konkreten Handlungen die Verantwortung tragen aber nicht für die anderer Staaten. Schaper kommt zu dem zutreffenden Ergebnis, dass der einzelne Staat sich dem Steuerwettbewerb, unabhängig von dessen Auswirkungen, jedenfalls nicht entziehen kann und daher grundsätzlich aktiv an ihm teilnehmen sollte.833 Man könnte der Schutzwürdigkeit des Staates weiter entgegenhalten, dass rein faktisch – wenn überhaupt – die 193 Staaten dieser Welt in der Lage sind, den Steuerwettbewerb angemessen zu begrenzen, aber nicht tausende von Unterneh831 Blumers, BB 2013, 2785 (2786); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1098 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 84 ff. 832 Diesen Zustand beschreibt die Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 4; einen grundsätzlichen Überblick und Vergleich zu den legislativen Ursachen für überwiegend steuerrechtliche Gestaltungen in den Mitgliedsstaaten geben Ramboll Management Consulting/Corit Advisory, European Commission, Taxation Papers, No. 61 (2015), S. 66 ff. 833 Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 47. Er zeigt auf, dass Deutschland dies aktiv tut, siehe S. 49 ff.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
men.834 Richtigerweise haben der einzelne Staat im Allgemeinen und eine führende Industrienation wie Deutschland im Besonderen eine Mitverantwortung für die Verbesserung dieses Zustands. Jedoch ist diese Lösung schon auf europäischer Ebene mit 28 Mitgliedstaaten schwierig. Die EU hat immerhin den Vorteil, für ihre Mitgliedstaaten Recht setzen zu können.835 Dieser Weg ist aber wegen des Einstimmigkeitserfordernisses im Bereich der direkten Steuern (Art. 115, 114 Abs. 2 AEUV), trotz öffentlichem Rückenwind durch die Luxemburg-Leaks und jüngst die Panama-Papers, realpolitisch schwierig.836 Hinzu kommt, dass einmal gesetztes Recht aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips anschließend nur sehr schwer wieder geändert werden kann.837 Eine faire Ausgestaltung des Wettbewerbs durch die Einigung von 193 Staaten auf globaler Ebene unter Führung der G20 und der OECD ist noch schwieriger. Da die Möglichkeiten des einzelnen Staates zur Verbesserung des Zustands somit begrenzt sind, wäre es verfehlt, deswegen seine Schutzwürdigkeit zu verneinen. Auf aktuelle internationale Initiativen und mögliche Auswirkungen auf die zukünftige Beurteilung der Schutzwürdigkeit wird noch eingegangen werden.838 (d) Stellungnahme und Zwischenergebnis Der (Steuer-)Staat ist jedenfalls im gegenwärtigen internationalen Steuerwettbewerb, der gerade im Vergleich mit dem nationalen Steuerwettbewerb an einem erheblichen Regulierungsdefizit leidet, schutzwürdig. Im Ergebnis entspricht das Bild von der Welt als globalem Dorf einem multinationalen Unternehmen, das in vielen Ländern Umsätze generiert und von einer zentralen Unternehmensleitung gesteuert wird, viel eher als einem nationalen Territorialstaat mit schwächerem supranationalen Überbau. Der ohnehin im Wesentlichen auf sein Territorium begrenzte Staat verliert durch den internationalen Steuerwettbewerb faktisch einen erheblichen Teil seiner legislativen und administrativen Gestaltungsmacht.839 Wenn der Steuerwettbewerb, wie gegenwärtig, unfair geführt werden kann, spricht dies für die Schutzwürdigkeit des einzelnen im Wettbewerb stehenden Staates, da die schädlichen Auswirkungen des Wettbewerbs jedenfalls dann überwiegen. Die wettbewerblichen Fesseln des Leviathans sind zu fest gezogen. In der durch geistiges Eigentum geprägten, mobilen und digitalisierten globalen Wirtschaftswelt ist ein multinationales Unternehmen dem einzelnen Nationalstaat daher
834 Im BEPS-Aktionsplan heißt es beispielsweise: „a bold move by policy makers is necessary to prevent worsening problems.“, siehe OECD, Action Plan on BEPS, S. 10. Diese Pflicht der Staaten betont beispielsweise Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 2. 835 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 6. 836 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 69. 837 Mellinghoff, „Apple soll den Kopf hinhalten“, 27. Dezember 2016, Nr. 250, S. 12. 838 Siehe unten Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (3) (S. 144 ff.). 839 Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (919); Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 22.
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aktuell überlegen.840 Rein nationale Abwehrmaßnahmen des Staates, beispielsweise gegen die Verlagerung in Steueroasen, sind dagegen nur bedingt effektiv und gehen zudem mit dem Risiko einher, unerwünschte Doppelbelastungen zu schaffen.841 Im Hinblick auf die von der Gegenauffassung angeführte Ambivalenz der staatlichen Interessen im internationalen Steuerwettbewerb gilt Schapers These, wonach der Staat sich dem Wettbewerb nicht entziehen kann und daher an ihm teilnehmen sollte. Dies ändert aber nichts daran, dass er ausreichende Steuereinnahmen generieren muss, um seine öffentlichen Aufgaben wahrnehmen zu können. Die Ambivalenz der unmittelbaren staatlichen Interessen im internationalen Steuerwettbewerb löst sich auf, wenn man diese auf das eigentliche, seinem Zweck entsprechende Interesse des Staates zurückführt: die dauerhafte Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben gegenüber seinen Bürgern oder, frei nach Seer, die Erfüllung seiner Aufgabe als „Treuhänder von Gemeinwohlinteressen“842. Die Unternehmen nutzen staatliche Infrastruktur etc., wodurch der Staat einen erheblichen Beitrag zu ihrer Wertschöpfung leistet. Nicht zuletzt der Äquivalenzgedanke spricht daher dafür, den im internationalen Steuerwettbewerb stehenden nationalen (Steuer-)Staat als schutzwürdigen Stakeholder der Aktiengesellschaft anzusehen. Realistisch betrachtet, tragen sowohl die Staaten als auch die Unternehmen und ihre Berater einen Teil der Verantwortung.843 Insgesamt erscheint es daher angemessen, den Staat als Stakeholder der Aktiengesellschaft anzusehen. Der Vorstand kann so innerhalb seines Ermessens frei und flexibel über das „Ob“ und „Wie“ von Steuergestaltungen entscheiden. Er hat dann zumindest die Möglichkeit, auf Basis einer verhältnismäßig sicheren Rechtsgrundlage zu einer Verbesserung der Situation beitragen zu können – sofern er dies nicht ohnehin schon tut. Vorliegend wird auch nicht übersehen, dass die Unternehmen selbst im Wettbewerb stehen. Spiegelbildlich zum Steuerwettbewerb kann auch hier die Vornahme einer Steuergestaltung durch einen Konkurrenten als potentieller Wettbewerbsvorteil ausreichen, um die anderen in Zugzwang zu bringen.844 Die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens ist aber generell für alle Stakeholder von Interesse und berührt 840 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 6; Liebert, WISO Nr. 2 (2006), 54 (64). 841 Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (919); Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 74; OECD, BEPS, Action 5, Final Report, S. 12; zur begrenzten Effektivität von Allgemeinen Missbrauchsbekämpfungsregeln, siehe Ramboll Management Consulting/Corit Advisory, European Commission, Taxation Papers, No. 61 (2015), S. 10; positiver aufgrund empirischer Ergebnisse nationaler Abwehrmaßnahmen bei gleichzeitiger Forderung der internationalen Angleichung dagegen OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 79. 842 Seer, DStR 2016, 1289 (1290). 843 So auch Mellinghoff, DATEV magazin 2016, 6 (7); die Verantwortung der Unternehmen betont Stiglitz, Wachstumsrisiko Ungleichheit, FAZ vom 16. Januar 2017, Nr. 13, S. 18. 844 OECD, Addressing BEPS, S. 30; OECD, Action Plan on BEPS, S. 8; OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15.
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unter Umständen sogar die Ermessensgrenze der dauerhaften Rentabilität.845 Sie ist daher vom Vorstand stets zu berücksichtigen. Aufgrund der bloßen Möglichkeit des Vorstands, von Steuergestaltungen abzusehen ohne korrespondierenden Anspruch des Staates, droht auch nicht die Entfesselung des Leviathans. Der von der Gegenauffassung befürchtete Dammbruch, die Instrumentalisierung des Aktienrechts zur Durchsetzung unsauberer Steuergesetzgebung, bleibt aus. Der Vorstand wird nicht der verlängerte Arm der Finanzverwaltung. Ganz im Gegenteil klafft auch weiterhin eine Lücke zu einem fairen Steuerwettbewerb. Diese zu schließen, ist die gemeinsame Aufgabe der globalen Staatengemeinschaft. (3) Ausblick: Mögliche andere Beurteilung der Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates aufgrund des zukünftigen internationalen Steuerwettbewerbs Während die Rechtsetzungsmöglichkeiten des einzelnen Staates auch zukünftig begrenzt bleiben und der internationale Steuerwettbewerb auch weiter bestehen wird, könnte sich letzterer jedoch zukünftig infolge des BEPS-Projekts der OECD und G20846 sowie aufgrund der Umsetzung des Aktionsplans der EU-Kommission für „Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europa¨ ischen Union – Fu¨ nf Aktionsschwerpunkte“847 vom 17. Juni 2015 positiv wandeln. In ihrem Aktionsplan benennt die Kommission Maßnahmen, um zukünftig überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen zu verhindern. Konkret will die Kommission erneut eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) initiieren, die im Unterschied zu der aus 2011 mindestens für multinationale Unternehmen zwingend sein soll.848 Aufgrund der Vereinheitlichung soll die Möglichkeit entfallen, Gewinne in Mitgliedstaaten mit günstigen Steuerbedingungen zu verlagern.849 Zudem sei der effektive Steuersatz jedes Mitgliedstaates dann transparent, was den Steuerwettbewerb hemme.850 Verrechnungspreise seien nicht mehr manipulierbar, da nur noch der konsolidierte Gewinn einer Unternehmensgruppe betrachtet werde und nicht mehr rein interne Transaktionen.851 Schließlich sei es den Mitgliedstaaten gemeinsam möglich, größeren Druck auf Unternehmen aufzubauen, um so die Verlagerung nicht versteuerter Gewinne in Steueroasen außerhalb der EU zu verhindern.852 Des Weiteren will die 845
Siehe unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). Siehe dazu: http://www.oecd-ilibrary.org/taxation/oecd-g20-base-erosion-and-profit-shif ting-project_23132612 (zuletzt abgerufen am 6. Juni 2017). 847 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg. 848 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 8 f. 849 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 8. 850 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 8. 851 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 8. 852 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 9. 846
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Kommission eine effektivere Besteuerung am Ort der Wertschöpfung durchsetzen, indem insbesondere die Verrechnungspreisvorschriften verbessert und die Vorschriften für beherrschte ausländische Körperschaften angepasst werden.853 Darüber hinaus sollen die steuerlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Transparenz verbessert werden, letzteres damit unter anderem gemeinsam gegen nicht kooperative Steueroasen vorgegangen werden kann.854 Schließlich soll die Zusammenarbeit verbessert werden, insbesondere sollen Steuerprüfungen auf nationaler Ebene europaweit koordiniert werden.855 Im Oktober 2016 hat die Kommission zwei Richtlinienvorschläge zur Einführung einer GKKB gemacht. In einem ersten Schritt soll nur eine gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage856 eingeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt konsolidiert857 werden soll. Während die Kommission selbst die GKKB als „sehr ambitionierte Initiative“ ansieht, die nur schrittweise umgesetzt werden kann,858 hat sie andere Punkte des Aktionsplans bereits – zumindest teilweise – in ihrem Richtlinienvorschlag bezüglich „Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts“ (ATAD-Richtlinie)859 als Teil ihres Maßnahmenpakets zur Bekämpfung von Steuervermeidung860 vom 28. Januar 2016 konkretisiert. Dieser baut ausdrücklich auf den Aktionsplan auf und soll zugleich die europaweit einheitliche Umsetzung der im November 2015 von der OECD vorgelegten 13 Berichte mit Maßnahmen zur Bekämpfung Gewinnverku¨ rzung und Gewinnverlagerung (BEPS) sicherstellen.861 Zu dieser Umsetzung haben sich die Mitglieder der OECD und der G20 bekannt. Ziel der Richtlinie ist es, einen Mindestschutz für die Körperschaftsteuersysteme der Mitgliedstaaten zu 853
Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 10 ff. Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 12 ff. 855 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 15 ff. 856 Richtlinienvorschlag vom 25. Oktober 2016, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates u¨ ber eine Gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, COM (2016) 685 endg. (im Folgenden: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates vom 25. Oktober 2016, COM (2016) 685 endg.). 857 Richtlinienvorschlag vom 25. Oktober 2016, Vorschlag fu¨ r eine Richtlinie des Rates u¨ ber eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), COM (2016) 683 endg. (im Folgenden: Vorschlag fu¨ r eine Richtlinie des Rates vom 25. Oktober, COM (2016) 683 endg.). 858 Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2015, COM (2015) 302 endg., S. 9. 859 Richtlinienvorschlag vom 28. Januar 2016, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, COM (2016) 26 endg. (im Folgenden: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates vom 28. Januar 2016, COM (2016) 26 endg.). 860 Siehe dazu Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/159. 861 Richtlinienvorschlag vom 28. Januar 2016, COM (2016) 26 endg., S. 4. Die Berichte sind abrufbar unter: http://www.oecd-ilibrary.org/taxation/oecd-g20-base-erosion-and-profitshifting-project_23132612 (zuletzt abgerufen am 6. Juni 2017). 854
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statuieren und damit identische Ausgangspositionen, also faire Rahmenbedingungen, für den Steuerwettbewerb zu schaffen.862 Zu diesem Zweck normiert die Richtlinie sechs unterschiedliche Bereiche zur Bekämpfung von überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen: Abzugsfähigkeit von Zinsen, Wegzugsbesteuerung, Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode (Switchover-Klausel), allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch, Vorschriften fu¨ r beherrschte ausländische Unternehmen und Rahmenregelung fu¨ r das Vorgehen gegen hybride Gestaltungen.863 Die ATAD-Richtlinie wurde bereits im Sommer 2016 verabschiedet und ist am 19. Juli 2016 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlich worden.864 Durch die Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates vom 29. Mai 2017 wurde die ATADRichtlinie bereits geändert, damit auch hybride Gestaltungen mit Drittländern von ihr erfasst werden.865 Für die hier behandelte Fragestellung kann auf die Darstellung im Einzelnen verzichtet und insoweit auf die Richtlinien und die 13 BEPS-Abschlussberichte verwiesen werden.866 Entscheidend dafür, wie die Schutzwürdigkeit des Staates in Zukunft zu beurteilen sein wird, ist, inwieweit diese Richtlinien und der Aktionsplan überhaupt umgesetzt werden und ob sie im Falle ihrer Umsetzung den Steuerwettbewerb effektiv regulieren und überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltung verhindern können. Es bleibt auch abzuwarten, wie sich der seit dem Jahr 2017 laufende automatische Austausch von Finanzdaten in Steuersachen zwischen den Mitgliedstaaten und weiteren Drittstaaten auswirken wird. Der deutsche Gesetzgeber hat diesen mit dem „Gesetz zum automatischen Austausch von Informationen u¨ ber Finanzkonten in Steuersachen“867 vom 21. Dezember 2015 jedenfalls ermöglicht. Durch das „Gesetz zur Umsetzung der A¨ nderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnahmen gegen Gewinnku¨ rzungen und -verlagerungen“868 vom 20. Dezember 2016 hat der Gesetzgeber den Informationsaustausch entsprechend 862
Richtlinienvorschlag vom 28. Januar 2016, COM (2016) 26 endg., S. 4. Richtlinienvorschlag vom 28. Januar 2016, COM (2016) 26 endg., S. 3. 864 Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12. Juli 2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, Abl. Nr. L 193 vom 19. Juli 2016, S. 1 (im Folgenden: 2016/1164/ EU – ATAD-Richtlinie). 865 ¨ nderung der Richtlinie (EU) Richtlinie (EU) 2017/952 des Rates vom 29. Mai 2017 zur A 2016/1164 bezu¨ glich hybrider Gestaltungen mit Drittla¨ ndern, Abl. Nr. L 144 vom 7. Juni 2017, S. 1 (im Folgenden: 2017/952/EU – ATAD-II-Richtlinie). 866 Siehe Fn. 861. 867 Gesetz zum automatischen Austausch von Informationen u¨ ber Finanzkonten in Steu¨ nderung weiterer Gesetze vom 21. Dezember 2015, BGBl. I 2015, 2531 (im ersachen und zur A Folgenden: FKAustG); siehe dazu auch Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 u¨ ber die Zusammenarbeit der Verwaltungsbeho¨ rden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG, Abl. Nr. L 64 vom 11. März 2011, S. 1 (im Folgenden: 2011/16/EU). 868 ¨ nderungen der EU-Amtshilferichtlinie, BGBl. I 2016, 3000. Gesetz zur Umsetzung der A 863
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neuer europäischer Vorgaben869 um einen automatischen Austausch über grenzüberschreitende Steuervorbescheide und Vorabverständigungsverfahren ergänzt. Multinationale Konzerne mit inländischer Konzernobergesellschaft, die im vorherigen Geschäftsjahr konsolidierte Umsatzerlöse in Höhe von mindestens 750 Millionen Euro im Konzernabschluss ausgewiesen haben, müssen danach zudem einen länderbezogenen Bericht über ihre Steuerzahlungen (sog. Country-by-Country Reporting (CbCR)) an das Bundeszentralamt für Steuern übermitteln (vgl. § 138a AO). Im Hinblick auf die Wirksamkeit und Richtigkeit der Maßnahmen des Aktionsplans gibt es durchaus kritische Stimmen in der Literatur.870 Dies wird unter anderem damit begründet, dass die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken nur einen Mindeststandard schaffen würde (vgl. Art. 3 RL 2016/ 881/EU), wodurch der Binnenmarkt fragmentiert werde.871 Überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen blieben insbesondere auch nach Schaffung der GKKB möglich, beispielsweise durch ein Ausweichen auf Drittstaaten oder die planmäßige Unterschreitung der für die Gruppenbesteuerung anvisierten Beteiligungsgrenzen.872 Des Weiteren relativiere die schrittweise Einführung der GKKB zunächst ohne Konsolidierung und Formelaufteilung die Wirksamkeit jedenfalls mittelfristig weiter.873 Ohne diese bliebe es bei der gesonderten Besteuerung einzelner Konzernunternehmen und der Verrechnungspreiskontrolle nach dem Fremdvergleichsgrundsatz.874 Außerdem müsse man bei vielen dieser Maßnahmen Zweifel haben, ob sie mit den Grundfreiheiten vereinbar sind, so dass eine spätere Aufhebung durch den EuGH nicht unwahrscheinlich sei.875 Auch die Kommission sei in einer „Zwickmühle“.876 Die Zinsen-Lizenzgebühren-Richtlinie877 und die Recht869 ¨ nderung der Richtlinie (EU) 2015/2376 des Rates vom 8. Dezember 2015 zur A Richtlinie 2011/16/EU bezu¨ glich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, Abl. Nr. L 332 vom 18. Dezember 2015, S. 1 (im Folgenden: 2015/2376/EU); Richtlinie (EU) 2016/881 des Rates vom 25. Mai 2016 zur ¨ nderung der Richtlinie 2011/16/EU bezu¨ glich der Verpflichtung zum automatischen AusA tausch von Informationen im Bereich der Besteuerung, Abl. Nr. L 146 vom 3. Juni 2016, S. 8 (im Folgenden: 2016/881/EU). 870 Eilers/Oppel, IStR 2016, 312 (319); Ruf/Kroh, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 12 (12 ff.); Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (3 ff.); zweifelnd am Erfolg der GKKB auch Roth, Ubg 2015, 705 (711); insgesamt kritisch zur erfolgreichen Lösung auf supranationaler Ebene auch Schmitz/Schneider, NZG 2016, 561 (565); die GKKB zumindest für einen ersten Schritt in die richtige Richtung haltend dagegen Neumann-Tomm, IStR 2015, 436 (440); positiv im Hinblick auf die GKKB Finke/Spengel, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 15 (15 ff.). 871 Eilers/Oppel, IStR 2016, 312 (313 und 319). 872 Ruf/Kroh, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 12 (13); Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (4). 873 Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (4); so im Ergebnis auch Jochum, ZRP 2015, 115 (117). 874 Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (4); so im Ergebnis auch Jochum, ZRP 2015, 115 (117). 875 Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (4 f.). 876 Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (5).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
sprechung des EuGH878 hat den Unternehmen im Hinblick auf überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen enorme Spielräume eröffnet.879 Der Steuerwettbewerb sei zudem elementarer Bestandteil des Binnenmarktes.880 Die Kommission müsse das Fiskalinteresse der Steuerstaaten und die Freiheit der Unternehmer im Binnenmarkt gut ausbalancieren.881 Auch ob der Informationsaustauch in diesem Maße zulässig ist, wird für diskussionswürdig gehalten.882 Die Wirksamkeit der BEPS-Maßnahmen wird ebenfalls kritisch gesehen und vielfach nur als erster Schritt auf einem langen Weg bezeichnet.883 Eine einheitliche Umsetzung ist keineswegs garantiert, womit die Kommission auch die ATADRichtlinie begründet hat.884 Gerade im Hinblick auf die Maßnahmen zur Transparenz und zum Datenaustausch wird es auch entscheidend darauf ankommen, inwieweit die USA als größte Volkswirtschaft mitziehen. Hier darf man aufgrund eines Briefes der Vorsitzenden der zuständigen Ausschüsse im US-Kongress an den US-Finanzminister vom 9. Juni 2015 skeptisch sein.885 Ein anderer Punkt ist die insbesondere in 877
S. 49.
Zinsen-Lizenzgebühren-Richtlinie 2003/49/EG, Abl. Nr. L 157 vom 26. Juni 2003,
878 Insbesondere EuGH, Urteil vom 12. September 2006 – C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995. 879 Genschel/Kemmerling/Seils, JCMS 2011, 585 (598 ff.); Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (5). Dass der EuGH eine Entscheidung wie Cadburry Schweppes heute noch einmal treffen würde, bezweifeln dagegen Fehling/Schmid, IStR 2015, 493 (823). 880 Genschel/Kemmerling/Seils, JCMS 2011, 585 (588); Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (5). 881 Schön, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 3 (5). 882 Mellinghoff, DATEV magazin 2016, 6 (8). Siehe in diesem Kontext auch die Entscheidung des FG Köln im einstweiligen Rechtsschutz, in der das Gericht eine Auskunft im BEPS-Kontext unter Verweis auf das Steuergeheimnis gestoppt hat, FG Köln, Beschluss vom 7. September 2015 – 2 V 1375/15, IStR 2015, 835. 883 Nach Neumann-Tomm ist eine wirkliche Lösung nur das Ende des internationalen Steuerwettbewerbs, während die BEPS-Maßnahmen nur Compliance-Kosten erhöhen würden, siehe Neumann-Tomm, IStR 2015, 436 (436 f. und 440); positiver dagegen Fehling/Schmid, IStR 2015, 493 (823). Sie sehen im BEPS-Projekt einen fortlaufenden Prozess, wobei die aktuellen Maßnahmen eine „positive Zäsur“ darstellten. Einen ersten Schritt auf dem weiten Weg zu einer Modernisierung des globalen Steuersystems sehen Avi-Yonah/Xu, Global Taxation after the Crisis: Why BEPS and MAATM are Inadequate Responses, S. 29 ff. Oxfam spricht dagegen vom Verpassen einer historischen Chance. Siehe Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 20 f.; ähnlich tax justice network, Press release: OECD’s BEPS proposals will not be the end of tax avoidance by multinationals; ähnlich eurodad, G20/OECD BEPS outcomes will fail to reach objectives. 884 Richtlinienvorschlag vom 28. Januar 2016, COM (2016) 26 endg., S. 4; Bannes/Cloer, BB 2016, 1047 (1048). 885 Siehe den gemeinsamen Brief des Vorsitzenden des Finanzausschusses des Senats, Orrin G. Hatch und des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Repräsentantenhauses, Paul D. Ryan, an den damaligen US-Finanzminister Jacob Lew vom 9. Juni 2015, abgedruckt bei Piltz, IStR 2015, 529 (529 f.); auf dieser Grundlage an der vollständigen Umsetzung durch die USA zweifelnd Bannes/Cloer, BB 2016, 1047 (1048); ebenso Piltz, IStR 2015, 529 (532 f.).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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den USA de facto nicht stattfindende Hinzurechnungsbesteuerung.886 Diesbezüglich wird in den BEPS-Berichten lediglich eine Empfehlung ausgesprochen, aber kein Mindeststandard statuiert.887 Generell bleibt abzuwarten, wie sich die Trump-Administration zu all dem verhalten wird. Ob die Maßnahmen des Aktionsplans der Kommission überhaupt alle verabschiedet888 werden und welche Wirkung sie entfalten, wird sich erst mittelfristig zeigen. Ähnlich verhält es sich mit den BEPSMaßnahmen. Unabhängig davon bleibt aber die Tatsache unverändert, dass der Staat im Steuerwettbewerb steht. Dieser wird höchst wahrscheinlich in Zukunft noch weiter zunehmen. Die britische Regierung unter Theresa May hat jedenfalls für die Zeit nach dem Brexit bereits mit einer Verschärfung des Steuerwettbewerbs in Form eines Körperschaftsteuersatzes von 10 % gedroht.889 Die Trump-Administration hat diesen gerade insbesondere durch die Senkung des Unternehmenssteuersatzes von 35 % auf 21 % erheblich angekurbelt.890 Schön ist daher zu Recht der Auffassung, dass Trump und May „eine neue Stufe des Steuerwettbewerbs eröffnet“ haben.891 Er sieht des Weiteren auch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron als Verfechter niedriger Unternehmenssteuern an.892 Der Ökonom Clemens Fuest fordert auf Trumps Steuerreform mit einer Senkung der Steuern für alle Unternehmensformen zu reagieren, um eine stärkere Gewinnverlagerung ins Ausland zu verhindern.893 Auch der Ökonom Friedrich Heinemann sieht Handlungsbedarf.894 Als Wolfgang Schäuble noch Bundesfinanzminister war, hat er für die jetzt laufende Legislaturperiode eine Unternehmenssteuerreform in Aussicht gestellt, deren Inhalt aber nach wie vor völlig ungewiss ist.895 Die „neue Stufe“ des Steuerwettbewerbs lässt erhebliche Zweifel an dessen Begrenzung aufkommen und spricht dafür, den Staat auch zukünftig als schutzwürdig anzusehen. Der Vorstand kann so innerhalb seines Ermessens frei und flexibel über das „Ob“ und „Wie“ von Steuergestaltungen entscheiden. 886
Geberth, DB 2015, Nr. 41, 5 (5); Pinkernell, IStR 2014, 273 (273). OECD, BEPS, Action 3, Final Report, S. 21. 888 Kritisch insoweit beispielsweise Klein, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 5 (8); ebenso Ruf/ Kroh, ifo Schnelldienst 2015, Nr. 15, 12 (13). 889 Schäfers, Unternehmenssteuern im Blick, FAZ vom 11. Januar 2017, Nr. 9, S. 16. 890 Loose, IStR-LB 2018, 20. 891 Schön zitiert nach: Schäfers, Wilder Westen in der Steuerpolitik, FAZ vom 3. Februar 2017, Nr. 29, S. 15. 892 Schön zitiert nach: Schäfers, Trumps Steuerplan setzt Schäuble unter Druck, FAZ vom 28. April 2017, Nr. 99, S. 17. 893 Fuest zitiert nach: Schäfers, Trumps Steuerplan setzt Schäuble unter Druck, FAZ vom 28. April 2017, Nr. 99, S. 17. 894 Heinemann zitiert nach: Schäfers, Trumps Steuerplan setzt Schäuble unter Druck, FAZ vom 28. April 2017, Nr. 99, S. 17. 895 Schäfers, Wilder Westen in der Steuerpolitik, FAZ vom 3. Februar 2017, Nr. 29, S. 15; Schäfers, Unternehmenssteuern im Blick, FAZ vom 11. Januar 2017, Nr. 9, S. 16. 887
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
cc) Zwischenergebnis Im Ergebnis sprechen die besseren Argumente für die Stakeholder-Stellung des Staates. Vor allem entspricht sie dem Willen des demokratisch-legitimierten Gesetzgebers.896 Hinzu kommt die Schutzwürdigkeit des Staates, der als territorialer Nationalstaat multinationalen Unternehmen gegenübersteht und sich gleichzeitig im gegenwärtig unfairen Steuerwettbewerb behaupten muss, den sich wiederum nicht wenige dieser Unternehmen – teilweise extrem – zunutze machen.897 Bei realistischer Betrachtung tragen sowohl die Staaten als auch die Unternehmen einen Teil der Verantwortung für diesen Status quo. Auch wenn die Hauptverantwortung wohl bei den Staaten liegt und wenn überhaupt nur diese den Wettbewerb durch internationale Koordination angemessen begrenzen können, spricht dies dafür, den (Steuer-)Staat als Stakeholder der Aktiengesellschaft anzusehen. Nur dann kann der Vorstand innerhalb seines Ermessens frei und flexibel über das „Ob“ und „Wie“ von Steuergestaltungen entscheiden. Er hat dann zumindest die Möglichkeit, auf Basis einer verhältnismäßig sicheren Rechtsgrundlage zu einer Verbesserung beitragen zu können – sofern er dies nicht ohnehin schon tut. Aufgrund der bloßen Möglichkeit der Vorstände, von Steuergestaltungen abzusehen ohne einen korrespondierenden Anspruch des Staates, droht auch nicht die Entfesselung des Leviathans.898 Der Vorstand leitet die Gesellschaft unter eigener Verantwortung. Das Interesse des (Steuer-)Staates als Teil des Allgemeininteresses muss er dabei im konkreten Einzelfall ermitteln, wie jedes andere Stakeholder-Interesse auch. Da neben dem Bund auch die Länder und Gemeinden Steuergläubiger sein können, sind sie alle vom Begriff des (Steuer-)Staates mitumfasst. Darauf, wie die einzelnen StakeholderInteressen bestimmt werden können, sowie auf die Ermessensgrenzen wird noch genauer einzugehen sein.899 b) Ausländische (Steuer-)Staaten als Teil des Allgemeininteresses Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf die Stakeholder-Stellung der Bundesrepublik Deutschland als (Steuer-)Staat und zugleich Normgeber des Aktiengesetzes sowie Sitzland der allermeisten nach deutschem Aktienrecht gegründeten AGs. Diese nationale Betrachtung entspricht aber nicht der Entscheidungssituation des Vorstands eines multinationalen Unternehmens. Dieser muss entscheiden, ob und wie er den steuerrelevanten Sachverhalt in seinem Herkunftsland und den einzelnen Gastländern gestaltet.900 Damit stellt sich die Frage, ob der Vorstand auch die In-
896 897 898 899 900
Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) (S. 114 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) aa) (S. 117 f.). Siehe unten Kap. 2, B. III. 2. (S. 171 ff.) und Kap. 2, B. III. 3. (S. 184 ff.). Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (8 f.).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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teressen der Gastländer berücksichtigen muss oder ob das Allgemeininteresse ausschließlich national zu verstehen ist.901 Die Formulierung von § 70 Abs. 1 AktG 1937 der „gemeine Nutzen von Volk und Reich“ spricht für sich. Vorliegend stellt sich aber die Frage, ob der Gesetzgeber des Jahres 1965 den Begriff des Allgemeininteresses bzw. das „Wohl der Allgemeinheit“902, wie es noch im Referentenentwurf hieß, international(er) verstanden hat. Wie bereits festgestellt, bleibt der Gesetzgeber eine Definition des Allgemeininteresses schuldig.903 Der Abgeordnete Reischl spricht in seiner bereits zitierten Definition einerseits nur vom Staat, andererseits auch von all denjenigen, die zum Gedeihen des Unternehmens beitragen,904 was einem offenen Stakeholder-Ansatz entspricht, und wozu nach den obigen Ausführungen zur Schutzwürdigkeit des Staates jedenfalls die Länder gehören, in denen Unternehmen öffentliche Infrastruktur etc. nutzen. Auch wenn Regierungsbegründung und Rechtsausschuss eine Definition des Allgemeininteresses schuldig bleiben, spricht die Gesamtschau aber eher gegen eine Inklusion ausländischer Staaten, da die Aktienrechtsreform generell mit nationalen volkswirtschaftlichen Interessen begründet wird.905 Dies klingt auch im Bericht des Rechtsausschusses an, wenn es heißt, die Aktiengesellschaft müsse sich in die Gesamtwirtschaft und die Interessen der Allgemeinheit einfügen.906 Umso bemerkenswerter ist daher die Aussage des Abgeordneten Dahlgrün (FDP-Fraktion) in der Beratung des Aktiengesetzes in der 3. Wahlperiode des Bundestages im Hinblick auf die EWG: „Nach meiner Überzeugung kommen wir – und das stu¨ tzt meine These, daß die Aktienrechtsreform nu¨ chtern, unabhängig von irgendwelchen Ressentiments durchgefu¨ hrt werden sollte – im Raum der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Sektor des Aktienrechts nicht zu Rande, wenn wir in den nationalen Aktiengesetzen irgendwelche besonderen nationalen Ziele erfolgen.“907
Aber auch wenn der Gesetzgeber insgesamt das Allgemeininteresse eher national verstanden hat, handelt es sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der nicht losgelöst von Zeitgeist und Entwicklung konkretisiert werden kann und dessen Auslegung folglich dem Wandel unterliegt. Diesen Auslegungsspielraum hat der Gesetzgeber der Praxis zugestanden, indem er auf eine Definition des Allgemeininteresses verzichtet hat. Unternehmen und Staaten sind heute viel globaler ausge-
901
Diese Frage stellt auch Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 96. Bundesjustizministerium, RefE Aktiengesetz, S. 30. 903 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) (S. 114 ff.). 904 Reischl (SPD-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 4/184, Sitzung vom 19. Mai 1965, S. 9217. Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) (S. 114 ff.). 905 Siehe unter „Allgemeines“ in der Regierungsbegründung, Begr. RegE, BT-Drucks. IV/ 171, S. 92 ff. 906 Bericht des Rechtsausschusses abgedruckt bei Kropff, AktG, S. 98. 907 (FDP-Fraktion), BT-Plenarprotokoll 3/134, Sitzung vom 7. Dezember 1960, S. 7672. 902
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
richtet.908 Zu Recht hat Kort daher im Großkommentar zum Aktiengesetz bei § 76 AktG den Abschnitt „Beru¨ cksichtigung internationaler Gemeinwohlinteressen?“909 eingefügt. Er verweist diesbezüglich (nur) auf die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen.910 Wie Kort ausdrücklich feststellt, sind diese zwar rechtlich unverbindlich, allerdings lasse sich aus diesen – mit der notwendigen Zurückhaltung – eine internationale „best practice“ ableiten.911 Die OECD-Leitsätze hätten trotz ihrer Unverbindlichkeit somit eine gewisse Relevanz für die rechtliche Bewertung von Vorstandentscheidungen multinationaler Unternehmen.912 Bei der Bewertung sei allerdings Behutsamkeit gefordert, da andernfalls die freiwillige Anwendung der OECD-Leitsätze konterkariert würde.913 Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen haben einen eigenen Abschnitt zu Steuern.914 Danach sollen Unternehmen durch die Steuerzahlung in ihren Gastländern dazu beitragen, dass diese ihre öffentlichen Aufgaben erfüllen können.915 Die Unternehmen sollen dafür dem Wortlaut der Steuergesetze und dem vom Gesetzgeber damit verfolgten Zweck nachkommen.916 Darüber hinaus sollen sie den Steuerbehörden alle erforderlichen Informationen übermitteln und konstruktiv mit diesen zusammenarbeiten.917 Gestaltungen, um steuerrechtliche Folgen herbeizuführen, die nicht dem eigentlichen wirtschaftlichen Gehalt des Geschäfts entsprechen, sollen unterlassen werden.918 Etwas anderes gelte nur, wenn eine spezifische Norm die Gestaltung rechtfertige, denn in diesem Fall müsse das Unternehmen auf deren Geltung vertrauen dürfen.919 Dagegen sei es nicht erforderlich, Steuern über den Betrag hinaus zu zahlen, der sich nach der aufgezeigten Interpretation der
908
Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (S. 128 ff.). Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 96. 910 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 96. 911 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 96. 912 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 96. 913 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 96. 914 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 70 ff., XI. Besteuerung. 915 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 70, XI. Besteuerung Ziffer 1. 916 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 70, XI. Besteuerung Ziffer 1, Erläuterung 100. 917 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 70 ff., XI. Besteuerung Ziffer 1, Erläuterungen 100 ff. 918 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 71, XI. Besteuerung, Erläuterung 100. Besondere Beachtung schenken die Leitsätze dabei der Gestaltung von Verrechnungspreisen und der Beurteilung ihrer Angemessenheit nach dem Fremdvergleichsgrundsatz, S. 72 f., XI. Besteuerung, Erläuterungen 104 ff. 919 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 71, XI. Besteuerung, Erläuterung 100. 909
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Steuergesetze ergebe.920 Zu Beginn der Erläuterungen zu den Steuer-Leitsätzen wird das von den Unternehmen geforderte Verhalten mit deren „Corporate Citizenship“921 begründet.922 Unternehmen sollten als „Good Corporate Citizen“ agieren.923 Die Europäische Kommission nimmt verschiedentlich Bezug auf die OECDLeitsätze und fordert einen Gleichklang der europäischen CSR-Initiativen mit diesen.924 Sie fordert die Unternehmen auf, soweit verhältnismäßig, die drei Grundsätze des verantwortlichen Handelns im Steuerbereich, (1) Transparenz, (2) Informationsaustausch und (3) fairer Steuerwettbewerb mit umzusetzen, wobei sie dies primär an die Mitgliedstaaten adressiert.925 Des Weiteren hat die Kommission alle großen europäischen Unternehmen aufgefordert, eine CSR-Strategie zu entwickeln und dabei wahlweise die OECD-Leitsätze fu¨ r multinationale Unternehmen, den UN Global Compact oder die ISO-Norm 26000 zur sozialen Verantwortung zugrunde zu legen.926 In diesem Kontext ist auch die Berichtspflicht nach der CSR-Richtlinie zu sehen.927 Die Bundesregierung stellt auf Unternehmen als „Corporate Citizen“ sowohl in ihrem Aktionsplan CSR als auch in ihrer nationalen Engagementstrategie ab.928 Einen Bezug zur Steuerzahlung der Unternehmen stellt die Bundesregierung dabei aber nicht her. Die Debatte über Unternehmen als „Good Corporate Citizen“ geht im Bereich der Steuern vor allem seitens Nichtregierungsorganisationen aber auch von Regierungsvertretern mit der Forderung einher, Unternehmen sollten einen „Fair Share“ leisten.929 Die EU-Kommission postuliert dies in ihrer Pressemitteilung über neue
920
OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 70, XI. Besteuerung, Ziffer 1. 921 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) ee) (S. 99 ff.). 922 OECD, OECD Guidelines for Multinational Enterprises (2011), S. 60, XI. Taxation, Ziffer 1. 923 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 71, XI. Besteuerung, Erläuterung 102. 924 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 8; CSRRichtlinie 2014/95/EU, Abl. Nr. L 330 vom 15. November 2014, S. 1, Erwägungsgrund 9. 925 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 8. 926 Mitteilung der Kommission vom 25. Oktober 2011, KOM (2011) 681 endg., S. 16. 927 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. f) (S. 107 ff.). 928 Bundesregierung, Nationale Engagementstrategie, S. 3; Bundesregierung, Aktionsplan CSR, S. 64. 929 Siehe beispielsweise Oxfam, 210 Oxfam Briefing Paper, An Economy for the 1 %, S. 19, 34; tax justice network/Oxfam, Joint Agency Briefing Note, Still Broken, Governments must do more to fix the international corporate tax system, S. 2, 5; zu Regierungsvertretern im Vereinigten Königreich siehe Hartnett, in: Tax and Corporate Governance, S. 15 (17).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung vom 28. Januar 2016 ebenfalls.930 Zur Figur der Unternehmen als „Corporate Citizen“ kann mangels Trennschärfe und erheblicher Überschneidungen931 auf die Ausführungen zur „Corporate Social Responsibility“ verwiesen werden, die entsprechend gelten.932 Im Wesentlichen wird – und zwar auch gerade von Kort – kritisiert, es handle sich um ein Schlagwort, das zur inhaltlichen Konkretisierung der Vorstandsrechte und -pflichten hinsichtlich Handlungen im Allgemeininteresse nichts Neues beitrage.933 In der Literatur wird die Begründung der Leistung eines „Fair Share“ in den Gastländern aufgrund der Stellung als „Corporate Citizen“ teilweise sehr kritisch gesehen.934 Dasselbe gilt für die Forderung, Unternehmen sollten den „Fair Share“ bestimmen, indem sie ausgehend vom Wortlaut der Normen den Willen des Gesetzgebers ermitteln.935 Vor dem Hintergrund der bereits dargestellten Argumente der Gegenauffassung zur mangelnden Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates936 verbiete es sich insbesondere, aus diesem Gedanken die Stakeholder-Stellung der (Steuer-)Staaten abzuleiten.937 Dem ist teilweise zuzustimmen. Die OECD-Leitsätze können die Unternehmen nicht rechtlich binden.938 Selbstredend können sie auch die Stakeholder-Stellung der (Steuer-)Staaten nach dem nationalen Gesellschaftsrecht nicht unmittelbar begründen, aber, wie Kort zutreffend feststellt, zur „behutsamen“ Auslegung des Allgemeininteresses herangezogen werden. Sie stimmen mit dem hier vertretenen Ansatz insoweit über ein, als dass die (Steuer-)Staaten als Gastländer Stakeholder der Aktiengesellschaft sind.939 Sofern man unter dem aktuell angesagten Anglizismus „Corporate Citizenship“ im Hinblick auf Steuern den vorliegend im Rahmen der Schutzwürdigkeit des (Steuer-)Staates beschriebenen Zusammenhang versteht,940 ist 930 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/159. Zu diesen Maßnahmen siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (3) (S. 144 ff.). 931 So auch Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (50). 932 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) ee) (S. 99 ff.). 933 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 92; Kort, NZG 2012, 926 (927 f.). Im Hinblick auf den hierzu kaum abgrenzbaren CSR-Begriff erkennt er dagegen im Verhältnis zum Allgemeininteresse eine Neuerung in der globaleren Ausrichtung, siehe Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88; positiver dagegen Beisheim, in: FS Stilz, S. 45 (50). 934 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1088 ff. und 1096 ff.); zustimmend Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 90; dies ins Ermessen des Vorstands legend Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 35; positiver dagegen Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 38; Grotherr, Ubg 2015, 360 (371). 935 Hardeck, IStR 2011, 933 (936); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1088 f. und 1096). 936 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (S. 118 ff.). 937 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1098 f.). 938 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) ee) (S. 99 ff.). 939 Siehe unten Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.). 940 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (S. 118 ff.).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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ihnen ebenfalls inhaltlich zuzustimmen. Dieser Schutzwürdigkeits-Zusammenhang gilt aber nicht exklusiv für die Bundesrepublik Deutschland, sondern grundsätzlich für alle Staaten, die im internationalen Steuerwettbewerb stehen – insbesondere für Entwicklungsländer.941 Man könnte auf Basis des Schutzwürdigkeits-Zusammenhangs auf die Idee kommen, Staaten mit unfairen Wettbewerbsmethoden generell die Stakeholder-Stellung abzusprechen. Dagegen spricht neben der schwierigen praktischen Umsetzbarkeit, dass die Absolutheit des Ausschlusses der Wettbewerbssituation nicht angemessen wäre. Aus demselben Grund ist eine grundsätzliche Vorrangstellung der Bundesrepublik Deutschland als Ursprungsland ebenso abzulehnen wie die europäischer Mitgliedstaaten. Ob sich die einzelnen Staaten fair verhalten oder nicht, können die Vorstände im Rahmen ihrer Gestaltungsentscheidung im konkreten Einzelfall beurteilen und damit gleichzeitig entscheiden, ob sie dieses Verhalten fördern oder ablehnen.942 Damit wird zugleich deutlich, inwiefern den OECD-Leitsätzen zu widersprechen ist, womit gleichzeitig die von Kort geforderte Behutsamkeit gewahrt wird. Von den Unternehmen zu fordern, die Steuergesetze stets nach dem Willen des Gesetzgebers auszulegen, den zu subsumierenden Sachverhalt passend zu gestalten und den sich daraus ergebenden „Fair Share“ zu leisten, kann kein verbindlicher Rechtssatz sein. Es mag für Leitsätze, die eine perfekte (Steuer-)Welt anstreben, legitim sein, als Handlungsmaxime für im Wettbewerb stehende Unternehmen taugt es dagegen nicht. Eine derartige Änderung des Aktiengesetzes verstieße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und wäre verfassungswidrig.943 Nach dem hier vertretenen Ansatz muss eine solche Auslegung den Unternehmen zwar möglich sein, allerdings nur als Ergebnis einer Ermessensentscheidung unter Einbeziehung sämtlicher Stakeholder-Interessen und nicht zuletzt in den Grenzen der dauerhaften Rentabilität. Unabhängig davon sind „Corporate Citizenship“, „Fair Share“, „Good Corporate Citizen“ und „Corporate Social Responsibility“ die Begriffe der internationalen Debatte über die soziale Verantwortung von Unternehmen – auch hinsichtlich Steuergestaltungen – und haben teilweise sogar Einzug in die Judikatur gehalten.944 Die wesentliche inhaltliche Neuerung ist das mit diesen einhergehende globalere Verständnis des Allgemeininteresses.945 Eine gegenwärtige 941
Auf empirischer Grundlage zur Schutzwürdigkeit der Entwicklungsländer siehe OECD, BEPS, Action 11, Final Report, S. 15. In der Literatur sind dieser Meinung unter anderem AviYonah, Just Say No: Corporate Taxation and Corporate Social Responsibility, S. 19; Hardeck/ Clemens, BB 2016, 918 (919); die Schutzwürdigkeit von „administrativ schwachen Entwicklungsländern“ zumindest für möglich haltend Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1099). 942 Auf die Ermittlung und Berücksichtigung der staatlichen Interessen wird noch eingegangen, siehe unten Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.). 943 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) aa) (S. 117 f.). 944 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. April 2015 – III-1 Ws 429/14, 1 Ws 429/14, ZInsO 2015, 2221 (2222). 945 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 88. Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) ee) (S. 99 ff.).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Auslegung des Allgemeininteresses sollte daher alle Gastländer einer Aktiengesellschaften als deren Stakeholder anerkennen. Dieses Verständnis passt auch zu der vom Grundgesetz vorgegebenen Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland als Normgeber des Aktiengesetzes. Ein Jahr bevor das Aktiengesetz verabschiedet wurde, prägte Klaus Vogel den Begriff der „offenen Staatlichkeit“ als Terminus für die „Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit“.946 Ausgehend von der Präambel mit der Zielvorgabe „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2, 23 – 26 GG die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.947 Zugleich kommt darin nach ganz überwiegender Auffassung die umfassende Entscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit der Staaten zum Ausdruck, die zugleich ein Neben- oder Gegeneinander unverbundener Nationalstaaten negiert.948 Vogel sieht darin zu Recht auch einen Gestaltungsauftrag an die wesentlichen Organe der Bundesrepublik949, der natürlich nicht vorbehaltlos gilt und insbesondere vom Verhalten anderer Staaten abhängt.950 Letzteres darf gerade vor dem Hintergrund aktuell populärer Protektionismusansätze nicht übersehen werden. Diese Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes zwingt somit in keiner Weise zu einer Auslegung des Allgemeininteresses, wonach Gastländer als Stakeholder anzusehen sind. Sie stützt diese aber. Damit stellt sich die Frage, wann ein Land Gastland ist. Die OECD-Leitlinien bleiben eine Definition des Begriffs Gastland schuldig. Sie stellen es bloß dem Ursprungsland gegenüber, das ebenfalls nicht näher definiert wird.951 Als Anknüpfungspunkt für die Stakeholder-Stellung der Gastländer kann aber erneut der Äquivalenzgedanke herangezogen werden. Gastland ist demnach jedes Land, in dem das Unternehmen öffentliche Infrastruktur etc.952 für die eigene Wertschöpfung nutzt.953 Danach wird der Vorstand einer Aktiengesellschaft jedenfalls jedes Land als ein Gastland ansehen müssen, in dem diese über einen Unternehmensstandort verfügt, wobei es auf die rechtliche Selbstständigkeit nicht ankommt. Nach dem Äquivalenzprinzip kann aber auch jede Warenlieferung oder Dienstleistung, bei der 946
Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit. 947 Calliess, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 Rn. 1 [Stand: Dezember 2016]. 948 Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, S. 41 ff.; Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 111 f. 949 Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, S. 44 ff. 950 Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, S. 48; zustimmend Schaper, Steuerstaat im Wettbewerb, S. 112. 951 OECD, OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2011), S. 16. 952 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 953 Zur Bedeutung des Äquivalenzprinzips verstanden als Nutzenprinzip im internationalen Steuerrecht siehe Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 44 f.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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die öffentliche Infrastruktur etc. eines Landes genutzt wird, die Stakeholder-Stellung des Landes begründen. Es kann letztlich auch keinen Unterschied machen, ob das Unternehmen Waren selbst zum Kunden liefert oder sich beispielsweise eines Paketdienstleisters bedient. Gastländer können demnach auch Länder sein, in denen bloß der Absatzmarkt ohne eigene Unternehmensrepräsentanz genutzt wird. Dies entspricht auch der immer weiter zunehmenden Bedeutung des E-Commerce.954 Um einen uferlosen Stakeholder-Begriff zu vermeiden und diesen angemessen zu präzisieren, ist auf eine vertragliche Beziehung des Unternehmens zu einer natürlichen oder juristischen Person in dem jeweiligen Land abzustellen. Erfasst sind danach beispielsweise die Länder, in denen Zulieferer des Unternehmens ansässig sind, aber nicht die Länder, in denen der Zulieferer des Zulieferers sitzt.955 Im Hinblick auf die Plicht zur Steuergestaltung ist dies auch deswegen zweckdienlich, weil nur in den unmittelbaren Beziehungen Steuern für das Unternehmen anfallen. Nicht Teil der Wertschöpfung sind dagegen die Unternehmenssteuern selbst. Der „Beitrag“ eines Landes zum nachsteuerlichen Gewinn des Unternehmens in Form niedriger Steuern ist keine Wertschöpfung. Die Körperschaftsteuer stellt auf den (bilanz-steuerrechtlichen) Gewinn des Unternehmens ab und die Gewerbesteuer belastet die Erträge eines Gewerbebetriebs. Allgemein gefasst partizipiert der Staat durch die Steuern am wirtschaftlichen Erfolg der Steuerpflichtigen.956 Steuern knüpfen damit letztlich an die Wertschöpfung des Unternehmens an, generieren diese aber nicht. Dies entspricht auch dem Verständnis der OECD und G20 im BEPSProjekt, das darauf abzielt, Gewinne dort zu besteuern, wo die Wertschöpfung und wirtschaftliche Aktivität stattfindet.957 c) Zwischenergebnis Zusammengefasst sind also sowohl die Bundesrepublik als Ursprungsland der Aktiengesellschaften als auch die einzelnen Gastländer einer Aktiengesellschaften deren Stakeholder. Ob ein Land Gastland eines Unternehmens und damit Stakeholder ist, kann im Einzelfall unter Zuhilfenahme des Äquivalenzgedankens ermittelt werden. Der Vorstand muss sich die Frage stellen: Trägt dieses Land mit seiner öffentlichen Infrastruktur etc. zur Wertschöpfung des Unternehmens bei? Ursprungsland und Gastländer werden im Folgenden unter dem Oberbegriff Tätigkeitsländer zusammengefasst. Bei der Berücksichtigung der Interessen der Tätigkeitsländer ist der Vorstand in den Grenzen seines Ermessens frei.
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Siehe dazu OECD, BEPS, Action 1, Final Report. Damit ist nichts über selbst auferlegte Compliance-Pflichten der Unternehmen hinsichtlich ihrer Zuliefererkette gesagt. 956 Siehe nur Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 1 Rn. 5. 957 OECD, Projekt Gewinnverku¨ rzung und Gewinnverlagerung – Erla¨ uterung, S. 4. 955
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
6. Die sonstigen Stakeholder der Aktiengesellschaft Es bleibt noch zu klären, ob der Vorstand neben Aktionären, Arbeitnehmern und Allgemeinheit noch weitere Stakeholder berücksichtigen muss bzw. ob der Begriff des Allgemeininteresses neben Öffentlichkeit und Tätigkeitsländern noch weitere Interessengruppen einschließt. Der Vorstand muss wissen, welche Stakeholder-Interessen er in seine Entscheidung einbeziehen muss. Diese Frage ist in der Literatur umstritten. Da die Stakeholder-Stellung der (Steuer-)Staaten vorliegend bereits begründet wurde, steht dieser Streit hier nicht im Mittelpunkt, sodass Darstellung und Stellungnahme in der gebotenen Kürze erfolgen. Im Wesentlichen lassen sich zwei Meinungsblöcke ausmachen. Einerseits wird ein „klassischer“ StakeholderBegriff vertreten, der nur Aktionäre, Arbeitnehmer und Allgemeinheit als Stakeholder bzw. für das Vorstandsermessen relevante Interessengruppen umfasst.958 Dies wird vor allem mit der historischen Entwicklung begründet.959 Andererseits wird ein „moderner“ Stakeholder-Begriff vertreten, wonach in Anlehnung an Freeman960 all jene Gruppen Stakeholder sind, die zur unternehmerischen Wertschöpfung beitragen.961 Die Rechtsprechung hat sich diesbezüglich noch nicht geäußert.962 Vorzug verdient der „moderne“ Stakeholder-Begriff. Zwar spricht die Gesetzesgeschichte eher gegen die Berücksichtigung weiterer Interessengruppen, allerdings ist es möglich, diese unter ein weit verstandenes Allgemeininteresse im Sinne Reischls zu subsumieren.963 Es wird einem Unternehmen kaum möglich sein auf Dauer zu bestehen, wenn die Unternehmensleitung bei ihren Entscheidungen nicht auch die Interessen von Gläubigern, Lieferanten und Kunden berücksichtigt.964 Beispielsweise sind die allermeisten Unternehmen für ihre Wertschöpfung ebenso auf Fremdkapital wie auf Lieferanten angewiesen; die Notwendigkeit von Kunden bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die Gegenauffassung muss deshalb all diese Interessengruppen mittelbar über das Aktionärsinteresse berücksichtigen. Der „moderne“ Stakeholder-Begriff entspricht auch der aktuellen Fassung von Ziffer 4.1.1 DCGK965, wonach das Unternehmensinteresse die „Belange der Aktionäre, 958 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 82 und 123; van Ooy/Oltmanns, in: Heidel, AktG, § 76 Rn. 8; wohl auch Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 84 ff. 959 Klöhn, ZGR 2008, 110 (134 ff.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 28. 960 Der Verweis auf Freeman findet sich auch bei Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 29. 961 Eckert, in: Wachter, AktG, § 76 Rn. 14 und 17; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 29, 44; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 23; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 21 f.; wohl auch Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 15 ff. 962 Nach der Interpretation des früheren Senatsmitglieds Henze erkennt der BGH aber jedenfalls die Gläubiger als Stakeholder an. Siehe Henze, BB 2000, 209 (212). 963 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) (S. 114 ff.). 964 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 38; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 19; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. 965 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) dd) (S. 94 ff.).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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seiner Arbeitnehmer und der sonstigen dem Unternehmen verbundenen Gruppen (Stakeholder)“ umfasst.966 Mit dieser Bestimmung gibt der Kodex nach eigenem Verständnis lediglich die Gesetzeslage wieder.967 Dieser Definition des Unternehmensinteresses durch den Kodex wird im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung zu Recht eine „gewisse Signalwirkung“ attestiert.968 Ein signifikant höheres Maß an Missbrauchsgefahr geht mit der Anerkennung weiterer Stakeholder ebenfalls nicht einher. Wie bereits zuvor aufgezeigt wurde, geht selbst der „klassische“ StakeholderBegriff unter Zugrundelegung einer interessenhierarchischen Zielkonzeption mit einem großen Prognose- und Beurteilungsspielraum des Vorstands einher,969 sodass der Prinzipal-Agent-Konflikt nicht nennenswert verschärft wird. Der „moderne“ Stakeholder-Begriff entspricht dem Willen des historischen Gesetzgebers auch insoweit, als er die Weisungsunabhängigkeit des Vorstands als professionalisierte Unternehmensleitung absichert.970 Er wird daher den nachfolgenden Ausführungen zugrunde gelegt. 7. Zwischenergebnis An dieser Stelle kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass der Vorstand einer Aktiengesellschaft, wenn er über Steuergestaltungen entscheidet, an den Maßstab der interessenpluralistische Zielkonzeption gebunden ist. Diese umfasst nach dem hier vertretenen Ansatz nicht nur die Aktionäre, Arbeitnehmer und die Allgemeinheit, sondern auch die (Steuer-)Staaten, Gläubiger und alle weiteren Interessengruppen, die zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen.
III. Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung Nachfolgend soll die Pflicht zur Steuergestaltung weiter konkretisiert werden. Zunächst soll zu diesem Zweck das steuerrechtliche Umfeld, in dem der Vorstand agiert (1.), skizziert werden. Vor diesem Hintergrund sollen die nach dem allgemeinen Maßstab der interessenpluralistischen Zielkonzeption zu berücksichtigenden Stakeholder-Interessen hinsichtlich Steuergestaltungen ermittelt werden, um daraus sich ergebende einzelne Vorstandspflichten abzuleiten (2.). Danach werden die Grenzen des Leitungsermessens nach der interessenpluralistischen Zielkonzeption dargestellt und hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung soweit, wie abstrakt966 Der „moderne“ Stakeholder-Begriff wird daher auch in den Kodex-Kommentaren vertreten, siehe Fuhrmann, in: Fuhrmann/Linnerz/Pohlmann, DCGK, Ziffer 4 Rn. 31; von Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, DCGK, Präambel Rn. 111; dies auch feststellend Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 67. 967 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) dd) (S. 94 ff.). 968 Hecker, BB 2009, 1654 (1655); Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 43a. 969 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.). 970 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
generell möglich, präzisiert (3.). Abschließend soll die Pflicht zur Steuergestaltung dann anhand der in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geregelten deutschen Business Judgment Rule (BJR) konkretisiert werden (4.). 1. Das steuerrechtliche Umfeld Die Pflicht zur Steuergestaltung kann nicht ohne Bezug zum steuerrechtlichen Umfeld, auf das sie sich bezieht und in dem der Vorstand steuerrelevante Sachverhalte gestaltet, konkretisiert werden. Steuerrechtler haben ihre Kritik am geltenden Steuerrecht in ganz verschiedene sprachliche Gewänder gekleidet. So heißt es im Vorwort der aktuellen Auflage des Tipke/Lang: „Die Steuerrechtsanwender leiden nach wie vor unter der hohen Komplexität des geltenden Steuerrechts.“971 Auch der Begriff des „Steuerchaos“972 erfreut sich immer noch großer Beliebtheit. Es ließen sich noch einige weitere Beispiele anbringen, wie Experten das Umfeld beschreiben, in dem Vorstand, Steuerabteilung und externe Berater tätig werden. Sie veranschaulichen jedoch alle das Gleiche: Steuergestaltung ist nicht selten mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten verbunden.973 Wertungsoffene, unklare, lückenhafte oder gar sich widersprechende Steuernormen können nicht nur Anknüpfungspunkte für Steuergestaltungen sein, sondern beeinträchtigen auch die Steuerplanungssicherheit.974 Die Komplexität wird durch das in fast alle Bereiche des Steuerrechts vordringende Europarecht weiter erhöht.975 Sofern die Gesetzesmaterialien ebenfalls keinen Aufschluss bieten und eine Klarstellung seitens der Finanzverwaltung fehlt, befindet sich der Vorstand auf unsicherem Terrain. Die Literatur wird regelmäßig mehrere Lösungen anbieten, was es nicht selten schwierig bis unmöglich macht, die spätere Auffassung von Finanzverwaltung und Rechtsprechung zu antizipieren.976 Wenn die Finanzverwaltung ihre Auffassung publiziert, werden dieser fast immer noch abweichende Literaturmeinungen gegenüberstehen und es besteht die Möglichkeit einer abweichenden Judikatur. Die Klärung der Rechtmäßigkeit einer Gestaltung durch die Rechtsprechung kann bis zu einem Jahrzehnt dauern.977 Nach Abschluss des Einspruchverfahrens führt der 971
Hey/Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Vorwort zur 22. Auflage. Geprägt hat diesen Begriff Tipke, StuW 1971, 2 (2); aus der aktuellen Literatur siehe exemplarisch Seer, Ubg 2012, 376. 973 Siehe dazu ausführlich Hey, Steuerplanungssicherheit, S. 63 ff. 974 Röthlisberger/Zitter, Der Schweizer Treuhänder 2005, 295 (297); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 47. 975 Hey/Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, Vorwort zur 22. Auflage. Den erheblichen Bedeutungszuwachs des Europarechts konstatiert auch Hüttemann, in: Bayer/Habersack, S. 1212 (1215). 976 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 47. 977 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (6); Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (63); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 47. 972
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Rechtsweg zum Finanzgericht sowie möglicherweise zum BFH, BVerfG und EuGH zuzüglich etwaiger Rückverweisungen. Eine weitere Wendung ist im Falle des Abwartens der Klärung durch die Finanzgerichtsbarkeit in vergleichbaren Fällen durch einen Nichtanwendungserlass möglich.978 Eine zeitliche Verzögerung entsteht außerdem durch die Verwaltungspraxis, Steuerbescheide für Aktiengesellschaften unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zu erteilen,979 was mit dem Risiko der Änderung nach einer späteren Außenprüfung einhergeht (§ 164 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 172 Abs. 2 Satz 1 AO). Auch die Beurteilung eines steuerrelevanten Sachverhalts im vorherigen Veranlagungs- bzw. Festsetzungsverfahren begründet grundsätzlich keinen Vertrauenstatbestand für die zukünftige Beurteilung durch die Finanzbehörde.980 Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie bei der Gewerbe- und Körperschaftsteuer das Prinzip der Abschnittsbesteuerung981 gilt.982 Zu den etwaigen Unsicherheiten im Hinblick auf die in Frage stehenden Steuernormen kommen die eine Wertung voraussetzende allgemeine Missbrauchsabwehrklausel des § 42 AO983 sowie unter Umständen spezielle Missbrauchsabwehrtatbestände984 hinzu. Regelmäßig tritt auch noch der Gesetzgeber auf den Plan – teilweise auch auf Raten der Finanzverwaltung – und wirkt durch rückwirkende Gesetze auf die Rechtmäßigkeit einer Steuergestaltung ein.985 Für multinationale Unternehmen erhöht sich die Komplexität durch die verschiedenen nationalen Steuerrechtsordnungen noch weiter. Hinzu kommen die weit über 200 Doppelbesteuerungsabkommen.986
978
Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (63). Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 233 ff. und 286. 980 BVerfG, Beschluss vom 28. Juni 1993 – 1 BvR 1346/89, HFR 1993, 544 (544); BFH, Beschluss vom 9. Dezember 2002 – I B 7/02, BFH/NV 2003, 630 (631); BFH, Urteil vom 14. Oktober 2009 – X R 37/07, BFH/NV 2010, 406 (408); Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19652 ff.). Siehe auch AEAO zu § 85 AO Nr. 2, BStBl. 2014 I, 290. 981 Für die Gewerbesteuer ergibt sich dies aus den §§ 10, 14 GewStG, fu¨ r die Körperschaftsteuer aus § 7 Abs. 3 KStG. 982 BVerfG, Beschluss vom 28. Juni 1993 – 1 BvR 1346/89, HFR 1993, 544 (544); BFH, Beschluss vom 9. Dezember 2002 – I B 7/02, BFH/NV 2003, 630 (631); BFH, Urteil vom 14. Oktober 2009 – X R 37/07, BFH/NV 2010, 406 (408); Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19652 ff.). 983 Zu den damit verbundenen Unsicherheiten besonders kritisch Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (62 f.). Er betitelt § 42 AO als „Giftschrank“ und wirft der Finanzverwaltung vor, diesen als „Drohkulisse“ zu verwenden. Siehe insgesamt dazu oben Kap. 1, B. III. (S. 34 ff.). 984 Siehe dazu Hey, in: DStJG 33 (2010), S. 139 (139 ff.). 985 Intemann, in: Koenig, AO, § 204 Rn. 2; Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (63); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 47. 986 Bundesministerium der Finanzen, Stand der Doppelbesteuerungsabkommen. 979
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Das wesentliche rechtliche Instrument der Unternehmen, um den Grad ihrer Planungssicherheit zu erhöhen, sind Zusagen der Verwaltung.987 Hier ist als Erstes988 die (gebührenpflichtige) verbindliche Auskunft (§ 89 Abs. 2 AO) zu nennen. Mit dieser können Unternehmen, bevor sie Dispositionen getroffen haben, also vor einer Gestaltung, Planungssicherheit erlangen.989 Eine verbindliche Auskunft kann schriftlich und neuerdings auch elektronisch beantragt werden.990 Gegenstand kann grundsätzlich jede steuerrechtliche Frage sein.991 Seit dem JStG 2007 ist sie gebührenpflichtig.992 Die Erteilung einer verbindlichen Auskunft ist an mehrere Voraussetzungen geknüpft, die sich aus § 89 Abs. 2 Satz 1, 4 AO i.V.m. der SteuerAuskunftsverordnung (StAuskV993 und dem AEAO zu § 89 AO ergeben und gleichzeitig das behördliche Entschließungsermessen einschränken.994 Danach darf der Sachverhalt insbesondere noch nicht verwirklicht sein und muss im Antrag umfassend und abschließend dargestellt werden (§ 89 Abs. 2 Satz 1, 4 AO i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAuskV). Der Antragsteller muss ein besonderes Interesse (Dispositionsinteresse) an der verbindlichen Auskunft vor dem Hintergrund der erheblichen steuerlichen Auswirkungen geltend machen (§ 89 Abs. 2 Satz 1, 4 AO i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAuskV). Des Weiteren muss das Rechtsproblem im Antrag ausführlich dargelegt und die eigene Rechtsauffassung eingehend begründet werden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAuskV). Schließlich muss eine konkrete Rechtsfrage gestellt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAuskV).995 Die Finanzbehörde soll dabei in den Stand versetzt werden, über das Rechtsproblem zu entscheiden, dagegen ist die inhaltliche Vorbereitung Sache des Antragstellers.996 Nach dem AEAO zu § 89 AO, Nr. 3.5.4 kann die Finanzbehörde eine verbindliche Auskunft ablehnen, falls in absehbarer Zeit eine gesetzliche Regelung, eine höchstrichterliche Entscheidung oder eine Verwaltungsanweisung zu erwarten sind.997 Des 987
Intemann, in: Koenig, AO, § 204 Rn. 2; Jochum, ZRP 2015, 115 (117). So auch die Einschätzung von Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19652); Hannig, NWB 2015, 2166 (2169). 989 Hannig, NWB 2015, 2166 (2169). 990 Siehe § 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung von § 89 Abs. 2 der Abgabenordnung (Steuer-Auskunftsverordnung), BGBl. 2007 I, 2783 (im Folgenden: StAuskV). Die letzte Änderung erfolgte durch Artikel 8 der Verordnung vom 18. Juli 2016, BGBl. 2016 I, 1722. 991 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 18. 992 Zum Verzicht aus Billigkeitsgründen bei negativer Auskunft siehe BFH, Urteil vom 5. Februar 2014 – I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014 (1016). 993 StAuskV, BGBl. 2007 I, 2783.; siehe auch AEAO zu § 89 AO Nr. 3.4 ff., BStBl. 2014 I, 290. 994 Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 16. 995 Zu den weiteren Voraussetzungen siehe § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 6 und 7, Abs. 2 und 3 StAuskV. 996 Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19655). 997 Kritisch und für eine einschränkende Anwendung Seer, in: StbJb 2012/2013, S. 557 (567 f.). 988
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Weiteren soll eine verbindliche Auskunft nicht erteilt werden, wenn sie primär dazu dient, einen Steuervorteil zu erzielen; Beispiele sind die Pru¨ fung von Steuersparmodellen oder die Feststellung der Grenzpunkte fu¨ r das Handeln eines ordentlichen Gescha¨ ftsleiters (AEAO zu § 89 AO, Nr. 3.5.4).998 Häufige Ablehnungsgründe sind in der Praxis unter anderem die Schilderung eines bereits realisierten Sachverhalts sowie die Vorlage verschiedener Sachverhaltsalternativen.999 Die verbindliche Auskunft ist für die Finanzbehörde bindend, wenn der später verwirklichte Sachverhalt von dem der Auskunft zugrunde gelegten Sachverhalt nicht oder nur unwesentlich abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StAuskV). Dazu müssen sich grundsätzlich Sachverhaltsannahmen ändern, die sich auf die zugesagte Steuerfolge auswirken.1000 Eine verbindliche Auskunft kann nach den allgemeinen Regeln der §§ 129 – 131 AO und darüber hinaus im Falle ihrer Unrichtigkeit mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben oder geändert werden (§ 2 Abs. 3 StAuskV). Im letzteren Fall wird der Vertrauensschutz nach Auffassung der Finanzverwaltung durch die bloß zukunftsbezogene Aufhebung gewahrt (AEAO zu § 89 AO, Nr. 3.6.6). Unrichtigkeit bedeutet zum einen Rechtswidrigkeit zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der verbindlichen Auskunft, zum anderen aber auch Unvereinbarkeit mit einer später ergangenen abweichenden Verwaltungsanweisung (AEAO zu § 89 AO, Nr. 3.6.6). Im Fall einer später abweichenden Verwaltungsanweisung gilt, ebenso wie bei einer abweichenden Rechtsprechung eines FG oder des BFH, die verbindliche Auskunft als von Anfang an unrichtig (AEAO zu § 89 AO, Nr. 3.6.6). Insgesamt ist der Gewinn an Planungssicherheit durch verbindliche Auskünfte damit für die Unternehmen von entscheidender Bedeutung, aber gleichzeitig auch begrenzt. Die Finanzverwaltung schränkt ihr Entschließungsermessen zwar selbst ein, jedoch genügt der begründete Hinweis auf das primäre Ziel der Steuervermeidung oder auf eine kommende Änderung der Rechtslage, höchstrichterliche Entscheidung oder Verwaltungsanweisung, um sich der Auskunft zu entziehen. Der Antragssteller ist dann letztlich gezwungen, Einspruch einzulegen und gegebenenfalls Verpflichtungsklage auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft zu erheben – mit offenem Ausgang.1001 Wenn der Antragsteller dagegen eine verbindliche Auskunft erhält, diese aber seiner Rechtsauffassung zuwiderläuft, bleibt nach negativ beschiedenem Einspruch 998
Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 16. Systematisch ergebe sich die Zulässigkeit der Auskunft zur Erzielung von Steuervorteilen aus § 178a AO, der die Erteilung zur Verrechnungspreisgestaltung im Konzern ausdrücklich zulasse. Bei verdeckten Gewinnausschüttungen und verdeckten Einlagen ginge es außerdem primär um Entscheidungs- und Planungssicherheit. Teilweise zustimmend Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 18. 999 Hannig, NWB 2015, 2166 (2169). 1000 Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19658); Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 89 AO Rn. 50 f. [Stand: Januar 2017]. 1001 Hannig, NWB 2015, 2166 (2169); Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 27.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
wiederum nur die Klage.1002 Hier trägt der BFH in nunmehr gefestigter Rechtsprechung zur Aufrechterhaltung der Unsicherheit bei, indem er die Prüfungskompetenz der Finanzgerichte auf eine Evidenzkontrolle hinsichtlich Schlüssigkeit und Rechtmäßigkeit der erteilten verbindlichen Auskunft beschränkt.1003 Dies soll die Verlagerung des materiellen Rechtsstreits vom Festsetzungsverfahren ins Auskunftsverfahren verhindern.1004 Ausreichend sei, dass der Steuerpflichtige aufgrund der verbindlichen Auskunft einschätzen könne, ob er im Fall der Gestaltung den Rechtsweg beschreiten muss.1005 Dem tritt die herrschende Meinung in der Literatur unter Verweis auf das berechtigte Interesse des Steuerpflichtigen an Steuerplanungssicherheit – zu Recht – entgegen.1006 Für die Unternehmen bleibt dies ohne Tätigwerden des Gesetzgebers1007 freilich ohne praktische Konsequenzen. Auch im Fall einer positiven Auskunft bleibt eine gewisse Unsicherheit bestehen. Sofern es später zum Streit über die Reichweite der Bindungswirkung kommt, hat der BFH entschieden, dass die Finanzbehörde nicht über die gestellte Rechtsfrage hinaus andere sich aus dem Sachverhalt ergebende Rechtsfragen ermitteln oder gar beantworten muss, sofern die gestellte Rechtsfrage sinnvoll beantwortet werden kann.1008 Der BFH kommt zu diesem Ergebnis, indem er den Inhalt der verbindlichen Auskunft nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB aus der Sicht eines objektiven Dritten auslegt.1009 Dies schließt es aus, über die gemachten Ausführungen in einer verbindlichen Auskunft hinaus, weitere Bindungswirkungen aus dieser abzuleiten.1010 Für die Praxis folgt daraus, die Rechtsfrage(n) soweit wie möglich formulieren.1011 Weitere Unsicherheit schafft die Möglichkeit der Aufhebung bei Unrichtigkeit, was nicht zuletzt in der weiten Definition durch die Finanzverwaltung begründet liegt. Sofern der Sachverhalt nicht im Wesentlichen verwirklicht ist, kommt es im Einzelfall darauf an, ob die Finanzbehörde ihr Ermessen zugunsten oder zulasten des Unternehmens ausübt, wobei die Ermessensgrenzen nicht überschritten werden dürfen.1012 Für gewisse Unsicherheit sorgt auch 1002
Hannig, NWB 2015, 2166 (2169); Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 27. BFH, Urteil vom 29. Februar 2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 (652 f.); BFH, Urteil vom 5. Februar 2014 – I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014 (1014 ff.); BFH, Urteil vom 27. Februar 2014 – VI R 23/13, BStBl. II 2014, 894 (895 f.). 1004 Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 19. 1005 BFH, Urteil vom 29. Februar 2012 – IX R 11/11, BStBl. II 2012, 651 (653); BFH, Urteil vom 5. Februar 2014 – I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014 (1014 ff.). 1006 Hannig, NWB 2015, 2166 (2170); Joisten/Bergmann, FR 2014, 923 (928); Krumm, DStR 2011, 2429 (2434 f.); Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 19; Thieme, DStR 2014, 1093 (1094 ff.); Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1687 f.). 1007 Dieses fordernd Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1689). 1008 BFH, Urteil vom 18. Dezember 2014 – IV R 22/12, BStBl. II 2015, 606 (607 f.). 1009 BFH, Urteil vom 18. Dezember 2014 – IV R 22/12, BStBl. II 2015, 606 (607 f.). 1010 Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19659); Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1690). 1011 Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19659); Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1690). 1012 BFH, Urteil vom 2. September 2010 – VI R 3/09, BStBl. II 2011, 233 (235). 1003
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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die gefestigte Rechtsprechung des BFH, nach der eine verbindliche Auskunft grundsätzlich nur dann bindend ist, wenn sie entweder vom Vorsteher der Finanzbehörde oder vom im Zeitpunkt der Auskunftserteilung für das spätere Verwaltungsverfahren zuständigen Beamten getroffen wurde.1013 Aufgrund der Intransparenz der behördlichen Geschäftsverteilung für den außenstehenden Steuerpflichtigen wird diese Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit – zu Recht – kritisiert.1014 Neben der allgemeinen verbindlichen Auskunft gibt es noch die speziell geregelte verbindliche Zusage nach einer Außenprüfung über die zukünftige steuerrechtliche Behandlung eines im Rahmen der Außenprüfung für die Vergangenheit geprüften Sachverhalts (vgl. §§ 204 ff. AO) und die Lohnsteueranrufungsauskunft (§ 42e EStG). Der Antrag auf Erteilung einer verbindlichen Zusage nach einer Außenprüfung muss im zeitlichen Konnex zur Prüfung stehen.1015 Da die Finanzbehörde einen Antrag nach abgeschlossener Außenprüfung ablehnen soll, falls die Zusage weitere erhebliche Prüfungshandlungen erfordert (AEAO zu § 204 Nr. 3), empfiehlt es sich für die Unternehmen, den Antrag schon während der Außenprüfung zu stellen.1016 Darüber hinaus darf die Finanzbehörde eine Zusage bei Vorliegen der Voraussetzungen aufgrund der „Soll-Bestimmung“ des § 204 AO nur in Ausnahmefällen verweigern. Die Ablehnungsgründe entsprechen im Wesentlichen denen der verbindlichen Auskunft (vgl. AEAO zu § 204, Nr. 5) und damit auch die verbleibenden Unsicherheiten.1017 Voraussetzung einer Zusage ist neben der erfolgten Prüfung insbesondere die Darstellung des Sachverhalts im Abschlussbericht (§ 204 AO). Zur Bindungswirkung gelten die Ausführungen zur verbindlichen Auskunft entsprechend (vgl. § 206 AO). Das Außerkrafttreten sowie die Aufhebung und Änderung der Bindungswirkung sind in § 207 AO geregelt. Eine Aufhebung oder Änderung kann hier jenseits von § 130 AO für die Zukunft erfolgen (§ 207 Abs. 2 AO). Insoweit können sich für noch nicht abgeschlossene Sachverhalte bzw. offene Verfahren dieselben Unsicherheiten bezüglich der Ermessensausübung ergeben wie bei der verbindlichen Auskunft. Die gerichtliche Überprüfung einer erteilten Zusage ist auch hier auf Evidenz und Schlüssigkeit beschränkt.1018 Im Ergebnis kann die Zusage nach einer Außenprüfung damit die Steuerplanungssicherheit des Unternehmens erhöhen. Es bleiben aber auch im Wesentlichen die gleichen Unsicherheiten wie bei der verbindlichen Auskunft bestehen. Sofern Unternehmen
1013 BFH, Urteil vom 13. Dezember 1989 – X R 208/87, BStBl. 1990, 274 (275 f.); BFH, Urteil vom 31. März 2004 – I R 71/03, BStBl. II 2004, 742 (746); BFH, Urteil vom 2. September 2010 – VI R 3/09, BStBl. II 2011, 233 (808). 1014 Siehe dazu Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 17. 1015 BFH, Urteil vom 13. Dezember 1995 – XI R 43 – 45/89, BStBl. II 1996, 232 (236). 1016 Rüsken, in: Klein, AO, § 204 Rn. 6. 1017 Vgl. Rüsken, in: Klein, AO, § 204 Rn. 7. 1018 Intemann, in: Koenig, AO, § 204 Rn. 58.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
zwischen einer verbindlichen Auskunft oder Zusage wählen können, verdient die gebührenfreie verbindliche Zusage den Vorzug.1019 Schließlich sind sämtliche Auskünfte und Zusagen unverbindlich, welche die Finanzverwaltung außerhalb des formalen Verfahrens der verbindlichen Auskunft bzw. der Zusage erteilt.1020 Diesen Wissenserklärungen fehlt es in der Regel am Bindungswillen und zwar unabhängig von der Form, in der sie abgegeben werden.1021 Ein Bindungswille kann nur ausnahmsweise im Wege der Auslegung aus Treu und Glauben abgeleitet werden,1022 insbesondere wenn die Finanzverwaltung neben der Auskunft einen Vertrauenstatbestand begründet hat.1023 Die Ableitung eines Bindungswillens aus Treu und Glauben setzt stets eine Vertrauensbetätigung in Form von Dispositionen des Steuerpflichtigen voraus.1024 Für Unternehmen besonders relevant sind auch Vorabverständigungsvereinbarungen (sog. Advance Pricing Agreements (APAs)) bezüglich zukünftiger konzerninterner Verrechnungspreise bei grenzüberschreitenden Sachverhalten.1025 Konzerninterne Verrechnungspreise können zur Steuergestaltung verwendet werden, indem beispielsweise über geringe Preise der Gewinn in einem Niedrigsteuerland erhöht wird oder – umgekehrt – über hohe Preise in einem Hochsteuerland gemindert wird.1026 Aus Sicht des steuerpflichtigen Unternehmens stellen Verrechnungspreise nicht nur eine Möglichkeit zur Steuergestaltung dar, sondern auch ein erhebliches Risiko, weil die Finanzbehörden eines betroffenen Landes sie wegen Unangemessenheit ablehnen können.1027 Das anerkannte Instrument zur Beurteilung der Angemessenheit von Verrechnungspreisen ist der Fremdvergleichsgrundsatz.1028 Mit diesem gehen aber große Beurteilungsspielräume und damit zugleich Unsicherheiten
1019
Hannig, NWB 2015, 2166 (2171); Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 15. BFH, Urteil vom 30. März 2011 – XI R 30/09, BStBl. II 2011, 613 (613 ff.); Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19653); Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 89 AO Rn. 13 ff. [Stand: Januar 2017]. 1021 Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19653). 1022 BFH, Urteil vom 29. April 2008 – VIII R 75/05, BStBl. II 2008, 817 (817 ff.); BFH, Urteil vom 14. Januar 2010 – IV R 86/06, BFH/NV 2010, 1096 (1098); Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19653 f.); Rüsken, in: Klein, AO, § 204 Rn. 4a. 1023 BFH, Urteil vom 14. Januar 2010 – IV R 86/06, BFH/NV 2010, 1096 (1098); Bodden, KÖSDI 2016, 19652 (19653). 1024 BFH, Urteil vom 11. Dezember 1987 – III R 168/86, BStBl. II 1988, 232 (233); BFH, Urteil vom 31. März 2004 – I R 71/03, BStBl. II 2004, 742 (746); BFH, Urteil vom 22. Juli 2008 – IX R 74/06, BStBl. II 2009, 124 (125); Rüsken, in: Klein, AO, § 204 Rn. 4a. 1025 Jochum, ZRP 2015, 115 (117 f.); Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 328; Rüsken, in: Klein, AO, § 178 Rn. 1; siehe insgesamt dazu Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594. 1026 Jochum, ZRP 2015, 115 (116). 1027 Jochum, ZRP 2015, 115 (117). 1028 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 3.4. 1020
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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einher.1029 Es existieren allein fünf anerkannte Berechnungsmethoden.1030 Außerdem müssen für die Berechnung Funktion, Risiko, Allokation der Wertschöpfung sowie Synergie- und Skaleneffekte bewertet werden.1031 Bei unternehmensspezifischen Transaktionen fehlt es zudem regelmäßig an passenden Fremdvergleichsdaten.1032 Die damit vorprogrammierten Unstimmigkeiten zwischen Unternehmen und den verschiedenen Finanzverwaltungen können vor allem durch bi- und multilaterale APAs gelöst werden.1033 Dagegen setzen einzelne Länder unilaterale APAs gezielt als Instrument im Steuerwettbewerb ein, wie die Beihilfeverfahren gegen Belgien, Irland, Luxemburg und die Niederlande zeigen.1034 Dies ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie das Europarecht auch den Bereich der direkten Steuern erfasst. Die Kommission hält das Verfahrensinstrument der APAs grundsätzlich für zulässig.1035 Sobald die Kommission allerdings ein förmliches Prüfverfahren eröffnet, ist die Anwendung eines betroffenen APA nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV bis zum Abschluss der Untersuchung suspendiert.1036 Wenn die Kommission einen Verstoß gegen das Beihilfeverbot feststellt, wird sie in aller Regel vom Mitgliedsstaat fordern, die gewährte Beihilfe zurückzuverlangen (Art. 14 EU-Beihilfeverfahrensverordnung1037). Aufgrund des „effet utile“ steht die Bestandskraft oder Verjährung nach nationalem
1029 Jochum, ZRP 2015, 115 (116); siehe ausführlich dazu Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (338 ff.). 1030 Ditz, in: Schönfeld/Ditz, DBA, Art. 9 Rn. 61 ff.; Jochum, ZRP 2015, 115 (116). 1031 Jochum, ZRP 2015, 115 (116); Linn, IStR 2015, 114 (116). 1032 Jochum, ZRP 2015, 115 (116); dies klingt auch an in Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 3.4. Inwiefern sich dies durch den zukünftigen Informationsaustauch ändert, bleibt abzuwarten. Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (3) (S. 144 ff.). 1033 Jochum, ZRP 2015, 115 (117 f.); Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (350 ff.). 1034 Jochum, ZRP 2015, 115 (117); Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1692 f.). Zu den Verfahren siehe Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 1035 Mitteilung der Kommission vom 10. Dezember 1998, Mitteilung der Kommission u¨ ber die Anwendung der Vorschriften u¨ ber staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmenssteuerung, (1998) 98/C 384/03 (im Folgenden: Mitteilung der Kommission vom 10. Dezember 1998, 98/C 384/03). Dies gilt ebenfalls für die verbindliche Auskunft, so zutreffend Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1693); Europäische Kommission, SA.37667. 1036 Zum Durchführungsverbot und den diesbezüglichen Pflichten der nationalen Gerichte, siehe EuGH, Urteil vom 21. November 1991 – C-345/90, Slg. 1991, I-5505 (Rn. 12); EuGH, Urteil vom 11. Juli 1996 – C-39/94, Slg. 1996, I-3547 (Rn. 38 ff.); EuGH, Urteil vom 21. November 2013 – C-284/12, EuZW 2014, 65 (66 – Rn. 24 ff.). 1037 Verordnung 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Abl. Nr. L 83 vom 27. März 1999, S. 1 (im Folgenden: EU-Beihilfeverfahrensverordnung).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Recht dem nicht entgegen.1038 Ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen hat der EuGH bisher nur anerkannt, wenn der Vertrauenstatbestand von Unionsorganen geschaffen wurde;1039 nicht aber bei Zusagen von nationalen Behörden.1040 Damit bleibt die Frage der Schutzwürdigkeit des betroffenen Unternehmens dem Einzelfall vorbehalten und ist folglich mit einem erheblichen Risiko behaftet.1041 Neben dem Risiko der Europarechtswidrigkeit bergen unilaterale APAs zudem das Risiko der Doppelbesteuerung, falls eine nicht einbezogene Finanzbehörde die Gestaltung ablehnt.1042 Das deutsche Verfahrensrecht bietet Unternehmen hier vor allem die Möglichkeit, eine bi- oder multilaterale Vorabverständigung zu beantragen1043 (vgl. die spezielle Gebührenregelung des § 178a AO).1044 Dabei wird in einem ersten Schritt von den Finanzverwaltungen der betroffenen Staaten ein völkerrechtlicher Vertrag geschlossen.1045 Im zweiten Schritt ergeht dann eine verbindliche Vorabzusage an das Unternehmen.1046 Das Verfahren wird teilweise als „außerordentlich kompliziert konzipiert“ tituliert.1047 Die Unternehmen treffen dabei erhebliche Mitwirkungspflichten, insbesondere sind sie verpflichtet die relevanten Tatsachen vollumfänglich offenzulegen, was die Vorlage zahlreicher Unterlagen beinhaltet, und die von ihnen vorgeschlagene Verrechnungspreismethode ausführlich zu begründen.1048 Für KMU
1038 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1989 – 94/87, Slg. 1989, 175 (Rn. 12); EuGH, Urteil vom 20. März 1997 – C-24/95, Slg. 1997, I-1591 (Rn. 42); EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2006 – C-232/05, Slg. 2006, I-10071 (Rn. 49). 1039 EuGH, Urteil vom 11. November 2004 – C-183/02 P und C-187/02 P, Slg. 2004, I-10609 (Rn. 45); EuGH, Urteil vom 22. Juni 2006 – C-182/03 und C-217/03, Slg. 2006, I-5479 (8. Leitsatz und Rn. 147). 1040 EuGH, Urteil vom 20. März 1997 – C-24/95, Slg. 1997, I-1591 (Rn. 39 ff.); EuGH, Urteil vom 11. November 2004 – C-183/02 P und C-187/02 P, Slg. 2004, I-10609 (Rn. 44 f.); EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 – C-81/10 P, Slg. 2011, I-12899 (Rn. 60). 1041 Linn, IStR 2015, 114 (115); Werder/Dannecker, BB 2015, 1687 (1693). 1042 Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 321. 1043 Zu den Antragsvoraussetzungen siehe im Einzelnen Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 2.3 ff. Den Aufwand für die Unternehmen verdeutlicht exemplarisch die nicht abschließende Liste der vorzulegenden Unterlagen unter Tz. 3.5. 1044 Der Vorrang von bi- oder multilateralen vor unilateralen APAs ergibt sich aus Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 1.2. 1045 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 15; Rüsken, in: Klein, AO, § 178 Rn. 1; Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (351). 1046 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 1.2 und 5.1; Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rn. 15; Rüsken, in: Klein, AO, § 178 Rn. 1; dagegen sieht Seer darin einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (351 ff.). 1047 Kramer, IStR 2007, 174 (177). 1048 Zu den Mitwirkungspflichten im Rahmen des Antrags sowie während und nach Abschluss des Verfahrens siehe Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 1.3, 3.1 ff., 4.2, 6.1 ff.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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gibt es ein vereinfachtes Verfahren, durch das der Umfang der vorzulegenden Unterlagen und der Begründungsaufwand reduziert wird.1049 Eine erteilte Vorabzusage bindet nur die Finanzbehörde nicht aber den Steuerpflichtigen, der jedoch für den Gegenstand des APA im Vorhinein auf sein Einspruchsrecht verzichten (vgl. § 354 Abs. 1a AO) und dem völkerrechtlichen Verwaltungsabkommen zustimmen muss.1050 Die Gültigkeitsdauer des APA wird ausdrücklich bestimmt und beträgt in der Regel drei bis fünf Jahre.1051 Darüber hinaus ist die Gültigkeit des APA auch von schriftlich aufzunehmenden Gültigkeitsbedingungen (Critical Assumptions) abhängig,1052 darunter fallen beispielsweise gleichbleibende Verkaufspreise und Marktanteile aber auch ein gleichbleibendes steuerrechtliches Umfeld in den anderen Vertragsstaaten.1053 Für die Verlängerung ist bei gleichbleibendem Sachverhalt ein vereinfachtes Verfahren vorgesehen (vgl. auch § 178a Abs. 2 Satz 2 AO).1054 Zwar besteht auch bei bi- oder multilateralen APAs die Möglichkeit eines Beihilfeverstoßes, da sich die betroffenen Staaten allerdings letztlich über die Verteilung des Steuersubstrates einigen müssen, eignet sich die Vorabzusage hier kaum zum unfairen Steuerwettbewerb. Das Risiko eines Beihilfeverstoßes ist ebenso wie das Risiko der Doppelbesteuerung deshalb erheblich reduziert und die Planungssicherheit der Unternehmen erhöht.1055 Da die deutsche Finanzverwaltung bezüglich der im Rahmen der Vorabverständigung erlangten Informationen keinem Verwertungsverbot unterliegt, kann es allerdings sinnvoll sein, von der Möglichkeit eines anonymen Vorgesprächs vor Antragstellung Gebrauch zu machen.1056 Nachteile des Vorabverständigungsverfahrens sind sicherlich die nicht geringen Gebühren sowie 1049
Tz. 8.
Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594,
1050 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 4.5 f. Anders verhält es sich nach Auffassung der Finanzverwaltung, wenn das Unternehmen den zugrunde gelegten Sachverhalt tatsächlich realisiert hat, siehe Tz. 6.4; gegen eine Bindung Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 376 f. Zu verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich des Einspruchverzichts siehe dort Art. 25 Rn. 377; dagegen hält Seer den gegenständlich-begrenzten Einspruchsverzicht für verfassungsgemäß, Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (352 f.). 1051 Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 340. 1052 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 3.7 und 6.5.2; zustimmend Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 340. 1053 Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 340; eine nicht abschließende Aufzählung benennt das Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 3.7. 1054 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 7.4; Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 340. 1055 So auch die Einschätzung von Jochum, ZRP 2015, 115 (117); Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 329; Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (351). 1056 Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 334; zu dieser Möglichkeit siehe Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 5. Oktober 2006, BStBl. I 2006, 594, Tz. 2.2.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
der damit verbundene Personalaufwand und die mitunter lange Verfahrensdauer.1057 Die Alternative besteht darin, die nachgelagerte Überprüfung gezahlter Verrechnungspreise abzuwarten, was auf Kosten der Planungssicherheit geht und die Gefahr der Doppelbesteuerung mit sich bringt.1058 Abhilfe kann dann, muss aber nicht, ein Verständigungsverfahren und bei negativem Ausgang, falls im DBA vorgesehen, ein internationales Schiedsverfahren schaffen.1059 Abschließend ist noch kurz auf das Institut der tatsächlichen Verständigung einzugehen. Dies kann allerdings in seiner aktuellen Ausformung durch Rechtsprechung1060 und Verwaltung1061 zur Steuerplanungssicherheit der Unternehmen wenig beitragen, da es im Gegensatz zu behördlichen Zusagen ausschließlich auf bereits verwirklichte Sachverhalte gerichtet ist.1062 Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn der in der Verständigung bestimmte Sachverhalt sich auch in die Zukunft auswirkt, die tatsächlichen Verhältnisse gleich bleiben und der Bindungswille sich darauf erstreckt.1063 In diesem Fall bindet die tatsächliche Auskunft beide Seiten insoweit für die Zukunft.1064 Die Entwicklung des Instituts durch die Rechtsprechung verdeutlicht zudem erneut das Bedürfnis der Praxis, insbesondere aus der Komplexität des Steuerrechts erwachsende Unsicherheiten, durch kooperative Verfahren zu lösen.1065 Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Vorstand, Steuerabteilung und externer Berater sind teilweise mit erheblichen Planungsunsicherheiten konfrontiert, die sie vor allem durch die Rechtsinstitute der verbindlichen Auskunft, der verbindlichen Zusage nach einer Außenprüfung und Vorabverständigungsvereinbarungen reduzieren können. Diese Möglichkeiten sind aber beschränkt, sodass vor der Realisierung einer Gestaltung nicht selten erhebliche Unsicherheiten verbleiben werden. Insoweit ist nicht zuletzt von Bedeutung, dass eine verbindliche Auskunft in Fällen, die lediglich darauf abzielen, einen Steuervorteil zu erlangen, nicht erteilt werden soll. Des 1057
(353). 1058
Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 330; Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337
Kramer, IStR 2007, 174 (177); Seer, in: DStJG 36 (2013), S. 337 (353). Kramer, IStR 2007, 174 (177). 1060 BFH, Urteil vom 11. Dezember 1984 – VIII R 131/76, BStBl. II 1985, 354; BFH, Urteil vom 31. Juli 1996 – XI R 78/95, BStBl. II 1996, 625; BFH, Urteil vom 28. Juni 2001 – IV R 40/ 00, BStBl. II 2001, 714. 1061 Siehe dazu insgesamt Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 30. Juli 2008, BStBl. I 2008, 831. 1062 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 30. Juli 2008, BStBl. I 2008, 831, Tz. 4.2; Hannig, NWB 2015, 2166 (2172); Intemann, in: Koenig, AO, § 204 Rn. 4; Rüsken, in: Klein, AO, § 204 Rn. 1. 1063 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 30. Juli 2008, BStBl. I 2008, 831, Tz. 4.2. 1064 Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 30. Juli 2008, BStBl. I 2008, 831, Tz. 4.2. 1065 Hannig, NWB 2015, 2166 (2173); Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 21 Rn. 20. 1059
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Weiteren ist jegliche Form der behördlichen Zusage hinfällig, wenn die EU-Kommission einen Beihilfeverstoß feststellt – vorbehaltlich einer Prüfung durch den EuGH. 2. Die Interessen der verschiedenen Stakeholder im Hinblick auf die Steuergestaltung und sich daraus ergebende Vorstandspflichten Vor dem Hintergrund des skizzierten steuerrechtlichen Umfelds sollen im Folgenden die Interessen der einzelnen Stakeholder im Hinblick auf die Steuergestaltung ermittelt und daraus Pflichten des Vorstands abgeleitet werden. Als Erstes wird das Interesse der Shareholder untersucht (a)), darauf folgen die Interessen der (Steuer-)Staaten (b)) und schließlich die Interessen der sonstigen Stakeholder (c)). a) Das Interesse der Shareholder Das generalisierte Aktionärsinteresse wird in der Literatur einheitlich in einem dauerhaft höchstmöglichen Gewinn gesehen, der sich wiederum in Form von Dividenden und Kursgewinnen für diese auszahlen soll.1066 Da dies erheblich von der Steuerlast des Unternehmens abhängt, besteht das Aktionärsinteresse grundsätzlich in einem höchstmöglichen Gewinn nach Steuern.1067 Steuern stellen sich bezogen auf den Gewinn des Unternehmens als Kosten dar.1068 Gestaltungen, um diese Kosten zu senken, liegen damit im Aktionärsinteresse.1069 Gibt es beispielweise bei einer überwiegend betrieblich motivierten Gestaltung1070 mehrere Gestaltungsoptionen und sind diese mit unterschiedlichen Steuerlasten verbunden, spricht das Aktio1066
Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 37 f.; Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (919); Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (14); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46); Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 22. Dies gilt unabhängig von dem Diskurs über Marktwert bzw. Gewinnmaximierung, dazu siehe oben Kap. 2, B. II. 1. (S. 50 ff.). 1067 Bereits 2001 vor dem Hintergrund des österreichischen Aktienrechts Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (605 ff.). Er vertritt dabei einen Stakeholder-Ansatz, bei dem allerdings die dauerhafte Gewinnmaximierung als Gesellschaftsziel im Vordergrund steht und der Staat kein Stakeholder ist, siehe insbesondere S. 609; Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (14); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 f.); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 46. 1068 Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (608 f.); Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (14); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 46. 1069 Breuninger, DB 2015, Nr. 13, 5 (5); Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (605 ff.); Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (188 – Fn. 9, 192); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 f.); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46 f.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 46. 1070 Zum Begriff siehe oben Kap. 1, B. V. (S. 40).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
närsinteresse grundsätzlich dafür, die steuerlich vorteilhafteste zu realisieren.1071 Ein Beispiel für eine überwiegend betrieblich motivierte Gestaltung ist die Verlagerung der Produktion in ein Niedriglohnland, um die betrieblichen Lohnkosten zu senken.1072 Nicht nur überwiegend betrieblich, sondern auch über überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen liegen grundsätzlich im Aktionärsinteresse, wenn sie wahrscheinlich zu einem höheren Gewinn nach Steuern führen.1073 Der Einwand, „anständige“ Aktionäre wollten jedenfalls keine überwiegend steuerrechtlichen motivierten Gestaltungen, widerspricht nicht nur der einhelligen Auffassung der Literatur, sondern ist auch empirisch nicht belegbar.1074 Des Weiteren wird geltend gemacht, Steuern müssten von den Unternehmen deswegen als besondere Kosten behandelt werden, weil man den Wettbewerbsvorteil durch eine Steuergestaltung schnell an die Konkurrenz verlieren könne, weshalb ein Wettbewerb der Steuergestalter nicht im Aktionärsinteresse sei.1075 Selbst wenn dies zuträfe, hilft es dem Vorstand eines Unternehmens, das sich aktuell in eben diesem Wettbewerb befindet, bei seinen Entscheidungen letztlich nicht weiter. Ausgehend vom Aktionärsinteresse am Gewinn des Unternehmens nach Steuern soll nun der Fokus auf die Pflichten des Vorstands im Hinblick auf Entscheidungen über die Realisierung von Gestaltungen gelegt werden. Generell unterscheiden sich die Sorgfaltsanforderungen insoweit nicht von denen an sonstige Ermessensentscheidungen des Vorstands.1076 Aus dem Aktionärsinteresse lässt sich die Pflicht des Vorstands ableiten, bezüglich jeder Gestaltung ex ante eine Kosten-Nutzen-Analyse vorzunehmen und die damit verbundenen Chancen und Risiken sachgemäß zu beurteilen.1077 Entscheidend sind dabei die Höhe des Nutzens im Verhältnis zu den Kosten bei Realisierung bzw. bei Ausfall des Nutzens und die Wahrscheinlichkeit der Nutzenrealisierung.1078 Letzteres bedeutet vorliegend die Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit der Gestaltung (Ausfallrisiko).1079 Die Pflicht des Vorstands, diese zu ermitteln und zu beurteilen, wird auch als Tax Risk Management 1071 1072 1073 1074 1075 1076
(48).
Grotherr, Ubg 2015, 360 (362 f.); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090). Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090 f.). Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090 f.). Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48). Grotherr, Ubg 2015, 360 (362). Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (621 f.); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31
1077 Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (15); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090 f.); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 49 ff. 1078 Gassner, in: FS Krejci, S. 605 (621); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090 f.); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (46 ff.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 49 ff. 1079 Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48); zustimmend Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 49 ff.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
173
bezeichnet.1080 Das Ausfallrisiko besteht zunächst in der rechtlich vertretbaren, endgültigen Ablehnung der Gestaltung durch die Finanzbehörde und daran anknüpfend in der Ablehnung durch die Gerichte.1081 Letzteres gilt jedoch nur, wenn die Beschreitung des Rechtswegs für den Vorstand zum Zeitpunkt der Entscheidung eine realistische Option darstellt. Vor dem Hintergrund der Kosten-Nutzen-Analyse muss sich der Vorstand bei jeder Gestaltung damit auseinandersetzen. Eine wahrscheinlich unwirksame Gestaltung ist nicht im Aktionärsinteresse.1082 Insbesondere bei überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen kann das Ausfallrisiko erheblich sein. Dies liegt zum einen in der Komplexität des steuerrechtlichen Umfelds1083 begründet,1084 zum anderen wird es der Gestaltung – im Gegensatz zu überwiegend betrieblich motivierten Gestaltungen – nicht selten an einem tatsächlichen wirtschaftlichen Gehalt mangeln. Im Hinblick auf grenzüberschreitende Gestaltungen wird in der Literatur geltend gemacht, die BEPS-Maßnahmen und die Maßnahmen der EU-Kommission würden sich zukünftig auf die Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit auswirken.1085 Richtigerweise muss der Vorstand dies bei seinen Entscheidungen bedenken, insbesondere die Folgen des weitreichenden Informationsaustauschs zwischen den Staaten.1086 Generell gilt es aber zu beachten, dass die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit selbst prognostisch und mit großen Unsicherheiten behaftet ist.1087 Die Höhe des Nutzens einer Steuergestaltung ergibt sich aus dem Vergleich mit der hypothetischen Steuerlast ohne die Gestaltung. Dagegen könnte man einwenden, dass der Steuerpflichtige nicht nicht-gestalten kann. Gemeint ist hier aber der hypothetische Fall, in dem der Steuerpflichtige seine Gestaltung nicht von steuerlichen, sondern bloß von betrieblichen Gesichtspunkten abhängig macht. Hinzu kommt ein etwaiger Nutzen aus der betrieblichen Sphäre. Der Nutzen aus der steuerlichen Sphäre wird bei Unwirksamkeit fast immer entfallen. Die Finanzbehörden müssen allerdings im Fall einer missbräuchlichen Gestaltung unter mehreren anwendbaren Regelungen die für den Steuerpflichtigen günstigste wählen.1088
1080 So auch Schön mit Verweis auf das unterschiedliche Verständnis aus Sicht des Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung, siehe Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1092 ff.). 1081 Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48). 1082 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 57 f. 1083 Siehe oben Kap. 2, B. III. 1. (S. 160 ff.). 1084 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (14); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48). 1085 Grotherr, Ubg 2015, 360 (366 f.). Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (3) (S. 144 ff.). 1086 Grotherr, Ubg 2015, 360 (366 f.). 1087 Zu den Anforderungen an die Informationsgrundlage des Vorstands, siehe unten Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.). 1088 Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 42 AO Rn. 50 [Stand: Juli 2016]; Koenig, in: Koenig, AO, § 42 Rn. 28.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Dem Nutzen gegenüber stehen die Kosten. Diese lassen sich aufteilen in Kostenpositionen, die immer anfallen – also auch bei einer wirksamen Gestaltung – (Gestaltungskosten), solchen, die nur bei Unwirksamkeit entstehen, d. h., wenn der Nutzen ausfällt (Ausfallkosten), und schließlich Kosten, die unabhängig von der Wirksamkeit durch einen möglichen Reputationsverlust verursacht werden können (Eventualkosten). Gestaltungskosten sind zunächst die unmittelbar mit der Gestaltung verbundenen Kosten, insbesondere die Kosten des eigenen Personals, das mit der Planung und Realisierung der Gestaltung betraut ist sowie gegebenenfalls die Kosten für externe Beratung.1089 Teilweise wird in der Literatur das unternehmensinterne Risiko der falschen bzw. unvollständigen Umsetzung der Gestaltung höher eingeschätzt als die Ablehnung durch die Finanzbehörde.1090 Dieses Risiko effektiv zu reduzieren, wird regelmäßig zusätzliche Kosten verursachen. Sofern die Gestaltung darüber hinaus mit einer Erhöhung der Tax Compliance-Kosten einhergeht, gilt es auch diese zu berücksichtigen.1091 Auch die Bindung von Mitteln für Rückstellungen muss in die Abwägung eingestellt werden.1092 Außerdem werden bei Steuergestaltungen, die mit einer tatsächlichen Verlagerung bzw. Umstrukturierung der betrieblichen Tätigkeit einhergehen, erhebliche operative Kosten anfallen, z. B. durch die Einrichtung neuer Betriebsteile oder in Form steigender Transportkosten.1093 Sofern die Rechtsfolge des § 42 Abs. 1 Satz 3 AO zur Anwendung kommt, gilt es zu beachten, dass dieser sich nicht auf den gestalteten Sachverhalt selbst auswirkt, d. h., insbesondere zivilrechtliche Verträge bleiben unberührt.1094 Nicht zuletzt deshalb muss der Vorstand auch steigende Kosten in Folge der Errichtung komplexerer Unternehmensstrukturen oder Prozessabläufe bewerten und als Kostenposition aufnehmen.1095 Anders verhält es sich in den Fällen, in denen die Ge1089 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1090 f.); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (47); zustimmend Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 49. Zur Pflicht des Vorstands Expertenrat einzuholen, siehe unten Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 1090 Erle, BB 2005, Nr. 38, Die erste Seite; Röthlisberger/Zitter, Der Schweizer Treuhänder 2005, 295 (297); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 48. 1091 Grotherr, Ubg 2015, 360 (371). Zum hier vertretenen Begriffsverständnis siehe oben Kap. 1, B. II. (S. 33 f.). 1092 Röthlisberger/Zitter, Der Schweizer Treuhänder 2005, 295 (300). Auf die Notwendigkeit von hohen Rückstellungen bei sehr risikobehafteten Gestaltungen, da diese existenzgefährdend werden können, verweist Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (14). Die OECD konstatiert weltweit zunehmend strengere Rechnungslegungsvorschriften für risikobehaftete Steuergestaltungen. Siehe dazu OECD, Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung – Situationsbeschreibung und Lösungsansätze, S. 39. 1093 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (47); zustimmend Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 49. 1094 BFH, Urteil vom 6. März 1996 – II R 38/93, BStBl. II 1996, 377 (377); Koenig, in: Koenig, AO, § 42 Rn. 31; Ratschow, in: Klein, AO, § 42 Rn. 87. 1095 Grotherr, Ubg 2015, 360 (370); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (55 f.); zustimmend Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 49.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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staltung ohne eine tatsächliche Veränderung der betrieblichen Tätigkeit auskommt, z. B. bei konzerninternen Verrechnungspreisen, Patent- und Lizenzboxen.1096 Neben die immer anfallenden Gestaltungskosten treten im Falle der Unwirksamkeit der Gestaltung die Ausfallkosten.1097 Der Steuerpflichtige wird Steuern nachzahlen müssen.1098 Hiergegen lässt sich einwenden, dass diese auch ohne Vornahme der Gestaltung zu zahlen gewesen wären. Kosten sind diese aber dann, wenn es ursprünglich eine andere wirksame Gestaltungsmöglichkeit gab. Die Kosten ergeben sich aus der Differenz zwischen der von der Finanzbehörde aufgrund ihres Sachverhaltsverständnisses vorgenommenen abweichenden Veranlagung und der hypothetischen Veranlagung bei Vornahme der ursprünglich möglichen wirksamen Gestaltung. Die Wirksamkeit dieser hypothetischen Gestaltung kann natürlich wiederum unsicher sein. Sofern aber eine von der Finanzverwaltung anerkannte Gestaltung existiert, lässt sich der Verlust ziemlich konkret beziffern. Als weitere Kosten kommen die für Steuernachforderungen anfallenden Zinsen in Höhe von 0,5 Prozentpunkten je Monat hinzu (vgl. §§ 233a, 238 AO), die für das Unternehmen erheblich und mitunter sogar existenzgefährdend sein können.1099 Dies liegt insbesondere im Zeitfaktor begründet, da eine Ablehnung der Gestaltung durch die Finanzbehörde und gegebenenfalls Gerichte aufgrund der zeitlich verzögerten Außenprüfung und der Verfahrensdauer erst Jahre später erfolgen kann.1100 Die Geltendmachung der Zinsen als Betriebsausgaben ist ausgeschlossen (§ 12 Nr. 3 EStG, § 10 Nr. 2 KStG). Bei grenzüberschreitenden Gestaltungen können noch weitere Zahlungen z. B. sog. Civil Tax Penalties nach ausländischem Steuerrecht verhängt werden.1101 Mitunter ist bereits der Versuch erfasst.1102 Bei einem Vergleich mit dem inländischen Recht wird man sie am ehesten als steuerliche Nebenleistung nach § 3 Abs. 4 AO mit Sanktionswirkung (wie etwa Verspätungszuschläge) qualifizieren können.1103 Auch interne oder externe Rechtsberatungs- und gegebenenfalls Prozesskosten nach Ablehnung der Gestaltung durch die Finanzbehörde(n) erhöhen die
1096 Diese werden als unfaire Mittel im Steuerwettbewerb qualifiziert, siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 1097 Grotherr, Ubg 2015, 360 (369). 1098 Hermann, in: Walden/Depping, CSR und Recht, S. 213 (218). 1099 Grotherr, Ubg 2015, 360 (369 f.); Hermann, in: Walden/Depping, CSR und Recht, S. 213 (218); Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (14 f.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 48. 1100 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (14); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 47 f. 1101 Hardeck/Clemens, BB 2016, 918 (919); Jacob, IStR 2012, 683 (683 f.); beispielsweise in den USA für zu geringe Verrechnungspreise, siehe Lehner, in: Vogel/Lehner, DBA, Art. 25 Rn. 329. 1102 Grotherr, Ubg 2015, 360 (370); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089); Shaviro, in: Tax and Corporate Governance, S. 229 (229 ff.). 1103 Jacob, IStR 2012, 683 (683).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Kosten.1104 Zum Zeitpunkt seiner Entscheidung kann der Vorstand in der Regel eine erhebliche Anzahl der Positionen der Gestaltungs- und Ausfallkosten nicht genau beziffern, sondern lediglich schätzen.1105 Die Eventualkosten als Folge von Reputationsverlusten lassen sich noch schwerer prognostizieren, nicht nur was ihre Höhe, sondern auch was ihre Eintrittswahrscheinlichkeit betrifft.1106 Mit Blick auf die jüngeren Entwicklungen lässt sich aber jedenfalls generell eine Zunahme des Risikos eines Reputationsverlustes für Unternehmen feststellen.1107 Auslöser hierfür sind insbesondere die Informationsverbreitung und Meinungsbildung mittels globalwirkender sozialer Netzwerke, die Zunahme von NGOs sowie die Professionalisierung ihrer Aktivitäten und schließlich eine gewachsene Skepsis gegenüber herkömmlichen Werbemaßnahmen der Unternehmen.1108 Der Reputationsverlust gegenüber staatlichen Behörden, vor allem den Finanzbehörden, und gegenüber aktuellen und potentiellen Kunden kann mit erheblichen Kosten verbunden sein.1109 Weltweit sind viele Finanzverwaltungen dazu übergegangen, die Unternehmen nach Art und Umfang ihrer (bekannten) Steuergestaltungspraxis zu klassifizieren.1110 Damit zusammenhängend wurden in einigen Ländern Offenlegungspflichten für Steuergestaltungen statuiert.1111 Die Finanzbehörden können in Abhängigkeit davon beispielswiese die Frequenz der Außenprüfungen erhöhen oder ihr Ermessen, z. B. bei der verbindlichen Auskunft, zulasten des Unternehmens ausüben.1112 Umgekehrt kann ein Absehen von überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen die 1104 Röthlisberger/Zitter, Der Schweizer Treuhänder 2005, 295 (297); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 48. 1105 Grotherr, Ubg 2015, 360 (370). 1106 Grotherr, Ubg 2015, 360 (370); Hardeck, Reputative Risiken bei aggressiver Steuerplanung, S. 90 f; diese nicht für prognostizierbar haltend dagegen Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (15); die Reputation als wertbildenden Faktor des Unternehmenswertes betont dagegen Seibt, DB 2015, 171 (173). Er hält diese auch für grundsätzlich bewertbar, wenn auch die monetäre Bezifferung schwierig sei und verweist diesbezüglich auf den Vergleich mit anderen Unternehmen, siehe S. 171 ff. 1107 Seibt, DB 2015, 171 (175). 1108 Seibt, DB 2015, 171 (175). 1109 OECD, Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung – Situationsbeschreibung und Lösungsansätze, S. 39; Fehling, FR 2015, 817 (819); Grotherr, Ubg 2015, 360 (362); die Aufrechterhaltung guter Beziehungen mit den Finanzbehörden als Entscheidungskriterium betont auch Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (19); ebenso Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (54); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1098 ff.); teilweise werden auch negative Auswirkungen auf die Beziehungen mit Geschäftspartnern aufgeführt, siehe Seibt, DB 2015, 171 (171). 1110 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1098); zum Projekt der „Enhanced Relationship“, das seit 2008 global umgesetzt wird, siehe zuletzt OECD, From Enhanced Relationship to Co-operative Compliance, S. 13 ff. 1111 OECD, Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung – Situationsbeschreibung und Lösungsansätze, S. 39. 1112 Grotherr, Ubg 2015, 360 (362 und 370).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Reputation bei den Finanzbehörden demnach erhöhen und den Unternehmen die Zusammenarbeit mit diesen kostenmindernd erleichtern, beispielweise durch einen Gewinn an Planungssicherheit.1113 Bei öffentlichem Bekanntwerden von Gestaltungen ist zudem der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen ebenso denkbar wie der erschwerte Zugang zu staatlichen Subventionen.1114 Diese staatlichen Reaktionen werden allerdings durch die Pflicht rechtmäßiger Ermessensausübung begrenzt.1115 Die andere wesentliche Bezugsgruppe, gegenüber der das Unternehmen Reputationsverluste erleiden kann, sind seine gegenwärtigen und potentiellen Kunden. Dies müssen insbesondere Vorstände von Unternehmen, die Konsumgüter herstellen, ins Kalkül ziehen.1116 Die Enthüllung und Kritik von Steuergestaltungen in den Medien, seitens NGOs und auch von prominenten Politikern und Wissenschaftlern können sich auf die Konsumentscheidung der Kunden auswirken und somit weitere Kosten produzieren.1117 Das Argument, Gestaltungen blieben wegen des Steuergeheimnisses für die Kunden regelmäßig im Dunkeln,1118 greift nur partiell, da die Medien und NGOs aber auch die Beihilfeverfahren der Kommission in der jüngeren Vergangenheit eine nicht unerhebliche Zahl an stark gestaltenden Unternehmen offengelegt haben.1119 Umgekehrt, so wird in der Literatur teilweise argumentiert, ließen sich durch eine öffentlich kommunizierte faire Steuergestaltungspraxis des Unternehmens sogar Kunden gewinnen.1120 Dies könne zugleich den Gewinn im Aktionärsinteresse erhöhen oder zumindest den Wettbewerbsnachteil im Verhältnis zu stark gestaltenden Unternehmen ausgleichen oder verringern und sei auf lange Sicht Erfolg versprechender.1121 Generell gelte: Eine hohe Reputation sichere die
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OECD, Addressing BEPS, S. 39; Seibt, DB 2015, 171 (173). Grotherr, Ubg 2015, 360 (362). 1115 Beispielsweise heißt es in Erwägungsgrund 97 der europäischen Vergaberichtlinie: „Die Bedingung eines Bezugs zum Auftragsgegenstand schließt allerdings Kriterien und Bedingungen bezüglich der allgemeinen Unternehmenspolitik aus, da es sich dabei nicht um einen Faktor handelt, der den konkreten Prozess der Herstellung oder Bereitstellung der beauftragten Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen charakterisiert. Daher sollte es öffentlichen Auftraggebern nicht gestattet sein, von Bietern eine bestimmte Politik der sozialen oder ökologischen Verantwortung zu verlangen.“ Siehe Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG, Abl. Nr. L 94, S. 65 (im Folgenden: Vergaberichtlinie 2014/24/EU). 1116 Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (16); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (54). 1117 Fehling, FR 2015, 817 (819); siehe dazu auch die empirischen Studien von Hardeck, Reputative Risiken bei aggressiver Steuerplanung, S. 88 ff. 1118 So aber Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (19). 1119 Siehe oben Einleitung. 1120 Grotherr, Ubg 2015, 360 (362); Hardeck, Reputative Risiken bei aggressiver Steuerplanung, S. 125 ff.; Hermann, in: Walden/Depping, CSR und Recht, S. 213 (215). 1121 Grotherr, Ubg 2015, 360 (362); Hardeck, Reputative Risiken bei aggressiver Steuerplanung, S. 125 ff.; Hermann, in: Walden/Depping, CSR und Recht, S. 213 (215). 1114
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Loyalität der Stakeholder sowie deren Unterstützung, was wiederum den Unternehmenswert langfristig steigere.1122 Ob, und wenn ja, wie hoch, Reputationsgewinne bzw. -verluste sich im Einzelfall als Folge der Vor- oder Abstandnahme von überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen einstellen, lässt sich jedenfalls nur sehr schwer prognostizieren und keinesfalls exakt monetär beziffern.1123 Nicht zuletzt hängt dies von der grundsätzlichen Reputation des Unternehmens ab, die von vielen Faktoren beeinflusst wird.1124 Für den Vorstand bedeutet dies, dass er das Risiko von Reputationsverlusten bzw. die Chance von Reputationsgewinnen in seine Abwägung miteinbeziehen muss, dabei aber einen weiten Ermessensspielraum hat.1125 Diese Pflicht des Vorstands wird auch modisch unter den Begriff „Corporate Reputation Management“ gefasst.1126 Für die zukünftige Beurteilung dürfte interessant sein, zu welchen Ergebnissen empirische Langzeitstudien hinsichtlich des Konsums von Amazon-, Apple-, Starbucks- etc. Produkten nach Bekanntwerden von deren extremen Steuergestaltungspraktiken kommen. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die hier abgeleitete Pflicht des Vorstands, im Aktionärsinteresse vor Realisierung einer Gestaltung eine KostenNutzen-Analyse durchzuführen, ist regelmäßig mit erheblichen Prognoseunsicherheiten belastet.1127 Daraus folgt grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum des Vorstands, um das Aktionärsinteresse an der Realisierung einer Gestaltung zu bestimmen.1128 Dieser verringert sich, je sicherer der Vorstand die Gestaltungs-, Ausfall- und Eventualkosten sowie den Nutzen bestimmen kann.1129 Dies wird bei überwiegend betrieblich motivierten Gestaltungen, insbesondere auf Grund des geringeren Reputationsrisikos und des Ausfallrisikos, tendenziell eher der Fall sein als bei überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen. Den ganz überwie-
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Seibt, DB 2015, 171 (173). Grotherr, Ubg 2015, 360 (370); Hardeck, Reputative Risiken bei aggressiver Steuerplanung, S. 90 f.; Seibt, DB 2015, 171 (174). 1124 Einen guten Überblick über diese Faktoren gibt Seibt, DB 2015, 171 (172). 1125 Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (194); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (54); Seibt, DB 2015, 171 (175); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 59 f.; enger dagegen, mit der nicht überzeugenden Begründung, dass Steuern im Vergleich zu Spenden durch eine „imageneutrale Rechtspflicht“ begründet würden und damit nicht unmittelbar dem Gemeinwohl dienen würden, Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (16). 1126 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 35; siehe dazu die allerdings hinsichtlich der einzelnen Vorstandspflichten wohl zu weitgehenden Ausführungen von Seibt, DB 2015, 171 (171 ff.). 1127 Grotherr, Ubg 2015, 360 (371); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091). 1128 Grotherr, Ubg 2015, 360 (369 ff.); Koch, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 65 (75); Schön, in: JbFSt 2014/2015, S. 194 (195); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091). 1129 Im Ergebnis wohl auch Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (192 ff.); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091). 1123
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genden Regelfall bildet aber der weite Ermessensspielraum.1130 Der Vorstand muss daher vor allem darauf bedacht sein, seine Abwägung auf Basis einer angemessenen Informationsgrundlage zu treffen.1131 Kommt er zu dem Ergebnis, dass der Nutzen die Kosten wahrscheinlich überwiegen wird, muss er dies als Aktionärsinteresse berücksichtigen, wenn er die verschiedenen Stakeholder-Interessen gegeneinander abwägt.1132 Zugleich ist dieses Ergebnis ein exemplarischer Beleg dafür, dass eine interessenhierarchische Zielkonzeption die Zielvorgabe für den Vorstand wegen erheblicher Prognoseunsicherheiten regelmäßig nicht schärfer präzisieren kann als eine interessenpluralistische Zielkonzeption.1133 b) Die Interessen der (Steuer-)Staaten Nach dem hier vertretenen Ansatz muss der Vorstand auch die Interessen der (Steuer-)Staaten berücksichtigen. Damit stellt sich grundsätzlich die Frage, wie der Vorstand bezüglich einer Gestaltung das staatliche Interesse ermitteln kann, das dem objektivierten Interesse aller staatlichen Stakeholder des konkreten Unternehmens entspricht. Vorgelagert muss der Vorstand mit Hilfe des Äquivalenzprinzips bestimmen, welche Staaten Stakeholder sind, d. h., zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen.1134 Ansatzpunkt hierfür sind die einzelnen Unternehmensstandorte und die vertraglichen Beziehungen zu Dritten, wie Zulieferern und Kunden. Zeitlicher Bezugspunkt ist dabei die Situation vor Realisierung der Gestaltung. Die Interessen der Staaten, die danach nicht als Stakeholder des Unternehmens anzusehen sind, darf der Vorstand hinsichtlich seiner Pflicht zur Steuergestaltung nicht berücksichtigen. Die Bestimmung des staatlichen Interesses kann grundsätzlich in zwei Schritten erfolgen. Eine Gestaltung knüpft immer an bestimmte Gesetze an, daher muss der Vorstand aufgrund der Stakeholder-Stellung des Staates in einem ersten Schritt ermitteln, ob die Gestaltung dem Willen des Gesetzgebers entspricht, der diese Gesetze für seinen Staat erlassen hat. Die Auslegung steht hier unter dem Primat der subjektiv-historischen Auslegung und wird durch den Wortlaut begrenzt. Der Vorstand muss anhand des Gesetzes, der Gesetzgebungsmaterialien, der Rechtsprechung und Literatur ermitteln, ob der Gesetzgeber diese Gestaltung gewollt hat. Die Auffassung 1130 Cahn, in: JbFSt 2014/2015, S. 194 (194 f.); Schön, in: JbFSt 2014/2015, S. 194 (195); Sell, in: JbFSt 2014/2015, S. 194 (195 f.). 1131 Grotherr, Ubg 2015, 360 (371); Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (192); Rolf/ Meiisel, CB 2015, 14 (15); Schön, in: JbFSt 2014/2015, S. 194 (195); Seibt, DB 2015, 171 (176). Siehe dazu unten Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.). 1132 Die Gegenauffassung sieht in diesem Fall grundsätzlich eine Realisierungspflicht des Vorstands, siehe Rolf/Meiisel, CB 2015, 14 (16); im Hinblick auf eine Pflichtverletzung des Vorstands wegen des weiten Ermessensspielraums aber deutlich zurückhaltender Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085; ähnlich Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 59. 1133 Siehe zu diesem Argument bereits oben Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.). 1134 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. b) (S. 150 ff.).
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der Finanzverwaltung kann dabei ein Indiz sein, ist aber aufgrund der Gesetzesbindung der Verwaltung grundsätzlich nicht verbindlich (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Eine Ausnahme davon bilden Rechtsverordnungen. Der Vorstand muss aber in seine Interessenermittlung auch einen möglichen Verstoß gegen höherrangiges Recht einbeziehen, sofern es hierfür gewichtige Gründe gibt. Kommt der Vorstand zu dem Ergebnis, die Gestaltung sei vom Gesetzgeber gewollt oder bewusst nicht verhindert worden, so ist diese im Interesse des Staates, der sich für das Gesetz verantwortlich zeichnet. Ein Beispiel für eine staatlich gewollte überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltung ist die steuerrechtliche Organschaft (z. B. §§ 14 Abs. 1, 17, 18 KStG).1135 Grundsätzlich werden aber überwiegend betrieblich motivierte Gestaltungen eher im staatlichen Interesse liegen als überwiegend steuerrechtlich motivierte. Anders ist dies natürlich in den Fällen zu sehen, in denen der Gesetzgeber als Subvention oder zur Verhaltenslenkung eine Gestaltungen bewusst ermöglicht.1136 Kommt der Vorstand zu dem Ergebnis, dass eine Gestaltung nicht vom Gesetzgeber gewollt ist, muss er dies als Interesse aller staatlichen Stakeholder berücksichtigen. Schließlich ist ein drittes Ergebnis dergestalt denkbar, dass der Wille des Gesetzgebers nicht sicher bestimmt werden kann. Dann muss der Vorstand die Frage beantworten, welches Ergebnis am ehesten dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Kommt der Vorstand zu dem Ergebnis, dass die Gestaltung nicht dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht, dann besteht ebenfalls kein staatliches Interesse an dieser Gestaltung. Das ablehnende staatliche Interesse muss dann bei der Abwägung mit den Interessen der nichtstaatlichen Stakeholder berücksichtigt werden. Bei grenzüberschreitenden Gestaltungen, die an Steuergesetze unterschiedlicher Staaten anknüpfen, muss der Vorstand das Interesse jedes dieser Staaten ermitteln. Der insgesamt mit der Ermittlung einhergehende Aufwand ist überschaubar, da die Planung der Gestaltung als solche bereits eine intensive Gesetzesauslegung erfordert und hier lediglich ein Perspektivwechsel vorgenommen wird. Nur wenn der Vorstand zu dem Ergebnis kommt, dass die Gestaltung im (mutmaßlichen) staatlichen Interesse der Staaten ist, an deren Steuergesetze sie anknüpft, muss er dieses in einem zweiten Schritt ins Verhältnis zu den Interessen der anderen staatlichen Stakeholder setzen. Der zweite Schritt zur Ermittlung des staatlichen Interesses ist also die Interessenhierarchisierung. Diese kann schon deswegen nur anhand des abstrakten Interesses der (Steuer-)Staaten erfolgen, weil die Gestaltung nicht an die Gesetze sämtlicher staatlicher Stakeholder anknüpft. Abstrakt haben alle (Steuer-)Staaten das gleiche Interesse: dauerhaft möglichst hohe Steuereinnahmen, damit die öffentlichen
1135 Zu den Risiken, die der Vorstand hinsichtlich einer Organschaft beachten muss, siehe Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (192 f.). 1136 Grotherr, Ubg 2015, 360 (363).
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Aufgaben erfüllt werden können.1137 Dieses Interesse verfolgen und begrenzen sie durch ihre Steuergesetze. Die Begrenzung erfolgt insbesondere aufgrund des Steuerwettbewerbs,1138 der das staatliche Interesse aber nicht ändert. Folglich kollidieren die Interessen der verschiedenen Staaten.1139 Damit stellt sich die Frage, wie diese Kollision nach einem objektivierten Interesse der Staaten zu lösen ist. Denkbar wäre zunächst ein Interesse dergestalt anzunehmen, dass die Steuereinnahmen durch entsprechende Gestaltungen der Unternehmen gleichmäßig auf alle staatlichen Stakeholder aufgeteilt werden sollen. Dies widerspräche aber nicht nur der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit des Unternehmens, sondern auch dem Beitrag, den der einzelne Staat zur Wertschöpfung des einzelnen Unternehmens leistet. Daher entspricht es bei objektiver Auslegung dem objektivierten Interesse der Staaten eher, einen Anteil an den Steuereinnahmen zu beanspruchen, der im Verhältnis zu den anderen Staaten dem eigenen Beitrag zur Wertschöpfung des einzelnen Unternehmens entspricht. Damit kann hier also erneut das Äquivalenzprinzip fruchtbar gemacht und zugleich auf die Begründung der Stakeholder-Stellung aufgebaut werden.1140 Das Äquivalenzprinzip ist der sachgerechte Maßstab, um die Interessen der einzelnen Staaten in Abhängigkeit von der Quantität und Qualität ihres jeweiligen Beitrags zur Wertschöpfung des einzelnen Unternehmens zueinander ins Verhältnis zu setzen. Bei der Beurteilung der Beiträge muss dem Vorstand aufgrund des erheblichen Wertungsspielraums ein weiter Ermessensspielraum zugebilligt werden.1141 Es muss ihm insbesondere möglich sein, auf typisierende quantitative oder qualitative Kriterien abzustellen. Andernfalls ist dieser Maßstab kaum praktisch handhabbar und mit einem unangemessen großen Aufwand verbunden. Ein mögliches Kriterium, um den Beitrag zur Wertschöpfung zu beurteilen, kann beispielsweise die Summe der Arbeitslöhne vor Ort sein. Dieses Kriterium hat der deutsche Gesetzgeber auch gewählt, um das Gewerbesteueraufkommen zwischen den Gemeinden aufzuteilen, die Standorte desselben Unternehmens beherbergen (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 GewStG).1142 Der Vorstand muss aber ggf. von fiktiven Arbeitslöhnen ausgehen, wenn Standorte zuvor aus steuerlichen Gründen verlegt wurden. Auch andere Kriterien sind denkbar, beispielsweise die um Steuergestaltungen bereinigten Gewinne, die in einem Staat anfallen. In jedem Fall muss ein Kriterium von Effekten bereinigt werden, die durch frühere Steuergestaltungen verursacht sind. Richtigerweise ist auch von Bedeutung, 1137 Zöllner, Corporate Governance, S. 83. Siehe insgesamt dazu oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 1138 Siehe dazu oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (a) (S. 131 ff.). 1139 Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (8 f.). 1140 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (d) (S. 142 ff.) und Kap. 2, B. II. 5. b) (S. 150 ff.). 1141 Wie bereits festgestellt wurde, ist es für den Vorstand viel leichter festzustellen, wo die tatsächliche Wertschöpfung erfolgt als für außerhalb des Unternehmens stehende Staaten, die zudem auf die Regelungsform abstrakt-genereller Gesetze verwiesen sind. Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 1142 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (1) (a) (S. 122 ff.).
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wie lange ein Unternehmen bereits in einem Land aktiv ist. Der Vorstand kann in seine Bewertung auch bewusst miteinfließen lassen, ob ein Staat sich im Steuerwettbewerb fair oder unfair verhält.1143 Wenn der Vorstand den Maßstab typisierend konkretisiert hat, muss er diesen allerdings in gleicher Weise auf alle staatlichen Stakeholder anwenden. Dies ergibt sich aus der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Stakeholder-Interessen nach der interessenpluralistischen Zielkonzeption. Es gilt damit das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln sowie das Gebot der Folgerichtigkeit. Das so ermittelte staatliche Interesse ist in die Abwägung der Stakeholder-Interessen einzubeziehen. Die Ausführungen lassen sich eins zu eins auf die Hierarchisierung der Gemeindeinteressen hinsichtlich der Gewerbesteuer übertragen. Das Äquivalenzprinzip wirkt dabei auch der Wettbewerbsverzerrung in Ballungsgebieten mit unterschiedlichen Gemeinden entgegen. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft, welche die Standortfaktoren einer (großen) Gemeinde mitnutzt, aber den geringen Hebesatz einer naheliegenden (kleinen) Gemeinde wählt, muss aufgrund des Äquivalenzprinzips auch die Interessen der (großen) Gemeinde in seine Entscheidungen miteinbeziehen. c) Die Interessen der sonstigen Stakeholder Anknüpfend an die staatlichen Interessen als Teil des Allgemeininteresses wird im Folgenden als Erstes auf das nichtstaatliche Allgemeininteresse hinsichtlich Steuern eingegangen. Teilweise wird vertreten, das nichtstaatliche Allgemeininteresse sei gesamtvolkswirtschaftlich vor allem auf die langfristige Maximierung des Unternehmensgewinns gerichtet und habe mit daran orientierten Vorstandsentscheidungen zu Steuergestaltungen keine Probleme.1144 Dem kann man entgegenhalten, dass die Allgemeinheit der eigentliche Profiteur der Steuern sei und deswegen ein erhebliches Interesse an einem langfristig möglichst hohen Steueraufkommen habe. Auch die empirischen Studien zu Reputationsverlusten bei „aggressiver“ Steuergestaltung können in diese Richtung gedeutet werden, wobei man allerdings nicht von einem gesicherten Befund sprechen kann.1145 Jedenfalls wird durch diese konträren Meinungen aber der entscheidende Punkt deutlich: Das Interesse der pluralistischen nichtstaatlichen Allgemeinheit an Steuern lässt sich nicht so exakt wie das staatliche Interesse fassen. Der Vorstand hat deswegen bei der Bestimmung einen weiten Ermessensspielraum und kann zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen.
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Zu dieser Differenzierung siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). So im Ergebnis Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14); ebenso Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 f. 1145 Siehe dazu die Nachweise oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 1144
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Hinsichtlich des Arbeitnehmerinteresses ist der herrschenden Meinung zuzustimmen, wonach die Arbeitnehmer Steuergestaltungen grundsätzlich positiv gegenüberstehen, soweit diese auf die langfristige Maximierung des Unternehmensgewinns abzielen, da so zugleich ihre Arbeitsplätze gesichert werden.1146 Des Weiteren schafft der Vorstand so einen finanziellen Freiraum, der auch für Sozialaufwendungen zu ihren Gunsten genutzt werden kann, z. B. in Form von Betriebsrenten. Deswegen ist hier bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verwendung des Jahresüberschusses, z. B. über die Höhe der Thesaurierung (vgl. § 58 AktG), regelmäßig von einem Gleichlauf mit dem Aktionärsinteresse auszugehen. Anders verhält es sich davor nur, wenn Gestaltungen mit Standortverlagerungen einhergehen.1147 Hier wird man wohl solidarisch von einem ablehnenden Arbeitnehmerinteresse ausgehen müssen. Schließlich sind Gestaltungen, die sich an der langfristigen Gewinnmaximierung des Unternehmens orientieren, auch im Interesse der Gläubiger, da sie sich positiv auf die Realisierbarkeit ihres Anspruchs auswirken.1148 Das Gläubigerinteresse entspricht insoweit bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verwendung des Jahresüberschusses ebenfalls dem Aktionärsinteresse. d) Zwischenergebnis Das Aktionärsinteresse besteht grundsätzlich in einem möglichst hohen Gewinn nach Steuern, weshalb der Vorstand im Aktionärsinteresse mögliche Steuergestaltungen prüfen muss. Dies erfordert eine Kosten-Nutzen-Analyse unter Einbeziehung des Ausfallrisikos und des mit der Gestaltung verbundenen Reputationsrisikos. Da diese Prognoseentscheidung mit erheblichen Unsicherheiten einhergeht, kommt dem Vorstand bei der Bestimmung des Aktionärsinteresses ein weiter Ermessensspielraum zu. Das Interesse der (Steuer-)Staaten muss der Vorstand in einem ersten Schritt anhand der für die geplante Steuergestaltung einschlägigen Steuergesetze ermitteln, wobei die Auslegung unter dem Primat der subjektiv-historischen Auslegung steht. Nur wenn die Gestaltung dem in den Steuergesetzen zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers entspricht, muss der Vorstand in einem zweiten Schritt beurteilen, ob die Besteuerung nach der Gestaltung am Ort der Wertschöpfung erfolgt. Ist dies der Fall, liegt die Gestaltung im staatlichen Interesse. Im umgekehrten Fall oder wenn die Gestaltung bereits nicht dem in den einschlägigen Steuergesetzen zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers entspricht, ist die Gestaltung 1146 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 f.; van Ooy/Oltmanns, in: Heidel, AktG, § 76 Rn. 8; ein „neutrales“ Interesse vertritt Timonen, in: Tax and Corporate Governance, S. 199 (203). 1147 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 f. 1148 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 f.
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dagegen nicht im staatlichen Interesse. Auch bei der Bestimmung des staatlichen Interesses steht dem Vorstand Ermessen zu, insbesondere darf er zur Beurteilung der Wertschöpfung typisieren. Das Interesse der sonstigen Stakeholder entspricht wiederum regelmäßig dem Aktionärsinteresse bzw. steht im Fall des nichtstaatlichen Allgemeininteresses im Ermessen des Vorstands. Im Ergebnis besteht daher im Hinblick auf Steuergestaltungen in der Regel vor allem ein Konflikt zwischen dem staatlichen Interesse und den Interessen der anderen Stakeholder, insbesondere dem Aktionärsinteresse.1149 Der Vorstand kann im Einzelfall innerhalb seines Ermessensspielraums zugunsten des einen oder anderen Stakeholder-Interesses entscheiden.1150 Damit kommt es vor allem darauf an, wo die Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung verlaufen. 3. Die Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung Hinsichtlich der Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung muss zwischen der Legalitätspflicht, bei der ein Ermessensspielraum von vornherein nicht eröffnet ist (a)), und der Pflicht des Vorstands, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft und des von dieser getragenen Unternehmens zu gewährleisten, als Ermessensgrenze unterschieden werden (b)). a) Die Legalitätspflicht Ein Ermessensspielraum, innerhalb dessen der Vorstand steuerrelevante Sachverhalte gestalten kann, ist von vornherein nicht eröffnet, wenn ein rechtliches Handlungsgebot oder -verbot besteht (Legalitätspflicht).1151 Der Vorstand ist an die Rechtsordnung gebunden, d. h., er muss sich an sämtliche Normen halten, die für das Unternehmen oder ihn als Organ bzw. Organmitglied gelten.1152 Die Legalitätspflicht bildet eine absolute Grenze. Dementsprechend muss der Vorstand die Pflichten erfüllen, die hinsichtlich Steuern im Aktiengesetz und den Steuergesetzen bestimmt sind, unter anderem die Steuer- und Buchführungspflichten nach § 91 Abs. 1 AktG.1153 Nach § 34 Abs. 1 AO ist der Vorstand als gesetzlicher Vertreter der Aktiengesellschaft verpflichtet, deren steuerliche Pflichten zu erfüllen.1154 Hin1149 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 f.; Timonen, in: Tax and Corporate Governance, S. 199 (203); zum generellen Konflikt zwischen Aktionärsinteresse und Allgemeininteresse bei sozialen Aufwendungen, siehe Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 84. 1150 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. g) (S. 112 f.). 1151 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 51a; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 32. 1152 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 47. 1153 Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 9. 1154 Zu den einzelnen steuerlichen Pflichten siehe Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 668 ff.
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sichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung besonders relevant ist außerdem das Verbot, Steuern zu hinterziehen (§ 370 AO).1155 Vor allem für die Vorstände multinational tätiger Aktiengesellschaften gilt es zu beachten, dass die Legalitätspflicht nach herrschender Meinung nicht an der Landesgrenze endet, sondern der Vorstand grundsätzlich auch an ausländisches Recht gebunden ist, wenn dieses das Verhalten der Gesellschaft erfasst.1156 Ob ausländisches Recht anzuwenden ist, richtet sich dabei nach dem Kollisionsrecht.1157 Etwas anderes gilt nur dann, wenn das anzuwendende ausländische Recht der Werteordnung des Grundgesetzes erheblich widerspricht.1158 Ist danach ausländisches Recht anzuwenden, ist jedoch umstritten, wie weit diese Bindung in materieller Hinsicht geht. Teilweise wird vertreten, deutsche Unternehmen seien nur insoweit an ausländisches Recht gebunden, als dies auch von inländischen Rechtssubjekten beachtet und von den zuständigen Behörden durchgesetzt würde, da eine strikte Bindung zu unzumutbaren Wettbewerbsnachteilen führen würde.1159 Dagegen werden die schwierige Abgrenzbarkeit und die damit verbundenen Unsicherheiten eingewandt, weshalb die Gegenmeinung für eine strikte Bindung plädiert.1160 Hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung stellt sich danach insbesondere die Frage, ob Steuerhinterziehung eine (zulässige) Steuergestaltung darstellt, wenn sie im Ausland zwar strafbar ist, aber nicht verfolgt wird und § 370 AO auf den Sachverhalt keine Anwendung findet. Ob § 370 AO angewendet wird, richtet sich primär nach dem geltenden Steuerrecht insbesondere den Doppelbesteuerungsabkommen.1161 Wenn § 370 AO danach nicht zur Anwendung kommt, aber eine Steuerhinterziehung nach ausländischem Recht vorliegt, muss dem Vorstand diese verboten sein. Dies wird deutlich, wenn man den – zugegebenermaßen abstrakten – Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG anlegt. Der Satz, ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsführer dürfe im Ausland Steuern hinterziehen, wenn dies in Deutschland nicht strafbar sei und im Ausland nicht verfolgt werde, stellt schon einen Widerspruch dar und verdeutlicht zugleich, warum dieses Ergebnis nicht richtig sein kann. Wer in anderen Ländern tätig wird, muss sich auch an die – auch nur formal – geltenden Regeln halten. Andernfalls würden vor allem Entwicklungsländer auf-
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Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1094). Siehe oben Kap. 1, B. II. (S. 33 f.). Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 142; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 6; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 73; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 22. 1157 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 142; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 71; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 95. 1158 Cichy/Cziupka, BB 2014, 1482 (1485). 1159 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 142; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 73; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 97. 1160 LG München I, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 5 HK O 1387/10, Siemens/Neubürger, NZG 2014, 345 (346); Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 71; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 6; Schmidt, in: Heidel, AktG, § 93 Rn. 10. 1161 Joecks, in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, Kommentar, § 370 AO Rn. 311. 1156
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grund ihrer regelmäßig mangelhaften Vollzugspraxis dauerhaft benachteiligt.1162 Hinzu kommen auch hier die bereits erwähnten generellen Abgrenzungsschwierigkeiten, die der Gegenmeinung innewohnen. Ein abweichendes Ergebnis hinsichtlich der Anwendung ausländischen Rechts kann im Einzelfall geboten sein, wenn das Steueraufkommen nachweisbar dazu verwendet wird, Teile der eigenen Bevölkerung zu unterdrücken oder andere Aktivitäten zu finanzieren, die der Werteordnung des Grundgesetzes erheblich widersprechen. Teil der Legalitätspflicht ist schließlich auch die aktienrechtliche Kompetenzordnung (vgl. § 82 Abs. 2 AktG).1163 Der Vorstand muss danach insbesondere die Vorgaben der Satzung einhalten, vor allem den Unternehmensgegenstand (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG).1164 Da der Unternehmensgegenstand die Tätigkeit bestimmt, durch welche der Gesellschaftszweck erreicht werden soll, ist er hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung in der Regel eher irrelevant. Etwas anderes gilt dann, wenn der Unternehmensgegenstand ein Risikoprofil für die Tätigkeit des Unternehmens explizit vorgibt oder sich ein solches hinreichend konkret aus ihm ableiten lässt.1165 Soll das Unternehmen möglichst risikolos agieren, folgt daraus auch das Verbot (erheblich) risikobehafteter Steuergestaltungen.1166 Generell gilt: Je allgemeiner der Unternehmensgegenstand gefasst ist, desto schwieriger lässt sich daraus ein hinreichend konkretes Risikoprofil ableiten. Nicht nur ein bestimmbares Risikoprofil auch die Festlegung einer genau gefassten Tätigkeit kann die Pflicht zur Steuergestaltung einschränken.1167 Ein satzungsmäßiger Konsumgüterproduzent darf beispielweise nicht zu einem Hedgefond umfunktioniert werden, der sich in einem Niedrigsteuerland ansiedelt. Der Vorstand muss also den Unternehmensgegenstand kennen und gegebenenfalls auslegen, wenn er die Grenzen seiner Pflicht zur Steuergestaltung einhalten will. Bestandteil der Satzung sollen des Weiteren auch Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Aufsichtsrats sein (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG).1168 Daneben kann der Aufsichtsrat solche Zustimmungsvorbehalte auch selbst bestimmen (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG). Zustimmungsvorbehalte sind für den Vorstand grundsätzlich verbindlich und fallen unter die Legalitätspflicht. Nach der Änderung des Wortlauts
1162 Zur besonderen Belastung der Entwicklungsländer durch Steuergestaltungen siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 1163 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.). 1164 Limmer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 23 Rn. 22; Pentz, in: MüKo AktG, § 23 Rn. 78 ff.; Solveen, in: Hölters, AktG, § 23 Rn. 22; Vetter, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 23 Rn. 13. Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) aa) (S. 83 ff.). 1165 Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48). 1166 Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48). 1167 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091 f.). 1168 Zur historischen Entwicklung der Zustimmungsvorbehalte, siehe Fleischer, BB 2013, 835 (835 ff.).
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durch das TransPuG1169 im Jahr 2002 muss der Aufsichtsrat jedenfalls dann Zustimmungsvorbehalte bestimmen, wenn in der Satzung keine geregelt sind.1170 Zulässig sind auch sog. „Ad-hoc-Zustimmungsvorbehalte“, was seit Mai 2015 auch ausdrücklich in Ziffer 3.3 DCGK steht.1171 Zustimmungsvorbehalte können aber nicht unbegrenzt zulässig sein.1172 Die Notwendigkeit der Begrenzung ergibt sich aus der weisungsunabhängigen Geschäftsführung durch den Vorstand nach §§ 76 Abs. 1, 111 Abs. 4 Satz 1 AktG, zu der § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG lediglich eine partielle Ausnahme in Form von Vetorechten bildet.1173 Wären Zustimmungsvorbehalte unbegrenzt möglich, könnte der Aufsichtsrat mit diesem Mittel die Leitung der Gesellschaft an sich ziehen, was seit dem Aktiengesetz 1937 nicht mehr möglich sein soll.1174 Die Zustimmungsvorbehalte müssen im Kontext der Informationspflichten des Vorstands nach § 90 AktG gesehen werden und sollen nach dem Willen des Gesetzgebers die präventive Überwachung stärken.1175 Ein Zustimmungsvorbehalt ist daher nur rechtmäßig, wenn er die (nicht abschließend geklärten) Anforderungen der „Zustimmungsvorbehaltsfähigkeit“1176 erfüllt.1177 Danach muss er erstens hinreichend konkret sein, indem er nur für eine spezifische Art von Geschäften ausgestaltet wird, weshalb Generalklauseln unzulässig sind.1178 Zudem ergibt sich aus dem Wortlaut „Geschäfte“ und „Maßnahmen“ in
1169 Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizita¨ t (Transparenz- und Publizita¨ tsgesetz), BGBl. I 2012, 2531 (im Folgenden: TransPuG). 1170 Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 103; zu den weitreichenden Folgen in der Praxis, siehe Fleischer, BB 2013, 835 (835). 1171 BGH, Urteil vom 15. November 1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111 (126 f.); Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 115; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 39; Kort, in: Großkomm AktG, vor § 76 Rn. 12. 1172 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 17. Im Hinblick auf Ad-hoc-Zustimmungsvorbehalte ist umstritten, ob insoweit besondere Voraussetzungen gelten. Koch lehnt dies mit einer überzeugenden Begründung ab. Siehe Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 39; ebenso Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 115; anderer Auffassung sind dagegen beispielsweise Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 75. 1173 Fleischer, BB 2013, 835 (839 f.); Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 100 und 106. 1174 Dazu ausführlich vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung Fleischer, BB 2013, 835 (835 ff.); Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 96 f. Zur historischen Verlagerung der Leitungskompetenz auf den Vorstand siehe oben Kap. 2, B. II. 4. c) (S. 64 ff.). 1175 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 17; Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 72; Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 100. 1176 Fleischer, BB 2013, 835 (839); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 45. 1177 Von „wenig gesichert“ spricht Fleischer, BB 2013, 835 (835); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 39 ff. 1178 OLG Stuttgart, Beschluss vom 28. Mai 2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (603); Fleischer, BB 2013, 835 (842 f.); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 72 f.; Habersack, in: MüKo AktG, § 311 Rn. 106; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 41.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG, dass ein bloßes Unterlassen nicht erfasst ist.1179 Möglich sind auch Zustimmungsvorbehalte für näher konkretisierte Maßnahmen der Unternehmensplanung und für Strategieentscheidungen.1180 Neben der Konkretisierung muss die Maßnahme zweitens eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten, wobei der Maßstab allerdings im Detail umstritten ist.1181 Teilweise wird auf § 116 Abs. 2 HGB1182 – „Geschäfte, die über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes hinausgehen“ –, teilweise auf „bedeutsame Geschäfte“1183 abgestellt. Da zur Beantwortung der Frage, was „bedeutsam“ oder „ungewöhnlich“ ist, unstreitig auf das konkrete Unternehmen abgestellt werden muss,1184 dürften die praktischen Auswirkungen des Streits sehr überschaubar sein. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollen „mehr oder weniger bedeutsame Maßnahmen wie Erteilung einer Prokura oder einzelne Grundstu¨ cksgeschäfte minderer Bedeutung“ nicht erfasst werden, da so die Organkompetenzen verschoben und der Aufsichtsrat überfordert würde.1185 Die Erheblichkeit muss zwar nicht zwingend monetär beziffert werden, aus Gründen der Rechtssicherheit sowie zum Schutz der Leitungskompetenz des Vorstands ist dies aber regelmäßig geboten.1186 Von der „Zustimmungsvorbehaltsfähigkeit“ ist die „Zustimmungsvorbehaltspflichtigkeit“ zu trennen.1187 Letztere zielt auf die Frage, wann der Aufsichtsrat einen Zustimmungsvorbehalt bestimmen muss.1188 Dazu heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs zum TransPuG:
1179 OLG Stuttgart, Beschluss vom 28. Mai 2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (603); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 37; im Ergebnis auch Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 112; andere Auffassung Lange, DStR 2003, 376 (377). 1180 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 17; Fleischer, BB 2013, 835 (841); dies auch im Hinblick auf die Mehrjahresplanung für zulässig erachtend Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 112; dies dagegen nur für die Jahresplanung für zulässig erachtend Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 41. 1181 Fleischer, BB 2013, 835 (839 f.); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 72; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 42. 1182 Beispielsweise Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 42. 1183 Beispielsweise Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 72; weitergehend Fleischer, BB 2013, 835 (840 f.). 1184 Fleischer, BB 2013, 835 (843); Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 102, 107 f., 110; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 42. Auch der Gesetzgeber stellt auf die konkrete Gesellschaft ab und hat deswegen davon abgesehen, einen allgemeinen Katalog zustimmungspflichtiger Maßnahmen ins Gesetz aufzunehmen, siehe Begr. RegE, BT-Drucks. 14/ 8769, S. 17. 1185 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 17. 1186 Fleischer, BB 2013, 835 (842); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 72; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 43. 1187 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 45. 1188 Fleischer, BB 2013, 835 (839).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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„Entscheidungen oder Maßnahmen, die nach den Planungen oder Erwartungen die Ertragsaussichten der Gesellschaft oder ihre Risikoexposition grundlegend verändern und damit von existentieller Bedeutung fu¨ r das ku¨ nftige Schicksal der Gesellschaft sind, mu¨ ssen vom Votum beider Organe, des Vorstands und des Aufsichtsrats, getragen sein (…).“1189
Die Literatur hat sich dem grundsätzlich angeschlossen.1190 Der Verweis auf die grundlegende Veränderung der „Ertragsaussichten oder Risikoexposition“ und deren Bezug auf eine „existenzielle Bedeutung“ passt zur Pflicht des Vorstands, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu sichern.1191 Es ist naheliegend, dass der Vorstand jedenfalls bei deren Gefährdung der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf.1192 In diese Richtung deutet auch die korrespondierende Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG.1193 Die Zustimmungsvorbehaltspflichtigkeit und damit korrespondierend die Pflicht des Aufsichtsrats einen Ad-hocZustimmungsvorbehalt zu begründen, ist nach der zutreffenden herrschenden Meinung außerdem gegeben, wenn dies der einzige Weg ist, um eine gesetzeswidrige Maßnahme des Vorstands zu verhindern.1194 Das gleiche gilt für den Fall eines Satzungsverstoßes.1195 Diesen beiden Fällen wird der Fall der Gefährdung der dauerhaften Rentabilität zu Recht gleichgestellt.1196 Nach diesen Ausführungen sind Zustimmungsvorbehalte auch hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung denkbar. Einerseits können sie explizit in der Satzung stehen, andererseits kann der Aufsichtsrat diese – auch ad hoc – bestimmen. Dies setzt jedoch die Wahrung der beschriebenen Zulässigkeitsgrenzen voraus. Möglich sind Zustimmungsvorbehalte danach nur für die Realisierung von Steuergestaltung, aber nicht für deren Unterlassen. Aufgrund des Konkretisierungserfordernisses wäre eine Bestimmung, wie beispielsweise „Steuergestaltungen bedürfen der Zustimmung des Aufsichtsrats“, als zu allgemein zu qualifizieren. Eine Konkretisierung 1189
Begr. RegE, BT-Drucks. 14/8769, S. 17. Für einen Überblick siehe Fleischer, BB 2013, 835 (839). 1191 Fleischer, BB 2013, 835. Siehe unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). 1192 Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 115; in diese Richtung auch Fleischer, BB 2013, 835 (840). Er bezieht allerdings auch die Zustimmungsfähigkeit auf diesen Maßstab; eine Bestandsgefährdung nicht für nötig erachtend dagegen Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 45. 1193 Fleischer, BB 2013, 835 (840). 1194 BGH, Urteil vom 15. November 1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111 (127); OLG Karlsruhe, Urteil vom 4. September 2008 – 4 U 26/06, WM 2009, 1147 (1149); OLG Braunschweig, Beschluss vom 14. Juni 2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, NJW 2012, 3798 (3800); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 75; Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 115; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 37; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 111 Rn. 111. 1195 LG Bielefeld, Urteil vom 16. November 1999 – 15 O 91/98, ZIP 2000, 20 (25); Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 115; Henze, BB 2000, 209 (215); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 37. 1196 Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 115; wohl auch Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 37. 1190
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
hinsichtlich der Art der Gestaltung könnte beispielweise lauten: „überwiegend steuerrechtlich motivierte grenzüberschreitende Gestaltungen, die nicht ganz überwiegend wahrscheinlich wirksam sein werden“ oder „überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen, die mit dem Risiko einhergehen, die Reputation1197 des Unternehmens wesentlich zu beeinträchtigen“. Hinsichtlich der Erheblichkeit kann bei überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen auf die Höhe der Gestaltungs- und Ausfallkosten im Verhältnis zu Umsatz oder Gewinn abgestellt werden.1198 Die Eventualkosten bieten sich weniger an, da sie am schwersten zu beziffern sind.1199 Des Weiteren werden Zustimmungsvorbehalte regelmäßig einschlägig sein, wenn Steuergestaltungen mit Geschäftsarten verbunden sind, für die typischerweise Zustimmungsvorbehalte bestimmt werden. Beispiele sind etwa die Errichtung neuer Betriebsstätten, der Abschluss von Lizenzverträgen, die Gründung von Tochtergesellschaften oder Niederlassungen oder der Abschluss von Unternehmensverträgen.1200 Hier wird die Steuergestaltung zumindest mittelbar einem Zustimmungsvorbehalt unterworfen. Schließlich kann der Vorstand auch eine generelle Steuerstrategie aufstellen, die als Unternehmensstrategie zustimmungsvorbehaltsfähig ist, so dass auch insoweit relevante Zustimmungsvorbehalte bestimmt werden können.1201 Wenn die Voraussetzungen der Zustimmungsvorbehaltspflichtigkeit vorliegen, muss der Aufsichtsrat den Zustimmungsvorbehalt bestimmen. Davon ist jedenfalls auszugehen, wenn eine Steuergestaltung oder auch eine Steuerstrategie den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft gefährdet.1202 Verstößt der Vorstand gegen einen (rechtmäßigen) Zustimmungsvorbehalt, verletzt er seine Legalitätspflicht.1203 Nicht unter die Legalitätspflicht fallen dagegen nach § 42 AO missbräuchliche Steuergestaltungen. Wie bereits ausgeführt, verbietet § 42 AO dem Vorstand nicht zu gestalten, sondern verhindert als Konkretisierung der allgemeinen Gesetzesumgehung die Umgehung des Steuergesetzes.1204 Es handelt sich daher nicht um ein Handlungsgebot oder -verbot.1205 1197
Beispielsweise Fleischer hält es für zulässig, auf die Auswirkungen auf die Reputation abzustellen, siehe Fleischer, BB 2013, 835 (841). 1198 Zu den möglichen betriebswirtschaftlichen Bezugsgrößen siehe Fleischer, BB 2013, 835 (842); ebenso Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 110. 1199 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 1200 Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 74; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 43. 1201 Zur Steuerstrategie siehe unten Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 1202 Siehe unten Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). 1203 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 20; Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 111 Rn. 76; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 74; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 73. Siehe oben Kap. 2, A. II. (S. 43 ff.). 1204 Siehe oben Kap. 1, B. V. (S. 40 f.).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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b) Die Pflicht, Bestand und dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft sicherzustellen Jenseits der Legalitätspflicht ist ein Ermessensspielraum grundsätzlich eröffnet. Die Grenze dieses Ermessensspielraums bildet nach der interessenpluralistischen Zielkonzeption die Pflicht des Vorstands, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft und des von dieser getragenen Unternehmens sicherzustellen.1206 Diese Pflicht des Vorstands verdeutlicht § 91 Abs. 2 AktG, nach dem der Vorstand ein Überwachungssystem zur Früherkennung bestandsgefährdender Risiken implementieren muss.1207 Trotz allgemein anerkannter Konkretisierungsschwierigkeiten1208 soll diese Pflicht nachfolgend im Hinblick auf die Pflicht zur Steuergestaltung weiter präzisiert werden. Ob die Ermessengrenze des Bestands und der dauerhaften Rentabilität überschritten wurde, muss ex ante aus der Perspektive des Vorstands entschieden werden.1209 Die Sicherstellung von Bestand und dauerhafter Rentabilität erfordert nicht jede Maßnahme zu unterlassen, die unrentabel ist. Andernfalls würde man durch die Hintertür das Postulat eines (langfristig) monetären Nutzens einlassen,1210 was inhaltlich dem Vorrang des Aktionärsinteresses gleich käme. Die Pflicht muss daher enger gefasst werden. Dies ist auch sachgerecht, denn eine Gefährdung des Bestands oder der dauerhaften Rentabilität erfordert eine gewisse Intensität und wird nicht durch jede unrentable Maßnahme ausgelöst. So heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 91 Abs. 2 AktG: „Zu den den Fortbestand der Gesellschaft gefährdenden Entwicklungen gehören insbesondere risikobehaftete Geschäfte, Unrichtigkeiten der Rechnungslegung und Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften, die sich auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft oder des Konzerns wesentlich auswirken.“1211
Andererseits wird man eine Gefährdung der dauerhaften Rentabilität auch nicht mit Insolvenzreife gleichsetzen können, da die Ermessensgrenze in diesem Fall erst greifen würde, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.
1205 Auf den Streit zum Ermessen des Vorstands bei unklarer Rechtslage kommt es daher hier nicht an, siehe dazu Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 139 f. 1206 OLG Hamm, Urteil vom 10. Mai 1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263 (1268); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. April 2015 – III-1 Ws 429/14, 1 Ws 429/14, ZInsO 2015, 2221 (2222); Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 76 Rn. 13; Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (127); Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (168 ff.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 34; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 21 ff. 1207 Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 69. 1208 Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (169); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 34; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 69. 1209 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 51b. 1210 So aber Seibt, DB 2015, 171 (174 ff.). Insoweit konsequent verfolgt dieser aber auch einen „leichten Gewichtsvorsprung der Aktionärsinteressen“, siehe S. 174. 1211 Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 15.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Die Sicherung von Bestand und dauerhafter Rentabilität setzt nach zutreffender Auffassung daher einen angemessenen Gewinn des Unternehmens voraus.1212 Angemessen ist der Gewinn, wenn er ausreicht, um die für die dauerhafte Rentabilität erforderlichen Investitionen tätigen zu können, ohne dabei auf Dauer die Substanz des Unternehmens aufzubrauchen.1213 Für die dauerhafte Rentabilität erforderliche Investitionen sind beispielsweise die Modernisierung oder der Neubau von Produktionsstätten, aber auch Forschungs- und Entwicklungskosten, um die für den langfristigen Bestand am Markt erforderliche Innovation zu gewährleisten. Auch für Unternehmen gilt: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Entscheidend ist somit auch die Wettbewerbssituation, in der sich das einzelne Unternehmen befindet, insbesondere der Wettbewerbsdruck.1214 Der Vorstand muss diese bei seinen Entscheidungen ebenso im Blick haben wie die Wettbewerbssituation am Kapitalmarkt.1215 Wie hoch der Gewinn sein muss, um angemessen zu sein, hängt damit vom konkreten Unternehmen ab. So verstanden liegt diese Pflicht als Grenze des Leitungsermessens im Interesse aller Stakeholder, denn bei abstrakt-objektiver Betrachtung wollen sie alle dauerhaft von dem Unternehmen profitieren, was wiederum dessen dauerhaften Bestand voraussetzt.1216 Da die Rentabilität dauerhaft gewährleistet werden soll, ist der angemessene Gewinn nicht auf den jeweiligen Jahresabschluss, sondern längerfristig ausgerichtet.1217 Dies verdeutlicht auch die langfristige Ausrichtung der Vorstandsvergütung nach § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG.1218 Ein negatives Jahresergebnis führt aber zu einer verschärften Überwachungspflicht des Aufsichtsrats, der insbesondere prüfen muss, ob der Vorstand seine Pflicht, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft sicherzustellen, einhält.1219 Der langfristige Zeithorizont geht naturgemäß mit denselben Schwächen wie das langfristig ausgerichtete Shareholder-Value-Konzept einher.1220 Sicher von der Ermessens1212 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 34 f.; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 21; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 27 ff. – Rn. 40 ff.; dies als niedrigste Ermessensgrenze für zwingend erachtend Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 47 und § 76 Rn. 69. 1213 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 21. 1214 Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 29 – Rn. 45. 1215 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 21. 1216 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 69. 1217 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53; andere Auffassung Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 30 – Rn. 47. Er lässt aber wiederum ein negatives Jahresergebnis aufgrund bestandssichernder Investitionen zu, weshalb die Meinungen aufgrund der verschärften Überwachungspflicht des Aufsichtsrats praktisch kaum zu anderen Ergebnissen führen. 1218 Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 69. Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. b) bb) (S. 60 f.). 1219 Wie Semler zutreffend festststellt, kann der Aufsichtsrat im Einzelfall verpflichtet sein, einen wirtschaftlich nicht erfolgreichen, aber pflichtgemäß agierenden Vorstand abzuberufen. Siehe Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 29 f. – Rn. 46. 1220 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) cc) (S. 91 ff.).
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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grenze erfasst werden damit nur offensichtliche Fälle.1221 Sachlich lässt sich dies aber durch die Notwendigkeit eines weiten haftungsrechtlich abgesicherten unternehmerischen Ermessensspielraum rechtfertigen, den der Vorstand einer Aktiengesellschaft im Unternehmensinteresse braucht.1222 Erfolgreiches Wirtschaften setzt das Eingehen kalkulierter Risiken voraus.1223 Ein aufgrund der Furcht vor persönlicher Haftung völlig risikoscheu agierender Vorstand ist folglich nicht im Unternehmensinteresse. Der Vorstand ist aber verpflichtet, die frühzeitige Erkennung bestandsgefährdender Entwicklungen durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen; regelmäßig durch die Einrichtung eines Controllings und einer internen Revision oder vergleichbarer Unternehmensfunktionen.1224 Geeignet sind die Maßnahmen, wenn der Vorstand bei objektiver Betrachtung auf seine rechtzeitige Informierung vertrauen darf.1225 Die Beurteilung der Geeignetheit liegt im Ermessen des Vorstands.1226 Zeitig genug erfolgt die Erkennung, wenn noch ausreichend Zeit vorhanden ist, um die Bestandsgefährdung abzuwenden.1227 Der Vorstand muss die Effektivität der Maßnahmen überwachen, d. h. insbesondere seine rechtzeitige Informierung über sich abzeichnende bestandsgefährdende Entwicklungen.1228 Konkret erfordert dies ein funktionierendes Berichtswesen mit eindeutigen Zuständigkeiten und ausreichender Dokumentation.1229 Diese im Wesentlichen schon immer bestehende Pflicht wird nach der zutreffenden herrschenden Meinung seit dem KonTraG ausdrücklich durch § 91 Abs. 2 AktG normiert.1230 Dagegen lässt sich
1221
Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 69. Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 9. 1223 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 7. 1224 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 91 Rn. 6; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 36; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 6; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 10. 1225 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 91 Rn. 8; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 33; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 7; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 6. 1226 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 33; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 7; Spindler, in: MüKo AktG, § 91 Rn. 28. 1227 Begr. RegE, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 1228 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 91 Rn. 9; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 34 ff.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 7 und 10; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 9; siehe zur dies begründenden Gesetzgebungsgeschichte Spindler, in: MüKo AktG, § 91 Rn. 29. 1229 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 91 Rn. 9; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 36; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 10; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 9. 1230 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 29; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 10; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 91 Rn. 14; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 10. 1222
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
daraus keine Pflicht ableiten, ein umfassendes „Risikomanagementsystem“ zu implementieren.1231 Bestandsgefährdende Entwicklungen werden zumindest hinsichtlich § 91 Abs. 2 AktG aber von der herrschenden Meinung enger gefasst als eine Gefährdung der dauerhaften Rentabilität, nämlich als Begründung oder signifikante Erhöhung eines Insolvenzrisikos.1232 Dies steht in einem gewissen Widerspruch zur zitierten Gesetzesbegründung. Hinsichtlich der Organisationspflicht kann dem dennoch zugestimmt werden, da es insoweit um die Erkennung bestandsgefährdender Entwicklungen geht, die sich primär aus bereits realisierten Maßnahmen ableiten lassen. Dabei wird es sich aufgrund der leichteren Bewertbarkeit regelmäßig um eher akute kurz- bis mittelfristige Entwicklungen handeln. Davon zu unterscheiden ist die dauerhafte Bestandssicherung durch einen angemessenen Gewinn als Ermessensgrenze für Vorstandsentscheidungen. Hier entscheidet der Vorstand, ob Maßnahmen zukünftig realisiert werden sollen. Dieser Unterschied zwischen organisatorischer Überwachung und gestaltender unternehmerischer Entscheidung nach den §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG rechtfertigt einen unterschiedlichen Maßstab. Dies wird auch dadurch deutlich, dass von den Vertretern der interessenpluralistischen Zielkonzeption nicht nur auf den Bestand, sondern im Zweiklang auch auf die dauerhafte Rentabilität abgestellt wird. Selbstredend muss der Vorstand die Erkenntnisse aus der Überwachung aber in seine gestaltenden Entscheidungen einfließen lassen. Aus dem Erfordernis eines angemessenen Gewinns ergibt sich umgekehrt eine Grenze für gewinnschmälernde Aufwendungen des Unternehmens. Aufgrund der längerfristigen Ausrichtung des Gewinns sind vorübergehende kurz- bis mittelfristige unrentable Zeitabschnitte, beispielweise Investitionsphasen, um das Unternehmen dauerhaft rentabel zu halten, rechtlich zulässig und nicht selten sogar ökonomisch geboten.1233 Gewinnschmälernde Aufwendungen bedürfen aber insbesondere dann einer besonderen Prüfung, wenn ihr Beitrag zur dauerhaften Rentabilität auch auf lange Sicht nicht bezifferbar, ungewiss oder von vornherein ausgeschlossen ist. Dies weist Parallelen zur Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen soziale Aufwendungen des Unternehmens zulässig sind. Nach der ganz herrschenden Meinung müssen diese ebenfalls angemessen sein, ohne dass sich eine 1231 So die ganz herrschende Meinung, siehe nur Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 91 Rn. 9; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 34 ff.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 8 ff.; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 91 Rn. 14; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 6 und 10. Zu weitergehenden Pflichten für an einer US-Börse notierte Unternehmen siehe Rn. 13; anders aber vor dem Hintergrund europarechtlicher Wertungen Spindler, in: MüKo AktG, § 91 Rn. 24. 1232 Siehe nur Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 91 Rn. 7; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 91 Rn. 32; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 91 Rn. 8 f.; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 91 Rn. 23; Müller-Michaels, in: Hölters, AktG, § 91 Rn. 6; anders dagegen Spindler, in: MüKo AktG, § 91 Rn. 20 ff. 1233 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 53.
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bezifferbare generelle Grenze ziehen lässt.1234 Entscheidender Bezugspunkt der Angemessenheit ist die Größe des Unternehmens sowie seine Vermögens- und Ertragslage.1235 Die grundsätzliche gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit sozialer Aufwendungen wird auch durch das Steuerrecht bestätigt, denn der Spendenabzug bei der Gewerbe- und Körperschaftsteuer setzt diese voraus (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG, §§ 8 Nr. 9, 9 Nr. 5 GewStG).1236 Der Maßstab der Angemessenheit kann grundsätzlich auf die Pflicht zur Steuergestaltung übertragen werden. Wertungsmäßig gilt es dabei allerdings zu beachten, dass Steuern, anders als sonstige soziale Aufwendungen eines Unternehmens, vom Staat im Interesse aller erhoben werden. Sie dienen damit abstrakt einem höheren Zweck als Spenden an den lokalen Fußballverein. Wie der Äquivalenzgedanke zeigt, kommen Steuern darüberhinaus auch dem Unternehmen selbst wieder zugute.1237 Dies vorangestellt, gilt für die Pflicht zur Steuergestaltung daher Folgendes: Die Körperschaft- und Gewerbesteuer schmälern den investierbaren Gewinn des Unternehmens, setzen allerdings zunächst einmal einen Gewinn voraus und belassen den Großteil beim Unternehmen. Bei einem durchschnittlich wirtschaftenden Vorstand ist die steuerliche Belastung daher für das Unternehmen grundsätzlich weder unmittelbar bestandsgefährdend noch verhindert sie einen angemessenen Gewinn.1238 Dies deckt sich auch mit dem Willen des deutschen Gesetzgebers, der in seinen Steueränderungsgesetzen regelmäßig das Ziel benennt, die (internationale) Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken.1239 Die Ermessensgrenze der dauerhaften Rentabilität zwingt den Vorstand also grundsätzlich nicht zu Steuergestaltungen.1240 Der 1. Strafsenat des BGH macht die Zulässigkeit sozialer Aufwendungen hinsichtlich des Untreuetatbestands (§ 266 StGB) insgesamt von einer Gesamtschau unterschiedlicher Kriterien abhängig.1241 Neben der bereits dargestellten Angemessenheit im Hinblick auf die Vermögens- und Ertragslage benennt er als Kriterien die Nähe der Aufwendung zum Unternehmensgegenstand, die innerbetriebliche Transparenz sowie das Vorliegen sachwidriger Motive, was vor allem die Verfolgung 1234 BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (197); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 47; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 97; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 35. 1235 BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (197); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 47; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 35; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 97; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 35; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 71. 1236 Hüttemann, DB 2016, 429 (430). 1237 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). 1238 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 45. 1239 Siehe beispielweise Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, BTDrucks. 16/4841, S. 2 f. und 32. 1240 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 45 f. 1241 BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (197).
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
eigener Interessen einschließt.1242 Jedenfalls, wenn alle diese Kriterien erfüllt sind, handelt der Vorstand pflichtwidrig und macht sich der Untreue nach § 266 StGB strafbar.1243 Damit stellt sich die Frage, inwieweit sich diese weiteren Kriterien auf die Pflicht zur Steuergestaltung übertragen lassen. Steuern sparen ist grundsätzlich kein Unternehmensgegenstand, dasselbe gilt für Steuern zahlen. Steuern knüpfen aber unmittelbar an die typischerweise wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens an, die seinem Unternehmensgegenstand entsprechen muss. Ohne staatliche Leistungen wie Infrastruktur etc. wäre es den Unternehmen nicht möglich, ihren Unternehmensgegenstand ebenso erfolgreich zu verwirklichen. Der Äquivalenzgedanke1244 begründet damit eine Nähe zwischen Steuern und Unternehmensgegenstand. Die innerbetriebliche Transparenz dient letztlich dazu, der Verfolgung sachwidriger Motive entgegenzuwirken. Die Verfolgung sachwidriger insbesondere persönlicher Motive ist im Hinblick auf die Zahlung von Unternehmenssteuern ausgeschlossen. Unabhängig davon sollte der Vorstand innerbetrieblich offenlegen, wie viel Steuern das Unternehmen zahlt. Dass sich das Unternehmen als „Good Corporate Citizen“ erweist, kann die Mitarbeiter motivieren. Eine Offenlegung der Steuererklärung ist dagegen nicht erforderlich und sollte im Gegenteil mit Rücksicht auf die Wettbewerber unterbleiben. Im Ergebnis liegt damit auch nach den weiteren Kriterien des 1. Strafsenats das Absehen von Steuergestaltungen grundsätzlich im Ermessen des Vorstands. Im Einzelfall kann sich die Situation eines Unternehmens anders darstellen. Denkbar erscheint dies, wenn der Wettbewerbsdruck in einem Marktsegment sehr hoch ist und die Konkurrenz sich durch überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen erhebliche Wettbewerbsvorteile verschafft.1245 In einem solchen Fall erscheint es möglich, dass der Verzicht auf Gestaltungen aufgrund des staatlichen Interesses einen angemessenen Gewinn gefährdet und der Vorstand daher zur Vornahme verpflichtet ist. Dies bedeutet aber nicht Steuergestaltung um jeden Preis. Ob der Vorstand auch nur wahrscheinlich wirksame Gestaltungen vornimmt (>50 %), liegt nach wie vor in seinem Ermessen. Denn ob ein risikoreicher oder risikoarmer Weg der bessere ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wirksame Gestaltungen (>95 %) wird der Vorstand aber vornehmen müssen. Aufgrund der Ausrichtung der Körperschaft- und Gewerbesteuer am Gewinn und dem ertragssteuerrechtlichen Prinzip der Besteuerung
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BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (197). BGH, Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (197). 1244 Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (d) (S. 142 ff.). 1245 Die Bedeutung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens hat auch der Gesetzgeber des UMAG betont, siehe Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. Die Pflicht des Vorstands, das Gestaltungsverhalten der Konkurrenz zu beachten, sieht auch Grotherr, Ubg 2015, 360 (361). 1243
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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nach der Leistungsfähigkeit kann es sich dabei insgesamt aber nur um seltene Ausnahmefälle handeln. Der umgekehrte Fall ist dagegen wahrscheinlicher. Wenn ein Unternehmen in großem Umfang risikobehaftete überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen realisiert und diese Jahre später für unwirksam erklärt werden, können die dann auflaufenden Steuernachzahlungen und Zinsen im Einzelfall bestandsgefährdend sein.1246 Der Vorstand ist daher verpflichtet, in diesen Fällen entsprechende Rücklagen zu bilden, um den Bestand des Unternehmens zu sichern. Die kalkulierte Bestandsgefährdung des Unternehmens ist dem Vorstand nach der insoweit zutreffenden Auffassung von Stenert jedenfalls durch Steuergestaltungen verboten, da diese nicht die im Unternehmensgegenstand zufassende eigentliche Tätigkeit eines Unternehmens darstellen.1247 Eine unscharfe Grenze ziehen auch bereits die Interessen der nichtstaatlichen Stakeholder, da sie an wahrscheinlich unwirksamen Gestaltungen ebenso wenig Interesse haben wie an gerade wahrscheinlich wirksamen (>50 %) mit geringem finanziellen Nutzen und hohen Ausfallkosten.1248 c) Zwischenergebnis Zusammengefasst gilt: Eine Pflicht zur Steuergestaltung besteht von vornherein nicht, wenn der Vorstand durch eine Gestaltung gegen seine Legalitätspflicht verstößt. Sie bildet eine absolute Grenze. Dies ist insbesondere der Fall, wenn er mit der Gestaltung eine Steuerhinterziehung begeht oder gegen die aktienrechtliche Kompetenzordnung verstößt. Letztere ist unter anderem verletzt, wenn eine Gestaltung außerhalb des Unternehmensgegenstands liegt, ein aus diesem ableitbares Risikoprofil nicht einhält oder ohne die erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats beschlossen und realisiert wird. Schließlich endet die Legalitätspflicht auch nicht an der Landesgrenze, sondern umfasst auch ausländische Handlungsgebote und -verbote. Wenn die Legalitätspflicht nicht eingreift, stehen Steuergestaltungen dagegen grundsätzlich im Ermessen des Vorstands. Die Ermessengrenze bildet die Pflicht des Vorstands, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu sichern. Die dauerhafte Rentabilität setzt einen angemessenen Gewinn voraus. Im Hinblick auf das Absehen von Steuergestaltungen als gewinnschmälernde Aufwendungen ohne konkrete Gegenleistung kann der für soziale Aufwendungen geltende Maßstab der Angemessenheit im Verhältnis zur Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft übertragen werden. Da die Körperschaft- und Gewerbesteuer an den Gewinn anknüpfen, aber den wesentlichen Teil bei der Gesellschaft belassen, ist der Vorstand grundsätzlich nicht verpflichtet, Steuergestaltungen vorzunehmen. Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn das Unternehmen einem großen Wettbe1246
Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (14). Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 59. 1248 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.); so unmittelbar Bestand und dauerhafte Rentabilität konkretisierend Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (170). 1247
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
werbsdruck durch steuergestaltende Konkurrenten ausgesetzt ist und ohne entsprechende Gestaltungen ein angemessener Gewinn gefährdet erscheint. Nimmt der Vorstand risikobehaftete Steuergestaltungen vor, muss er für diese entsprechende Rücklagen bilden, wenn andernfalls der Bestand oder die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft gefährdet werden. 4. Konkretisierung der Pflicht zur Steuergestaltung durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Die bis hierher aus der interessenpluralistischen Zielkonzeption der Aktiengesellschaft abgeleitete Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung fällt als unternehmerische Ermessensentscheidung grundsätzlich in den Anwendungsbereich der deutschen Business Judgment Rule (BJR) (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG).1249 Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber die Maßstäbe der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH1250 in das Aktiengesetz transponiert.1251 Vorliegend wird die Auffassung vertreten, dass die Pflicht zur Steuergestaltung durch die Business Judgment Rule konkretisiert wird.1252 Diesem Ansatz könnte man die Ausgestaltung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als bloßem Ausschluss der Pflichtverletzung entgegenhalten.1253 Werden dessen Voraussetzungen verneint, ist eine Verletzung der Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG positiv festzustellen,1254 was dagegen sprechen könnte, Pflichten aus Satz 2 abzuleiten. Dieser Einwand ist zwar grundsätzlich berechtigt, allerdings ist nach der überwiegenden Meinung in der Literatur eine Pflichtverletzung nach Satz 1 regelmäßig indiziert,
1249 Grotherr, Ubg 2015, 360 (368); Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (190 f.); Rolf/ Meiisel, CB 2015, 14 (15); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48 f.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 51 ff.; im Ergebnis wohl auch OLG Stuttgart, Urteil vom 12. Mai 1999 – 20 U 62/98, NZG 2000, 159 (162). 1250 BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (253 f.). 1251 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 1252 Für die Konkretisierung der Vorstandspflichten hinsichtlich Ermessensentscheidungen durch § 93 Abs. 1 Satz 2 sind beispielsweise Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 52; ebenso Mülbert, AG 2009, 766 (772). 1253 Der Streit über die Rechtsnatur des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wird von der überwiegenden Meinung in der Literatur zu Recht für praktisch irrelevant gehalten, siehe Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 65; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 67; Mertens/ Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 15; dies auf das Zivil- und Aktienrecht beschränkend Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 39. In der Begründung des Regierungsentwurfs wird ausdrücklich von „Tatbestandseinschränkung“ gesprochen, siehe Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 1254 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 53; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 12; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, 93 Rn. 40.
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wenn die Voraussetzungen nach Satz 2 zu verneinen sind.1255 Aufgrund der Beweislastumkehr nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG hat der Streit in der Praxis ohnehin regelmäßig keine Auswirkung.1256 Kann ein Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des Satzes 2 nicht darlegen, wird es erhebliche Schwierigkeiten haben, sein pflichtgemäßes Verhalten nach Satz 1 zu beweisen. Daher kann die Vorstandspflicht zur Steuergestaltung anhand des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG konkretisiert werden.1257 Die Gerichte müssen aber bei Nichtvorliegen der nachfolgend zu konkretisierenden einzelnen Verhaltensanforderungen trotz Indizwirkung einen Pflichtverstoß nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG positiv feststellen. Losgelöst von Satz 2 bzw. seinen Wertungen und vorbehaltlich ausdrücklich im Gesetz oder der Satzung normierter Pflichten lässt sich die allgemeine Sorgfaltspflicht des Satzes 1 bei Ermessensentscheidungen nicht sinnvoll abstrakt-generell konkretisieren.1258 Sie muss daher der gerichtlichen Prüfung im konkreten Einzelfall vorbehalten bleiben. Die Indizwirkung bildet dabei das haftungsrechtliche Gegengewicht zur Weite des interessenpluralistischen Ansatzes, vor allem wenn ein Handeln „auf der Grundlage angemessener Information und zum Wohle der Gesellschaft“ (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) verneint werden muss. Im Folgenden soll daher nun die Pflicht zur Steuergestaltung anhand des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG weiter konkretisiert werden. Nach dem Wortlaut verfügt dieser über drei Tatbestandsmerkmale, die bereits in der Begründung des Regierungsentwurfs sowie in Rechtsprechung und Literatur teilweise weiter differenziert werden.1259 Die nachfolgende Darstellung gliedert sich strikt nach dem Gesetzeswortlaut. a) „Unternehmerische Entscheidung“ Das erste Tatbestandsmerkmal ist das Vorliegen einer unternehmerischen Entscheidung. Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs erfordert dies, eine bewusste Entscheidung zu handeln oder etwas zu unterlassen.1260 Das unbewusste 1255 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 67; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 40; andere Auffassung wohl Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 9. Er spricht von „optimalen Entscheidungsvoraussetzungen“; zurückhaltender auch Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 65. 1256 Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 40; die Bedeutung der Beweislast in diesem Kontext betont auch Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 65; ebenso Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 12 und 54. Zur Darlegungs und Beweislast siehe unten Kap. 4, B. (S. 232 ff.). 1257 So auch, allerdings ohne dies zu problematisieren, Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 50 ff. 1258 So im Ergebnis auch Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 60. 1259 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 15. 1260 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 80; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 16; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 22; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 44.
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Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
Verstreichenlassen von Gestaltungsmöglichkeiten ist daher nicht erfasst.1261 Das Tatbestandsmerkmal der unternehmerischen Entscheidung deckt sich insoweit mit der aus dem interessenpluralistischen Ansatz abgeleiteten Pflicht des Vorstands, Steuergestaltungsmöglichkeiten zu prüfen.1262 Der mögliche Einwand, der Vorstand könne sich im staatlichen Interesse regelmäßig auf ein bewusstes Unterlassen berufen, scheitert praktisch an der Beweislastumkehr.1263 Kann der Vorstand nicht darlegen, sich mit Gestaltungsmöglichkeiten auseinandergesetzt zu haben, liegt keine unternehmerische Entscheidung vor. Daher ist dem Vorstand einer Aktiengesellschaft eine entsprechende Dokumentation dringend zu empfehlen.1264 Ohne diese dürfte es darüber hinaus schwierig werden, ein Handeln auf angemessener Informationsgrundlage zu beweisen. Des Weiteren sind unternehmerische Entscheidungen nach der Gesetzesbegründung zukunftsbezogen und durch „Prognosen und nicht justiziable Einschätzungen geprägt“, die von gesetzlichen, satzungsmäßigen oder anstellungsvertraglichen Pflichten ohne tatbestandlichen Beurteilungsspielraum abzugrenzen sind.1265 In der Literatur finden sich teilweise abweichende Beschreibungen.1266 Da Steuergestaltungen aber im Hinblick auf ihre Wirksamkeit oder ihren Nutzen stets risikobehaftet und prognosebedürftig sind sowie unstreitig eines Ermessensspielraums bedürfen,1267 muss darauf hier nicht näher eingegangen werden. Jedenfalls, wenn eine rechtlich gebundene Entscheidung vom Vorstand zu treffen ist oder die Legalitätspflicht1268 aus anderen Gründen greift, ist für eine unternehmerische Entscheidung als Ermessensentscheidung des Vorstands kein Raum.1269 In allen anderen Fällen stellt die bewusste Ermessensentscheidung des Vorstands, eine Steuergestaltung zu realisieren oder zu unterlassen, eine unternehmerische Entscheidung dar. Dies entspricht auch sämtlichen Literaturauffassungen.1270 1261 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 80; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 16; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 22; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 44. 1262 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.) und Kap. 2, B. III. 2. c) (S. 182 ff.). 1263 Diese ergibt sich bereits aus der Formulierung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Ausnahme zu Satz 1, siehe Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. Siehe auch § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG. 1264 Siehe beispielsweise Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 16. 1265 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 1266 Einen guten Überblick zum Streitstand gibt Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 68. 1267 Siehe oben Kap. 2, B. III. 1. (S. 160 ff.) und Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 1268 Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 1269 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 73 ff.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 16; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 21; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 45. 1270 Grotherr, Ubg 2015, 360 (368); Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (190 f.); Rolf/ Meiisel, CB 2015, 14 (15); Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091); Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (48 f.); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 51 ff.; im Ergebnis wohl auch OLG Stuttgart, Urteil vom 12. Mai 1999 – 20 U 62/98, NZG 2000, 159 (162).
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b) „Vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information (…) zu handeln“ Das zweite Tatbestandsmerkmal setzt voraus, dass der Vorstand vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln. Entscheidet der Vorstand ins Blaue hinein, ist er nicht schutzwürdig und bedarf keines haftungsrechtlich abgesicherten Ermessensspielraums.1271 Der Wortlaut des Gesetzes stellt hinsichtlich der Angemessenheit der Informationsgrundlage auf einen gemischt objektiv-subjektiven Maßstab ab.1272 Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs wird das subjektive Merkmal der „Annahme des Vorstandsmitglieds“ durch das objektive Merkmal „vernünftigerweise“ begrenzt.1273 Die Zeitform „durfte“ stellt zudem auf den Zeitpunkt der Entscheidung ab. Die Angemessenheit bezieht sich auf den Grad des Informationsbedarfs.1274 Der Vorstand erhält somit diesbezüglich einen erheblichen, aber objektiv begrenzten Ermessensspielraum.1275 Objektive Beurteilungskriterien für die Angemessenheit sind die Dringlichkeit der Entscheidung sowie ihre Bedeutung.1276 Die Gesetzesbegründung stellt klar, dass bei unverschuldet hohem Zeitdruck die Schaffung einer vollständigen Informationsgrundlage für eine Entscheidung schwierig bis unmöglich sein kann.1277 Des Weiteren gibt die Betriebswirtschaft die im Wesentlichen zu klärenden Punkte vor, wie Rentabilität, Risikobewertung, Investitionsvolumen, Finanzierung etc.1278 Zu Recht wird in der Literatur angesichts der Subjektivität der Risikogeneigtheit und Wahrscheinlichkeitsbeurteilung auf die besondere Bedeutung der Tatsachengrundlage hingewiesen.1279 Die Gesetzesbegründung stellt zudem auf „anerkannte betriebswirtschaftliche Verhaltensmaßstäbe“ ab, jedoch ohne diese näher zu konkre-
1271 BGH, Beschluss vom 14. Juli 2008 – II ZR 202/07, NJW 2008, 3361 (3362 – Rn. 11); BGH, Beschluss vom 3. November 2008 – II ZR 236/07, NZG 2009, 117 (117 – Rn. 3); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 20. 1272 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 f.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 21. 1273 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 f.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 21. 1274 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 1275 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 1276 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 1277 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 48. 1278 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; siehe auch Loritz/Wagner, DStR 2012, 2189 (2189). Sie sehen Art und Umfang der zu ermittelnden Informationen sowie den Inhalt der Chancen-/Risikoabwägung zuvörderst als betriebswirtschaftliche Fragen an, deren Beurteilung bei Organhaftungsklagen durch Sachverständige vorzunehmen sei. Siehe insoweit auch BGH, Urteil vom 22. Februar 2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 (551 – Rn. 25). Danach muss ein Gericht, um entscheiden zu können, ob eine Kosten-Nutzen-Analyse nach branchenüblichen Techniken erfolgt ist, die eigene Sachkunde auf dem Gebiet der Unternehmensplanung darlegen oder einen Sachverständigen hören. 1279 Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 48 und 53.
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tisieren,1280 weshalb dies nur bedingt weiterhilft.1281 Man kann dies wohl mit „nach den Regeln der (betriebswirtschaftlichen) Kunst“ übersetzen.1282 Ein Kriterium ist danach, neben der Dringlichkeit und der Bedeutung der Entscheidung, jedenfalls das Verhältnis von potentiellem Informationsgewinn und Beschaffungskosten.1283 Außerdem, so die Gesetzesbegründung, darf die Bestimmung der Angemessenheit nicht grob pflichtwidrig sein.1284 Insgesamt will der Gesetzgeber den Vorstand ermutigen, kalkulierbare Risiken einzugehen, ohne Leichtsinn auf Kosten der Stakeholder zu fördern.1285 Für erhebliche Diskussionen sorgt nach wie vor die Auffassung des BGH, der vom Vorstand verlangt, dass er in einer „konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausschöpft und auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abschätzt und den erkennbaren Risiken Rechnung trägt.“1286 Diese Anforderungen werden in der Literatur zu Recht kritisiert, da sie nicht nur faktisch zu weit gehen, sondern auch – zumindest auf den ersten Blick – im Widerspruch zu den Merkmalen der „Angemessenheit“ und des „vernünftigerweise annehmen Dürfens“ sowie zur Gesetzesbegründung stehen.1287 Die Lösung ist jedoch entsprechend der Auffassung aktueller und ehemaliger Mitglieder des zuständigen zweiten Zivilsenats sowie weiterer Literaturstimmen in dem Verweis auf die „konkrete Entscheidungssituation“ und die „verfügbaren Informationsquellen“ zu sehen.1288 Dem BGH geht es darum, die tatrichterliche 1280
Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. Spindler weist zu Recht darauf hin, dass sich diese nicht verallgemeinern lassen und daher als verbindliche Vorgaben nicht taugen. Was nicht heißt, dass sie nicht als relativer, der permanenten Entwicklung unterworfener Orientierungsmaßstab hilfreich sein können, Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 30 und 38; ebenfalls kritisch, da betriebswirtschaftliche Auffassungen genauso umstritten sind wie juristische, Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 86. 1282 Ähnlich im Hinblick auf die Wahl des Prognoseverfahrens, Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 53. 1283 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 70; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 34; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 33; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 48. 1284 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 1285 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; dies vor dem Hintergrund des managertypischen Phänomens des Überoptimismus begrüßend, Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 71a. 1286 BGH, Beschluss vom 14. Juli 2008 – II ZR 202/07, NJW 2008, 3361 (3361 f. – 1. Leitsatz und Rn. 11); BGH, Urteil vom 18. Juni 2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 (314 – Rn. 30); zuvor Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (140 f.). Auf diesen wird ausdrücklich vom BGH verwiesen. 1287 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 71a; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 102 und 105; Redeke, ZIP 2011, 59 (60). 1288 Henze/Born/Drescher, AktR Höchstrichterliche Rechtsprechung, S. 185 – Rn. 658 ff.; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 71a; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 20; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 33; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 48. 1281
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Würdigung im Einzelfall zu betonen.1289 Denn losgelöst von der konkreten Entscheidungssituation lässt sich die angemessene Informationsgrundlage abstrakt nur eingeschränkt präzisieren.1290 Nach der zutreffenden herrschenden Lehre, dem Willen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung des BGH ist dem Vorstand damit in Abhängigkeit von den Umständen der konkreten Entscheidungssituation auch hinsichtlich des Umfangs der Informationsgrundlage ein Ermessenspielraum eingeräumt, der aber einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten muss, was aus dem objektiven Maßstab „vernünftigerweise“ folgt.1291 Generell gilt dabei: Je mehr sich eine Entscheidung auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft – was einen angemessenen Gewinn einschließt – auswirken kann, desto höher sind die Anforderungen an die angemessene Informationsgrundlage.1292 Eine angemessene Informationsgrundlage erfordert daher immer auch die Ermittlung der möglichen Auswirkungen einer Vorstandsentscheidung auf die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft. Des Weiteren sind das Verhältnis von potentiellem Informationsgewinn und Beschaffungskosten sowie die Dringlichkeit der Entscheidung für die Angemessenheit zu berücksichtigen.1293 Die vorherigen Ausführungen gelten auch für die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung. Daher gilt: Je mehr sich eine Gestaltung auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft auswirken kann, desto höher sind die Anforderungen an die angemessene Informationsgrundlage. Da Bestand und dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft dem Interesse aller Stakeholder entsprechen, passt der
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Henze/Born/Drescher, AktR Höchstrichterliche Rechtsprechung, S. 185 – Rn. 660; die Bedeutung der Umstände des Einzelfalls betont auch Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 71a. 1290 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 71a; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 48. 1291 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Eckert, in: Wachter, AktG, § 93 Rn. 16; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 71a; eine „vertretbare Informationsauswahl“ fordern Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 34; Redeke, ZIP 2011, 59 (60 ff.); wohl auch Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 48. Er spricht von einem an den „konkreten Einzelfall angepassten Spielraum“; etwas enger Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 21. Dieser fordert in Abgrenzung zur Entscheidung zum Wohl des Unternehmens eine „engmaschigere gerichtliche Plausibilitätskontrolle“. Da es, wie ausgeführt, ohnehin entscheidend auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, dürften die praktischen Auswirkungen überschaubar sein. Insgesamt unklar Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 34; zwischen den Kontrollmaßstäben der „Unverantwortlichkeit“ und „Unvertretbarkeit“ unterscheidend dagegen Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 113 f.; dieser abstrakten Differenzierung gegenüber im Hinblick auf den praktischen Nutzen für die Lösung des konkreten Einzelfalls zu Recht kritisch Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 56. 1292 Brömmelmeyer, WM 2005, 2065 (2067); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 70; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 107; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 50. 1293 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 34; Krieger/Sailer-Coceani, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 93 Rn. 17; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 70.
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Maßstab auch vor dem Hintergrund der Grenze der interessenpluralistischen Zielkonzeption und der aus ihr deduzierten Pflicht zur Steuergestaltung.1294 Wie der Vorstand die Interessen der nichtstaatlichen und staatlichen Stakeholder zu ermitteln hat, wurde bereits dargelegt und gilt hier entsprechend.1295 Nachfolgend soll der Umfang, in dem die Stakeholder-Interessen in der konkreten Entscheidungssituation zu ermitteln sind, – soweit abstrakt möglich – bestimmt werden. Der Maßstab der Angemessenheit der Informationsgrundlage, auf deren Basis der Vorstand vernünftigerweise annehmen darf zu handeln, kann insoweit übertragen werden. Er kann ausgehend von der Gleichwertigkeit der Interessen nach der interessenpluralistischen Zielkonzeption weiter konkretisiert werden. Für einen Vorstand, der dieser Zielkonzeption verpflichtet ist, muss gelten: Je mehr er aufgrund der generell-abstrakten Stakeholder-Interessen davon ausgehen muss, dass sich die Entscheidung auf ein oder mehrere Stakeholder-Interessen negativ auswirkt, desto höher sind die Anforderungen an die Ermittlung aller Interessen in der konkreten Entscheidungssituation. Umgekehrt gilt: Je mehr der Vorstand davon ausgehen muss, dass sich die Entscheidung auf alle Interessen positiv auswirkt, desto geringer sind die Anforderungen an die Ermittlung aller Interessen. Dabei gilt es stets zu beachten, dass die interessenpluralistische Zielkonzeption ohne eine hinreichende Ermittlung der Stakeholder-Interessen in der konkreten Entscheidungssituation ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht wird. Legt man diesen Maßstab zugrunde, muss hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung zwischen dem regelmäßig entgegengesetzten staatlichen StakeholderInteresse und den Interessen der nichtstaatlichen Stakeholder differenziert werden.1296 Aufgrund des generell-abstrakten staatlichen Interesses bezüglich der Realisierung von Steuergestaltungen gilt somit1297: Je stärker die Steuereinnahmen durch die Gestaltung reduziert werden, desto mehr Aufwand muss der Vorstand betreiben, um das staatliche Interesse zu ermitteln. Für die nichtstaatlichen Stakeholder folgt aus ihren generell-abstrakten Interessen dagegen zweierlei: Erstens je höher der Vorstand das Ausfallrisiko der Gestaltung und die mit der Gestaltung verbundenen einzelnen Kostenpositionen einschätzt, desto höher sind die Anforderungen an die angemessene Informationsgrundlage, auf der diese Einschätzung beruht. Zweitens wenn der Vorstand von einer Gestaltung im staatlichen Interesse absehen will, gilt: Je höher der finanzielle Nutzen und je geringer das Ausfallrisiko der Gestaltung von ihm eingeschätzt werden, desto mehr Aufwand muss der Vorstand betreiben, um die Interessen zu ermitteln. Die Beurteilung der Angemessenheit des Informationsumfangs in der konkreten Entscheidungssituation muss dabei auch hier immer einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten. Das Verhältnis von Informationsbeschaffungskosten und 1294 1295 1296 1297
Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. (S. 171 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. (S. 171 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.).
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Informationsgewinn ist zu berücksichtigen. Die (unverschuldete) Dringlichkeit der Entscheidung wird jedenfalls bei überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen regelmäßig zu verneinen sein. Das Ende des Geschäftsjahres ist kein überraschendes Ereignis, sondern steht von vornherein fest. Anders kann sich die Situation dagegen vor allem in Insolvenznähe darstellen. Bei überwiegend betrieblich motivierten Gestaltungen können Entscheidungen nicht selten (unverschuldet) dringend zu treffen sein, wodurch der angemessene Informationsumfang sich auch für den steuerrechtlich motivierten Teil der Gestaltung reduzieren kann. Neben diesen allgemeinen Ausführungen sind hinsichtlich Entscheidungen über Steuergestaltungen zwei weitere Fragen bezüglich der angemessenen Informationsgrundlage zu klären. Erstens: Wann muss der Vorstand den Rat von internen oder externen (Steuer-)Experten einholen? Und zweitens: Wann muss eine verbindliche Auskunft bei den Finanzbehörden beantragt werden? aa) Die Einholung von (Steuer-)Expertenrat Hinsichtlich der ersten Frage, wann der Vorstand aufgrund seiner Pflicht zur Steuergestaltung den Rat von internen oder externen (Steuer-)Experten einholen muss, äußert sich das Gesetz nicht ausdrücklich. Es ergibt sich aber aus dem Merkmal der angemessen Informationsgrundlage, auf deren Grundlage der Vorstand vernünftigerweise annehmen darf zu handeln. Wenn der Vorstand nur einen geschützten Ermessenspielraum erhält, falls er auf der Basis einer angemessenen Informationsgrundlage handelt, dann muss er sich, wenn er diese nicht selber ermitteln kann, Rat bei einem Experten holen. Der BGH hat in seiner ISION-Entscheidung im Jahr 2011 die Pflicht zu Einholung von Rechtsrat wie folgt definiert: „Der organschaftliche Vertreter einer Gesellschaft, der selbst nicht u¨ ber die erforderliche Sachkunde verfu¨ gt, kann den strengen Anforderungen an eine ihm obliegende Pru¨ fung der Rechtslage und an die Beachtung von Gesetz und Rechtsprechung nur genu¨ gen, wenn er sich unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, fu¨ r die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzieht.“1298
Im Jahr 2015 hat der BGH die ISION-Entscheidung bestätigt und weiter konkretisiert.1299 Entscheidend sind danach zunächst die Vorkenntnisse des ratsuchenden Vorstands oder Aufsichtsrats.1300 So kann von einem juristischen Laien – in der Entscheidung ging es um einen Kommunikationswissenschaftler – nicht erwartet 1298
BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1271 ff. – 2. Leitsatz, Rn. 16 ff.); bestätigt durch BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 28). 1299 BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1743 ff.). 1300 BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 30).
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werden, präzise Rechtsfragen zu stellen.1301 Es kommt vielmehr darauf an, ob der Ratsuchende in Abhängigkeit von seinen Vorkenntnissen nach der Auskunft des Experten davon ausgehen kann, die zweifelhafte Frage sei rechtlich geprüft worden.1302 Des Weiteren hat der BGH das Erfordernis der „sorgfältigen Plausibilitätsprüfung“ für den juristischen Laien präzisiert: „Die Plausibilitätspru¨ fung besteht nicht in einer rechtlichen Überpru¨ fung der erhaltenen Rechtsauskunft. Sie beinhaltet vielmehr eine Überpru¨ fung, ob dem Berater nach dem Inhalt der Auskunft alle erforderlichen Informationen zur Verfu¨ gung standen, er die Informationen verarbeitet hat und alle sich in der Sache fu¨ r einen Rechtsunkundigen aufdrängenden Fragen widerspruchsfrei beantwortet hat oder sich aufgrund der Auskunft weitere Fragen aufdrängen.“1303
Schließlich hat der BGH in der Entscheidung auch das Merkmal der Unabhängigkeit des Experten präzisiert: „Damit ist nicht seine persönliche Unabhängigkeit gemeint, sondern dass der Berater seine Rechtsauskunft sachlich unabhängig, d. h. unbeeinflusst von unmittelbaren oder mittelbaren Vorgaben hinsichtlich des Ergebnisses erteilt hat.“1304
Mit diesen Entscheidungen hat der BGH die Voraussetzungen bestimmt, wann der Vorstand aufgrund seiner Legalitätspflicht Rechtsrat einholen muss und wann er auf diesen schuldausschließend vertrauen darf.1305 Beide Entscheidungen behandelten Handlungsverbote des Aktiengesetzes. Die Pflicht zur Steuergestaltung unterfällt anders als beispielsweise die Steuerhinterziehung aber gerade nicht der Legalitätspflicht.1306 Sie ist grundsätzlich gebotene unternehmerische Ermessensentscheidung aber nicht Verbot. Trotz eines Handelns auf unangemessener Informationsgrundlage bleibt es eine unternehmerische Entscheidung nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.1307 Zudem handelt es sich, wenn der Vorstand die Stakeholder-Interessen in Folge eines mangelhaften Expertenrats falsch beurteilt, um eine unzutreffende Vorstellung auf Tatsachenebene, nicht aber um einen Rechtsirrtum. Die Frage nach der Einholung von Expertenrat stellt sich damit, jedenfalls hier, nicht auf Ebene der Schuld 1301 BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 30); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 44; Vetter, NZG 2015, 889 (894). 1302 BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 30). 1303 BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1746 – Rn. 33); zustimmend beispielsweise Vetter, NZG 2015, 889 (894); ablehnend Bayer/Scholz, ZIP 2015, 1853 (1860); einen guten Überblick zum aktuellen Meinungsstand in der Literatur gibt BuckHeeb, BB 2016, 1347 (1348 ff.). 1304 BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1746 – Rn. 36). 1305 Umstritten ist, ob diese Frage auf Ebene der Pflichtverletzung oder des Verschuldens anzusiedeln ist. Zu den Konsequenzen siehe Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 19. 1306 Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. (S. 184 ff.). 1307 So hinsichtlich unternehmerischer Entscheidungen Merkt/Mylich, NZG 2012, 525 (529); siehe auch Sander/Schneider, ZGR 2013, 725 (737).
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(„unverschuldeter Rechtsirrtum“1308), sondern auf Ebene der Pflichtverletzung (Tatsachenirrtum).1309 Zu klären ist damit, inwieweit die Entscheidungen auch hier gelten. Die Stakeholder-Interessen stehen zwar in der Regel nicht im Gesetz, sie sind aber von der Rechtslage abhängig, wie das insbesondere im Aktionärsinteresse zu ermittelnde Ausfallrisiko einer Gestaltung illustriert. Auch ob eine Gestaltung vom Staat gewollt ist, lässt sich nicht ohne eine Auslegung des Gesetzes feststellen. Wenn der Vorstand die Rechtslage nicht selbst ermitteln kann,1310 muss er sich also auch hier Rat bei fachlich qualifizierten Berufsträgern holen. Dies dürfte aufgrund der Komplexität des Steuerrechts – kaum eine betriebliche Tätigkeit ist steuerrechtlich irrelevant – regelmäßig der Fall sein. Da die Steuergestaltung dem Vorstand nicht verboten ist, besteht ein wesentlicher Unterschied in der Strenge der Anforderungen, die den Vorstand treffen. Die Pflicht zur Steuergestaltung ist eine unternehmerische Ermessensentscheidung. Dies unterscheidet sie von gesetzlichen Verboten ohne Entscheidungsspielraum. Dass es auch bei gesetzlichen Verboten mitunter unsicher sein kann, ob sie einschlägig sind, ändert an diesem kategorischen Unterschied nichts. Die Strenge der Anforderungen muss daher dem Maßstab der Angemessenheit der Informationsgrundlage entsprechen.1311 Dies entspricht der Wertung des BGH und des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Bei einem Expertenrat hinsichtlich der Legalitätspflicht gelten nur deswegen strenge Anforderungen, weil der Maßstab der Angemessenheit der Informationsgrundlage mangels unternehmerischer Entscheidung von vornherein nicht eröffnet ist. Die Anforderungen, wann der Vorstand auf den Expertenrat haftungsausschließend vertrauen darf, sind formal identisch. Materiell muss dagegen teilweise differenziert werden. Er muss dem Experten die Verhältnisse der Gesellschaft umfassend darstellen und ihm die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stellen. Rückfragen des Experten muss er beantworten, erkannte Missverständnisse aufklären und Zweifel soweit möglich ausräumen.1312 Selbstredend muss der Experte ein „fu¨ r die zu klärende Frage fachlich qualifizierter Berufsträger“ sein. Daraus wird in der Literatur zu Recht abgeleitet, dass die Expertise in dem einschlägigen Rechtsgebiet erforderlich ist.1313 Die pflichtgemäße Steuerberatung erfordert nach dem BGH „sachgerechte Hinweise u¨ ber die Art, die Größe und die mögliche Höhe eines 1308
BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1271 f. – Rn. 16). 1309 Dies sowohl für den Rechtsirrtum als auch alle anderen Fälle des Vertrauens auf Expertenrat annehmend Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 205 und 209; ebenso Sander/ Schneider, ZGR 2013, 725 (731 ff.). 1310 Zu den steuerrechtlichen Mindestkenntnissen, die ein Vorstandsmitglied haben muss, siehe unten Kap. 5, B. I. (S. 249 ff.). 1311 Im Ergebnis hinsichtlich der Legalitätspflicht ähnlich Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1355); dies vom Einzelfall abhängig machend Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 34. 1312 Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1350); Vetter, NZG 2015, 889 (894). 1313 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 249; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 44.
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Steuerrisikos, um den Auftraggeber in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich seine Rechte und Interessen zu wahren und eine Fehlentscheidung zu vermeiden.“1314 Den erhaltenen Expertenrat muss der Vorstand einer Plausibilitätskontrolle entsprechend den oben zitierten Vorgaben des BGH unterziehen. Je ausgeprägter die steuerrechtlichen Kenntnisse des Vorstands sind, desto höher sind die Anforderungen daran, was er als plausibel ansehen darf.1315 Nach strittiger, aber zutreffender Auffassung im Schrifttum wird man aber gerade bei längeren Gutachten kein seitenweises Studieren verlangen können. Im Hinblick auf das in der Praxis Leistbare muss die Prüfung der Zusammenfassung (Executive Summary) verbunden mit einzelnen Stichproben grundsätzlich ausreichen.1316 Die Prüfungsdichte in der konkreten Entscheidungssituation muss sich auch hier nach den möglichen Auswirkungen auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft richten. Dabei ist mit dem BGH zunächst zu prüfen, ob die Informationen verarbeitet wurden. Des Weiteren kommt es darauf an, ob das Ergebnis die Frage schlüssig – widerspruchsfrei – beantwortet. Die Argumentation darf dabei weder evident einseitig noch lückenhaft sein.1317 Drängen sich aufgrund der Plausibilitätsprüfung Fragen auf, muss der Vorstand beim Experten nachfragen und die Erläuterung einfordern.1318 Ist auch diese nicht zufriedenstellend, steht die Frage der Erforderlichkeit eines Zweitgutachtens im Raum. Jedenfalls wenn erhebliche Zweifel an der Plausibilität des Gutachtens bleiben, wird man diese bejahen müssen, denn der Vorstand kann seine mangelnde Sachkunde in diesem Fall nicht durch den Expertenrat kompensieren. Bei Maßnahmen mit möglicherweise weitreichenden Auswirkungen auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft, wird die Einholung eines Zweitgutachtens ohnehin von der herrschenden Meinung als verpflichtend angesehen.1319 Ergibt sich auch nach dem Zweitgutachten eine Unklarheit der Rechtslage, folgt daraus aber nicht die unendliche Geschichte der Gutachten. Vielmehr muss der Vorstand dann auf Grundlage der erhaltenen Informationen die Chancen und Risiken abwägen und im Unternehmensinteresse entscheiden.1320
1314
So der BGH bezüglich der Pflichten des Steuerberaters, siehe BGH, Urteil vom 15. November 2007 – IX ZR 34/04, NJW 2008, 440 (441 – Rn. 10). 1315 BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1274 – Rn. 28); BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1746 – Rn. 33); BuckHeeb, BB 2016, 1347 (1350 und 1352); dies ergibt sich bereits aus der allgemeinen zivilrechtlichen Dogmatik, siehe Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 49. 1316 Fleischer, DB 2015, 1764 (1769); Strohn, CCZ 2013, 177 (183 f.). 1317 Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1351 f.). 1318 Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1354). 1319 Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1354); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 41. 1320 Ähnlich Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 30. Zum Unternehmensinteresse siehe oben Kap. 2, B. II. 4. d) aa) (S. 83 ff.).
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Nach der ISION-Entscheidung wurde vor allem diskutiert, was aus der „Unabhängigkeit“ des Berufsträgers zu folgern ist.1321 Konkret, ob der Rat der eigenen Rechtsabteilung ausreicht oder ob nur ein externer Experte als unabhängig angesehen werden kann. Jedenfalls ist hinsichtlich der angemessenen Informationsgrundlage des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, ausweislich der Gesetzesbegründung, ein grundsätzliches Einholen von externem Expertenrat zur formalen Absicherung nicht gewollt.1322 „Holen sie die üblichen Gutachten ein“, soll gerade nicht die gängige Vorstandspraxis werden. Entscheidend für die Frage, ob externer Expertenrat benötigt wird, sind nach dem Willen des Gesetzgebers die betriebswirtschaftliche Erforderlichkeit und die interne Expertise der Gesellschaft.1323 Aufgrund des Verweises auf die interne Expertise der Gesellschaft muss der Rat der Rechtsabteilung als unabhängig angesehen werden.1324 Dies setzt jedoch nach den Ausführungen des BGH zweierlei voraus. Erstens müssen die mit der Beantwortung betrauten Mitarbeiter im Hinblick auf die zu klärende Frage fachlich qualifiziert sein. Zweitens muss die freie, d. h. weisungsunabhängige Prüfung der Rechtslage durch die Mitarbeiter sichergestellt sein. Diese fachliche Unabhängigkeit muss den Mitarbeitern der Rechtsabteilung garantiert werden.1325 Bloße Gefälligkeitsgutachten erfüllen diese Anforderungen nicht. Gegen den vermeintlich höheren Wert externer Gutachten aufgrund der Weisungsunabhängigkeit wird zu Recht eingewandt, dass auch insoweit ein gewisser Interessenkonflikt besteht. Der mandatierte Rechtsanwalt oder Steuerberater wird nicht selten geneigt sein, ein Ergebnis im Interesse des ihn bezahlenden Mandanten zu formulieren.1326 Dies gilt umso mehr, wenn es sich um langjährige oder finanziell bedeutsame Mandanten handelt.1327 Entscheidend dürfte in der Praxis danach vor allem die steuerrechtliche Qualifikation des internen oder externen Experten hinsichtlich der zu klärenden Fragestellung sein. Die vorangegangen Ausführungen haben die Anforderungen an die Entscheidungsvorbereitung bei fachlichem Unvermögen des Vorstands behandelt. Für die Praxis mindestens ebenso relevant ist die Delegation der Entscheidung selbst wegen zeitlichen Unvermögens. Gemeint ist damit die faktische Notwendigkeit, Aufgaben zu delegieren. Der Vorstand wird die allermeisten Entscheidungen weder selbst vorbereiten noch treffen können. Ob eine Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung 1321
Dazu exemplarisch und mit weiteren Nachweisen Junker/Biederbick, AG 2012, 898 (898 ff.). 1322 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 1323 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 1324 So im Ergebnis auch Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 47a; anders dagegen Grotherr, Ubg 2015, 360 (369). 1325 Die schriftliche Dokumentation empfiehlt zutreffend Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 249. 1326 In diese Richtung Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 249. 1327 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 249.
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zulässig ist und wenn ja, in welchem Umfang, wird noch Gegenstand dieser Arbeit sein.1328 bb) Die Beantragung von verbindlichen Zusagen der Finanzbehörden Eine weitere praktisch relevante Frage bezüglich der angemessenen Informationsgrundlage bei Entscheidungen über Steuergestaltungen ist, wann der Vorstand vorhandene Möglichkeiten, eine verbindliche Zusage einer Finanzbehörde zu erhalten, ausschöpfen muss.1329 Ist die Anerkennung der Gestaltung nicht ganz überwiegend wahrscheinlich und besteht eine realistische Chance, eine verbindliche Zusage einer Finanzbehörde zu erhalten, muss der Vorstand, um die Anforderungen einer angemessenen Informationsgrundlage zu erfüllen, diese grundsätzlich beantragen.1330 Der potentielle Gewinn an Planungssicherheit ist generell im Interesse aller Stakeholder und der Gefahr, eine Finanzbehörde gerade auf sich aufmerksam zu machen, regelmäßig vorzuziehen. Zudem ist die Auskunft einer Finanzbehörde auch ein gewisses Indiz für das staatliche Interesse. Entscheidend bleibt aber der Wille des Gesetzgebers.1331 Eine Beantragungspflicht besteht dagegen nicht, wenn die etwaige Gebührenpflicht den steuerlichen Nutzen unattraktiv macht und die Kostenpositionen ebenfalls überschaubar sind.1332 Bei der Beurteilung der Chance, eine verbindliche Zusage zu erhalten, muss der Vorstand auch berücksichtigen, dass zumindest eine verbindliche Auskunft nicht erteilt werden soll, wenn sie primär darauf abzielt, einen Steuervorteil zu erlangen (AEAO zu § 89 AO, Nr. 3.5.4).1333 Es kommt also gegebenenfalls darauf an, wie offensichtlich dieses Ziel zu Tage tritt. Insgesamt in diese Richtung weisen auch zwei BGH-Entscheidungen zur Haftung von Steuerberatern.1334 Der BGH hat für die pflichtgemäße Beratung eines Steuerberaters unter bestimmten Voraussetzungen eine Hinweispflicht gegenüber dem Mandanten angenommen, wenn die Möglichkeit besteht, eine verbindliche Auskunft durch eine Finanzbehörde zu erhalten.1335 Diese Pflicht besteht nach dem BGH, 1328
Siehe unten Kap. 3 (S. 218 ff.). Zu den einzelnen Möglichkeiten siehe oben Kap. 2, B. III. 1. (S. 160 ff.). 1330 Ähnlich Grotherr, Ubg 2015, 360 (368); etwas zurückhaltender dagegen Hick, in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, § 36 Rn. 57. 1331 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.). 1332 Zu den einzelnen Kostenpositionen siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 1333 Siehe oben Kap. 2, B. III. 1. (S. 160 ff.). 1334 BGH, Urteil vom 8. Februar 2007 – IX ZR 188/05, BB 2007, 905 (905 ff.); BGH, Urteil vom 15. November 2007 – IX ZR 34/04, NJW 2008, 440 (440 ff.); zur Beratungspflicht im Hinblick auf überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen siehe Lüdicke, DStZ 2015, 664 (664 ff.). 1335 BGH, Urteil vom 8. Februar 2007 – IX ZR 188/05, BB 2007, 905 (906 – 1. Leitsatz und Rn. 9 ff.); BGH, Urteil vom 15. November 2007 – IX ZR 34/04, NJW 2008, 440 (441 – Rn. 8 ff.). 1329
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„wenn die Rechtslage nach Ausschöpfung der eigenen Erkenntnismöglichkeiten ungeklärt ist und die Beratung eine einschneidende, dauerhafte, später praktisch nicht mehr korrigierbare rechtliche Gestaltung betrifft.“1336 Dies hat der BGH beispielsweise bei einer Gestaltung angenommen, bei der es um 330.000 E ging und die nicht mehr korrigierbar war.1337 Sofern diese Schwelle absolut gilt, würden die allermeisten Gestaltungsentscheidungen in multinationalen Unternehmen diese erreichen.1338 Selbst wenn man die Schwelle relativ an den persönlichen Verhältnissen des Mandanten orientiert, wird man hier bei einem fremden Interessen verpflichteten Vorstand keine hohen Anforderungen stellen können, da die Planungssicherheit grundsätzlich im Interesse aller Stakeholder liegt. Die Entscheidung, ob die Auskunft beantragt wird, muss nach dem BGH allerdings der Mandant selbst treffen.1339 Da die Hinweispflicht aber wenig Sinn macht, wenn nicht zumindest ein fremden Interessen verpflichteter Hinweisempfänger ihr im Regelfall folgen muss, wird der BGH, wenn die Hinweispflicht greift, wohl auch regelmäßig eine Beantragungspflicht des Vorstands bejahen. c) „Vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ Als letzte Voraussetzung, um in den Haftungsfreiraum nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu gelangen, muss der Vorstand zum Zeitpunkt der Entscheidung „angenommen“ haben, „zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“ Dies muss er bei objektiver Betrachtung „vernünftigerweise“ getan haben. Insoweit gilt zumindest dem Wortlaut nach dieselbe objektive Grenze wie bei der angemessenen Informationsgrundlage.1340 Auch auf das Gesellschaftswohl wurde bereits eingegangen.1341 Dabei wurde die Frage, ob das Gesellschaftswohl dem Unternehmensinteresse entspricht, noch offen gelassen, da sich dies weder eindeutig aus dem Gesetz noch aus der Gesetzesbegründung zum UMAG ergibt. Im weiteren Verlauf der Ausfüh1336
BGH, Urteil vom 8. Februar 2007 – IX ZR 188/05, BB 2007, 905 (906 – 1. Leitsatz). BGH, Urteil vom 15. November 2007 – IX ZR 34/04, NJW 2008, 440 (441 – Rn. 11). 1338 Für die absolute Geltung spricht die Formulierung des BGH: „Es ging um erhebliche wirtschaftliche Folgen fu¨ r den Mandanten, standen doch 333000 Euro auf dem Spiel.“ Siehe BGH, Urteil vom 15. November 2007 – IX ZR 34/04, NJW 2008, 440 (441 – Rn. 11). Auf die Bedeutung der 333.000 E für diesen konkreten Mandanten geht der BGH nicht ein. 1339 BGH, Urteil vom 15. November 2007 – IX ZR 34/04, NJW 2008, 440 (440 f. – 1. Leitsatz und Rn. 12). 1340 Der Streit, ob die objektiven Anforderungen an die Kontrolle des Handelns zum Wohle der Gesellschaft niedriger sind oder denen des Handelns auf angemessener Informationsgrundlage entsprechen, löst sich aufgrund des unterschiedlichen Prüfungsgegenstands soweit auf, dass eine Entscheidung nicht erforderlich ist. Zu diesem Streit siehe beispielsweise Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 21. Er weist zu Recht darauf hin, dass sich die Anforderungen in der Praxis auch deswegen unterscheiden werden, weil die Prüfung der Informationsgrundlage den Gerichten leichter fällt. 1341 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. b) cc) (S. 61 ff.). 1337
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rungen wurde dargelegt, warum die interessenpluralistische Zielkonzeption vorzuziehen ist.1342 Wenn man diesen Standpunkt vertritt, müssen Gesellschaftswohl und Unternehmensinteresse inhaltlich deckungsgleich sein.1343 Durch ein abweichendes Verständnis würde im Ergebnis die abgelehnte interessenhierarchische Zielkonzeption durch die Hintertür eingelassen. Dieses Ergebnis beruht aber nicht nur auf Folgerichtigkeitserwägungen. Da der Gesetzgeber des UMAG nicht ausgeführt hat, die bisherige Zielkonzeption ändern zu wollen,1344 ergibt sich die Deckungsgleichheit aus denselben Argumenten wie die interessenpluralistische Zielkonzeption.1345 Der Vorstand handelt demnach „zum Wohle der Gesellschaft“, wenn er entweder entsprechend dem kongruenten Interesse aller Stakeholder entscheidet oder divergierende Interessen im Rahmen seines Ermessensspielraums abwägt. Die zuvor ermittelte angemessene Informationsgrundlage bildet die Interessen der Stakeholder bezüglich der Entscheidung ab. Abwägen muss und darf der Vorstand diese aber nur dann, wenn sie divergieren (Interessendivergenz). Bei Interessenkongruenz erübrigt sich dies. Der Vorstand ist nicht berechtigt, sich gegen das kongruente Interesse der Stakeholder zu stellen, das den Maßstab seines Ermessens bildet. Der Fall der Interessenkongruenz weist Parallelen zur verwaltungsrechtlichen „Ermessensreduzierung auf Null“ auf. Wegen der Komplexität unternehmerischer Entscheidungen wird aber hinsichtlich der konkreten Umsetzung der Entscheidung, des „Wie“, ein erheblicher Ermessensspielraum des Vorstands verbleiben. Im Hinblick auf die Pflicht zur Steuergestaltung ist Interessenkongruenz gegeben, wenn die Gestaltungsmöglichkeit vom Steuergesetzgeber bewusst geschaffen wurde oder bewusst geduldet wird und der damit beanspruchte Steueranteil dem Beitrag des Landes zur Wertschöpfung des Unternehmens entspricht.1346 Als Beispiel vorbehaltlich der Umstände des Einzelfalls kann die steuerrechtliche Organschaft dienen (z. B. §§ 14 Abs. 1, 17, 18 KStG). Der Gesetzgeber hat diese bewusst ermöglicht und ihre steuerrechtlichen und ökonomischen Folgen sind grundsätzlich auch im Interesse aller nichtstaatlichen Stakeholder. Weitere Fälle des kongruenten Stakeholder-Interesses sind wahrscheinlich unwirksame Gestaltungen und Gestaltungen, bei denen die Gestaltungskosten voraussichtlich den Nutzen überwiegen. Kein Stakeholder hat ein Interesse daran, dass das Unternehmen unnötig Ressourcen einsetzt. Die Interessendivergenz ist hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung wegen des generell-abstrakten Gegensatzes staatlicher und nichtstaatlicher Stakeholder1342
Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. g) (S. 112 f.). Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 93 Rn. 15; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 98; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 46 f. Richter ist der Auffassung, dass auch der BGH in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung mit Unternehmenswohl das Unternehmensinteresse meinte. Siehe Richter, in: Kubis/Semler/Peltzer, Arbeitshandbuch Vorstand, § 4 Fn. 73. 1344 Spindler spricht von der Kodifizierung des „Minimalkonsenses“ zur Konkretisierung des Unternehmensinteresses. Siehe Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 46. 1345 Siehe oben Kap. 2, B. II. 4. g) (S. 112 f.). 1346 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.). 1343
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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Interessen ein häufiger Fall.1347 Für die Abwägung muss der Vorstand zunächst die ermittelten Informationen würdigen und die einzelnen Stakeholder-Interessen auf dieser Grundlage abhängig von den Umständen der konkreten Entscheidungssituation gewichten. Dabei muss er die möglichen Handlungsoptionen und ihre Folgen für die einzelnen Stakeholder miteinander vergleichen.1348 Von besonderer Relevanz sind dabei einerseits das Ergebnis der Kosten-Nutzen-Analyse einschließlich des Ausfallrisikos sowie andererseits die (finanziellen) Auswirkungen auf den Staat.1349 Das Ergebnis der Kosten-Nutzen-Analyse muss dabei unter Berücksichtigung der aktuellen und prognostizierten Vermögens- und Ertragslage des Unternehmens und der aktuellen und prognostizierten Wettbewerbssituation beurteilt werden. Die so gewichteten Interessen muss der Vorstand dann zueinander ins Verhältnis setzen und entscheiden, welches Interesse sich im konkreten Fall durchsetzt. Die Entscheidung des Vorstands muss dabei zum Zeitpunkt der Entscheidung logisch nachvollziehbar sein, d. h., sie darf nicht gegen allgemeine Denkgesetze verstoßen.1350 Eine zahlenmäßige Überlegenheit einer Seite, z. B. der Arbeitnehmer, Aktionäre und Gläubiger, gegenüber dem Staat auf der anderen Seite, könnte dafür sprechen, der Mehrheit den Vorrang zukommen zu lassen. Innerhalb seines Ermessensspielraums ist der Vorstand aber frei darin, wie er entscheidet, solange er es schlüssig begründet. Unternehmerische Entscheidungen sind, wie Steuergestaltungen bestens veranschaulichen, mit erheblichen Unsicherheiten, Prognosen und Risiken verbunden.1351 Dem wird eine simplifizierende formalistische Abwägung nach dem Mehrheitsprinzip nicht gerecht. Zumal der Vorstand durch Ausnutzung von Prognosespielräumen, dies erheblich beeinflussen könnte. Eine weniger formalistische Betrachtung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers des UMAG, der ausweislich der Gesetzesbegründung davon ausgeht, dass eine unternehmerische Entscheidung nicht verrechtlich oder objektiviert werden kann, da sie immer auch auf subjektiven Erfahrungen, Phantasie, Instinkt und einem Gespür für die Märkte und das Verhalten von Konkurrenten beruhe, was sich durch objektive Informationen nicht vollständig ersetzen lasse.1352 Nach der Gesetzesbegründung, die diesbezüglich ausdrücklich auf die ARAG/ Garmenbeck-Entscheidung verweist, hat der Vorstand beispielsweise erst dann nicht 1347 Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1089 – Fn. 14); Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 73 f.; Timonen, in: Tax and Corporate Governance, S. 199 (203); zum generellen Konflikt zwischen Aktionärsinteresse und Allgemeininteresse bei sozialen Aufwendungen, siehe Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 84. 1348 Ähnlich Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 35. 1349 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. b) (S. 179 ff.). 1350 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 112; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 35. 1351 Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 1352 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11 f. Zur Prägung von unternehmerischen Entscheidungen durch Prognosen und nicht justiziable Einschätzungen siehe oben Kap. 2, B. III. 4. a) (S. 199 f.).
214
Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
mehr „vernünftigerweise“ zum Wohle der Gesellschaft gehandelt, wenn „das mit der unternehmerischen Entscheidung verbundene Risiko in völlig unverantwortlicher Weise falsch beurteilt worden ist.“1353 „Vernünftigerweise“ wird also zumindest beispielhaft als nicht „völlig unverantwortlich“ definiert. Der BGH hat in der ARAG/ Garmenbeck-Entscheidung allerdings tatsächlich etwas zurückhaltender formuliert. Er spricht lediglich von „unverantwortlich“ und einer deutlichen Überschreitung der Grenzen.1354 Die objektive Grenze ist damit ziemlich weit gefasst, was aber erforderlich ist, um das unternehmerische Ermessen und die Weisungsfreiheit des Vorstands haftungsrechtlich abzusichern.1355 Wenn man allerdings, wie vorliegend, Gesellschaftswohl und Unternehmensinteresse als deckungsgleich ansieht, dann gilt dies auch für ihre Grenzen. Eine Vorstandsentscheidung ist demnach „unverantwortlich“ und nicht im Unternehmensinteresse bzw. Gesellschaftswohl, wenn sie erkennbar die dauerhafte Rentabilität oder den Bestand der Gesellschaft gefährdet, da dies gegen die Interessen aller Stakeholder verstößt.1356 Des Weiteren ist eine Vorstandentscheidung auch dann „unverantwortlich“, wenn der Vorstand gegen das bei angemessener Ermittlung erkennbar kongruente Stakeholder-Interesse entscheidet oder seine Entscheidung bei divergierenden Interessen logisch nicht nachvollziehbar ist, beispielsweise keinem Stakeholder-Interesse entspricht. Innerhalb dieser Ermessensgrenze ist der Vorstand frei, weder muss er die sicherste, im Sinne von risikoärmste, Option noch die risikoreichste mit der größten Gewinnmöglichkeit wählen.1357 Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob die öffentlichrechtliche Ermessenslehre auf unternehmerische Entscheidungen zu übertragen ist, wie Spindler zutreffend feststellt.1358 Im Ergebnis besteht nämlich Einigkeit: Der unternehmerische Entscheidungen treffende Vorstand einer Aktiengesellschaft muss einen größeren Ermessensspielraum haben als die grundrechtsgebundene Verwaltung.1359 Wichtiger ist generell, dass der Vorstand weder aus unmittelbarem Eigennutz handelt noch einem Interessenkonflikt unterliegt, also gutgläubig entscheidet.1360 Konkret bezogen auf die Pflicht zur Steuergestaltung ist dies allerdings
1353 1354
(253). 1355
Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244
Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 23. Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). 1357 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 51. 1358 Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 47; grundsätzlich dafür ist beispielsweise Hüffer, in: FS Raiser, S. 163 (172 ff.); ebenso Lohse, Unternehmerisches Ermessen, S. 182 ff.; dagegen sind beispielsweise Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 119; ebenso Raiser, NJW 1996, 552 (553). 1359 Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 47. 1360 Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 1356
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
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weniger relevant.1361 Entscheidet der Vorstand sich für eine Gestaltung, profitiert er davon maximal mittelbar, beispielsweise wenn er zugleich Aktionär ist. Entscheidet er sich umgekehrt gegen eine Entscheidung, profitiert er selbst möglicherweise mittelbar durch eine höhere Reputation. Das Missbrauchsrisiko ist aber ingesamt deutlich geringer als bei sonstigen sozialen Aufwendungen, wie beispielsweise Spenden an einen Verein, bei dem einzelne Vorstände Mitglieder sind oder im Aufsichtsrat sitzen. Zusammengefasst konkretisiert das letzte Tatbestandsmerkmal die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung im Hinblick auf den Haftungsmaßstab für ein Handeln im bzw. gegen das Unternehmensinteresse. Eine Haftung kommt insoweit nur in Betracht, wenn der Vorstand aus der ex ante Perspektive „unvernünftig“ im Sinne von „unverantwortlich“ gehandelt hat und die Grenzen des Unternehmensinteresses dadurch von ihm überschritten wurden. d) Dokumentation Die Dokumentation der Entscheidung und ihrer Informationsgrundlage wird von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zwar nicht als Pflicht normiert, doch da den Vorstand nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG die Beweislast1362 trifft, ist er gut beraten, in seinem eigenen Interesse für eine ausreichende Dokumentation zu sorgen.1363 Dies gilt sowohl für selbst getroffene als auch für delegierte Entscheidungen, sei es an einzelne Vorstandsmitglieder oder nachgeordnete Mitarbeiter.1364 Ob eine Dokumentation ausreichend ist, lässt sich abstrakt nach der Bedeutung der Entscheidung für das Unternehmen beurteilen. Je wichtiger die Entscheidung, umso umfangreicher sollte die Dokumentation sein.1365 Im Einzelnen sollte die Dokumentation die Informationsgrundlage abbilden, vor allem die ermittelten Stakeholder-Interessen, die Interessenabwägung und die Entscheidungsgründe sowie die Entscheidung selbst, sodass letztere nachvollzogen werden kann. Ein Entscheidungsgrund kann beispielsweise die prognostizierte Auswirkung auf die Unternehmensreputation sein.1366 Zur Dokumentation der Informationsgrundlage gehören insbesondere interne und externe Expertengutachten einschließlich ihrer Plausibilitätsprüfung sowie behördliche Dokumente wie eine verbindliche Auskunft.1367 Die Aufbewahrung sollte eine gewisse Zeit über die Verjährung hinaus erfolgen, da diese strittig sein kann.1368 1361
So im Hinblick auf die Entscheidung über eine steuerrechtlich motivierte Verlagerung einer Betriebsstätte auch Haarmann, in: JbFSt 2014/2015, S. 186 (191). 1362 Siehe unten Kap. 4, B. (S. 232 ff.). 1363 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 106; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 36; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 36. 1364 Siehe unten Kap. 3 (S. 218 ff.). 1365 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 36. 1366 Seibt, DB 2015, 171 (171). 1367 Ähnlich Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 36. Wenn eine Rechtsfrage nicht besonders einfach gelagert oder besonders eilbedürftig ist, muss ein Experte einen schriftlichen Rat
216
Kap. 2: Die Pflicht zur Steuergestaltung
5. Zwischenergebnis In diesem Abschnitt wurde die Pflicht zur Steuergestaltung anhand der interessenpluralistischen Zielkonzeption und der Business Judgment Rule – soweit abstrakt-generell möglich – konkretisiert. Zusammengefasst muss der Vorstand grundsätzlich vor allem im Interesse der nichtstaatlichen Stakeholder mögliche Steuergestaltungen prüfen. Die Entscheidung über die Realisierung einer Steuergestaltung ist dann eine unternehmerische Entscheidung, sodass die Business Judgment Rule zur Anwendung kommt. Etwas anderes gilt nur, wenn die Legalitätspflicht einer Gestaltung entgegensteht. Neben dem Verbot der Steuerhinterziehung können dies unter anderem Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Aufsichtsrats sein. Der Vorstand muss nach der Business Judgment Rule sämtliche StakeholderInteressen im Hinblick auf eine Gestaltung als Entscheidungsgrundlage in angemessenem Umfang ermitteln. Dies erfordert grundsätzlich einerseits eine KostenNutzen-Analyse einschließlich des Ausfallrisikos im Interesse der nichtstaatlichen Stakeholder und andererseits eine Ermittlung des Interesses der staatlichen Stakeholder. Um letzteres zu ermitteln, muss der Vorstand prüfen, ob die Gestaltung dem in den einschlägigen Steuergesetzen zum Ausdruck kommenden Willen des Steuergesetzgebers entspricht und ob sie am Ort der Wertschöpfung erfolgt. Der damit einhergehende Aufwand ist verhältnismäßig, da die Prüfung einer Gestaltung ohnehin eine intensive Gesetzesauslegung erfordert. Die Angemessenheit der Informationsermittlung bestimmt sich dabei vor allem nach den Auswirkungen, welche die Gestaltung auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft haben kann, sowie danach, wie stark Stakeholder-Interessen dadurch beeinträchtigt werden. Wenn ein Vorstand fachlich nicht in der Lage ist, eine angemessene Informationsgrundlage zu schaffen, muss er sich Expertenrat einholen. Hierfür gelten formal die vom BGH zur Einholung von Expertenrat im Anwendungsbereich der Legalitätspflicht entwickelten Grundsätze. Insbesondere hinsichtlich der vom Vorstand danach vorzunehmenden Plausibilitätsprüfung gilt aber der Angemessenheitsmaßstab der Informationsermittlung entsprechend. Des Weiteren ist der Vorstand grundsätzlich verpflichtet, alle Möglichkeiten, eine verbindliche Zusage einer Finanzbehörde zu erlangen, auszuschöpfen. Inhalt und Umfang der Interessenermittlung müssen insgesamt einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten. Schließlich muss der Vorstand im Unternehmensinteresse entscheiden, ob er eine Gestaltung vornimmt oder nicht. Sofern er durch die Interessenermittlung zu einem kongruenten Stakeholder-Interesse kommt, muss er danach entscheiden. Hinsichterteilen, BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1273 f. – Rn. 24). Diese Anforderungen müssen für jeden Expertenrat gelten, der eine Vorstandsentscheidung vorbereitet. Zur Dokumentation der Plausibilitätsprüfung des Expertenrats, siehe Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1355). 1368 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 36; ähnlich Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 36.
B. Ableitung und Inhalt der Pflicht zur Steuergestaltung
217
lich der konkreten Umsetzung verbleibt es aber bei seinem Ermessen. Im Fall einer Interessendivergenz liegt es dagegen grundsätzlich in seinem Ermessen, welchem Stakeholder-Interesse er den Vorrang einräumt. Zu einer formalen Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip ist er nicht verpflichtet. Er muss die einzelnen Stakeholder-Interessen gewichten und gegeneinander abwägen. Nicht im Unternehmensinteresse ist seine Entscheidung, wenn sie unvernünftig ist, d. h., entweder aus der Perspektive des Vorstands nicht logisch nachvollziehbar ist oder erkennbar den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft gefährdet. Letzteres schließt die Gefährdung eines angemessenen Gewinns ein. Wie hoch ein angemessener Gewinn sein muss, hängt vom konkreten Unternehmen insbesondere seiner Wettbewerbssituation ab. Da den Vorstand in einem Haftungsprozess die Darlegungs- und Beweislast trifft, ist eine ausreichende Dokumentation in seinem ureigenen Interesse. Insgesamt hat der Vorstand damit bei der eigentlichen Entscheidung, ob er eine Steuergestaltung vornimmt, ein sehr weites Ermessen. Verhältnismäßig enger sind dagegen die Anforderungen an die Informationsgrundlage, auf der er diese Entscheidung trifft. Dieses Ergebnis ist sachgerecht, der informierte Vorstand muss unternehmerische Entscheidungen, wie die Realisierung von Steuergestaltungen, grundsätzlich frei treffen können.
Kapitel 3
Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung Die bisherigen Ausführungen verfolgten das Ziel, die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung – soweit abstrakt möglich – zu konkretisieren. Dabei wurde die faktische Notwendigkeit der Delegation von Geschäftsführungsaufgaben ausgeblendet, um die Ausführungen nicht zu überfrachten. Der Vorstand kann nicht jede Entscheidung selbst treffen. Nachfolgend ist daher zu untersuchen, wie und in welchem Umfang der Vorstand seine Pflicht zur Steuergestaltung delegieren darf (A.), welche Pflichten den Delegationsempfänger treffen (B.) und schließlich, wie sich seine eigene Pflicht dadurch wandelt (C.). Schlussendlich soll auf das Verhältnis der vertikalen Delegation der Entscheidungsvorbereitung zur Einholung von (Steuer-)Expertenrat bei fachlichem Unvermögen des Vorstandsmitglieds eingegangen werden (D.).
A. Die Delegationsfähigkeit der Pflicht zur Steuergestaltung Nach ganz herrschender Meinung ist die Frage, ob eine Aufgabe delegiert werden darf, von ihrer Qualifikation als Leitungsaufgabe (§ 76 Abs. 1 AktG) oder als bloße Geschäftsführungsaufgabe (§ 77 Abs. 1 AktG) abhängig, wobei die Leitung einen herausgehobenen Teil der Geschäftsführung darstellt.1 Im ersteren Fall ist eine Aufgabe delegationsunfähig, im letzteren delegationsfähig.2 Eine delegationsunfähige Aufgabe obliegt als Leitungsaufgabe dem Vorstand als Kollegialorgan.3 Davon zu trennen ist die Delegation der Entscheidungsvorbereitung und -ausführung, die rein faktisch nicht vom Vorstand selbst geleistet werden kann und immer delegierbar ist.4
1 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 8 f.; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 49b; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 17 ff.; anderer Auffassung ist dagegen Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 8. 2 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 8 f.; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 49b. 3 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 49; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 18. 4 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 20; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 8; Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 49; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 18.
A. Die Delegationsfähigkeit der Pflicht zur Steuergestaltung
219
Da es, vorbehaltlich ausdrücklich normierter Leitungsaufgaben,5 an hinreichend präzisen Kriterien für eine Subsumtion mangelt, hat sich eine typologische Zuordnung etabliert.6 Einen Ansatzpunkt im Gesetz bieten dazu die Berichtspflichten nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG über „die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung (insbesondere die Finanz-, Investitions- und Personalplanung)“.7 Der Bezug der Planung auf das (ganze) Unternehmen macht deutlich, dass es sich um aus dem Alltagsgeschäft herausgehobene Aufgaben von erheblicher Bedeutung handeln muss.8 Aufbauend auf die Betriebswirtschaft werden des Weiteren die Unternehmensstruktur, die Unternehmenskontrolle und die Besetzung der Führungskräfte als Leitungsaufgabe angesehen.9 Schließlich sind auch außergewöhnliche Geschäfte, die mit hohen Risiken einhergehen, als Leitungsaufgabe zu qualifizieren.10 Bestand und dauerhafte Rentabilität müssen dafür aber nicht zwingend gefährdet sein. Mangels exakter abstrakter Grenzen kommt es damit nicht zuletzt auf die Umstände des konkreten Unternehmens an.11 Man kann demnach die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung typologisch als Teil der Unternehmensplanung und folglich als Leitungsaufgabe ansehen. Anschaulicher wird dies, wenn man den Begriff „Steuerplanung“ verwendet. Dies kann bereits aufgrund praktischer Unmöglichkeit aber nicht eine Vorstandsentscheidung über jedes (alltägliche) steuerrechtlich relevante Geschäft erforderlich machen. Vielmehr kann eine solche erst erforderlich sein, wenn eine qualitative oder quantitative Erheblichkeitsschwelle überschritten wird, deren Höhe wiederum vom konkreten Unternehmen abhängig ist. Danach ist eine Leitungsentscheidung des Vorstands erforderlich, wenn entweder qualitativ eine außergewöhnliche Gestaltung, die mit hohen finanziellen Risiken einhergeht, vorliegt oder quantitativ die Summe steuerrechtlich ähnlich zu behandelnder Gestaltungen mit vergleichbar hohen Ri-
5
Siehe dazu den Überblick bei Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 35; ebenso Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 9; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 15; insoweit auch zustimmend Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 8 f. 6 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 9. 7 Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 36; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 16. 8 Von „Entscheidungen von einigem Gewicht“ spricht Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 36 f. 9 Die verwendeten Begrifflichkeiten unterscheiden sich zwar teilweise, laufen inhaltlich aber auf dasselbe hinaus, so zutreffend Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 15; siehe im Detail beispielsweise Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 35 ff. 10 Von „Geschäften mit außergewöhnlicher Bedeutung und mit ungewöhnlich hohem Risiko“ spricht Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 36; von „Geschäften mit außergewöhnlichem Charakter oder besonders hohem Risiko“ spricht Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 18. 11 Weitergehend Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 8; kritisch Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 49b; ebenso Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 18. Spindler betont zu Recht, dass den Umständen des konkreten Unternehmens auch nach der herrschenden Meinung Rechnung zu tragen ist und die Unterschiede zur Auffassung von Seibt daher gering sind.
220
Kap. 3: Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
siken verbunden ist.12 Ein gewisses Indiz bildet dabei auch der Arbeitsumfang der internen Steuerabteilung oder externer Steuerberater im Hinblick auf die jeweilige Gestaltung. Es gilt aber sowohl für überwiegend betrieblich als auch für überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen. Dieser Ansatz führt zu zwei unterschiedlichen Arten von Leitungsentscheidungen. Der qualitative Fall erfordert eine Einzelfallentscheidung des Vorstands im Unternehmensinteresse nach den bereits ausführlich dargelegten Grundsätzen.13 Der quantitative Fall setzt eine Grundsatzentscheidung für einen typisierten Einzelfall voraus, da der Vorstand auch hier nicht über jeden einzelnen Fall entscheiden kann. So muss beispielweise der Vorstand eines Konzerns, der in großem Umfang mit erheblichen Risiken behaftete interne Transaktionen durchführt, auch dann über die grundsätzliche Ausgestaltung konzerninterner Verrechnungspreise entscheiden, wenn die einzelne alltägliche Transaktion unerheblich ist. Der Vorstand muss die Interessen soweit abstrakt möglich ermitteln und nachvollziehbar entscheiden, welches Interesse sich im typisierten Einzelfall durchsetzen soll. Gestaltungen, die weder quantitativ noch qualitativ die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, sind Geschäftsführungsaufgaben und können delegiert werden. Die Delegation kann dabei sowohl qua Geschäftsverteilung an einzelne Vorstandsmitglieder erfolgen (horizontale Delegation) als auch an nachgeordnete Ebenen (vertikale Delegation).14 Der Vorstand kann15 eine für die Delegationsempfänger verbindliche Steuerstrategie basierend auf Abwägungsentscheidungen für typisierte Einzelfälle festlegen.16 Abzulehnen ist dagegen die Auffassung, welche die Steuerstrategie unabhängig vom zumindest typisierten Einzelfall als Leitungsaufgabe ansieht,17 da die Plicht zur Steuergestaltung nach dem hier vertretenen Ansatz eine Interessenermittlung im zumindest typisierten Einzelfall erfordert. Möglich sind aber allgemeine Vorgaben zum Risiko,18 z. B.: Es sollen nur Gestaltungen realisiert werden, deren Anerkennung durch die Finanzbehörden ganz überwiegend wahr12
Ähnlich Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (49). Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.). 14 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 8; Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 18. Die Delegation an externe Dritte (Outsourcing) dürfte für die hier vor allem im Fokus stehenden multinationalen Unternehmen mit eigenen Steuerabteilungen im Hinblick auf die für die Delegation verbliebenen Gestaltungen eher keine besondere Rolle spielen. Zur Bedeutung externer Berater für die Entscheidungsvorbereitung siehe dagegen oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 15 Vor dem Hintergrund der Rechtsfolgen mahnt Koch zu Recht zur generellen Zurückhaltung hinsichtlich der Klassifizierung von Leitungsaufgaben. Siehe Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 9. 16 Zur Zustimmungsvorbehaltsfähigkeit der Steuerstrategie siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 17 Diese vertritt Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 107. 18 Grotherr, Ubg 2015, 360 (365); dies rechtsvergleichend als Pflicht ansehend Schön, in: Tax and Corporate Governance, S. 31 (49). Satzungsbestimmungen sind insoweit vorrangig, siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 13
B. Die Pflichten der Delegationsempfänger
221
scheinlich ist (>75 %). Auch generelle Vorgaben zum akzeptierten Reputationsrisiko sind möglich, wenn auch schwierig zu fassen.19 Eine Besonderheit gilt in formaler Hinsicht für das „Wie“ der horizontalen Delegation. Während sich der BGH dazu noch nicht abschließend geäußert hat, fordern der BFH und die wohl herrschende Lehre für eine Geschäftsverteilung die Schriftform.20 Aufgrund der Beweislastumkehr in § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG dürften die praktischen Auswirkungen des Streits aber überschaubar sein, zumal die Gegenauffassung teilweise in der mangelnden Schriftform ein mögliches Indiz für eine Organisationspflichtverletzung sieht.21
B. Die Pflichten der Delegationsempfänger Nach erfolgter Delegation treffen die Delegationsempfänger mehrere Pflichten. Im Fall der horizontalen Delegation qua Geschäftsverteilung auf ein einzelnes Vorstandsmitglied ist dieses verpflichtet, alle mit seinem Ressort verbundenen Aufgaben wahrzunehmen (Ressortverantwortung).22 Dazu ist es zwangsläufig auf die weitere (vertikale) Delegation von Aufgaben angewiesen, was mit Überwachungspflichten einhergeht, auf die noch einzugehen sein wird.23 Hinsichtlich der Geschäftsverteilung ist es sowohl möglich, dass in einer Spartenorganisation jedes Vorstandsmitglied die Pflicht zur Steuergestaltung innerhalb seiner Sparte wahrnimmt oder dass diese nur einem Vorstandsmitglied obliegt, was vor allem einer klassisch-funktionalen Organisation oder einer Matrixorganisation entspricht.24 In jedem Fall müssen die Delegationsempfänger die Entscheidungen über die Realisierung von Steuergestaltungen nach den hier dargelegten Grundsätzen treffen,25 wobei sie insbesondere sämtliche Stakeholder-Interessen in angemessenem 19
Diese wohl zu weitgehend als Leitungsaufgabe ansehend Seibt, DB 2015, 171 (171 ff.); insoweit ebenfalls kritisch Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 9. Zu den Unsicherheiten bei der Bewertung siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 20 BFH, Urteil vom 26. April 1984 – V R 128/79, BStBl. II 1984, 776 (778); BFH, Beschluss vom 4. März 1986 – VII S 33/85, BStBl. 1986, 384 (385); BFH, Urteil vom 23. Juni 1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761 (763); jedenfalls nicht ausdrücklich BGH, Urteil vom 15. Oktober 1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377); OLG Koblenz, Urteil vom 9. Juni 1998 – 3 u 1662/ 89, NZG 1998, 953 (954); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 57 f.; Koch, in: Hüffer/ Koch, AktG, § 77 Rn. 21; Weber, in: Hölters, AktG, § 77 Rn. 45; andere Auffassung Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 375; ebenso Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 150. 21 Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 150. 22 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 48; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 148; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 24. 23 Siehe unten Kap. 3, C. II. (S. 225 ff.). 24 Einen Überblick über die verschiedenen Organisationsformen gibt Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 63 ff. 25 Siehe oben Kap. 2, B. III. (S. 159 ff.).
222
Kap. 3: Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
Umfang zu ermitteln haben. Bei der Interessenabwägung ist eine vom Vorstand vorgegebene Steuerstrategie vorrangig und schränkt ihr Ermessen ein. Neben der eigentlichen Ausübung der Pflicht zur Steuergestaltung müssen die Delegationsempfänger dem Vorstand regelmäßig berichten.26 Schließlich trifft sie eine Ad-hocVorlagepflicht, wenn sich eine Gestaltung aufgrund des mit ihr verbundenen Risikos als Leitungsaufgabe entpuppt. Das zuvor Gesagte gilt entsprechend bei weiterer Delegation. Nicht nur deswegen ist es von besonderer Bedeutung, welche Pflichten den Delegierenden treffen.
C. Die Überwachungspflichten des delegierenden Vorstands Mit der Delegation wandelt sich die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung generell zu einer Überwachungspflicht des Delegationsempfängers. Wie sie sich konkret wandelt, hängt davon ab, ob eine horizontale (I.) oder eine vertikale Delegation (II.) erfolgt.27 Die Ausführungen gelten entsprechend, wenn sich eine oder mehrere vertikalen Delegationen an eine horizontale Delegation anschließen, was regelmäßig der Fall ist.
I. Die horizontale Delegation Die Geschäftsverteilung begründet wegen des Grundsatzes der Gesamtverantwortung zwei haftungsrelevante Pflichten für das einzelne Vorstandsmitglied.28 Die Führung des eigenen Ressorts wurde bereits kurz erläutert. Daneben tritt eine dauerhafte Überwachungspflicht hinsichtlich der Ressorts der übrigen Vorstandsmitglieder.29 Ergänzend zu der bereits erwähnten Berichtspflicht über das eigene Ressort haben die Vorstandsmitglieder daher einen Informationsanspruch hinsichtlich fremder Ressorts.30 Sie dürfen aber nicht einfach in fremden Ressorts tätig werden.31
26 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 49; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 154; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 25. 27 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 94 ff.; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 26. 28 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 46 f.; Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 24. 29 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 49; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56. 30 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 49; Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 25. 31 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 14; Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56.
C. Die Überwachungspflichten des delegierenden Vorstands
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Den Umfang der Überwachungspflicht macht die herrschende Meinung vom Einzelfall abhängig.32 Es gilt der im Deliktsrecht entwickelte Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, wonach man bei Arbeitsteilung grundsätzlich auf das pflichtgemäße Verhalten des anderen vertrauen darf.33 Solange es daher keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass ein anderes Vorstandsmitglied seiner Ressortverantwortung nicht nachkommt oder sich das Unternehmen in einer finanziell kritischen Lage34 befindet, besteht keine Pflicht den Informationsanspruch auszuüben oder weitere Nachforschungen anzustellen.35 Das Vorstandsmitglied kommt seiner Überwachungspflicht dann bereits ausreichend nach, wenn es die im Rahmen der Vorstandsarbeit mitgeteilten Informationen einer angemessenen Prüfung unterzieht.36 Diese erfordert nach zutreffender Auffassung aber mehr als die bloß aufmerksame Teilnahme an Vorstandssitzungen.37 Die Sicherstellung des Informationsflusses ist dabei eine Leitungsaufgabe, wobei die genaue Ausgestaltung im Ermessen des Vorstands liegt.38 Von entscheidender Bedeutung für die Angemessenheit der Prüfung sind zunächst die Größe, Art und Struktur des konkreten Unternehmens.39 Je größer ein Unternehmen ist, umso umfangreicher und komplexer sind auch die Aufgaben in den einzelnen Ressorts, was den Umfang der möglichen Überwachung bereits rein faktisch einschränkt. Beispielsweise sind die Aufgaben des Steuerressorts in einem multinationalen Unternehmen mit grenzüberschreitenden Sachverhalten um ein vielfaches komplexer als 32
Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 51; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 24. 33 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 375; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 24 und 26. 34 BGH, Urteil vom 15. Oktober 1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (379); BGH, Urteil vom 9. Januar 2001 – VI ZR 407/99, DStR 2001, 633 (633 – 1. Leitsatz). 35 Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 26. 36 Einen Überblick über teils geforderte, aber abzulehnende strengere Anforderungen gibt Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 55; zur herrschenden Meinung siehe auch Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; ebenso Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 56; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 26. Die Anforderungen an die Angemessenheit sind dabei geringer als bei der Prüfung von Expertenrat für eigene Entscheidungen. Weitergehende Pflichten des Vorstandsvorsitzenden sind nach zutreffender Auffassung ebenfalls abzulehnen. Siehe dazu mit ausführlicher Begründung Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 56; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 42. Die gegenteilige Auffassung vertreten beispielsweise Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 377. 37 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 55; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 376. 38 Die Details sind umstritten. Siehe für die wohl herrschende Meinung Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 49 und 54; siehe auch Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 25. Eine abweichende Meinung vertritt insbesondere Spindler, in: MüKo AktG, § 77 Rn. 57. 39 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 51; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 25.
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Kap. 3: Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
in einem rein national tätigen Unternehmen. Des Weiteren ist auch die Bedeutung der aktuell in den jeweiligen Ressorts laufenden Tätigkeiten für das gesamte Unternehmen entscheidend für den Prüfungsumfang.40 Schließlich kommt es auf die persönliche Kenntnis des jeweils zu überwachenden Vorstandskollegen an.41 Entscheidend ist danach insbesondere, wie lange er die Aufgabe schon innehat.42 Je länger die vertrauensvolle Zusammenarbeit andauert, desto geringer werden die Anforderungen, wobei es stets gilt, eine gesunde Skepsis zu bewahren.43 Ein schutzwürdiges Vertrauen besteht deswegen von vornherein nicht, wenn der Vorstand die Aufgabe auf ein dafür ersichtlich unqualifiziertes Mitglied überträgt.44 Gibt es dagegen tatsächliche Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Verhalten eines Vorstandskollegen, muss dem unverzüglich nachgegangen werden.45 Hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung könnte dies beispielweise der begründete Verdacht einer mangelhaften Interessenermittlung sein, wie die Verkennung des mit einer Gestaltung einhergehenden Ausfallrisikos, eine ersichtlich unzutreffende Kosten-Nutzen-Analyse oder die pflichtwidrige Nichteinholung von Expertenrat oder einer verbindlichen Zusage einer Finanzbehörde. Auch der Verdacht, dass nachgeordnete Mitarbeiter vom Vorstandsmitglied nicht ausreichend überwacht werden, rechtfertigt weitere Aufklärungsmaßnahmen. Mögliche Mittel zur Verdachtsprüfung sind die Diskussion im gesamten Vorstand, die Befragung von einzelnen Vorstandsmitgliedern und Mitarbeitern46 sowie unter Umständen Stichproben und die Unterrichtung des Aufsichtsrats.47 Bewahrheitet sich der Pflichtverstoß, müssen geeignete Maßnahmen getroffen werden, um diesen zu beenden und zukünftig zu verhindern.48
40 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 51; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 25. 41 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 51; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15. 42 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 51; zustimmend Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15. 43 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 51; zustimmend Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 77 Rn. 15; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 375. 44 Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 153. 45 BGH, Urteil vom 8. Juli 1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54 (55); BGH, Urteil vom 15. Oktober 1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377 f.); BFH, Beschluss vom 4. März 1986 – VII S 33/85, BStBl. 1986, 384 (385); BFH, Urteil vom 23. Juni 1998 – VII R 4/98, BStBl. II 1998, 761 (763); aus der Literatur statt vieler Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 376. 46 Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 24. 47 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 52. Zur möglichen Pflicht des Aufsichtsrats, einen Zustimmungsvorbehalt auszusprechen, siehe unten Kap. 5, B. II. 1. (S. 257 ff.). 48 BGH, Urteil vom 8. Juli 1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54 (55); BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 (455 – Rn. 22); BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745); dem hat sich die Literatur angeschlossen, siehe statt vieler erneut Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 24.
C. Die Überwachungspflichten des delegierenden Vorstands
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II. Die vertikale Delegation Delegiert ein Vorstandsmitglied49 Aufgaben an ihm nachgeordnete Mitarbeiter, wandelt sich seine Pflicht insoweit. Nach der zutreffenden Auffassung des BGH ist das Vorstandsmitglied verantwortlich für die Auswahl, Einweisung und Überwachung des Mitarbeiters.50 Dabei gilt der Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Wenn ein Vorstandsmitglied eine Aufgabe zum ersten Mal an einen Mitarbeiter delegiert, muss er diesen sorgfältig auswählen, d. h., sich dessen persönlicher und fachlicher Qualifikation für die Erledigung der Aufgabe versichern.51 Generell gilt: Je anspruchsvoller die Aufgabe ist und je größer die mit ihr verbunden Risiken für das Unternehmen sind, umso höher sind die Anforderungen an den Auswahlvorgang und den Mitarbeiter.52 Beispielsweise sind die Anforderungen an den Leiter der Steuerabteilung eines multinationalen Unternehmens deutlich höher als bei einem rein national tätigen Unternehmen. Nach erfolgter Auswahl muss das Vorstandsmitglied den Mitarbeiter in seine Aufgabe einweisen. Es muss ihm zunächst die Aufgabe und interne Vorgaben wie eine Steuerstrategie schildern.53 Des Weiteren ist der Mitarbeiter vor allem über Berichts- und Vorlagepflichten zu belehren.54 In Abhängigkeit vom Einzelfall kann eine Reihe weiterer Belehrungspflichten bestehen, z. B. über typischerweise mit der Aufgabe verbundene Risiken.55 Schließlich muss das Vorstandsmitglied den Mitarbeiter fortlaufend überwachen.56 Diese Überwachungspflicht im engeren Sinne kann, wie bei der horizontalen Delegation, unternehmens-, aufgaben- und personenbezogen weiter konkretisiert werden.57 Insoweit gelten die diesbezüglichen Ausführungen grundsätzlich entsprechend. Generell gilt: Je sorgfältiger ein Mitarbeiter ausgewählt wurde und je höher er qualifiziert ist, desto weniger streng muss er überwacht werden.58 Es besteht aber insgesamt ein gradueller Unterschied hinsichtlich des Umfangs der Überwa49 Denkbar sind grundsätzlich auch Delegationen durch das Kollegialorgan, was grundsätzlich zu denselben Überwachungspflichten führt. 50 BGH, Urteil vom 7. November 1994 – II ZR 270/93, BGHZ 127, 336 (347); dies näher ausgestaltend Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 101 ff.; siehe auch Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 162. 51 BGH, Urteil vom 7. November 1994 – II ZR 270/93, BGHZ 127, 336 (347); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 102; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 162. 52 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 102. 53 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 103. 54 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 103. 55 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 103. 56 BGH, Urteil vom 7. November 1994 – II ZR 270/93, BGHZ 127, 336 (347); Kammergericht, Urteil vom 9. Oktober 1998 – 14 U 4823/96, NZG 1999, 400 (400). 57 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 105. 58 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 105.
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Kap. 3: Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
chungspflicht bei der vertikalen Delegation im Verhältnis zur horizontalen Delegation. Bei der letzteren findet die Delegation auf einen Vorstandskollegen statt, mit dem es gilt, auf derselben und zugleich höchsten Hierarchieebene vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.59 Weisungsbefugt ist hier nur der gesamte Vorstand, aber nicht das einzelne überwachende Vorstandsmitglied. Schließlich darf grundsätzlich nicht in das Ressort eines anderen Vorstandsmitglieds eingegriffen werden.60 All dies ist bei der vertikalen Delegation anders, weshalb bei dieser eine strengere Überwachungspflicht gilt.61 Die Überwachungspflicht bei vertikaler Delegation erfordert daher beispielweise auch regelmäßige verdachtsunabhängige Kontrollen in Form von Stichproben.62 Grundsätzlich gilt aber auch bei vertikaler Delegation der Vertrauensgrundsatz.63 Bei mehrstufigen Delegationen bleibt der Vorstand letztverantwortlich für die Überwachung.64 Die Maßnahmen zur frühzeitigen Erkennung bestandsgefährdender Entwicklungen bilden insoweit eine parallele, wenn auch erst später greifende Überwachungsmaßnahme.65
D. Das Verhältnis der vertikalen Delegation der Entscheidungsvorbereitung zur Einholung von Expertenrat Die bloße Delegation der Entscheidungsvorbereitung kann gleichzeitig ein Fall der Einholung von Expertenrat zu der Frage sein, ob eine Entscheidung gegen die Legalitätspflicht verstößt, die ein Vorstandsmitglied aufgrund fachlichen Unvermögens nicht selbst beantworten kann.66 Dies hat zur Konsequenz, dass zumindest insoweit die von der Rechtsprechung in der ISION-Entscheidung aufgestellten Anforderungen für ein schutzwürdiges Vertrauen auf Expertenrat gelten.67 Namentlich Fleischer geht – zutreffend – weiter und verallgemeinert die von der Rechtsprechung formulierten Anforderungen zu einem kapitalgesellschaftsrechtlichen Vertrauensgrundsatz für von Dritten erhaltene Informationen.68 59
Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 55. Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 77 Rn. 55. 61 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 94 ff. und § 77 Rn. 49, 55; im Ergebnis auch Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 22 Rn. 26. 62 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 109; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 126; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 52. 63 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 163; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 52. 64 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 111. 65 Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). 66 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 67 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 68 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 209; Fleischer, ZIP 2009, 1397 (1397 ff.); siehe auch Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 52. 60
D. Delegation Entscheidungsvorbereitung – Expertenrat
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Hier wurden bereits die Anforderungen der Rechtsprechung auf die Pflicht zur Steuergestaltung als unternehmerische Entscheidung in Fällen des fachlichen Unvermögens übertragen.69 Wenn in Fällen vertikaler Delegation, bei (bloß) zeitlichem Unvermögen eines Vorstandsmitglieds, Dritte Informationen ermitteln, aufbereiten und bewerten, können die Anforderungen der Rechtsprechung auch die generelle Überwachungspflicht des Vorstandsmitglieds präzisierend ausfüllen. Die Präzisierung ist unabhängig davon sinnvoll, ob die Delegation auf fachlichem oder zeitlichem Unvermögen beruht. Die sorgfältige Auswahl erfordert dann die Wahl eines hinsichtlich der zu klärenden Frage fachlich qualifizierten Berufsträgers.70 Die sorgfältige Einweisung ist zu bejahen, wenn die Verhältnisse der Gesellschaft gegenüber dem Delegationsempfänger umfassend dargestellt werden und die erforderlichen Unterlagen offengelegt werden.71 Schließlich muss er darüber belehrt werden, dass er unabhängig, also ohne ergebnisbezogene Vorgaben, Informationen ermitteln, aufbereiten und bewerten soll.72 Die abschließende Überwachungspflicht ist erfüllt, wenn die Informationen einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzogen wird.73 Die Anforderungen der Rechtsprechung fügen sich demnach nahtlos in die generellen Pflichten des Delegierenden bei vertikaler Delegation ein. Ob die Rechtsprechung dem jenseits der Fallgruppe des fachlichen Unvermögens zur Beurteilung der Legalitätspflicht auch generell folgt, bleibt abzuwarten, scheint aber wahrscheinlich. Dafür spricht insbesondere die Rechtssicherheit durch eine einheitliche Behandlung des Vertrauens auf Informationen von Dritten. Allerdings ist damit wohl auch nicht allzu viel gewonnen, denn die genauen Anforderungen hängen letztlich doch vom Einzelfall ab. Beispielsweise ging es in den beiden Entscheidungen des BGH um externe Berater.74 Bei Informationen von langjährigen verdienten Mitarbeitern wird aber wohl auch die Rechtsprechung geringere Anforderungen stellen.75 Schließlich muss auch zwischen rechtlich gebundenen Entscheidungen und unternehmerischen Ermessensentscheidungen differenziert werden.76 69
Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1271 ff. – 2. Leitsatz, Rn. 16 ff.); bestätigt durch BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 28). 71 BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1271 ff. – 2. Leitsatz, Rn. 16 ff.); bestätigt durch BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 28). 72 Siehe dazu klarstellend BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1746 – Rn. 36). 73 BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1271 ff. – 2. Leitsatz, Rn. 16 ff.); bestätigt durch BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745 – Rn. 28). 74 Rechtsanwaltskanzlei eines Aufsichtsratsmitglieds in BGH, Urteil vom 20. September 2011 – II ZR 234/09, ISION, NZG 2011, 1271 (1373 – Rn. 21 ff.); ebenfalls Rechtsanwaltskanzlei in BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1743). 75 So beispielsweise auch Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 52. 76 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 70
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Kap. 3: Die Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung
E. Zwischenergebnis Grundsätzlich ist die Pflicht zur Steuergestaltung delegationsfähig. Zur delegationsunfähigen Leitungsaufgabe wird sie erst dann, wenn in Rede stehende Gestaltungen die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, deren Höhe wiederum vom konkreten Unternehmen abhängig ist. Unterhalb dieser Schwelle kann der Vorstand Entscheidungen über die Realisierung von Steuergestaltungen delegieren. Wird die Pflicht zur Steuergestaltung rechtmäßig an ein Vorstandsmitglied delegiert, trifft dieses eine vorrangige Ressortverantwortung, während die anderen Vorstandmitglieder eine Überwachungspflicht trifft. Ein für die Pflicht zur Steuergestaltung zuständiges Vorstandsmitglied kann die Aufgabe ebenfalls an nachgeordnete Mitarbeiter delegieren. Die Pflicht des Vorstandsmitglieds wandelt sich dann in eine Überwachungspflicht bezüglich des Mitarbeiters. Diese Überwachungspflicht ist bei der Delegation an einen nachgeordneten Mitarbeiter strikter als bei der Delegation an ein gleichgeordnetes Vorstandsmitglied durch das Kollegialorgan. Auch bei delegationsunfähigen Leitungsaufgaben ist eine Delegation der Entscheidungsvorbereitung und -realisierung möglich, solange der Vorstand als Kollegialorgan die eigentliche Entscheidung trifft. Auf die vertikale Delegation der Entscheidungsvorbereitung sind die Anforderungen der Rechtsprechung an die Einholung von Expertenrat als präzisierende Ausformung der Überwachungspflicht anzuwenden.
Kapitel 4
Die Haftung der Vorstandsmitglieder für die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG Im nachfolgenden Abschnitt soll untersucht werden, wann die Gesellschaft aufgrund einer Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung durch ein Vorstandsmitglied einen Schadensersatzanspruch gegen dieses hat. Nach einer kurzen Darstellung der Tatbestandsvoraussetzungen (A.) und der Darlegungs- und Beweislast (B.) sollen zu diesem Zweck Fallgruppen entwickelt werden, um systematisch darzustellen, wann ein Schadensersatzanspruch für eine Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung bestehen kann (C.).
A. Die Tatbestandsvoraussetzungen Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ist eine schuldhafte Pflichtverletzung, durch welche das Vorstandsmitglied die Gesellschaft adäquat kausal geschädigt hat.1 Bereits aus der Begründung des Regierungsentwurfs zum Aktiengesetz 1965 ergibt sich, dass ein Vorstandsmitglied der Gesellschaft gegenüber nach § 93 Abs. 2 AktG schadensersatzpflichtig sein kann, wenn es seine Pflicht zur interessenpluralistischen Unternehmensführung verletzt.2 Damit kann eine Schadensersatzpflicht auch dann eintreten, wenn ein Vorstandsmitglied seine Pflicht zur Steuergestaltung verletzt. Dies gilt auch, wenn das Vorstandsmitglied die Pflicht delegiert und dabei seine Überwachungspflicht verletzt. Das Vorstandsmitglied muss die Pflichtverletzung des Weiteren verschuldet haben. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Gesetzeswortlaut, ist aber unstrittig und wird aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abgeleitet, der nicht nur eine Sorgfaltspflicht, sondern auch einen Verschuldensmaßstab normiert.3 Vorstandsmitglieder haften für Vorsatz und Fahrlässigkeit.4 Der Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG ist objektiv1
Statt vieler siehe nur Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 47. Kropff, AktG, S. 97; so auch Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 40. 3 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 205; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 43; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 176. 4 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 206; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 176. 2
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Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
typisierend gefasst, weshalb ein Vorstandsmitglied die Anforderungen erfüllen muss, die sich aus der ihm übertragenen Aufgabe ergeben.5 Auf mangelnde persönliche Fähigkeiten kann es sich ebenso wenig berufen wie auf fachliches Unvermögen.6 Entscheidend ist damit, ob das Vorstandsmitglied die Pflicht zur Steuergestaltung verletzt hat, wodurch ein Verschulden regelmäßig indiziert wird.7 Umstritten ist, ob die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf Expertenrat auf Ebene der Schuld oder der Pflichtverletzung zu behandeln ist. Zumindest bei unternehmerischen Entscheidungen, wie der Pflicht zur Steuergestaltung, handelt es sich um eine Frage der Pflichtverletzung, wie bereits dargelegt wurde.8 Ferner muss die Gesellschaft einen Schaden erleiden. Es gilt der allgemeine Schadensbegriff der §§ 249 ff. BGB.9 Ein Schaden ist danach jede Vermögensminderung der Gesellschaft, die sich nach der Differenzhypothese ergibt.10 Nach § 252 BGB stellt auch ein entgangener Gewinn einen Schaden dar, wenn er auf einer adäquat kausalen Pflichtverletzung beruht. Ein Vorstandsmitglied haftet also auch, wenn der Gesellschaft ein Vorteil entgeht, der ihr bei pflichtgemäßem Verhalten zugeflossen wäre.11 Eine Relativierung des Schadensbegriffs, um Sozialaufwendungen nicht unter diesen zu fassen,12 ist mangels Notwendigkeit und Niederschlag im Gesetzeswortlaut abzulehnen.13 Im Einklang mit der herrschenden Meinung liegt im Fall angemessener Sozialaufwendungen bereits keine Pflichtverletzung vor.14 Schließlich muss die Pflichtverletzung adäquat kausal für den Schaden sein. Das ist nach der Adäquanztheorie der Fall, wenn der Eintritt des Schadens als Folge der
5 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 205; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 43; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 176 f. 6 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 205; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 43; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 177. Zum Umfang der steuerrechtlichen Mindestkenntnisse siehe unten Kap. 5, B. I. (S. 249 ff.); zur Pflicht zur Einholung von Expertenrat bei fachlichem Unvermögen siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 7 So allgemein die herrschende Lehre, siehe nur Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 205; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 392; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 248; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 176. 8 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 9 OLG Düsseldorf, Urteil vom 28. November 1996 – 6 U 11/95, ARAG/Garmenbeck, AG 1997, 231 (237); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 211; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 47. 10 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 211 f.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 47. 11 Loritz/Wagner, DStR 2012, 2189 (2190). 12 So aber Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 59. 13 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 253. 14 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 93 Rn. 34; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 212; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 406 ff.; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 253; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 47; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 173.
A. Die Tatbestandsvoraussetzungen
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Pflichtverletzung nicht gänzlich unwahrscheinlich ist.15 Darüber hinaus kann sich das Vorstandsmitglied auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten berufen.16 Das Vorstandsmitglied trifft aber die Darlegungs- und Beweislast.17 Es muss nachweisen, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten sicher eingetreten wäre.18 Dies betrifft auch den Nachweis der Einhaltung seines unternehmerischen Ermessensspielraums,19 beispielsweise, dass der Schaden auch dann eingetreten wäre, wenn das Vorstandsmitglied die Informationsgrundlage angemessen ermittelt hätte.20 Die bloße Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts reicht dagegen nicht aus.21 Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um ein pflichtwidriges Tun oder Unterlassen handelt, zumal die Abgrenzung nicht selten schwierig ist.22 Besonders diskutiert wird außerdem die Kausalität bei Kollegialentscheidungen. Im Ergebnis besteht aber Einigkeit, dass sich ein Vorstandsmitglied nicht allein darauf berufen kann, seine pflichtwidrige Stimmabgabe oder Enthaltung sei nicht kausal für den Schaden, da die Entscheidung auch ohne diese getroffen worden wäre.23 Da dies auch kein spezifisches Problem der Pflicht zur Steuergestaltung ist, wird darauf nachfolgend nicht weiter eingegangen.
15 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 215; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 413; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 55; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 26 Rn. 22. 16 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284 f.); BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 (1959 – Rn. 14); BGH, Urteil vom 18. Juni 2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 (312 f. – Rn. 27); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 216; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 50; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 174. 17 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284 f.); BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 (1959 – Rn. 14); BGH, Urteil vom 18. Juni 2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 (312 f. – Rn. 27); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 216. 18 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 216; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 413; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 55; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 174. 19 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284); BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 (1958 – Rn. 14); Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 413. 20 BGH, Urteil vom 18. Juni 2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 (312 f. und 315 – Rn. 27 und 32). 21 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 216; Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 413; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 55; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 174. 22 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284 f.). 23 Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 414; zu den unterschiedlichen dogmatischen Begründungsansätzen siehe den Überblick bei Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 217 ff.; zur Begründung bei der Innenhaftung siehe BGH, Urteil vom 14. März 1983 – II ZR 103/82, NJW 1983, 1856 (1856).
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Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
B. Die Darlegungs- und Beweislast Abweichend vom allgemeinen Grundsatz, wonach jede Partei die Voraussetzungen der für sie günstigen Norm darlegen und beweisen muss, trifft die Beweislast für die Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG das verklagte Vorstandsmitglied. Der BGH und die herrschende Lehre gehen von folgendem Grundsatz aus: Die Aktiengesellschaft, vertreten durch den Aufsichtsrat, muss den Schadenseintritt und die Schadenshöhe, die Handlung des Vorstandsmitglieds, die möglicherweise eine Pflichtverletzung darstellen kann, und die adäquate Kausalität zwischen Handlung und Schaden beweisen.24 Die Handlung des Vorstandsmitglieds kann dabei sowohl in einem Tun als auch in einem Unterlassen bestehen.25 Umstritten sind dabei die genauen Anforderungen an die Darlegung der Handlung. Das OLG Nürnberg hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 die Rechtsprechung des BGH so ausgelegt, dass bei einer wertneutralen Handlung – in der Entscheidung ging es um die Reisekostenerstattung für eine Geschäftsreise – die Gesellschaft weitere Indiztatsachen darlegen und beweisen müsse, die mindestens den Anschein einer möglicherweise pflichtwidrigen Handlung begründen.26 Diese Darlegung müsse „vernünftige Zweifel“ an der Pflichtwidrigkeit der Handlung ausschließen.27 Andernfalls führe die Beweislastumkehr zu einer unverhältnismäßigen Erfolgshaftung, da das Vorstandsmitglied sich im Nachhinein kaum entlasten könne.28 Gegen diese Entscheidung wird zu Recht die Wertung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG eingewandt.29 Darüber hinaus ist es Sache des Gerichts festzustellen, ob eine vorgetragene Handlung rechtlich als pflichtwidrig zu beurteilen ist oder nicht.30 Der Tatsachenvortrag muss dem Gericht lediglich die Subsumtion ermöglichen.31 Auch ist die „Konkretisierung“ von möglicherweise pflichtwidrig durch den Aus-
24 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284); BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07, NJW 2009, 2454 (2457 – Rn. 42); BGH, Urteil vom 22. Februar 2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 (550 – Rn. 17); Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 93 Rn. 26; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 53; Krieger/Sailer-Coceani, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 93 Rn. 41. 25 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284); BGH, Urteil vom 16. März 2009 – II ZR 280/07, NJW 2009, 2454 (2457 – Rn. 42); BGH, Urteil vom 22. Februar 2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 (550 – Rn. 17); Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 93 Rn. 26; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 53. 26 OLG Nürnberg, Beschluss vom 24. September 2014 – 12 U 567/13, ZIP 2015, 427 (427 – 2. Leitsatz); zustimmend Bachmann, BB 2015, 771 (774 f.); ebenso Koch, in: Hüffer/ Koch, AktG, § 93 Rn. 53. 27 OLG Nürnberg, Beschluss vom 24. September 2014 – 12 U 567/13, ZIP 2015, 427 (429). 28 Bachmann, BB 2015, 771 (774 f.). 29 Fleischer/Bauer, ZIP 2015, 1901 (1907). 30 Fleischer/Bauer, ZIP 2015, 1901 (1908). 31 Fleischer/Bauer, ZIP 2015, 1901 (1907 f.).
B. Die Darlegungs- und Beweislast
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schluss vernünftiger Zweifel an der Pflichtwidrigkeit eine sehr freie Auslegung. Dass der BGH sich dem anschließt, kann jedenfalls mit Recht bezweifelt werden. Bei der Darlegung des Schadens kommt der Gesellschaft § 287 ZPO zugute, wonach der Vortrag von Tatsachen ausreicht, die eine Schadensschätzung ermöglichen.32 Dem Vorstandsmitglied obliegt es demgegenüber darzulegen und zu beweisen, dass seine Handlung pflichtgemäß war, es nicht schuldhaft gehandelt hat oder der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre.33 Übertragen auf die Pflicht zur Steuergestaltung bedeutet dies, dass die Gesellschaft den durch die Gestaltung eingetretenen Schaden darlegen und gegebenenfalls beweisen muss, wobei ihr § 287 ZPO zur Hilfe kommt. Die Gesellschaft muss weiter die Entscheidung für oder gegen eine Gestaltung als möglicherweise pflichtwidrige Handlung darlegen. Schließlich bedarf es der Darlegung der Kausalität zwischen der Entscheidung für oder gegen eine Gestaltung und dem eingetreten Schaden, was im Falle eines darstellbaren Schadens aber regelmäßig unproblematisch sein dürfte. Bei einer Verletzung der (vertikalen) Überwachungspflicht ist der abstrakte Vortrag, dass dichtere Kontrollmaßnahmen das Risiko eines Schadens verringert hätten, dagegen nicht ausreichend.34 Erforderlich ist grundsätzlich die Darlegung, dass das Tun oder Unterlassen im konkreten Einzelfall zum Schaden geführt hat.35 Das Vorstandsmitglied muss dagegen entweder darlegen, dass es seine Pflicht zur Steuergestaltung ordnungsgemäß erfüllt hat, d. h., insbesondere die StakeholderInteressen in angemessenem Umfang ermittelt und im Unternehmensinteresse entschieden hat, oder dass der Schaden auch bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Pflicht zur Steuergestaltung sicher eingetreten wäre.36 Dies gilt entsprechend bei einem Verstoß gegen die Legalitätspflicht.
32
BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284 und 287); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 221; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 53. 33 BGH, Urteil vom 4. November 2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284 f.); BGH, Urteil vom 22. Februar 2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 (550 – Rn. 17); Koch, in: Hüffer/ Koch, AktG, § 93 Rn. 53; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 140. 34 Ausführlich dazu Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 142; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 53. 35 Mertens/Cahn, in: KK-AktG; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 53. Inwieweit hier Beweiserleichterungen zuzulassen sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Einen Überblick über die möglichen dogmatischen Ansätze gibt Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 215a. 36 Dies bezieht sich auch auf die Business Judgment Rule, die vorliegend aber bereits in die Pflicht zur Steuergestaltung „integriert“ ist, siehe Begr. RegE, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 93 Rn. 27; Krieger/Sailer-Coceani, in: K. Schmidt/ Lutter, AktG, § 93 Rn. 41; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 141.
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Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
C. Fallgruppen Zur Systematisierung der Untersuchung bietet sich eine Einteilung in Fallgruppen an. Diese gliedert sich wie folgt: Als Erstes sollen die Fälle untersucht werden, in denen ein Vorstandsmitglied selbst die Pflicht zur Steuergestaltung verletzt haben kann (I.). Darauf aufbauend wird die Verletzung der Überwachungspflicht in Delegationsfällen erörtert (II.). Die letzte Fallgruppe bilden Verstöße gegen die Legalitätspflicht (III.).
I. Die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung Die Fallgruppe der Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung kann dabei nach den möglichen Vorstandsentscheidungen und ihren potentiellen Folgen weiter untergliedert werden, d. h. in wirksame Gestaltungen (1.), unwirksame Gestaltungen (2.) und unrealisierte Gestaltungen (3.). Als eindeutiges Ausschlusskriterium wird innerhalb der Fallgruppen vorweg geprüft, ob überhaupt ein Schaden der Gesellschaft eintreten kann. Ist ein Schadenseintritt ausgeschlossen, scheidet eine Haftung aus und eine regelmäßig wertungsabhängige Entscheidung über das Vorliegen einer Pflichtverletzung ist nicht erforderlich. Die Fallgruppen können sowohl Entscheidungen betreffen, die als Leitungsaufgaben dem Gesamtvorstand obliegen als auch Entscheidungen, die zwar delegationsfähig sind, aber nicht delegiert wurden. 1. Wirksame Gestaltungen Die erste Fallgruppe erfasst Fälle, in denen das Vorstandsmitglied sich für die Realisierung einer Steuergestaltung entscheidet und diese von den Finanzbehörden anerkannt wird. Ein Schaden der Gesellschaft scheidet in diesen Fällen grundsätzlich aus, da die Gesellschaft in der Regel durch die Reduzierung der Steuerlast ihre Kosten verringern kann und ihr somit ein Gewinn, aber kein Schaden entsteht. Davon sind drei Ausnahmefälle denkbar, die auch kumulativ vorliegen können: Erstens können die Gestaltungskosten den Nutzen übersteigen,37 zweitens können den Nutzen übersteigende Eventualkosten anfallen und drittens kann sich das Vorstandsmitglied gegen eine vorteilhaftere Gestaltung entschieden haben, die mindestens ebenso wahrscheinlich anerkannt worden wäre. Bei genauer Betrachtung liegt der Vorwurf im dritten Ausnahmefall aber nicht in der Vornahme der weniger vorteilhaften Gestaltung, sondern im Unterlassen der vorteilhafteren potentiellen Gestaltung. Damit handelt es sich schwerpunktmäßig um einen Fall der Fallgruppe „unrealisierte Gestaltungen“, der unter Punkt 3 behandelt werden soll. Der erste Ausnahmefall trifft vor allem Vorstandsmitglieder, die unter der Maxime „Steuern 37
(372).
Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091); zustimmend Grotherr, Ubg 2015, 360
C. Fallgruppen
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sparen, um jeden Preis“ agieren. Auch eine erhebliche Verkomplizierung der Gesellschaftsstruktur, die in einem Kontrollverlust des Vorstands und Aufsichtsrats mündet, ist davon erfasst.38 Fälle, in denen die höheren Kosten an einer mangelhaften tatsächlichen Umsetzung liegen, unterfallen dagegen der Überwachungspflicht des Vorstandsmitglieds, da es die Gestaltung nicht selbst umsetzen wird.39 Der Schaden besteht mindestens in der Differenz zwischen Nutzen und Gestaltungskosten.40 Im zweiten Ausnahmefall besteht der Schaden in der Differenz zwischen Nutzen und Eventualkosten. Diese sind allerdings auch im Nachhinein schwer exakt zu beziffern. Trotz des Eingreifens von § 287 ZPO dürfte auch deswegen ein Schadensersatzanspruch der Gesellschaft insoweit regelmäßig ausscheiden. Damit in den verbleibenden ersten beiden Ausnahmefällen überhaupt ein Schadensersatzanspruch besteht, muss das Vorstandsmitglied eine schuldhafte Pflichtverletzung begangen haben, die adäquat kausal für den Schaden ist. Folglich muss das Vorstandsmitglied seine Pflicht zur Steuergestaltung verletzt haben. Eine unternehmerische Entscheidung wird regelmäßig unproblematisch vorliegen, da das Vorstandsmitglied entschieden hat zu gestalten. Problematisch kann aber sein, ob das Vorstandsmitglied die Stakeholder-Interessen in zum damaligen Zeitpunkt angemessenem Umfang ermittelt hat.41 Generell und somit auch für die Ausnahmefälle gilt: Die Betrachtung der Stakeholder-Interessen darf nicht zu einem Rückschaufehler („hindsight bias“) der Gerichte führen.42 Ob das Vorstandsmitglied zum damaligen Zeitpunkt die Interessen in angemessenem Umfang ermittelt hat, ist vom Einzelfall abhängig und kann abstraktgenerell nicht beantwortet werden. Dem Vorstandsmitglied steht auch insoweit Ermessen zu, das aber einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten muss. Im Einzelnen wird auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen.43 Im ersten Ausnahmefall ist beispielweise eine unangemessene Kosten-Nutzen-Analyse möglich. Im zweiten Ausnahmefall wird man an die Angemessenheit der Ermittlung der Eventualkosten aber nur sehr geringe Anforderungen stellen dürfen. Da sich regelmäßig weder die Eintrittswahrscheinlichkeit noch die Schadenshöhe eines Reputationsrisikos hinreichend konkret beziffern lassen, muss es grundsätzlich ausreichen, wenn das Vorstandsmitglied dieses Risiko überhaupt in seine Entscheidung einbezieht. Einen ersten Anhaltspunkt kann hier die Testfrage liefern, ob 38
Ähnlich Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091). Er sieht darin aber zwei Fallgruppen. Nach dem vorliegenden Ansatz handelt es sich aber in beiden Fällen um Gestaltungskosten, die im Stakeholder-Interesse in angemessenem Umfang zu ermitteln sind. 39 Siehe unten Kap. 4, C. II. (S. 241 ff.). 40 Zu einem möglichen Schaden in Höhe der Differenz zu einer alternativen Gestaltung siehe unten Kap. 4, C. I. 3. (S. 240 ff.). 41 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.). 42 Hinsichtlich § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ganz allgemeine Auffassung, siehe Bürgers, in: Bürgers/Körber, AktG, § 93 Rn. 9; Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 60; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 36. 43 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.).
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Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
die Gestaltung einem gewissenhaften Geschäftsleiter unangenehm wäre, wenn sie öffentlich würde.44 Eine Pflichtverletzung kann schließlich darin bestehen, dass das Vorstandsmitglied in der konkreten Situation nicht vernünftigerweise annehmen durfte, im Unternehmensinteresse zu entscheiden, d. h., hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung die Grenze der dauerhaften Rentabilität überschreitet, eine logisch nicht nachvollziehbare Entscheidung trifft oder bei kongruenten Stakeholder-Interessen gegen diese entscheidet. Letzteres kann im ersten Ausnahmefall der Fall sein, wenn bei angemessener Interessenermittlung der Verlust erkennbar war, denn dann war die Gestaltung weder im Interesse der staatlichen noch der nichtstaatlichen Stakeholder. Auch die staatlichen Stakeholder können kein Interesse daran haben, dass der Vorstand Gesellschaftsmittel für Gestaltungen aufwendet, die ersichtlich zu einem Verlust der Gesellschaft führen, deren Stakeholder sie sind und von dem weder die Gesellschaft noch sie profitieren. Sofern das Vorstandsmitglied nicht vorsätzlich seine Pflicht verletzt, wird aber grundsätzlich entweder bereits eine Pflichtverletzung auf Ebene der Interessenermittlung vorliegen oder eine Pflichtverletzung insoweit ausscheiden. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung: Wenn das Vorstandsmitglied die Stakeholder-Interessen in angemessenem Umfang ermittelt hat bzw. unter Wahrung seiner Pflichten hat ermitteln lassen, sind zwei Ergebnisse denkbar: Ergibt sich daraus erstens eindeutig das kongruente Interesse, dann kann das Vorstandsmitglied nur vorsätzlich dagegen entscheiden. Ergibt sich daraus zweitens das kongruente Interesse nicht eindeutig, dann kann man dem Vorstandsmitglied folgerichtig aber auch nicht vorwerfen, anders entschieden zu haben. Möglich bleibt aber eine Pflichtverletzung wegen einer Überschreitung der Grenze der dauerhaften Rentabilität oder einer logisch nicht nachvollziehbaren Entscheidung. Wenn das Vorstandsmitglied die Stakeholder-Interessen angemessen ermittelt hat, kommt ein Verstoß gegen die Ermessensgrenze der dauerhaften Rentabilität aber nur noch in Betracht, falls dieser erkennbar war, die Entscheidung also unverantwortlich ist.45 Damit kommt er – wenn überhaupt – nur im ersten Ausnahmefall in Betracht, wenn die Verluste einen angemessenen Gewinn und damit die dauerhafte Rentabilität gefährden, während er im zweiten Ausnahmefall mangels Vorhersehbarkeit des Reputationsrisikos grundsätzlich ausscheiden muss. Dies gilt zumindest solange, wie es keine gesicherte empirische Erkenntnis zur Auswirkung von Steuergestaltungen auf die Reputation eines Unternehmens gibt.46 Der zweite Ausnahmefall ist daher von geringer Relevanz ist. Bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Steuergestaltung ist eine Pflichtverletzung nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nur regelmäßig indiziert.47 Die Feststellung, ob die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters im 44 45 46 47
Pöllath, in: FS Pöllath + Partners, S. 3 (21). Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. c) (S. 211 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.).
C. Fallgruppen
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konkreten Einzelfall verletzt wurde, obliegt dem Gericht. Wenn eine Pflichtverletzung vorliegt, ist wiederum grundsätzlich auch ein Verschulden des Vorstandsmitglieds indiziert.48 Schlussendlich muss die Pflichtverletzung adäquat kausal für den eingetretenen Schaden sein. Ohne die pflichtwidrige Entscheidung, eine Gestaltung zu realisieren, wäre der Schaden nicht eingetreten. Des Weiteren ist es auch nicht völlig unwahrscheinlich, dass eine pflichtwidrige Entscheidung eine Steuergestaltung zu realisieren, zu einem Schaden der Gesellschaft führt. Dagegen kann das Vorstandsmitglied den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens geltend machen. Es muss dann darlegen, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßer Entscheidung, z. B. bei angemessener Interessenermittlung sicher eingetreten wäre, beispielweise, wenn im ersten Ausnahmefall eine Kostenexplosion zum Zeitpunkt der Entscheidung auch bei angemessener Kosten-Nutzen-Analyse nicht abzusehen gewesen wäre.
2. Unwirksame Gestaltungen Die zweite Fallgruppe erfasst Fälle, in denen das Vorstandsmitglied sich für die Realisierung einer Steuergestaltung entscheidet und diese von den Finanzbehörden oder nachgelagert den Finanzgerichten nicht anerkannt wird. Schließlich kann eine Gestaltung auch durch Maßnahmen der Europäischen Kommission, insbesondere wegen eines Beihilfeverstoßes, oder Entscheidungen des EuGH oder des BVerfG wegen Europarechts- oder Verfassungswidrigkeit unwirksam sein. Gemeint sind damit Fälle, bei denen die Anerkennung an der rechtlichen Beurteilung der Gestaltung scheitert. Fälle, in denen die Gestaltung an einer mangelnden tatsächlichen Umsetzung scheitert, unterfallen dagegen der Überwachungspflicht des Vorstandsmitglieds, da es die Gestaltungen nicht selbst umsetzen wird.49 Ein Schaden der Gesellschaft ist in diesen Fällen wohl nahezu immer gegeben, da der erwartete Nutzen (zumindest teilweise) ausfällt und zu den Gestaltungs- die Ausfallkosten hinzukommen.50 Der Schaden liegt mindestens in der Differenz zwischen dem tatsächlich anfallenden Verlust und den hypothetischen Steuern im Fall einer Gestaltung, die nicht von steuerlichen, sondern bloß von betrieblichen Gesichtspunkten abhängt.51 Eine Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung kann hier zunächst wiederum in einer unangemessenen Ermittlung der Stakeholder-Interessen bestehen. Das Vorstandsmitglied kann insbesondere Kosten und Nutzen oder das Ausfallrisiko der Gestaltung nur unangemessen ermittelt haben. Beispielsweise bei der Entscheidung 48
Siehe oben Kap. 4, A. (S. 229 ff.). Siehe unten Kap. 4, C. II. (S. 241 ff.). 50 Zu dieser Differenzierung und der Definition der einzelnen Kostenpositionen siehe oben Kap. 2, B. III. 2. a) (S. 171 ff.). 51 Zu einem möglichen Schaden in Höhe der Differenz zu einer alternativen Gestaltung siehe unten Kap. 4, C. I. 3. (S. 240 ff.). 49
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Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
über Gestaltungen, die als selektive Steuervorteile gegen europäisches Beihilferecht verstoßen können, muss das Ausfallrisiko angemessen ermittelt werden. Dabei ist aber zum einen zu berücksichtigen, dass die Entscheidungen des EuGH zu dieser Thematik noch ausstehen, zum anderen dass ein Vorstandsmitglied regelmäßig keine Kenntnis davon hat, wie andere Unternehmen besteuert werden.52 Allerdings bilden zumindest extreme Abweichungen vom tariflichen Steuersatz ein zuverlässiges Indiz für einen selektiven Steuervorteil. Noch eindeutiger ist der Fall, wenn um die Ansiedlung ausländischer Unternehmen gezielt mit Steuervorteilen geworben wird, die inländischen Unternehmen erkennbar vorenthalten werden. Eine unangemessene Interessenermittlung liegt auch dann vor, wenn das Vorstandsmitglied pflichtwidrig auf die Einholung von Expertenrat verzichtet, im Falle der Einholung gegen seine damit verbundenen Pflichten verstoßen oder die Beantragung einer verbindlichen Zusage bei den Finanzbehörden pflichtwidrig unterlassen hat.53 Wenn es dagegen eine verbindliche Zusage erhält, kann es sich auf diese verlassen, es sei denn, sie ist offensichtlich rechtswidrig.54 Solange der EuGH die Fälle Amazon, Apple etc. noch nicht entschieden hat, kann man das für Zusagen in vergleichbaren Fällen gegenwärtig noch nicht sagen. Wenn ein Vorstandsmitglied also im konkreten Fall die Stakeholder-Interessen nur in unangemessenem Umfang ermittelt hat, verletzt es seine Pflicht zur Steuergestaltung. Jedoch steht auch hier die Interessenermittlung im Ermessen des Vorstandsmitglieds und muss lediglich einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten. Das Unternehmensinteresse kann auch hier durch eine Entscheidung gegen das kongruente Stakeholder-Interesse verletzt werden. Insoweit gelten dieselben Erwägungen wie in der ersten Fallgruppe. In Fällen eines kongruenten Interesses handelt das Vorstandsmitglied vorsätzlich, es liegt bereits eine Pflichtverletzung auf Ebene der Interessenermittlung vor oder eine Verletzung des Unternehmensinteresses scheidet mangels Erkennbarkeit bei angemessener Interessenermittlung aus. Beispiele für ein kongruentes Stakeholder-Interesse könnten zukünftig Gestaltungen sein, die erkennbar gegen europäisches Beihilferecht verstoßen, da sie letztlich zu einem Schaden der Gesellschaft führen, der niemals im Interesse der Stakeholder ist. Es bleibt insoweit allerdings abzuwarten, ob der EuGH in den laufenden Verfahren selektive Steuervorteile als europarechtswidrig ansieht. Es handelt sich dabei im Übrigen seitens des Vorstandsmitglieds nicht um einen Verstoß gegen die Legalitätspflicht, da nicht die Unternehmen Adressaten des Art. 107 AEUV und entsprechender Kommissionsentscheidung sind, sondern die Mitgliedstaaten.55 Eine Überschreitung der Ermessensgrenze der dauerhaften Rentabilität ist in der zweiten Fallgruppe etwas wahrscheinlicher als in der ersten, da zu den Gestaltungs52
Siehe oben Kap. 2, B. II. 5. a) bb) (2) (b) (S. 133 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.) und Kap. 2, B. III. 4. b) bb) (S. 210 f.). 54 BFH, Urteil vom 16. Juli 2002 – IX R 28/98, BStBl. II 2002, 714 (719); Rüsken, in: Klein, AO, Kap. 2,04 Rn. 14. 55 Blumenberg/Kring, Europäisches Beihilferecht und Besteuerung, ifst-Schrift 473, S. 36. 53
C. Fallgruppen
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die Ausfallkosten hinzukommen, wobei es aber insgesamt dabei bleibt, dass die Ermessensgrenze der dauerhaften Rentabilität weit ist. Wenn eine Gefährdung der dauerhaften Rentabilität aufgrund des Ausfallrisikos möglich ist, muss das Vorstandsmitglied von einer Gestaltung absehen oder entsprechende Rücklagen bilden, die eine Gefährdung ausschließen.56 Auch innerhalb dieser Grenze kann das Vorstandsmitglied schließlich gegen das Unternehmensinteresse verstoßen, wenn es eine aus damaliger Sicht logisch nicht nachvollziehbare Entscheidung trifft. Wie das Landgericht Essen in einer Entscheidung zur Haftung eines Vorstandsmitglieds für Cum-ex-Geschäfte zutreffend ausführt, kommt dem Vorstand bei der Beurteilung des Ausfallrisikos einer Gestaltung aber ein sehr weiter Ermessensspielraum zu.57 Dieser ist erst überschritten, wenn sich ein Bewertungsfehler für einen ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter aufdrängt, wobei es auf die Umstände des Einzelfalls, vor allem die Umstände des konkreten Unternehmens, wie seine Struktur, Marktlage etc., ankommt.58 Eine Gestaltung scheidet aufgrund des Ausfallrisikos also nur aus, wenn sich ihre wahrscheinliche Unwirksamkeit einem ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiter aufdrängt. Eine Pflichtverletzung indiziert auch hier das Verschulden. Hinsichtlich der Kausalität gelten die Ausführungen zur ersten Fallgruppe entsprechend. Die zweite Fallgruppe unterscheidet sich von der ersten durch die Nichtanerkennung der Gestaltung. Wenn eine Gestaltung von staatlicher Seite nicht anerkannt wird, ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs ebenfalls eine unternehmerische Ermessensentscheidung.59 Das Vorstandsmitglied muss eine Prozessrisikoanalyse durchführen.60 Inzident bedeutet dies auch eine erneute Prüfung des Ausfallrisikos bzw. der zukünftigen Anerkennung der Gestaltung. Des Weiteren muss das Vorstandsmitglied auch die regelmäßig erheblichen Rechtsberatungskosten in seine Abwägung miteinbeziehen. Auch das mit einem Gerichtsverfahren einhergehende öffentliche Aufsehen und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Reputation des Unternehmens können ein Grund sein, auf einen Rechtsbehelf zu verzichten.61 Bei Verfahren vor den Finanzgerichten ist dieses Risiko allerdings nur unwesentlich höher als das grundsätzliche Reputationsrisiko der Gestaltung, da auf Antrag der Gesellschaft zum Schutz des Steuergeheimnisses die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden muss (§ 52 Abs. 2 FGO). Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte muss das Vorstandsmitglied nachvollziehbar entscheiden, ob es einen Rechtsbehelf einlegt. Sofern das Vorstandsmitglied dabei die Grenzen des unternehmerischen Ermessens überschreitet, ist auch insoweit eine Haftung auf Schadensersatz möglich. 56
Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). LG Essen, Urteil vom 8. Juli 2015 – 42 O 4/14, juris (Rn. 140 f.). 58 LG Essen, Urteil vom 8. Juli 2015 – 42 O 4/14, juris (Rn. 140 f.). 59 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 89; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 89; zum Rechtsschutz gegen beihilferechtliche Entscheidungen der Kommission siehe Blumenberg/Kring, Europäisches Beihilferecht und Besteuerung, ifst-Schrift 473, S. 35 ff. 60 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 90. 61 Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 89. 57
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Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
3. Unrealisierte Gestaltungen Die dritte Fallgruppe betrifft unrealisierte Gestaltungen. Ein Schaden ergibt sich in diesen Fällen aus dem entgangenen potentiellen Gewinn der unrealisierten Gestaltung. Grundsätzlich sind innerhalb der Fallgruppe zwei Konstellationen denkbar. Zum einen kann das Vorstandsmitglied sich generell nicht mit Steuergestaltungen befassen,62 zum anderen kann es sich gegen die Realisierung einer konkreten Gestaltung entscheiden.63 Die Gesellschaft muss in diesen Fällen darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass die unrealisierte Gestaltung wirksam gewesen wäre, da es andernfalls an einem Schaden der Gesellschaft fehlt. Zumindest bei lediglich wahrscheinlich wirksamen Gestaltungen (>50 %) wird es der Gesellschaft trotz § 287 ZPO regelmäßig nicht gelingen, einen Schaden darzustellen. Wenn sie einen Schaden darlegen kann, ist dieser in der zweiten Konstellation, um den aus einer stattdessen realisierten Gestaltung erzielten Gewinn zu kürzen. Neben dem Schaden muss auch hier wieder eine Pflichtverletzung vorliegen. In der ersten Konstellation kann es bereits an einer unternehmerischen Entscheidung fehlen, wenn ein Vorstandsmitglied sich unbewusst nicht mit Steuergestaltungen beschäftigt. Jedenfalls liegt aber eine Pflichtverletzung wegen unangemessener Interessenermittlung vor. Zumindest aufgrund der Interessen der nichtstaatlichen Stakeholder ist ein Vorstandsmitglied verpflichtet, Gestaltungsmöglichkeiten zu prüfen. Soweit die Staaten am Ort der Wertschöpfung Gestaltungsmöglichkeiten bewusst schaffen, haben auch sie ein Interesse daran, dass der Vorstand diese prüft. Auch in der zweiten Konstellation ist es denkbar, dass ein Vorstandsmitglied Gestaltungsmöglichkeiten nur in unangemessenem Umfang ermittelt hat. Allerdings ist auch hier der Ermessensspielraum zu beachten. Danach ist es jedenfalls ausreichend, wenn ein Vorstandsmitglied die typischen markt- und branchenüblichen Gestaltungen prüft bzw. die Steuerabteilung oder externe Berater beauftragt diese zu prüfen. In keinem Fall ist es erforderlich, neue Gestaltungen zu entwickeln. Nicht im Unternehmensinteresse entscheidet ein Vorstandsmitglied, wenn es eine wahrscheinlich wirksame vorteilhaftere Gestaltung unterlässt, die im kongruenten Stakeholder-Interesse liegt, also insbesondere dem Willen des Gesetzgebers am Ort der Wertschöpfung entspricht. Ein Beispiel hierfür wäre das Unterlassen einer für die Gesellschaft vorteilhaften Organschaft. Damit ist in beiden Fällen ein Verstoß gegen das Unternehmensinteresse möglich. Es gelten aber insoweit dieselben Erwägungen wie in der ersten Fallgruppe: Entweder handelt das Vorstandsmitglied vorsätzlich, eine Pflichtverletzung liegt bereits auf Ebene der Interessenermittlung vor oder scheidet aus. Insbesondere, wenn bei angemessener Interessenermittlung die Vor-
62
(372).
Schön, in: FS Hoffmann-Becking, S. 1085 (1091); zustimmend Grotherr, Ubg 2015, 360
63 Die zweite Konstellation kann dem dritten Ausnahmefall der ersten Fallgruppe entsprechen, der Nichtvornahme einer vorteilhafteren, mindestens ebenso wahrscheinlich wirksamen Gestaltung, siehe oben Kap. 4, C. I. 1. (S. 234 ff.).
C. Fallgruppen
241
teilhaftigkeit oder Wirksamkeit nicht mindestens ebenso eindeutig erkennbar war, muss ein Verstoß gegen das Unternehmensinteresse ausscheiden. Ein Verstoß gegen die Grenze der dauerhaften Rentabilität ist in beiden Konstellationen ausnahmsweise möglich, wenn die Gesellschaft sich in einer Wettbewerbssituation befindet, die sehr wahrscheinlich bestandsgefährdend werden kann, und das Vorstandsmitglied auf eine mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wirksame (>95 %) vorteilhaftere Steuergestaltung verzichtet.64 Jenseits solcher Ausnahmesituationen kann das Vorstandsmitglied bei divergierenden StakeholderInteressen frei entscheiden, ob es beispielweise eine Gestaltung im Interesse der nichtstaatlichen Stakeholder vornimmt oder von dieser im Interesse der staatlichen Stakeholder absieht.
II. Die Verletzung der Überwachungspflicht bei Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung Die Verletzung der Überwachungspflicht betrifft die Fälle der Delegation der Entscheidungsvorbereitung und -realisierung sowie der Delegation der Entscheidung selbst. Wenn ein Vorstandsmitglied Aufgaben delegiert, haftet es (nur) für eigene schuldhafte Pflichtverletzungen. Pflichtverletzungen von Mitarbeitern werden ihm nicht nach § 278 BGB zugerechnet, da diese keine Erfüllungsgehilfen des Vorstandsmitglieds sind, sondern für die Aktiengesellschaft tätig werden.65 Auch Vorstandsmitglieder, auf die eine Aufgabe vom Vorstand delegiert wird, werden ausschließlich für die Gesellschaft tätig.66 Die Anwendung von § 831 BGB scheidet ebenfalls sowohl bei vertikaler als auch bei horizontaler Delegation aus, weil Geschäftsherr nach § 831 Abs. 1 BGB nicht ein Vorstandsmitglied, sondern immer die Aktiengesellschaft ist und das Vorstandsmitglied als Organ auch nicht von § 831 Abs. 2 BGB erfasst wird.67 Voraussetzung für die Haftung eines Vorstandmitglieds ist danach in allen Delegationsfällen eine eigene Pflichtverletzung. Diese liegt unabhängig von der Überwachungspflicht vor, wenn eine delegationsunfähige Leitungsaufgabe einem einzelnen Vorstandsmitglied oder Mitarbeiter aufgetragen wird.68 Dies ist beispielsweise der Fall bei der Entscheidung über eine Steuergestaltung, die aufgrund 64
Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.). Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 98; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 46; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 48. 66 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 42. 67 BGH, Urteil vom 15. Mai 1974 – VI ZR 8/73, NJW 1974, 1371 (1371 f.); BGH, Urteil vom 5. Dezember 1989 – VI ZR 335/88, BGHZ 109, 297 (304); BGH, Urteil vom 13. April 1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366 (375); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 98; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 42 und 46; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 48. 68 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 99; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 46; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 48. 65
242
Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
ihrer Erheblichkeit einer Entscheidung des Kollegialorgans bedarf.69 Weitere Voraussetzungen sind aber in jedem Fall die Vorwerfbarkeit und adäquate Kausalität der Pflichtverletzung für einen Schaden der Gesellschaft. Eine Haftung bei unzulässiger Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung kommt daher nur in den oben skizzierten Fällen in Frage, in denen ein Schaden überhaupt möglich ist.70 In allen Fällen zulässiger Delegation muss der graduelle Unterschied zwischen der Überwachung von gleichgeordneten Vorstandskollegen, denen das Kollegialorgan Aufgaben übertragen hat, und der Überwachung von nachgeordneten Mitarbeitern, denen ein Vorstandsmitglied selbst Aufgaben übertragen hat, beachtet werden. Wie der BGH aber ausdrücklich festgestellt hat, handeln auch Vorstandsmitglieder pflichtwidrig, wenn sie gegen erkennbare Pflichtverstöße anderer Vorstandsmitglieder nicht vorgehen.71 Hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung könnte dies beispielweise eine erkennbar unangemessene Interessenermittlung sein, wie eine ersichtlich unzutreffende Kosten-Nutzen-Analyse einschließlich des Ausfallrisikos, die pflichtwidrige Nichteinholung von Expertenrat oder von einer verbindlichen Zusage. Bezüglich der Anforderungen an die Überwachung bei horizontaler Delegation wird, um Wiederholungen zu vermeiden, nach oben verwiesen.72 Im Fall der vertikalen Delegation verstößt ein Vorstandsmitglied gegen seine Überwachungspflicht, wenn es einen erkennbar ungeeigneten Mitarbeiter für die Aufgabe auswählt, den Mitarbeiter nur unzureichend in seine Aufgabe einweist oder ihn nicht ausreichend kontrolliert.73 Für den besonderen Fall der Delegation der Entscheidungsvorbereitung wird die Überwachungspflicht nach der hier vertretenen Auffassung durch die Anforderungen der Rechtsprechung zum Vertrauen auf Expertenrat präzisiert.74 Die Pflichtverletzung ist dann nicht eigenständig, sondern inzident im Rahmen der angemessenen Informationsermittlung für die Entscheidung des Vorstandsmitglieds zu prüfen. Eine Pflichtverletzung wegen unangemessener Ermittlung der Stakeholder-Interessen liegt dann vor, wenn die Ermittlung durch den Delegierten unangemessen ist und das Vorstandsmitglied seine mit der Delegation verbundenen Pflichten verletzt. Dies ist der Fall, wenn das Vorstandsmitglied dem Delegierten die Verhältnisse der Gesellschaft nicht umfassend darstellt, die erforderlichen Unterlagen nicht offenlegt, der Delegierte die Entscheidung nicht unabhängig vorbereiten darf, der Delegierte für die Entscheidungsvorbereitung kein fachlich qualifizierter Berufsträger ist oder das Vorstandsmitglied das Ergebnis der Entscheidungsvorbereitung keiner sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzieht. Im Bezug auf die weitere Konkretisierung dieser Merkmale wird auf die vorangegan69
Siehe oben Kap. 3, A. (S. 218 ff.). Siehe oben Kap. 4, C. I. (S. 234 ff.). 71 BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 – II ZR 90/11, NJW 2013, 1958 (455 – Rn. 22); BGH, Urteil vom 28. April 2015 – II ZR 63/14, BB 2015, 1743 (1745). 72 Siehe oben Kap. 3, C. I. (S. 222 ff.). 73 Siehe oben Kap. 3, C. II. (S. 225 ff.). 74 Siehe oben Kap. 3, D. (S. 226 f.). 70
C. Fallgruppen
243
genen Ausführungen verwiesen.75 In allen Delegationsfällen kann die Überwachungspflicht in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls unternehmens-, aufgaben- und personenbezogen weiter konkretisiert werden.76 Auch bei einem Verstoß gegen die Überwachungspflicht obliegt es am Ende dem Gericht festzustellen, ob im konkreten Fall ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vorliegt.
III. Die Verletzung der Legalitätspflicht als absolute Grenze der Pflicht zur Steuergestaltung In den Fällen der Verletzung der Legalitätspflicht ist ein unternehmerischer Ermessensspielraum für Steuergestaltungen von vornherein nicht eröffnet.77 Die Legalitätspflicht bildet eine absolute Grenze. Ein Schadensersatzanspruch besteht aber auch bei Verletzung der Legalitätspflicht nur, wenn der Gesellschaft ein Schaden entstanden ist, weshalb auch insoweit auf die skizzierten Fallgruppen verwiesen werden muss.78 Darüber hinaus muss die Verletzung der Legalitätspflicht adäquat kausal für den Schaden sein. Gegen seine Legalitätspflicht verstößt ein Vorstandsmitglied im Kontext der Pflicht zur Steuergestaltung vor allem, wenn es für die Gesellschaft Steuern hinterzieht (§ 370 AO). Für eine auferlegte Geldstrafe kann die Gesellschaft die Vorstandsmitglieder in Regress nehmen. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn eine Steuerhinterziehung im Ausland erfolgt und nach ausländischem Recht strafbar ist, aber nicht in den Anwendungsbereich von § 370 AO fällt.79 Des Weiteren verletzt ein Vorstandsmitglied die Legalitätspflicht, wenn es die aktienrechtliche Kompetenzordnung nicht einhält. Vorliegend betrifft dies insbesondere zwei Fälle: zum einen Entscheidungen für Gestaltungen, die gegen die Satzung verstoßen, vor allem gegen ein sich aus dem Unternehmensgegenstand oder sonstigen Satzungsbestimmungen ergebendes Risikoprofil, zum anderen Entscheidungen unter Missachtung eines Zustimmungsvorbehalts zugunsten des Aufsichtsrats. Dabei gilt es zu beachten, dass der Aufsichtsrat auch kurzfristig Ad-hocZustimmungsvorbehalte beschließen kann. Nicht zustimmungsvorbehaltsfähig sind Entscheidungen darüber, etwas zu unterlassen. Fälle der dritten Fallgruppe der Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung,80 d. h. des Unterlassens einer Gestaltung, können deswegen nicht gegen einen Zustimmungsvorbehalt verstoßen, wohl aber stattdessen realisierte Gestaltungen. Gestaltungen können zudem mittelbar einem 75 76 77 78 79 80
Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.) und Kap. 3, D. (S. 226 f.). Siehe oben Kap. 3, B. (S. 221 f.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. (S. 184 ff.). Siehe oben Kap. 4, C. I. (S. 234 ff.). Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). Siehe oben Kap. 4, C. I. 3. (S. 240 f.).
244
Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
Zustimmungsvorbehalt unterfallen, wenn sie mit einer typischerweise zustimmungsbedürftigen betrieblich motivierten Gestaltung, wie z. B. der Errichtung einer Betriebsstätte oder dem Abschluss von Lizenzverträgen, in Zusammenhang stehen. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird abschließend auf die vorangegangenen Ausführungen zur Legalitätspflicht verwiesen.81 Hinsichtlich der Kausalität ist strittig, ob sich ein Vorstandmitglied bei einem Verstoß gegen Zustimmungsvorbehalte und vergleichbare Verfahrensfehler und Kompetenzverstöße, wie einem Verstoß gegen den Unternehmensgegenstand, auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten berufen kann. Die herrschende Literatur verneint dies, da andernfalls eine ausreichende präventive Abschreckung vor Kompetenzverstößen nicht mehr gewährleistet sei und der Schutzzweck folglich verfehlt würde.82 Dem sind der BGH (bisher nur für die GmbH) und Teile der Literatur entgegengetreten.83 Letztere führt insbesondere an, § 93 Abs. 2 AktG sei ein Schadensersatzanspruch und diene nicht primär dem Schutz aktienrechtlicher Kompetenz- und Verfahrensvorschriften, sondern generell dem Schutz der Aktiengesellschaft vor Schäden, die aus Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern resultieren.84 Als Schadensersatzanspruch müsse sich § 93 Abs. 2 AktG, soweit die Norm selbst keine abweichende Bestimmung treffe, nach den allgemeinen Grundsätzen des Schadensrechts richten, was das rechtmäßige Alternativverhalten einschließe.85 Vor allem der Aufsichtsrat sei zudem ausreichend durch sein Recht, Vorstandsmitglieder bestellen und abberufen zu können, geschützt.86 Es bestehe auch kein Grund, seine Entscheidungsmöglichkeit zu wahren, wenn nachweisbar ist, dass er zugestimmt hätte.87 Dem Anliegen der Gegenauffassung werde aber insofern Rechnung getragen, als ein Vorstandsmitglied die volle Beweislast dafür treffe, dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten sicher eingetreten wäre.88 Daher sei es einem Vorstandsmitglied in der Praxis nur in Ausnahmefällen möglich, sich einem Anspruch auf diese Weise zu entziehen.89 81
Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 416; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 93 Rn. 55; Spindler, in: MüKo AktG, § 93 Rn. 174. 83 BGH, Urteil vom 11. Dezember 2006 – II ZR 166/05, NJW 2007, 917 (918 – Rn. 12); BGH, Urteil vom 21. Juli 2008 – II ZR 39/07, NZG 2008. 783 (783 – 3. Leitsatz); Altmeppen, in: FS K. Schmidt, S. 23 (37 ff.); Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 93 Rn. 216; ausführlich Fleischer, DStR 2009, 1204 (1207 ff.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 50; wohl auch Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 262. 84 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 262. 85 Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 262; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 50. 86 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 50; ähnlich Fleischer, DStR 2009, 1204 (1207). 87 Fleischer, DStR 2009, 1204 (1209). 88 Fleischer, DStR 2009, 1204 (1208 f.); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 93 Rn. 50. 89 Daher von einer „probatio diabolica“ sprechend Fleischer, DStR 2009, 1204 (1209); die Praxisrelevanz daher auch relativierend Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 93 Rn. 416; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 262. 82
D. Zwischenergebnis
245
Die zweite Auffassung verdient Zustimmung. Wenn ein in Anspruch genommenes Vorstandsmitglied beispielsweise nachweisen kann, dass der Aufsichtsrat einer später unwirksamen Gestaltung zugestimmt hätte und es auch sonst seine Pflicht zur Steuergestaltung erfüllt hat, wäre es eine ungerechtfertigte Härte, das Vorstandsmitglied dennoch den Schaden aus dem sich realisierenden unternehmerischen Risiko tragen zu lassen.90
D. Zwischenergebnis Zusammenfassend kann festgehalten werden: Ein Vorstandsmitglied haftet der Gesellschaft gegenüber nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG auf Schadensersatz, wenn es seine Pflicht zur Steuergestaltung schuldhaft verletzt und der Gesellschaft dadurch ein adäquat kausaler Schaden entsteht. Aufgrund seines weiten Ermessensspielraums wird ein Vorstandsmitglied seine Pflicht zur Steuergestaltung in der Regel aber nicht verletzen. Wenn es sie dennoch verletzt, dann vor allem, weil es die Stakeholder-Interessen nur in unangemessenem Umfang ermittelt hat oder gegen das kongruente Stakeholder-Interesse entschieden hat. Dies ist sachgerecht, weil die interessenpluralistische Zielkonzeption zum einen ohne Kenntnis der pluralen Interessen nicht verfolgt werden kann und zum anderen der Vorstand bei kongruenten Stakeholder-Interessen keines Ermessensspielraums bedarf. Eine unangemessene Informationsgrundlage bezieht sich vor allem auf die möglichen Auswirkungen auf die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft, die im Interesse aller Stakeholder liegt, die Kosten-Nutzen-Analyse einschließlich des Ausfallrisikos im Interesse der nichtstaatlichen Stakeholder sowie den Ort der Wertschöpfung und den Willen des Gesetzgebers der einschlägigen Steuergesetze im Interesse der staatlichen Stakeholder. Des Weiteren kann die Informationsgrundlage unangemessen sein, weil Expertenrat bei fachlichem Unvermögen nicht oder nicht ordnungsgemäß eingeholt wurde oder eine mögliche verbindliche Zusage einer Finanzbehörde nicht ordnungsgemäß beantragt wurde. Allerdings steht auch der angemessene Umfang der Informationsgrundlage im Ermessen eines Vorstandsmitglieds und muss lediglich einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten. Ein Vorstandsmitglied muss aber darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass es seinen Ermessensspielraum eingehalten hat. Von daher kommt der Dokumentation eine kaum zu überschätzende Rolle zu. Selbst wenn ein Vorstandsmitglied seine Pflicht verletzt, fehlt es in vielen Fällen aber an einem (beweisbaren) Schaden der Gesellschaft. Schließlich ist in allen Fällen der Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung eine Verletzung der Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nur indiziert und muss von einem Gericht im konkreten Einzelfall festgestellt werden.
90
So auch Altmeppen, in: FS K. Schmidt, S. 23 (37 ff.); Fleischer, DStR 2009, 1204 (1209).
246
Kap. 4: Haftung der Vorstandsmitglieder, § 93 AktG
Eine Haftung für eine eigene Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung lässt sich in die drei Fallgruppen wirksame Gestaltungen, unwirksame Gestaltungen und unrealisierte Gestaltungen einteilen. Bei wirksamen Gestaltungen scheidet eine Haftung grundsätzlich mangels eines Schadens der Gesellschaft aus. Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise dann, wenn die Gestaltungskosten höher sind als der erzielte Nutzen. In diesem Fall kommt es vor allem darauf an, ob das Vorstandsmitglied in angemessenem Umfang Kosten und Nutzen der Gestaltung ermittelt hat, wobei auch insoweit sein Ermessensspielraum zu beachten ist. Wenn es dies getan hat und danach die zu hohen Kosten nicht erkennbar waren, scheidet eine Pflichtverletzung aus. In der Fallgruppe der unwirksamen Gestaltungen ist der Gesellschaft grundsätzlich ein Schaden zumindest in Form der Ausfallkosten entstanden. Damit kommt es erneut entscheidend darauf an, ob der Vorstand die Stakeholder-Interessen, hier vor allem das Ausfallrisiko, in angemessenem Umfang ermittelt hat. Im Falle einer angemessenen Interessenermittlung liegt eine Pflichtverletzung dennoch vor, wenn sich die Unwirksamkeit aufgrund der Informationsgrundlage dem Vorstandsmitglied aufdrängen musste. In diesem Fall durfte das Vorstandsmitglied vernünftigerweise nicht annehmen, im Unternehmensinteresse zu handeln, da es gegen das kongruente Stakeholder-Interesse entschieden hat. In der letzten Fallgruppe der unrealisierten Gestaltungen kann der Gesellschaft ein Schaden in Form des unrealisierten Gewinns entstanden sein. Die Gesellschaft muss in diesem Fall aber darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass die Gestaltung wirksam gewesen wäre, da es andernfalls an einem Schaden fehlt. Trotz § 287 ZPO wird eine Haftung schon deswegen in vielen Fällen ausscheiden. Wenn ein Vorstandsmitglied sich allerdings gar nicht mit Steuergestaltungen beschäftigt hat, liegt eine Pflichtverletzung mangels angemessener Ermittlung der nichtstaatlichen Stakeholder-Interessen vor und die Gesellschaft wird in diesem Fall auch nachweisen können, dass irgendeine vorteilhafte Gestaltung wirksam gewesen wäre. Wenn ein Vorstandsmitglied sich dagegen für eine Steuergestaltung entschieden und eine andere vorteilhaftere und zumindest ebenso wahrscheinlich wirksame Gestaltung unterlassen hat, scheidet eine Pflichtverletzung bei angemessener Interessenermittlung grundsätzlich aus. Etwas anderes gilt dann, wenn die unrealisierte Gestaltung im kongruenten Stakeholder-Interesse lag und dies bei angemessener Interessenermittlung erkennbar war.91 Im Fall der Delegation der Pflicht zur Steuergestaltung kann ein Vorstandsmitglied gegen seine Überwachungspflicht verstoßen, insoweit ist zwischen horizontaler und vertikaler Delegation sowie zwischen der Delegation der Entscheidung selbst und ihrer Vorbereitung bzw. Realisierung zu unterscheiden. Insgesamt kommt es dabei entscheidend auf die Umstände des Einzelfalls an. Schließlich kann ein Vorstandsmitglied unter bestimmten Umständen auch seine Legalitätspflicht ver91 Zum Sonderfall der Gefährdung der dauerhaften Rentabilität wegen einer schwierigen Wettbewerbssituation siehe oben Kap. 4, C. I. 3. (S. 240 f.).
D. Zwischenergebnis
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letzen, insbesondere indem es Zustimmungsvorbehalte oder satzungsmäßige Risikovorgaben nicht einhält oder Steuern hinterzieht. In all diesen Fällen besteht ein Schadensersatzanspruch aber nur dann, wenn der Gesellschaft ein Schaden entstanden ist.
Kapitel 5
Die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder für die Verletzung der Auswahl- oder Überwachungspflicht nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG im Kontext der Pflicht zur Steuergestaltung Im letzten Abschnitt der Arbeit werden die Pflichten und die korrespondierende Haftung der Aufsichtsratsmitglieder im Kontext der Vorstandspflicht zur Steuergestaltung untersucht. Einleitend werden die Tatbestandsvoraussetzungen und die Darlegungs- und Beweislast dargestellt, soweit sie sich von der Haftung des Vorstands unterscheiden (A.). Daran anknüpfend werden aus den Pflichten des Aufsichtsrats Fallgruppen abgeleitet (B.)
A. Die Tatbestandsvoraussetzungen und die Darlegungs- und Beweislast Wie bereits herausgearbeitet, obliegt die Pflicht zur Steuergestaltung dem Vorstand.1 Der Aufsichtsrat ist aber verpflichtet, (auch) insoweit geeignete Vorstandsmitglieder zu bestellen und geplante sowie beschlossene Steuergestaltungen des Vorstands zu überwachen.2 Wenn ein Aufsichtsratsmitglied diese Pflichten verletzt, kann es sich, vorbehaltlich der weiteren Voraussetzungen, nach den §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG schadensersatzpflichtig gegenüber der Gesellschaft machen. Durch den Verweis von § 116 Satz 1 auf § 93 AktG gilt der Sorgfaltsmaßstab des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters für Aufsichtsratsmitglieder entsprechend.3 Dabei sind allerdings die unterschiedlichen Funktionen und korrespondierenden Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat im Verfassungsgefüge der
1
Siehe oben Kap. 2, A. III. (S. 44 f.). Spindler bezeichnet die Bestellung des Vorstands nach § 84 und seine Überwachung gemäß § 111 Abs. 1 AktG zutreffend als „Kardinalpflichten“ des Aufsichtsrats. Siehe Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 8 und 37. 3 Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 2; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 116 Rn. 1; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 1 und 8. 2
B. Fallgruppen
249
Aktiengesellschaft zu berücksichtigen.4 Entscheidend ist danach, ob die Aufsichtsratsmitglieder die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsehers einhalten, was auch die Beratung des Vorstands einschließt.5 Nach dem hier vertretenen Ansatz bezieht sich diese Sorgfalt auf das Unternehmensinteresse. Unabhängig von dem Diskurs über die konkrete gesetzesmäßige Zielkonzeption der Aktiengesellschaft besteht jedenfalls Einigkeit darüber, dass diese für Vorstand und Aufsichtsrat identisch sein muss.6 Auch hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen des Verschuldens, des Schadens und der Kausalität sowie hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast gelten die Ausführungen zur Haftung der Vorstandsmitglieder im Wesentlichen entsprechend.7 Einer näheren Betrachtung bedürfen dagegen die Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder vor dem Hintergrund der Pflicht zur Steuergestaltung, geeignete Vorstandsmitglieder zu bestellen und vom Vorstand geplante oder bereits beschlossene Gestaltungen zu überwachen. Diese Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder sollen nachfolgend dargestellt und hinsichtlich der Vorstandspflicht zur Steuergestaltung konkretisiert werden.
B. Fallgruppen Die Fälle, in denen eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern im Kontext der Pflicht zur Steuergestaltung primär denkbar ist, lassen sich in folgende Fallgruppen untergliedern: die Verletzung der Auswahlpflicht bei der Bestellung von Vorstandsmitgliedern (I.), die Verletzung der Überwachungspflicht hinsichtlich der Wahrnehmung der Pflicht zur Steuergestaltung durch den Vorstand (II.) und Pflichtverletzungen in Delegationsfällen (III.).
I. Die Verletzung der Auswahlpflicht Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG ist der Aufsichtsrat berechtigt und verpflichtet die Vorstandsmitglieder zu bestellen.8 Gegen diese Pflicht verstößt ein Aufsichtsratsmitglied, wenn es die gesetzlichen oder satzungsmäßigen Anforderungen an Vorstandsmitglieder bei der Auswahl und Bestellung pflichtwidrig missachtet. Hinsichtlich der gesetzlichen Anforderungen muss zwischen ausdrücklich nor4 Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 2; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 116 Rn. 1; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 1 und 8. 5 Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 2; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 8. 6 Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 116 Rn. 13; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 24. 7 Siehe oben Kap. 4, A. (S. 229 ff.) und Kap. 4, B. (S. 232 ff.); so beispielsweise auch Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 9. 8 Siehe insgesamt zur Pflicht des Aufsichtsrats, geeignete Vorstandsmitglieder zu bestellen, Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (841 ff.).
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Kap. 5: Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, §§ 116, 93 AktG
mierten und aus den Vorstandspflichten abgeleiteten Anforderungen differenziert werden. Nur im Hinblick auf letztere Anforderungen fallen die Auswahl und Bestellung eines Vorstandsmitglieds als unternehmerische Entscheidung unter den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule, die vom Verweis des § 116 Satz 1 AktG erfasst ist.9 Die wesentlichen ausdrücklich normierten gesetzlichen Anforderungen regelt § 76 Abs. 3 AktG. Danach kann Vorstandsmitglied nur eine natürliche und unbeschränkt geschäftsfähige Person sein, die weder als Betreuter einem Einwilligungsvorbehalt noch einem Berufsausübungsverbot unterliegt oder wegen einer der aufgezählten Straftaten verurteilt worden ist. Des Weiteren können grundsätzlich keine Aufsichtsratsmitglieder als Vorstand bestellt werden (§ 105 Abs. 1 AktG). Eine Bestellung, die gegen die ausdrücklich normierten gesetzlichen Anforderungen verstößt, ist nach § 134 BGB nichtig.10 Der Aufsichtsrat begeht dennoch eine Pflichtverletzung. Kommt es beispielsweise zu einer Rechtsscheinhaftung der Gesellschaft gemäß § 15 HGB,11 kann diese über §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG die Aufsichtsratsmitglieder in Regress nehmen. Satzungsmäßige Anforderungen, wie ein Wohnsitz im Inland, Berufsqualifikation, Aktienbesitz in bestimmter Höhe oder Auslandserfahrung, sind nach der zutreffenden herrschenden Meinung zulässig, solange der Aufsichtsrat durch den verbleibenden Entscheidungsspielraum ein Auswahlermessen behält und die Anforderungen sachlich gerechtfertigt sind.12 Die Mindermeinung lehnt jegliche Einschränkung durch die Satzung ab bzw. sieht den Aufsichtsrat als nicht daran gebunden an,13 was mit Verweis auf den Grundsatz der Satzungsfreiheit und die Gesetzgebungsgeschichte abzulehnen ist.14 Eine Grenze setzen aber die Diskriminierungsverbote des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG).15 Möglich sind damit auch satzungsmäßige Anforderungen bezüglich steuerrechtlicher Kenntnisse. Da ein sachkundiger Umgang mit Steuern im Interesse aller Stakeholder und damit 9
BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (254 f.); Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 39; Mertens/Cahn, in: KK-AktG, 116 Rn. 68; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 43. 10 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 121; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 105 Rn. 17; Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 27; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 79. 11 Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 79. 12 Ausführlich dazu Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 125 ff.; siehe auch Eckert, in: Wachter, AktG, § 76 Rn. 34; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 60; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 37; Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 28 und § 76 Rn. 110; van Ooy/Oltmanns, in: Heidel, AktG, § 76 Rn. 24; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 76. 13 Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (846 f.); Mertens/Cahn, in: KK-AktG, § 76 Rn. 116; Vedder, in: Grigoleit, AktG, § 76 Rn. 54. 14 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 125 ff.; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 60; Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 28; zu den graduell höheren Anforderungen an Einschränkungen des Auswahlermessens in mitbestimmten Unternehmen, siehe Spindler, in: MüKo AktG, § 76 Rn. 111. 15 Siehe dazu die Darstellung von Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 29 ff.
B. Fallgruppen
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im Unternehmensinteresse ist, lassen sich diesbezügliche Anforderungen sachlich rechtfertigen. Jedenfalls bei der Vorgabe von steuerrechtlichen „Mindest- oder Grundkenntnissen“ verbleibt dem Aufsichtsrat auch ein ausreichender Entscheidungsspielraum. Eine Bestellung entgegen rechtmäßigen satzungsmäßigen Anforderungen ist wirksam.16 Der Aufsichtsrat ist aber nach herrschender Meinung aufgrund seiner Legalitätspflicht grundsätzlich verpflichtet, die Bestellung gemäß § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG zu widerrufen.17 Bereits die satzungswidrige Bestellung eines Vorstandsmitglieds stellt eine Pflichtverletzung der Aufsichtsratsmitglieder dar. Liegen die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen vor, führt beispielweise der Mangel der in der Satzung statuierten steuerrechtlichen Kenntnisse zu einem Schaden der Gesellschaft, haften sie daher gegenüber der Gesellschaft auf Schadensersatz. Die vorliegend vor allem zu untersuchende Frage ist, ob aus der Vorstandspflicht zur Steuergestaltung Anforderungen für die Auswahl und Bestellung von Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat abgeleitet werden können. Dem vorgelagert ist die Frage, ob ein Vorstandsmitglied steuerrechtliche „Mindestkenntnisse“ haben muss.18 Das Aktiengesetz trifft dazu keine konkreten Aussagen.19 Aufgrund der Vorstandspflicht zur Steuergestaltung muss man aber gewisse steuerrechtliche „Mindestkenntnisse“ verlangen, weil der Vorstand andernfalls seine Pflicht nicht ordnungsgemäß wahrnehmen kann. Generell wird man wegen der Komplexität und Spezialität des Steuerrechts aber keine hohen Anforderungen stellen können.20 Die einzelnen Vorstandsmitglieder haben regelmäßig ihre ressortmäßigen Fachgebiete, die bereits eine umfassende Spezialisierung erfordern, weshalb sie nicht gleichzeitig auch noch Steuerexperten sein können.21 Hinzu kommt, dass Steuern auch nicht den Unternehmensgegenstand bilden, verstanden als das Mittel mit dem der Gesellschaftszweck erreicht werden soll. Die Vorstandsmitglieder müssen aber in der Lage sein, über delegationsunfähige Gestaltungen selbst zu entscheiden.22 Sie müssen Gestaltungen, über deren Realisierung sie entscheiden, nachvollziehen können.23 Dies setzt kein Verständnis der Gestaltung im Detail voraus, wohl aber der damit verbundenen Risiken und Stakeholder-Interessen. Sie müssen zumindest in der Lage sein, die für sie aufbereitete Entscheidungsgrundlage einer Plausibilitätskontrolle zu 16 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 130; Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 36; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 80. 17 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 76 Rn. 130; Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 36; Weber, in: Hölters, AktG, § 76 Rn. 80. 18 Siehe dazu insgesamt Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 104 ff.; siehe dazu auch Buck-Heeb, BB 2016, 1347 (1349 f.). Sie lässt bezeichnenderweise das Thema Steuern bei ihrer Aufzählung aus. 19 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 104 ff. 20 Zur Komplexität des Steuerrechts siehe oben Kap. 2, B. III. 1. (S. 160 ff.). 21 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 108. 22 Siehe oben Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 23 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 108.
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Kap. 5: Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, §§ 116, 93 AktG
unterziehen.24 Die daraus abzuleitenden Anforderungen an ihre Kenntnisse sind vom Einzelfall insbesondere der Größe des jeweiligen Unternehmens abhängig.25 Ein Vorstandsmitglied in der Muttergesellschaft eines multinationalen Konzerns muss komplexere Steuergestaltungen nachvollziehen können als das einer bloß national tätigen einzelnen Aktiengesellschaft. Höhere Anforderungen sind dagegen an ressortmäßig für Steuern zuständige Vorstandsmitglieder zu stellen bzw. an alle Vorstandsmitglieder, wenn eine Geschäftsverteilung nicht erfolgt ist.26 Sie müssen in der Lage sein, auch alle delegationsfähigen Gestaltungen grundsätzlich nachzuvollziehen und über diese entscheiden zu können, was aber wiederum kein Detailverständnis oder gar eine eigene Subsumtion erfordert.27 Des Weiteren müssen sie fachlich geeignete Mitarbeiter auswählen und diese überwachen können.28 Wer Leiter der unternehmensweiten Steuerabteilung wird, muss dagegen das Kollegialorgan entscheiden, da es sich um einen Führungsposten handelt.29 Die Auswahl geeigneter Kandidaten wird aber in aller Regel der ressortmäßig verantwortliche Vorstand verantworten. Auch hier gilt aber, dass die Anforderungen nicht überzogen werden dürfen. Denn auch ressortmäßig für Steuern zuständige Vorstandsmitglieder bleiben als Geschäftsleiter im Verhältnis zu ihren Mitarbeitern immer Generalisten, da ihre Hauptaufgabe darin besteht, das große Ganze im Blick zu behalten und das Unternehmen zu leiten. Diese Anforderungen an die steuerrechtlichen Kenntnisse von Vorstandsmitgliedern wirken sich auf das Auswahlermessen der Aufsichtsratsmitglieder bei deren Bestellung aus. Dies erschließt sich zunächst aus dem „Gegenstück“30 der Bestellung, der Abberufung von Vorstandsmitgliedern nach § 84 Abs. 3 AktG. Danach kann der Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied abberufen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Das Gesetz nennt exemplarisch die Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung. Die Literatur führt als Beispiel dafür unter anderem fachliche Unzulänglichkeiten an,31 was auch unzureichende steuerrechtliche Kenntnisse bedeuten kann. Wenn der Aufsichtsrat eine Abberufung auf unzulängliche fachliche Kenntnisse stützen kann, wird er diese bereits bei der Auswahl prüfen müssen. Des Weiteren muss jedes Aufsichtsratsmitglied gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG bei der Bestellung eines Vorstandsmitglieds die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters walten lassen. 24
Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.) und Kap. 3, D. (S. 226 f.). Siehe dazu Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 121 f. 26 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 111. 27 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 113. 28 Stenert, Corporate Governance und Besteuerung, S. 112. 29 Zur Besetzung der Führungsposten als Leitungsaufgabe siehe Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 9; Seibt, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 76 Rn. 9; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, S. 10 – Rn. 11. 30 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 84 Rn. 92. 31 Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 84 Rn. 106; Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 132; Wiesner, in: Münch. Hdb. GesR, Band 4, § 20 Rn. 55. 25
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Dabei handelt es sich vorbehaltlich gesetzlicher und satzungsmäßiger Anforderungen um eine unternehmerische Entscheidung, sodass die Business Judgment Rule zur Anwendung kommt. Diese setzt vor allem eine Entscheidung der Aufsichtsratsmitglieder auf der Grundlage angemessener Informationen voraus.32 Sie müssen sich auch deswegen mit den fachlichen Kenntnissen der möglichen Kandidaten für das Vorstandsamt beschäftigen. Der Aufsichtsrat hat sowohl unternehmensintern als auch -extern nach geeigneten Kandidaten zu suchen.33 Die Wahl eines aktuellen oder auch früheren Mitarbeiters hat den Vorteil, dass dessen Fähigkeiten bekannt sind und damit seine Geeignetheit sicherer ist.34 Wenn eine Geschäftsverteilung im Vorstand besteht und nicht der Posten eines ressortmäßig für Steuern zuständigen Vorstandsmitglieds besetzt werden soll, ist eine separate Prüfung der steuerrechtlichen Kenntnisse des Kandidaten nicht erforderlich. Zu prüfen ist aber, ob der Kandidat, in Abhängigkeit von der Größe und der Art des Unternehmens, über die Fähigkeit verfügt, als Geschäftsleiter zu agieren und die wesentlichen wirtschaftlichen Zusammenhänge des Geschäfts des Unternehmens eigenständig nachzuvollziehen.35 Wenn er dazu in der Lage ist, darf jedes Aufsichtsratsmitglied darauf vertrauen, dass er auch pflichtgemäß eine vorbereitete Entscheidung über delegationsunfähige Steuergestaltungen treffen kann. Anders verhält es sich dagegen, wenn ein Kandidat ressortmäßig für Steuern zuständig sein soll oder keine Geschäftsverteilung erfolgt ist.36 Hier wird man eine separate Überprüfung der steuerrechtlichen Kenntnisse verlangen müssen. Ein geeigneter Nachweis kann eine qualifizierende Ausbildung z. B. als Steuerberater oder Fachanwalt für Steuerrecht oder eine frühere Tätigkeit z. B. als Finanzvorstand oder Leiter einer Steuerabteilung in einem vergleichbaren Unternehmen sein. Des Weiteren muss allen Hinweisen auf die Ungeeignetheit eines Kandidaten nachgegangen werden,37 z. B. auf eine frühere Steuerhinterziehung, auch wenn diese selbst kein unmittelbarer Ausschlussgrund nach § 76 Abs. 3 AktG ist. Die Angemessenheit der Informationsgrundlage muss auch hier einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten.38 Tut sie dies nicht, ist eine Pflichtverletzung indiziert. Selbstredend ist die Bestellung eines ungeeigneten Vorstandsmitglieds auch nicht im Unterneh32
Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.). Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (842 f.). 34 Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (842 f.). 35 Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (847 f.). Behme/Zickgraf leiten aus den branchenspezifischen aufsichtsrechtlichen Vorgaben des KWG und des VAG zudem allgemeine Kriterien ab, die zwar keine haftungsrelevante Rechtspflicht statuieren, wohl aber eine Orientierung für den Aufsichtsrat im Sinne einer Best Practice bieten. Siehe dazu S. 848 ff. Gegen eine allgemeine Rechtspflicht spricht die Entscheidung des Gesetzgebers, diese im branchenspezifischen Aufsichtsrecht und nicht im Aktiengesetz zu regeln. Siehe Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 39. 36 Mindestanforderungen in Abhängigkeit vom Ressort bejahen auch Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (847 f.). 37 Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (843). 38 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.). 33
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mensinteresse. Ein Verstoß liegt aber erst vor, wenn die Bestellung unverantwortlich ist.39 Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern für die Bestellung eines vor dem Hintergrund der Vorstandspflicht zur Steuergestaltung ungeeigneten Vorstands ist daher im Ergebnis regelmäßig ausgeschlossen. Dafür spricht auch folgende Überlegung: Die Abberufung eines fachlich nicht ausreichend qualifizierten Vorstandsmitglieds steht grundsätzlich ausweislich des Wortlauts im Ermessen der Aufsichtsratsmitglieder.40 Wenn aber schon die Abberufung bei erwiesener Unzulänglichkeit grundsätzlich im Ermessen steht, dürfen die Anforderungen an das Auswahlermessen und die Bestellung nicht überspannt werden. Denkbar ist die Haftung damit nur in Extremfällen, etwa wenn ein Vorstandsmitglied bestellt wird, das erkennbar nicht für seine Aufgabe geeignet ist, wie beispielsweise ein hochspezialisierter Marketingexperte, den der Aufsichtsrat zum für Steuern zuständigen Finanzvorstand bestellt. Aus diesem Ergebnis lassen sich auch Schlüsse im Hinblick auf die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern für den Vorschlag an die Hauptversammlung, ein zur Überwachung des Vorstands hinsichtlich seiner Pflicht zur Steuergestaltung ungeeignetes Aufsichtsratsmitglied zu wählen, ziehen (vgl. § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). Da die fachlichen Anforderungen an Aufsichtsratsmitglieder generell geringer sind, weil sie das Unternehmen selber nicht leiten, sondern lediglich den Vorstand überwachen müssen,41 ist eine Haftung noch unwahrscheinlicher als für die Bestellung eines ungeeigneten Vorstandsmitglieds. Folglich wird diese vorliegend auch nicht näher thematisiert.
II. Die Verletzung der Überwachungspflicht Die Pflicht der Aufsichtsratsmitglieder, die Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen (§ 111 Abs. 1 AktG), erstreckt sich nicht nur auf bereits abgeschlossene Maßnahmen des Vorstands, sondern auch auf wesentliche Maßnahmen der zukünftigen Geschäftsführung und die laufende Beratung des Vorstands, beispielsweise hinsichtlich der Unternehmensplanung.42 Dabei hat der Aufsichtsrat die Rechtmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Geschäftsführung des Vorstands zu überwachen.43 Rechtmäßigkeit bedeutet die Einhaltung der Le39 Generell gegen zu strenge Anforderungen an fachliche Kenntnisse sind zu Recht auch Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (848). Zum Merkmal der Unverantwortlichkeit siehe oben Kap. 2, B. III. 4. c) (S. 211 ff.). 40 Spindler, in: MüKo AktG, § 84 Rn. 127; andere Auffassung Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 41. Diese ist aber bereits aufgrund des eindeutigen Wortlauts abzulehnen. 41 Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (851). 42 Siehe oben Kap. 2, A. II. (S. 43 ff.). 43 Der BGH spricht von Rechtmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit, siehe BGH, Urteil vom 12. Juli 1979 – III ZR 154/77, BGHZ 75, 120 (133);
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galitätspflicht.44 Ordnungsmäßigkeit meint vor allem eine effiziente Organisation, was sich insbesondere auf das Planungs- und Rechnungswesen bezieht.45 Bei der Überwachung der Zweckmäßigkeit der Geschäftsführung muss der Aufsichtsrat den unternehmerischen Ermessensspielraum des Vorstands beachten.46 Kontrollieren muss er daher (nur), dass der Vorstand dessen Grenzen nicht überschreitet.47 Darüberhinaus muss er dem Vorstand seine Sicht der Dinge schildern.48 Aufgrund der eigenverantwortlichen Leitung des Vorstands darf er aber dessen Ermessensentscheidung nicht durch seine eigene ersetzen.49 Dies gilt für die präventive Überwachung ebenso wie für die Überwachung abgeschlossener Maßnahmen.50 Die Überwachung der Zweckmäßigkeit erfasst folglich insbesondere die Kontrolle, ob der Vorstand bei unternehmerischen Entscheidungen auf der Grundlage angemessener Informationen entscheidet, wobei auch hier die Angemessenheit des Ermittlungsumfangs im Ermessen des Vorstands steht.51 Des Weiteren muss der Aufsichtsrat überprüfen, ob der Vorstand im Unternehmensinteresse den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft sicherstellt.52 Dies erfordert, dass sich jedes Aufsichtsratsmitglied über erhebliche Risiken, die der Vorstand mit Geschäftsfüh-
BGH, Urteil vom 25. März 1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127 (129 f.); BGH, Urteil vom 3. Juli 2006 – II ZR 151/04, BGHZ 168, 188 (198 – Rn. 17). Koch fasst die Begriffe Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit aufgrund der auch vom BGH nicht weiter vorgenommenen Abgrenzung zu Recht zusammen. Siehe Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 14; im Ergebnis ebenso Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 14 ff. Habersack weist unter Beibehaltung der Differenzierung zu Recht daraufhin, dass letztlich alles Rechtmäßigkeitskontrolle ist, da der Aufsichtsrat prüfen muss, ob der Vorstand die Sorgfaltsanforderungen nach § 93 Abs. 1 AktG einhält und einhalten wird. Siehe Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 42. 44 Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 45 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 14; ausführlich dazu Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 21. 46 Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 16 ff. 47 Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 43; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 16; hinsichtlich der Prüfung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder so auch Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 111 Rn. 305. Eine aufgrund der eigenständigen Geschäftsführungspflicht des Vorstands abzulehnende weitergehende Überprüfung der Zweckmäßigkeit fordert dagegen Henze, BB 2000, 209 (215); jenseits von Schadensersatzansprüchen auch Hopt/Roth, in: Großkomm AktG, § 111 Rn. 306. 48 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 49 – Rn. 93. 49 So zutreffend Kort, in: Großkomm AktG, § 76 Rn. 21 f.; ebenso Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 49 – Rn. 93. Darüber, wer in der jeweiligen Unternehmenswirklichkeit das stärkere Organ ist, ist damit freilich nichts gesagt, so zutreffend Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 3 und 20; so auch Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 76 Rn. 2. 50 Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 19 f. 51 Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 17. Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) (S. 201 ff.). 52 Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 42; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 14; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 111 Rn. 19. Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. b) (S. 191 ff.).
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Kap. 5: Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, §§ 116, 93 AktG
rungsmaßnahmen eingeht, informiert und ihr Ausmaß unabhängig einschätzt.53 Schließlich muss der Aufsichtsrat auch die Einhaltung der weiteren Grenzen des Unternehmensinteresses überwachen, insbesondere dass der Vorstand nicht gegen das erkennbar kongruente Interesse aller Stakeholder entscheidet.54 Der Grad der Überwachung ist abhängig von der Lage des Unternehmens.55 Grundsätzlich erfüllt ein Aufsichtsratsmitglied seine Überwachungspflicht, wenn es die Berichte des Vorstands prüft (§ 90 AktG), bei Widersprüchen oder Unvollständigkeit nachhakt, systematische und priorisierte eigene Überwachungsmaßnahmen verfolgt und dem Vorstand Alternativvorschläge unterbreitet, vorausgesetzt der Vorstand wahrt die Grenzen seines unternehmerischen Ermessens und die Legalitätspflicht.56 Je kritischer die Lage des Unternehmens ist, desto mehr steigt der Grad der erforderlichen Überwachung.57 Auch mit erheblichen Risiken einhergehende Geschäfte können eine intensivere Überwachung erforderlich machen.58 Hinsichtlich der Pflicht zur Steuergestaltung lassen sich Verletzungen der Überwachungspflicht danach in zwei Fallgruppen unterteilen: Die erste Fallgruppe erfasst geplante zukünftige Gestaltungen, die der Vorstand noch nicht beschlossen hat (1.). Sie ist Teil der präventiven Überwachung. Unter die zweite Fallgruppe fallen dagegen bereits vom Vorstand beschlossene Gestaltungen (2.), also Fälle der nachgelagerten Überwachung. Beide Fallgruppen knüpfen dabei an den Zeitpunkt und die Art der Pflichtverletzung durch ein Aufsichtsratsmitglied an. Ein Schadensersatzanspruch der Gesellschaft besteht aber nur dann, wenn auch die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, insbesondere später auch ein adäquat kausaler Schaden eingetreten ist. Wann ein Schaden durch die Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung überhaupt eintreten kann, wurde bereits dargelegt.59 Dies gilt folglich auch für die Verletzung der Überwachung ihrer Einhaltung.
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BGH, Beschluss vom 6. November 2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438 (2439); Henze/ Born/Drescher, AktR Höchstrichterliche Rechtsprechung, S. 337 – Rn. 1239. 54 Siehe oben Kap. 4, C. (S. 234 ff.). 55 OLG Düsseldorf, Urteil vom 31. Mai 2012 – I-16 U 176/10, AG 2013, 171 (173 – Rn. 44); OLG Stuttgart, Urteil vom 29. Februar 2012 – 20 U 3/11, Porsche/VW (Pie¨ ch), AG 2012, 298 (300); Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 48 ff. – Rn. 92 ff. 56 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 48 f. – Rn. 93. 57 OLG Düsseldorf, Urteil vom 31. Mai 2012 – I-16 U 176/10, AG 2013, 171 (173 – Rn. 44); OLG Stuttgart, Urteil vom 29. Februar 2012 – 20 U 3/11, Porsche/VW (Pie¨ ch), AG 2012, 298 (300); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 116 Rn. 18; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 15; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 39. 58 OLG Stuttgart, Urteil vom 29. Februar 2012 – 20 U 3/11, Porsche/VW (Pie¨ ch), AG 2012, 298 (300); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 116 Rn. 18; Spindler, in: Spindler/ Stilz, AktG, § 116 Rn. 39. 59 Siehe oben Kap. 4, C. (S. 234 ff.).
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1. Die pflichtwidrige Überwachung unentschiedener Gestaltungen Vom Vorstand geplante Steuergestaltungen müssen Aufsichtsratsmitglieder vor allem dahingehend überprüfen, ob der Vorstand die Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung einhält.60 Die Überwachung richtet sich dabei hauptsächlich auf Gestaltungen, die als delegationsunfähige Maßnahmen in die Verantwortung des (Gesamt-)Vorstands fallen, da der Aufsichtsrat weder rechtlich dazu verpflichtet noch faktisch dazu in der Lage ist, alle Maßnahmen des Vorstands zu überwachen.61 Der Grad der erforderlichen Überwachung steigt mit den Auswirkungen, die eine Gestaltung auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft haben kann. Dies spiegelt sich auch in den Berichtspflichten des Vorstands nach § 90 AktG wieder. Dabei dürfen die Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich auf die vom Vorstand erstatteten Berichte vertrauen.62 Insoweit gelten im Wesentlichen die Ausführungen zur Überwachungspflicht bei horizontaler Delegation entsprechend.63 Ist für die Aufsichtsratsmitglieder erkennbar, dass der Vorstand mit einer geplanten Gestaltung oder einer übergreifenden Steuerstrategie64 gegen die Legalitätspflicht oder die sonstigen Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung (Zweckmäßigkeit) verstoßen würde, müssen sie die Gestaltung unter einen Zustimmungsvorbehalt stellen, diesen ausüben und die Gestaltung so verhindern.65 Bei bloßen Zweifeln an der Recht- oder Zweckmäßigkeit müssen sie den Zustimmungsvorbehalt ausüben und gegebenenfalls zuvor ad hoc begründen, um Zeit für eine ausführliche Prüfung zu gewinnen.66 Tun sie dies nicht oder stimmen sie sogar zu, verletzen sie ihre Überwachungspflicht.67 Ein Verstoß des Vorstands gegen die Zweckmäßigkeit erfordert aber außer in evidenten Extremfällen, beispielsweise einer Gestaltung ins Blaue hinein, eine eigene Beurteilung und gegebenenfalls ergänzende Ermittlungen der Stakeholder-Interessen und der Risiken für den Bestand und die dauerhafte Rentabilität. Dabei handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung, sodass 60
Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. (S. 184 ff.) und Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.). Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 116 Rn. 18; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 2 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 36 – Rn. 65. Siehe oben Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 62 Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 111 Rn. 15; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 116 Rn. 15; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 41. 63 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 116 Rn. 15. Siehe oben Kap. 3, C. I. (S. 222 ff.). 64 Siehe oben Kap. 3, A. (S. 218 ff.). 65 Zur Zustimmungsvorbehaltspflichtigkeit siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). Nach der zutreffenden ganz herrschenden Meinung erfordert § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG die vorherige Zustimmung, weil andernfalls eine effektive präventive Überwachung nicht möglich ist. Siehe Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 111 Rn. 61; Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 123; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 46. 66 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, S. 49 – Rn. 94. 67 Zur Haftung für eine pflichtwidrige Zustimmung aufgrund unangemessener Informationsgrundlage und mangels eigener Risikoeinschätzung, siehe beispielsweise BGH, Urteil vom 11. Dezember 2016 – II ZR 243/05, NZG 2007, 187 (187 ff.). 61
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Kap. 5: Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, §§ 116, 93 AktG
den Aufsichtsratsmitgliedern die Business Judgment Rule zugute kommt.68 Entscheiden sie auf der Grundlage angemessener Informationen im Unternehmensinteresse, scheidet eine Pflichtverletzung dann sowohl bei einer Zustimmung als auch bei einer Ablehnung aus. Es gelten grundsätzlich dieselben Anforderungen wie für den Vorstand.69 Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Informationsgrundlage muss jedoch der Nebenamtscharakter der Aufsichtsratstätigkeit beachtet werden.70 Der Aufsichtsrat kann und muss sich gegebenenfalls Expertenrat einholen – auch insoweit gelten dieselben Anforderungen wie beim Vorstand.71 Ebenso wie bei der Haftung der Vorstandsmitglieder ist für die Gerichte voll überprüfbar, ob die Aufsichtsratsmitglieder diese eingehalten oder ihre Überwachungspflicht verletzt haben. Darüber hinaus ist der Aufsichtsrat weder berechtigt noch verpflichtet, Steuergestaltungen generell unter einen Zustimmungsvorbehalt zu stellen. Bezüglich der Anforderungen an die Zustimmungsvorbehaltsfähigkeit von Gestaltungen wird auf die vorherigen Ausführungen verwiesen.72 Der Aufsichtsrat muss aber sicherstellen, dass überhaupt ein Katalog zustimmungspflichtiger Maßnahmen besteht und diesen nach pflichtgemäßem Ermessen fortlaufend überprüfen.73 Andernfalls begeht er eine Pflichtverletzung. 2. Die pflichtwidrige Überwachung entschiedener Gestaltungen Die Aufsichtsratsmitglieder müssen als Teil ihrer nachgelagerten Überwachungspflicht auch vom Vorstand beschlossene, realisierte Steuergestaltungen überwachen. Insbesondere wenn der Vorstand aufgrund seiner Berichtspflichten nach § 90 Abs. 1 AktG dem Aufsichtsrat über unwirksame Gestaltungen und sich daraus ergebende erhebliche Auswirkungen auf die Rentabilität der Gesellschaft berichtet, wird dies in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls regelmäßig eine Überprüfung erforderlich machen.74 Dies umfasst auch betrieblich motivierte Gestaltungen des Vorstands, die steuerrechtlich relevant sind. Zu prüfen ist in all diesen Fällen, ob der Vorstand die Grenzen seiner Pflicht zur Steuergestaltung
68 Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 111 Rn. 59; Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 41; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 37. 69 Siehe oben Kap. 2, B. III. 4. (S. 198 ff.). 70 So zutreffend Habersack, in: MüKo AktG, § 111 Rn. 127; den Nebenamtscharakter betont auch Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 116 Rn. 20. 71 Zur Pflicht Expertenrat einzuholen, siehe auch Hasselbach, NZG 2012, 41 (44 f.). Insoweit gelten die Pflichten des Vorstands grundsätzlich entsprechend, dazu siehe oben Kap. 2, B. III. 4. b) aa) (S. 205 ff.). 72 Siehe oben Kap. 2, B. III. 3. a) (S. 184 ff.). 73 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 116 Rn. 2; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 37. 74 Die Bedeutung der Berichtspflichten als Auslöser konkreter Überprüfungen betont Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 6.
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eingehalten hat.75 Diese Überprüfung einer bereits getroffenen Vorstandsentscheidung ist keine unternehmerische Entscheidung, sodass die Business Judgment Rule keine Anwendung findet.76 Gelangen die Aufsichtsratsmitglieder zu der Überzeugung, dass Vorstandsmitglieder bei einer Entscheidung gegen die Grenzen ihrer Pflicht zur Steuergestaltung verstoßen haben, müssen sie reagieren. Ist ein Schaden entstanden, müssen sie die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die Vorstandsmitglieder prüfen.77 Des Weiteren müssen sie geeignete Schritte ergreifen, um vergleichbare Pflichtverstöße in Zukunft zu vermeiden. Was geeignet ist, hängt vom Einzelfall ab, wobei die Abberufung eines oder mehrerer verantwortlicher Vorstandsmitglieder das schärfste Mittel bildet. Kommt ein Aufsichtsratsmitglied den skizzierten Anforderungen nicht nach, liegt eine Pflichtverletzung vor.
III. Pflichtverletzungen in Delegationsfällen Gemäß § 107 Abs. 3 AktG kann der Aufsichtsrat Aufgaben an von ihm gebildete Ausschüsse delegieren. Da der Aufsichtsrat nur ein paar Mal im Jahr tagt (vgl. § 110 Abs. 3 AktG) und mitunter an die 20 Mitglieder hat, ist dies zumindest bei großen Aufsichtsräten praktisch zwingend, um eine sachgerechte Arbeit zu gewährleisten.78 Das Gesetz zeigt insbesondere die Möglichkeit auf, einen Prüfungsausschuss zu bestellen (§ 107 Abs. 3 Satz 2 AktG). Ähnlich wie beim Vorstand kann zwischen der Delegation der Entscheidungsvorbereitung und der Entscheidung bzw. Tätigkeit selbst differenziert werden (vgl. § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG).79 Die Abberufung und Bestellung von Vorstandsmitgliedern sowie die Begründung von Zustimmungsvorbehalten darf nicht delegiert werden, wohl aber ihre Vorbereitung (§ 107 Abs. 3
75 So allgemein zur Prüfungspflicht bei unternehmerischen Ermessensentscheidungen im Hinblick auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (253 ff.); Gesinn/Hambloch-Gesinn, in: Hölters, AktG, § 116 Rn. 29; Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123 (129 ff.). 76 BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (255); Habersack, in: MüKo AktG, § 116 Rn. 42; Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 6. 77 Zu den Anforderungen an die diesbezügliche Prüfung siehe BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95, ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (252 ff.); siehe dazu auch die Darstellung von Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 111 Rn. 7 ff. Zur Frage, wann eine Haftung der Vorstandsmitglieder in Betracht kommt, siehe oben Kap. 4, C. (S. 234 ff.). 78 Behme/Zickgraf bejahen eine Rechtspflicht zur Ausschussbildung ab 12 Aufsichtsratsmitgliedern. Siehe Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (842 f.); eine Verdichtung zur Rechtspflicht bei großen Aufsichtsräten sieht auch Habersack, in: MüKo AktG; ebenso Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 107 Rn. 87. 79 Drygala, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, § 116 Rn. 5 f.; Henssler, in: Henssler/Strohn, GesellR, § 116 Rn. 6. Zur Situation beim Vorstand siehe oben Kap. 3, C. (S. 222 ff.) und Kap. 4, C. II. (S. 241 ff.).
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Kap. 5: Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, §§ 116, 93 AktG
Satz 4 AktG).80 Die Pflichtenlage des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds verhält sich wie in den vergleichbaren Fällen der horizontalen Delegation und der Delegation der Entscheidungsvorbereitung beim Vorstand.81 Für die zuvor skizzierten Fallgruppen gilt im Falle der Delegation daher Folgendes: Erstens: für die Auswahl und Bestellung eines Vorstandsmitglieds bleibt jedes Aufsichtsratsmitglied grundsätzlich voll verantwortlich, da bloß die Vorbereitung delegiert werden kann. Zweitens: Bei der Überwachung von noch nicht beschlossenen Gestaltungen muss jedes Aufsichtsratsmitglied bei dem Verstoß eines Vorstandsmitglieds gegen seine Pflicht zur Steuergestaltung auf den Beschluss und die Ausübung eines Zustimmungsvorbehalts hinwirken. Wurde allerdings bereits ein Zustimmungsvorbehalt beschlossen, kann die Ausübung auf einen Ausschuss delegiert werden.82 Aufsichtsratsmitglieder, die nicht Mitglieder dieses Ausschusses sind, genügen ihrer Überwachungspflicht daher grundsätzlich, wenn sie die erhaltenen Informationen prüfen und gegebenenfalls Rückfragen stellen.83 Drittens: Dies gilt auch, wenn die Überwachung bereits beschlossener Gestaltungen auf einen Ausschuss übertragen wird. Nach § 107 Abs. 3 Satz 5 AktG müssen die einzelnen Ausschüsse dem Plenum regelmäßig berichten. Insbesondere wenn die anderen Aufsichtsratsmitglieder gewahr werden, dass die Ausschussmitglieder pflichtwidrig nicht tätig werden, beispielweise im Nachgang zu einem Vorstandsbericht über die Unwirksamkeit einer Gestaltung, müssen sie einschreiten. Tun sie dies nicht, verletzen sie ihre allgemeine Überwachungspflicht, die nicht delegierbar ist.84
C. Zwischenergebnis Zusammengefasst kann die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder im Kontext der Pflicht zur Steuergestaltung in die Fallgruppen der Auswahl ungeeigneter Vorstandsmitglieder und der pflichtwidrigen Überwachung des Vorstands hinsichtlich 80 Zur Möglichkeit einen Personalausschuss für die Auswahl von zukünftigen Vorstandsmitgliedern einzurichten, siehe Ziffer 5.1.2 DCGK. Zu den einzelnen Auffassungen zu den Pflichten von Personalausschuss und Kollegialorgan siehe Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (842 f.). 81 So im Ergebnis auch Behme/Zickgraf, AG 2015, 841 (843); Henssler, in: Henssler/ Strohn, GesellR, § 116 Rn. 6; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 128. Siehe oben Kap. 3, C. I. (S. 222 ff.) und Kap. 4, C. II. (S. 241 ff.). 82 BGH, Urteil vom 27. Mai 1991 – II ZR 87/90, AG 1991, 398 (399). 83 Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 128. Siehe oben Kap. 3, C. I. (S. 222 ff.). 84 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, § 107 Rn. 27; Spindler, in: Spindler/Stilz, AktG, § 116 Rn. 128.
C. Zwischenergebnis
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seiner Pflicht zu Steuergestaltung unterteilt werden. Die Fallgruppe der Überwachung untergliedert sich weiter in die Überwachung unentschiedener und entschiedener Steuergestaltungen. Im Hinblick auf die Auswahlpflicht müssen die Aufsichtsratsmitglieder sicherstellen, dass sie Vorstandsmitglieder bestellen, welche die fachlichen Anforderungen erfüllen, die sich aus deren Pflicht zur Steuergestaltung ergeben. Im Fall einer Geschäftsverteilung muss ein nicht für Steuern zuständiges Vorstandsmitglied in der Lage sein, vorbereitete Entscheidungen über delegationsunfähige Steuergestaltungen selbst zu treffen. Dies erfordert, insbesondere die mit der Gestaltung verbundenen Risiken und Stakeholder-Interessen nachvollziehen zu können. Davon können die Aufsichtsratsmitglieder allerdings ausgehen, wenn ein Kandidat für das Vorstandsamt die grundsätzlichen Anforderungen erfüllt, die an einen Geschäftsleiter eines Unternehmens vergleichbarer Art und Größe zu stellen sind. Eine separate Überprüfung steuerrechtlicher Kenntnisse ist nicht erforderlich. Anders verhält es sich dagegen, wenn entweder keine Geschäftsverteilung beschlossen wurde oder ein ressortmäßig für Steuern zuständiges Vorstandsmitglied bestellt werden soll. Dieses Vorstandsmitglied muss auch über delegierunfähige Steuergestaltungen entscheiden sowie nachgeordnete Mitarbeiter auswählen und überwachen können. Eine eigene Subsumtion unter die Steuergesetze ist von einem Geschäftsleiter als leitendem Generalisten allerdings nicht zu verlangen. Hier besteht eine Pflicht der Aufsichtsratsmitglieder, die steuerrechtlichen Kenntnisse, deren erforderlicher Umfang von der Art und Größe des Unternehmens abhängt, zu überprüfen. Die Auswahl und Bestellung von Vorstandsmitgliedern fällt als Ermessensentscheidung unter die Business Judgment Rule. Solange die Aufsichtsratsmitglieder auf einer angemessenen Informationsgrundlage entscheiden und keinen ersichtlich ungeeigneten Kandidaten bestellen, wird eine Haftung daher regelmäßig ausscheiden. Des Weiteren müssen Aufsichtsratsmitglieder überwachen, ob Vorstandsmitglieder ihre Pflicht zur Steuergestaltung erfüllen. Vor allem, ob sie ihre Legalitätspflicht und die Ermessengrenzen einhalten, also nicht gegen ihre Pflicht, die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu gewährleisten, verstoßen und nicht gegen ein kongruentes Stakeholder-Interesse entscheiden. Den Gegenstand der Überwachung bilden grundsätzlich nur die delegationsunfähigen Steuergestaltungen. Der Grad der Überwachung richtet sich nach der Lage der Gesellschaft. Bei noch nicht entschiedenen Gestaltungen muss ein Aufsichtsratsmitglied bei einem erkennbaren Verstoß gegen die Pflicht zur Steuergestaltung oder bei begründeten Zweifeln auf die Verweigerung eines Zustimmungsvorbehalts hinwirken und, falls ein solcher nicht besteht, auf einen Ad-hoc-Beschluss. Dabei kommt ihnen grundsätzlich die Business Judgment Rule zugute. Bei der Überwachung von bereits entschiedenen und realisierten Gestaltungen greift diese dagegen nicht. Wenn sich insbesondere aus den Berichten des Vorstands begründete Zweifel ergeben, ob eine Vorstandsentscheidung über eine Steuergestaltung pflichtgemäß war, muss ein Aufsichtsratsmitglied diese überprüfen. Wenn sich die Zweifel bewahrheiten, sind Schadensersatzansprüche zu prüfen. Wenn ein Aufsichtsratsmitglied diese Pflicht verletzt, droht eine Haftung.
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Kap. 5: Haftung der Aufsichtsratsmitglieder, §§ 116, 93 AktG
Insgesamt wird eine Haftung aber auch hier regelmäßig ausscheiden, da Vorstandsmitglieder aufgrund der weiten Grenzen der Pflicht zur Steuergestaltung nur selten diese Pflicht verletzen werden. Schließlich kann die Vorbereitung der Auswahl eines Vorstandsmitglieds – nicht aber die Bestellung – und die Überwachung vom Aufsichtsrat auf Ausschüsse übertragen werden. In diesen Fällen entspricht die Pflichtenlage des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds der von Vorstandsmitgliedern in den vergleichbaren Fällen der Delegation der Entscheidungsvorbereitung und der horizontalen Delegation.
Kapitel 6
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Der Vorstand einer Aktiengesellschaft ist grundsätzlich zur Steuergestaltung verpflichtet, verfügt dabei aber über einen weiten Ermessensspielraum. Eine Haftung von Vorstandsmitgliedern für eine Verletzung dieser Pflicht ist grundsätzlich möglich, aber die Ausnahme. Dasselbe gilt für eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern für die Verletzung ihrer Pflichten im Kontext der Vorstandspflicht zur Steuergestaltung. Der Begriff der Steuergestaltung umfasst sowohl überwiegend betrieblich motivierte Gestaltungen, bei denen überwiegend ein finanzieller Vorteil durch eine wertschöpfende betriebliche Tätigkeit erzielt werden soll, als auch überwiegend steuerrechtlich motivierte Gestaltungen. Letzteres meint Gestaltungen, bei denen ein finanzieller Vorteil nicht oder zumindest nicht überwiegend aufgrund einer wertschöpfenden betrieblichen Tätigkeit, sondern durch die legale Ausnutzung der geltenden Steuergesetze erzielt werden soll. Erfasst wird davon insbesondere das Phänomen der „aggressiven“ Steuergestaltung. Auch nach § 42 AO missbräuchliche Gestaltungen fallen unter den Begriff der überwiegend steuerrechtlich motivierten Gestaltungen. Die Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung lässt sich aus seiner Pflicht zur eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft (§ 76 Abs. 1 AktG) und aus seiner Pflicht, die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einzuhalten (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG), herleiten. Der Vorstand hat die Leitung der Gesellschaft nach dem bis heute unveränderten Willen des Gesetzgebers an der interessenpluralistischen Zielkonzeption auszurichten. Danach stehen die Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer, der Allgemeinheit und der sonstigen Stakeholder, die zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen, grundsätzlich gleichrangig nebeneinander und sind vom Vorstand bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Nach dem Willen des Gesetzgebers kann der Vorstand innerhalb der Grenzen seines Ermessens frei von Fall zu Fall zu entscheiden, welchem Interesse er als Unternehmensinteresse jeweils den Vorrang einräumt. Das Interesse der genannten nichtstaatlichen Stakeholder ist regelmäßig auf einen langfristig möglichst hohen Gewinn nach Steuern gerichtet, weshalb der Vorstand zumindest die typischen markt- und branchenüblichen Steuergestaltungen prüfen muss.
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Kap. 6: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
Stakeholder als Teil des Allgemeininteresses sind aber auch die (Steuer-)Staaten als „Treuhänder von Gemeinwohlinteressen“1 sowie ihre Untergliederungen. Stakeholder ist jeder Staat, der zur Wertschöpfung des Unternehmens beiträgt, wenn das Unternehmen zu einer im Staatsgebiet ansässigen natürlichen oder juristischen Person vertragliche Beziehungen unterhält. Der einzelne im internationalen Steuerwettbewerb stehende territoriale Nationalstaat ist jedenfalls gegenwärtig schutzwürdig. Wenn Unternehmen die staatlich finanzierte Infrastruktur nutzen, an staatlichen Einrichtungen ausgebildete Arbeitskräfte beschäftigen etc., dann müssen sie als Äquivalent auch durch ihre Steuerzahlung zur Finanzierung beitragen. Die Pflicht des Vorstands, das Interesse der (Steuer-)Staaten als Stakeholder zu berücksichtigen, ist dabei, wie bei allen Stakeholder-Interessen, eine bloße Innenpflicht gegenüber der Gesellschaft und gewährt den Staaten keinen einklagbaren Anspruch. Die interessenpluralistische Zielkonzeption verpflichtet den Vorstand, die Interessen der Stakeholder hinsichtlich einer konkreten Gestaltung zu ermitteln, da diese Zielkonzeption ohne deren Kenntnis nicht verfolgt werden kann. Dies erfordert grundsätzlich einerseits im Interesse der nichtstaatlichen Stakeholder eine KostenNutzen-Analyse einschließlich des Ausfallrisikos einer Gestaltung und andererseits eine Ermittlung des Interesses der staatlichen Stakeholder. Wahrscheinlich wirksame Gestaltungen, die im prognostizierten Ergebnis einen finanziellen Vorteil bringen, sind grundsätzlich im Interesse der nichtstaatlichen Stakeholder. Um das Interesse der staatlichen Stakeholder zu ermitteln, muss der Vorstand zunächst prüfen, ob eine Gestaltung dem in den einschlägigen Steuergesetzen zum Ausdruck kommenden Willen des Steuergesetzgebers entspricht. Bei grenzüberschreitenden Gestaltungen muss dies für alle Steuergesetze geschehen, an die eine Gestaltung anknüpft. Nur wenn eine Gestaltung danach im Interesse der betroffenen Staaten ist, kann sie überhaupt noch im Interesse aller staatlichen Stakeholder sein. Dann muss der Vorstand in einem zweiten Schritt dieses Interesse in ein Verhältnis zum Interesse der anderen staatlichen Stakeholder der Gesellschaft setzen und das objektivierte staatliche Interesse bilden. Den Maßstab hierfür bildet das Äquivalenzprinzip. Eine Gestaltung entspricht dann dem objektivierten Interesse aller staatlichen Stakeholder, wenn die ermöglichenden Staaten durch sie einen Steueranteil verlangen, der ihrem Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens entspricht, in anderen Worten, wenn die Besteuerung am Ort der Wertschöpfung erfolgt. Dem Vorstand kommt allerdings ein weites Ermessen zu, anhand welcher Kriterien er die Wertschöpfung beurteilt. Insbesondere darf er typisieren, z. B. entsprechend der Zerlegung im Rahmen der Gewerbesteuer auf die Summe der Arbeitslöhne in den jeweiligen Staaten abstellen. Er muss ein gewähltes Kriterium aber einheitlich anwenden. Eine absolute Grenze hinsichtlich der Pflicht des Vorstands zur Steuergestaltung zieht die Legalitätspflicht, bei deren Eingreifen von vornherein kein Ermessens1
Seer, DStR 2016, 1289 (1290).
Kap. 6: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
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spielraum eröffnet ist. Vor allem darf der Vorstand weder Steuern hinterziehen noch gegen die aktienrechtliche Kompetenzordnung verstoßen. Wenn die Legalitätspflicht nicht eingreift, dann begrenzt die Vorstandspflicht, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu sichern, die Pflicht zur Steuergestaltung. Diese liegt im objektivierten Interesse aller Stakeholder, da sie alle möglichst lange vom Unternehmen profitieren wollen. Dauerhafte Rentabilität wiederum setzt einen angemessenen Gewinn voraus. Wann dieser angemessen ist, hängt vom konkreten Unternehmen insbesondere seiner Wettbewerbssituation ab. Hinsichtlich des Absehens von Steuergestaltungen als gewinnschmälernden Aufwendungen ohne konkrete Gegenleistung kann der allgemein für soziale Aufwendungen geltende Maßstab der Angemessenheit der Aufwendung im Verhältnis zur Vermögens- und Ertragslage des Unternehmens übertragen werden. Wertungsmäßig gilt es dabei allerdings zu beachten, dass Steuern, anders als sonstige soziale Aufwendungen eines Unternehmens, vom Staat im Interesse aller erhoben werden. Die Pflicht zur Steuergestaltung wird als unternehmerische Entscheidung weiter durch die Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) konkretisiert. Diese gibt insbesondere den Maßstab für den Umfang vor, in dem der Vorstand die Stakeholder-Interessen als Informationsgrundlage ermitteln muss. Danach muss der Umfang der Interessenermittlung angemessen sein. Je größer die Auswirkungen auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität sein können und je mehr ein Stakeholder-Interesse durch eine Gestaltung beeinträchtigt wird, desto höher sind die Anforderungen an die Angemessenheit der Informationsgrundlage. Wenn der Vorstand die Stakeholder-Interessen selbst nicht ermitteln kann, muss er sich Expertenrat holen. Hier gelten die vom BGH in der ISION-Entscheidung grundgelegten Kriterien entsprechend. Wertungsmäßig ist allerdings zu beachten, dass es sich bei der Pflicht zur Steuergestaltung um eine Ermessensentscheidung handelt. Des Weiteren ist der Vorstand aufgrund des kongruenten Stakeholder-Interesses an Planungssicherheit grundsätzlich verpflichtet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um eine verbindliche Zusage einer Finanzbehörde zu erhalten. Die Angemessenheit der Informationsgrundlage liegt insgesamt im Ermessen des Vorstands, muss aber einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle standhalten. Auf Basis der angemessenen Informationsgrundlage muss der Vorstand im Unternehmensinteresse entscheiden, ob er eine Steuergestaltung vornimmt oder nicht. Sofern er durch die Interessenermittlung zu einem kongruenten Stakeholder-Interesse kommt, muss er sich danach richten. Der Vorstand ist nicht berechtigt, sich gegen das kongruente Interesse der Stakeholder zu stellen, das den Maßstab seines Ermessens bildet. Im Fall einer Interessendivergenz liegt es dagegen grundsätzlich im Ermessen des Vorstands, welchem Stakeholder-Interesse er von Fall zu Fall den Vorrang einräumt. Nicht im Unternehmensinteresse ist seine Entscheidung dann nur, wenn sie unvernünftig ist, d. h., entweder aus der Perspektive des Vorstands nicht
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Kap. 6: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
logisch nachvollziehbar ist oder erkennbar den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft gefährdet. Seine Pflicht zur Steuergestaltung kann der Vorstand grundsätzlich delegieren. Zur delegationsunfähigen Leitungsaufgabe wird sie erst dann, wenn Gestaltungen eine Erheblichkeitsschwelle überschreiten, deren Höhe wiederum vom konkreten Unternehmen abhängig ist. Im Fall der Delegation wandelt sich die Pflicht zur Steuergestaltung in eine Überwachungspflicht, wobei nach allgemeiner Auffassung hinsichtlich der Anforderungen zwischen horizontaler und vertikaler Delegation zu unterscheiden ist. Immer zulässig ist schließlich die Delegation der Entscheidungsvorbereitung, insoweit gelten die Anforderungen an die Einholung von Expertenrat entsprechend. Wenn ein Vorstandsmitglied seine Pflicht zur Steuergestaltung verletzt, ist es bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG der Gesellschaft gegenüber schadensersatzpflichtig. Die Haftung für eine Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung lässt sich systematisch in die Grundfallgruppen der Haftung für wirksame Gestaltungen, unwirksame Gestaltungen und unrealisierte Gestaltungen sowie die Sonderfälle der Verletzung der Überwachungspflicht in Delegationsfällen und der Verletzung der Legalitätspflicht als absolute Grenze einteilen. Vorbehaltlich der Sonderfälle kommt eine Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung insbesondere dann in Betracht, wenn ein Vorstandsmitglied die StakeholderInteressen nur in unangemessenem Umfang ermittelt hat oder gegen das kongruente Stakeholder-Interesse entschieden hat. Dies ist sachgerecht, weil die interessenpluralistische Zielkonzeption ohne Kenntnis der pluralen Interessen nicht verfolgt werden kann und diese Zielkonzeption im Fall der Kongruenz sämtlicher Interessen zu deren Verfolgung zwingt. In allen Grundfallgruppen der Verletzung der Pflicht zur Steuergestaltung ist eine Verletzung der Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) jedoch nur indiziert und muss von einem Gericht im konkreten Einzelfall festgestellt werden. Selbst wenn ein Vorstandsmitglied seine Pflicht verletzt, fehlt es in vielen Fällen aber an einem Schaden der AG. Während die Steuergestaltung dem Vorstand obliegt, treffen den Aufsichtsrat in diesem Kontext die Pflichten, geeignete Vorstandsmitglieder auszuwählen und zu bestellen sowie die Erfüllung der Pflicht zur Steuergestaltung durch den Vorstand zu überwachen. Hinsichtlich letzterer ist zwischen der präventiven Überwachung von geplanten noch unentschiedenen Steuergestaltungen und der nachgelagerten Überwachung bereits entschiedener Steuergestaltungen zu differenzieren. Kommen einzelne Aufsichtsratsmitglieder diesen Pflichten nicht nach, besteht auch insoweit grundsätzlich die Möglichkeit der Haftung auf Schadensersatz nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG.
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Sachwortverzeichnis ATAD-Richtlinie 145 f., 148 Aufsichtsrat 42 – 45, 248 – 262 Auswahlpflicht 249 – 254
– Verletzung 234 – 247 – Verpflichteter 44 Prinzipal-Agent-Konflikt 91 – 94
Base Erosion and Profit Shifting (BEPS)Projekt 137 f. Business Judgment Rule (BJR) 198 – Dokumentation 215 – Informationsgrundlage 201 – 205 – unternehmerische Entscheidung 199 f. – Wohle der Gesellschaft siehe Unternehmensinteresse
Reputation – Gewinn 177 f. – Verlust siehe Kosten, Eventualkosten
Corporate Social Responsibility (CSR) 99 – 103 CSR-Richtlinie 107 – 112 Expertenrat
205 – 210, 224, 226 f.
Gesellschaftszweck
50, 83 – 88
Kosten – Ausfallkosten 174 – 176, 190, 237 – Eventualkosten 174, 176 – 178 – Gestaltungskosten 174 f., 212, 234 Kosten-Nutzen-Analyse 172 – 179 Legalitätspflicht 184 – 190, 200, 243 – 245 Leitungsaufgabe 218 – 223, 228, 234, 241 Leitungsermessen 27, 43, 49, 56 – 59, 64, 81 f., 85 f., 88 f., 94, 101, 108, 111, 159, 184, 191 f., 198 Pflicht, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu sichern 191 – 197, 214, 241, 255, 257 Pflicht zur Steuergestaltung – Ableitung 45 – 49 – Delegation 218 – 228, 241 – 243 – Umfang 159 – 217
Satzung 86, 88 f., 93, 186 f., 189, 199 f., 243, 247, 249 – 251, 253 Shareholder siehe Stakeholder, Aktionäre Shareholder-Value 50 – 52 soziale Aufwendungen 195 f. Spenden siehe soziale Aufwendungen Stakeholder 49, 54, 113 – Aktionäre 47, 53 – Allgemeinheit 53 – Arbeitnehmer 53 – ausländische (Steuer)Staaten 150 – 157 – Bundesrepublik Deutschland 114 – 122, 128 – 149 – Gemeinden 122 – 128 – Sonstige 158 f. Stakeholder-Interesse – der Aktionäre 171 – 179 – der sonstigen Stakeholder 182 f. – der (Steuer)Staaten 179 – 182 – Interessendivergenz 212 – Interessenkongruenz 212 Stakeholder-Value 53 – 55, 95 Steuerberater 140, 207, 209 f., 220, 253 Steuergestaltung 28 – 32 – aggressive 32 – 41, 137 – entschiedene 258 f. – missbräuchliche 34 – unentschiedene 257 f. – unrealisierte 240 f. – unwirksame 237 – 239 – wirksame 234 – 237 Steuerhinterziehung 33, 40, 185, 253 Steuerplanung 32
290
Sachwortverzeichnis
(Steuer)Staat siehe Stakeholder und Stakeholder-Interesse Steuerstrategie 190, 220, 222, 225, 257 Steuerwettbewerb – international 128 – 149, 155 – national 122 – 128 Tax Compliance 33 f., 174 Tax Compliance Management System (CMS) 34 Tax Risk Management 172 Überwachungspflicht – Aufsichtsrat 44, 192, 254 – 260 – Vorstand 221 – 227, 229, 235, 237, 241 – 243 Unternehmensgegenstand 83, 186
Unternehmensinteresse 52, 62, 66, 83, 94, 193, 208, 211, 233, 236, 238, 240, 249, 251, 254, 256, 258 Verbandszweck siehe Gesellschaftszweck verbindliche Zusagen 210 f., 215, 224, 238, 242, 245 Zielkonzeption – interessenhierarchische 50 – 52, 56, 58, 62 f., 80, 85, 96, 112 – interessenmonistische 50 – 52, 56, 59, 62 f., 79, 88, 91, 98, 103, 112 – interessenpluralistische 52, 56, 58 f., 62 f., 79, 82, 86, 90 f., 96 f., 103, 108, 113 Zustimmungsvorbehalt 43, 186, 216, 243, 257, 259