Handbuch Vorstand und Aufsichtsrat: Rechte · Pflichten · Haftung · CMS · RMS · IKS · ESG · Straf- und Bußgeldtatbestände · D&O-Versicherung [2 ed.] 9783814558745

Das Werk behandelt rechtsbereichsübergreifend, kompakt und praxisnah alle wesentlichen Fragen, die Vorstände und Aufsich

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German Pages 1400 [1672] Year 2023

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Handbuch Vorstand und Aufsichtsrat: Rechte · Pflichten · Haftung · CMS · RMS · IKS · ESG · Straf- und Bußgeldtatbestände · D&O-Versicherung [2 ed.]
 9783814558745

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Ghassemi-Tabar/Cordes (Hrsg.) Handbuch Vorstand und Aufsichtsrat

Handbuch Vorstand und Aufsichtsrat Rechte · Pflichten · Haftung · CMS · RMS · IKS · ESG · Straf- und Bußgeldtatbestände · D&O-Versicherung 2. Auflage herausgegeben von Rechtsanwalt Dr. Nima Ghassemi-Tabar Rechtsanwalt Dr. Malte Cordes bearbeitet von RA Christoph Barth, RiOLG Dr. Phillip Böcker, RA Dr. Malte Cordes, RA Dr. Johannes Corsten, RAin Dr. Geesa de Vries, Maître en droit, RA Dr. Andreas Dehio, RA Dr. Nima Ghassemi-Tabar, Dipl.-Mathematiker Sina Ghassemi-Tabar, RAin Dr. Rebecca Hauff, RA Dirk Horcher, LL.M. (London), Dipl.-Kfm. und StB Dr. Christian Hundeshagen, RA Staffan Illert, RA Dr. Tim Johannsen-Roth, Vors. RiLG Dr. Helmut Krenek, RA und StB Wulf Kring, WP Markus Link, RA Dr. Daniel Meyer, LL.M. (Berkeley), WP Daniel Oehlmann, RA Dr. Christoph Poertzgen, RA Ingo Sappa, RA Dr. Hendrik Schäfer, RA Dr. Henning Schaloske, Dipl.-Kfm. René Scheffler, Carolin Scheil, RA Dr. Udo Wackernagel, RA Dr. Michael Weiß, RA Dr. Cornelius Wilk, LL.M. (Vanderbilt), RA Dr. Thomas Winter, WP Christin Wöhler, RA Dr. Andreas Zenner

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG ˜ Köln

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG Postfach 27 01 25, 50508 Köln E-Mail: [email protected], Internet: http://www.rws-verlag.de Das vorliegende Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Vortrags, der Reproduktion, der Vervielfältigung auf fotomechanischem oder anderen Wegen und der Speicherung in elektronischen Medien. Satz und Datenverarbeitung: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt Druck und Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck

Vorwort zur 2. Auflage Aufgrund der sehr guten Akzeptanz der 1. Auflage haben Verlag und Herausgeber die Neuauflage des Werks beschlossen. Inhaltlich gab es ohnehin mehr als genug Anlass hierfür: Mit Blick auf den zivilrechtlichen Teil des Werks ist zuvörderst das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) mit seinen grundlegenden Neuerungen für börsennotierte Unternehmen zu nennen. Insbesondere waren dies die Einführung des neuen § 91 Abs. 3 AktG, der den Vorstand explizit zur Einrichtung eines angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems (IKS) und Risikomanagementsystems (RMS) verpflichtet, die zwingende Einrichtung eines Prüfungsausschusses und die Verschärfung der Anforderungen an die Besetzung des Aufsichtsrats und Prüfungsausschusses. Ebenso berücksichtigt wurden das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) sowie der am 27.6.2022 im amtlichen Teil des Bundesanzeigers bekanntgemachte DCGK 2022, dessen Kern das Thema Nachhaltigkeit bildet. Last but not least zu nennen sind das zweite Führungspositionen-Gesetz (FüPoG II), das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) und das am 27.7.2022 in Kraft getretene Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen in der Aktiengesellschaft. Wir haben die vorstehenden Entwicklungen zum Anlass genommen, die 2. Auflage nicht auf die Einarbeitung neuer Rechtsprechung und Literatur zu beschränken, sondern um folgende neue Themen und Gliederungsparagrafen zu erweitern: Vorstandsanstellungsverträge (neuer Abschnitt in § 1), Hauptversammlung (§ 5), RMS (§ 17), IKS (§ 18), ESG (§ 19). Die Ausführungen zum Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht stehen in der 2. Auflage unter den Überschriften der Verantwortung von Einzelpersonen und der Haftung von Verbänden. Bei der Untreue gemäß § 266 StGB ist die jüngste höchstrichterliche Rechtsprechung zum Erfordernis einer gravierenden Pflichtverletzung, zum Vermögensnachteil und zu Verstößen gegen das BetrVG eingearbeitet. Bei den Bilanzdelikten ist daneben die unrichtige Versicherung nach § 331a HGB aufgenommen worden. Außerdem werden die Straftatbestände des Bundesdatenschutzgesetzes näher erläutert, da das Datenschutzrecht einen erheblichen Bedeutungszuwachs verzeichnet. Betreffend die Verletzung der Aufsichtspflicht gemäß § 130 OWiG ist das vielbeachtete Urteil des OLG Nürnberg v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19 – zum Umfang der Pflichten eines Geschäftsleiters innerhalb der internen Unternehmensorganisation angesprochen. Ergänzt wurde zudem ein kurzes Kapitel zur Historie des umstrittenen und am Ende dem Diskontinuitätsprinzip zum Opfer gefallenen Verbandssanktionengesetzes, da die Frage der „richtigen“ Sanktionierung von juristischen Personen und Personenvereinigungen Politik und Wissenschaft weiter beschäftigen wird.

V

Vorwort zur 2. Auflage

Aus dem Herausgeberteam ausgeschieden ist Staffan Illert, der uns allerdings als Autor erhalten geblieben ist. Neu im Autorenteam begrüßen dürfen wir Frau Carolin Scheil (Referentin Nachhaltigkeit), Dr. Hendrik Schäfer (Head of Corporate & Commercial Legal, Deutsche Börse AG), Christin Wöhler (Wirtschaftsprüferin, Internal Audit Manager), Dr. Philipp Böcker (Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf), Ingo Sappa (Rechtsanwalt, Pusch Wahlig Workplace Law), Markus Link (Wirtschaftsprüfer, Deloitte WPG), René Scheffler (Diplom-Kaufmann, Deloitte WPG), Daniel Öhlmann (Wirtschaftsprüfer, Deloitte WPG) und Sina Ghassemi-Tabar (Dipl.-Mathematiker, Deloitte WPG). Den Autor:innen, die diese zweite Auflage möglich gemacht haben, gilt unser herzlicher Dank! Düsseldorf/Dortmund, im August 2023

VI

Nima Ghassemi-Tabar, Malte Cordes

Vorwort zur 1. Auflage Es ist in vielen Werken zur Gewohnheit geworden, die rechtliche Situation von Vorstand und Aufsichtsrat unabhängig voneinander darzustellen. Dasselbe gilt für das zivilrechtliche Pflichtenprogramm einerseits und die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Seite andererseits. In der Unternehmens- und Beratungspraxis hingegen sind diese Trennlinien immer weniger spürbar. So werden Organhaftungsfälle heute vielfach von staatsanwaltlichen oder aufsichtsbehördlichen Ermittlungen begleitet, Pflichtverletzungen des Vorstands führen zu der Frage nach ausreichender Überwachung durch den Aufsichtsrat, und bei der Aufarbeitung von Compliance-Verstößen stellt sich regelmäßig die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat. Dazu treten weitere, zunehmend komplexer werdende spezifische Anforderungen – etwa aus dem Kapitalmarktrecht oder aus dem Bank- und Versicherungsaufsichtsrecht –, die von Vorstand und Aufsichtsrat bei ihren Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Die interdisziplinären Zusammenhänge und Wechselwirkungen der verschiedenen Rechtsgebiete gewinnen bei der Beratung von Vorständen und Aufsichtsräten insbesondere in Sondersituationen wie einer M&A-Transaktion oder Unternehmenskrise immer größere Bedeutung. Nicht zuletzt im Falle einer Pflichtverletzung ist die Ausgestaltung der D&O-Versicherung für die in Anspruch genommenen Organmitglieder von immenser Bedeutung. Alle diese Bereiche und Aspekte im Zusammenhang und aus Sicht des juristischen Praktikers darzustellen ist Ziel des vorliegenden Werks. Großer Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die ihre Erfahrungen aus der täglichen Arbeit in zahlreichen Praxishinweisen und Beispielen haben einfließen lassen und so zum Gelingen des Werks beigetragen haben. Soweit auf Grund der Zielsetzung des Werkes teilweise von einer vertiefteren wissenschaftlichen Erörterung abgesehen wurde, werden weiterführende Hinweise gegeben. Es wurde schließlich Wert auf ein detailliertes Stichwortverzeichnis gelegt, das erfahrungsgemäß für die Praxistauglichkeit eines Handbuchs mitentscheidend ist. Rechtsprechung und Literatur sind bis Juli 2018 berücksichtigt. Anregungen und Kritik zum Werk sind jederzeit herzlich willkommen. Düsseldorf/Köln, im August 2018

Staffan Illert, Nima Ghassemi-Tabar, Malte Cordes

VII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

Vorwort zur 2. Auflage ....................................................................................... V Vorwort zur 1. Auflage ................................................................................... VII Bearbeiterverzeichnis .................................................................................. XXIX Literaturverzeichnis .................................................................................... XXXI Teil I Gesellschaftsrechtliche Organpflichten und Haftung .................................... 1 § 1 Rechte und Pflichten des Vorstands .......................................................... 3 A.

B.

C.

Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung ............................................................................ 2 I. Ordnungsrahmen ............................................................. 2 II. Aufgabe des Vorstands .................................................. 15 III. Zusammensetzung des Vorstands ................................. 34 IV. Rechtsstellung von Vorstandsmitgliedern .................... 48 Geschäftsführung ..................................................................... 54 I. Begriff und Abgrenzung ................................................ 54 II. Ausgestaltung der Geschäftsführung ............................ 59 III. Gesamtverantwortung und Delegation ......................... 91 IV. Zustandekommen von Vorstandsentscheidungen ..... 124 V. Schranken der Geschäftsführungsbefugnis ................ 152 VI. Checkliste für Geschäftsführungsentscheidungen des Gesamtvorstands .................................................... 179 Vertretung ............................................................................... 180 I. Begriff und Abgrenzung .............................................. 180 II. Organschaftliche Vertretung ....................................... 182 III. Rechtsgeschäftliche Vertretung ................................... 209 IV. Wissenszurechnung, Willensmängel und Verschuldenszurechnung ............................................. 216 V. Checkliste für die Vertretung der Gesellschaft durch den Vorstand ...................................................... 224

.......... 15 .......... 15 .......... 22 .......... 32 .......... 39 .......... 41 .......... 41 .......... 43 .......... 54 .......... 69 .......... 78 .......... 89 .......... 89 .......... 89 .......... 90 ........ 100 ........ 102 ........ 105

IX

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

D.

Organschaftliche Pflichten .................................................... I. Sorgfaltspflicht bei der Geschäftsführung ................. II. Allgemeine Treuepflicht .............................................. III. Verschwiegenheitspflicht ............................................ IV. Praxisrelevante gesetzliche Einzelpflichten ................ V. Rechtsfolgen bei pflichtwidrigem Verhalten ..............

225 226 308 331 346 442

........ ........ ........ ........ ........ ........

105 105 135 142 148 172

E.

Der Vorstandsanstellungsvertrag .......................................... I. Begründung des Anstellungsvertrags ......................... II. Inhalt des Anstellungsvertrags .................................... III. Beendigung des Anstellungsvertrags ..........................

446 447 450 510

........ ........ ........ ........

173 174 175 196

§ 2 Haftung des Vorstands ............................................................................. 201 A.

Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG ................................... 2 I. Haftungsvoraussetzungen ............................................... 6 II. Haftungshöhe ................................................................ 97 III. Verjährung .................................................................... 100 IV. Billigung durch die Hauptversammlung ..................... 110 V. Verzicht, Vergleich und vergleichbare Rechtshandlungen ........................................................ 117 VI. Gesamtschuld und Innenausgleich ............................. 145 VII. Anspruchsverfolgung .................................................. 155 VIII. Auswirkungen von Verschmelzung und Formwechsel ................................................................ 164 IX. Möglichkeiten zur Haftungsbegrenzung ................... 172

........ ........ ........ ........ ........

209 211 246 248 252

........ 255 ........ 265 ........ 270 ........ 272 ........ 276

B.

Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 3 AktG ............................... 186 ........ 280 I. Überblick ...................................................................... 186 ........ 280 II. Einzelne Tatbestände ................................................... 190 ........ 282

C.

Prozessuale Fragen bei der Organhaftung ........................... I. Zuständigkeit innerhalb der Gesellschaft ................... II. Darlegungs- und Beweislast ........................................ III. Besonderheiten ............................................................ IV. Haftung des Aufsichtsrates ......................................... V. Gerichtliche Zuständigkeiten ......................................

D.

Außenhaftung ........................................................................ 224 ........ 294 I. Haftung gegenüber Aktionären .................................. 224 ........ 294 II. Haftung gegenüber Dritten ........................................ 231 ........ 297

X

192 192 194 206 216 217

........ ........ ........ ........ ........ ........

283 283 283 287 292 292

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats ................................................. 301 A.

Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation .................................................................... 2 I. Ordnungsrahmen, insbesondere Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat ......................................................... 2 II. Zusammensetzung des Aufsichtsrats .............................. 6 III. Rechtsstellung von Aufsichtsratsmitgliedern ............... 24 IV. Innere Organisation des Aufsichtsrats ......................... 49

........ 309 ........ 309 ........ 311 ........ 322 ........ 339

B.

Aufgaben des Aufsichtsrats ..................................................... 96 I. Überwachung der Geschäftsführung ............................ 97 II. Vertretungs- und Geschäftsführungsaufgaben ........... 177 III. Sonstige Aufgaben ........................................................ 244

........ 367 ........ 367 ........ 409 ........ 445

C.

Pflichten des Aufsichtsrats .................................................... 258 I. Sorgfaltspflichten ......................................................... 260 II. Treuepflichten .............................................................. 292 III. Verschwiegenheitspflichten ......................................... 296

........ 451 ........ 452 ........ 467 ........ 470

§ 4 Haftung des Aufsichtsrats ........................................................................ 475 A.

Innenhaftung .............................................................................. 1 I. Haftungsvoraussetzungen, §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG ................................................................................. 2 II. Haftungshöhe ................................................................. 25 III. Verjährung ...................................................................... 27 IV. Billigung durch die Hauptversammlung ....................... 28 V. Verzicht, Vergleich und Freistellung ............................ 31 VI. Gesamtschuld und Innenausgleich ................................ 34 VII. Weitere Haftungsgrundlagen ........................................ 36 VIII. Anspruchsverfolgung ..................................................... 38

........ 476 ........ 476 ........ 490 ........ 490 ........ 490 ........ 492 ........ 493 ........ 494 ........ 495

B.

Außenhaftung ........................................................................... 40 ........ 495 I. Haftung gegenüber Aktionären .................................... 42 ........ 496 II. Haftung gegenüber sonstigen Dritten .......................... 46 ........ 498

C.

Haftung der Gesellschaft für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern .......................................................................... 51 ........ 501

D.

Haftung Dritter für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern ................................................................................ 52 ........ 501 XI

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

§ 5 Hauptversammlung .................................................................................. 503 A.

Zuständigkeit der Hauptversammlung ..................................... 1 I. Überblick .......................................................................... 1 II. Gesetzliche Zuständigkeiten ........................................... 3 III. Satzungsmäßige Zuständigkeiten ................................. 23 IV. Ungeschriebene Zuständigkeiten ................................. 24

........ ........ ........ ........ ........

507 507 507 512 513

B.

Format und Einberufung der Hauptversammlung ................ I. Format ............................................................................ II. Einberufungsgründe ...................................................... III. Einberufungsberechtigte/-verpflichtete ....................... IV. Form und Inhalt der Einberufung ................................

........ ........ ........ ........ ........

516 516 518 518 519

C.

Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung ............................................................................ I. Teilnahme von Vorstand und Aufsichtsrat .................. II. Informationspflichten vor und während der Hauptversammlung .................................................................. III. Auskunftspflicht ............................................................

D.

32 32 36 40 43

52 ........ 522 53 ........ 522 60 ........ 525 71 ........ 528

Versammlungsleitung .............................................................. 88 I. Position des Versammlungsleiters ................................ 88 II. Eröffnung und Beendigung der Hauptversammlung .... 93 III. Rechte und Pflichten in der Hauptversammlung ...... 102

........ ........ ........ ........

535 535 537 540

§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG .................................................................................................... 545 A.

Der besondere Vertreter ............................................................ 1 I. Allgemeines ...................................................................... 1 II. Bestellung des besonderen Vertreters ............................ 7 III. Rechtsstellung des besonderen Vertreters ................... 16 IV. Rechte und Pflichten des besonderen Vertreters ......... 19 V. Geltendmachung der Ansprüche .................................. 24 VI. Beendigung der Rechtsstellung ..................................... 28

B.

Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG .................. I. Materielle Voraussetzungen des Klagezulassungsverfahrens ....................................................................... II. Gerichtliches Verfahren ................................................ III. Klageverfahren – § 148 Abs. 3 und Abs. 4 AktG .........

XII

........ ........ ........ ........ ........ ........ ........

546 546 549 553 554 556 557

31 ........ 558 32 ........ 559 47 ........ 564 50 ........ 565

Inhaltsübersicht Rz.

IV. V.

Seite

Kostenregelung – § 148 Abs. 6 AktG ........................... 55 ........ 567 Veröffentlichungspflicht – § 149 AktG ........................ 59 ........ 568

§ 7 Besonderheiten im Konzern .................................................................... 571 A.

Konzernbegriff ........................................................................... 1 ........ 574 I. Grundbegriffe des Konzernrechts ................................... 1 ........ 574 II. Formen der Konzernierung ........................................... 21 ........ 579

B.

Besondere Pflichten im Vertragskonzern ............................... 33 I. Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens ................................................................ 33 II. Pflichten des Vorstands des abhängigen Unternehmens ................................................................ 78 III. Besondere Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens .................................. 96 IV. Besondere Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens .................................... 119

C.

D.

Besondere Pflichten im faktischen Konzern ........................ I. Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens .............................................................. II. Pflichten des Vorstands des abhängigen Unternehmens .............................................................. III. Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens .............................................................. IV. Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens ..............................................................

........ 583 ........ 583 ........ 595 ........ 600 ........ 607

124 ........ 608 124 ........ 608 173 ........ 618 245 ........ 631 246 ........ 632

Die Haftung im Konzern ....................................................... 247 I. Überblick ...................................................................... 247 II. Haftung im Vertragskonzern ...................................... 256 III. Haftung im faktischen Konzern .................................. 289

........ 633 ........ 633 ........ 635 ........ 646

§ 8 Besonderheiten in der KGaA .................................................................. 655 A.

Einführung .................................................................................. 1 ........ 658

B.

Rechte und Pflichten der Organe .............................................. 5 ........ 659 I. Komplementäre ................................................................ 6 ........ 660 II. Aufsichtsrat .................................................................... 17 ........ 665

XIII

Inhaltsübersicht

C.

Rz.

Seite

Organhaftung ........................................................................... 57 I. Haftung des Komplementärs ........................................ 57 II. Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats .................... 88 III. Die kapitalistische KGaA – am Beispiel der GmbH & Co. KGaA ............................................... 98 IV. Haftungsfragen bei einer ausländischen Gesellschaft als Komplementärin der KGaA ................................... 105

........ 681 ........ 681 ........ 695 ........ 699 ........ 704

§ 9 Besonderheiten in der SE ......................................................................... 709 A.

Einführung ................................................................................. 1 ........ 710

B.

Rechte und Pflichten der Organe ............................................. 6 ........ 712 I. Dualistische SE ................................................................ 6 ........ 712 II. Monistische SE ............................................................... 28 ........ 724

C.

Organhaftung ........................................................................... 50 ........ 732 I. Dualistische SE .............................................................. 50 ........ 732 II. Monistische SE ............................................................... 67 ........ 739

Teil II Besondere Risikobereiche ............................................................................... 747 § 10 Kapitalmarktrecht .................................................................................. 749 A.

Einleitung ................................................................................... 1 ........ 751

B.

Ad-hoc-Publizitätspflicht ......................................................... 4 I. Anwendungsbereich ........................................................ 4 II. Tatbestandsvoraussetzungen der Ad-hocPublizitätspflicht .............................................................. 7 III. Sanktionen und Haftung ............................................... 31

........ 752 ........ 752

C.

Insidergeschäfte ....................................................................... I. Insiderhandelsverbot und Empfehlungsverbot ............ II. Offenlegungsverbot ....................................................... III. Sanktionen und Haftung ...............................................

........ ........ ........ ........

D.

Pflicht zur Führung von Insiderlisten .................................... 55 ........ 768 I. Pflichteninhalt ................................................................ 55 ........ 768 II. Sanktionen ...................................................................... 61 ........ 769

XIV

39 40 46 51

........ 752 ........ 760 762 763 765 767

Inhaltsübersicht

E.

Rz.

Seite

Directors’ Dealings .................................................................. 63 I. Anwendungsbereich: Führungspersonen und eng verbundene Personen .............................................. 64 II. Pflichten im Rahmen von Directors’ Dealings ............. 68 III. Handelsverbote .............................................................. 80 IV. Sanktionen ...................................................................... 87

........ 770 ........ 770 ........ 771 ........ 774 ........ 775

F.

Verbot der Marktmanipulation ............................................... 89 ........ 776 I. Tatbestand ...................................................................... 90 ........ 776 II. Sanktionen und Haftung ................................................ 96 ........ 777

G.

Stimmrechtsmeldepflichten ................................................... 100 I. Stimmrechtsmelderegime gemäß §§ 33 ff. WpHG .... 102 II. Mitteilungspflichten hinsichtlich der mit der Beteiligung verfolgten Ziele und der verwandten Mittel ...... 114 III. Mitteilungspflichten bzgl. eigener Aktien sowie der Veränderung der Gesamtstimmrechtszahl ........... 116

........ 778 ........ 778 ........ 783 ........ 783

§ 11 Regulierte Finanzunternehmen ............................................................ 785 A.

Einleitung .................................................................................... 1 ........ 785

B.

Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute .............................. 5 I. Überblick .......................................................................... 5 II. Ordnungsgemäße Geschäftsorganisation ....................... 8 III. Geldwäscheprävention ................................................... 28 IV. Anforderungen an die Vergütung ................................. 30 V. Pflichten in der Sanierungs- und Abwicklungsplanung ............................................................................ 36 VI. Konsequenzen bei Verstößen ........................................ 38 VII. Haftung und Business Judgement Rule ........................ 39 VIII. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats auch hinsichtlich aufsichtsrechtlicher Vorschriften ..... 42 IX. Persönliche und fachliche Anforderungen an Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder .................. 44

........ 787 ........ 787 ........ 788 ........ 794 ........ 795

Versicherungsunternehmen ..................................................... 55 I. Einleitung ........................................................................ 55 II. Geschäftsorganisation .................................................... 56 III. Haftung und Business Judgement Rule ........................ 65

........ 804 ........ 804 ........ 804 ........ 807

C.

........ 797 ........ 797 ........ 798 ........ 799 ........ 800

XV

Inhaltsübersicht Rz.

IV. V.

Seite

Persönliche und fachliche Anforderungen an Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder ................. 66 ........ 807 Anforderungen an die Vergütung ................................. 74 ........ 809

§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung ............................................... 811 A.

Einführung ................................................................................. 1 ........ 814

B.

Begriff der Krise/Insolvenz ....................................................... 3 ........ 815 I. Einführung ....................................................................... 3 ........ 815 II. Krisenstadien als Auslöser für Vorstandspflichten ........ 5 ........ 816

C.

Pflichten des Vorstands ............................................................. 7 I. Überwachungspflicht ...................................................... 7 II. Sanierungspflicht ........................................................... 12 III. Pflicht zur Information des Aufsichtsrats und anderer Organe .............................................................. 15 IV. Pflicht zur Einberufung und Information der Hauptversammlung ................................................. 18 V. Insolvenzantragspflicht ................................................. 25 VI. Masseerhaltungspflicht ................................................ 110 VII. Pflichten im Rahmen der Restrukturierung ............... 166

........ 816 ........ 816 ........ 817

........ ........ ........ ........

819 820 846 864

Pflichten des Aufsichtsrats .................................................... I. Einführung ................................................................... II. Insolvenzantragspflicht bei Führungslosigkeit .......... III. Überwachungspflicht .................................................. IV. Pflichten im Rahmen der Restrukturierung ...............

........ ........ ........ ........ ........

869 869 870 870 872

D.

183 183 186 189 194

........ 818

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen ..................................................... 873 A.

Einleitung ................................................................................... 1 ........ 877

B.

Private M&A .............................................................................. 4 I. Veräußererseite ................................................................ 5 II. Zielgesellschaft ............................................................... 52 III. Erwerberseite ................................................................. 61

........ ........ ........ ........

878 878 893 896

C.

Public M&A ............................................................................. 76 I. Veräußererseite .............................................................. 77 II. Zielgesellschaft ............................................................... 87 III. Erwerberseite ............................................................... 103

........ ........ ........ ........

902 902 905 911

XVI

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

§ 14 Steuerrecht .............................................................................................. 919 Vorbemerkung ...................................................................................... 1 ........ 923 A.

B.

C.

Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat ................................................................................ 4 I. Verpflichtung des Vorstands gemäß § 34 AO ................ 4 II. Mitwirkungspflichten gemäß § 90 AO ......................... 58 III. Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten bei Geschäftsvorgängen mit Bezug zu Steueroasen – § 12 StAbwG .................................................................. 71 IV. Auskunftspflicht gemäß § 93 AO ................................. 73 V. Anzeigepflichten gemäß §§ 137 bis 139 AO ................ 76 VI. Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten gemäß §§ 140 bis 148 AO .............................................. 98 VII. Abgabe der Steuererklärungen gemäß §§ 149 bis 152 AO ............................................ 104 VIII. Berichtigung von Erklärungen gemäß § 153 AO ........................................................... 122 IX. Exkurs: Pflicht zur Implementierung eines Tax CMS? ............................................................ 158 X. Mitwirkung im Rahmen der Außenprüfung gemäß § 200 AO ........................................................... 167

........ 924 ........ 924 ........ 938

........ 941 ........ 942 ........ 943 ........ 949 ........ 951 ........ 956 ........ 965 ........ 968

Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat ............................................................................ 172 I. Anknüpfungspunkt ...................................................... 172 II. Persönliche Haftung nach § 69 AO ............................ 174 III. Haftung der AG nach § 70 AO ................................... 184 IV. Persönliche Haftung nach § 71 AO ............................ 190 V. Exkurs: Haftung für Sozialversicherungsbeiträge ...... 197

........ 969 ........ 969 ........ 970 ........ 974 ........ 975 ........ 976

Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS ..... 199 I. Tax CMS – Aufgaben und Struktur ............................ 199 II. Aufbau von Tax CMS .................................................. 200 III. Externe Prüfung des Tax CMS .................................... 215 IV. Umfang der Prüfung eines Tax CMS .......................... 219

........ 977 ........ 977 ........ 977 ........ 980 ........ 981

XVII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

§ 15 Kartellrecht ...............................................................................................987 Vorbemerkung ..................................................................................... 1 ........ 989 A.

Kartellverbot .............................................................................. 8 I. Adressaten des Verbots ................................................... 8 II. Maßnahmen/Mittel der Wettbewerbsbeschränkung ... 13 III. Wettbewerbsbeschränkung ........................................... 23 IV. Verfahren ........................................................................ 67 V. Rechtsfolgen und Verantwortlichkeit .......................... 73

........ 991 ........ 992 ........ 993 ........ 996 ...... 1009 ...... 1011

B.

Missbrauchsverbot ................................................................... 83 I. Einleitung ....................................................................... 83 II. Adressaten des Verbots ................................................. 84 III. Missbrauch ..................................................................... 93 IV. Missbrauchsverbot für Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb ..................................................... 110 V. Missbrauchsverbot für Unternehmen mit relativer und überlegener Marktmacht ...................................... 121 VI. Verbot sonstigen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens ..................................................................... 127 VII. Rechtsfolgen ................................................................ 131

...... ...... ...... ......

...... 1031 ...... 1031

Fusionskontrolle .................................................................... I. Einleitung ..................................................................... II. Anmeldepflichtige Vorhaben ...................................... III. Materiell-rechtliche Prüfung ....................................... IV. Verfahren ......................................................................

...... ...... ...... ...... ......

C.

133 133 137 170 175

1014 1019 1019 1022

...... 1027 ...... 1030

1032 1033 1035 1042 1043

Teil III Governance, Risk & Compliance ................................................................ 1047 Vorbemerkung ..................................................................................... 1 ...... 1047 § 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung ........................................................................... 1049 Vorbemerkung: Compliance als Bestandteil guter Corporate Governance .......................................................................................... 1 ...... 1055

XVIII

Inhaltsübersicht

A.

B.

C.

D.

Rz.

Seite

Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung ....... 6 I. Grundlagen ....................................................................... 6 II. Vier Grundschritte zur Umsetzung eines präventiven Compliance-Management-Systems ............................. 109 III. Pflichten des Vorstands bei Hinweisen auf Compliance-Verstöße ............................................ 199 IV. UK Bribery Act 2010 und US Foreign Corrupt Practices Act ................................................................. 343

...... 1057 ...... 1057

...... 1153

Haftungsrisiken für Vorstandsmitglieder bei ComplianceVerstößen ................................................................................ 355 I. Schadensersatzansprüche der Gesellschaft ................. 356 II. Strafrechtliche Haftung ............................................... 364 III. Bußgeldrechtliche Haftung ......................................... 367

...... 1157 ...... 1157 ...... 1159 ...... 1159

Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung ...................................................................... 369 I. Einleitung: Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats .......................................................... 369 II. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats im Überblick ................................................................. 371 III. Überwachung der Wirksamkeit des ComplianceManagement-Systems .................................................. 375 IV. Pflichten des Aufsichtsrats im Rahmen interner Untersuchungen ........................................................... 429 Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei ComplianceVerstößen ................................................................................ 454 I. Verweigerung der Entlastung ...................................... 455 II. Abberufung ................................................................... 457 III. Schadensersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft ..... 459 IV. Strafrechtliche Haftung ............................................... 469

...... 1088 ...... 1110

...... 1160 ...... 1160 ...... 1161 ...... 1162 ...... 1177

...... 1184 ...... 1184 ...... 1184 ...... 1185 ...... 1188

§ 17 Risikomanagementsystem .................................................................... 1193 Vorbemerkung – Pflicht zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems .................................................................................................. 1 ...... 1193 A.

Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand .................................................................. 10 ...... 1195 I. Begriffe ............................................................................ 10 ...... 1195 II. Grundelemente des RMS nach dem IDW PS 981 ........ 18 ...... 1197

XIX

Inhaltsübersicht Rz.

B.

Überwachung/Prüfung des RMS ............................................ I. Überwachung durch den Aufsichtsrat .......................... II. Befassung mit dem RMS i. R. d. Abschlussprüfung durch den Abschlussprüfer bei börsennotierten Unternehmen ................................................................. III. Beauftragung einer freiwilligen Prüfung des RMS durch einen Wirtschaftsprüfer ......................................

Seite

49 ...... 1205 49 ...... 1205

52 ...... 1205 54 ...... 1206

§ 18 Internes Kontrollsystem ....................................................................... 1209 Vorbemerkung – Pflicht zur Errichtung eines internen Kontrollsystems ....................................................................................... 1 ...... 1209 A.

B.

Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982 ................................................................... I. Begriff und Ziele von IKS im IDW PS 982 .................. II. Grundsätze für IKS ........................................................ III. Grundelemente des IKS nach Prüfungsstandard IDW PS 982 .................................................................... IV. Angemessenheit des IKS ............................................... V. Wirksamkeit des IKS ..................................................... Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des IKS durch den Aufsichtsrat .............................................. I. Überwachung durch den Aufsichtsrat .......................... II. Befassung mit dem IKS i. R. d. Abschlussprüfung durch den Abschlussprüfer ........................................... III. Beauftragung einer freiwilligen Prüfung des IKS durch einen Wirtschaftsprüfer ...................................... IV. Sonderfall Nachhaltigkeitsberichterstattung ...............

10 ...... 1211 10 ...... 1211 15 ...... 1213 17 ...... 1213 42 ...... 1219 44 ...... 1220

46 ...... 1220 46 ...... 1220 56 ...... 1222 59 ...... 1223 64 ...... 1223

§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat .......................................... 1225 Vorbemerkung und Begriffsdefinitionen ........................................... 1 ...... 1226 A.

Überblick über relevante Entwicklungen auf EU-Ebene ........ 5 ...... 1228

B.

Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat aus der Nachhaltigkeitsperspektive ..................... 9 ...... 1229 I. Grundlegende Pflichten des Vorstands .......................... 9 ...... 1229

XX

Inhaltsübersicht

II. III. IV. V.

Rz.

Seite

Grundlegende Pflichten des Aufsichtsrats ................... 22 Neue Grundsätze und Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex ....................................... 25 Vorgaben für die Vorstandsvergütung nach ARUG II .. 31 Vorgaben für die Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat nach FüPoG I und II ................................ 39

...... 1233 ...... 1234 ...... 1236 ...... 1238

C.

Überblick über Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung .................................................................................. 44 ...... 1239 I. Aufstellung der nichtfinanziellen Erklärung nach CSR-RUG .............................................................. 44 ...... 1239 II. Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsberichterstattung ........................................................................ 56 ...... 1243

D.

Fazit und Ausblick ................................................................... 68 ...... 1246

Teil IV Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortung von Einzelpersonen ....................................................................................... 1249 Vorbemerkung ...................................................................................... 1 ...... 1249 § 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von Organmitgliedern einer Aktiengesellschaft ............................... 1251 A.

Einleitung .................................................................................... 1 ...... 1252

B.

Grundlagen des Handelns für einen anderen (§ 14 StGB) ...... 2 I. Besondere persönliche Merkmale .................................... 5 II. Stellvertreter im weiteren Sinne ...................................... 6 III. Organ- bzw. Vertretungsbezug des Verhaltens ........... 13

C.

Gremien- und Kollegialentscheidungen .................................. 16 ...... 1256

D.

Strafrechtliche Verantwortung für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens ...................................... 24 ...... 1258 I. Vorstand .......................................................................... 25 ...... 1258 II. Aufsichtsrat .................................................................... 32 ...... 1260

...... 1252 ...... 1253 ...... 1253 ...... 1255

XXI

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

§ 21 Relevante Straftatbestände .................................................................. 1265 A.

Untreue (§ 266 StGB) ............................................................... 2 I. Einleitung ......................................................................... 2 II. Täterkreis: Vermögensbetreuungspflicht ....................... 5 III. Tathandlungen ................................................................. 9 IV. Pflichtwidrigkeit der Tathandlungen ............................ 15 V. Einwilligung ................................................................... 25 VI. Vermögensnachteil ........................................................ 36 VII. Vorsatz ........................................................................... 43 VIII. Einzelfälle ....................................................................... 46

B.

Straftaten in der Unternehmenskrise ................................... I. § 15a Abs. 4 InsO („Insolvenzverschleppung“) ........ II. Bankrott (§§ 283, 283a StGB) ..................................... III. Pflicht zur Einberufung der Hauptversammlung bei Verlust des überwiegenden Grundkapitals (§ 401 AktG) ................................................................ IV. Bestandsgefährdende Verstöße gegen bankrechtliche Sorgfalts- und Organisationspflichten (§ 54a KWG) ................................................................

C.

Bilanzdelikte ........................................................................... I. Rechnungslegungsdelikte (§ 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB) ....................................................... II. Unrichtige Versicherung (§ 331a HGB) .................... III. Unrichtige Angaben gegenüber Prüfern (§§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB, 400 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AktG) ...

...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ......

1270 1270 1271 1273 1275 1279 1282 1284 1285

119 ...... 1310 122 ...... 1311 149 ...... 1317

162 ...... 1320

172 ...... 1323 185 ...... 1326 189 ...... 1326 220 ...... 1333 224 ...... 1334

D.

Falschangabedelikte ............................................................... 245 ...... 1338 I. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG (Unrichtige Wiedergabe von Gesellschaftsverhältnissen) .................................. 246 ...... 1338 II. § 399 AktG (Falsche Angaben) .................................. 256 ...... 1341

E.

Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte ............................. 276 ...... 1344 I. §§ 119, 120 WpHG ...................................................... 279 ...... 1345 II. Kapitalanlagebetrug (§ 264a StGB) ............................ 309 ...... 1354

F.

Steuerhinterziehung (§§ 370, 153 AO) ................................ I. Tathandlungen ............................................................. II. Steuerverkürzung ......................................................... III. Subjektiver Tatbestand ................................................

XXII

323 327 339 343

...... ...... ...... ......

1358 1358 1361 1362

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

G.

Verletzung der Geheimhaltungspflicht ................................. 347 ...... 1363

H.

Straftatbestände des Bundesdatenschutzgesetzes ................ 359 I. Täterkreis ...................................................................... 363 II. Tathandlungen und Vorsatz ........................................ 366 III. Strafantragserfordernis ................................................. 376 IV. Beweisverwendungsverbot ........................................... 378

...... 1366 ...... 1367 ...... 1367 ...... 1369 ...... 1370

Vorbemerkung ...................................................................................... 1 ...... 1371 § 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG ......................... 1373 A.

Einleitung .................................................................................... 1 ...... 1375

B.

Inhaber von Betrieben und Unternehmen ................................ 5 ...... 1375 I. Betrieb und Unternehmen ............................................... 5 ...... 1375 II. Inhaber .............................................................................. 6 ...... 1375

C.

Innerbetriebliche Pflichten ...................................................... 11 I. Rechtsquellen ................................................................. 12 II. Pflichtenkanon ............................................................... 19 III. Pflichtendelegation ......................................................... 43 IV. Haftung nachgeordneter Abteilungen .......................... 50

D.

Betriebsbezogene Zuwiderhandlung ....................................... 59 ...... 1389

E.

Vorsatz und Fahrlässigkeit ...................................................... 69 ...... 1392

F.

Rechtsfolgen ............................................................................. 75 ...... 1393

G.

Antragserfordernis ................................................................... 85 ...... 1394

H.

Verjährung ................................................................................ 86 ...... 1395

...... 1376 ...... 1376 ...... 1378 ...... 1386 ...... 1387

Teil V Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Haftung von Verbänden .............................................................................................. 1397 § 23 Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG ........................................ 1399 A.

Einleitung .................................................................................... 1 ...... 1402

XXIII

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

B.

Sanktionsfähige Verbände ......................................................... 7 ...... 1403 I. Inländische Gesellschaften .............................................. 7 ...... 1403 II. Ausländische Gesellschaften ......................................... 10 ...... 1404

C.

Vertreter ................................................................................... I. Organe und Organmitglieder ........................................ II. Erstreckung auf die „zweite Leitungsebene“ ............... III. Weitere Vertreter ........................................................... IV. Externe ...........................................................................

D.

Haftung im Konzern ............................................................... 27 ...... 1408 I. Rechtsprechung ............................................................. 29 ...... 1409 II. Literatur .......................................................................... 31 ...... 1409

E.

Gesellschaftsänderungen und Rechtsnachfolge (§ 30 Abs. 2a OWiG) .............................................................. I. Rechtsformwechsel und Umfirmierung ....................... II. Beendigung der Gesellschaft ......................................... III. Rechtsnachfolge .............................................................

18 18 20 23 26

35 35 37 38

...... ...... ...... ...... ......

...... ...... ...... ......

1406 1406 1407 1407 1408

1411 1411 1411 1411

F.

Anknüpfungs- bzw. Bezugstat ................................................ 46 ...... 1413 I. Pflichtverletzung, die den Personenverband trifft (§ 30 Abs. 1 Alt. 1 OWiG) ............................................ 47 ...... 1413 II. Handeln zur Bereicherung des Personenverbandes (§ 30 Abs. 1 Alt. 2 OWiG) ............................................ 50 ...... 1414

G.

Rechtsfolgen ............................................................................ I. Bußgeldrahmen .............................................................. II. Ahndungsteil .................................................................. III. Abschöpfungsteil ........................................................... IV. Einziehung ..................................................................... V. Eintragung in das Gewerbezentralregister ................... VI. Eintragung in das Wettbewerbsregister ........................

59 61 63 74 78 80 82

...... ...... ...... ...... ...... ...... ......

1416 1416 1416 1420 1422 1422 1423

H.

Verbundenes, selbstständiges und gespaltenes Verfahren ..... I. Verbundes Verfahren ..................................................... II. Selbstständiges Verfahren ............................................. III. Gespaltenes Verfahren ................................................... IV. Wahl der angemessenen Verfahrensart .........................

84 84 85 90 91

...... ...... ...... ...... ......

1424 1424 1424 1425 1425

XXIV

Inhaltsübersicht Rz.

Seite

I.

Vollstreckung ........................................................................... 93 ...... 1426

J.

Verjährung ................................................................................ 94 ...... 1426

§ 24 Verbandssanktionengesetz ....................................................................1429 A.

Historie ....................................................................................... 1 ...... 1431

B.

Ausblick .................................................................................... 20 ...... 1436

§ 25 Verteidigung in der Praxis ....................................................................1439 A.

Anwaltliche Beratung und Vertretung von Organen und Unternehmen ............................................................................. 1 I. Unternehmensanwalt ....................................................... 1 II. Individualverteidiger ........................................................ 2 III. Mehrfachvertretung ......................................................... 4

...... 1440 ...... 1440 ...... 1441 ...... 1441

B.

Allgemeiner Umgang mit Ermittlungsbehörden ................... 11 ...... 1442

C.

Behördliche Auskunftsersuchen ............................................. 13 ...... 1443

D.

Vernehmungen ......................................................................... 17 I. Beschuldigte .................................................................... 17 II. Zeugen ............................................................................. 19 III. Zeugenbeistand ............................................................... 23

E.

Durchsuchungen und Beschlagnahmen bzw. Sicherstellungen ........................................................................ 31 ...... 1446

F.

Akteneinsicht gemäß §§ 406e, 475 StPO ................................ 47 ...... 1451 I. Unternehmen als Verletzter .......................................... 47 ...... 1451 II. Auskunftserteilung bzw. sonstige Akteneinsicht ........ 51 ...... 1452

G.

Nebenfolgen ............................................................................. 53 I. Anordnung eines Berufsverbotes (§§ 61 Nr. 6, 70 StGB) ................................................... 54 II. Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit (§ 35 Abs. 1 GewO) ....................................................... 57 III. Inhabilität des Vorstandes einer AG (§ 76 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 1 Nr. 3 AktG) ..................... 61

...... 1443 ...... 1443 ...... 1444 ...... 1444

...... 1452 ...... 1453 ...... 1453 ...... 1454

XXV

Inhaltsübersicht Rz.

Abberufung eines Vorstandsmitgliedes aus wichtigem Grund (§ 84 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AktG) ..................... V. Abberufung eines Aufsichtsratsmitgliedes aus wichtigem Grund (§ 103 Abs. 3 Satz 1 AktG) ...... VI. Abberufung im Kreditwesenbereich (§ 36 KWG) ....... VII. Öffentliche Bekanntmachung ....................................... VIII. Registereintragungen ..................................................... IX. Weitere praxisrelevante Nebenfolgen ...........................

Seite

IV.

66 ...... 1455 68 71 73 74 75

...... ...... ...... ...... ......

1456 1456 1457 1457 1457

H.

Übernahme von Geldbußen bzw. Geldstrafen, Geldauflagen und Verteidigungskosten ................................. 78 ...... 1457 I. Übernahme von Geldbußen bzw. Geldstrafen und Geldauflagen .................................................................. 78 ...... 1457 II. Übernahme von Verteidigungskosten .......................... 84 ...... 1458

I.

D&O-Versicherung für Verteidigungstätigkeit ..................... 88 ...... 1460

J.

Vertrauensschadenversicherung .............................................. 96 ...... 1461

K.

Industrie-Strafrechtsschutz-Versicherung ............................. 99 ...... 1461

Teil VI D&O-Versicherung ...................................................................................... 1463 § 26 D&O-Versicherung ............................................................................. 1465 A.

Einführung ................................................................................. 1 I. Historische Entwicklung ................................................. 1 II. Konzeption der D&O-Versicherung und Versicherungsmarkt ......................................................... 4 III. Ausblick .......................................................................... 11

...... 1469 ...... 1469

B.

Zweck und Struktur ................................................................. I. Haftpflichtversicherung für fremde Rechnung ............ II. Abschluss einer D&O-Versicherung ........................... III. Unternehmens- und Individualpolice ........................... IV. Versicherungsprogramme .............................................

...... ...... ...... ...... ......

C.

Gegenstand der D&O-Versicherung ...................................... 36 ...... 1485 I. Versicherungsschutz gemäß Ziffer A-1 AVB D&O (Side A-Coverage) ......................................................... 36 ...... 1485

XXVI

13 13 21 26 33

...... 1470 ...... 1474 1474 1474 1478 1480 1483

Inhaltsübersicht Rz.

II. III. IV.

Seite

Freistellung durch die Gesellschaft (Side B-Coverage/ Company Reimbursement/Firmenenthaftung) .................... 47 ...... 1491 Wertpapierrechtliche Ansprüche (Entity oder Side C-Coverage) ........................................................... 50 ...... 1492 Deckungserweiterungen ................................................ 53 ...... 1493

D.

Versicherungsfall ...................................................................... 57 I. Claims Made-Prinzip ..................................................... 57 II. Zeitlicher Umfang des Versicherungsschutzes ............ 67 III. Umstandsmeldung ......................................................... 75 IV. Serienschadenklausel ...................................................... 76

...... 1495 ...... 1495 ...... 1499 ...... 1502 ...... 1503

E.

Versicherungsschutz ................................................................ 79 I. Abwehrrechtsschutz ...................................................... 79 II. Freistellung ..................................................................... 85 III. Versicherungssumme und Selbstbehalt ......................... 86

...... 1504 ...... 1504 ...... 1507 ...... 1507

F.

Ausschlüsse ............................................................................... 97 I. Bedeutung von Risikoausschlussklauseln ..................... 97 II. Vorsatz und wissentliche Pflichtverletzung ............... 102 III. Strafen und Geldbußen ................................................ 114 IV. Spezielle Ausschlüsse infolge der COVID 19Pandemie ....................................................................... 122

...... 1512 ...... 1512 ...... 1514 ...... 1519

Obliegenheiten ....................................................................... 124 I. Begriff der Obliegenheit und Grundlagen .................. 124 II. Auskunfts- und Belegobliegenheit gemäß § 31 Abs. 1 VVG .................................................................. 126 III. Weitere Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalls .................................................. 138 IV. Vorvertragliche Anzeigepflichten, Anfechtungsrecht und Gefahrerhöhung .................................................... 140

...... 1522 ...... 1522

G.

H.

Sonstige Regelungen .............................................................. 150 I. Subsidiaritätsklauseln ................................................... 150 II. Abtretung des Freistellungsanspruchs ........................ 159 III. Rechtswahl .................................................................... 164 IV. Gerichtsstand ................................................................ 165 V. Schiedsvereinbarung ..................................................... 169

...... 1522

...... 1523 ...... 1528 ...... 1529 ...... 1533 ...... 1533 ...... 1535 ...... 1538 ...... 1538 ...... 1539

XXVII

Inhaltsübersicht Rz.

I.

Typische Abläufe im Schadensfall ........................................ I. Konstellationen ............................................................ II. Beginn eines Schadenfalls ............................................ III. Rolle des Versicherers ................................................. IV. Außergerichtliche Abläufe .......................................... V. Haftpflicht- und Deckungsverfahren ......................... VI. Vergleichslösungen ...................................................... VII. Folgen für die Vertragsbeziehung ...............................

175 175 177 179 180 184 187 189

Seite

...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ......

1542 1542 1542 1543 1544 1545 1546 1547

Stichwortverzeichnis ..................................................................................... 1549

XXVIII

Bearbeiterverzeichnis Christoph Barth Rechtsanwalt .............................................................................................. § 15 Dr. Phillip Böcker Richter Oberlandesgericht ........................................................................ § 12 Dr. Malte Cordes Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Fachanwalt für Steuerrecht .................................................... §§ 22, 23, 24, 25 Dr. Johannes Corsten Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht .......................................... §§ 20, 21 Dr. Geesa de Vries, Maître en droit Rechtsanwältin ............................................................................................. § 8 Dr. Andreas Dehio Rechtsanwalt .............................................................................................. § 11 Dr. Nima Ghassemi-Tabar Rechtsanwalt .............................................................................................. § 16 Sina Ghassemi-Tabar Diplom-Mathematiker.................................................................................§ 17 Dr. Rebecca Hauff Rechtsanwältin ............................................................................................ § 26 Dirk Horcher, LL.M. (London) Rechtsanwalt .............................................................................................. § 10 Dr. Christian Hundeshagen Diplom-Kaufmann, Steuerberater ............................................................ § 14 Staffan Illert Rechtsanwalt ................................................................................ §§ 1, 2, 8, 13 Dr. Tim Johannsen-Roth Rechtsanwalt .......................................................................................... §§ 3, 4 Dr. Helmut Krenek Vorsitzender Richter Landgericht ......................................................... §§ 2, 6 Wulf Kring Rechtsanwalt, Steuerberater ...................................................................... § 14

XXIX

Bearbeiterverzeichnis

Markus Link Wirtschaftsprüfer......................................................................................... § 18 Dr. Daniel Meyer, LL.M. (Berkeley), EMBA Rechtsanwalt .......................................................................................... §§ 1, 2 Daniel Oehlmann Wirtschaftsprüfer ........................................................................................ § 18 Dr. Christoph Poertzgen Rechtsanwalt .............................................................................................. § 12 Ingo Sappa Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht ............................................... § 1 Dr. Hendrik Schäfer Rechtsanwalt, Head of Corporate & Commercial Legal .......................... § 5 Dr. Henning Schaloske Rechtsanwalt .............................................................................................. § 26 René Scheffler Diplom-Kaufmann ..................................................................................... § 17 Carolin Scheil Referentin Nachhaltigkeit .......................................................................... § 19 Dr. Udo Wackernagel Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht ......................................... §§ 20, 21 Dr. Michael Weiß Rechtsanwalt ........................................................................................ §§ 7, 13 Dr. Cornelius Wilk, LL.M. (Vanderbilt) Rechtsanwalt ................................................................................................ § 9 Dr. Thomas Winter Rechtsanwalt ................................................................................................ § 7 Christin Wöhler Wirtschaftsprüferin ..................................................................................... § 16 Dr. Andreas Zenner Rechtsanwalt .......................................................................................... §§ 3, 4

XXX

Literaturverzeichnis Kommentare: Angerer/Geibel/Süßmann Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG), 3. Aufl. 2017 (zit.: Angerer/Geibel/Süßmann/Bearbeiter) Assmann/Schneider/Mülbert WpHG, 7. Aufl. 2019 (zit.: Assmann/Schneider/Bearbeiter) Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG, 3. Aufl. 2020 (zit.: Assmann/Pötzsch/Schneider/Bearbeiter) Baumbach/Hueck GmbH-Gesetz, 22. Aufl. 2019 (zit.: Baumbach/Hopt/Bearbeiter, GmbHG) Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle ZPO, 79. Aufl. 2021 (zit.: B/L/A/Hartmann) Baums/Thoma WpÜG, Loseblattsammlung, 13. Lfg. 2020 (zit.: Baums/Thoma/Bearbeiter) beck-online.GROSSKOMMENTAR Aktiengesetz (Hrsg. Spindler/Stilz), Stand: 1.9.2021 (zit.: BeckOGK-AktG/Bearbeiter) Beck/Samm/Kokemoor Kreditwesengesetz mit CRR, Bd. 2, Loseblattsammlung, 226. Erg.Lfg. 2022 (zit.: Bearbeiter, in: Beck/Samm/Kokemoor, KWG) Beck’scher Bilanz-Kommentar Handels- und Steuerbilanz, 13. Aufl. 2022 (zit.: Beck’scher Bilanz-Kommentar/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar Arbeitsrecht 64. Edition, Stand: 1.6.2022 (zit.: BeckOK ArbR/Bearbeiter)

XXXI

Literaturverzeichnis

Beck’scher Online-Kommentar BGB 63. Edition, Stand: 1.8.2022 (zit.: BeckOK BGB/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar Gewerbeordnung 57. Edition, Stand: 1.6.2022 (zit.: BeckOK GewO/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar HGB 37. Edition, Stand: 1.8.2022 (zit.: BeckOK HGB/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar OWiG 38. Edition, Stand: 1.4.2023 (zit.: BeckOK OWiG/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar ZPO 45. Edition, Stand: 1.7.2022 (zit.: BeckOK ZPO/Bearbeiter) Beck’scher TKG-Kommentar 4. Aufl. 2013 (zit.: Beck TKG/Bearbeiter) Beck’scher Vergaberechtskommentar Bd. 1: GWB, 4. Aufl. 2022 (zit.: Beck’scher Vergaberechtskommentar/Bearbeiter) Berg/Mäsch Deutsches und Europäisches Kartellrecht, 4. Aufl. 2022 (zit.: Berg/Mäsch/Bearbeiter) Böttcher/Habighorst/Schulte Umwandlungsrecht, 2. Aufl. 2019 (zit.: Böttcher/Habighorst/Schulte/Bearbeiter) Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG – CRR-VO, Bd. 1, 5. Aufl. 2016 (zit.: Bearbeiter, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG) Bruck/Möller Versicherungsvertragsgesetz, Großkommentar, Bd. 4, Haftpflichtversicherung, 10. Aufl. 2021 (zit.: Bruck/Möller/Bearbeiter)

XXXII

Literaturverzeichnis

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L

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Rotsch Criminal Compliance, 2015 (zit.: Rotsch/Bearbeiter) Ruhmannseder/Lehner/Beukelmann Compliance aktuell, 22. Aktualisierung 2023 (zit.: Ruhmannseder/Lehner/Beukelmann) Saenger/Aderhold/Lenkaitis/Speckmann Handels- und Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011 (zit.: Saenger/Aderhold/Lenkaitis/Speckmann/Bearbeiter) Schaaf Risikomanagement und Compliance in Versicherungsunternehmen – aufsichtsrechtliche Anforderungen und Organverantwortung, 2010 (zit.: Schaaf, Risikomanagement und Compliance in Versicherungsunternehmen) Schilling D&O-Versicherung und Managerhaftung für Unternehmensleiter und Aufsichtsräte, 3. Aufl. 2013 (zit.: Schilling) Schimansky/Bunte/Lwowski Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022 (zit.: Schimansky/Bunte/Lwowski BankR-HdB/Bearbeiter) Schmidt, Karsten Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002 (zit.: K. Schmidt, GesR) Schulz Compliance-Management im Unternehmen – Strategie und praktische Umsetzung, 2. Aufl. 2021 (zit.: Schulz/Bearbeiter) Semler Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl. 1996 (zit.: Semler) Semler/Volhard/Reichert Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 5. Aufl. 2021 (zit.: Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Bearbeiter) Semler/v. Schenck/Wilsing Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021 (zit.: Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Bearbeiter) LI

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Kubis/Tödtmann Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 3. Aufl. 2022 (zit.: Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Bearbeiter) Seyfarth Vorstandsrecht, Carl Heymanns, 2. Aufl. 2022 (zit.: Seyfarth) Taeger/Pohle Computerrechts-Handbuch, Stand Februar 2021, 36. Erg.Lfg. (zit.: Taeger/Pohle/Bearbeiter) Thüsing Beschäftigtendatenschutz und Compliance, 3. Aufl. 2021 (Thüsing/Bearbeiter) Umnuß Corporate Compliance Checklisten, 5. Aufl. 2022 (zit.: Umnuß/Bearbeiter) Van Hulle/Maul/Drinhausen Handbuch zur Europäischen Gesellschaft (SE), 2. Aufl. 2022 (zit.: Van Hulle/Maul/Drinhausen/Bearbeiter) Wellhöfer/Peltzer/Müller Die Haftung von Vorstand, Aufsichtsrat, Wirtschaftsprüfer – mit GmbHGeschäftsführer, 2008 (zit.: Wellhöfer/Peltzer/Müller/Bearbeiter) Wessing/Dann Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, 2013 (zit.: Wessing/Dann/Bearbeiter) Westermann/Wertenbruch Handbuch der Personengesellschaften, Bd. 1: Gesellschaftsrecht, Stand: 83. Lfg. 2022 (zit.: Westermann/Bearbeiter) Wiedemann Gesellschaftsrecht Bd. II: Recht der Personengesellschaften, 2004 (zit.: GesR II/Wiedemann) Wiedemann Handbuch des Kartellrechts, 4. Aufl. 2020 (zit.: Wiedemann/Bearbeiter)

LII

Teil I Gesellschaftsrechtliche Organpflichten und Haftung

§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

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Übersicht A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung ............................................... 2 I. Ordnungsrahmen ............................... 2 1. Gesetz .......................................... 3 2. Gesetzesähnliche und gesetzesausfüllende Vorschriften........ 6 3. Satzung......................................... 7 4. Geschäftsordnung ..................... 11 5. Sonstige Vorgaben..................... 13 II. Aufgabe des Vorstands .................... 15 1. Leitungsaufgaben ...................... 16 2. Eigenverantwortlichkeit und Bindung an das Unternehmensinteresse............................. 22 3. Leitung und Fremdeinfluss....... 32 III. Zusammensetzung des Vorstands................................................. 34 1. Zahl der Mitglieder und Beteiligungsgebot ...................... 34 2. Persönliche Mindestanforderungen und Bestellungshindernisse ................................. 38 3. Besondere Vorstandsmitglieder......................................... 42 IV. Rechtsstellung von Vorstandsmitgliedern........................................ 48 1. Bestellung und Anstellung........ 48 2. Mängel der Vorstandsbestellung („Fehlerhaftes Organmitglied“) ........................ 51 3. Rechtsstellung im Übrigen ....... 52 B. Geschäftsführung............................ 54 I. Begriff und Abgrenzung .................. 54 II. Ausgestaltung der Geschäftsführung.............................................. 59 1. Gesetzliche Regel: Gesamtgeschäftsführung und Einstimmigkeit ................................ 59 2. Abweichende Gestaltungen und Binnenorganisation des Vorstands ............................ 63 a) Gestaltungsgrenzen .................. 67

b) Zulässige Gestaltungsinhalte .... 70 aa) Mehrheitsbeschlüsse bei Gesamtvorstandsentscheidungen.... 71 bb) Einzelgeschäftsführung und Geschäftsverteilung................... 80 cc) Kombinationen.......................... 83 c) Praxisübliche Modelle der Vorstandsbinnenorganisation..... 84 III. Gesamtverantwortung und Delegation......................................... 91 1. Arten der Delegation und Delegationsgrenzen................... 92 2. Horizontale Delegation zur Erledigung ........................... 95 a) Rechte und Pflichten aller Vorstandsmitglieder.................. 96 b) Rechte und Pflichten des Ressortleiters ............................. 99 c) Rechte und Pflichten der übrigen Vorstandsmitglieder ..... 102 3. Vertikale Delegation zur Erledigung................................ 109 a) Auswahlsorgfalt....................... 112 b) Einweisungssorgfalt ................ 113 c) Überwachungssorgfalt ............ 114 d) Organisationspflichten ........... 116 4. Delegation von Vorstandsaufgaben zur Vorbereitung bzw. Ausführung ....... 117 5. Delegation auf unternehmensfremde Dritte............ 121 6. Einsatz künstlicher Intelligenz................................ 123 IV. Zustandekommen von Vorstandsentscheidungen .................... 124 1. Zuständigkeit........................... 124 a) Gesamtvorstand ...................... 125 b) Einzelne Vorstandsmitglieder....................................... 127 2. Willensbildung des Vorstands ....................................... 130 a) Form ....................................... 131 b) Beschlussmodalitäten.............. 138

Illert/Meyer/Sappa

3

§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

V.

VI.

C. I. II.

4

c) Stimmabgabe, Stimmverbote und Bedingungen .................... 139 d) Umgang mit Interessenkonflikten ................................ 141 e) Beschlussmängel und Rechtsschutz gegen fehlerhafte Beschlüsse............. 146 f) Verhaltenspflichten überstimmter Vorstandsmitglieder ...................................... 149 Schranken der Geschäftsführungsbefugnis ........................... 152 1. Satzung .................................... 155 2. Geschäftsordnung................... 160 3. Beschränkungen durch den Aufsichtsrat ..................... 161 4. Beschränkungen durch die Hauptversammlung ......... 166 5. Beschränkungen durch die eigene Beschlusslage des Vorstands .......................... 175 6. Rechtsfolgen bei Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis .................... 176 Checkliste für Geschäftsführungsentscheidungen des Gesamtvorstands ..................... 179 Vertretung ..................................... 180 Begriff und Abgrenzung................ 180 Organschaftliche Vertretung ........ 182 1. Gegenstand und Umfang ....... 183 2. Ausgestaltung der organschaftlichen Vertretungsmacht ....................................... 186 a) Gesetzliche Regel: Gesamtvertretung ............................... 187 b) Abweichende Gestaltungen.... 190 3. Einzelermächtigung ................ 194 4. Schranken der Vertretungsmacht ....................................... 197 a) Aktienrechtliche Kompetenzen anderer Organe ........... 198 b) Insichgeschäfte (§ 181 BGB) ... 202 c) Rechtsfolgen bei Überschreitung der Vertretungsmacht ....................................... 205 5. Publizität ................................. 208

III. Rechtsgeschäftliche Vertretung .....209 IV. Wissenszurechnung, Willensmängel und Verschuldenszurechnung..........................................216 1. Wissenszurechnung .................216 2. Willensmängel..........................222 3. Verhaltens- und Verschuldenszurechnung sowie Organhaftung...........................223 V. Checkliste für die Vertretung der Gesellschaft durch den Vorstand ..........................................224 D. Organschaftliche Pflichten ..........225 I. Sorgfaltspflicht bei der Geschäftsführung ................................226 1. Begriff und Verhältnis zum Geschäftsleiterermessen..........226 2. Legalitätspflicht .......................229 a) Interne Pflichtenbindung ........231 b) Externe Pflichtenbindung .......234 c) „Nützliche“ Pflichtverletzungen ......................................243 d) Unklare oder umstrittene Rechtslage ................................246 e) Rechtfertigungsgründe............249 3. Sorgfaltspflicht im engeren Sinne .........................................251 a) Sorgfaltsmaßstab und Typisierung .............................253 b) Grundlegende Sorgfaltsanforderungen an alle Vorstandsentscheidung..................261 c) Einzelfälle.................................268 4. Überwachungspflichten ..........281 a) Horizontale Delegation...........283 b) Vertikale Delegation................284 5. Compliance-Pflichten .............285 a) Pflicht zu eigener Regeltreue ....288 b) Verhaltenspflichten bei Anhaltspunkten für regelwidriges Verhalten ...................289 aa) Aufklären..................................290 bb) Abstellen ..................................295 cc) Ahnden.....................................297 c) Compliance-Organisation ......300 II. Allgemeine Treuepflicht.................308 1. Allgemeiner Pflichteninhalt ....308

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands 2.

Praxisrelevante Ausprägungen der Treuepflicht ............... 314 a) Keine Ausnutzung der Organstellung ......................... 314 b) Geschäftschancen der Gesellschaft.............................. 316 c) Eigengeschäfte von Vorstandsmitgliedern.............. 319 d) Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder ................ 320 e) Wettbewerbsverbot/Vorstands-Doppelmandate ........... 323 f) Offenlegungspflichten ............ 329 3. Treuebindung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand................................... 330 III. Verschwiegenheitspflicht............... 331 1. Geschützte Informationen ..... 333 2. Umfang der Verschwiegenheit............................................ 337 3. Ermöglichung einer Due Diligence-Prüfung........... 343 IV. Praxisrelevante gesetzliche Einzelpflichten................................ 346 1. Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung ...................... 346 a) Reichweite ............................... 349 b) Verstoß gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr.......... 350 c) Ausnahmen .............................. 365 d) Rechtsfolgen und Haftungsrisiken bei Verstoß ................. 366 2. Überwachung und Risikomanagement ............................ 367 a) Früherkennungs- und Überwachungssystem (§ 91 Abs. 2 AktG) ................ 368 b) Internes Kontroll- und Risikomanagementsystem (§ 91 Abs. 3 AktG) ................. 374 c) Haftungsrisiken ...................... 375 3. Statusverfahren ........................ 376 4. Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung................................. 378 a) Aufgaben der Hauptversammlung................................. 380

b) Vorstandspflichten bei der Vorbereitung der Hauptversammlung............................ 382 c) Vorstandspflichten bei der Durchführung der Hauptversammlung ......... 390 d) Vorstandspflichten im Nachgang zur Hauptversammlung............................ 397 5. Buchführung und Rechnungslegung............................. 400 a) Rechnungslegung .................... 401 b) Publizitätspflicht ..................... 415 6. Pflicht zur Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG ..................... 417 a) Inhalt........................................ 417 b) Rechtsfolgen bei Verstößen gegen § 161 AktG ................... 420 7. Pflicht zur Erstattung des Vergütungsberichts nach § 162 AktG .............................. 424 8. Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB......................................... 425 9. Nichtfinanzielle Erklärung nach §§ 289b, 289c HGB ........ 427 a) Anwendungsbereich................ 427 b) Inhalt der CSR-Pflichten........ 430 c) Adressaten der Pflichten......... 433 d) Rechtsfolgen bei Verstößen gegen CSR-Berichtspflichten ... 435 V. Rechtsfolgen bei pflichtwidrigem Verhalten......................................... 442 E. Der Vorstandsanstellungsvertrag ............................................ 446 I. Begründung des Anstellungsvertrags............................................ 447 II. Inhalt des Anstellungsvertrags ...... 450 1. Laufzeit und Form .................. 451 2. Aufgaben ................................. 457 3. Vergütung und sonstige Bezüge...................................... 460 a) Vergütungsbegriff .................. 462 b) Vergütungsformen und Ausgestaltung .......................... 464 4. Nebentätigkeiten .................... 476

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands 5. Wettbewerbsverbote............... 479 a) Gesetzliches und vertragliches Wettbewerbsverbot ...... 479 b) Nachvertragliches Wettbewerbsverbot ......................... 482 6. Ersatz von Auslagen und Kosten...................................... 488 7. Pflicht zur Erstattung von Anwalts- und Gerichtskosten ....... 490 8. Erfindungen............................. 495 9. Change of Control-Klauseln.... 496 10. Abfindungszahlungen............. 497 11. Übernahme von Geldbußen, Geldstrafen und Geldauflagen .. 499

12. Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall .......502 13. Elternzeit und Mutterschutz ....504 14. Auskunfts-, Herausgabeund Informationspflichten......506 15. Prozessuales .............................509 III. Beendigung des Anstellungsvertrags ............................................510 1. Zeitablauf .................................512 2. Ordentliche Kündigungsmöglichkeit ..............................513 3. Koppelungsklausel...................514 4. Außerordentliche Kündigung ...518 5. Aufhebungsvertrag ..................520

Schrifttum: Altmeppen, Cash Pooling und Kapitalerhaltung im faktischen Konzern, NZG 2010, 361; Arnold, Verantwortung und Zusammenwirken des Vorstands und Aufsichtsrats bei Compliance-Untersuchungen, ZGR 2014, 76; Arnold/Hofer/Dolde, Der Vergütungsbericht börsennotierter Aktiengesellschaften nach § 162 AktG, AG 2021, 813; Baetzgen, Insichgeschäfte im Gesellschaftsrecht, RNotZ 2005, 193; Bachmann, Der „Deutsche Corporate Governance Kodex“: Rechtswirkungen und Haftungsrisiken, WM 2002, 2137; Bachmann, Interne Ermittlungen – ohne Grenzen?, ZHR 180 (2016), 563; Balthasar/Hamelmann, Finanzkrise und Vorstandshaftung nach § 93 Abs. 2 AktG: Grenzen der Justiziabilität unternehmerischer Entscheidungen, WM 2010, 589; Banerjea, Der Schutz von Übernahme- und Fusionsplänen – Überlegungen zur Zulässigkeit und Gestaltung sog. Deal-Protection-Abreden, DB 2003, 1489; Banerjea, Due Diligence beim Erwerb von Aktien über die Börse, ZIP 2003, 1730; Bauer/Arnold, AGB-Kontrolle von Vorstandsverträgen, ZIP 2006, 2337; Bauer/Arnold, Altersdiskriminierung von Organmitgliedern, ZIP 2012, 597; Bauer/Arnold/Kramer, Schiedsvereinbarungen mit Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern, AG 2014, 677; Bauer/Baeck/v. Medem, Altersversorgung und Übergangsgeld in Vorstandsanstellungsverträgen, NZG 2010, 721; Bauer/v. Medem, Rechtliche und taktische Hinweise zu Wettbewerbsverboten mit Vorständen und Geschäftsführern, GWR 2011, 435; Bayer, Erkrankungen von Vorstandsmitgliedern – Rechtlicher Rahmen, empirische Studie, Empfehlungen an Praxis und Regelsetzer, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, 87; Bayer, Legalitätspflicht der Unternehmensleitung, nützliche Gesetzesverstöße und Regress bei verhängten Sanktionen, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, 85; Bayer/Hoffmann, Parteispenden aus dem Gesellschaftsvermögen, AG 2014, R371; Bayer/Lieder, Die Lehre vom fehlerhaften Bestellungsverhältnis – Ein Beitrag zur Institutionenbildung im Gesellschaftsrecht aus Anlass des HVB/UniCredit-Beschlusses des II. Zivilsenats des BGH vom 27.9.2011, NZG 2012, 1; Berg/Stöcker, Anwendungsund Haftungsfragen zum Deutschen Corporate Governance Kodex, WM 2002, 1569; Bergjahn/Klotz, Formale „Fallstricke“ bei der Vollmachtserteilung in M&A-Transaktionen, ZIP 2016, 2300; Bezzenberger, Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, ZGR 1996, 661; Bicker, Corporate Compliance – Pflicht und Ermessen, ZWH 2013, 473; Bicker, Legalitätspflicht des Vorstands – ohne Wenn und Aber?, AG 2014, 8; Bork, Pflichten der Geschäftsführung in Krise und Sanierung, ZIP 2011, 101; Böttcher, Bankvorstandshaftung im Rahmen der Sub-Prime Krise, NZG 2009, 1047; Böttcher, Compliance: Der IDW PS 980 – Keine Lösung für alle (Haftungs-)Fälle!, NZG 2011, 1054; Böttcher, Organpflichten beim Unternehmenskauf, NZG 2007, 481; Buck-Heeb, Die Haftung von Mitgliedern des Leitungsorgans bei unklarer Rechtslage, BB 2013, 2247; BuckHeeb, Wissenszurechnung, Informationsorganisation und Ad-hoc-Mitteilungspflicht bei Kenntnis eines Aufsichtsratsmitglieds, AG 2015, 801; Bungert/Wansleben, Vertragliche

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands Verpflichtung einer Aktiengesellschaft zur Nichtdurchführung von Kapitalerhöhungen, ZIP 2013, 1841; Bunz, Legalitätspflicht und nützliche Pflichtverletzungen – Eine Fallstudie, CCZ 2021, 81; Bunz, Vorbereitungs- und Reaktionsmöglichkeiten börsennotierter Unternehmen auf Shareholder Activism, NZG 2014, 1049; Burgard/Heiman, Respice finem!, NZG 2014, 1294; Bürgers, Compliance in Aktiengesellschaften, ZHR 179 (2015), 173; Bürkle, Compliance als Aufgabe des Vorstands der AG – Die Sicht des LG München I, CCZ 2015, 52; Bürkle, Der Stichentscheid im zweiköpfigen AG-Vorstand, AG 2012, 232; v. Busekist/Schlitt, Der IDW PS 980 und die allgemeinen rechtlichen Mindestanforderungen an ein wirksames Compliance Management System (2) – Risikoermittlungspflicht, CCZ 2012, 86; v. Busekist/Timmerbeil, Die Compliance Due Diligence in M&A-Prozessen, CCZ 2013, 225; Cahn, Business Judgement Rule und Rechtsfragen, Der Konzern 2015, 105; Cahn, Pflichten und Haftung der Organe der Erwerbergesellschaft bei M&A-Transaktionen, in: Festschrift Stilz, 2014, 99; Cichy/Cziupka, Compliance-Verantwortung der Geschäftsleiter bei Unternehmenstätigkeit mit Auslandsbezug, BB 2014, 1482; Dann/Schmidt, Im Würgegriff der SEC? – Mitarbeiterbefragungen und die Selbstbelastungsfreiheit, NJW 2009, 1851; de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, Variable Vergütung im Trennungsprozess mit Geschäftsführern und Vorständen (Teil 1), DB 2012, 2792; Deilmann/Otte, Verteidigung ausgeschiedener Organmitglieder gegen Schadensersatzklagen – Zugang zu Unterlagen der Gesellschaft, BB 2011, 1291; Diekmann/ Fleischmann, Umgang mit Interessenkonflikten in Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft, AG 2013, 141; Diekmann/Punte, Aktuelles zu Drittanstellung, Drittvergütung und Haftung von Mitgliedern des AG-Vorstands – zugleich eine Einordnung des BGH-Urteils vom 28.4.2015, WM 2016, 681; Dietz-Vellmer, Hauptversammlungsbeschlüsse nach § 119 II AktG – geeignetes Mittel zur Haftungsvermeidung für Organe?, NZG 2014, 721; Diller/Arnold, Neue Spielregeln für Pensionszusagen an Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer, DB 2019, 608; Dreher, Die kartellrechtliche Bußgeldverantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern – Vorstandshandeln zwischen aktienrechtlichem Legalitätsprinzip und kartellrechtlicher Unsicherheit, in: Festschrift Konzen, 2006, 85; Dreher, Nicht delegierbare Geschäftsleiterpflichten, in: Festschrift Hopt, 2010, 517; Drinhausen, Unabhängige Untersuchung durch Sachverständige, ZHR 179 (2015), 226; Drygala/Drygala, Wer braucht ein Frühwarnsystem?, ZIP 2000, 297; Drygala/Kremer, Alles neu macht der Mai – Zur Neuregelung der Kapitalerhaltungsvorschriften im Regierungsentwurf zum MoMiG, ZIP 2007, 1289; Emde, Gesamtverantwortung und Ressortverantwortung im Vorstand der AG, in: Festschrift U.H. Schneider, 2011, 295; Ehmann/ Walden, Rückforderung von zum Abkauf von Anfechtungsklagen geleisteten Zahlungen, NZG 2013, 806; Erdmann, Ausländische Staatsangehörige in Geschäftsführungen und Vorständen deutscher GmbHs und AGs, NZG 2002, 503; Ettinger/Grützediek, Haftungsrisiken im Zusammenhang mit der Abgabe der Corporate Governance Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG, AG 2003, 353; Eufinger, Rechtliche Aspekte Complianceindizierter Sanktionsmaßnahmen im Arbeitsverhältnis, RdA 2017, 223; Fischer/Schuck, Die Einrichtung von Corporate Governance-Systemen nach dem FISG, NZG 2021, 534; Fleischer, Aktienrechtliche Compliance-Pflichten im Praxistest: Das Siemens/NeubürgerUrteil des LG München I, NZG 2014, 321; Fleischer, Aktienrechtliche Legalitätspflicht und „nützliche” Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern, ZIP 2005, 141; Fleischer, Aktuelle Entwicklungen der Managerhaftung, NJW 2009, 2337; Fleischer, Buchführungsverantwortung des Vorstands und Haftung der Vorstandsmitglieder für fehlerhafte Buchführung, WM 2006, 2021; Fleischer, Corporate Compliance im aktienrechtlichen Unternehmensverbund, CCZ 2008, 1; Fleischer, Der Zusammenschluss von Unternehmen im Aktienrecht – Aktienrechtliche Problemfelder bei M&A-Transaktionen, ZHR 172 (2008), 538; Fleischer, Die „Business Judgment Rule“: Vom Richterrecht zur Kodifizierung, ZIP 2004, 685; Fleischer, Fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse: Rechtsdogmatik – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik (Teil 1), DB 2013, 160; Fleischer, Fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse: Rechtsdogmatik – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik (Teil 2), DB 2013, 217; Fleischer, Gelöste und ungelöste Probleme der gesellschaftsrechtlichen Geschäftschancenlehre, NZG 2003, 985; Fleischer, Gesundheitsprobleme eines Vorstandsmitglieds im

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands Lichte des Aktien- und Kapitalmarktrechts, NZG 2010, 561; Fleischer, Haftungsfreistellung, Prozesskostenersatz und Versicherung für Vorstandsmitglieder, WM 2005, 909; Fleischer, Investor Relations und informationelle Gleichbehandlung im Aktien-, Konzern- und Kapitalmarktrecht, ZGR 2009, 505; Fleischer, Kartellrechtsverstöße und Vorstandsrecht, BB 2008, 1070; Fleischer, Ruinöse Managerhaftung: Reaktionsmöglichkeiten de lege lata und de lege ferenda, ZIP 2014, 1305; Fleischer, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Aktienrecht, NJW 2004, 2335; Fleischer, Unternehmensspenden und Leitungsermessen des Vorstands im Aktienrecht, AG 2001, 171; Fleischer, Verantwortlichkeit von Bankgeschäftsleitern und Finanzmarktkrise, NJW 2010, 1504; Fleischer, Vergleiche über Organhaftungs-, Einlage- und Drittansprüche der Aktiengesellschaft, AG 2015, 133; Fleischer, Vorstandshaftung und Vertrauen auf anwaltlichen Rat, NZG 2010, 121; Fleischer, Vorstandsverantwortlichkeit und Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen – Von der Einzelüberwachung zur Errichtung einer ComplianceOrganisation, AG 2003, 291; Fleischer, Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung im Aktienrecht, NZG 2003, 449; Fleischer, Zur Auslegung von Gesellschaftsverträgen und Satzungen, DB 2013, 1466; Fleischer, Zur Leitungsaufgabe des Vorstands im Aktienrecht, ZIP 2003, 1; Fleischer, Zur organschaftlichen Treuepflicht der Geschäftsleiter im Aktienund GmbH-Recht, WM 2003, 1045; Fleischer, Zur Privatsphäre von GmbH-Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern: Organpflichten, organschaftliche Zurechnung und private Umstände, NJW 2006, 3239; Fleischer, Zur Rolle und Regulierung von Stimmrechtsberatern (Proxy Advisors) im deutschen und europäischen Aktien- und Kapitalmarktrecht, AG 2012, 2; Fleischer, Zur Verantwortlichkeit einzelner Vorstandsmitglieder bei Kollegialentscheidungen im Aktienrecht, BB 2004, 2645; Fleischer/Bauer, Von Vorstandsbezügen, Flugreisen, Festschriften, Firmensponsoring und Festessen: Vorstandshaftung für übermäßige Vergütung und „fringe benefits“, ZIP 2015, 1901; Fleischer/ Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre Aktiengesetz, 2016; Fleischer/Schmolke, Whistleblowing und Corporate Governance – Zur Hinweisgeberverantwortung von Vorstandsmitgliedern und Wirtschaftsanwälten, WM 2012, 1013; Fleischer/Schmolke, Zum Sondervotum einzelner Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder bei Stellungnahmen nach § 27 WpÜG, DB 2007, 95; Fonk, Zur Vertragsgestaltung bei Vorstandsdoppelmandaten, NZG 2010, 368; Fonk, Zustimmungsvorbehalte des AG-Aufsichtsrats, ZGR 2006, 841; Freund, Brennpunkte der Organhaftung, NZG 2015, 1419; Freund, Risikomanagement für Geschäftsführer und Vorstände, Froesch, Managerhaftung – Risikominimierung durch Delegation? DB 2009, 722; Fuhrmann, Internal Investigations: Was dürfen und müssen die Organe beim Verdacht von Compliance Verstößen tun?, NZG 2016, 881; Goette, Gesellschaftsrechtliche Grundfragen im Spiegel der Rechtsprechung, ZGR 2008, 436; Goette, Leitung, Aufsicht, Haftung – zur Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung einer modernen Unternehmensführung, in: Festschrift 50 Jahre BGH, 2000, 123; Goette, Managerhaftung: Handeln auf Grundlage angemessener Information, DStR 2014, 1776; Goette, Organisationspflichten in Kapitalgesellschaften zwischen Rechtspflicht und Opportunität, ZHR 175 (2011), 388; Goslar, Anmerkung zum Urteil des LG München I vom 5.4.2012, Az. 5 HK O 20488/11 – Zur Selbstbindung des Vorstands, EWiR 2013, 193; Götz, Corporate Governance multinationaler Konzerne und deutsches Unternehmensrecht, ZGR 2003, 1; Götz, Die Überwachung der Aktiengesellschaft im Lichte jüngerer Unternehmenskrisen, AG 1995, 337; Götz, Gesamtverantwortung des Vorstands bei vorschriftswidriger Unterbesetzung, ZIP 2002, 1745; Götz/Friese, Empirische Analyse der Vorstandsvergütung im DAX und MDAX nach Einführung des Vorstandsvergütungsangemessenheitsgesetzes, CFB 2010, 410; Gottschalk/Ulmer, Garantien der Aktiengesellschaft bei einer Kapitalerhöhung, DStR 2021, 1173; Grigoleit, Zivilrechtliche Grundlagen der Wissenszurechnung, ZHR 181 (2017), 160; Groh, Shareholder Value und Aktienrecht, DB 2000, 2153; Groß, Geschlechter- und Frauenquote für Vorstand und Aufsichtsrat nach dem FüPoG II – Ab wann anzuwenden und ab wann berichtspflichtig?, AG 2021, 693; Grunewald, Die Auslegung von Gesellschaftsverträgen und Satzungen, ZGR 1995, 68; Grunewald, Interne Aufklärungspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 2013, 841; Grützner/Leisch, §§ 130, 30 OWiG – Probleme für Unternehmen, Geschäftsleitung

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands und Compliance-Organisation, DB 2012, 787; Habersack, Die Legalitätspflicht des Vorstands der AG, in: Festschrift U.H. Schneider, 2011, 429; Habersack, Gesteigerte Überwachungspflichten des Leiters eines sachnahen Vorstandsressorts? WM 2005, 2360; Habersack, Grund und Grenzen der Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats der AG, AG 2014, 1; Habersack, Perspektiven der aktienrechtlichen Organhaftung, ZHR 177 (2013), 782; Habersack, „Superdividenden“, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, 523; Habersack, Zur Aufklärung gesellschaftsinternen Fehlverhaltens durch den Aufsichtsrat der AG, in: Festschrift Stilz, 2014, 191; Harbarth, Anforderungen an die Compliance-Organisation in börsennotierten Unternehmen, ZHR 179 (2015), 136; Hauschka, Compliance, Compliance-Manager, Compliance-Programme – Eine geeignete Reaktion auf gestiegene Haftungsrisiken für Unternehmen und Management?, NJW 2004, 257; Hauschka, Corporate Compliance – Unternehmensorganisatorische Ansätze zur Erfüllung der Pflichten von Vorständen und Geschäftsführern, AG 2004, 461; Hauschka/Galster/Marschlich, Leitlinien für die Tätigkeit in der Compliance-Funktion im Unternehmen (für Compliance Officer außerhalb regulierter Sektoren), CCZ 2014, 242; Hauschka/Greve, Compliance in der Korruptionsprävention – was müssen, was sollen, was können die Unternehmen tun?, BB 2007, 165; Hegnon, Aufsicht als Leitungspflicht – Umfang persönlich wahrzunehmender Aufsichtspflichten von Geschäftsleitern bei vertikaler Arbeitsteilung aus gesellschafts- und strafrechtlicher Sicht, CCZ 2009, 57; Heidbüchel, Das Aufsichtsratsmitglied als Vorstandsvertreter – Voraussetzungen und Risiken der Bestellung eines Interimsvorstands, WM 2004, 1317; v. Hein, Vom Vorstandsvorsitzenden zum CEO? ZHR 166 (2002), 464; Hemeling, Gesellschaftsrechtliche Fragen der Due Diligence beim Unternehmenskauf, ZHR 169 (2005), 274; Henze, Leitungsverantwortung des Vorstands – Überwachungspflicht des Aufsichtsrats, BB 2000, 209; Henze, Sachsenmilch: Ordnungsgemäße Besetzung eines nach zwingender gesetzlicher Vorgabe zweigliedrigen Vorstands bei Wegfall eines Mitglieds, BB 2002, 847; Heutz, Zur Pflicht der Gesellschaft zur Übernahme von Rechtsverteidigungskosten im Zusammenhang mit ComplianceVerstößen ihrer Geschäftsführer, DB 2012, 902; Hippeli/Diesing, Business Combination Agreements bei M&A-Transaktionen, AG 2015, 185; Hirt/Hopt/Mattheus, Dialog zwischen dem Aufsichtsrat und Investoren – Rechtsvergleichende und rechtsdogmatische Überlegungen zur Investorenkommunikation in Deutschland, AG 2016, 725; Hoenig/ Klingen, Grenzen der Wissenszurechnung beim Unternehmenskauf, NZG 2013, 1046; Hoffmann/Schieffer, Pflichten des Vorstands bei der Ausgestaltung einer ordnungsgemäßen Compliance-Organisation, NZG 2017, 401; Hoffmann-Becking, Haftungsbeschränkung durch Geschäftsverteilung in Geschäftsführung und Vorstand, NZG 2021, 93; Hoffmann-Becking, Vorstands-Doppelmandate im Konzern, ZHR 150 (1986), 570; Hoffmann-Becking, Vorstandsvorsitzender oder CEO? NZG 2003, 745; HoffmannBecking, Zur rechtlichen Organisation der Zusammenarbeit im Vorstand der AG, ZGR 1998, 497; Holzmeier/Burth/Hachmeister, Die nichtfinanzielle Konzernberichterstattung nach dem CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, IRZ 2017, 215; Hommelhoff, Konzernleitungspflicht, 1982; Hopt, ECLR Interessenwahrung und Interessenkonflikte im Aktien-, Bank- und Berufsrecht, ZGR 2004, 1; Hopt/Kumpan, Governance in börsennotierten und anderen bedeutenden Aktiengesellschaften – Vorstand und Aufsichtsrat auf dem Prüfstand nach dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG), AG 2021, 129; Horn, 11. Österberg-Seminar zu aktuellen Fragen des Wirtschaftsrechts, NZG 2020, 252; Hüffer, Das Leitungsermessen des Vorstands in der Aktiengesellschaft, in: Festschrift Raiser, 2005, 163; Hüffer, Die leitungsbezogene Verantwortung des Aufsichtsrats, NZG 2007, 47; Hüffer, Die Leitungsverantwortung des Vorstands in der Managementholding, Liber Amicorum Happ, 2006; Hugger, Unternehmensinterne Untersuchungen – Erfahrungen und Standards der Praxis, ZHR 179 (2015), 214; Ihrig, Wissenszurechnung im Kapitalmarktrecht – untersucht anhand der Pflicht zur Ad-hoc-Publizität gemäß Art. 17 MAR, ZHR 181 (2017), 381; Illert/Schneider, ESG-relevante Themen für den Vorstand einer börsennotierten AG, DB 2021, Beil. Nr. 2 zu Heft 20, 27; Jacobi/Hangarter, Der neue gesetzliche Anspruch auf eine Mandatspause für Organmitglieder – Eine Synopse von alter und neuer Rechtslage, ArbRB 2021, 311; Jansen, Publizitätsverweigerung deut-

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands scher GmbH und ihre Sanktionen im Lichte des KapCoRiLiG, DStR 1999, 1490; JohannsenRoth/Kießling, Einfluss von ESG-Faktoren auf die Vorstandsvergütung, DB 2021, Beil. Nr. 2 zu Heft 20, 31; Jooß, Die Drittanstellung des Vorstandsmitglieds einer AG, NZG 2011, 1130; Kajüter, Die nichtfinanzielle Erklärung nach dem Regierungsentwurf zum CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, IRZ 2016, 507; Kalss/Fleischer, Neues zur Lockerung der Satzungsstrenge bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften, AG 2013, 693; Kiefner, Beteiligungserwerb und ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit, ZIP 2011, 545; Kiefner, Investorenvereinbarungen zwischen Aktien- und Vertragsrecht – Zur Stellung des Eigenkapitalinvestors als hybridem Wesen, ZHR 178 (2014), 547; Kiem, Investorenvereinbarung im Lichte des Aktien- und Übernahmerechts, AG 2009, 301; Kiethe, Vorstandhaftung aufgrund fehlerhafter Due Diligence beim Unternehmenskauf, NZG 1999, 976; Kindler, Pflichtverletzung und Schaden bei der Vorstandshaftung wegen unzureichender Compliance, in: Festschrift Roth, 2011, 367; Klahold/Kremer, ComplianceProgramm in Industriekonzernen, ZGR 2010, 113; Kleinmanns, Shareholder Activism – bedeutender Einfluss institutioneller Investoren auch in Deutschland?, IRZ 2016, 341; Klöhn, Interessenkonflikt zwischen Aktionären und Gläubigern der Aktiengesellschaft im Spiegel der Vorstandspflichten, ZGR 2008, 110; Klöhn/Schmolke, Unternehmensreputation (Corporate Reputation), NZG 2015, 689; Koch, Begriff und Rechtsfolgen von Interessenkonflikten und Unabhängigkeit im Aktienrecht, ZGR 2014, 697; Koch, Compliance-Pflichten im Unternehmensverbund?, WM 2009, 1013; Koch, Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), ZGR 2006, 769; Koch, Der Vorstand im Kompetenzgefüge der Aktiengesellschaft, ZGR Sonderheft 19, 65; Koch, Die Überwachung des Aufsichtsrats durch den Vorstand, ZHR 180 (2016), 578; Koch, Wissenszurechnung aus dem Aufsichtsrat, ZIP 2015, 1757; Kocher, Einschränkungen des Anspruchs auf gleiche Information für alle Aktionäre – Keine Angst vor § 131 Abs. 4 AktG?, Der Konzern 2008, 611; Kocher, Ungeklärte Fragen der Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289a HGB, DStR 2010, 1034; Kocher, Zur Reichweite der Business Judgment Rule, CCZ 2009, 215; König, Business Combination Agreements in der Rechtsprechung im Fall W.E.T., NZG 2013, 452; Koppensteiner, GmbHrechtliche Probleme des Management Buy-Out, ZHR 155 (1991), 97; Kort, CompliancePflichten von Vorstandsmitgliedern und Aufsichtsratsmitgliedern, in: Festschrift Hopt, Band I, 2010, 983; Kort, Die Außenhaftung des Vorstands bei der Abgabe von Erklärungen nach § 161 AktG, in: Festschrift Raiser, 2005, 203; Kort, Die Bedeutung von Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck einer AG bei Auslagerung von Geschäftsbereichen auf gemeinnützige Gesellschaften, NZG 2011, 929; Kort, Interessenkonflikte bei Organmitgliedern der AG, ZIP 2008, 717; Kort, Vorstandshandeln im Spannungsverhältnis zwischen Unternehmensinteresse und Aktionärsinteressen, AG 2012, 605; Krause, Business Combination Agreements im Spiegel der Rechtsprechung, CFL 2013, 192; Krause, „Nützliche“ Rechtsverstöße im Unternehmen – Verteilung finanzieller Lasten und Sanktionen, Special 8 zu BB 2007, 2; Krempl, Managerhaftung bei M&A-Transaktionen, M&A Review 2016, 386; Krieger, Interim Manager im Vorstand der AG, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, 711; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, Diss. 1981; Krieger, Zahlungen der Aktiengesellschaft im Strafverfahren gegen Vorstandsmitglieder, in: Festschrift Bezzenberger, 2000, 211; Kropff, Aktiengesetz, 1965; Kruchen, Risikoabsicherung aktienbasieter Vergütungen mit eigenen Aktien, AG 2014, 655; Kuhner, Unternehmensinteresse vs. Shareholder Value als Leitmaxime kapitalmarktorientierter Aktiengesellschaften, ZGR 2004, 244; Kuthe/Geiser, Die neue Corporate Governance Erklärung – Neuerung des BilMoG in § 289a HGB-RE, NZG 2008, 172; Lanfermann, Prüfung der CSR-Berichterstattung durch den Aufsichtsrat, BB 2017, 747; Lang/Balzer, Handeln auf angemessener Informationsgrundlage – zum Haftungsregime von Vorstand und Aufsichtsrat von Kreditinstituten, WM 2012, 1167; Langenbucher, Rechtsermittlungspflichten und Rechtsbefolgungspflichten des Vorstands – Ein Beitrag zur aktienrechtlichen Legalitätspflicht, in: Festschrift Lwowski, 2014, 333; Langenbucher, Vorstandshandeln und Kontrolle – Zu einigen Neuerungen durch das UMAG, DStR 2005, 2083; Langer/Peters, Rechtliche Möglichkeiten einer unterschiedlichen Kompetenzzuwei-

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands sung an einzelne Vorstandsmitglieder, BB 2012, 2575; Lembke, Nachvertragliche Wettbewerbsverbote in der Praxis, BB 2020, 52; Leuering/Rubner, Die Amtsniederlegung durch ein Vorstandsmitglied, NJW-Spezial 2019, 719; Liebscher, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Lichte von Holzmüller, Macrotron und Gelatine, ZGR 2005, 1; Liese/Theusinger, Zur Frage der Geschäftsführerhaftung aufgrund einer Fehlinvestition, BB 2007, 71; Löbbe/Fischbach, Die Business Judgment Rule bei Kollegialentscheidungen des Vorstands, AG 2014, 717; Lüneborg/Resch, Die Ersatzfähigkeit von Kosten interner Ermittlungen und sonstiger Rechtsberatung im Rahmen der Organhaftung, NZG 2018, 209; Lutter, Bankenkrise und Organhaftung, ZIP 2009, 197; Lutter, Die Business Judgment Rule und ihre praktische Anwendung, ZIP 2007, 841; Lutter, Due diligence des Erwerbers beim Kauf einer Beteiligung, ZIP 1997, 613; Lutter, Interessenkonflikte und Business Judgment Rule, in: Festschrift Canaris II, 2007, 245; Lutter, Konzernphilosophie vs. Konzernweite Compliance und konzernweites Risikomanagement, in: Festschrift Goette, 2011, 289; Lutter, Stand und Entwicklung des Konzernrechts in Europa, ZGR 1987, 324; Lutter, Verhaltenspflichten von Organmitgliedern bei Interessenkonflikten, in: Festschrift Priester, 2007, 417; Lutter, Zur Vorbereitung und Durchführung von Grundlagenbeschlüssen in Aktiengesellschaften, in: Festschrift Fleck, 1988, 169; MeehBunse/Hermeling/Schomaker, Aktuelle Aspekte zum Inkrafttreten der CSR-Richtlinie in Deutschland – Die nichtfinanzielle Erklärung ist ab 2017 Pflicht, DStR 2017, 1127; Mertens, Zur Auslegung und zum Verhältnis von § 76 Abs. 1 und § 58 AktG im Hinblick auf uneigennützige soziale Aktivitäten der Aktiengesellschaft, in: Festschrift Goerdeler, 1987, 349; Meyer, Die Besicherung der Akquisitionsfinanzierung beim Leveraged BuyOut einer GmbH, Diss. 2010; Mock, Berichterstattung über Corporate Social Responsibility nach dem CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, ZIP 2017, 1195; Mohr, Die Auswirkungen des arbeitsrechtlichen Verbots von Altersdiskriminierungen auf Gesellschaftsorgane, ZHR 178 (2014), 326; Mülbert, Marktwertmaximierung als Unternehmensziel der Aktiengesellschaft, in: Festschrift Röhricht, 2005, 421; Mülbert, Soziale Verantwortung von Unternehmen im Gesellschaftsrecht, AG 2009, 766; Mülbert/Sajnovits, Der Aufschub der Ad-hoc-Publizitätspflicht bei Internal Investigations – Teil I –, WM 2017, 2001; Mülbert/Sajnovits, Der Aufschub der Ad-hoc-Publizitätspflicht bei Internal Investigations – Teil II –, WM 2017, 2041; Müller, Die Änderung von Jahresabschlüssen. Möglichkeit und Grenzen, in: Festschrift Quack, 1991, 359; Müller, Gestattung der Due Diligence durch den Vorstand der Aktiengesellschaft, NJW 2000, 3452; Müller-Michaels/Ringel, Muss sich Ethik lohnen? Wider die ökonomistische Rechtfertigung von Corporate Social Responsibility, AG 2011, 101; Naraschewski/Schmidt, Werte, Wirtschaft, Recht – 5. Praktikerseminar auf dem Österberg am 11.10.2013, NZG 2014, 295; Nauheim/Goette, Managerhaftung im Zusammenhang mit Unternehmenskäufen, DStR 2013, 2520; Nietsch, Compliance-Risikomanagement als Aufgabe der Unternehmensleitung, ZHR 180 (2016), 733; Nietsch, Nachhaltigkeitsberichterstattung im Unternehmensbereich ante portas – der Regierungsentwurf des CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes, NZG 2016, 1330; Nietsch, Überwachungspflichten bei Kollegialorganen – Die Selbstorganisation des Vorstands im Schnittfeld zwischen Corporate Governance und Compliance, ZIP 2013, 1449; Noack, Organisationspflichten und -strukturen kraft Digitalisierung, ZHR 183 (2019), 105; Nodoushani, Die neue BGH-Rechtsprechung zum Verbot der Einlagenrückgewähr, NZG 2013, 687; Orth/Oser/Philippsen/Sultana, ARUG II: Zum neuen aktienrechtlichen Vergütungsbericht und sonstigen Änderungen im HGB – Erstellung, Prüfung und Offenlegung des Vergütungsberichts –, DB 2019, 2814; Ott/Lüneborg, Internal Investigations in der Praxis – Umfang und Grenzen der Aufklärungspflicht, Mindestaufgriffsschwelle und Verdachtsmanagement, CCZ 2019, 71; Otto, Obligatorische Bindungsverträge zwischen Aktionär und AG-Vorstand über die Ausübung von Mitgliedschaftsrechten und Organkompetenzen, NZG 2013, 930; Overlack, Der Einfluß der Gesellschafter auf die Geschäftsführung in der mitbestimmten GmbH, ZHR 141 (1977), 125; Paefgen, Organhaftung: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven, AG 2014, 554; Paul, Anmerkung zum Urteil des OLG Zweibrücken vom 3.2.2011 – 4 U 76/10 – Zur vorzeitigen Wiederbestellung eines Vorstandsmitglieds, EWiR 2011, 297; Paschos, Die Zulässigkeit von Ver-

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands einbarungen über künftige Leitungsmaßnahmen des Vorstands, NZG 2012, 1142; Paschos/ von der Linden, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern, AG 2012, 736; Passarge, Vorstands-Doppelmandate – ein nach wie vor aktuelles Thema!, NZG 2007, 441; Poelzig/Thole, Kollidierende Geschäftsleiterpflichten, ZGR 2010, 836; Preußner/ Zimmermann, Risikomanagement als Gesamtaufgabe des Vorstandes, AG 2002, 657; Priester, Aktionärsentscheid zum Unternehmenserwerb, AG 2011, 654; Priester, Aufstellung und Festsetzung des Jahresabschlusses bei unterbesetztem Vorstand, in: Festschrift Kropff, 1997, 591; Priester, Satzungsvorgaben zum Vorstandshandeln – Satzungsautonomie contra Leitungsautonomie, in: Festschrift Hüffer, 2010, 777; Priester, Stichentscheid bei zweiköpfigem Vorstand, AG 1984, 253; Priester, Vertragliche Beschränkungen der Leitungsmacht des Vorstands, AG 2021, 15; Reichert, Business Combination Agreements, ZGR 2015, 1; Reichert, Corporate Compliance und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, 943; Reichert/Ott, Die Zuständigkeit von Vorstand und Aufsichtsrat zur Aufklärung von Non Compliance in der AG, NZG 2014, 241; Reichert/Ott, Investorenvereinbarung mit der Zielgesellschaft – Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme der Gesellschaftsorgane, in: Festschrift Goette, 2011, 397; Reichert/Ott, Non Compliance in der AG – Vorstandspflichten im Zusammenhang mit der Vermeidung, Aufklärung und Sanktionierung von Rechtsverstößen, ZIP 2009, 2173; Rieder/Schütze/Weipert, Münchener Vertragshandbuch, Band 2. Wirtschaftsrecht I, 8. Aufl., 2020; Rieger, Gesetzeswortlaut und Rechtswirklichkeit im Aktiengesetz, in: Festschrift Peltzer, 2001, 339; Rieger/Rothenfußer, Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat bei wesentlichen Unternehmensentscheidungen, NZG 2014, 1012; Riegger, Der Stichentscheid im zweigliedrigen Vorstand einer Aktiengesellschaft, BB 1972, 592; Rimmelspacher/Roland, Der Vergütungsbericht nach ARUG II, WPg 2020, 201; Robles y Zepf, Praxisrelevante Probleme der Mehrvertretung bei der GmbH und der Aktiengesellschaft gem. § 181 2. Alt. BGB, BB 2012, 1876; Roschmann/Frey, Geheimhaltungsverpflichtungen der Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften bei Unternehmenskäufen, AG 1996, 449; Roth-Mingram, Corporate Social Responsibility (CSR) durch eine Ausweitung der nichtfinanziellen Informationen von Unternehmen, NZG 2015, 1341; Säcker, Die Geschäftsordnung für das zur gesetzlichen Vertretung eines mitbestimmten Unternehmens befugte Organ, DB 1977, 1993; Säcker, Unternehmensgegenstand und Unternehmensinteresse, in: Festschrift Lukes, 1989, 547; Schäfer, Die Binnenhaftung von Vorstand und Aufsichtsrat nach der Renovierung durch das UMAG, ZIP 2005, 1253; Schäfer, Gesellschaftsrechtliche Implikationen bei der Durchsetzung einer menschenrechtskonformen Geschäftspolitik im Konzern, in: Festschrift Hopt, 2010, 1297; Schäfer, Interessenkonflikte und Unabhängigkeit im Recht der GmbH und der Personengesellschaften, ZGR 2014, 731; Schiessl, Gesellschafts- und mitbestimmungsrechtliche Probleme der Spartenorganisation (Divisionalisierung), ZGR 1992, 64; Schiffer/Bruß, Due Diligence beim Unternehmenskauf und vertragliche Vertraulichkeitsvereinbarungen, BB 2012, 847; Schiffer/Mayer, Sorgfaltspflichten des Verkäufers und des Käufers beim Unternehmenskauf: die neue Rechtsprechung, BB 2016, 2627; Schmidt/Strenger, ZG-SERIE CSR: Die neuen nichtfinanziellen Berichtspflichten – Erfahrungen mit der Umsetzung aus Sicht institutioneller Investoren, NZG 2019, 419; Schmitz-Remberg, Existenzgefährdende Maßnahmen im Lichte der Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, BB 2014, 2701; S.H. Schneider, Unternehmerische Entscheidungen als Anwendungsvoraussetzung für die Business Judgement Rule, DB 2005, 707; U.H. Schneider, Compliance als Aufgabe der Unternehmensleitung, ZIP 2003, 645; U.H. Schneider, Die Haftung von Mitgliedern des Vorstands und der Geschäftsführer bei Vertragsverletzungen der Gesellschaft, in: Festschrift Hüffer, 2010, 905; U.H. Schneider, Die nachwirkenden Pflichten des ausgeschiedenen Geschäftsführers, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, 1023; U.H. Schneider, Die Wahrnehmung öffentlich-rechtlicher Pflichten durch den Geschäftsführer, in: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, 1992, 473; U.H. Schneider, Gemeinsame Sitzungen und gemeinsame Beschlussfassung von Aufsichtsräten im Konzern? in: Festschrift Konzen, 2006, 881; U.H. Schneider, Interessenkonflikte im Aufsichtsrat, in: Festschrift Goette, 2011, 475; U.H. Schneider/Anzinger, Institutionelle Stimmrechtsberatung und Stimm-

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands rechtsvertretung – „A quiet gurus enormous clout“, NZG 2007, 88; U.H. Schneider/S.H. Schneider, Konzern-Compliance als Aufgabe der Konzernleitung, ZIP 2007, 2061; Schnitker/Grau, Aufsichtsratsneuwahlen und Ersatzbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern im Wechsel des Mitbestimmungsmodells, NZG 2007, 486; Schnorbus/Ganzer, Gemeinsame Sitzungen von Aufsichtsorganen innerhalb eines Konzerns, AG 2013, 445; Schnorbus/Ganzer, Recht und Praxis der Prüfung und Verfolgung von Vorstandsfehlverhalten durch den Aufsichtsrat – Teil I, WM 2015, 1832; Schnorbus/Ganzer, Recht und Praxis der Prüfung und Verfolgung von Vorstandsfehlverhalten durch den Aufsichtsrat – Teil II –, WM 2015, 1877; Schnorr, Geschäftsleiterhaftung für fehlerhafte Buchführung, ZHR 170 (2006), 9; Schockenhoff, Die Auslegung von GmbH- und AG-Satzungen, ZGR 2013, 76; Schockenhoff, Geheimhaltung von Compliance-Verstößen, NZG 2015, 409; Schockenhoff/Culmann, Shareholder Activism in Deutschland, ZIP 2015, 297; Schön, Vorstandspflichten und Steuerplanung, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, 1085; Schulze, Vermeidung von Haftung und Straftaten auf Führungsebene durch Delegation, NJW 2014, 3484; Schwark, Spartenorganisation in Großunternehmen und Unternehmensrecht, ZHR 142 (1978), 203; Schwark, Virtuelle Holding und Bereichsvorstände – eine aktien- und konzernrechtliche Beratung, in: Festschrift Ulmer, 2003, 605; Schwarz, Die Gesamtvertreterermächtigung – Ein zivil- und gesellschaftsrechtliches Rechtsinstitut, NZG 2001, 529; Schwarz, Im Fadenkreuz der Regulatoren – worauf strategische und Private-Equity-Investoren bei M&A-Transaktionen achten müssen, BB 2012, 136; Schwarz, Rechtsfragen der Vorstandsermächtigung nach § 78 Abs. 4 AktG, ZGR 2001, 744; Seibert, Corporate Governance: The Next Phase – Die Corporate GovernanceDebatte schreitet weiter zu den Pflichten der Eigentümer und ihrer Helfer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, 1101; Seibt, Corporate Reputation Management: Rechtsrahmen für Geschäftsleiterhandeln, DB 2015, 171; Seibt, Dekonstruktion des Delegationsverbots bei der Unternehmensleitung, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, 1463; Seibt, Interessenkonflikte im Aufsichtsrat, in: Festschrift Hopt, 2010, 1363; Seibt, Pflichten der Geschäftsleitung bei Eingehung von Finanzierungsgeschäften – in Normal- und Krisenzeiten des Unternehmens, ZIP 2013, 1597; Seibt/Cziupka, 20 Thesen zur Compliance-Verantwortung im System der Organhaftung aus Anlass des Siemens/NeubürgerUrteils, DB 2014, 1598; Seibt/Cziupka, Rechtspflichten und Best Practices für Vorstands- und Aufsichtsratshandeln bei der Kapitalmarktrecht-Compliance, AG 2015, 93; Seibt/Wollenschläger, Trennungs-Matrixstrukturen im Konzern, AG 2013, 229; Seibt/ Wunsch, Investorenvereinbarungen bei öffentlichen Übernahmen, Der Konzern 2009, 195; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 1996; Semler, Rechtsfragen der divisionalen Organisationsstruktur in der unabhängigen Aktiengesellschaft, in: Festschrift Döllerer, 1988, 571; Semler, Rechtsvorgabe und Realität der Organzusammenarbeit in der Aktiengesellschaft, in: Festschrift Lutter, 2000, 721; Semler/ Stengel, Interessenkonflikte bei Aufsichtsratsmitgliedern von Aktiengesellschaften am Beispiel von Konflikten bei Übernahme, NZG 2003, 1; Sieger/Hasselbach, Break FeeVereinbarung bei Unternehmenskäufen, BB 2000, 625; Simon, Organisationsverantwortung der Geschäftsleiter, Der Konzern 2015, 205; Simons/Hanloser, Vorstandsvorsitzender und Vorstandssprecher, AG 2010, 641; Simon/Merkelbach, Organisationspflichten des Vostands betreffend das Compliance-System – Der Neubürger-Fall, AG 2014, 318; Spindler, Corporate Social Responsibility in der AG – Mythos oder Realität? in: Festschrift Hommelhoff, 2012, 1133; Spindler, Die Einführung der Geschlechterquote auf Vorstandsebene – das FüPoG II, WM 2021, 817; Spindler, Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für fehlerhafte Auslegung von Rechtsbegriffen, in: Festschrift Canaris II, 2007, 403; Spindler, Konzernbezogene Anstellungsverträge und Vergütungen von Organmitgliedern, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, 1529; Spindler, Prognosen im Gesellschaftsrecht, AG 2006, 677; Sörgel/Müller, GmbH-Geschäftsführer – Zehn Haftungsfallen bei M&A-Transaktionen, M&A Review 2015, 128; Spindler, Regeln für börsennotierte vs Regeln für geschlossene Gesellschaften – Vollendung des Begonnenen? AG 2008, 598; Strohn, Beratung der Geschäftsleitung durch Spezialisten als Ausweg aus der Haftung? ZHR 176 (2012), 137; Strohn, Pflichtenmaßstab und Verschulden bei der Haftung

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands von Organen einer Kapitalgesellschaft, CCZ 2013, 177; Suttmann, Insichgeschäfte im Gesellschaftsrecht, MittBayNot 2011, 1; Thelen, Beteiligungsverträge in der notariellen Praxis, RNotZ 2020, 121; Theusinger/Liese, Besteht eine Rechtspflicht zur Dokumentation von Risikoüberwachungssystemen i. S. des § 91 II 1 AktG?, NZG 2008, 289; Theusinger/ Liese, Rechtliche Risiken der Corporate Governance-Erklärung, DB 2008, 1419; Thole, Managerhaftung für Gesetzesverstöße, ZHR 173 (2009), 504; Thum/Klofat, Der ungetreue Aufsichtsrat – Handlungsmöglichkeiten des Vorstands bei Pflichtverletzungen des Aufsichtsrats, NZG 2010, 1087; Tielmann/Struck, Handlungspflichten einer börsennotierten Aktiengesellschaft bei Verurteilung eines Aufsichtsratsmitglieds wegen eines (privaten) Steuerstrafdelikts?, DStR 2013, 1191; Turiaux/Knigge Vorstandshaftung ohne Grenzen? – Rechtssichere Vorstands- und Unternehmensorganisation als Instrument der Risikominimierung, DB 2004, 2199; Ulmer, Aktienrecht im Wandel – Entwicklungslinien und Diskussionsschwerpunkte, AcP 202 (2002), 143; Unmuth, Anwesenheitspflicht der Organmitglieder in der Hauptversammlung, NZG 2020, 448; Urban, Organhaftung begrenzen? Möglichkeiten der Pflichtendelegation, GWR 2013, 106; Velte, Prüfung der nichtfinanziellen Erklärung nach dem CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz – Neue Erwartungslücke beim Aufsichtsrat?, IRZ 2017, 325; Verse, Compliance im Konzern – Zur Legalitätskontrollpflicht der Geschäftsleiter einer Konzernobergesellschaft, ZHR 175 (2011), 401; Verse, Doppelmandate und Wissenszurechnung im Konzern, AG 2015, 413; Verse, Organhaftung bei unklarer Rechtslage – Raum für eine Legal Judgment Rule?, ZGR 2017, 174; E. Vetter, Deutscher Corporate Governance Kodex, DNotZ 2003, 748; E. Vetter, Die Verantwortung und die Haftung des überstimmten Aufsichtsratsmitglieds, DB 2004, 2623; E. Vetter, Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern und aktienrechtliche Kompetenzordnung, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, 1297; Wachter, Leitlinien der Kapitalaufbringung in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, DStR 2010, 1240; Wagner, „Internal Investigations” und ihre Verankerung im Recht der AG, CCZ 2009, 8; Walden, Corporate Social Responsibility: Rechte, Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 2020, 50; Wansleben, Negative schuldrechtliche Verpflichtungen einer Aktiengesellschaft durch ihren Vorstand über Kapitalmaßnahmen, Der Konzern 2014, 29; Weber, Transaktionsboni für Vorstandsmitglieder: Zwischen Gewinnchance und Interessenkonflikt, Diss. 2006; Weber/Kiefner/Jobst, Künstliche Intelligenz und Unternehmensführung, NZG 2018, 1131; Werner, Die Pflicht der GmbH zur Übernahme von Kosten in Zusammenhang mit Strafverfahren gegen ihre Geschäftsführer, GmbHR 2012, 1107; Werner, Haftungsrisiken bei Unternehmensakquisitionen: die Pflicht des Vorstands zur Due Diligence, ZIP 2000, 989; Werner, Koppelungsklauseln in Geschäftsführerdienstverträgen und ihre Kontrolle durch das AGB-Recht, NZA 2020, 1444; Westermann, Gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmens als Gesellschaftsrechtsproblem, ZIP 1990, 771; v. Westphalen, Koppelungsklauseln in Geschäftsführerund Vorstandsverträgen – das scharfe Schwert von § 307 BGB, BB 2015, 834; Wettner/ Mann, Informationsrechte und Informationspflichten bei internen Untersuchungen, DStR 2014, 655; Wicke, Der CEO im Spannungsverhältnis zum Kollegialprinzip – Gestaltungsüberlegungen zur Leitungsstruktur der AG, NJW 2007, 3755; Wiedemann, Gesellschaftsrecht: Ein Lehrbuch des Unternehmens- und Verbandsrechts, Band 1: Grundlagen, 1980; Wiedemann, Verantwortung in der Gesellschaft – Gedanken zur Haftung der Geschäftsleiter und der Gesellschafter in der Kapitalgesellschaft, ZGR 2011, 183; Wilsing, Corporate Governance in Deutschland und Europa, ZGR 2012, 291; Wilsing, Der Vergleich über Organhaftungsansprüche – Überlegungen zum materiellen Prüfungsmaßstab des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, in: Festschrift Haarmann, 2015, 257; Wilsing/Kleemann, Anmerkung zum BGH-Urteil vom 26.4.2015 (XI ZR 108/15) – Zur Frage, ob einer Gesellschaft das Wissen ihres Prokuristen zuzurechnen ist, das dieser im Rahmen seiner Aufsichtsratstätigkeit für eine andere Gesellschaft erlangt hat, BB 2016, 1425; Wilsing/ von der Linden, Selbstbefreiung des Aufsichtsrats vom Gebot der Gremienvertraulichkeit, ZHR 178 (2014), 419; Wilsing/Meyer, Aktuelle Entwicklungen bei der Organberatung – Zur wachsenden Bedeutung des AGG und der AGB-Kontrolle im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Leitungsorganen kapitalistischer Körperschaften –, DB 2011, 341;

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Illert/Meyer/Sappa

A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung Wilsing/Meyer, Anmerkung zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 3.2.2011, 4 U 76/10, GWR 2011, 182; Wilsing/Meyer, Diskriminierungsschutz für Geschäftsführer, NJW 2012, 3211; Wilsing/Meyer, Impulse aus Brüssel – Eine Bestandsaufnahme aktueller Einflüsse europäischer Regulierung auf das Recht der Hauptversammlung, KSzW 2014, 85; Wilsing/Meyer, Keine Nichtigkeit von Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft bei Verstoß gegen Einlagenrückgewährverbot, EWiR 2013, 297; Winter, Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“, in: Festschrift Hüffer, 2010, 1103; Wirth, Vorstands-Doppelmandate im faktischen Konzern, in: Festschrift Bauer, 2010, 1147; Wisskirchen/Glaser, Unternehmensinterne Untersuchungen, DB 2011, 1392; Wittkowski, Haftung und Haftungsvermeidung beim Management BuyOut einer GmbH, GmbHR 1990, 544; Zenner, Die Anwendung der Business Judgement Rule im Rahmen der vertikalen Delegation, AG 2021, 502; Zeyher/Mader, Organverantwortung und Zivilprozess, ZHR 185 (2021), 125; Ziemons, Die Weitergabe von Unternehmensinterna an Dritte durch den Vorstand einer Aktiengesellschaft, AG 1999, 492; Zöllner, Unternehmensinnenrecht: Gibt es das? AG 2003, 2.

Der Vorstand leitet die AG und führt ihre Geschäfte (§§ 76 Abs. 1, 77 AktG). 1 Sowohl die grundsätzliche Ausrichtung des Unternehmens als auch das operative Tagesgeschäft liegen damit überwiegend in seiner Hand. Er wird vom Aufsichtsrat kontrolliert, der insbesondere die Geschäftsführung des Vorstands überwacht (Æ § 3 Rz. 97 ff.). Diese Trennung von Geschäftsführung und Überwachung ist Ausdruck des sog. dualistischen Systems, welches dem AktG zugrunde liegt. Gemeinsam bilden Vorstand und Aufsichtsrat die Verwaltung der Gesellschaft. Komplettiert wird das Organisationsgefüge der AG durch die Hauptversammlung. Sie ist das Organ zur Willensbildung der Aktionäre als den Eigentümern der Gesellschaft. Die Hauptversammlung beschließt nur in ausgewählten, besonders wichtigen Angelegenheiten der Gesellschaft (vgl. § 119 AktG; Æ Rz. 380), ist jedoch zur Umsetzung der eigenen Beschlüsse strukturell nicht in der Lage. Dies ist wiederum regelmäßig Aufgabe des Vorstands (§ 83 Abs. 2 AktG) bzw. in Ausnahmefällen des Aufsichtsrats. A.

Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

I.

Ordnungsrahmen

Illert

Der Vorstand muss im Rahmen seiner Tätigkeit eine Vielzahl verschiedener 2 Vorgaben beachten, die er weitgehend bereits aufgrund seiner Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.) einzuhalten hat. 1.

Gesetz

Wichtigster Bezugspunkt ist das Aktiengesetz. Die darin geregelten Anforde- 3 rungen sind i. d. R. zwingend (Æ Rz. 7). Von ihnen haben vor allem die den Vorstand selbst betreffenden Bestimmungen in §§ 76–94 AktG sowie darüber hinaus verschiedene weitere Themenbereiche praktische Bedeutung. Dies sind z. B. die Vorschriften zu verbundenen Unternehmen (§§ 15 ff. AktG), zu Mitteilungspflichten (§§ 20 f. AktG) zum Verbot der Einlagenrückgewähr (§§ 57, 62 AktG; Æ Rz. 346 ff.), zur Verwendung des Jahresüberschusses, zum JahresIllert

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

abschluss und zum Lagebericht (§§ 58 ff., 150 ff., 172 AktG; Æ Rz. 402 ff.), zum grundsätzlichen Verbot des Erwerbs eigener Aktien (§§ 71 ff. AktG), zu den Maßnahmen der Kapitalbeschaffung (§§ 182 ff. AktG) und Kapitalherabsetzung (§§ 222 ff. AktG), zur Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen (§§ 241 ff. AktG), zum vertraglichen und faktischen Konzern (§§ 291 ff. AktG; Æ § 7 Rz. 28 ff.) sowie zum Ausschluss von Minderheitsaktionären (§§ 327a ff. AktG). Wichtige Grenzen setzen dem Vorstandshandeln außerdem die vom AktG definierten Kompetenzen bzw. die darauf gründenden rechtmäßigen Entscheidungen des Aufsichtsrats (§§ 95 – 116 AktG; Æ Rz. 161 ff. und § 3) und der Hauptversammlung (§§ 119 – 147 AktG; Æ Rz. 166 ff.; 380). 4 Auch außerhalb des AktG bestehen vielfältige gesetzliche Vorgaben für den Vorstand. Dieser hat alle allgemeinen Rechtsquellen in den Bereichen Vertrags- und Prozessrecht (insbesondere BGB und ZPO, z. B. bei Anbahnung von Verträgen stets §§ 134 ff., 164 ff., 280 ff. BGB), Bilanzrecht, Buchführung, Jahresabschluss, Unternehmenspublizität (z. B. nach HGB), Steuern (z. B. AO, KStG; Æ § 14), Arbeits- und Sozialwesen (z. B. BGB, KSchG, SGB I-SGB XII etc.), öffentliches Recht (z. B. GewO, BImschG), Straf- und Ordnungswidrigkeitsrecht (z. B. §§ 263 ff., 399 – 405 AktG, §§ 331 ff. HGB, StGB, OWiG; Æ §§ 19 – 23) usw. zu beachten. Es treten zahlreiche Gesetze und Bestimmungen hinzu, die in besonderen Situationen wie z. B. in Krise und Insolvenz der Gesellschaft (z. B. InsO; Æ § 12), bei Umwandlungsmaßnahmen (z. B. UmwG, UmwStG) oder im Zusammenhang mit wettbewerbs- oder kartellrechtlichen Fragestellungen (Æ § 15), für regulierte Unternehmen (z. B. der Bank- und Versicherungsbranche gemäß KWG und VAG; Æ § 11) sowie für mitbestimmte (MitbestG, DrittelbG etc.) und/oder börsennotierte Gesellschaften i. S. v. § 3 Abs. 2 AktG relevant werden können. Für letztere gelangen nicht nur kapitalmarktrechtliche Sondergesetze (z. B. WpÜG, WpHG, BörsG; Æ § 10), sondern auch innerhalb des AktG besondere Bestimmungen zur Anwendung, durch die gegenüber der nicht börsennotierten AG zumeist höhere Anforderungen aufgestellt werden (siehe z. B. §§ 76 Abs. 4, 87 Abs. 1 Satz 2 und 3, 93 Abs. 6, 161 AktG).1) 5 Das Vorstandshandeln wird nicht nur durch nationales, sondern auch durch internationales Recht bestimmt. Dies versteht sich für unmittelbar anwendbare europarechtliche Vorgaben wie z. B. den AEUV oder Verordnungen wie die MMVO/MAR oder die Abschlussprüferverordnung von selbst. Doch auch aus ausländischen Rechtsordnungen ergeben sich für deutsche AGs häufig verbindliche Normen. Herausgehobene praktische Bedeutung haben insoweit angloamerikanische Anti-Korruptions-Vorschriften mit exterritorialer Reichweite wie z. B. der UK Bribery Act 2010 und der US Foreign Corrupt Practices Act, ___________ 1)

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Einzelaufzählung bei BeckOGK-AktG/Drescher, § 3 Rz. 4 f.

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

die im Fall einer Börsennotierung aber auch schon bei deutlich geringfügigeren Bezügen des Unternehmens zu den betreffenden Rechtsordnungen zur Anwendung gelangen können (z. B. Geschäftstätigkeit in dem betreffenden Land, Handel mit Derivaten, die in dem betreffenden Land gehandelte Finanzinstrumente ersetzen, Kommunikation aus dem betreffenden Land per Telefon, E-Mail etc. oder sogar die bloße Abwicklung eines Geschäfts in US-Dollar).2) 2.

Gesetzesähnliche und gesetzesausfüllende Vorschriften

Für börsennotierte Unternehmen kommt des Weiteren den Börsenordnungen 6 der jeweiligen Börsen und den darin getroffenen Regeln zu Zulassung, Delisting etc. Bedeutung zu.3) Zudem stellt die Regierungskommission DCGK diesen Unternehmen seit dem Jahr 2002 im Rahmen des Deutschen Corporate Governance Kodex Empfehlungen und Anregungen für eine gute Corporate Governance zur Verfügung. Vorstand und Aufsichtsrat sind gemäß § 161 AktG zur jährlichen Abgabe der sog. Entsprechenserklärung (Æ Rz. 417 ff.) verpflichtet, durch die sie über die Befolgung bzw. Nichtbefolgung dieser Empfehlungen Auskunft geben. Weil der Markt Abweichungen von diesen Empfehlungen zumeist ablehnt, besteht praktisch ein hoher Befolgungsdruck dieses Regelwerkes.4) Auch gesetzesausfüllende Vorschriften können vom Vorstand zu beachten sein. Von besonderer praktischer Relevanz sind insbesondere BMF-Rundschreiben zur Verwaltungspraxis in steuerlichen Fragestellungen und BaFin-Rundschreiben zu aufsichtsrechtlichen Fragestellungen für beaufsichtigte Unternehmen. In diesem Zusammenhang sind ferner die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) bzw. die Mindestanforderung an die Compliance-Funktion (MaComp) von Bedeutung, welche die gesetzlichen Anforderungen des KWG aus Sicht der Verwaltungspraxis der BaFin näher spezifizieren. 3.

Satzung

Von den vielfältigen gesellschaftsinternen Rechtsquellen hat vor allem die Sat- 7 zung maßgeblichen Einfluss auf das Vorstandshandeln. Deren Gestaltung und Änderung liegt allein in der Verantwortung der Gründer bzw. Aktionäre (§§ 23, 28, 179 AktG). Ihre Bedeutung wird auch nicht durch den Grundsatz der Satzungsstrenge gemäß § 23 Abs. 5 AktG geschmälert. Danach darf die Satzung grundsätzlich von den Vorschriften des Aktiengesetzes nicht abweichen. Es ___________ 2)

3) 4)

Hierzu z. B. Hauschka/Moosmayer/Lösler/Greeve, § 25 Rz. 80; v. Busekist/Timmerbeil, CCZ 2014, 225 (229); Hauschka/Galster/Marschlich, CCZ 2014, 242 (245); Naraschewski/ Schmidt, NZG 2014, 295 (297 f.); Schwarz, BB 2012, 136 (138, 139 f.). Zu deren Charakter als öffentlich-rechtliche Satzungen siehe Hopt/Kumpan, § 16 BörsG Rz. 1. Zum Ganzen Koch, § 161 Rz. 1 ff.; Wilsing/von der Linden, § 161 AktG Rz. 1 ff.

Illert

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

sind aber Abweichungen bei ausdrücklicher gesetzlicher Gestattung und gesetzesergänzende Bestimmungen zulässig, wenn das Gesetz keine abschließende Regelung enthält. Vor diesem Hintergrund kommen Abweichungen z. B. hinsichtlich der Mehrheiten und weiteren Erfordernissen von Hauptversammlungsbeschlüssen in Betracht.5) Weitergehende Gestaltungsspielräume bestehen hingegen de lege lata selbst für nicht börsennotierte AGs nicht.6) Darüber hinaus schränken regelmäßig Satzungsregelungen (z. B. zu Unternehmensgegenstand, Zustimmungsvorbehalten o. ä.) den Handlungsspielraum des Vorstands ein (Æ Rz. 155 ff., 163). Um sich über die für ihn maßgebliche Rechtslage zu vergewissern, muss der Vorstand deshalb den Inhalt der Satzung der Gesellschaft kennen. 8 Zwingender Satzungsinhalt ist zunächst der Unternehmensgegenstand (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG). Hiermit wird die Art der Tätigkeit beschrieben, die die Gesellschaft zu betreiben beabsichtigt.7) Die Angabe in der Satzung soll Gläubiger wie potentielle Investoren über den Tätigkeitsbereich der AG informieren und eine gegenständliche Beschränkung der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands ermöglichen (Æ Rz. 156 f.).8) Erforderlich ist deshalb eine möglichst genaue Individualisierung der Geschäftsfelder der Gesellschaft, durch welche Außenstehenden der Schwerpunkt der Unternehmenstätigkeit erkennbar wird; offene Formulierungen und Leerformeln sind hingegen zu vermeiden.9) Zu unterscheiden ist der Unternehmensgegenstand von dem nicht zwingend in der Satzung zu regelnden Gesellschaftszweck. Dieser gibt den finalen Sinn der Betätigung der AG an.10) I. d. R. verfolgen AGs (erwerbs-)wirtschaftliche Ziele, so dass bei Fehlen einer entsprechenden Satzungsregelung die Gewinnerzielung als Gesellschaftszweck anzunehmen ist. Soll die Gesellschaft hingegen allein oder zumindest auch nichtwirtschaftliche ideelle (z. B. soziale, kulturelle, wohltätige) Zwecke verfolgen, muss dies in der Satzung deutlich (ggf. durch ___________ 5) Koch, § 23 Rz. 35; MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 163; Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 56. Systematische Gesamtübersicht über zulässige Abweichungen bei KK-AktG/ Arnold, § 23 Rz. 139 ff. und Großkomm-AktG/Röhricht/Schall, § 23 Rz. 185 ff. 6) KK-AktG/Arnold, § 23 Rz. 134; Koch, § 23 Rz. 34; Wachter/Wachter, § 23 Rz. 60; Kalss/ Fleischer, AG 2013, 693 (701 ff.). A. A. Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 53; Spindler, AG 2008, 598 (600 ff.). 7) BGH, Beschl. v. 9.11.1987 – II ZB 49/87, BGHZ 102, 209 (213) = ZIP 1988, 433 (434) (GmbH); MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 69; Hölters/Weber/Solveen, § 23 Rz. 21; MünchHdb GesR IV/Sailer-Coceani, § 9 Rz. 11. 8) BGH, Beschl. v. 3.11.1980 – II ZB 1/79, ZIP 1981, 183 (184) (GmbH); Koch, § 23 Rz. 21; BeckOGK-AktG/Limmer, § 23 Rz. 16; Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 32; Wachter/ Wachter, § 23 Rz. 39. 9) Siehe hierzu § 23 Abs. 3 Nr. 2 Halbs. 2 AktG sowie mit Beispielen MünchKommAktG/ Pentz, § 23 Rz. 79 ff.; Grigoleit/Vedder, § 23 Rz. 25; Raiser/Veil, § 4 Rz. 17. 10) Koch, § 23 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 34; Wachter/Wachter, § 23 Rz. 41; MünchHdb GesR IV/Sailer-Coceani, § 9 Rz. 10.

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Illert

A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

Auslegung) zum Ausdruck kommen.11) Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck stehen in einer Mittel-Zweck-Relation: Der Unternehmensgegenstand gibt die Mittel an, mit denen das durch den Unternehmenszweck gekennzeichnete Ziel verfolgt wird.12) Die begriffliche Abgrenzung ist vor allem wegen der unterschiedlich hohen Anforderungen relevant, die an eine Änderung des Unternehmensgegenstands als Fall einer Satzungsänderung einerseits (§ 179 Abs. 2 AktG: ¾-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals) bzw. an eine Änderung des Gesellschaftszwecks andererseits (§ 33 Abs. 1 Satz 2 BGB: Zustimmung aller Aktionäre) zu stellen sind.13) Zu den weiteren typischen Inhalten der Satzung zählen etwa Firma, Sitz und 9 Geschäftsjahr, Form von Bekanntmachungen, Höhe des Grundkapitals und Art sowie Zahl der Aktien, Zusammenwirken der Organe, Einzelfragen des Vorstands, des Aufsichtsrats und der Hauptversammlung sowie Bestimmungen zu Rechnungslegung und Gewinnverwendung.14) Bestehen Zweifel über die konkrete Bedeutung bzw. Reichweite einzelner Re- 10 gelungen, sind echte (körperschaftsrechtliche) Satzungsbestimmungen i. d. R. wie Gesetze objektiv und aus sich heraus einheitlich auszulegen, weil sie sich an einen offenen, unbestimmten Personenkreis, nämlich an alle gegenwärtigen und künftigen Aktionäre und Gläubiger, richten.15) Das gilt auch schon vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister.16) Neben dem Wortlaut sind folglich Sinn und Zweck der Regelung und ggf. ihr systematischer Bezug zu anderen Satzungsvorschriften heranzuziehen; Umstände aus der Entstehungsgeschichte oder der späteren Geschichte der Gesellschaft sind hingegen nur ausnahmsweise maßgeblich, wenn deren Kenntnis bei Aktionären und Or___________ 11) MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 76; Großkomm-AktG/Röhricht/Schall, § 23 Rz. 127; MünchHdb GesR IV/Sailer-Coceani, § 9 Rz. 10; vgl. Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 44. 12) BGH, Beschl. v. 11.11.1985 – II ZB 5/85, BGHZ 96, 245 (251 f.), ZIP 1986, 368 (370) (Verein); KK-AktG/Arnold, § 23 Rz. 76; Koch, § 23 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 34; K. Schmidt, GesR, § 4 II 3 (S. 64 ff.). 13) Koch, § 23 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Limmer, § 23 Rz. 34 f.; MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 70; K. Schmidt, GesR, § 4 II 3 (S. 65); Kort, NZG 2011, 929 (931). 14) Seyfarth/Kubis, § 1 Rz. 16; MünchHdb GesR IV/Sailer-Coceani, § 6 Rz. 4. 15) BGH, Urt. v. 28.6.1999 – II ZR 272/98, BGHZ 142, 116 (125); BGH, Urt. v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, BGHZ 123, 347 (350) = ZIP 1993, 1709 (1711); Koch, § 23 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Limmer, § 23 Rz. 60; Großkomm-AktG/Röhricht/Schall, § 23 Rz. 39; K. Schmidt, GesR, § 5 I 4b) (S. 89 f.); MünchHdb GesR IV/Sailer-Coceani, § 6 Rz. 4; a. A Grunewald, ZGR 1995, 68 (84) (§§ 133, 157 BGB); Schockenhoff, ZGR 2013, 76 (104 ff.) (Realstruktur der Gesellschaft entscheidend). 16) KK-AktG/Arnold, § 23 Rz. 25; Koch, § 23 Rz. 40; Bürgers/Körber/Lieder/Körber/König, § 23 Rz. 23; Großkomm-AktG/Röhricht/Schall, § 23 Rz. 48; a. A. (vor Eintragung §§ 133, 157 BGB anwendbar) BeckOGK-AktG/Limmer, § 23 Rz. 60; MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 48; Grigoleit/Vedder, § 23 Rz. 45; Wiedemann, GesR II, § 2 II 2, S. 167 f. Ebenfalls abweichend (vor dem Hinzutreten weiterer Gesellschafter §§ 133, 157 BGB anwendbar) Fleischer, DB 2013, 1466 (1471 ff.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

ganen allgemein vorausgesetzt werden kann (z. B. zum Handelsregister eingereichte Unterlagen, frühere gesellschaftsvertragliche Regelungen).17) Die Auslegung ist durch das Revisionsgericht frei nachprüfbar.18) Formelle Satzungsbestimmungen, d. h. rein individualrechtliche Regelungen (z. B. zwischen Gründern und Dritten, zum Gründungsaufwand, zur Festsetzung von Sondervorteilen, zur Bestellung der ersten Aufsichtsratsmitglieder etc.) sind hingegen gemäß §§ 133, 157 BGB auszulegen, so dass auch auf den Willen und die Absicht der Gründer zurückgegriffen werden kann.19) Hier geht die gerichtliche Überprüfung dahin, ob gesetzliche Auslegungsregeln, anerkannte Auslegungsgrundsätze, Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verletzt worden sind.20) 4.

Geschäftsordnung

11 Der Vorstand muss ferner die Regelungen der Geschäftsordnung des Vorstands (und zum Teil auch des Aufsichtsrats) einhalten (Æ Rz. 160). Deren Inhalt ist frei gestaltbar, solange einzelne Bestimmungen nicht gegen die zwingende Kompetenzverteilung der Gesellschaftsorgane21) oder vorrangige Satzungsregelungen verstoßen. Üblicherweise regelt sie die Ressortzuständigkeiten einzelner Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 80 ff.), die dem Gesamtvorstand vorbehaltenen Angelegenheiten (Æ Rz. 15 ff., 80) sowie die erforderliche Beschlussmehrheit bei Vorstandsbeschlüssen (Einstimmigkeit oder Mehrheitsbeschluss; Æ Rz. 59 ff., 71 ff.). Weitere typische Inhalte betreffen etwa Regelungen zur Geschäftsführung und zur Geschäftsverteilung, ggf. durch einen gesonderten Geschäftsverteilungsplan (Æ Rz. 64), zur Vertretungsordnung (Æ Rz. 190 ff.), zu Sitzungsmodalitäten wie Sitzungsterminen, Einberufung, Beschlussfähigkeit, Beschlussverfahren, Teilnahmerechte Dritter und zur Willensbildung außerhalb von Sitzungen (Æ Rz. 130 ff.), zum Vorstandsvorsitzenden bzw. Vorstandssprecher (Æ Rz. 42 f.), zum Informationswesen (Æ Rz. 97), zur Bildung von Ausschüssen (Æ Rz. 89), zum Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat, insbesondere zum Berichtswesen gemäß § 90 AktG (Æ § 3 Rz. 112 ff.) und Zu___________ 17) BGH, Beschl. v. 26.11.2007 – II ZR 227/06, NZG 2008, 309, Rz. 2; BGH, Urt. v. 25.11.2002 – II ZR 69/01, ZIP 2003, 116 (120) (GmbH); BGHZ 123, 347 (350 f.) = ZIP 1993, 1709 (1711); Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 9; Grigoleit/Vedder, § 23 Rz. 45; Wachter/Wachter, § 23 Rz. 9. 18) St. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 8.2.2010 – II ZR 94/08, BGHZ 184, 239 (251), Rz. 27 = ZIP 2010, 575; BGH, Urt. v. 11.10.1993 – II ZR 155/92, BGHZ 123, 347 (350); MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 53; MünchHdb GesR IV/Sailer-Coceani, § 6 Rz. 4. 19) BGH, Urt. v. 29.3.1973 – II ZR 139/70, NJW 1973, 1039 (1040) (GmbH); Großkomm-AktG/ Röhricht/Schall, § 23 Rz. 54; Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 6 f., 10; Hölters/Weber/ Solveen, § 23 Rz. 7; Grigoleit/Vedder, § 23 Rz. 45. 20) BGH, Urt. v. 29.9.1954 – II ZR 331/53, BeckRS 1954, 31207258 = WM 1955, 65 (66); Koch, § 23 Rz. 40; MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 53; Schmidt/Lutter/Seibt, § 23 Rz. 10. 21) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 74; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 51.

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

stimmungsvorbehalten des Aufsichtsrats22) (Æ Rz. 161 ff.) und zur Zusammenarbeit zwischen dem Vorstand und dem Arbeitsdirektor (Æ Rz. 44; vgl. § 33 Abs. 2 Satz 2 MitbestG).23) Die Geschäftsordnung ist aus sich selbst heraus objektiv auszulegen.24) Deshalb sollten die Regelungen vollständig und abschließend sein. Die Kompetenz zum Erlass der – schriftlich oder in Textform (§ 126b BGB) zu 12 dokumentierenden –25) Geschäftsordnung liegt beim Vorstand selbst, wenn nicht die Satzung den Erlass der Geschäftsordnung – dann ausschließlich –26) dem Aufsichtsrat übertragen hat oder der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung für den Vorstand erlässt (§ 77 Abs. 2 Satz 1 AktG). Der Vorstand handelt als Kollegialorgan und muss hier zwingend einstimmig beschließen (§ 77 Abs. 2 Satz 3 AktG). Einzelne Vorstandsmitglieder sind stets und umfassend auch an die bereits vor ihrer Bestellung erlassene Geschäftsordnung gebunden.27) Der Vorstand kann von einer selbst erlassenen Geschäftsordnung entweder im Einzelfall mit Zustimmung aller Mitglieder oder durch einstimmige Aufhebung oder Änderung der Geschäftsordnung abweichen.28) Wurde die Geschäftsordnung aber vom Aufsichtsrat erlassen, darf der Vorstand hiervon allenfalls mit Einverständnis des Aufsichtsrats im Einzelfall abweichen.29) Die Änderung einer vom Aufsichtsrat erlassenen Geschäftsordnung durch den Vorstand ist hingegen ebenso unzulässig wie der Erlass einer eigenen neuen Ordnung durch den Vorstand.30) Umgekehrt darf auch der Aufsichtsrat eine sich vom Vorstand gegebene Geschäftsordnung ___________ 22) Häufig sind diese auch in der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats oder – wegen der damit einhergehenden Publizität und der Schwerfälligkeit einer Änderung seltener – in der Satzung geregelt. 23) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.2.1 Rz. 30; Koch, § 77 Rz. 21; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 75; Ihrig/Schäfer, § 15 Rz. 379 ff.; Hüffer, NZG 2007, 47 (51). Muster bei Happ/ Groß/Möhrle/Vetter/Happ/Ludwig unter 8.01, Beck’sches Formularbuch Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht/Hoffmann-Becking unter X. 16 und für mitbestimmte Gesellschaften bei Säcker, DB 1977, 1993 (1998 f.). 24) Wachter/Link, § 77 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 75; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 38 (insbesondere zur Letztentscheidungskompetenz des Vorsitzenden bei Auslegungszweifeln); Ihrig/Schäfer, § 15 Rz. 373. 25) Dazu Ausschussbericht zu § 77 AktG 1965, zitiert bei Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 100; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 78; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 56; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 77 Rz. 28. 26) MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 46; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 30. 27) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.2.1 Rz. 22; Koch, § 77 Rz. 22; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 75 f.; Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 47; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 32; HoffmannBecking, ZGR 1998, 497 (500). 28) H. M. Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 80; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 77; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 41, 43; Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 47; Ihrig/ Schäfer, § 1 Rz. 13. 29) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 77 Rz. 28; Wilsing/Goslar, Ziffer 4.2.1 Rz. 22; a. A. Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 77; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 62. 30) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 78; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 46. Vgl. auch Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (504).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

nicht ändern, sondern diese allenfalls (unter Weiterverwendung alter Elemente) durch eine neue ersetzen.31) 5. Sonstige Vorgaben 13 Zuletzt können vom Vorstand Bestimmungen privatrechtlicher Vereinigungen zu beachten sein. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise die Richtlinien institutioneller Stimmrechtsberater (z. B. ISS und Glass Lewis) zu nennen, auf welche letztere regelmäßig ihre Abstimmungsempfehlungen zu den Tagesordnungspunkten von Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaften stützen. Ihre hohe praktische Relevanz folgt daraus, dass vor allem institutionelle Anleger und vielfach auch Kleinanleger diesen Empfehlungen häufig folgen, weshalb auch die Unternehmen sie berücksichtigen.32) 14 Schon diese überblicksartige und beispielhafte Auflistung verdeutlicht die vielfältigen Rechtsquellen und Einflussfaktoren, welche vom Vorstand bei seiner Tätigkeit zu beachten sind. Zugleich ist sie Beleg für die hohen Anforderungen, die an die Wahrnehmung des Vorstandsmandats gestellt werden. Dabei nimmt die Regulierung permanent zu und verschärft die Anforderungen an den Vorstand weiter. Vor diesem Hintergrund ist es für den Vorstand unerlässlich, sich über die für das konkrete Unternehmen maßgeblichen Bestimmungen einen umfassenden Überblick zu verschaffen, laufend informiert zu halten und ggf. fachlich qualifizierten Rat von Mitarbeitern oder Dritten einzuholen (Æ Rz. 117 ff.).33) II. Aufgabe des Vorstands 15 Zentrale Aufgabe und sowohl Recht als auch organschaftliche Pflicht (sog. Pflichtrecht)34) des Vorstands ist es, unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG). Zu diesem Zweck überträgt ihm das Gesetz vor allem die Befugnisse zur Geschäftsführung (Æ Rz. 54) und Vertretung (Æ Rz. 180) der Gesellschaft. Die Leitung der Gesellschaft ist ein herausgehobener Teilbereich der Geschäftsführung.35) Hierfür ist der Vorstand im Verhältnis zu den anderen Gesellschaftsorganen ausschließlich und als Kollegialorgan verantwortlich, so dass beim mehrgliedrigen Vorstand für Entscheidungen über einzelne Leitungsaufgaben ein Vorstandsbeschluss erforderlich ist (Æ Rz. 130 ff.).36) ___________ 31) Koch, § 77 Rz. 22; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 70, 74; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 60; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 47; a. A. Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 26; Langer/Peters, BB 2012, 2575 (2577). 32) Siehe zum Ganzen U.H. Schneider/Anzinger, NZG 2007, 88; Wilsing, ZGR 2012, 291 (294); Wilsing/Meyer, KSzW 2014, 85 (91 f.). Vgl. auch Fleischer, AG 2012, 2 ff. 33) Freund, NZG 2015, 1419 (1422); Urban, GWR 2013, 106. 34) Wachter/Link, § 76 Rz. 10; Fleischer, ZIP 2003, 1 (2). 35) OLG Schleswig, Beschl. v. 27.8.2008 – 2 W 160/05, ZIP 2009, 124 (126); MünchKommAktG/ Spindler, § 76 Rz. 14 f.; Hölters/Weber/Weber, § 76 Rz. 8. 36) Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 8 f.; Fleischer, ZIP 2003, 1 f.

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

1.

Leitungsaufgaben

Mit der Leitung des Unternehmens meint das AktG die Festlegung der Unter- 16 nehmenspolitik. Die Leitung erfolgt durch eine Vielzahl grundlegender Führungsentscheidungen, die der Vorstand zu einzelnen Leitungsaufgaben wie Zielkonzeption, Organisation, Führungsgrundsätzen und Geschäftspolitik (insbesondere Finanzierung, Personalwesen, Verwaltung, Investitionen, Beschaffung, Entwicklung, Produktion und Vertrieb) treffen muss, und die er nicht aus der Hand geben darf.37) Die Eingrenzung und Systematisierung der einzelnen Leitungsaufgaben erfolgt zumeist in Anlehnung an die in der Betriebswirtschaftslehre hervorgehobenen Führungsfunktionen. Danach ist Leitungsaufgabe vor allem die Unternehmensplanung, wozu z. B. die Festlegung der mittel- und langfristigen Unternehmenspolitik und -ziele, die Budget-, Finanz-, Investitions- und Personalplanung sowie die Einrichtung eines Controllings gehören.38) Ebenfalls eine Leitungsaufgabe ist die Unternehmenskoordination, zu der sämtliche Maßnahmen gehören, die der Organisation und Koordination der Teilbereiche des Unternehmens (Æ Rz. 84 ff.) und der Sicherung des unternehmensinternen Informationsflusses (Æ Rz. 97) dienen.39) Leitungsaufgaben sind weiter die Unternehmenskontrolle, also Maßnahmen zur Kontrolle der Durchführung und des Erfolgs delegierter Geschäftsführungsaufgaben sowie der Entwicklung des Unternehmens, und die Besetzung von Führungspositionen40) einschließlich der Erteilung von Prokura (Æ Rz. 211). Auch grundlegende Fragen der Unternehmensfinanzierung41) und die Sorge für Compliance, insbesondere die Einrichtung einer funktionsfähigen Compliance-Organisation,42) (Æ Rz. 285 ff. und ausführlich § 16) sind Leitungsaufgaben. Zudem zählen zu den Leitungsaufgaben die kraft Gesetzes dem Vorstand als 17 Kollegialorgan zugewiesenen Aufgaben, insbesondere Einhaltung des Unter___________ 37) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 36a; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 4. 38) OLG Schleswig, Beschl. v. 27.8.2008 – 2 W 160/05, ZIP 2009, 124 (126); Schmidt/ Lutter/Seibt, § 76 Rz. 9; Henze, BB 2000, 209; Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (738); Turiaux/ Knigge, DB 2004, 2199 (2201). 39) OLG Schleswig, Beschl. v. 27.8.2008 – 2 W 160/05, ZIP 2009, 124 (126); Koch, § 76 Rz. 9; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 37; Grigoleit/Grigoleit, § 76 Rz. 8; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2201). 40) OLG Schleswig, Beschl. v. 27.8.2008 – 2 W 160/05, ZIP 2009, 124 (126); Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 6; Koch, § 76 Rz. 9; Froesch, DB 2004, 722 (724); Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (738). Vgl. auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 18. 41) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 36; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 17; Seibt, ZIP 2013, 1597 ff. 42) LG München, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570; Koch, § 76 Rz. 11 ff.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 16; Fleischer, NZG 2014, 321 (323); Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 ff.; Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

nehmensgegenstands (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 AktG; Æ Rz. 8, 156 f.),43) Einrichtung des Aktienregisters (§ 67 AktG), Erlass, Änderung und Ergänzung einer Geschäftsordnung (§ 77 Abs. 2 Satz 3 AktG; Æ Rz. 11 f.), Vorbereitung und Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen (§ 83 AktG), Berichterstattung an den Aufsichtsrat (§ 90 AktG; Æ § 3 Rz. 112 ff.) und Vorlage zustimmungspflichtiger Geschäfte (§ 111 AktG; Æ Rz. 163), Buchführung (Æ Rz. 400 ff.) und Bestandssicherung (§ 91 AktG; Æ Rz. 367 ff.), Verlustanzeigen (§ 92 AktG), Insolvenzantrag (§ 15a InsO), Bekanntmachung der nicht ordnungsgemäßen Besetzung des Aufsichtsrats (§§ 97 Abs. 1, 98 AktG; Æ Rz. 376 f.), Antrag auf Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern durch Gericht (§ 104 Abs. 1 und Abs. 2 AktG; Æ § 3 Rz. 28)44) und Bekanntmachung der Änderungen im Aufsichtsrat (§ 106 AktG), Einberufung der Hauptversammlung (§ 121 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 383) und Vorlage von Geschäftsführungsanfragen an diese (§ 119 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 381), Unterbreitung von Beschlussvorschlägen zu Tagesordnungspunkten (124 Abs. 3 Satz 1 AktG; Æ Rz. 384),45) Erklärung zum Deutschen Corporate Governance Kodex (§ 161 AktG; Æ Rz. 417 ff.), Aufstellung von Jahresabschluss und Lagebericht sowie deren Vorlage an den Aufsichtsrat einschließlich des Vorschlags zur Gewinnverwendung (§§ 170, 172 AktG, §§ 242, 264 HGB; Æ Rz. 400 ff.), Erhebung der Anfechtungsklage (§ 245 Nr. 4 AktG), Erstellung des Abhängigkeitsberichts (§ 312 AktG) und diverse steuerliche Pflichten (z. B. §§ 93, 137 ff., 140 ff., 149 ff. i. V. m. § 34 AO).46) 18 Sonstige Geschäftsführungsentscheidungen des Vorstands gehören nur dann zu den Leitungsaufgaben, wenn sie von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen sind. Für die Abgrenzung47) kann auf die Auslegungsgrundsätze zu § 116 HGB („ungewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen“) und § 90 Abs. 1 Nr. 4 AktG („Geschäfte von erheblicher Bedeutung“) zurückgegriffen werden.48) Es muss sich also um Maßnahmen handeln, die nach Art, Inhalt, Umfang, Transaktionsbedingungen oder wirtschaftlichem Risiko den Rahmen des für die konkrete Gesellschaft Üblichen überschreiten. Abzustellen ist auf Erheblichkeit der Entscheidung für die mittel- und langfristige Entwicklung des Un___________ 43) 44) 45) 46)

BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 22. Vgl. dazu OLG München, Beschl. v. 22.12.2020 – 31 Wx 436/20, ZIP 2021, 79. BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, ZIP 2002, 172 (173). Ausführlich zu den zwingenden gesetzlichen Gesamtvorstandsaufgaben Großkomm-AktG/ Kort, § 77 Rz. 33 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 24; Fleischer, ZIP 2003, 1 (6); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (507 ff.); Urban, GWR 2013, 106 (107); Schiessl, ZGR 1992, 64 (67 f.); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2201 f.). 47) Dazu Koch, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, 2015, S. 65 (92 ff.); Seibt, in: Festschrift K. Schmidt, S. 1463 (1464). 48) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 18; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 31; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 76 Rz. 5; Henze, BB 2000, 209 (210); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2204).

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

ternehmens sowie auf ihre Bedeutung für die Ertrags- Finanz- und Beschäftigungslage. Praxishinweis: Eher den Leitungsentscheidungen zuzuordnen sind damit Ent- 19 scheidungen über die Unternehmensstruktur, insbesondere über das Investitions-, Produktions- und Lieferprogramm, die Finanzstruktur, die Absatzstruktur, die Produktionsstätten sowie die juristische und betriebswirtschaftliche Organisation.49) Leitungsentscheidungen sind außerdem alle Entscheidungen über Geschäfte, über die der Vorstand dem Aufsichtsrat wegen ihrer Bedeutung außerplanmäßig berichtet (Æ § 3 Rz. 117). Im Interesse der besseren praktischen Handhabbarkeit sollte versucht werden, die Leitungsaufgaben beispielhaft in der Geschäftsordnung (Æ Rz. 11) aufzulisten. Bei verbleibenden Zweifeln sollte der Gesamtvorstand entscheiden. Praktische Bedeutung kann die Abgrenzung vor allem in zweierlei Hinsicht 20 erlangen: Nur soweit es nicht um die Wahrnehmung von Leitungsaufgaben geht, darf der Vorstand Aufgaben auf einzelne Mitglieder, nachgeordnete Unternehmensebenen oder Dritte abschließend delegieren (Æ Rz. 92 ff.). Ebenso kann eine Abgrenzung erforderlich werden, wenn eine mögliche Unterstellung der Gesellschaft unter den Einfluss Dritter im Raum steht (Æ Rz. 32 f.). Die Leitung bezieht sich auf das von der Gesellschaft getragene, entsprechend 21 ihrem satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand konkret betriebene Unternehmen.50) Im Konzern beschränkt sich die Leitungsaufgabe des Holdingvorstands nicht nur auf das Holdingunternehmen, sondern schließt auch Tochterunternehmen und den Gesamtkonzern mit ein.51) Diese konzernweite Leitungskompetenz bedeutet nach h. M. allerdings nicht, dass den Holdingvorstand zugleich eine allgemeine Konzernleitungspflicht trifft; es obliegt daher grundsätzlich seinem Ermessen, inwieweit er Einfluss auf die Leitung von Tochtergesellschaften nimmt oder diese weitgehend selbständig arbeiten lässt.52) 2.

Eigenverantwortlichkeit und Bindung an das Unternehmensinteresse

Der Vorstand leitet die Gesellschaft eigenverantwortlich. Er ist in seinen Ent- 22 scheidungen weitgehend frei und nicht an Weisungen des Aufsichtsrats, der Hauptversammlung, einzelner Aktionäre oder Dritter gebunden.53) Abweichende ___________ 49) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 5; Semler, Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 1996, Rz. 13 ff. 50) Schmidt/Lutter/Seibt; § 76 Rz. 10; Ihrig/Schäfer, § 1 Rz. 5; Henze, BB 2000, 209. 51) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 40a; Koch, § 76 Rz. 10; Hüffer, Liber Amicorum Happ, 2006, S. 93 (101 ff.). 52) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 8; Koch, § 76 Rz. 47; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 96 ff.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 48; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 76 Rz. 51 f.; a. A. Hommelhoff, Konzernleitungspflicht, 1982, S. 43 ff., 165 ff., 184 ff.; Lutter, ZGR 1987, 324 (349 ff.). 53) Allg. M., vgl. BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, NZG 2008, 507 (508), Rz. 13; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, ZIP 2011, 2008 (2009, 2010 f.); Wachter/ Link, § 76 Rz. 11; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2200).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Bestimmungen in der Satzung oder Geschäftsordnung sind nichtig (Æ Rz. 7). Von diesem Grundsatz bestehen zwei wichtige Ausnahmen. Dies sind die Pflicht des Vorstands zur Ausführung der von der Hauptversammlung im Rahmen ihrer Kompetenz beschlossenen Maßnahmen gemäß § 83 Abs. 2 AktG und die grundsätzliche Pflicht des Vorstands zur Befolgung von Weisungen des herrschenden Unternehmens im Vertragskonzern gemäß § 308 Abs. 2 AktG54) (Æ § 7 Rz. 84 ff.). Die Eigenverantwortlichkeit verbietet es dem Vorstand allerdings nicht, die Wirksamkeit seiner autonom und im Unternehmensinteresse getroffenen Entscheidungen unter bestimmte Bedingungen zu stellen, z. B. unter den Vorbehalt einer – nicht durch Gesetz oder Satzung erforderlichen – Zustimmung des Aufsichtsrats.55) 23 Aufgrund seiner Eigenverantwortlichkeit trifft der Vorstand Entscheidungen nach eigenem unternehmerischen Ermessen.56) Er hat sein Handeln dabei – im Rahmen der Befolgung seiner Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.) – allein am Unternehmensinteresse auszurichten. Darunter sind nach h. M. und wie in Abs. 1 Satz 3 der Präambel des DCGK definiert vielfältige Interessensgruppen zu verstehen, namentlich die Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer und öffentliche Gemeinwohlinteressen, welche der Vorstand angemessen zu berücksichtigen, gegeneinander abzuwägen und bei seinen Entscheidungen miteinander in Einklang zu bringen hat (sog. Stakeholder Value-Ansatz).57) Auch den Interessen von Gläubigern kommt in diesem Zusammenhang eine gewisse Bedeutung zu.58) Von großer praktischer Bedeutung ist ferner das Ziel der Förderung bzw. des Schutzes der Unternehmensreputation.59) Der Vorstand darf den Aktio___________ 54) Ein entsprechendes aber praktisch deutlich weniger relevantes Weisungsrecht besteht außerdem im Fall der Eingliederung, vgl. § 323 Abs. 1 AktG. 55) Vgl. BGH, Urt. v. 23.6.1997 – II ZR 353/95, ZIP 1997, 149 f.; Großkomm-AktG/ Habersack, § 82 Rz. 16; Koch, § 82 Rz. 3. 56) Allg. M.; vgl. BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 = ZIP 1997, 883; BGH, Urt. v. 7.3.1994 – II ZR 52/93, NJW 1994, 1410 (1412); Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315). 57) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, ZIP 2011, 2008 (2010); OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, AG 1995, 512 (514); JIG/Illert, Präambel Rz. 3; Koch, § 76 Rz. 30; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 52 ff. (121); KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 77 Rz. 52 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 71; Goette, ZGR 2008, 436 (447); Henze, BB 2000, 209 (212); Kort, AG 2012, 605 ff.; Kuhner, ZGR 2004, 244 (246 ff., 270). In diesem Sinne wohl auch BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (331) = NJW 1975, 1412 (1413) (zum „Unternehmensinteresse“) und BGH, Urt. v. 7.3.1994 – II ZR 52/93, BGHZ 125, 239 (241 f.) = AG 1994, 276 (277) (zum „Gesellschaftsinteresse“); zur Rechtsprechung des BGH siehe Goette, in: Festschrift 50 Jahre BGH, S. 123 (137). 58) Koch, § 76 Rz. 28; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 83; Klöhn, ZGR 2008, 110 (134 ff.); Kort, AG 2012, 605 (610). 59) Vgl. auch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, ZIP 2011, 2008 (2011) Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 41 f.; Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689 ff.; Seibt, DB 2015, 171 ff.

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

närsinteressen gegenüber den Interessen der sonstigen Stakeholder zumindest moderaten Vorrang einräumen, weil die mitgliedschaftlich verfasste AG letztlich eine „Veranstaltung der Aktionäre“ ist.60) Zudem wird den Interessen von Arbeitnehmern, Gläubigern, Verbrauchern und der Allgemeinheit durch zahlreiche gesetzliche Vorschriften außerhalb des Aktienrechts, deren Beachtung dem Vorstand vorgegeben ist, weitgehend Rechnung getragen.61) Allerdings muss und darf der Vorstand die Kapitalinteressen aller oder gar einzelner Aktionäre grundsätzlich nicht ausschließlich im Sinne einer maximalen Steigerung des Ertragswerts des Unternehmens verfolgen (sog. Shareholder Value-Ansatz).62) Auch im faktischen Konzern ist den übergeordneten Konzerninteressen bzw. dem Interesse des herrschenden Unternehmens kein unbedingter Vorrang einzuräumen.63) Erst mit dem Abschluss eines Unternehmensvertrags i. S. v. §§ 291 ff. AktG kann der Vorstand des abhängigen Unternehmens auf die Beachtung übergeordneter Konzerninteressen verpflichtet werden.64) Aufgrund besonderer Satzungsgestaltung kann der Vorstand ausnahmsweise 24 einem abweichenden Pflichtenmaßstab unterliegen. So kann etwa der Shareholder Value-Ansatz in der Satzung verankert werden.65) Umgekehrt kann der Vorstand durch Konkretisierung des Unternehmensgegenstands oder die Festlegung eines gemischtwirtschaftlichen oder sogar eines ausschließlich ideellen Gesellschaftszwecks (Æ Rz. 8) zur vorrangigen Berücksichtigung bestimmter Gemeinwohlbelange verpflichtet sein.66) Niemals dürfen Entscheidungen des Vorstands aber den Bestand des Unternehmens und deren dauerhafte Rentabilität

___________ 60) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 37; Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 18; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 76 Rz. 40; Hölters/Weber/Weber, § 76 Rz. 22; Mülbert, in: Festschrift Röhricht, S. 421 (424 ff.); Kuhner, ZGR 2004, 244 (254 ff.); Seibert, in: Festschrift HoffmannBecking, S. 1101 (1102); a. A. die wohl noch h. M.: Koch, § 76 Rz. 30; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 76 Rz. 15 ff.; Henze, BB 2000, 209 (212). 61) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 38; Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 17; Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (158). 62) A. A. Grigoleit/Grigoleit, § 76 Rz. 27; Zöllner; AG 2003, 3 (7 f.); Wiedemann, ZGR 2011, 183 (195 f.). 63) Siehe dazu BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, ZIP 2009, 1162 (1163), Rz. 16; OLG Celle, Urt. v. 28.5.2008 – 9 U 184/07, AG 2008, 711 (712); Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 51; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 49; Grigoleit/Grigoleit, § 76 Rz. 34. 64) Ob es hierzu einer Weisung bedarf oder der Vorstand des abhängigen Unternehmens im Vertragskonzern auch außerhalb von Weisungen das „Konzerninteresse“ zu berücksichtigen hat, ist streitig. Siehe zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 105. 65) Für mitbestimmte Gesellschaften ist dies str. Siehe zum Ganzen MünchKommAktG/ Spindler, § 82 Rz. 36; Ihrig/Schäfer, § 1 Rz. 10; Groh, DB 2000, 2153 (2158); Mülbert, in: Festschrift Röhricht, S. 421 (440); Ulmer, AcP 202 (2002), 143 (159 f.). 66) Koch, § 76 Rz. 35; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 104 f.; Müller-Michaels/Ringel, AG 2011, 101 (111 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

gefährden, weil das Leitungsermessen des Vorstands darin stets eine absolute Schranke findet.67) 25 Den Begriff des Unternehmensinteresses im Zusammenhang mit konkreten Entscheidungen (z. B. für eine bestimmte Übernahme, den Abschluss bedeutender Finanzierungs-, Liefer- oder sonstiger Verträge, die Durchführung einer Restrukturierung, einen Vergleichsschluss mit Gläubigern oder Organmitgliedern etc.) praktisch auszufüllen, fällt nicht immer leicht. Allgemein gilt, dass pauschale Behauptungen oder formelhafte Wendungen nicht genügen. Vielmehr müssen die entscheidungserheblichen Aspekte wie (Vertrags-)Modalitäten, ggf. Person des Vertragspartners, die voraussichtlichen Folgen der Entscheidung (besonders die wirtschaftlichen Auswirkungen) und die mit der Entscheidung verfolgten Ziele sorgfältig herausgearbeitet, vom Vorstand selbst gewichtet und gegeneinander abgewogen und die so getroffene Entscheidung sodann hinreichend sorgfältig dokumentiert (Æ Rz. 136) werden. Dabei sind die einzelnen Gesichtspunkte so konkret wie möglich zu benennen und zu belegen. Hierfür kann u. U. auf Erfahrungswerte, konkrete Berechnungen usw. zurückzugreifen sein. Soweit möglich sollten die einzelnen Gesichtspunkte auch quantifiziert bzw. die finanziellen Auswirkungen im Einzelnen dargelegt werden. 26 Praxishinweis: Zur Entscheidungsvorbereitung kann die Erstellung einer „Entscheidungsmatrix“ dienlich sein. Gegliedert nach den Auswirkungen auf die einzelnen Interessensgruppen sind darin alle denkbaren Gesichtspunkte, Vor- und Nachteile der Entscheidung, deren Folgen etc. aufzunehmen. Bei der Vervollständigung der Matrix kann sich der Vorstand von unternehmensangehörigen Abteilungen und externen Beratern unterstützen lassen. Jedes Vorstandsmitglied gewichtet die Punkte sodann persönlich und bringt dies in die Diskussion zur Vorstandsentscheidung mit ein. 27 Typischerweise dienen dem Aktionärsinteresse z. B.: Vertragsschluss zu besonders günstigen Bedingungen und positive wirtschaftliche Auswirkungen der Entscheidung auf das Unternehmen (z. B. durch positive Steuer-, Bilanz- und/ oder GuV-Effekte, Ertragssteigerungen und/oder Kostensenkungen, Schaffung von Synergieeffekten etc.), eine (belegbare) Steigerung des Börsenkurses68) bzw. Unternehmenswertes sowie die Durchsetzung von Ansprüchen der Gesellschaft gegen Dritte.69) 28 Beachtenswerte Arbeitnehmerinteressen können z. B. sein: Beeinträchtigung oder Verbesserung der persönlichen oder wirtschaftlichen Stellung von Mitar___________ 67) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, ZIP 2011, 2008 (2010); OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, AG 1995, 512 (514); Koch, § 76 Rz. 34; GroßkommAktG/Kort, § 76 Rz. 53; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 21 ff.; MünchKommAktG/ Spindler, § 76 Rz. 73; Hüffer, in: Festschrift Raiser, S. 163 (168 ff.); Langenbucher, DStR 2005, 2083 f. 68) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 69. 69) Siehe dazu BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 116 m. w. N.

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beitern (z. B. durch übertarifliche Zulagen, betriebliche Altersvorsorge, Schaffung guter Arbeitsbedingungen, Förderung bzw. Beeinträchtigung des Betriebsklimas etc.).70) Auch Auswirkungen auf den Mitarbeiterstand des Unternehmens insgesamt können insoweit eine Rolle spielen. Weitgehend anerkannt ist ferner, dass unter dem Gesichtspunkt des Gemein- 29 wohls bzw. der Verbesserung der sozialen Akzeptanz und damit des wirtschaftlichen Fortkommens der Gesellschaft Spenden und (Sponsoring-)Zuwendungen für wissenschaftliche, künstlerische, kulturelle, soziale, politische oder sportliche Zwecke dem Unternehmensinteresse dienen können, sofern die konkrete Zuwendung angemessen ist und der Vorstand mit ihr keine eigennützigen Ziele verfolgt.71) Gerade Parteispenden oder politisches Sponsoring sind u. a. wegen möglicher Imageschäden besonders sorgfältig zu prüfen.72) Im Einzelfall kann in diesem Zusammenhang zudem eine notwendige Zuständigkeit des Gesamtvorstands bestehen.73) Auch Hilfeleistungen bei Naturkatastrophen im In- und Ausland, die Einhaltung bzw. der Schutz von Menschenrechten, Umwelt- und Arbeitsschutzbelangen, die bewusste Auswahl der vom Unternehmen vertriebenen Produkte (z. B. ökologisch hergestellte Produkte, fair trade-Produkte) oder der Rückzug aus politisch belasteten Ländern können der Akzeptanz der Gesellschaft als „good corporate citizen“ dienen und deshalb unter dem Gesichtspunkt der Corporate Social Responsibility bei Vorstandsentscheidungen tragende Bedeutung erlangen.74) Die praktische Bedeutung dieser sog. ESGThemen hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Insbesondere machen Aktionäre ihre Investment- oder Abstimmungsentscheidungen in der Hauptversammlung heute oftmals von der Erreichung bestimmter ESG-Ziele abhän___________ 70) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 82; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 102. 71) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 = NJW 2002, 1585 (1586 f.); LG Essen, Urt. v. 9.9.2003 – 44 O 164/10, juris, Rz. 1012 ff.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 54 ff., 57; Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 19; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 43; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 27; Bayer/Hoffmann, AG 2014, R 371 ff.; Fleischer, AG 2001, 171 ff.; Mülbert, AG 2009, 766 (772 ff.). 72) In jedem Fall sind das PartG (für Spenden an politische Parteien), §§ 331 ff. StGB und dienstrechtliche Regelungen (z. B.: Bundesbeamtengesetz; für Landesbeamte: § 42 Beamtenstatusgesetz i. V. m. landesbeamtenrechtlichen Vorschriften; für sonstige Beschäftigte des öffentlichen Dienstes: entsprechende tarifvertragliche Regelungen) bei der Prüfung der Zulässigkeit zu beachten. Häufig haben Unternehmen für solche Zuwendungen (relativ restriktive) Regelungen in ihren Codes of Conducts geschaffen. 73) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 = NJW 2002, 1585 (1587); Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 103; Ihrig/Schäfer, § 1 Rz. 11; Mertens, in: Festschrift Goerdeler, S. 349 (358); Westermann, ZIP 1990, 771 (776). 74) MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 26; Mülbert, AG 2009, 766 (768); Spindler, in: Festschrift Hommelhoff, S. 1133 (1140 ff.). Siehe zum Ganzen neben den in der vorstehenden Fußnote Genannten ferner: Koch, § 76 Rz. 35 f.; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 88 ff.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 33 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 81 ff.; Hölters/Weber/Weber, § 76 Rz. 31; Illert/Schneider, DB 2021, Beil. Nr. 2 zu Heft 20, 27 (29); Schäfer, in: Festschrift Hopt, S. 1297 ff.

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gig und üben so vermehrt Druck auf die Verwaltungen aus,75) diese Themen mit Nachdruck zu verfolgen. Auch im Rahmen der Vorstandsvergütung spielen ESGFaktoren zunehmend eine wichtige Rolle.76) Eine Pflicht zur gemeinverträglichen Geschäftsführung besteht freilich nicht.77) 30 Hiermit im engen Zusammenhang steht der bei Vorstandsentscheidungen immer stärker bemühte Gesichtspunkt der Unternehmensreputation. Die Förderung und Pflege des Rufs des Unternehmens führen nicht nur zur Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen, sondern sie bewirken in bestimmten Grenzen empirisch belegt auch eine Steigerung des Unternehmenswertes.78) Zudem sichert eine gute Reputation die Rentabilität und den langfristigen Bestand des Unternehmens und dient damit nicht zuletzt wohlverstandenen Arbeitnehmerinteressen. Die Folgen einer Entscheidung für den Ruf des Unternehmens sind damit wichtiger Bestandteil der Abwägungsentscheidung des Vorstands. Namentlich kann die Abwendung einer für das Unternehmen nachteiligen Presseberichterstattung ein beachtenswertes Motiv im Unternehmensinteresse darstellen.79) Außerdem können in diesem Zusammenhang nachteilige Auswirkungen auf das Verhältnis des Unternehmens zu Behörden (z. B. Intensivierung der Überwachung durch die BaFin, drohende staatsanwaltschaftliche Durchsuchungen) eine Rolle spielen.80) Letzteres gilt umso mehr, wenn je nach dem Inhalt der zu treffenden Entscheidung zugleich messbare wirtschaftliche Beeinträchtigungen für das Unternehmen entstehen könnten (z. B. Erhöhung des Bußgeldrisikos oder des Bußgeldbetrags, zunehmende Begleitkosten für Rechtsberatung etc.). Wenngleich dies gerade im vorliegenden Zusammenhang mitunter schwerfällt, müssen auch hier die konkreten Auswirkungen der Entscheidung auf die Unternehmensreputation so konkret wie möglich aufgezeigt, belegt und wenn möglich die finanziellen Auswirkungen geschätzt werden.81) 31 Auch auf Grund eines in der Regel vorliegenden Verstoßes gegen die Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.) sind Bestechungs- und Schmiergeldzahlungen an inund ausländische Amtsträger oder Privatpersonen nicht mit dem Unternehmensinteresse zu vereinbaren, auch wenn diese als Beratungsentgelte, Provisio___________ 75) Ausführlich Illert/Schneider, DB 2021, Beil. Nr. 2 zu Heft 20, 27 (29 f.). 76) Walden, NZG 2020, 50 (57). Ausführlich Johannsen-Roth/Kießling, DB 2021, Beil. Nr. 2 zu Heft 20, 31 ff. 77) Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 42; Mülbert, AG 2009, 766 (769 f.). Vgl. auch Schön, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 1085 (1088 ff. und 1096 ff.). Ausführlich zum Ganzen Walden, NZG 2020, 50 (54 ff.). 78) Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 42. Ausführlich Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689 ff.; Seibt, DB 2015, 171 ff. 79) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, ZIP 2011, 2008 (2011). 80) Fleischer, AG 2001, 171 (176); Spindler, in: Festschrift Hommelhoff, S. 1133 (1140). 81) Mülbert, AG 2009, 766 (773).

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nen, Sachleistungen oder Sondervergütungen verschleiert werden.82) Auch Vergleichszahlungen an opponierende Anfechtungskläger werden unabhängig von ihrer konkreten Einkleidung nur ausnahmsweise im Unternehmensinteresse liegen, etwa wenn das Unternehmen durch jede weitere Verzögerung einen irreparablen Schaden erleiden würde.83) 3.

Leitung und Fremdeinfluss

Praktische Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn Aktionäre oder Dritte 32 bei Fehlen eines Beherrschungsvertrags möglichst weitgehenden Einfluss auf den Vorstand nehmen wollen. Relevant wird dies bei jeglichen Formen vertraglicher Selbstbindungen des Vorstands. Dies kommt etwa vor bei Betriebsführungsverträgen,84) bei der Einräumung von Zustimmungsvorbehalten oder Weisungsrechten zugunsten Dritter (z. B. im Rahmen von sog. Financial Covenants in Kreditverträgen85) oder in – auch im Venture Capital Bereich üblichen – Investorenvereinbarungen86), bei dem Abschluss von Exklusivitätsvereinbarungen im Rahmen von M&A-Transaktionen87), oder aber auch bei der Eingehung langfristiger vertraglicher oder faktischer Bindungen (z. B. infolge der Vereinbarung exorbitant hoher Vertragsstrafen). Wegen des aus § 76 Abs. 1 AktG folgenden Grundsatzes der Unveräußerlichkeit der Leitungsmacht des Vorstands darf die Gesellschaft keine Verträge abschließen, durch die sich der Vorstand der Leitung Dritter unterwirft.88) Rechtsgeschäfte, die unter Verstoß hiergegen zustande kommen, sind gemäß § 134 BGB nichtig.89) Diese Folge tritt nach inzwischen wohl h. M. jedoch nur bei nicht mehr vertretbaren Bindungen im Kernbereich der Leitungsmacht des Vorstands ein, also insbesondere bei weitgehenden Bindungen im Bereich der Leitungsaufgaben (Æ Rz. 16 ff.).90) ___________ 82) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 61 f.; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 117 f.; Ihrig/ Schäfer, § 1 Rz. 11; Fleischer, ZIP 2005, 141 (148 ff.). Vgl. auch BGH, Urt. v. 14.8.2008 – 1 StR 260/08, BGHSt 53, 6 = NJW 2008, 3580. 83) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 63 f.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 45; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 110. 84) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 82 ff. 85) Dazu BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 90 m. w. N.; Kiefner, ZHR 178 (2014), 547 (554 ff.). 86) Allgemein dazu Heß, Investorenvereinbarungen, 2014; Kiem, AG 2009, 301 ff.; Reichert, ZGR 2015, 1 (3 ff.); Reichert/Ott, in: Festschrift Goette, S. 397 ff.; Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, 195 ff. 87) Dazu Banerjea, DB 2003, 1489 (1494); Fleischer, ZHR 172 (2008), 538 (555 ff.). 88) Koch, § 76 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 45 f.; Fleischer, ZIP 2003, 1 (9 ff.); Lutter, in: Festschrift Fleck, S. 169 (184); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2206). 89) LG München I, Urt. v. 5.4.2012 – 5 HK O 20488/11, NZG 2012, 1152 (1154); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 76 Rz. 46. 90) Vgl. etwa OLG Brandenburg, Urt. v. 29.8.2018 – 7 U 73/14, GWR 2019, 346 m. Anm. Wettich zur Unwirksamkeit einer Vereinbarung über die Geschäftsführerbestellung in einer Tochter-GmbH. Siehe dazu auch Priester, AG 2021, 15 ff.

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Jedenfalls unzulässig ist die Einräumung breitflächiger Einflussnahmemöglichkeiten, die im Ergebnis zu einem verdeckten Beherrschungsvertrag führen würden.91) Unterhalb dieser Schwelle sind entsprechende Vereinbarungen wirksam. Der Vorstand kann aber ggf. unter Verstoß gegen § 93 Abs. 1 AktG sorgfaltsoder treuwidrig (Æ Rz. 226 ff., 308 ff.) handeln, wenn er Dritten zu weitgehenden Einfluss gewährt.92) 33 Von besonderer Praxisrelevanz sind in diesem Zusammenhang sog. Business Combination Agreements. Hierdurch verschafft sich der Bieter als künftiger Aktionär bereits im Vorfeld einer Übernahme Einfluss auf die Geschicke des Unternehmens. Das OLG München hatte eine solche Vereinbarung für nichtig gehalten, weil der Vorstand danach ohne die Zustimmung der Bieterin u. a. weder ein genehmigtes Kapital ausnutzen noch die Ausgabe von Aktienoptionen oder ähnlichen Instrumenten unterstützen durfte.93) Die Entscheidung ist zu Recht auf Kritik gestoßen, weil diese Kompetenzen reine Geschäftsführungsaufgaben und gerade keine Leitungsaufgaben betreffen.94) Dass das Gericht im konkreten Fall nicht nur das Business Combination Agreement, sondern nach § 139 BGB auch einen damit verknüpften Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag für nichtig hielt, verdeutlicht die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Risiken. Jedenfalls wenn sich die Einflussnahme auf Maßnahmen von geringerer Bedeutung und eingeschränkter Dauer beschränkt, sollten solche Vereinbarungen keinen grundlegenden Bedenken begegnen.95) Weil die Grenzen fließend und nicht immer trennscharf zu ziehen sind, empfiehlt sich bei der Vertragsgestaltung im Zweifel aber eine vorsichtige Herangehensweise. III.

Zusammensetzung des Vorstands

1.

Zahl der Mitglieder und Beteiligungsgebot

34 Die AG kann einen Alleinvorstand oder einen mehrgliedrigen Vorstand haben (§ 76 Abs. 2 Satz 1 AktG). In der Praxis werden gerade bei größeren Gesell___________ 91) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 10; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 150a f.; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 29. 92) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 80; Wilsing/Goslar, Ziffer 4.1.1 Rz. 10; Koch, § 76 Rz. 41 ff.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 35; Bungert/Wansleben, ZIP 2013, 1841 (1844 f.); Hippeli/Diesing, AG 2015, 185 (194); Kiefner, ZHR 178 (2014), 547 (565 ff.); Koch, in: Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, 2015, S. 65 (94 ff.); Otto, NZG 2013, 930 ff.; Paschos, NZG 2012, 1142 ff.; Reichert, ZGR 2015, 1 (21 ff.); Wansleben, Der Konzern 2014, 29 (35). 93) OLG München, Beschl. v. 14.11.2012 – 7 AktG 2/12, ZIP 2012, 2439 (2443). Vorinstanz LG München I, Urt. v. 5.4.2012 – 5 HK O 20488/11, NZG 2012, 1152 (1153 f.) = EWiR 2013, 193 (Goslar). 94) Hippeli/Diesing, AG 2015, 185 (193 f.); König, NZG 2013, 452 (454); Krause, CFL 2013, 192 (195). 95) OLG Stuttgart, Beschl. v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, AG 2015, 163 (166); GroßkommAktG/Kort, § 76 Rz. 150a f.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 89; Goslar, EWiR 2013, 193; Paschos, NZG 2012, 1142 (1143).

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

schaften zur Bewältigung der Arbeitslast üblicherweise zwei- oder mehrgliedrige Vorstände gebildet (zur Binnenorganisation Æ Rz. 59 ff.).96) Die Zahl der Mitglieder oder die Regeln, nach denen diese Zahl festgelegt wird, muss sich zwingend aus der Satzung ergeben (§ 23 Abs. 3 Nr. 6 AktG). Dabei können bestimmte Zahlen, Mindest- und/oder Höchstgrenzen festgelegt werden.97) Die Bestimmung darf auch dem Aufsichtsrat übertragen werden.98) Ihm obliegt selbst ohne eine solche Zuweisung die Ausfüllung satzungsmäßiger Spielräume.99) Bei AGs mit einem Grundkapital von mehr als drei Millionen Euro müssen mindestens zwei Mitglieder bestellt werden, sofern die Satzung nicht davon abweichend einen Alleinvorstand zulässt (§ 76 Abs. 2 Satz 2 AktG). Dafür genügt auch die praktisch übliche, den Gesetzeswortlaut wiederholende Klausel, wonach der Vorstand aus einer oder mehreren Personen besteht.100) Diese oder ähnlich flexible Regelungen sind allein schon deshalb sinnvoll, weil die Gesellschaft dann auch nach Wegfall eines oder mehrerer Vorstandsmitglieder noch handlungsfähig bleibt (Æ Rz. 36).101) Zwingend aus mindestens zwei Mitgliedern besteht der Vorstand, wenn bei der 35 Gesellschaft ein Arbeitsdirektor (Æ Rz. 44) bestellt werden muss (vgl. § 76 Abs. 2 Satz 3 AktG). Das gilt für die Montanmitbestimmung (§ 13 Abs. 1 Satz 1 MontanMitbestG, § 13 Satz 2 Montan-MitbestErgG) und nach h. M. auch für die Mitbestimmung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG.102) Auch für bestimmte beaufsichtigte Institute besteht eine entsprechende Pflicht (vgl. § 33 Abs. 1 Nr. 5 KWG). Sind mehr Vorstandsmitglieder bestellt als satzungsmäßig zulässig (Überbeset- 36 zung), bleibt dies im Außenverhältnis folgenlos, kann im Innenverhältnis aber einen wichtigen Abberufungsgrund (Æ § 3 Rz. 187) des zuletzt bestellten Mitglieds darstellen.103) Praktisch ungleich wichtiger ist die Unterbesetzung des Vorstands, d. h. es sind (z. B. aufgrund Abberufung, Todes oder sonstigen Ausscheidens eines Mitglieds) weniger Mitglieder bestellt als gesetzlich oder satzungsgemäß vorgeschrieben. Alle Entscheidungen, für die Handeln von Vorstands___________ 96) MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 12; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 56. 97) Wachter/Link, § 76 Rz. 62; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 237. 98) BGH, Urt. v. 17.12.2001 – II ZR 288/99, ZIP 2002, 216 (217); OLG Stuttgart, Urt. v. 15.10.2008 – 20 U 19/07, AG 2009, 124 (126); Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 54. 99) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 124; Koch, § 76 Rz. 55; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 116. 100) LG Köln, Urt. v. 10.6.1998 – 91 O 15/98, AG 1999, 137 f.; Koch, § 76 Rz. 55; GroßkommAktG/Kort, § 77 Rz. 236. 101) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.2.1 Rz. 4. 102) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 131; Koch, § 76 Rz. 57; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 108; Grigoleit/Grigoleit, § 76 Rz. 107; abw. Overlack, ZHR 141 (1977), 125 (128 f.). 103) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 240; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 109; Grigoleit/ Grigoleit, § 76 Rz. 108.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

mitgliedern in vertretungsberechtigter Zahl genügt, können wirksam getroffen werden, solange diese Zahl erreicht wird.104) Muss der Vorstand aber als Kollegialorgan tätig werden (Æ Rz. 17), dürfen das verbleibende bzw. die verbleibenden Vorstandsmitglieder diese Aufgaben nach dem BGH grundsätzlich nicht ausführen, weil der Vorstand in diesen Fällen handlungsunfähig ist.105) Wenngleich die überzeugendere und praktisch befriedigendere Lösung darin besteht, zumindest bei bloßen Realakten (z. B. §§ 90, 91 AktG), innergesellschaftlichen Verfahrenshandlungen ohne rechtsgeschäftlichen Charakter (z. B. §§ 121 Abs. 2, 170 Abs. 1 AktG) und im öffentlichen Interesse liegenden Anträgen (z. B. § 92 AktG) die fortbestehende Handlungsfähigkeit des Vorstands anzunehmen,106) hat die Praxis sich auf die Linie des BGH einzustellen. Abhilfe kann vorsorglich durch adäquate Satzungsgestaltung getroffen werden (Æ Rz. 34). Im Übrigen ist der Restvorstand darauf verwiesen, entweder den Aufsichtsrat zu unterrichten, damit dieser unverzüglich ein neues Vorstandsmitglied bestellen (Æ § 3 Rz. 179 ff.) kann, oder bei Untätigkeit des Aufsichtsrats selbst ein gerichtliches Bestellungsverfahren gemäß § 85 Abs. 1 AktG einzuleiten.107) 37 Für große AGs, die börsennotiert und paritätisch mitbestimmt sind, gilt das sog. Beteiligungsgebot (§ 76 Abs. 3a Satz 1 AktG): Besteht der Vorstand aus mehr als drei Personen, so muss mindestens eine Frau und mindestens ein Mann Mitglied des Vorstands sein. Bestellungen von Vorstandsmitgliedern (Æ Rz. 48) ab dem 1.8.2022 unter Verstoß gegen das Beteiligungsgebot sind nichtig (vgl. § 76 Abs. 3a Satz 2 AktG, § 26l Abs. 1 Satz 1 EGAktG). Über die Einhaltung des Beteiligungsgebots müssen betroffene Unternehmen gemäß § 289f Abs. 2 Nr. 5a HGB erstmals für das Geschäftsjahr 2022 in der Erklärung zur Unternehmensführung (Æ Rz. 425) berichten.108) 2.

Persönliche Mindestanforderungen und Bestellungshindernisse

38 Nach dem Gesetz kann Mitglied des Vorstands jede natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Person sein (§ 76 Abs. 3 Satz 1 AktG), und zwar ungeachtet ihrer ___________ 104) LG Berlin, Urt. v. 30.10.1990 – 98 T 39/90, ZIP 1991, 228 (229); Koch, § 76 Rz. 56, MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 120. 105) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, ZIP 2002, 172 (173); ebenso OLG Dresden, Urt. v. 31.8.1999 – 13 U 1215/99, ZIP 1999, 1632 (1634) (beide zu § 124 Abs. 3 AktG); KG, Urt. v. 29.10.2010 – 14 U 96/09, ZIP 2011, 123 (125) (zu § 172 AktG). Weitgehend zustimmend MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 119; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 52. 106) In diesem Sinne BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 129; Koch, § 76 Rz. 56; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 76 Rz. 57; Schäfer, ZGR 2003, 147 (153 f.). Handlungsunfähigkeit generell ablehnend: KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 111; Fleischer, NZG 2003, 449 (451); Götz, ZIP 2002, 1745 (1749 f.); Priester, in: Festschrift Kropff, S. 591 (597). 107) BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, ZIP 2002, 172 (173); Henze, BB 2002, 847 (848). 108) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 158 ff.; Groß, AG 2021, 693 ff.; Spindler, WM 2021, 817 ff.

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

Staatsangehörigkeit, ihres (inländischen oder ausländischen) Wohnsitzes und einer jederzeitigen Einreisemöglichkeit nach Deutschland.109) Wegen des sog. Grundsatzes der Fremdorganschaft spielt es keine Rolle, ob das Vorstandsmitglied Aktionär ist oder nicht.110) Bestimmte Personen sind aber ausdrücklich als Vorstandsmitglieder ausgeschlossen (z. B. Adressaten eines Berufsverbots, verurteilte Insolvenzstraftäter; § 76 Abs. 3 Satz 2 AktG). Dasselbe gilt grundsätzlich für Aufsichtsratsmitglieder (§ 105 Abs. 1 Satz 1 AktG; Æ Rz. 46). Die Bestellung von Personen, die bereits Mandatsträger in anderen Unternehmen derselben Gruppe sind, ist hingegen möglich. Denn aktienrechtlich sind solche Vorstands-Doppelmandate (Æ Rz. 325 ff.) grundsätzlich zulässig. Sie sind jedoch im Einzelfall von der Einwilligung der Aufsichtsräte beider Gesellschaften zu der Doppeltätigkeit abhängig (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 2 AktG)111) und können wegen drohender Interessenkonflikte (Æ Rz. 141) Probleme bereiten. Für beaufsichtigte Institute bestehen bestimmte weitere Mindestqualifikationsanforderungen an Geschäftsleiter (vgl. § 25c KWG, § 24 VAG). In der Satzung können weitergehende persönliche Eignungsvoraussetzungen oder 39 Auswahlrichtlinien bestimmt sein. Hiervon darf aber das Auswahlermessen des Aufsichtsrats nicht eingeschränkt werden und diese Voraussetzungen müssen sachlich gerechtfertigt und durch das Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) legitimiert sein (z. B. Berufsqualifikation, Wohnsitz am Ort der Geschäftsleitung, Pflicht zum Aktienbesitz, bei Familiengesellschaften: maßvolle Sicherung des Familieneinflusses).112) Weil für die Vorstandsbestellung § 6 Abs. 3 AGG eingreift,113) sind zudem diskriminierende Satzungsklauseln (nach Geschlecht, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Weltanschauung, Behinderung und Alter) grundsätzlich unzulässig. Die Festlegung einer Altershöchstgrenze entsprechend der Empfehlung B.5 40 DCGK ist aber jedenfalls zulässig, wenn sie der Regelaltersgrenze entspricht oder

___________ 109) OLG München, Beschl. v. 17.12.2009 – 31 Wx 142/09, ZIP 2010, 126 (127); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.4.2009 – I-3 Wx 85/09, ZIP 2009, 1074 (beide GmbH); Wachter/ Link, § 76 Rz. 65; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 253; Erdmann, NZG 2002, 503 f. 110) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 137; Koch, § 76 Rz. 59; K. Schmidt, GesR, § 28 II 2b) (S. 808). 111) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, BGHZ 180, 105 (110 f.), Rz. 14 = ZIP 2009, 1162 (1163). Dem folgt die ganz h. M.: Vgl. nur Koch, § 88 Rz. 4; Spindler, in: Festschrift K. Schmidt, S. 1529 (1539); Wirth, in: Festschrift Bauer, S. 1147 (1150) jeweils m. w. N. 112) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 139 ff.; Grigoleit/Grigoleit, § 76 Rz. 115 ff. (im Einzelnen str.). 113) BGH, Urt. v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, BGHZ 193, 110 (114), Rz. 19 = ZIP 2012, 1291 (GmbH); Koch, § 76 Rz. 63; ErfK-ArbR/Schlachter, § 6 AGG Rz. 5 f.; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 30; Wilsing/Meyer, NJW 2012, 3211 (3212); Wilsing/ Meyer, DB 2011, 341 (342); a. A. Mohr, ZHR 178 (2014), 326 (343 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

sonst einem legitimen Ziel (z. B. wegen spezifischer Ausbildungsanforderungen oder einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Ruhestand) dient.114) 41 Bei der Zusammensetzung des Vorstands soll gemäß der Empfehlung B.1 DCGK ferner dem Gesichtspunkt der Vielfalt (Diversity), und damit insbesondere der Internationalität oder Auslandserfahrung von Kandidaten,115) und bei börsennotierten oder mitbestimmten AGs zuletzt etwaigen vom Aufsichtsrat festgelegten Zielgrößen für den Frauenanteil (§ 111 Abs. 5 AktG; Grds. 9 Satz 2 DCGK) Rechnung zu tragen sein (Æ § 3 Rz. 181). 3.

Besondere Vorstandsmitglieder

42 Im mehrgliedrigen Vorstand kann der Aufsichtsrat ein Mitglied zum Vorstandsvorsitzenden ernennen (§ 84 Abs. 2 AktG) und nach h. M. auch eine Doppelspitze bestimmen.116) Die Bestellung ist nicht zwingend.117) Der Vorsitzende ist auf den Geschäftsbriefen (§ 80 Abs. 1 Satz 2 AktG) und im Anhang des Jahresabschlusses der Gesellschaft (§ 285 Nr. 10 Satz 2 HGB) als solcher zu bezeichnen. Seine Aufgaben sind gesetzlich nicht geregelt. Weil er grundsätzlich ein gleichberechtigtes Mitglied des Vorstands ist, stehen ihm – vorbehaltlich abweichender Bestimmungen zur Geschäftsführung (Æ Rz. 63 ff., 90) – im Ausgangspunkt dieselben Rechte und Pflichten wie allen anderen Vorstandsmitgliedern zu.118) Hinzu kommen die dem Vorsitzenden eines Kollegiums üblicherweise zustehenden Rechte, also vor allem die Vorbereitung und Leitung von Vorstandssitzungen, die Ausführung beschlossener Maßnahmen und die Repräsentation des Gesamtvorstands nach außen, so dass er vorrangiger Ansprechpartner für den Aufsichtsrat, Dritte, Aktionäre – zunehmend auch institutionelle Investoren119) – und die Öffentlichkeit ist.120) Darüber hin___________ 114) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 138; Bauer/Arnold, ZIP 2012 597 (600); Wilsing/ Meyer, NJW 2012, 3211 (3213); Wilsing/Meyer, DB 2011, 341 (343). Im Allgemeinen wird zudem eine Höchstgrenze unterhalb von 58 – 60 Jahren für unzulässig gehalten. Weiterführend zu Altersgrenzen: Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 266 ff.; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 76 Rz. 62. 115) Wilsing/Wilsing, Ziffer 5.1.2 Rz. 5; Ihrig/Schäfer, § 7 Rz. 105. 116) Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 96; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 70. 117) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 101; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 24 Rz. 2. 118) Zur faktischen Vormachtstellung des Vorsitzenden Semler, in: Festschrift Lutter, S. 721 (727 ff.). 119) Allgemein zu deren Rolle und zum Dialog zwischen institutionellen Investoren und den Vorsitzenden von Vorstand und Aufsichtsrat Bunz, NZG 2014, 1049 ff.; Hirt/Hopt/ Mattheus, AG 2016, 725 ff.; Kleinmanns, IRZ 2016, 341 ff.; Schockenhoff/Culmann, ZIP 2015, 297 ff. 120) Koch, § 84 Rz. 28 f.; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 50; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 117; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, 1981, S. 248; Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (663); Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 (748); Simons/Hanloser, AG 2010, 641 (642 f.).

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

aus obliegt dem Vorsitzenden eine besondere, über die allgemeine ressortübergreifende Überwachungspflicht (Æ Rz. 102 ff.) hinausgehende Amtspflicht zur sachlichen Koordination und Überwachung der Vorstandsarbeit.121) Sofern der Aufsichtsrat keinen Vorstandsvorsitzenden bestellt hat, kann der 43 Vorstand im Rahmen seiner allgemeinen Geschäftsordnungskompetenz gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG – und damit vorbehaltlich der vorrangigen Zuständigkeit des Aufsichtsrats (Æ Rz. 12) – aus seiner Mitte einen Vorstandssprecher ernennen.122) Aufgaben definiert das Gesetz auch insoweit nicht, so dass sie in der Geschäftsordnung festzulegen sind. Um die Kompetenzen des Aufsichtsrats gemäß § 84 Abs. 2 AktG nicht zu verletzen, darf der Sprecher nicht mit der gleichen Kompetenzfülle wie ein Vorsitzender ausgestattet werden.123) Das schließt insbesondere eine Übertragung der sachlichen Führung der Vorstandsarbeit und der damit einhergehenden Koordinierungs- und besonderen Überwachungsaufgaben aus. Hingegen sind die Übertragung der Sitzungsleitung und von Repräsentationsaufgaben gegenüber dem Aufsichtsrat und Regulierungsbehörden wie z. B. der BaFin oder anderen Behörden unbedenklich.124) Bei mitbestimmten Gesellschaften muss dem Vorstand als gleichberechtigtes 44 Mitglied ein vom Aufsichtsrat zu bestellender Arbeitsdirektor angehören (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG, § 13 Abs. 1 Satz 1 MontanMitbestG, § 13 Satz 2 Montan-MitbestErgG). Er ist in erster Linie für die Bereiche Personalplanung und -entwicklung, Personalverwaltung, Löhne, Arbeitsschutz und Gesundheit, Altersfürsorge, Einhaltung des Betriebsverfassungsrechts und Tarifrechts, Beachtung der Belange der Arbeitnehmer bei Vorstandsentscheidungen (Æ Rz. 23 ff., 28) und Kommunikation mit Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Betriebsräten zuständig.125) Dieser Kernbereich an Aufgaben des Personal- und Sozialwesens muss dem Arbeitsdirektor als unentziehbares Mindestressort verbleiben.126) Im Übrigen ist im Rahmen der Geschäftsverteilung dem Grundsatz der Gleichberechtigung des Arbeitsdirektors Rechnung zu tragen, so dass nur sachlich vertretbare und angemessene Differenzierungen und Beschränkungen im Verhältnis zu anderen Vorstandsmitgliedern zulässig ___________ 121) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 51; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 118; Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (663); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (516); Simons/Hanloser, AG 2010, 641 (643); a. A. Koch, § 93 Rz. 119; Fleischer, NZG 2003, 449 (455). 122) Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 47; Wilsing/Goslar, Ziffer 4.2.1 Rz. 17; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 24 Rz. 5. 123) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 100; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 57. 124) Koch, § 84 Rz. 30; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (517); Simons/Hanloser, AG 2010, 641 (644 ff.). 125) Ausführlich Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 60; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (505 f.); Schiessl, ZGR 1992, 64 (72 ff.). 126) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 23.4.1985 – 5 U 149/84, BB 1985, 1287 (1288); Koch, § 76 Rz. 57; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 66; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (505 f.); Schiessl, ZGR 1992, 64 (74 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

sind (Æ Rz. 68).127) Dem Arbeitsdirektor dürfen hingegen weitere Aufgaben und Befugnisse zugewiesen und das Ressort ggf. sogar dem Vorsitzenden oder einem anderen Ressortleiter übertragen werden. Der Arbeitsaufwand darf aber nicht so hoch werden, dass die eigenen Aufgaben nicht mehr zu bewältigen sind.128) 45 Für stellvertretende Vorstandsmitglieder gelten die gleichen Vorschriften wie für ordentliche Vorstandsmitglieder (§ 94 AktG). Sie sind nicht nur im Vertretungsfall, sondern ungeachtet der Bezeichnung echte Vorstandsmitglieder mit gleichen Rechten und Pflichten.129) Der Begriff hat also keine rechtliche Bedeutung, sondern erschöpft sich darin, durch die Titulierung eine im Innenverhältnis hierarchisch niedrigere Position – z. B. durch die Ausübung eines kleineren Ressorts – anzuzeigen.130) In der Praxis wird die Bezeichnung häufig für eine gewisse Bewährungszeit bei erstmaliger Berufung in den Vorstand verwendet.131) 46 Unter Durchbrechung der grundsätzlichen Inkompatibilität von Aufsichtsratsmandat und Vorstandsamt kann der Aufsichtsrat eines seiner Mitglieder zum Stellvertreter eines fehlenden oder verhinderten Vorstandsmitglieds bestellen (§ 105 Abs. 2 AktG). Praktisch wird dies vor allem relevant bei überraschender Vakanz (z. B. durch Tod oder Amtsniederlegung eines Vorstandsmitglieds) und daraus folgender Unterbesetzung des Vorstands (Æ Rz. 36). Für die insgesamt höchstens zweijährige (§ 105 Abs. 2 Satz 1 und 2 AktG) Dauer der Entsendung unterliegt das delegierte Organmitglied den gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Vorstandsmitglieder; hinsichtlich des Umfangs von Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis tritt es mangels einer abweichenden Bestimmung im Bestellungsbeschluss des Aufsichtsrats in die Rechtsstellung des fehlenden oder verhinderten Vorstandsmitglieds ein.132) Das Aufsichtsratsamt besteht während dieser Zeit fort, kann aber nicht ausgeübt werden (§ 105 Abs. 2 Satz 3 AktG). Nach Ende der Entsendung kehrt das Organmitglied automatisch in das Aufsichtsratsamt zurück.133) 47 Bei der Verteilung der Geschäftsführung auf verschiedene Ressorts (Æ Rz. 80 ff.) werden die für die Leitung des betreffenden Ressorts gebildeten Ausschüsse bzw. deren Mitglieder oder der alleinige Ressortleiter häufig als Bereichsvor___________ 127) MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 121; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 67; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 76 Rz. 58. 128) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 60; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 66. 129) OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.1.2012 – I-24 U 152/11, BeckRS 2012, 05972; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 94 Rz. 1; Koch, § 94 Rz. 1. 130) OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.1.2012 – I-24 U 152/11, BeckRS 2012, 05972; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 94 Rz. 3; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 94 Rz. 2; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 68; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 24 Rz. 20. 131) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 94 Rz. 1. 132) BeckOGK-AktG/Spindler, § 105 Rz. 37; MünchKommAktG/Habersack, § 105 Rz. 34; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 24 Rz. 29; Heidbüchel, WM 2004, 1317 (1320 f.). 133) Koch, § 105 Rz. 10.

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A. Ordnungsrahmen, Aufgaben, Zusammensetzung und Rechtsstellung

stand bezeichnet. Soweit – wie in der Praxis üblich – auch leitende Angestellte einem solchen Gremium angehören, erlangen sie durch die bloße Bezeichnung als Bereichsvorstand nicht die Stellung eines Vorstandsmitglieds mit sämtlichen Rechten und Pflichten einschließlich des Rechts zur Geschäftsführung.134) IV.

Rechtsstellung von Vorstandsmitgliedern

1.

Bestellung und Anstellung

Die rechtlichen Beziehungen eines Vorstandsmitglieds zur AG werden i. d. R. 48 durch zwei verschiedene Rechtsverhältnisse, ein korporationsrechtliches und ein vertragliches, bestimmt. Immer besteht zwischen der AG und dem Vorstandsmitglied ein organschaftliches Bestellungsverhältnis. Durch die erstmalige Bestellung oder Wiederbestellung135) des Vorstandsmitglieds, die in aller Regel durch den Aufsichtsrat (§ 84 Abs. 1 AktG; Æ § 3 Rz. 179 ff.) oder – praktisch deutlich seltener – gerichtlich (§ 85 Abs. 1 AktG) erfolgt, wird der Bestellte im Innen- wie im Außenverhältnis zum Mitglied des Vorstands als Organ der AG.136) Mit Entstehung der Organstellung genießt er automatisch alle gesetzlichen Rechte und treffen ihn die gesetzlichen Pflichten, insbesondere zur Leitung der Gesellschaft (Æ Rz. 15 ff.), zu Geschäftsführung (Æ Rz. 54 ff.) und Vertretung (Æ Rz. 180 ff.), Sorgfaltspflicht (Æ Rz. 226 ff.) Treue- und Verschwiegenheitspflicht (Æ Rz. 308 ff.) etc.137) Das organschaftliche Bestellungsverhältnis und mit ihr die Bindung an die gesetzlichen Rechte und Pflichten enden entweder durch Zeitablauf oder – praktisch häufig – vorzeitig, z. B. durch Amtsniederlegung,138) einvernehmliche Aufhebung oder den Widerruf der Bestellung durch den Aufsichtsrat (Æ § 3 Rz. 186 ff.). Daneben sollte zwischen dem Vorstandsmitglied und der AG regelmäßig – 49 rechtlich jedoch nicht zwingend – ein schuldrechtliches Anstellungsverhältnis begründet werden. Dieses entsteht durch den Abschluss eines Anstellungsvertrags zwischen dem Vorstandsmitglied und der AG, vertreten durch ihren Aufsichtsrat (§ 112 Satz 1 AktG; Æ Rz. 161 und § 3 Rz. 195 ff.). Im Anstellungsvertrag regeln die Parteien regelmäßig weitere Rechte und Pflichten des Vorstandsmitglieds, die sich nicht unmittelbar aus der Organstellung und damit kraft Gesetzes ergeben (Æ Rz. 460 ff.). Er ist bei entgeltlicher Tätigkeit ___________ 134) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 6; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 8; HoffmannBecking, ZGR 1998, 497 (510). 135) Zur vorzeitigen Wiederbestellung (§ 84 Abs. 1 Satz 3 AktG) siehe BGH, Urt. v. 17.7.2012 – II ZR 55/11, ZIP 2012, 1750 (1752), Rz. 21 ff.; Koch, § 84 Rz. 8; Paschos/von der Linden, AG 2012, 736 (738 ff.); Paul, EWiR 2011, 297 (298); Wilsing/Meyer, GWR 2011, 182. 136) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 17; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 9; K. Schmidt, GesR, § 28 II 2d) (S. 809). 137) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 9; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 14. 138) Vgl. dazu Leuering/Rubner, NJW-Spezial 2019, 719.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

und damit in aller Regel Dienstvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, so dass auf ihn die §§ 611 ff., 675 BGB Anwendung finden.139) Wichtige Regelungsinhalte sind z. B. die Vertragsdauer, Aufgaben und Ressortzuweisung, Vorstandsvergütung, D&O-Versicherung, Aufwandsentschädigungen, Ausstattung, Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Ruhegeld, Altersvorsorge, Berufsunfähigkeit, Wettbewerbsverbote und Nebentätigkeiten, Regelungen über ein etwaiges früheres Arbeitsverhältnis, Beendigungsmöglichkeiten, Pflichten bei Beendigung, Abfindung etc.140) Für die Beendigung des Anstellungsverhältnisses bedarf es in Ermangelung einer Befristung regelmäßig der einvernehmlichen Aufhebung oder Kündigung, wofür aufseiten der Gesellschaft wiederum der Aufsichtsrat zuständig ist (Æ § 3 Rz. 223 ff.). 50 Für das Verhältnis von Bestellung und Anstellung gilt die sog. Trennungstheorie, wonach beide rechtliche Ebenen streng voneinander zu unterscheiden sind. Mit einer Änderung hinsichtlich des organschaftlichen Bestellungsverhältnisses gehen daher grundsätzlich keine Änderungen des schuldrechtlichen Anstellungsverhältnisses einher und umgekehrt. Praktisch relevant wird dies vor allem im Fall der Beendigung der Organstellung, die nicht ohne Weiteres auch zur Beendigung des Anstellungsvertrags führt.141) In der Praxis muss der Aufsichtsrat daher oftmals besonderes Augenmerk auf eine bestmögliche Koordination beider Rechtsverhältnisse legen (Æ § 3 Rz. 200, 223).142) 2.

Mängel der Vorstandsbestellung („Fehlerhaftes Organmitglied“)

51 Wenn die Bestellung des Vorstandsmitglieds an einem Wirksamkeitsmangel leidet, insbesondere weil es an einem wirksamen Beschluss des Gesamtaufsichtsrats fehlt (Æ § 3 Rz. 179 f.)143) oder Bestellungshindernisse (Æ Rz. 38 ff.) bestehen, gilt die Lehre von der fehlerhaften Organstellung. Danach ist das Organverhältnis bis zur Geltendmachung des Mangels als wirksam anzusehen, wenn ein fehlerhafter Bestellungsakt vorliegt, das designierte Organmitglied die Organstellung in Vollzug gesetzt hat, indem es die Bestellung angenommen hat und auf dieser Grundlage für die Gesellschaft tätig geworden ist, und nicht ___________ 139) BGH, Urt. v. 7.12.1961 – II ZR 117/60, BGHZ 36, 142 = NJW 1962, 340 (343); BGH, Urt. v. 11.7.1953 – II ZR 126/52, BGHZ 10, 187 (191); Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 26; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 33; Bauer/Arnold, ZIP 2006, 2337. 140) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 47 ff.; Koch, § 84 Rz. 22; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 90 ff.; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 28. Muster bei Happ/Groß/Möhrle/Vetter/ Happ, Aktienrecht, unter 8.08; Beck’sches Formularbuch Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht/Hoffmann-Becking unter X. 13. 141) BGH, Urt. v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, ZIP 2003, 28 (29) (GmbH); BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, ZIP 1989, 1190 (1191); Wachter/Link, § 84 Rz. 2; Hölters/ Weber/Weber, § 84 Rz. 2; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 13. 142) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 25 f.; K. Schmidt, GesR, § 28 II 2d) (S. 809). 143) BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 (285) = NJW 1967, 1711.

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Illert

B. Geschäftsführung

ausnahmsweise höherrangige Schutzbelange der Allgemeinheit oder Einzelner entgegenstehen.144) Das fehlerhaft bestellte Vorstandsmitglied ist damit bis zur Geltendmachung der Nichtigkeit im Grundsatz wie jedes wirksam bestellte Vorstandsmitglied zu behandeln. Es hat dieselben Rechte und unterliegt denselben Pflichten. 3.

Rechtsstellung im Übrigen

Ein Vorstandsmitglied kann, muss aber nicht zwingend Aktionär der Gesell- 52 schaft sein (Æ Rz. 38). Weil Vorstandsmitglieder i. d. R. die Arbeitgeberrolle für die sie beschäftigende Gesellschaft ausüben, sind sie nach allgemeiner Auffassung keine Arbeitnehmer.145) Im Einzelfall können arbeitsrechtliche Schutznormen aber auf sie Anwendung finden, sofern die konkrete Stellung arbeitnehmerähnlich ist und sich aus der betreffenden Arbeitnehmerschutznorm bzw. deren Auslegung nichts anderes ergibt (z. B. §§ 622, 630 BGB, §§ 850 ff. ZPO, § 7, 17 BetrAVG).146) Im Übrigen müssen Vorstandsmitglieder vertraglich Vorsorge treffen (Æ Rz. 49; 460 ff.). Die Rechtsprechung ordnet Vorstandsmitglieder schließlich – zumindest bei 53 Abschluss des Anstellungsvertrags – als Verbraucher ein.147) Diese – praktisch oftmals vorformulierten – Verträge unterliegen daher selbst bei erstmaliger Verwendung wegen der Bestimmung in § 310 Abs. 3 BGB der AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB, wenn sie nicht im Einzelnen individuell ausverhandelt werden.148) B.

Geschäftsführung

I.

Begriff und Abgrenzung

Meyer

Der Begriff der Geschäftsführung ist sehr weit zu verstehen und umfasst jedes 54 Handeln des Vorstands für die Gesellschaft, sei es tatsächlicher (z. B. Produktionsumstellung, Bilanzierungsmaßnahmen) oder rechtlicher Natur (z. B. Abschluss von Kauf-, Dienst-, Liefer- oder Kreditverträgen etc.), mit Wirkung nach ___________ 144) Zum Ganzen BGH, Beschl. v. 27.9.2011 – II ZR 225/08, ZIP 2011, 2195; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 22 ff.; Koch, § 84 Rz. 12 ff.; Bayer/Lieder, NZG 2012, 1 ff. 145) BGH, Urt. v. 7.12.1961 – II ZR 117/60, BGHZ 36, 142 = NJW 1962, 340 (343); BGH, Urt. v. 16.12.1953 – II ZR 41/53, NJW 1954, 505 (508); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 35; Wilsing/Meyer, DB 2011, 341. 146) Koch, § 84 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 26; Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 55 ff. 147) BGH, Urt. v. 24.9.2019 – II ZR 192/18, ZIP 2019, 2349 f., Rz. 12 ff.; OLG Hamm, Beschl. v. 18.7.2007, 8 Sch 2/07, AG 2007, 910 (911 f.). Dem folgt die h. M.: Schmidt/ Lutter/Seibt, § 76 Rz. 7; Bauer/Arnold/Kramer, AG 2014, 677 (678 f.); Bauer/Baeck/v. Medem, NZG 2010, 721 (723); Fleischer, NZG 2010, 561 (562); Meyer, DB 2020, 47; Wilsing/ Meyer, DB 2011, 341 (344); a. A. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 276a, 282. 148) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 26; Koch, § 84 Rz. 21; v. Westphalen, BB 2015, 834 (835 ff.); Wilsing/Meyer, DB 2011, 341 (344).

Meyer

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

innen (z. B. Beschlussfassung als Vorgang der Willensbildung, Führung der Handelsbücher, Berichterstattung gemäß § 90 AktG, Vorlage von Geschäftsführungsmaßnahmen an die Hauptversammlung gemäß § 119 Abs. 2 AktG, Erteilung von Auskünften in der Hauptversammlung gemäß § 131 AktG, organisatorische Maßnahmen etc.) oder nach außen (jegliches Ausführen von Vorstandsbeschlüssen, vor allem im Wege rechtsgeschäftlicher Vertretung, aber auch durch Realakte).149) Damit ist jede Einzelmaßnahme, die der Vorstand für die AG trifft, immer auch eine Maßnahme der Geschäftsführung. 55 § 77 AktG setzt die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands implizit voraus. Damit trifft die Vorschrift zum einen eine indirekte Aussage zur Kompetenzverteilung zwischen den Organen der AG: Der Vorstand ist im Bereich der Geschäftsführung allzuständig und in diesem Rahmen lediglich durch Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Aufsichtsrats (§ 111 Abs. 4 AktG) oder der Hauptversammlung begrenzt; eigene Geschäftsführungskompetenzen des Aufsichtsrats (Æ § 3 Rz. 177 ff.) bzw. der Hauptversammlung (§ 119 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 167) bestehen hingegen nur in engen Grenzen und vor allem zugunsten der Hauptversammlung nur auf Veranlassung des Vorstands.150) Zum anderen folgt aus § 77 AktG, dass die organschaftliche Geschäftsführungsbefugnis weder (leitenden) Angestellten unterhalb des Vorstands (inklusive sog. Bereichsvorständen; Æ Rz. 47) noch unternehmensfremden Dritten zusteht.151) Diesen Personen können bestimmte Aufgaben allenfalls im Wege der Delegation übertragen werden (Æ Rz. 109 ff.). Die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands findet ihre Grenzen vor allem in den Vorschriften des AktG und darüber hinaus in der Satzung und den Geschäftsordnungen des Vorstands und Aufsichtsrats sowie in den von Aufsichtsrat und Hauptversammlung getroffenen Beschränkungen (§ 82 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 152 ff.). Zu den Folgen bei Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis siehe Rz. 176 ff. 56 Mit dem Begriff der Geschäftsführung ist derjenige der Leitung der Gesellschaft gemäß § 76 Abs. 1 AktG (Æ Rz. 15 ff.) nicht identisch. Letzterer bezeichnet vielmehr den herausgehobenen Teilbereich der umfassenden Geschäftsführungsaufgabe, der die Führungsfunktion des Vorstands betrifft.152) 57 Von der Geschäftsführung ist ferner die Vertretung der Gesellschaft zu unterscheiden. Sie umfasst jedes nach außen gerichtete rechtsgeschäftliche Handeln ___________ 149) OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (603); Koch, § 77 Rz. 3; KKAktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 2 ff.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 4; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 6; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 90. 150) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 6; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 2 f.; Ihrig/Schäfer, § 19 Rz. 541; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (300). 151) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 4; Koch, § 77 Rz. 5; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 1. 152) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 28 ff.; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 2; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 4 Rz. 6; Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 (518 f.); Fleischer, ZIP 2003, 1 (3).

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B. Geschäftsführung

des Vorstands im Namen der Gesellschaft gegenüber Dritten (Æ Rz. 180 ff.). Vertretung ist damit ein Teilbereich der Geschäftsführung. Während die Geschäftsführungsbefugnis das rechtliche Dürfen des Vorstands im Innenverhältnis zur Gesellschaft umschreibt, zeigt die Vertretungsmacht das rechtliche Können im Außenverhältnis gegenüber Dritten an. Ein und dieselbe Maßnahme (z. B. Abschluss eines Vertrags) kann unter beiden Blickwinkeln zu würdigen sein. Beide Ebenen sind dabei unabhängig voneinander zu beurteilen. Ob der Vorstand bei einem Geschäft im Rahmen seiner Geschäftsführungsbefugnis i. S. v. § 77 AktG agiert und insbesondere die ihm im Innenverhältnis vorgegebenen Schranken i. S. d. § 82 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 152 ff.) beachtet hat, ist für die Wirksamkeit des Geschäfts gegenüber Dritten also i. d. R. ohne Belang, solange bei Abschluss des Geschäfts eine hinreichende Vertretungsmacht des Vorstands i. S. v. § 78 AktG vorlag (Æ Rz. 180 ff.).153) Grundlagengeschäfte müssen von der Geschäftsführung allenfalls im Einzel- 58 fall im Hinblick auf etwaige ungeschriebene Vorlagepflichten des Vorstands an die Hauptversammlung nach den Grundsätzen der sog. Holzmüller- bzw. Gelatine-Doktrin (Æ Rz. 169 ff.) abgegrenzt werden.154) II.

Ausgestaltung der Geschäftsführung

1.

Gesetzliche Regel: Gesamtgeschäftsführung und Einstimmigkeit

Bei dem – praktisch den Regelfall bildenden – mehrgliedrigen Vorstand sind 59 sämtliche Vorstandsmitglieder nur gemeinschaftlich geschäftsführungsbefugt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AktG). Die Willensbildung muss sich also nach der gesetzlichen Grundregel in allen Angelegenheiten der Gesellschaft durch die Fassung eines einstimmigen Beschlusses (Æ Rz. 130 ff.) vollziehen, und die entsprechende Maßnahme darf nach dem Einstimmigkeitsprinzip nahezu ausnahmslos nur umgesetzt werden, wenn alle Vorstandsmitglieder der Maßnahme ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt haben; dissentierende Vorstandsmitglieder müssen keinen ausdrücklichen Widerspruch erklären.155) Die Zustimmung muss für das konkrete Geschäft oder darf auch im Voraus für eine Reihe gleichartiger Geschäfte erteilt werden; eine Generaleinwilligung für sämtliche Geschäfte ist hingegen unzulässig.156) Allein für die Einberufung der Hauptversammlung lässt das Gesetz einen Beschluss mit einfacher Mehrheit genügen (§ 121 Abs. 2 Satz 1 AktG; Æ Rz. 383 ff.). Darüber hinaus kann das Einstim___________ 153) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 5; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 3; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 77 Rz. 4; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 1. 154) Wachter/Link, § 77 Rz. 2; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 6. 155) Allg. M., Koch, § 77 Rz. 6; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 10; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 11; Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 5; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (508); Wicke, NJW 2007, 3755. 156) MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 11; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 552.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

migkeitsprinzip im Einzelfall durch die wechselseitige Verpflichtung zu kollegialer Zusammenarbeit und die daraus folgende Pflicht zu ernsthaftem Bemühen um einen Konsens (ggf. unter Einbeziehung des Aufsichtsratsvorsitzenden) abgemildert sein.157) 60 Unter Durchbrechung der vorgenannten Grundsätze kann ausnahmsweise ein Notgeschäftsführungsrecht einzelner oder mehrerer Vorstandsmitglieder bestehen. Sofern Geschäftsführungsmaßnahmen wegen Gefahr im Verzug keinen Aufschub dulden, ist die Zustimmung nicht erreichbarer158) Vorstandsmitglieder in entsprechender Anwendung von §§ 115 Abs. 2 HGB, 744 Abs. 2 BGB ausnahmsweise zur Erhaltung eines Gegenstands des Gesellschaftsvermögens oder zur anderweitigen Abwendung von Schäden von der Gesellschaft verzichtbar.159) Die übergangenen Vorstandsmitglieder müssen aber umgehend nachträglich unterrichtet werden und können noch bis zur Durchführung der Maßnahme widersprechen.160) 61 Praxishinweis: Das Notgeschäftsführungsrecht sollte nur im absoluten Ausnahmefall bemüht werden, weil i. d. R. hinreichende Kommunikationsmittel zur kurzfristigen und rechtzeitigen Abstimmung bestehen dürften. 62 Für den Alleinvorstand – der praktisch allenfalls bei kleinen AGs vorkommt – gilt zwangsläufig eine umfassende Allkompetenz in Geschäftsführungsfragen. 2.

Abweichende Gestaltungen und Binnenorganisation des Vorstands

63 Die gesetzlich vorgesehene Gesamtgeschäftsführung ist für Gesellschaften mit mehrgliedrigem Vorstand – vor allem für große börsennotierte AGs – vollkommen impraktikabel, da sie zu schwerfälligen Entscheidungsprozessen und Blockademöglichkeiten einzelner Mitglieder führt. Gesellschaften wählen deshalb in aller Regel eine flexiblere Gestaltung der Geschäftsführung161) und nutzen die Ermächtigung, durch Satzung oder Geschäftsordnung des Vorstands, Abweichendes bestimmen zu können (§ 77 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AktG). 64 In der Satzung sind solche Bestimmungen dabei eher selten zu finden, weil jede Änderung der Geschäftsführungsbefugnis dann eines Beschlusses der Hauptversammlung bedürfte (Æ Rz. 7). Hingegen kann die Geschäftsordnung des ___________ 157) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 8; Beck’sches MandatsHdb Vorstand/Lücke, 2010, § 3 Rz. 37; Raiser/Veil, § 14 Rz. 83. 158) Zu suspendierten, vom Dienst befreiten und sich im Urlaub befindlichen Vorstandsmitgliedern siehe Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 12 und KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 9. 159) Allg. M., BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 9; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 6; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 4; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2202). 160) Wachter/Link, § 77 Rz. 4; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 77 Rz. 5; Koch, § 77 Rz. 6; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 11; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 5. 161) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 7; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2202).

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B. Geschäftsführung

Vorstands jedenfalls vom Aufsichtsrat und ggf. sogar vom Vorstand selbst – wenn auch nur durch einstimmigen Beschluss – erlassen und geändert werden (Æ Rz. 12). Diese größere Flexibilität hat zur Folge, dass Einzelheiten zur Geschäftsführung in der Praxis meist in der Geschäftsordnung des Vorstands geregelt werden.162) Ebenso üblich sind Regelungen in einem gesonderten Geschäftsverteilungsplan. Dieser besteht oft neben der Geschäftsordnung (z. B. als separate Anlage) und beschreibt inhaltlich die einzelnen Geschäftsbereiche, ggf. unter Nennung der Namen der jeweils zuständigen Vorstandsmitglieder. Als Annex zur Geschäftsordnung unterliegt der Geschäftsverteilungsplan denselben gesetzlichen Bestimmungen wie diese.163) Er bietet daher eine vergleichbar große Flexibilität. Ob bzw. welche abweichende Bestimmung zur Geschäftsführung besteht, mag 65 im Einzelfall nur durch – objektive – Auslegung der Satzung bzw. Geschäftsordnung (Æ Rz. 10 f.) festzustellen sein. Dabei können Regelungen zur Vertretungsmacht für die Bestimmung der Geschäftsführungsbefugnis jedoch nicht herangezogen werden, da Vertretung und Geschäftsführung unterschiedlich ausgestaltet sein können (Æ Rz. 57).164) Mangels schriftlicher Niederlegung begründet es keine abweichende Geschäfts- 66 ordnungsregel, wenn der Vorstand in gängiger Praxis von der gesetzlichen Gesamtgeschäftsführung abweicht, ohne dass dies schriftlich durch die Satzung oder Geschäftsordnung des Vorstands gedeckt ist.165) Solche Beschlüsse können aber ausnahmsweise wirksam sein, wenn die Minderheit sie respektiert und dadurch konkludent ihre Zustimmung bei Geltung des Einstimmigkeitsprinzips zum Ausdruck bringt.166) a)

Gestaltungsgrenzen

Von einer Aufteilung unter den Vorstandsmitgliedern sind zunächst alle Auf- 67 gaben ausgenommen, die zwingend in die gesetzliche Zuständigkeit des Vorstands als Kollegialorgan fallen. Insbesondere im Bereich der Leitungsaufgaben (Æ Rz. 15 ff.) bedarf es daher immer eines Gesamtvorstandsbeschlusses.167) ___________ 162) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 7; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 558; Langer/Peters, BB 2012, 2575 (2576 f.); Rieger, in: Festschrift Peltzer, S. 339 (346). 163) Vgl. Koch, § 77 Rz. 21; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 81 f. 164) Koch, § 77 Rz. 9; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 10; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 7; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 92. 165) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 10; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 82; Wicke, NJW 2007, 3755. 166) Koch, § 77 Rz. 9; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 20; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 11; vgl. auch Wachter/Link, § 77 Rz. 4. 167) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 19; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 24; v. Hein, ZHR 166 (2002), 464 (485 f.); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (508); Schiessl, ZGR 1992, 64 (67 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Einzelne Vorstandsmitglieder können insoweit allenfalls mit der Vorbereitung und Umsetzung, aber nicht mit der Durchführung der Entscheidung des Gesamtvorstands betraut werden.168) Abweichende Regelungen sind nichtig. 68 Unzulässig sind auch Gestaltungen, die den Grundsatz der Gleichberechtigung aller Vorstandsmitglieder verletzen.169) Dieser verbietet es, Vorstandsmitglieder zu Mitgliedern „zweiter Klasse“ herabzustufen (z. B. durch einen völligen Ausschluss von der Geschäftsführung oder ähnlich krasse Ungleichgewichtungen), lässt aber durchaus Raum für unterschiedlich zugeschnittene Aufgaben- und Verantwortungsbereiche.170) 69 Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist ferner, dass bei Beschlüssen des Vorstands als Kollegialorgan kein Alleinentscheidungsrecht zugunsten eines Vorstandsmitglieds begründet werden kann.171) Das folgt aus dem Grundsatz, dass ein oder mehrere Mitglieder nicht gegen die Mehrheit der Vorstandsmitglieder entscheiden können (§ 77 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AktG). b)

Zulässige Gestaltungsinhalte

70 Im Rahmen der vorgenannten Grenzen sind Abweichungen von der gesetzlichen Gesamtgeschäftsführung im Wesentlichen in zwei Richtungen denkbar, nämlich durch Einführung des Mehrheitsprinzips bei fortdauernder Gesamtgeschäftsführung oder durch Einführung von Einzelgeschäftsführung.172) aa)

Mehrheitsbeschlüsse bei Gesamtvorstandsentscheidungen

71 Grundsätzlich zulässig ist die Abweichung vom Einstimmigkeitserfordernis bei Vorstandsbeschlüssen, und zwar auch für Beschlussgegenstände, über die der Vorstand zwingend als Kollegialorgan entscheiden muss (Æ Rz. 15 ff.).173) Ausnahmen gelten nur bei gesetzlich vorgeschriebener Einstimmigkeit (z. B. § 77 Abs. 2 Satz 3 AktG) und denknotwendig im zweigliedrigen Vorstand.174)

___________ 168) Koch, § 77 Rz. 17 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 19; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2204). 169) Wachter/Link, § 77 Rz. 9; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 41; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 19; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (514). 170) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 41; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (514 f.); Langer/ Peters, BB 2012, 2575 (2577); Wicke, NJW 2007, 3755 (3557). 171) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 14; Koch, § 77 Rz. 16; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 25. 172) Ebenso untergliedernd BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 10 ff.; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 21. 173) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 36 a. E.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 16; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (304 f.); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (508). 174) Ihrig/Schäfer, § 2 Rz. 37.

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B. Geschäftsführung

Satzung oder Geschäftsordnung können sowohl generell als auch nur für be- 72 stimmte Geschäfte eine mehrheitliche Beschlussfassung vorsehen, das Mehrheitserfordernis näher ausgestalten (z. B. einfache oder qualifizierte Mehrheit) und Abstufungen zwischen Einstimmigkeit, qualifizierter und einfacher Mehrheit festlegen (z. B. nach Art oder Bedeutung des Beschlussgegenstands, nach Beschlussfassung in oder außerhalb von Sitzungen).175) Wird ohne weitere Differenzierung ein „Mehrheitserfordernis“ aufgestellt, meint das im Zweifel die einfache Mehrheit.176) Selbst wenn eine Regelung zu Mehrheitsbeschlüssen ganz fehlt, soll sich die Geltung des Mehrheitsprinzips für Vorstandsbeschlüsse im Zweifel aus einer Geschäftsverteilung (Æ Rz. 80 ff.) unter den Vorstandsmitgliedern ableiten lassen.177) Welche Bezugsgröße für die Mehrheitsermittlung gilt, kann im Einzelfall 73 praktisch schwierig zu beantworten sein. Probleme ergeben sich hier aufgrund der unterschiedlichen Wirkweisen von Enthaltungen und diesen gleichgestellten ungültigen Stimmabgaben. Mögliche Bezugsgröße kann erstens die Mehrheit aller amtierenden Mitglieder sein. Hier wirken Enthaltungen im Ergebnis wie Nein-Stimmen.178) Zweitens kann es auf die Mehrheit der anwesenden179) bzw. an der Beschlussfassung teilnehmenden Mitglieder ankommen. Auch hier haben Enthaltungen die Wirkung von Nein-Stimmen.180) Denn für die Berechnung der Gesamtzahl der teilnehmenden Mitglieder sind Enthaltungen zu berücksichtigen.181) Drittens kann die Mehrheit der abgegebenen Stimmen als Bezugsgröße dienen. In diesem Fall sind Enthaltungen nicht zu berücksichtigen.182) Die Mehrheit wird folglich allein aus den Ja- und Nein-Stimmen ermittelt und nur hier hat die Enthaltung auf die Ermittlung der Beschlussmehrheit keine Auswirkungen.183) In diesem Sinne hat der BGH mitunter (Satzungs-)Regelungen ___________ 175) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 12; Koch, § 77 Rz. 11; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11. 176) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 21; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 10. 177) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 47; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11, 16. 178) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 8. 179) Vorstandsmitglieder, die allenfalls physisch anwesend sind, jedoch vollständig von einer Stimmabgabe absehen, dürften schon nicht als anwesend in diesem Sinne gelten. 180) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 8. Vgl. auch BGH, Urt. v. 12.1.1987 – II ZR 152/86, ZIP 1987, 635 (636); BGHZ 83, 35 (37) = ZIP 1982, 693 (694) (Verein). 181) Vgl. BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056 (1058), Rz. 13 (Aufsichtsrat); BGH, Urt. v. 25.1.1982 – II ZR 164/81, BGHZ 83, 35 (37) = ZIP 1982, 693 (694) (Verein). 182) BGH, Urt. v. 12.1.1987 – II ZR 152/86, ZIP 1987, 635 (636); BGH, Urt. v. 25.1.1982 – II ZR 164/81, BGHZ 83, 35 (37) = ZIP 1982, 693 (694) (beide Verein); Wachter/Link, § 77 Rz. 18; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 10. 183) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 10.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

ausgelegt, die nach ihrem Wortlaut auf die Mehrheit der anwesenden Mitglieder abstellen.184) Beispiel: 74 Im fünfgliedrigen Vorstand erfolgt bei Abwesenheit eines Mitglieds ein Beschluss mit zwei Ja- gegen eine Nein-Stimme bei einer Enthaltung. Der Beschluss erreicht weder die Mehrheit aller noch die Mehrheit der anwesenden bzw. teilnehmenden Mitglieder, sondern nur die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Eine erforderliche einfache Mehrheit ist damit nur zustande gekommen, wenn Satzung oder Geschäftsordnung auf die Mehrheit der abgegebenen Stimmen abstellen oder sich eine Regelung zur Mehrheit der anwesenden Mitglieder im Einzelfall nach der Rechtsprechung des BGH ebenso auslegen lässt. 75 Im Interesse größtmöglicher Rechtssicherheit ist die Aufnahme einer unzweideutigen Satzungs- oder Geschäftsordnungsregelung der (bei unterschiedlichen Mehrheitserfordernissen ggf. jeweiligen) Bezugsgröße für die Mehrheitsermittlung einschließlich des Stimmwerts von Enthaltungen dringend zu empfehlen.185) Fehlt es daran und lässt sich die Frage auch nicht durch Auslegung der Satzung bzw. Geschäftsordnung (Æ Rz. 10 f.) – ggf. unter Berücksichtigung einer langjährigen Praxis – hinreichend klar beantworten, ist nach h. M. die Mehrheit aller anwesenden Mitglieder maßgeblich.186) Aus Gründen der Vorsicht und im Lichte der gesetzlichen Grundentscheidung für die Gesamtgeschäftsführung (Æ Rz. 59) sollte jedoch auf die Mehrheit aller Vorstandsmitglieder abgestellt werden.187) Weil Enthaltungen damit wie Nein-Stimmen wirken (Æ Rz. 73 f.), ist eine eindeutige Regelung, wonach die Mehrheit der abgegebenen Ja- und Nein-Stimmen maßgeblich sein soll, umso ratsamer. 76 Stimmengleichheit bedeutet keine Mehrheit und führt damit zur Ablehnung des Beschlussantrags, wenn nicht abweichend bestimmt ist, dass die Stimme eines Mitglieds den Ausschlag geben soll.188) Ein solches Recht zum Stichentscheid zur Auflösung von Pattsituation jeglicher Art189) ist grundsätzlich zulässig.190) Ausgeschlossen ist seine Einräumung nur zugunsten eines Gremiums, das auch ___________ 184) vgl. BGH, Urt. v. 12.1.1987 – II ZR 152/86, ZIP 1987, 635 (636); BGH, Urt. v. 25.1.1982 – II ZR 164/81, BGHZ 83, 35 (37) = ZIP 1982, 693 (694) (beide zum Verein). 185) MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 8. 186) Wachter/Link, § 77 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 12; Großkomm-AktG/ Kort, § 77 Rz. 21; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 13. 187) Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 10; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 8; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (510). 188) Allg. M., vgl. BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48 (59) = ZIP 1984, 55 (58) (GmbH); Koch, § 77 Rz. 11; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 12; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 14; Säcker, DB 1977, 1993 (1999); Schiessl, ZGR 1992, 64 (70); Turiaux/ Knigge, DB 2004, 2199 (2203); Wicke, NJW 2007, 3755 (3756). 189) Dazu Wachter/Link, § 77 Rz. 10; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 12. 190) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 13; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 26; HoffmannBecking, NZG 2003, 745 (746).

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B. Geschäftsführung

mit Nichtvorstandsmitgliedern besetzt ist191) sowie nach h. M. im zweigliedrigen Vorstand, weil es dort auf ein Alleinentscheidungsrecht (Æ Rz. 69) hinausliefe.192) Einzelnen oder mehreren Vorstandsmitgliedern kann ferner ein vertagendes 77 Vetorecht zur Blockade von Mehrheitsentscheidungen eingeräumt werden.193) Gleiches nimmt die h. M. auch für ein endgültiges Vetorecht an, selbst wenn dies nur einem einzigen Mitglied eingeräumt wird.194) Mit der Gegenansicht lassen sich beachtliche Gründe dafür anführen, dass ein solches endgültiges Vetorecht – jedenfalls wenn es einem Vorstandsmitglied exklusiv gewährt wird – mit dem Verbot eines Alleinentscheidungsrechts (Æ Rz. 69) unvereinbar ist.195) Der BGH hat dies jedenfalls für mitbestimmte Gesellschaften, bei denen ein Arbeitsdirektor zu bestellen ist (Æ Rz. 44), angenommen.196) Denn das Vetorecht würde die Gleichberechtigung des Arbeitsdirektors in Frage stellen, auch wenn diesem das Widerspruchsrecht selbst eingeräumt wird.197) Satzung bzw. Geschäftsordnung können für bestimmte Beschlussgegenstände 78 das Einstimmigkeitserfordernis beibehalten, insoweit aber als abweichende ___________ 191) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 12; Götz, ZGR 2003, 1 (15). 192) H. M., vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.5.2000 – 8 U 233/99, ZIP 2000, 1578 (1580); OLG Hamburg, Beschl. v. 20.5.1985 – 2 W 49/84, juris; Koch, § 77 Rz. 11; Großkomm-AktG/ Kort, § 77 Rz. 26; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (518); Schiessl, ZGR 1992, 64 (70); a. A. Bürkle, AG 2012, 232 ff.; Priester, AG 1984, 253 ff.; Riegger, BB 1972, 592. 193) Allg.M., vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.5.2000 – 8 U 233/99, ZIP 2000, 1578 (1580); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 16; Koch, § 77 Rz. 12; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 13; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 14; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 16; Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (665 ff.); Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 (748); HoffmannBecking, ZGR 1998, 497 (518 f.); Langer/Peters, BB 2012, 2575 (2580 f.); Schiessl, ZGR 1992, 64 (70); Simons/Hanloser, AG 2010, 641 (644); offenlassend BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48 (58) = ZIP 1984, 55 (58). 194) OLG Karlsruhe, Urt. v. 23.5.2000 – 8 U 233/99, ZIP 2000, 1578 (1580); BeckOGKAktG/Fleischer, § 77 Rz. 16; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 13; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 14; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 16; Langer/Peters, BB 2012, 2575 (2580 f.); Schiessl, ZGR 1992, 64 (70). Vgl. zur SE auch MünchKommAktG/Reichert/ Brandes, Art. 50 SE-VO Rz. 31: Art. 50 Abs. 1 SE-VO lässt Gestaltungen, die vom Prinzip der Beschlussfassung des Leitungsorgans mit einfacher Mehrheit abweichen, ausdrücklich zu. Aus Art. 50 Abs. 2 SE-VO ergibt sich vielmehr, dass der Vorsitzende des Leitungsorgans gegenüber den übrigen Mitgliedern des Leitungsorgans schon von Gesetzes wegen eine herausgehobene Stellung hat. Anders als für den Vorstand der AG gilt das auch für das mitbestimmte Leitungsorgan der SE. 195) Koch, § 77 Rz. 12; Ihrig/Schäfer, § 1 Rz. 19 und § 2 Rz. 38; Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (665 ff.); Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 (748); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (518 f.); Simons/Hanloser, AG 2010, 641 (644); wohl auch offenlassend BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, BGHZ 89, 48 (58) = ZIP 1984, 55 (58). 196) BGHZ 89, 48 (58) = ZIP 1984, 55 (58); zustimmend die ganz h. M., vgl. GroßkommAktG/Kort, § 77 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 14; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 15; Ihrig/Schäfer, § 1 Rz. 19; a. A. MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 10. 197) BGHZ 89, 48 (58) = ZIP 1984, 55 (58); Koch, § 77 Rz. 13; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 29.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Bezugsgröße (Æ Rz. 73 ff.) z. B. alle abgegebenen Stimmen festlegen, um einzelnen Mitgliedern die Möglichkeit zur Verhinderung zu nehmen.198) 79 Fehlt es an eindeutigen Regelungen zur Beschlussfähigkeit, ist zu unterscheiden: Muss der konkrete Beschluss einstimmig gefasst werden, ist der Vorstand entsprechend der gesetzlichen Regelung grundsätzlich nur bei Teilnahme aller Mitglieder beschlussfähig (Æ Rz. 59 f.).199) Für Mehrheitsbeschlüsse erscheint es hingegen wegen der damit verbundenen Abkehr vom Gesamtgeschäftsführungsprinzip vertretbar, dass diese auch bei Abwesenheit einzelner Mitglieder durch die Mehrheit der teilnehmenden Mitglieder (Æ Rz. 73) – ggf. sogar durch ein einziges Mitglied – wirksam gefasst werden können, solange nur alle Mitglieder ordnungsgemäß zur Beschlussfassung geladen (Æ Rz. 130) wurden.200) Davon abweichend können Satzung oder Geschäftsordnung – selbst für einstimmige Beschlüsse – ein Quorum vorsehen, wonach die Teilnahme einer Mindestzahl von Vorstandsmitgliedern erforderlich aber auch ausreichend ist (z. B. Anwesenheit mindestens der Hälfte der Mitglieder einschließlich des Vorsitzenden).201) bb)

Einzelgeschäftsführung und Geschäftsverteilung

80 Statt einer Beibehaltung der Gesamtgeschäftsführung und Einführung des Mehrheitsprinzips kann in der Satzung oder Geschäftsordnung (Æ Rz. 63 ff.) ferner eine Geschäftsverteilung erfolgen, indem einzelnen Vorstandsmitgliedern Einzelgeschäftsführungsbefugnis erteilt wird. Zulässig sind sowohl die unbeschränkte als auch die – praktisch üblichere – beschränkte Einzelgeschäftsführung, bei der die Geschäftsführungsbefugnis auf ein bestimmtes Gebiet, z. B. eine Funktion (Æ Rz. 85), Sparte oder Region (Æ Rz. 86) oder einen sonstigen Bereich, begrenzt ist.202) Die Ressortzuweisung führt zur horizontalen Delegation (Æ Rz. 95) und bewirkt zweierlei: Einerseits begründet sie für das jeweils zuständige Vorstandsmitglied in dem zugewiesenen Geschäftsbereich ein Alleinentscheidungsrecht mit Wirkung für den Gesamtvorstand, andererseits beschränkt sie negativ dessen Geschäftsführungskompetenz nur auf diesen Bereich.203) Wegen der Vielgestaltigkeit der Aufgaben des Vorstands ist eine solche Arbeitsteilung heute praktisch unerlässlich. Selbstverständlich kann aber ___________ 198) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11. 199) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 45; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 25; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 87; so wohl auch BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 77 Rz. 23. 200) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 45; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 87. So wohl auch MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 25. 201) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 88. 202) Koch, § 77 Rz. 10; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 23; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 16. 203) Koch, § 77 Rz. 14; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 23; Fleischer, NZG 2003, 492 (452).

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B. Geschäftsführung

und wird regelmäßig bestimmt werden, dass ein bestimmter Kreis von besonders bedeutenden Geschäften in der Kompetenz des Gesamtvorstands verbleiben soll, selbst wenn diese nicht zwingend in die Kompetenz des Vorstands als Kollegialorgan fallen.204) Beim konkreten Zuschnitt der einzelnen Aufgabenund Verantwortungsbereiche ist stets die Gleichberechtigung aller Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 68) zu beachten. Die Einzelgeschäftsführungsbefugnis eines ressortverantwortlichen Vorstands- 81 mitglieds findet ihre Grenzen in konkretisierenden Satzungs- bzw. Geschäftsordnungsregelungen. Einzelne Mitglieder können etwa an die Mitwirkung eines oder mehrerer anderer Mitglieder oder Prokuristen gebunden sein, oder zugunsten der übrigen Vorstandsmitglieder kann ein Widerspruchsrecht vorgesehen werden.205) Auch die Ressortzuständigkeit der übrigen Mitglieder schränkt die Handlungsfreiheit eines Mitglieds mit Einzelgeschäftsführungsbefugnis ein und belässt den nicht zuständigen Mitgliedern lediglich das Recht, die Angelegenheit zur bindenden Entscheidung vor den Gesamtvorstand zu bringen.206) Es besteht sogar eine Pflicht zur Befassung des Gesamtvorstands, wenn Zweifel über die Zuständigkeit eines oder mehrerer Ressorts bestehen oder die Angelegenheit – als Leitungsaufgabe (Æ Rz. 15 ff.) oder kraft ausdrücklicher Regelung in Satzung bzw. Geschäftsordnung – in die originäre Kompetenz des Vorstands als Kollegialorgan fällt.207) Die Geschäftsverteilung hat nicht zur Folge, dass sich Verantwortung und 82 Haftung der Vorstandsmitglieder auf den ihnen übertragenen Geschäftsbereich beschränken (sog. Grundsatz der Gesamtverantwortung; Æ Rz. 91). Neben der Pflicht zur Geschäftsführung im eigenen Ressort müssen alle Vorstandsmitglieder daher zugleich für einen reibungslosen und angemessenen gegenseitigen Informationsfluss innerhalb des Gesamtvorstands sorgen und die übrigen Geschäftsbereiche in gewissem Umfang überwachen, kontrollieren und ggf. intervenieren (Æ Rz. 96 ff.).208) cc)

Kombinationen

Möglich und praktisch üblich sind zuletzt vielfältige Kombinationen der vor- 83 stehenden Gestaltungsmöglichkeiten. Insbesondere sind denkbar: die Erteilung von Einzelgeschäftsführungsbefugnis zugunsten einzelner und Gesamtgeschäftsführungsbefugnis zugunsten einer Gruppe von anderen Vorstandsmit___________ MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 39; Ihrig/Schäfer, § 15 Rz. 380. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 19; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 31, 33. MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 33; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 16. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 16; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 33; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 32; Fleischer NZG 2003, 449 (451 f.). 208) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.2.1 Rz. 24; Koch, § 77 Rz. 15; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 18; Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1451). 204) 205) 206) 207)

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

gliedern, die Aufteilung der Geschäftsführung nach Ressorts bei Beibehaltung der Gesamtgeschäftsführung für bestimmte Aufgabenbereiche, die gemeinsame Verantwortung mehrerer Ressorts für bestimmte Aufgaben, die Kombination von Einstimmigkeits- und (ggf. qualifizierten) Mehrheitserfordernissen für Vorstandsbeschlüsse in verschiedenen Bereichen etc.209) c)

Praxisübliche Modelle der Vorstandsbinnenorganisation

84 Im Rahmen der vorgenannten Gestaltungsspielräume haben sich in der Praxis einige standardisierte Organisationsformen210) herausgebildet. 85 Bei der vor allem früher vorherrschenden funktionalen Organisation wird jedem für ein Großunternehmen typischen Teilbereich (z. B. Einkauf, Produktion, Forschung und Entwicklung, Vertrieb und Marketing, Recht und Personal, Finanzen und Controlling, Revision, Compliance etc.) nach dem sog. Verrichtungsprinzip ein eigenes Ressort zugewiesen.211) 86 Üblicher ist heute die Divisions- bzw. Spartenorganisation. Hier wird das Unternehmen in verschiedene Bereiche (z. B. nach Produkten, Dienstleistungen, geographischen Märkten, Kundengruppen oder anderen Marktparametern) gegliedert, in denen jeweils alle für diesen Bereich wichtigen Funktionen zusammengefasst sind.212) Dadurch sind die Sparten stark verselbständigt. Zudem wirtschaften sie zumeist mehr oder weniger selbständig („Profitcenter“). Das gibt den Ressortleitern große Eigenständigkeit und birgt vor allem bei besonders bedeutenden Sparten und unternehmenswichtigen Entscheidungen das Risiko der Anmaßung von Leitungsmacht. Diese Form der Organisation ist aber zulässig, solange zentrale Finanzentscheidungen und sonstige Leitungsaufgaben (Æ Rz. 15 ff.) beim Gesamtvorstand verbleiben (Æ Rz. 67) und insgesamt ein engmaschigeres Informationssystem (Æ Rz. 97) besteht.213) ___________ 209) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 20; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 21; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 31; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 17; Ihrig/Schäfer, § 15 Rz. 380. 210) Überblick bei BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 41 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 65 ff.; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 25 ff. 211) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 23; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 15; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 77 Rz. 20; K. Schmidt, GesR, § 28 II 3b) (S. 813); Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (663 f.); Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (307); Fleischer, NZG 2003, 449 (451). 212) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 43; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 194; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 66; Raiser/Veil, § 14 Rz. 24; Schwark, ZHR 142 (1978), 203 (206); Semler, in: Festschrift Döllerer, S. 571 (574); Schiessl, ZGR 1992, 64 (66 f.). 213) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 27; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 19 f.; Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (498); Schwark, ZHR 142 (1978), 203 (216).

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B. Geschäftsführung

Die Matrixorganisation zeichnet sich durch eine Verknüpfung funktionaler 87 und divisionaler Elemente aus. Ein Vorstandsmitglied kann also zugleich für eine Zentralfunktion (z. B. Finanzen) und eine gegenständlich (z. B. Produkt, Kundentyp) oder räumlich abgegrenzte Sparte verantwortlich sein.214) Ebenfalls möglich ist es, einzelnen Vorstandsmitgliedern (nur) bestimmte Funktionsbereiche (Recht und Steuern, Personal, Revision etc.) zuzuweisen, während andere (sog. Markenvorstände) für bestimmte Geschäftsbereiche, Dienstleistungen, Produkte oder Marken einschließlich aller damit zusammenhängenden Funktionen zuständig sind.215) Eine Sonderform der Spartenorganisation ist die virtuelle Holding. Dabei werden 88 die einzelnen Sparten operativ von besonderen Gremien geführt, denen Vorstandsmitglieder und leitende Angestellte angehören (sog. Bereichsvorstände; Æ Rz. 47). Das ressortleitende Vorstandsmitglied konzentriert sich im Wesentlichen auf die strategische Führung.216) Wie bei der Spartenorganisation sind auch hier die Wahrung der Kompetenzen des Gesamtvorstands für Strategie und andere Leitungsaufgaben (Æ Rz. 15 ff., 67), eine engmaschige Information (Æ Rz. 97) und darüber hinaus die Beachtung der Gleichberechtigung aller Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 68) für die aktienrechtliche Zulässigkeit besonders wichtig.217) Von der virtuellen Holding unterscheidet sich die ManagementHolding vor allem dadurch, dass die operative Führung der Geschäftsbereiche hier auf rechtlich verselbständigte Tochtergesellschaften ausgegliedert wird.218) Durchaus üblich ist ferner die Bildung von Vorstandsausschüssen, die nur mit 89 Vorstandsmitgliedern oder auch mit leitenden Angestellten besetzt sein können. Sie können wie bei der virtuellen Holdingstruktur (Æ Rz. 88) für einzelne Unternehmenssparten oder für bestimmte Funktionen zuständig sein. Denkbar ist auch die Bildung von Ausschüssen mit Vertretern verschiedener Sparten und/oder Funktionen, die mit bestimmten bereichsübergreifenden Aufgaben betraut sind.219) Ferner können Ausschüsse als sog. Steering Committee bzw. als Koordinations-, Synergie- oder Lenkungsausschuss usw. die Aufgabe der bereichsübergreifenden ___________ 214) Koch, § 77 Rz. 10; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 24; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 67; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (307); Schiessl, ZGR 1992, 64 (65). 215) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 15; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 20. Zu den davon zu unterscheidenden sog. Trennungs-Matrixstrukturen siehe Seibt/Wollenschläger, AG 2013, 229 ff. 216) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 45; Koch, § 77 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 15; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 21; Schiessl, ZGR 1992, 64 (65); Schwark, in: Festschrift Ulmer, S. 605 (606 ff.). 217) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 24b; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 15; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 77 Rz. 20; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 68; Götz, ZGR 2003, 1 (11). 218) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 34; Schiessl, ZGR 1992, 64 (65). 219) Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 16.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Koordination haben.220) Sinnvoll kann die Einrichtung eines Vorstandsausschusses auch zur Vorbereitung und Begleitung bestimmter Sonderprojekte (z. B. M&ATransaktion, Umwandlungsmaßnahme etc.) oder im Zusammenhang mit der Aufdeckung möglichen Fehlverhaltens im Unternehmen im Rahmen sog. Internal Investigations sein, vor allem wenn sich der Verdacht pflichtwidrigen Verhaltens auch gegen einzelne Vorstandsmitglieder richtet (Æ Rz. 291).221) Die Ausschussbildung folgt den allgemeinen Bestimmungen zur Geschäftsverteilung; sämtlichen vorgenannten Gestaltungsgrenzen (Æ Rz. 67 ff.) ist hier stets besondere Beachtung zu schenken.222) Auf die Beschlüsse eines Ausschusses finden mangels anderweitiger Regelung die für den Gesamtvorstand getroffenen Bestimmungen zu (Mehrheits-)Beschlüssen (Æ Rz. 71 ff.) Anwendung.223) 90 In der Praxis wird vermehrt gefordert, die Rolle des Vorstandsvorsitzenden derjenigen des Chief Executive Officer US-amerikanischer Prägung anzunähern. Einem solchen CEO-Modell setzt vor allem der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 68) Grenzen. Dem Vorsitzenden können aus diesem Grund weder eine Richtlinienkompetenz noch Weisungsrechte gegenüber anderen Vorstandsmitgliedern oder ein alles überragender Verantwortungsbereich übertragen werden.224) Es bieten sich im Rahmen der aktienrechtlichen Grenzen aber durchaus – praktisch oftmals genutzte – Gestaltungsspielräume, die ohnehin bevorrechtigte Stellung des Vorstandsvorsitzenden (Æ Rz. 42) weiter zu stärken (z. B. durch ein Recht zum Stichentscheid oder ein Vetorecht; Æ Rz. 76 f., die Zuweisung vorbereitender Tätigkeiten zur Strategieentwicklung oder die Übertragung repräsentativer Unternehmensfunktionen).225) Die Bezeichnung als CEO ist unkritisch.226) III.

Gesamtverantwortung und Delegation

91 Nach dem AktG sind alle Mitglieder des Vorstands gemeinsam zur Leitung der Gesellschaft (Æ Rz. 15 ff.) und zur Gesamtgeschäftsführung (Æ Rz. 59 ff.) ___________ 220) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 43; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 71; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 44; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 498 (515 f.); Schiessl, ZGR 1992, 64 (77 ff.). 221) Vgl. Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226 (231). 222) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 48; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 43; KK-AktG/ Mertens, § 77 Rz. 21; Ihrig/Schäfer, § 16 Rz. 434 ff.; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 498 (516). 223) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 11. Zur Besetzung und den Pflichten der Ausschussmitglieder gegenüber dem Gesamtvorstand siehe MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 71. 224) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 49 f.; Koch, § 77 Rz. 18; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 69; Fleischer, ZIP 2003, 1 (8); Rieger, in: Festschrift Peltzer, S. 339 (349); Semler, in: Festschrift Lutter, S. 721 (727 f.); Wicke, NJW 2007, 3755 (3757). 225) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 52; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 21; v. Hein, ZHR 166 (2002), 464 (482 ff.); Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 (748); Simons/Hanloser, AG 2010, 641 (645 ff.). 226) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 77 Rz. 20; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 52.

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B. Geschäftsführung

verpflichtet. Spiegelbildlich tragen alle Vorstandsmitglieder deshalb auch gemeinsam die Verantwortung für die gesamte Leitung der Gesellschaft sowie das ordnungsgemäße und rechtmäßige Funktionieren des Vorstands (Grundsatz der Gesamtverantwortung).227) Der Gesamtvorstand muss aber nicht etwa selbst für die Erledigung der Gesellschaftsaufgaben in allen Einzelheiten sorgen. Eine Aufteilung der Aufgaben im Vorstand und die Übertragung bestimmter Tätigkeiten auf Hilfspersonen im Wege der Delegation (Æ Rz. 92 ff.) sind vielmehr grundsätzlich zulässig und praktisch unerlässlich.228) Dadurch können sich die einzelnen Vorstandsmitglieder zwar niemals vollständig ihrer (haftungsrechtlichen) Verantwortung für eine Aufgabe entziehen.229) Ihnen verbleibt mindestens eine modifizierte Sorgfaltspflicht, deren konkreter Pflichteninhalt sich nach der Art der Delegation richtet. Weil sich die Vorstandsmitglieder nicht mehr selbst vollverantwortlich um alle Angelegenheiten der Gesellschaft kümmern müssen, kann die Delegation aber zu einer Beschränkung der straf- und haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit führen (Æ § 2 Rz. 183 f.).230) 1.

Arten der Delegation und Delegationsgrenzen

Der Gesamtvorstand kann Aufgaben durch Ressortbildung organintern auf ein- 92 zelne Vorstandsmitglieder verteilen (Æ Rz. 80 ff.). Insoweit spricht man von horizontaler Delegation (Æ Rz. 95). Die Aufgabenverteilung auf nachgeordnete Hierarchieebenen (und von den Delegationsempfängern auf weitere Personen) bezeichnet man als (mehrstufige) vertikale Delegation (Æ Rz. 109 ff.). Schließlich werden Aufgaben in der Praxis zusätzlich oftmals auf externe Dritte delegiert (Æ Rz. 121 f.) und Entscheidungen in jüngerer Zeit vermehrt unter Einsatz künstlicher Intelligenz getroffen (Æ Rz. 123). Zu unterscheiden sind die Übertragung einer Aufgabe zur Entscheidung einerseits 93 (sog. Delegation zur Erledigung bzw. abschließende Delegation; Æ Rz. 95 ff.), bei welcher dem Delegationsempfänger die volle Entscheidungskompetenz ein___________ 227) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (376 f.) = ZIP 1996, 2017 (2019) (GmbH); BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (123), Rz. 48 (GmbH); OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (684); BeckOGKAktG/Fleischer, § 77 Rz. 51; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 35; Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 31; Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 (747); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1450); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203). 228) Froesch, DB 2009, 722 (723); Urban, GWR 2013, 106 (107). 229) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (376 f.) = ZIP 1996, 2017 (2019) (GmbH); OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (684); OLG Koblenz, Urt. v. 9.6.1998 – 3 U 1662/89, NZG 1998, 953 (954); Wachter/Link, § 77 Rz. 14 f.; Koch, § 77 Rz. 15; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 18; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 58; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (302); Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Froesch, DB 2009, 722 (724); Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (737). 230) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377) = ZIP 1996, 2017 (2019) (GmbH); Hoffmann-Becking, NZG 2021, 93.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

geräumt wird, und die Übertragung einer Aufgabe zur bloßen Befassung andererseits (sog. Delegation zur Vorbereitung bzw. Ausführung; Æ Rz. 117), bei der nur die Vorbereitung (z. B. die Erstellung von Entscheidungsvarianten und einer Beschlussvorlage) und ggf. die Ausführung einer Entscheidung übertragen werden, die Entscheidungskompetenz selbst jedoch beim Delegierenden verbleibt.231) 94 Grundsätzlich nicht abschließend delegierbar sind die Leitung des Unternehmens sowie einzelne Leitungsaufgaben, die der Vorstand zwingend als Kollegialorgan wahrzunehmen hat (Æ Rz. 15 ff.). Einzelne Leitungsaufgaben dürfen innerhalb des Vorstands und/oder auf nachgeordnete Mitarbeiter allenfalls zur Vorbereitung bzw. Ausführung, nicht aber zur Erledigung übertragen werden.232) Dasselbe gilt für sonstige Geschäftsführungsaufgaben, die kraft Satzung oder Geschäftsordnung einen Gesamtvorstandsbeschluss erfordern. Nur von der Regelung in einer Geschäftsordnung kann der Vorstand ausnahmsweise im Einzelfall abweichen und eine Aufgabe auch abschließend delegieren (Æ Rz. 12). 2.

Horizontale Delegation zur Erledigung

95 Horizontale Delegation zur Erledigung (Æ Rz. 93) tritt vor allem durch (zulässige) Geschäftsverteilung auf verschiedene Ressorts innerhalb des Vorstands (Æ Rz. 80 ff.) ein. Den Vorstandsmitgliedern obliegen hier vor allem die folgenden Pflichten: a)

Rechte und Pflichten aller Vorstandsmitglieder

96 Aus der allgemeinen Organisationsverantwortung des Vorstands (Æ Rz. 257) folgt zunächst die Pflicht jedes einzelnen Vorstandsmitglieds, für eine schriftliche (Æ Rz. 66)233) und sachgerechte Vorstandsbinnenorganisation (Æ Rz. 80 ff.) zu sorgen, die maßgeschneidert auf die Besonderheiten des konkreten Unternehmens zugeschnitten ist.234) Dabei müssen alle Aufgaben klar, eindeutig, lü___________ 231) Vgl. Koch, § 77 Rz. 17; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (301); Froesch, DB 2009, 722 (724); Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (737); Nietsch, ZIP 2013, 1449. 232) Koch, § 76 Rz. 18; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 32a, 49 ff.; Fleischer, ZIP 2003, 1 (6 ff.); Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (508); Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (736); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2201 ff.); ausführlich Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 ff. 233) OLG Koblenz, Urt. v. 9.6.1998 – 3 U 1662/89, NZG 1998, 953 (954); BFH, Beschl. v. 21.10.2003 – VII B 353/02, BeckRS 2003, 25002745; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1508; Fleischer, NZG 2003, 449 (453); a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 171. Abw. auch BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261 (262), Rz. 17 (GmbH) „nicht zwingend“, sondern „muss unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse im Einzelfall bestimmt werden“. 234) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 41; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 41; Fleischer, NZG 2003, 449 (453); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2202); Wicke, NJW 2007, 3755.

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B. Geschäftsführung

ckenlos und überschneidungsfrei verteilt werden.235) Mängel in der Organisation können die Haftung aller Vorstandsmitglieder für Fehler in einzelnen Ressorts begründen. Pflichtwidrig und damit für alle Vorstandsmitglieder haftungsrelevant sind ferner die Zuweisung nicht delegationsfähiger Aufgaben (Æ Rz. 94) auf einzelne Vorstandsmitglieder oder nachgeordnete Mitarbeiter236) und die mangelhafte Auswahl des Delegationsempfängers, etwa, weil eine Aufgabe auf ein unerfahrenes oder anderweitig (z. B. nach Ausbildung, Qualifikation, Erfahrung oder Belastbarkeit) ungeeignetes Vorstandsmitglied übertragen wird.237) Hat eine Angelegenheit besondere Bedeutung, weist sie eine hohe Komplexität auf oder erfordert sie die Einbindung verschiedener Kompetenzen, kann es auch geboten sein, die Sache in die Zuständigkeit mehrerer Ressorts oder eines spezialisierten Vorstandsausschusses (Æ Rz. 89) zu übertragen. Alle Vorstandsmitglieder müssen zudem für einen reibungslosen Informati- 97 onsfluss über die wesentlichen rechtlichen und wirtschaftlichen Belange der delegierten Aufgabenbereiche bis zum und innerhalb des Gesamtvorstands sorgen. Das kann insbesondere durch den Aufbau eines zweckmäßigen Berichtssystems auf allen Unternehmensebenen erfolgen, in das ultimativ alle Vorstandsmitglieder zwingend einzubinden sind.238) Hinsichtlich der Einzelausgestaltung genießen die Vorstandsmitglieder breites Ermessen (Æ Rz. 227). Häufigkeit und Umfang der Berichte eines Ressortleiters hängen insbesondere von Art und Größe des Unternehmens, der Vorstandsorganisation (Æ Rz. 84 ff.) und sonstigen Besonderheiten sowie von der Bedeutung der zugewiesenen Aufgabe bzw. eines konkreten Geschäfts, der Erfahrung eines Ressortleiters und seiner Tätigkeitsdauer für das Unternehmen ab.239) Das Berichtssystem muss es aber allen Vorstandsmitgliedern ermöglichen, sich jederzeit über die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft zu informieren.240) Nur ausnahmsweise können sich gesetzliche Schranken der Informationspflicht ergeben (Æ Rz. 145). ___________ 235) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261 (262), Rz. 17 (GmbH); Urban, GWR 2013, 106 (107); dazu kritisch Hoffmann-Becking, NZG 2021, 93 (95). Vgl. auch LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (574). 236) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575) zur Delegation auf sog. Bereichsvorstände (Æ Rz. 47); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 133; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 (535). 237) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261 (262), Rz. 17, 19 (GmbH); Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt-Husson, § 6 Rz. 30; Fleischer, NZG 2003, 449 (453); Froesch, DB 2009, 722 (725); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1450). 238) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 35b; Koch, § 77 Rz. 15; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 25; Fleischer, NZG 2003, 449 (454); v. Hein, ZHR 166 (2002), 464 (487); HoffmannBecking, ZGR 1998, 497 (513); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1451). 239) MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 58; Fleischer, NZG 2003, 449 (454); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1451). 240) BGH, Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557 (1558), Rz. 11; BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560 (561); Fleischer, NZG 2003, 449 (454 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

98 Praxishinweis: Die Einzelheiten zur Informationserteilung sollten in der Geschäftsordnung (Æ Rz. 11 f.) geregelt werden. b)

Rechte und Pflichten des Ressortleiters

99 Der Ressortleiter darf die ihm zur Erledigung (Æ Rz. 93) delegierten Aufgaben grundsätzlich selbständig und mit Wirkung für den Gesamtvorstand vornehmen.241) In seinem Ressort anstehende Entscheidungen muss er daher nicht nur sorgfältig vorbereiten, sondern auch treffen. Dafür muss er vor allem entscheidungsrelevante Informationen beschaffen, diese sichten und auswerten sowie die Vorteile, Nachteile und Risiken der Handlungsoptionen abschätzen (Æ Rz. 261 ff.).242) Er hat ferner den vielfältigen Schranken seiner Geschäftsführung (Æ Rz. 152 ff.) Rechnung zu tragen. Die Ressortverantwortung schließt nachgeordnete Hierarchieebenen ein. Soweit der Ressortleiter Aufgaben im Wege vertikaler Delegation zur Erledigung überträgt, obliegt ihm daher die umfassende Beachtung seiner Organisations-, Auswahl-, Instruktions- und Überwachungspflichten (Æ Rz. 109 ff.).243) Bedient er sich der Delegation zur Vorbereitung oder Durchführung, muss der Ressortleiter vorbereitete Entscheidungsunterlagen auf mögliche Fehler prüfen.244) 100 Jeder Ressortleiter muss den übrigen Vorstandsmitgliedern im Rahmen der wechselseitigen Informationspflicht aller Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 97) regelmäßig und unaufgefordert über die bedeutsamen Angelegenheiten seines Ressorts Bericht erstatten.245) Üblicherweise genügen dafür Berichte im Rahmen der ordentlichen Vorstandssitzungen (Æ Rz. 132), die zur besseren Nachvollziehbarkeit ggf. durch Schriftstücke zu unterlegen sind. Bei außerordentlich wichtigen oder dringenden Angelegenheiten empfiehlt sich eine unverzügliche Information der Vorstandskollegen, damit diese ihrer ressortübergreifenden Überwachungspflicht (Æ Rz. 102 ff.) nachkommen und ggf. Einfluss auf Entscheidungen in einem benachbarten Ressort nehmen können. ___________ 241) MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 57; Hölters/Hölters/Weber, § 77 Rz. 32; Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1451). 242) BGH, Urt. v. 13.8.2009 – 3 StR 576/08, ZIP 2009, 1854 (1857), Rz. 27; BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, ZIP 2008, 1675 (1676 f.), Rz. 11; OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315); Goette, in: Festschrift 50 Jahre BGH, S. 123 (140 f.). 243) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (378) = ZIP 1996, 2017 (2020) (GmbH); OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363 (364); Koch, § 77 Rz. 14; Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Götz, AG 1995, 337 (338). 244) Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315); vgl. auch Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1450). 245) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 60; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 35; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 25; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (512); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1452).

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B. Geschäftsführung

Jeder Ressortleiter darf schließlich alle Angelegenheiten seines Geschäftsbe- 101 reichs dem Gesamtvorstand zur Beschlussfassung (Æ Rz. 130 ff.) vorlegen. Er muss dies sogar bei Angelegenheiten tun, die entweder für das Gesamtunternehmen grundsätzliche Bedeutung haben (z. B. Fragen der beabsichtigten Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der künftigen Geschäftsführung) oder die ohnehin zwingend in die gesetzliche Zuständigkeit des Vorstands als Kollegialorgan fallen (Æ Rz. 94).246) Gleiches gilt vorbehaltlich einer besonderen Regelung in der Geschäftsordnung für Angelegenheiten, die mehrere Ressorts berühren.247) c)

Rechte und Pflichten der übrigen Vorstandsmitglieder

Nach der st. Rspr. des BGH verletzen Vorstandsmitglieder ihre Pflichten nicht 102 nur, wenn sie eigenhändig tätig werden oder Kollegialentscheidungen treffen, sondern auch, wenn sie pflichtwidrige Handlungen anderer Vorstandsmitglieder oder von Mitarbeitern anregen oder pflichtwidrig nicht dagegen einschreiten.248) Vorstandsmitglieder dürfen sich im Fall der Ressortverteilung also nicht auf die ordnungsgemäße Führung ihres Ressorts beschränken. Kraft ihrer Gesamtverantwortung (Æ Rz. 91) verbleibt ihnen vielmehr auch im Hinblick auf die anderen Geschäftsbereiche eine Pflicht zur Überwachung und Kontrolle (sog. ressortübergreifende Überwachungspflicht),249) die nicht auf ein Vorstandsmitglied delegiert werden kann.250) Praxishinweis: Im Lichte eines allgemein verschärften Haftungsklimas und des In- 103 teresses von Öffentlichkeit und Aktionären, für einen Schaden der Gesellschaft möglichst viele Organmitglieder haftungsrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, ist die praktische Relevanz der ressortübergreifenden Überwachungspflicht nicht zu unterschätzen. Haftungsrechtlich hat sie jedenfalls ähnlich große Bedeutung wie die bei der Ressortverteilung bestehenden Organisationspflichten (Æ Rz. 96 f.). Mit der ___________ 246) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 54; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 60 und 62; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 25. 247) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 40; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 16. 248) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 27; BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 22. 249) Allg. M.; vgl. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377 f.) = ZIP 1996, 2017 (2020); BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, ZIP 1985, 1135 (1136) (beide GmbH); OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (684); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); Koch, § 77 Rz. 15; GroßkommAktG/Kort, § 77 Rz. 35a; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 26; Fleischer, NZG 2003, 449 (453 ff.); HoffmannBecking, ZGR 1998, 497 (512 f.); Hoffmann-Becking, NZG 2021, 93; Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1451). 250) H. M.; vgl. Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 86; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 35; Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1451); Schiessl, ZGR 1992, 64 (69 f.); a. A. KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 77 Rz. 25.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Behauptung einer Verletzung dieser Pflicht werden auch nicht ressortverantwortliche Vorstandsmitglieder praktisch durchaus häufig in Anspruch genommen. Vorstandsmitglieder müssen sich daher über den – nachfolgend dargelegten – Inhalt ihrer ressortübergreifenden Überwachungspflicht im Klaren sein. 104 Die Reichweite der Überwachungspflicht unterscheidet sich von der Kontrollpflicht des Aufsichtsrats (Æ § 3 Rz. 97 ff.) und der strengeren Überwachungspflicht bei vertikaler Delegation (Æ Rz. 114). Sie ist für jedes Vorstandsmitglied anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Dabei richtet sich die Intensität der Überwachungspflicht nach Art, Größe und Organisationsstruktur des Unternehmens, dem Grad der Verselbständigung durch die konkrete Vorstandsbinnenorganisation (Æ Rz. 84 ff.), der Bedeutung der übertragenen Aufgabe und der Person des handelnden Vorstandsmitglieds.251) Erhöhte Überwachungspflichten treffen nach bestrittener Auffassung die Leiter besonderer Bereiche (z. B. Controlling und Revision) und Vorstände sachlich benachbarter Resorts252) sowie den Vorstandsvorsitzenden (Æ Rz. 42). 105 Im normalen Geschäftsgang darf sich ein Vorstandsmitglied grundsätzlich darauf verlassen, dass der intern zuständige Kollege ordnungsgemäß handelt (sog. Vertrauensgrundsatz).253) Daher genügt es i. d. R., die Berichte der Kollegen zu den Aktivitäten und Vorkommnissen in ihren Ressorts in den Sitzungen des Gesamtvorstands zur Kenntnis zu nehmen, schriftliche Berichte zu lesen und die Berichte sorgfältig auf ihre Plausibilität und Vollständigkeit zu prüfen.254) Von einem Vorstandsmitglied wird aber auch erwartet, dass es den Inhalt der Gremienprotokolle kennt255) und die allen Vorstandsmitgliedern zugänglichen Informationen über das Unternehmen, die für dessen Leitung von Bedeutung sein können (z. B. Inhalt der Bücher und des Jahresabschlusses der ___________ 251) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 61 f.; Großkomm-AktG/Hopt, § 93 Rz. 381; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 171; Habersack, WM 2005, 2360 (2362). Zum Ablauf der Prüfung der Verantwortlichkeit einzelner Vorstandsmitglieder siehe Löbbe/ Fischbach, AG 2014, 717 (720 f.). 252) Vgl. VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03, AG 2005, 264 (265 f.); Schmidt/ Lutter/Seibt, § 77 Rz. 18; Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1452); a. A. das wohl herrschende Schrifttum: MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 176; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (308); Habersack, WM 2005, 2360 (2363 f.). 253) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377) = ZIP 1996, 2017 (2020); BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, ZIP 1985, 1135 (1136) (beide GmbH); OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (684); OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363 (364); Koch, § 77 Rz. 15; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 57; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 28; Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1452 ff.); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (719). 254) VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03, AG 2005, 264 (265); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 77 Rz. 62; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 40; Götz, AG 1995, 337 (339); Löbbe/ Fischbach, AG 2014, 717 (720). 255) OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363 (364).

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B. Geschäftsführung

Gesellschaft), beachtet sowie ggf. stichprobenartig kontrolliert.256) Ergeben sich aus den Berichten der Kollegen weder Zweifel noch Widersprüche oder Lücken und hat ein Vorstandsmitglied auch im Übrigen keinerlei Anlass, an der ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung durch den Ressortleiter zu zweifeln, sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich und eine Verletzung der Überwachungspflicht scheidet aus.257) Denn erforderlich ist gerade keine laufende, sondern lediglich eine anlassbezogene Überwachung, um ein ständiges „Hineinregieren“ in andere Ressorts zu verhindern.258) Ergeben sich jedoch konkrete Hinweise auf Fehlentwicklungen oder Unre- 106 gelmäßigkeiten in einem fremden Ressort – gleich aus welcher Quelle (d. h. nicht nur aus den Berichten der Kollegen und Büchern der Gesellschaft, sondern z. B. auch durch Presseberichte und außerdienstlich erlangte Informationen) –259), dann dürfen die Vorstandsmitglieder nicht mehr uneingeschränkt auf die pflichtgemäße Aufgabenerfüllung des Kollegen vertrauen, sondern müssen dem unverzüglich nachgehen.260) Erforderlich sind greifbare konkrete Anhaltspunkte für eine pflichtwidrige Amtsführung.261) Diese liegen z. B. vor, wenn die Erfüllung von Aufgaben der Gesellschaft im Bereich der Buch- und Kassenführung durch den Ressortleiter nicht mehr gewährleistet ist oder wenn der Ressortleiter in anderer Weise erkennbar die ihm zugewiesenen Aufgaben nicht mehr ordnungsgemäß erfüllt oder pflichtwidrig handelt (z. B. weil Rechnungen der Gesellschaft nicht beglichen werden, eine wesentliche und branchenuntypische Verschlechterung der Ertragslage eintritt, wiederholte Compliance-Verstöße im Unternehmen auftreten etc.).262) Wird die Fehlentwicklung ___________ 256) OLG Hamm, Urt. v. 24.4.1991 – 8 U 188/90, GmbHR 1992, 375 (377) (GmbH); ähnlich KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 92; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 58. 257) OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363 (364); KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 77 Rz. 26; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; Fleischer, NZG 2003, 449 (455); Wicke, NJW 2007, 3755 (3757). 258) OLG Hamm, Urt. v. 24.4.1991 – 8 U 188/90, GmbHR 1992, 375 (377) (GmbH); BeckOGKAktG/Fleischer, § 77 Rz. 59; Koch, § 77 Rz. 15; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 57; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (719). 259) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 175; Fleischer, NZG 2003, 449 (454); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1452). 260) OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (684); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 77 Rz. 62 f.; Koch, § 77 Rz. 15a; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 26; Froesch, DB 2004, 722 (725). 261) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 27; Koch, § 77 Rz. 15a; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 26; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 28; Habersack, WM 2005, 2360 (2362); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203). 262) Allg. M.; BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (378) = ZIP 1996, 2017 (2020); BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, ZIP 1985, 1135 (1136) (beide GmbH); OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683 (684); OLG Koblenz, Urt. v. 9.6.1998 – 3 U 1662/89, NZG 1998, 953 (954); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 35a; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 36; Fleischer, NZG 2003, 449 (454); Götz, AG 1995, 337 (339).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

im Gesamtvorstand diskutiert, dürfen die ressortfernen Vorstandsmitglieder grundsätzlich wieder davon ausgehen, dass der zuständige Ressortleiter die erkannten Mängel durch hinreichende Maßnahmen abstellt, sofern nicht ausnahmsweise zureichende Anhaltspunkte für das Gegenteil bestehen.263) Aufgrund des in diesem Fall gestiegenen Sorgfaltsmaßstabs kann aber eine gezielte Nachfrage geboten sein, wenn der Ressortleiter über den betreffenden Punkt geraume Zeit nicht berichtet oder die Berichte unzureichend oder lückenhaft sind. 107 Gesteigerte Anforderungen an die Überwachungspflicht stellt die Rechtsprechung ferner in finanziellen Krisenzeiten. Hier besteht insbesondere eine Pflicht aller Vorstandsmitglieder, sich zu vergewissern, dass erteilte Anweisungen zur Entrichtung von Steuern und zur Abführung von Sozialabgaben befolgt werden.264) Zudem ist in der Krise ein erhöhtes Maß an Wachsamkeit und eine noch sorgfältigere Plausibilisierung der Berichte der Organkollegen erforderlich.265) Eine erhöhte Überwachungssorgfalt kann ferner bei besonders wichtigen bzw. risikobehafteten Geschäften und bei gravierenden Auswirkungen eines konkreten Geschäfts geboten sein.266) Dasselbe gilt, wenn ein Vorstandskollege aufgrund kurzer Amtsdauer, geringer Erfahrung, einem erkennbaren Interessenkonflikt oder wiederholten Fehlentwicklungen in seinem Ressort Grund zu besonderer Überwachung bietet.267) In all diesen Situationen kann ein Nachfassen schon dann geboten sein, wenn zu einem bestimmten Aufgabenbereich längere Zeit überhaupt nicht oder nicht befriedigend informiert wird. 108 Das Einschreiten bei hinreichenden Verdachtsmomenten sollte in einem ersten Schritt durch Einholung von Informationen in der fraglichen Angelegenheit, insbesondere durch Rückfrage beim zuständigen Ressortleiter oder Mitarbeitern,

___________ 263) OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363 (364). 264) BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422 (424); BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (378) = ZIP 1996, 2017 (2020) (beide GmbH); OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, AG 2001, 363 (364); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 64; Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1452). 265) Vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 18.2.2000 – 11 U 213/98, AG 2001, 141 (144); Koch, § 77 Rz. 15a; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; Habersack, WM 2005, 2360 (2363); strenger Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1453); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (720). 266) Vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (124); BGH, Urt. v. 13.11.1979 – KZR 1/79, GRUR 1980, 242 (245); OLG Köln, Urt. v. 26.8.1999 – 1 U 43/99, AG 2000, 281 (284); VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03, AG 2005, 264 (265); MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 28; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (720); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1454). 267) LG Düsseldorf, Urt. v. 15.9.1995 – 40 O 226/94, ZIP 1995, 1985 (1993); Wachter/Link, § 77 Rz. 15; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 85; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (720).

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B. Geschäftsführung

erfolgen, wobei ggf. der Vorstandsvorsitzende einzubeziehen ist.268) Zu diesem Zweck hat jedes Vorstandsmitglied gegenüber seinen Vorstandskollegen einen nur durch das Missbrauchsverbot begrenzten Informationsanspruch, der neben die Pflicht der Ressortleiter zur Information über wichtige Angelegenheiten ihres Aufgabenbereichs (Æ Rz. 100) tritt.269) Lassen sich die Zweifel auf diesem Weg nicht ausräumen, besteht das – wegen des Gebots kollegialer Zusammenarbeit mit Augenmaß auszuübende – Recht, Angelegenheiten eines anderen Ressorts zur verbindlichen Entscheidung vor den Gesamtvorstand zu bringen (sog. Interventionsrecht).270) Zudem kann im Einzelfall ein Widerspruchsrecht (Æ Rz. 81) bestehen.271) Kommt es zur Befassung des Gesamtvorstands, darf sich ein Vorstandsmitglied schon zum eigenen Schutz vor einer möglichen Haftung bei schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich der Angelegenheiten eines anderen Ressorts nicht darauf beschränken, sich bei einer Abstimmung der Stimme zu enthalten, sondern es muss ggf. den Aufsichtsrat informieren.272) Noch weitergehende Maßnahmen (z. B. Amtsniederlegung, Einschaltung von Behörden) werden aber allenfalls ausnahmsweise zur Abwendung krimineller Handlungen oder von Schädigungen der Öffentlichkeit geboten sein.273) 3.

Vertikale Delegation zur Erledigung

Sowohl der Gesamtvorstand als auch einzelne Ressortleiter können die ihnen 109 obliegenden Aufgaben nach eigenem Ermessen auf nachgeordnete Mitarbeiter zur Erledigung übertragen;274) pflichtwidrig ist jedoch die Delegation von in die ausschließliche Kompetenz des Vorstands fallenden Aufgaben (Æ Rz. 94). Die Übertragung ist formlos möglich und sollte in klarer, eindeutiger, lückenloser und überschneidungsfreier Weise erfolgen.275) Für eine effektive Erfüllung der Aufgaben des Vorstands ist dieses Mittel der Arbeitsteilung von noch größerer Bedeutung als die horizontale Delegation; tatsächlich wird sogar der mit Ab___________ 268) OLG Koblenz, Urt. v. 9.6.1998 – 3 U 1662/89, NZG 1998, 953 (954); VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03, AG 2005, 264 (265); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 63. 269) Wachter/Link, § 77 Rz. 16; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 58; MünchHdb GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 27; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (512). 270) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 28; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 37; Fleischer, NZG 2003, 449 (456); Wicke, NJW 2007, 3755 (3756). 271) MünchKommAktG-Spindler, § 77 Rz. 66; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203). 272) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 27; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); Koch, § 77 Rz. 15b; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 77 Rz. 28; Fleischer, NZG 2003, 449 (457); Götz, AG 1995, 337 (339). 273) Koch, § 77 Rz. 15b; Fleischer, NZG 2003, 449 (457). 274) Fleischer, ZIP 2003, 1 (8). Zur Anwendung der Business Judgement Rule (Æ § 2 Rz. 25 ff.) in diesen Fällen vgl. Zenner, AG 2021, 502 ff. 275) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.11.1998 – 2 Ss OWi 385 – 98 – (OWi) 112 – 98 III, NStZ 1999, 151 (152); Froesch, DB 2004, 722 (725).

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stand größte Teil der vielfältigen und komplexen Vorstandsaufgaben auf diese Art und Weise erfüllt, weil der Vorstand die Aufgabenerfüllung weitgehend aus der Hand geben kann und nur noch punktuell einbezogen wird. Von großer praktischer Bedeutung ist die abschließende Übertragung vom Vorstand auf die im Unternehmen eigens hierfür eingerichteten Abteilungen bzw. deren Leiter. Beispiele: 110 Zuständigkeit der Personalabteilung für alle Personalangelegenheiten mit Ausnahme der Besetzung von Führungspositionen, Zuständigkeit der Rechtsabteilung für alle Rechtsangelegenheiten ohne grundsätzliche Bedeutung wie z. B. in den Bereichen Arbeitsrecht, Vertragsrecht (z. B. Handels- und Lieferverträge, Prozessführung etc.) oder Zuständigkeit von Operations für alle Bereiche der allgemeinen Unternehmensverwaltung. 111 Bei der zulässigen vertikalen Delegation zur Erledigung umfasst der modifizierte Pflichtenkreis der Vorstandsmitglieder neben der sorgfältigen Auswahl, Einweisung und Überwachung des Delegationsempfängers die Einhaltung bestimmter organisatorischer Vorkehrungen.276) Das delegierende Vorstandsmitglied haftet ausschließlich für eigene Fehler bei der Erfüllung dieser Pflichten und nicht für fremdes Verschulden. Wenn der Delegierende seinen vorgenannten Pflichten sorgfaltsgemäß nachkommt, haftet er deshalb für das Fehlverhalten anderer Personen im Unternehmen (z. B. des unmittelbaren Delegationsempfängers oder eines von diesem hinzugezogenen Angestellten) oder externer Dritter auch nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der Haftung für Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen i. S. v. §§ 278, 831 BGB.277) a)

Auswahlsorgfalt

112 Bei der erstmaligen Übertragung der Aufgabe muss das delegierende Vorstandsmitglied sicherstellen, dass er einen Delegationsempfänger auswählt, der zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufgabe in der Lage ist. Die betreffende Person muss deshalb die erforderliche persönliche Eignung (Zuverlässigkeit, Belastbarkeit) und die fachliche Befähigung (Ausbildung, Qualifikation, Erfahrung) aufweisen. Bei der Bestimmung der im Einzelfall anzulegenden Auswahlsorgfalt spielen insbesondere die Bedeutung und Komplexität der zu übertra___________ 276) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (378) = ZIP 1996, 2017 (2020); BGH v. 7.11.1994 – II ZR 270/93, BGHZ 127, 336 (347) = ZIP 1994, 1934 (1939) (beide GmbH); OLG Köln, Urt. v. 31.8.2000 – 18 U 42/00, NZG 2001, 135 (136); KG, Urt. v. 9.10.1998 – 14 U 4823/96, NZG 1999, 400 (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 135 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 162; Götz, AG 1995, 337 (338); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205 f.). 277) BGH, Urt. v. 20.11.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 17; BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366 (375) = ZIP 1994, 867 (870); KG, Urt. v. 9.10.1998 – 14 U 4823/96, NZG 1999, 400 (GmbH); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 160 und 384 ff.; Koch, § 93 Rz. 85; Froesch, DB 2009, 722 (725); Strohn, ZHR 176 (2012), 137 (142 f.); a. A. Cahn, Der Konzern 2015, 105 (106 f.).

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B. Geschäftsführung

genden Aufgabe sowie die aus ihr resultierende Verantwortung und der bei Schlechterfüllung drohende Schadensumfang eine entscheidende Rolle.278) b)

Einweisungssorgfalt

Der Delegierende muss den Delegationsempfänger sorgfältig in seinen Verant- 113 wortungsbereich einweisen. Dafür muss er die übertragenen Aufgaben und Berichtslinien erläutern und dafür sorgen, dass der Delegationsempfänger hinreichende Informationen zur Erfüllung der übertragenen Aufgabe erhält.279) Das schließt die Aufklärung über typische Fehler sowie charakteristische und besondere Gefahren ein (z. B. Hinweis auf Verbot kartellrechtswidriger Preis-, Mengen- oder Gebietsabsprachen bei Vertriebsmitarbeitern). Freilich sind mit zunehmender Qualifikation und Erfahrung des Delegationsempfängers abnehmende Anforderungen an den konkreten Umfang der Instruktionspflicht zu stellen.280) Um die ordnungsgemäße Erfüllung der übertragenen Aufgabe fortlaufend sicherzustellen, können regelmäßige Fortbildungen und Schulungen erforderlich sein, in denen der Delegationsempfänger über Änderungen und Neuerungen – einschließlich für die Tätigkeit relevanter Rechtsänderungen – umfassend und rechtzeitig zu unterrichten ist.281) c)

Überwachungssorgfalt

Das delegierende Vorstandsmitglied muss den Delegationsempfänger ferner 114 sorgfältig überwachen. Denn es verletzt seine Pflichten, wenn es gegen pflichtwidrige Handlungen von Mitarbeitern nicht einschreitet.282) Das Maß der gebotenen Überwachung bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls und kann insbesondere unter Berücksichtigung der folgenden Gesichtspunkte zu- bzw. abnehmen:283) der Art, Größe und dem Aufbau der innerbetrieblichen Organisation des Unternehmens, der Anzahl der Beschäftigten, der Vielzahl der von dem Unternehmen zu beachtenden Vorschriften, der Bedeutung der übertragenen Aufgabe, der zu überwachenden Person einschließlich dem Grad ___________ 278) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 136; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt-Husson, § 6 Rz. 29; Froesch, DB 2009, 722 (725); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). 279) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 137; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt-Husson, § 6 Rz. 31; U.H. Schneider, in: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, S. 473 (485); Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 (536); Froesch, DB 2009, 722 (725); Urban, GWR 2013, 106 (107). 280) Vgl. KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 61. 281) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 137; Krieger/Schneider/E. Vetter, § 22 Rz. 74; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 162; U.H. Schneider, in: Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, S. 473 (486); Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 (536). 282) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 22. 283) Vgl. ausführlich zu den nachfolgenden Punkten: BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 138 ff.; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 42 f.; Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 (537); Hegnon, CCZ 2009, 57 (61 f.); Schulze, NJW 2014, 3484 (3487 f.); Simon, Der Konzern 2015, 205 (207).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

ihrer Einweisung, ihrer Qualifikation und Erfahrung, der Gefahrgeneigtheit des zu überwachenden Tätigkeitsbereichs, den Erfahrungen mit Fehlverhalten oder Unregelmäßigkeiten in Bezug auf den übertragenen Aufgabenbereich in der Vergangenheit sowie der Zulässigkeit und Zumutbarkeit von Überwachungsmaßnahmen sowohl für den Delegierenden als auch den Delegationsempfänger.284) 115 Im Ausgangspunkt gilt hinsichtlich der Überwachungspflicht bei der vertikalen Delegation – wie bei der horizontalen Delegation – der allgemeine Vertrauensgrundsatz (Æ Rz. 105).285) Im Einzelnen ist das konkrete Pflichtenprogramm hier aber strenger und die Kontrolldichte höher. Ein delegierendes Vorstandsmitglied darf sich daher zwar grundsätzlich auf erteilte Informationen durch die unternehmenseigene Abteilung verlassen, solange keine Anhaltspunkte für Fehleinschätzungen oder fehlerhafte Informationen vorliegen. Es muss den Delegationsempfänger aber von vornherein aufmerksam beobachten, Erkundigungen einholen und Informationen anfordern, um möglichst frühzeitig Kenntnis von Tatsachen zu erlangen, die auf mangelnde Pflichterfüllung hindeuten könnten.286) Es muss ferner stichprobenartige (überraschende) Kontrollhandlungen vornehmen287) und bei Anlass für eine gesteigerte Überwachung (z. B. besondere Gefahrgeneigtheit, Bedeutung, Erfahrungen in der Vergangenheit) oder bei Vorliegen sonstiger Umstände die Kontrollhandlungen nochmals intensivieren.288) Bei Verdachtsmomenten oder greifbaren Anhaltspunkten für Fehlverhalten bzw. Unregelmäßigkeiten muss das delegierende Vorstandsmitglied diesen ohne schuldhaftes Zuwarten nachgehen und einschreiten, wenn sich der Verdacht bestätigt oder das delegierende Vorstandsmitglied von anderem Fehlverhalten Kenntnis erlangt.289) Schließlich muss es Vorkehrungen treffen, damit ein derartiges Fehlverhalten sich in der Zukunft nicht wiederholt (z. B. Anpassung von Kontrollhandlungen).290) ___________ 284) BGH, Beschl. v. 11.3.1986 – KRB 7/85, wistra 1986, 222; Hauschka/Moosmayer/Lösler/ Schmidt-Husson, § 6 Rz. 32; Schulze, NJW 2014, 3484 (3488). 285) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377 f.) = ZIP 1996, 2017 (2020); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 143; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 163; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 42; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2206); a. A. Froesch, DB 2009, 722 (725). 286) Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt-Husson, § 6 Rz. 32 f. 287) BGH, Beschl. v. 25.6.1985 – KRB 2/85, wistra 1985, 228 f.; BGH, Beschl. v. 24.3.1981 – KRB 4/80, wistra 1982, 34; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 143; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 162; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt-Husson, § 6 Rz. 35; Froesch, DB 2009, 722 (725). 288) BGH, Beschl. v. 25.6.1985 – KRB 2/85, wistra 1985, 228 f.; BGH, Beschl. v. 24.3.1981 – KRB 4/80, wistra 1982, 34; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 144. 289) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377 f.) = ZIP 1996, 2017 (2020) (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 141; Hauschka/Moosmayer/Lösler/ Schmidt-Husson, § 6 Rz. 32; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). 290) OLG Koblenz, Urt. v. 10.6.1991 – 6 U 1650/89, ZIP 1991, 870 (871); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 138.

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B. Geschäftsführung

d)

Organisationspflichten

Schließlich sind die Mitglieder des Vorstands verpflichtet, geeignete organisa- 116 torische Vorkehrungen zu treffen, um bei vertikaler Delegation Pflichtverletzungen von Unternehmensangehörigen auszuschließen. Dazu gehören grundsätzlich allgemeine Organisationsanordnungen, eine genaue Festlegung der Verantwortlichkeiten unter den Mitarbeitern sowie die Einrichtung von Berichtswegen.291) 4.

Delegation von Vorstandsaufgaben zur Vorbereitung bzw. Ausführung

Durch die Geschäftsordnung oder einen Beschluss des Gesamtvorstands können 117 einzelne Ressortleiter mit vorbereitenden Tätigkeiten betraut werden. Praktisch bedeutsam wird das vor allem bei den nicht abschließend delegierbaren Aufgaben (Æ Rz. 94). Des Weiteren können sowohl die auf diese Weise bestimmten Berichterstatter als auch der Gesamtvorstand Mitarbeiter nachgeordneter Abteilungen (z. B. Rechtsabteilungsleiter) bei der Vorbereitung hinzuziehen, indem sie von ihnen bestimmte Teilaspekte der Vorstandsentscheidung abschließend vorbereiten lassen (Æ Rz. 109 ff.). Beispiele: Vorbereitung grundlegender Geschäftsführungsentscheidung durch ein Ressort, einen 118 Ausschuss oder ein „Steering Committee“ (Æ Rz. 89), Vorbereitung der Buchführung durch das Ressort „Finanzen“, Vorbereitung hauptversammlungsbezogener Angelegenheiten durch das Ressort „Recht“ etc. Weil diese Aufgaben in die Zuständigkeit des Gesamtvorstands fallen, kann 119 sich ein einzelnes Vorstandsmitglied niemals damit entlasten, es sei für den konkreten Beschlussgegenstand nicht zuständig.292) Den Berichterstatter trifft eine besondere Pflicht zur sorgfältigen Entscheidungsvorbereitung (Æ Rz. 261 ff., 99 ff.). Die übrigen Vorstandsmitglieder trifft hingegen primär eine – aufgrund der Bedeutung von Gesamtvorstandsaufgaben allerdings i. d. R. gesteigerte – Überwachungspflicht (Æ Rz. 104 ff., 266).293) Letztlich besteht damit jedoch auch bei der Delegation zur Vorbereitung ein Verantwortlichkeitsgefälle zwischen dem für die Vorbereitung primär verantwortlichen Berichterstatter und den übrigen Vorstandsmitgliedern.294) ___________ 291) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (377) = ZIP 1996, 2017 (2020) (GmbH); KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 55; Fleischer, AG 2003, 291 (294); Turiaux/ Knigge, DB 2004, 2199 (2205); Urban, GWR 2013, 106. 292) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani § 93 Rz. 32. Vgl. auch BGH, Urt. v. 26.6.1994 – II ZR 109/94, ZIP 1994, 1334 (1336); BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, ZIP 1985, 1135 (1136) (beide GmbH). 293) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 60; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 24. 294) Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (319).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

120 Daneben kommt eine Delegation zur Ausführung von Vorstandsentscheidungen in Betracht. Dies ist nur dort unzulässig, wo die Ausführung kraft Gesetzes zwingend dem Gesamtvorstand obliegt (Æ Rz. 17; z. B. bei Buchführungs- und Steuerpflichten gemäß § 91 AktG oder bei der Berichterstattung an den Aufsichtsrat gemäß § 90 AktG).295) 5.

Delegation auf unternehmensfremde Dritte

121 Auf unternehmensfremde Dritte dürfen lediglich (laufende) Geschäftsführungsführungsaufgaben abschließend delegiert werden.296) Mit Leitungsaufgaben darf der Vorstand Dritte hingegen nicht abschließend betrauen (Æ Rz. 32). Wie bei der unternehmensinternen Delegation müssen die Personen sorgfältig ausgesucht, instruiert und angemessen überwacht werden (Æ Rz. 111 ff.).297) Zudem muss sich der Vorstand als Ausgleich für das gegenüber Dritten fehlende arbeitsrechtliche Weisungsrecht entsprechend intensive vertragliche Weisungsmöglichkeiten ausbedingen.298) Wo diese Pflichten nicht zu erfüllen sind, muss die unternehmensexterne Delegation unterbleiben.299) 122 Rein vorbereitende Tätigkeiten darf der Vorstand wiederum im weiten Umfang auf Dritte übertragen. Praktisch bedeutsam wird das vor allem bei der Hinzuziehung externer Berater zur Vorbereitung von Vorstandsentscheidungen, die nach den Grundsätzen der sog. „ISION-Rechtsprechung“ des BGH haftungsausschließende Wirkung haben kann (Æ § 2 Rz. 58 ff.). 6.

Einsatz künstlicher Intelligenz

123 Noch nicht abschließend geklärt sind die rechtlichen Implikationen, wenn der Vorstand für seine Entscheidungsprozesse „Big Data“ und künstliche Intelligenz einsetzt. Dabei sind weniger die grundsätzliche Zulässigkeit des Einsatzes dieser Hilfsmittel als vielmehr die konkreten Voraussetzungen, flankierenden Pflichten und rechtlichen Grenzen unklar. Gesichert scheint jedenfalls, dass die Letztverantwortung für Leitungsentscheidungen (Æ Rz. 16) beim Vorstand verbleiben muss. Im Übrigen treffen den Vorstand beim Einsatz künstlicher Intelligenz wie bei der vertikalen Delegation (Æ Rz. 111 ff.) bestimmte Auswahlund Überwachungspflichten. Insbesondere muss er die Datenqualität sowie die

___________ 295) Koch, § 77 Rz. 17; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 64. 296) Zur Einrichtung organexterner Führungsgremien siehe Götz, ZGR 2003, 1 ff. 297) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 75; Ihrig/Schäfer, § 16 Rz. 431; Fleischer, ZIP 2003, 1 (10); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2206). 298) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 50; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 75; Dreher, in: Festschrift Hopt, S. 517 (530); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2206). 299) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 50.

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B. Geschäftsführung

Evaluation und Überwachung der zugrundeliegenden Algorithmen gewährleisten und die Ergebnisse plausibilisieren.300) IV.

Zustandekommen von Vorstandsentscheidungen

1.

Zuständigkeit

Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn es um die Abgrenzung der Zustän- 124 digkeit für eine Geschäftsführungsentscheidung zwischen Gesamtvorstand, einzelnen Vorstandsmitgliedern und nachgeordneten Mitarbeitern geht. a)

Gesamtvorstand

Die Entscheidungsfindung obliegt nach der gesetzlichen Grundregel dem Ge- 125 samtvorstand, wenn Satzung oder Geschäftsordnung – ausnahmsweise – keine abweichende Regelung zur Geschäftsführung treffen (Æ Rz. 59). Aber auch bei abweichender Gestaltung der Geschäftsführung (Æ Rz. 63) bleibt der Gesamtvorstand zwingend für die Leitungsentscheidungen zuständig (Æ Rz. 67, 101), wobei solche Entscheidungen im Einzelfall von allgemeinen Geschäftsführungsentscheidungen abgegrenzt werden müssen (Æ Rz. 15 ff., 18). Außerdem können bestimmte Entscheidungsgegenstände durch Geschäftsverteilung dem Gesamtvorstand überantwortet sein (Æ Rz. 83, 94). Fehlt es an einer eindeutigen Regelung, kann die Auslegung von Satzung bzw. Geschäftsordnung erforderlich werden, um die konkrete Kompetenzverteilung zu ermitteln (Æ Rz. 10 f., 65). Bleibt die Zuständigkeitsverteilung auch danach ungewiss oder berührt eine Frage mehrere Ressorts, sollte im Zweifel von der Zuständigkeit des Gesamtvorstands ausgegangen werden (Æ Rz. 81), um das Risiko eines Satzungsverstoßes bzw. einer unzulässigen Abweichung von der Geschäftsordnung (Æ Rz. 12) zu minimieren. Ist der Gesamtvorstand zuständig, darf keine Unterbesetzung des Vorstands (Æ Rz. 36) vorliegen. Selbst wenn der Gesamtvorstand nach den zuvor erläuterten Kriterien nicht 126 zuständig ist, kann es gleichwohl im Einzelfall sinnvoll oder geboten sein, dass er sich mit einem konkreten Beschlussgegenstand befasst. Insbesondere in der Krise des Unternehmens (Æ § 12) steigern sich die Befassungs- und Entscheidungspflichten des Vorstands.301) Darüber hinaus sollte selbst bei fehlender formaler Entscheidungskompetenz eine Befassung des Gesamtvorstands umso stärker in Betracht gezogen werden, je größer die strategische oder finanzielle Bedeutung einer Entscheidung für die Gesellschaft ist. Die damit einhergehende Wahrung des Vier-Augen-Prinzips sowie die Möglichkeit, ggf. weitere Argumente in die ___________ 300) Ausführlich zum Ganzen Horn, NZG 2020, 252 (254); Noack, ZHR 183 (2019), 105 ff.; Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131 (1132 ff.). 301) Ihrig/Schäfer, § 16 Rz. 421.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Abwägung einzubringen, sichern die Entscheidung insgesamt (haftungsrechtlich) stärker ab. b)

Einzelne Vorstandsmitglieder

127 Ein einzelnes Vorstandsmitglied, mehrere Ressortleiter oder ein Vorstandsausschuss (Æ Rz. 89) sind grundsätzlich nur dann für eine bestimmte Entscheidung zuständig, wenn sich dies aus der Geschäftsverteilung eindeutig oder nach Auslegung von Satzung bzw. Geschäftsordnung jedenfalls hinreichend deutlich ergibt (Æ Rz. 63 ff., 80 ff.). Das bzw. die zuständigen Vorstandsmitglieder können innerhalb des ihm bzw. ihnen zugewiesenen Geschäftsbereichs grundsätzlich mit Wirkung für den Gesamtvorstand allein entscheiden.302) Entscheidungen des Gesamtvorstands dürfen einzelne Vorstandsmitglieder demgegenüber nur ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt der Notgeschäftsführung (Æ Rz. 60) treffen. 128 Praxishinweis: Insbesondere bei Matrixorganisation (Æ Rz. 87) des Vorstands können mehrere Vorstandsmitglieder für eine bestimmte Maßnahme zuständig sein. In einem solchen Fall sollte die konkrete Aufgabenzuweisung – ggf. unter Hinzuziehung des Gesamtvorstands – möglichst genau festgelegt und nachvollziehbar dokumentiert werden. 129 Im Einzelfall kann zu prüfen sein, ob überhaupt eine Entscheidung des Vorstands erforderlich ist. Dies betrifft Fälle der abschließenden vertikalen Delegation von Entscheidungen auf nachgelagerte Unternehmensmitarbeiter (Æ Rz. 109 ff.). Zur Bestimmung der Reichweite der Delegation kann die Auslegung der Delegationsentscheidung erforderlich werden. Sowohl bei Zweifeln über die konkrete Reichweite als auch bei Entscheidungen von nicht unwesentlicher wirtschaftlicher oder strategischer Bedeutung sollten das bzw. die ressortzuständige(n) Vorstandsmitglied(er) allerdings in Betracht ziehen, von ihrer Kompetenz Gebrauch zu machen, die Entscheidung an sich zurückzuziehen. 2.

Willensbildung des Vorstands

130 Entscheidungen des Alleinvorstands oder einzelner Ressortleiter werden durch bloßen Realakt getroffen und ggf. den übrigen Vorstandsmitgliedern mitgeteilt. Im mehrgliedrigen Vorstand werden Gesamtvorstandsentscheidungen und Entscheidungen eines Vorstandsausschusses hingegen durch Beschluss gefasst.303) Grundvoraussetzung eines ordnungsgemäßen Beschlusses ist, dass alle Vorstandsmitglieder unter Bezeichnung des Gegenstands der Beschlussfassung

___________ 302) Koch, § 77 Rz. 14; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 23; Fleischer, NZG 2003, 492 (452). 303) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 33; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 11.

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B. Geschäftsführung

ordnungsgemäß geladen wurden.304) Nehmen alle Vorstandsmitglieder an der Beschlussfassung teil, können sie auf die Einhaltung aller Form- und Fristvorschriften – einschließlich des Erfordernisses einer Ladung – verzichten, und zwar sowohl ausdrücklich als auch konkludent dadurch, dass sie in Kenntnis des Einberufungsmangels der Beschlussfassung nicht widersprechen.305) a)

Form

Für Beschlüsse des Vorstands besteht kein gesetzliches Formerfordernis.306) 131 Sie können daher mündlich, schriftlich oder durch Handzeichen, telefonisch oder telegrafisch, innerhalb oder außerhalb von Sitzungen, im schriftlichen Umlaufverfahren, per Video- oder Internetkonferenz oder per E-Mail sowie durch Kombination aller vorgenannten Formen gefasst werden.307) Teilweise abweichend von Beschlüssen des Aufsichtsrats (Æ § 3 Rz. 68) sind auch konkludente Vorstandsbeschlüsse möglich.308) Üblicherweise sind die formalen Anforderungen an die Beschlussfassung des Vorstands sowie ggf. Einzelheiten zur Ladung, Sitzungsturnus, Sitzungsleitung etc. im Einzelnen in der Geschäftsordnung des Vorstands (Æ Rz. 11) oder – seltener – in der Satzung geregelt. Dadurch können die Möglichkeiten des Vorstands zur Beschlussfassung ggf. eingeschränkt sein.309) Beschlüsse werden im Regelfall – jedoch nicht gesetzlich zwingend – in Sit- 132 zungen gefasst.310) Deren Leitung obliegt i. d. R. dem Vorstandsvorsitzenden bzw. Vorstandssprecher (Æ Rz. 42 f.). Üblich und empfehlenswert ist die Abhaltung regelmäßiger ordentlicher Präsenzsitzungen, deren Turnus (z. B. wöchentlich oder vierzehntägig) sich nach den Umständen und der konkreten Situation der Gesellschaft richten sollte. Physisch abwesende Vorstandsmitglieder können telefonisch, per Videokonferenz etc. an der Sitzung teilnehmen oder ihre Stimme schriftlich, per E-Mail etc. übermitteln. Personen, die nicht dem Vorstand angehören, dürfen im Interesse der vertraulichen und freien Willensbildung analog § 109 Abs. 1 AktG grundsätzlich nicht an Vorstandssitzungen teilnehmen. Das schließt ein regelmäßiges Teilnahmerecht von Aufsichtsrats___________ 304) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 9; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 86. Vgl. auch OLG Schleswig, Urt. v. 5.2.1960 – 5 U 114/59, NJW 1960, 1862 (1863) (Verein). 305) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 21; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 86. 306) Koch, § 77 Rz. 6; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 24. 307) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 22; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 33. 308) OLG Frankfurt/M, Urt. v. 15.4.1986 – 5 U 191/84, ZIP 1986, 1244 (1245); Koch, § 77 Rz. 6; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 9. 309) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 33. 310) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 21; Ihrig/Schäfer, § 18 Rz. 504.

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mitgliedern aus.311) Sie dürfen aber wie Sachverständige und Auskunftspersonen zur Beratung über einzelne Gegenstände ebenso hinzugezogen werden wie sonstige dritte Hilfspersonen.312) Beispiele: 133 Hinzuziehung der Leiter zentraler Stabsressorts (z. B. Controlling, Recht, Kommunikation, Compliance), Teilnahme externer Berater zu bestimmten Tagesordnungspunkten, Hinzuziehung eines Protokollanten. 134 Das Verbot der Teilnahme Dritter, aber auch die Gesichtspunkte der Vertraulichkeit und der haftungsrechtlichen Verantwortung, können der Durchführung gemeinsamer Sitzungen verschiedener Gremien entgegenstehen,313) für die vor allem im Konzern ein praktisches Bedürfnis bestehen kann. 135 In besonderen Eilfällen, etwa bei Beschlüssen im Zusammenhang mit Ad-hocpflichtigen Maßnahmen (Æ § 10 Rz. 4 ff.), sind nicht physische Sitzungen (z. B. per Telefon, Video- oder Internetkonferenz) oder sonstige flexible Formen der Beschlussfassung (z. B. per E-Mail im Umlaufverfahren etc.) unerlässlich. 136 Feststellung und Verkündung des Beschlussergebnisses sind vorbehaltlich abweichender Regelung durch Satzung oder Geschäftsordnung nicht erforderlich.314) Gleiches gilt für die Erstellung einer Niederschrift oder die Protokollierung von Vorstandsbeschlüssen, wenngleich letzteres praktisch immer aus Dokumentationsgründen und zur Einhaltung der organschaftlichen Sorgfaltspflicht geboten ist.315) 137 Praxishinweis: Für eine „haftungsfeste“ Dokumentation genügt es nicht, zur Begründung der Entscheidung pauschal auf vorbereitende Dokumente zu verweisen. Vielmehr muss der Vorstand den Diskussionsverlauf, seine von ihm selbst als tragend identifizierten Entscheidungsgründe im Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) und deren Gewichtung sowie das Abstimmungsverhalten (einschließlich abweichender Stimmabgaben und etwaiger Widersprüche) sorgfältig und umfassend im Protokoll festhalten.316) ___________ 311) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 89; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 35. 312) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 89; Ihrig/Schäfer, § 18 Rz. 505. Enger für Aufsichtsratsmitglieder: MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 37. Weiter für organexterne Führungsgremien Götz, ZGR 2003, 1 (11 ff.). 313) Zum Ganzen für gemeinsame Sitzungen des Aufsichtsrats KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 25; U.H. Schneider, in: Festschrift Konzen, S. 881 ff.; Schnorbus/Ganzer, AG 2013, 445 ff. 314) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 22; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 9; Ihrig/Schäfer, § 18 Rz. 510; a. A. Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 26. 315) Koch, § 77 Rz. 6; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 26; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 96. 316) Muster bei Happ/Groß/Möhrle/Vetter/Happ, Aktienrecht, unter 8.07.

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b)

Beschlussmodalitäten

Nach dem Gesetz sind Vorstandsbeschlüsse einstimmig von allen Vorstands- 138 mitgliedern zu fassen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AktG; Æ Rz. 59). Durchweg üblich – und praktisch nahezu unerlässlich – ist es aber, dass Satzung bzw. Geschäftsordnung davon abweichend Mehrheitsbeschlüsse vorsehen und deren Modalitäten zugleich konkret ausgestalten (Æ Rz. 71 ff.). Gleiches gilt für Regeln über die Beschlussfähigkeit (Æ Rz. 79). c)

Stimmabgabe, Stimmverbote und Bedingungen

Die Stimmabgabe des einzelnen Vorstandsmitglieds ist eine empfangsbedürf- 139 tige Willenserklärung. Grds. gelten §§ 104 ff. BGB. Davon abweichend ist ein Widerruf auch nach Zugang aus wichtigem Grund (z. B. nachträgliche Änderung der Sachlage) möglich und eine Stellvertretung wegen Höchstpersönlichkeit der Geschäftsführung unzulässig; Botenschaft (z. B. Übermittlung durch anderes Vorstandsmitglied) ist hingegen zulässig.317) Die Stimmabgabe selbst ist bedingungsfeindlich;318) der gefasste Beschluss des Vorstands darf jedoch grundsätzlich unter Bedingungen gestellt werden (Æ Rz. 22). Entsprechend §§ 28, 34 BGB besteht für Vorstandsmitglieder ein Stimmver- 140 bot, wenn der Beschluss die Vornahme eines Rechtsgeschäfts mit ihm oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits zwischen ihm und der Gesellschaft betrifft.319) d)

Umgang mit Interessenkonflikten

Praktisch besonders wichtig ist die Frage, wie bei Vorstandsentscheidungen 141 mit Pflichtenkollisionen und Interessenkonflikten umzugehen ist. Ein Interessenkonflikt ist jedes dem Unternehmensinteresse gegenläufige Eigen- oder für das jeweilige Organmitglied relevante Drittinteresse, das aufgrund seiner Dauer und Intensität bei objektiver Betrachtung befürchten lässt, dass das betreffende Organmitglied nicht unbedingt allein die Interessen seiner Gesellschaft verfolgen wird.320) Beispiele:321) Gleichzeitige Stellung als Aktionär und Vorstandsmitglied bei Entscheidungen, die 142 für das Organmitglied vor- oder nachteilhaft sind (insbesondere in Übernahmesi___________ 317) Koch, § 77 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 9; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 8. 318) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 24; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 21; einschränkend KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 35. 319) OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.1.2014 – 2 U 69/13, ZIP 2014, 822 (824); Großkomm-AktG/ Kort, § 77 Rz. 14; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 9; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 96. 320) Wilsing/Goslar, Ziffer 4.3.4 Rz. 3; Koch, § 108 Rz. 12; Lutter, in: Festschrift Priester, S. 417 (423); Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (142 f.). 321) Lutter/Krieger/Verse, § 12 Rz. 904 ff.; Marsch-Barner/Schäfer/Vetter, § 28 Rz. 65 ff. (Aufsichtsrat).

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tuationen oder beim Management-Buy-Out322)); Inhaber von Vorstands-Doppelmandaten im Konzern bei Entscheidungen, die den Interessen einer der beteiligten Gesellschaften zuwiderlaufen; Betroffene sog. Internal Investigations oder staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen bei Entscheidungen über Durchführung, Umfang etc. der Ermittlungen sowie ggf. bei Sachentscheidungen im Zusammenhang mit dem Ermittlungsgegenstand. Weiterführende Hinweise für die Rechtsanwendung enthält die ausführliche Erläuterung in der Gesetzesbegründung zum ARUG II.323) 143 Die für die Bewältigung von Interessen- oder Pflichtenkollisionen aufgrund der organschaftlichen Treuepflicht (Æ Rz. 308 ff.) erforderlichen Maßnahmen bestimmen sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach Art und Intensität des Interessenkonflikts. Zwingend erforderlich sind zunächst die Offenlegung des Konflikts gegenüber dem Aufsichtsrat und die Information der anderen Vorstandsmitglieder.324) Im Übrigen besteht nach h. M. kein allgemeines325) Stimmverbot, und zwar insbesondere nicht für die Inhaber von Vorstands-Doppelmandaten im Konzern (Æ Rz. 325 ff.).326) Vielmehr wird von einem Vorstandsmitglied erwartet, sich bei einer konfliktbefangenen Beschlussfassung am Unternehmensinteresse zu orientieren und kollidierende eigene Interessen hintanzustellen327) bzw. bei Vorstands-Doppelmandaten bei seinen Entscheidungen stets die Interessen des jeweiligen Pflichtenkreises wahrzunehmen.328) Nur wenn ihm dies unmöglich ist – etwa wegen der Erheblichkeit der Sonderinteressen und bei erheblichen Interessenkonflikten – muss das Vorstandsmitglied ausnahmsweise von Beratung und Beschlussfassung zu

___________ 322) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 246; Weber, Transaktionsboni für Vorstandsmitglieder, 2006. Zum Management Buy-out bei der GmbH Meyer, Die Besicherung der Akquisitionsfinanzierung beim Leveraged Buy-out einer GmbH, 2010, S. 37; Koppensteiner, ZHR 155 (1991), 97 (110); Wittkowski, GmbHR 1990, 544 (548 f.). 323) Begründung Regierungsentwurf ARUG II, BT-Drucks. 19/9739, S. 77 f.; JIG/Meyer, Grds. 6 Rz. 43. 324) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 156 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 71; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (148); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (727); Seibt, in: Festschrift Hopt, S. 1363 (1373 f.). Vgl. auch Empfehlung E.2 DCGK. 325) § 111b Abs. 2 AktG ordnet aber etwa ein spezifisches Stimmverbot bei sog. Related Party Transactions für Aufsichtsratsmitglieder an, bei denen die Besorgnis eines Interessenkonflikts wegen ihrer Beziehung zu der nahestehenden Person besteht. 326) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 26; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 14; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 76 Rz. 52; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 38 ff.; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (149); a. A. Hoffmann-Becking, ZHR 150 (1986), 570 (579 ff.); U.H. Schneider, in: Festschrift Goette, S. 475 (482 f.). 327) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 96; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 229 f.; Hopt, ZGR 2004, 1 (38 f.); vgl. auch BGH, Urt. v. 12.6.1989 – II ZR 334/87, ZIP 1989, 1390 (1394). 328) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, BGHZ 180, 105 (111), Rz. 16 = ZIP 2009, 1162 (1163); Wachter/Link, § 76 Rz. 60; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 52.

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B. Geschäftsführung

der betreffenden Entscheidung Abstand nehmen329) und sollte die Sitzung daher vorübergehend verlassen. Andernfalls könnten alle Vorstandsmitglieder bei dieser Entscheidung das Haftungsprivileg durch die Business Judgement Rule verlieren (Æ § 2 Rz. 54). Würde die Beschlussfähigkeit (Æ Rz. 79) des Vorstands durch die Nichtabgabe der Stimme entfallen, muss das betroffene Vorstandsmitglied ausnahmsweise an der Beschlussfassung mitwirken und mit einer Enthaltung abstimmen.330) Dasselbe gilt bei Gesamtvorstandsentscheidungen (Æ Rz. 125), wenn die Mitwirkung zur Verhinderung der Unterbesetzung des Vorstands (Æ Rz. 36) erforderlich ist. Betrifft der Konflikt alle Vorstandsmitglieder, muss der Aufsichtsrat hinzugezogen werden, um den Konflikt zu neutralisieren; praktisch lässt sich dies z. B. erreichen, indem das Geschäft unter einen Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Aufsichtsrats gestellt wird.331) Praxishinweis: Ab welcher Schwelle ein Interessenkonflikt zur Abstandnahme von 144 Beratung und/oder Beschlussfassung nötigt, lässt sich nur im Einzelfall beantworten und bereitet in der Praxis häufig Schwierigkeiten. Zumeist dürfte eine eher vorsichtige Herangehensweise ratsam sein, bei der sich das Vorstandsmitglied – freiwillig – im Zweifel zurückzieht. Dies erhöht für alle Vorstandsmitglieder die Wahrscheinlichkeit, sich bei der Entscheidung letztlich erfolgreich auf die Business Judgement Rule berufen zu können. Denn besonders bei börsennotierten Gesellschaften sowie bei Unternehmen, die stark im Fokus der Öffentlichkeit stehen, werden entsprechende Sachverhalte von Aktionären und der Öffentlichkeit sehr oft besonders kritisch begleitet, was von kritischen Hauptversammlungen über Sonderprüfungen bis hin zur (Forderung einer) haftungsrechtlichen Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern führen kann. Zieht sich ein konfligiertes Vorstandsmitglied nach Offenlegung des Konflikts 145 nicht freiwillig zurück, kann es von den übrigen Vorstandsmitgliedern ausnahmsweise durch Beschluss von Beratung und Abstimmung ausgeschlossen werden, um eine unbeeinflusste Abstimmung zu ermöglichen.332) Noch weitergehend kann im Einzelfall der vollständige Ausschluss eines Vorstandsmitglieds vom Informationsfluss hinsichtlich einer bestimmten Angelegenheit erforderlich werden, z. B. zum Schutz vertraulicher und geheimhaltungsbedürftiger Vorgänge,333) zur Wahrung gesetzlicher Bestimmungen (z. B. § 12 GwG) oder zur Verhinderung des Vorwurfs der Strafvereitelung (§ 258 StGB). Abhilfe ___________ 329) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 94; Koch, § 77 Rz. 8; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 71; Koch, ZGR 2014, 697 (712 ff.); Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (149); Lutter, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 245 (250). 330) Vgl. BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056 (1058), Rz. 13 (Aufsichtsrat); Marsch-Barner/Schäfer/Vetter, § 28 Rz. 66 (Aufsichtsrat). 331) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 99; Koch, § 93 Rz. 60 m. w. N.; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 30; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1526. 332) Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (147, 149); Koch § 93 Rz. 58; ders. ZG 2014, 697 (710 ff., 719 ff., 725 f.); a. A. Schäfer, ZGR 2014, 731 (746 f.). 333) Semler/Stengel, NZG 2003, 1 (4).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

kann durch Änderung der Ressortverteilung (Æ Rz. 80 ff.), Bildung eines Vorstandsausschusses (Æ Rz. 89) oder die Beauftragung eines Mitarbeiters unterhalb des Vorstands geschaffen werden (Æ Rz. 117), der gezielt an ein nicht von einem Interessenkonflikt betroffenes Vorstandsmitglied berichtet. Wirkt sich ein Interessenkonflikt aber dauerhaft und unauflöslich auf die Tätigkeit im Vorstand aus, muss das Vorstandsmitglied sein Mandat als ultima ratio niedergelegen oder der Aufsichtsrat das Mitglied aus wichtigem Grund abberufen.334) e)

Beschlussmängel und Rechtsschutz gegen fehlerhafte Beschlüsse

146 Verstößt der Beschluss gegen Gesetz, Satzung oder Geschäftsordnung, ist zwischen formalen und materiellen Mängeln zu unterscheiden.335) 147 Formale Beschlussmängel können sich etwa aus Verstößen gegen Verfahrensvorschriften der Satzung oder Geschäftsordnung, aus der Verletzung von Mitwirkungsrechten einzelner Vorstandsmitglieder oder aus der Unwirksamkeit einer einzelnen Stimmabgabe ergeben, wenn das Beschlussergebnis bei mangelfreier Stimmabgabe so nicht zustande gekommen wäre.336) Nur schwerwiegende Verfahrensfehler, bei denen kein Verzicht auf die Einhaltung der verletzten Vorschrift möglich ist, führen ausnahmsweise zur Nichtigkeit des Beschlusses, auf die sich jeder Betroffene unbefristet und ohne besondere Form berufen kann.337) Im Übrigen führen formale Mängel nur dann zur Nichtigkeit des Beschlusses, wenn sie unverzüglich nach der Beschlussfassung gerügt werden.338) Das gilt nach umstrittener Auffassung auch für den Fall der nicht ordnungsgemäßen Ladung (Æ Rz. 130) eines Vorstandsmitglieds.339) Zur Geltendmachung der Nichtigkeit durch gegen die Gesellschaft gerichtete allgemeine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO sind allein die Vorstandsmitglieder befugt, die sich auf die Verletzung von Mitwirkungsrechten berufen.340) Eine Pflicht zum Einschreiten besteht für übergangene Vorstandsmitglieder aber nicht.341) ___________ 334) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 122; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 75; Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (149); U.H. Schneider, in: Festschrift Goette, S. 475 (485). 335) Zum Ganzen (für den Aufsichtsrat) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (247) = ZIP 1996, 883 (883 f.); BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342 (351) = ZIP 1993, 1079 (1083); Koch, § 108 Rz. 26 ff.; Fleischer, DB 2013, 160 ff. und 217 ff. 336) Wachter/Link, § 77 Rz. 7; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 17; Ihrig/Schäfer, § 18 Rz. 521. 337) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 28; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 94. 338) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 18; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 29; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 26; vgl. auch Koch, § 77 Rz. 6. 339) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 28; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 47; Ihrig/Schäfer, § 18 Rz. 521; a. A. (Nichtigkeit) OLG Schleswig, Urt. v. 5.2.1960 – 5 U 114/59, NJW 1960, 1862 f.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 8. 340) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 47; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 29; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 26. 341) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 18.

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B. Geschäftsführung

Materielle Beschlussmängel, d. h. Verstöße des Beschlusses gegen materielles 148 Recht oder die Satzung (Æ Rz. 152 ff.), führen hingegen regelmäßig zur Nichtigkeit des Beschlusses und können von allen Vorstandsmitgliedern – nach h. M. aber nicht vom Aufsichtsrat, dessen Mitgliedern oder Aktionären – mittels Feststellungsklage geltend gemacht werden.342) f)

Verhaltenspflichten überstimmter Vorstandsmitglieder

Die kontroverse Diskussion über Entscheidungen innerhalb des Vorstands ist 149 oftmals eine wesentliche Voraussetzung für die Erarbeitung sinnvoller Lösungen und daher wichtiges Element guter Vorstandsarbeit.343) Letztlich dürfen unterschiedliche Auffassungen eine sachliche Bewältigung der Vorstandsarbeit aber nicht belasten. Vorstandsmitglieder müssen Mehrheitsentscheidungen, die gegen ihre Stimme gefasst werden, daher grundsätzlich loyal mittragen und an deren Ausführung mitwirken, sofern der Beschluss ordnungsgemäß zustande gekommen und inhaltlich gesetzmäßig ist.344) Ist die Vorstandsentscheidung hingegen gesetzes- oder satzungswidrig, rechts- 150 widrig oder sonst pflichtwidrig oder läuft sie dem Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) zuwider, besteht eine – haftungsbewehrte – Pflicht des überstimmten Vorstandsmitglieds, weiter auf ein rechtmäßiges Verhalten des Vorstands hinzuwirken und ggf. mit den ihm verfügbaren Mitteln Widerstand zu leisten.345) Erforderlich ist ein mehrstufiges Vorgehen. Im Ausgangspunkt besteht keine Pflicht, durch Nichterscheinen oder Verlassen der Sitzung die Beschlussunfähigkeit (Æ Rz. 79) des Gremiums herbeizuführen und dadurch das Zustandekommen des Beschlusses zu verhindern.346) Vielmehr muss das Vorstandsmitglied in der Beratung gegenüber den Kollegen seine Gegenvorstellungen erheben und gegen die betreffende Maßnahme stimmen; die bloße Stimmenthaltung hat keine enthaftende Wirkung.347) Sodann muss das überstimmte Vorstandsmitglied im Wege der Remonstration nochmals eindringlich auf seine Bedenken gegen die Beschlussausführung hinweisen, bei Erfolg___________ 342) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 48; Ihrig/Schäfer, § 18 Rz. 522. 343) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 169; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 81. 344) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 77 Rz. 50; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 11. 345) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 27; OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263 (1268); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 29; MünchKommAktG/ Spindler, § 77 Rz. 30 und § 93 Rz. 187 ff. 346) Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 13; Fleischer, BB 2004, 2645 (2648). 347) OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.1.2014 – 2 U 69/13, ZIP 2014, 822 (824 f.); Koch, § 77 Rz. 15a; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 191; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1504; Fleischer, BB 2004, 2645 (2651); a. A. LG Berlin, Urt. v. 8.10.2003 – 101 O 80/02, ZIP 2004, 73 (76) (Enthaltung hinreichend).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

losigkeit den Aufsichtsrat informieren, damit dieser im Rahmen seiner Möglichkeiten auf den Vorstand einwirken kann, und die Mitwirkung an der Ausführung des Beschlusses auch dann unterlassen, wenn der Aufsichtsrat nicht einschreitet.348) Schließlich besteht die Möglichkeit – nicht aber die Pflicht – zur Erhebung der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses gegen die Gesellschaft (Æ Rz. 147 f.).349) Eine Pflicht, Dritte, Behörden oder die Öffentlichkeit zu informieren, besteht aufgrund der Verschwiegenheitspflicht des Vorstands (Æ Rz. 331 ff.) allenfalls als ultima ratio nach Ausschöpfung aller gesellschaftsinternen Maßnahmen und allenfalls bei Bestehen einer Anzeigepflicht gemäß § 138 StGB oder falls ansonsten eine existenzgefährdende Maßnahme droht.350) Ebenso wenig besteht entgegen der st. Rspr. des BFH351) eine Pflicht, wohl aber ein Recht zur Amtsniederlegung.352) 151 Praxishinweis: Das überstimmte Vorstandsmitglied sollte zwingend darauf achten, sämtliche vorgenannten Schritte, insbesondere Gegenvorstellung, Remonstration, abweichendes Stimmverhalten und Widerspruch gegen den Vorstandsbeschluss sowie die (Absicht der) Information des Aufsichtsrats, umfassend protokollieren zu lassen.353) V.

Schranken der Geschäftsführungsbefugnis

152 Allgemeingültige Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis (Æ Rz. 55 ff.) ergeben sich zunächst aus dem Gesetz. Das schließt insbesondere die zwingenden Vorgaben des AktG (Æ Rz. 2 ff.) ein, z. B. zu den Beschlussgegenständen, die in die Kompetenz des Gesamtvorstands als Kollegialorgan fallen (Æ Rz. 125). Der Vorstand kann in seiner Geschäftsführungsbefugnis durch bestimmte Vorschriften weitgehend eingeschränkt sein, ausdrücklich der Zustimmung von Aufsichtsrat oder Hauptversammlung bedürfen (z. B. § 33 WpÜG, §§ 202 Abs. 3 Satz 2, § 221 Abs. 1 AktG) oder in seiner Geschäftsführungsbefugnis wegen der Zuständigkeit eines anderen Organs eingeschränkt sein.354) Die Be___________ 348) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); GroßkommAktG/Kort, § 77 Rz. 22; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 50; § 77 Rz. 32; Fleischer/ Schmolke, WM 2012, 1013 (1014). 349) Vgl. auch BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 = ZIP 1996, 883 (884); Fleischer, BB 2004, 2645 (2650). 350) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 50; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 11; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 178; Fleischer, BB 2004, 2645 (2649 f.). 351) BFH, Beschl. v. 9.1.1996 – VII B 189/95, GmbHR 1997, 139; BFH, Beschl. v. 25.4.1989 – VII S 15/89, BFH/NV, 757. 352) Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 22; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 50; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1504; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 15; Vetter, DB 2004, 2623 (2626). 353) OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.6.1995 – 6 U 104/94, ZIP 1995, 1183 (1187); MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 187; Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 13. 354) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 24.

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B. Geschäftsführung

fugnis zur Geschäftsführung kann schließlich deshalb fehlen, weil eine bestimmte Maßnahme aufgrund eines gesetzlichen Verbots gänzlich untersagt ist.355) Die Geschäftsführungsbefugnis kann – anders als die Vertretungsmacht 153 (Æ Rz. 185) – weitergehend durch individuelle Bestimmungen im Verhältnis zur Gesellschaft, namentlich durch Satzung, Geschäftsordnung, Aufsichtsrat oder Hauptversammlung, beschränkt werden, jedoch lediglich im Rahmen der Vorschriften über die Aktiengesellschaft (§ 82 Abs. 2 AktG). Daher sind nur solche Beschränkungen wirksam, die kraft (Aktien-)Gesetzes gestattet sind; eine Durchbrechung der gesetzlichen Regelungen zu Kompetenzen und Funktionen der Organe der AG oder eine Beschränkung des Grundsatzes der weisungsfreien Leitungsmacht des Vorstands (Æ Rz. 15 ff.) ist daher unzulässig.356) Bei systematischer Betrachtung ergeben sich danach für den Vorstand aus dem 154 Gesetz und den in § 82 Abs. 2 AktG genannten weiteren Grenzen im Wesentlichen die folgenden Beschränkungen: 1.

Satzung

Dem Vorstand ist es verboten, einen anderen als den in der Satzung (Æ Rz. 7 ff.) 155 festgelegten Gesellschaftszweck (Æ Rz. 8) zu verfolgen. Daneben erfolgt die praktisch wichtigste satzungsmäßige Beschränkung der 156 Geschäftsführungsbefugnis durch den – ggf. durch (objektive) Auslegung357) zu bestimmenden – Unternehmensgegenstand (Æ Rz. 8, 10). Je präziser dieser gefasst ist, desto enger sind die dem Vorstand vorgegebenen Grenzen.358) Innerhalb dieser Grenzen ist der Vorstand allerdings darin frei zu entscheiden, mit welchen Mitteln er den Unternehmensgegenstand verfolgt. Verboten ist die Überschreitung des Unternehmensgegenstands, d. h. die 157 Aufnahme von Geschäftsfeldern, die nach der Verkehrsanschauung über den festgesetzten Unternehmensgegenstand hinausgehen und daher eine faktische Veränderung des Unternehmensgegenstands ohne Satzungsänderung bzw. Mitwirkung der Hauptversammlung darstellen.359) Unzulässig sind vor allem Änderungen der Identität (z. B. Herstellung von Maschinen statt „Textilfabrikation“) sowie erhebliche Veränderungen der Risikostruktur des Unternehmens.360) Bei außergewöhnlichen Risiko- oder Spekulationsgeschäften besteht besonderer ___________ 355) Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 21; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 32 f. 356) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 19; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 15. 357) Zu den maßgeblichen Auslegungskriterien vgl. Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 14; Hölters/ Weber/Weber, § 82 Rz. 18; Säcker, in: Festschrift Lukes, S. 547 (550). 358) OLG Köln, Beschl. v. 19.10.2018 – 18 W 53/17, ZIP 2019, 1010 (1012); Koch, § 82 Rz. 9; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 554. 359) Vgl. BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568 (571). Ausführlich KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 22 ff., 33 ff.; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 18. 360) MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 34; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 554.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Anlass zur Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Unternehmensgegenstand.361) Eine Ausgliederung von Aktivitäten auf Tochter- und Enkelgesellschaften ist ebenso wie der Erwerb von Beteiligungen allenfalls bei Bestehen einer sog. Konzernklausel („… auch durch Beteiligung an anderen Gesellschaften …“) zulässig.362) Beides bleibt aber unzulässig, wenn hierdurch die Beschränkungen des satzungsmäßigen Unternehmensgegenstands umgangen würden.363) Zulässig sind regelmäßig der bloße Wechsel von Produktions- oder Vertriebsmethoden sowie die geographische Ausdehnung oder Verlagerung der Geschäftstätigkeit.364) Auch Hilfsgeschäfte (z. B. Erwerb von Grundstücken oder Produktionsmitteln sowie Geschäfte zur besseren Vermarktung selbst hergestellter Erzeugnisse,365) zur Abrundung des eigenen Portfolios oder zur Absicherung von Kurs- oder Währungsrisiken366)) sind zulässig, selbst wenn sie nicht unmittelbar vom Unternehmensgegenstand umfasst sind.367) Schließlich darf der Vorstand den Unternehmensgegenstand behutsam an veränderte Rahmenbedingungen und Marktentwicklungen anpassen, sofern damit keine wesentliche Veränderung des wirtschaftlichen Risikos einhergeht.368) 158 Ebenfalls verboten ist die Unterschreitung des Unternehmensgegenstands. Der Vorstand muss Geschäftsbereiche, zu deren Aufrechterhaltung er nach der Satzung verpflichtet sein soll, also fortführen und auf eine Satzungsänderung hinwirken, wenn er ein solches Betätigungsfeld dauerhaft aufgeben oder veräußern will.369) 159 Grundsätzlich zulässig sind konkretisierende Satzungsbestimmungen zum Unternehmensgegenstand, durch die der Vorstand entweder auf bestimmte Ge___________ 361) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 16 (Zinsderivategeschäfte); BGH, Urt. v. 5.10.1992 – II ZR 172/91, BGHZ 119, 305 (332) = ZIP 1992, 1542 (1551) (Spekulationsgeschäfte auf dem Rohölterminmarkt); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, AG 2010, 126 (127 f.) (Investitionen in US-amerikanische Kreditverbriefungen); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 30; Fleischer, NJW 2010, 1504. 362) Koch, § 82 Rz. 9; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 18; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 554. 363) OLG Hamburg, Urt. v. 5.9.1980 – 11 U 1/80, ZIP 1980, 1000 (1006); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 82 Rz. 32; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 34, 39; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 18. 364) Koch, § 82 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 14; Säcker, in: Festschrift Lukes, S. 547 (550 f.). 365) BGH, Urt. v. 15.5.2000 – II ZR 259/98, BGHZ 144, 290 (293) = ZIP 2000, 1162 (1163 f.). 366) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 16. 367) Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 24; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 18; Ihrig/ Schäfer, § 1 Rz. 29. 368) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 30; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 33; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 82 Rz. 14. 369) OLG Köln, Urt. v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, ZIP 2009, 1469 (1470); OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415 (1419); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 31; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 4; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 555.

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schäfte, Produkte oder Dienstleistungen, Produktions- und Vertriebsmethoden oder Absatzmärkte festgelegt wird oder umgekehrt bestimmte Geschäftsbereiche (z. B. keine Rüstungsproduktion) oder Produktionsverfahren (z. B. keine Stromerzeugung aus Kernenergie) ausgegrenzt werden.370) Die Grenze zulässiger Satzungsgestaltung wird erreicht, wo der Vorstand durch die Vorgabe eines sehr engen Unternehmensgegenstands zum bloßen Befehlsempfänger ohne eigenen Handlungsspielraum degradiert und damit in seiner Eigenverantwortlichkeit (Æ Rz. 22 ff.) verletzt wird.371) Grundsätzlich stellen zudem – außer bei sog. Tendenzunternehmen – satzungsmäßige Beschränkungen des Unternehmensgegenstands, die dem Vorstand bestimmte weltanschauliche, politische, wirtschaftliche oder finanzielle Zielvorgaben oder Leitideen auferlegen, unzulässige Eingriffe in die eigenverantwortliche Leitungsmacht des Vorstands dar.372) Eine satzungsmäßige Verpflichtung auf den Shareholder Value-Ansatz schließt das allerdings nicht aus (Æ Rz. 24). 2.

Geschäftsordnung

Möglich sind ferner Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis aus der 160 von Aufsichtsrat oder Vorstand erlassenen Geschäftsordnung des Vorstands (Æ Rz. 11 f.). Insbesondere können einzelne Vorstandsmitglieder durch die konkret gewählte Geschäftsverteilung (Æ Rz. 63 ff., 80 ff.) oder der Gesamtvorstand durch einen vom Aufsichtsrat in der Geschäftsordnung festgelegten Katalog zustimmungspflichtiger Geschäfte (Æ Rz. 163 und § 3 Rz. 136 ff.) gebunden sein.373) Entgegen dem insoweit missverständlichen Wortlaut von § 82 Abs. 2 AktG ergeben sich aus der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats hingegen – mit Ausnahme der in der Praxis nicht selten darin geregelten Zustimmungsvorbehalte – in aller Regel keine Beschränkungen für den Vorstand.374) 3.

Beschränkungen durch den Aufsichtsrat

Der Vorstand muss stets die aktienrechtlichen Kompetenzen des Aufsichts- 161 rats beachten. Fallen bestimmte Maßnahmen oder Geschäfte in dessen Zuständigkeit, fehlen sowohl die Vertretungsbefugnis (Æ Rz. 198) als auch die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands. Ein wichtiger Anwendungsfall sind Ver___________ 370) Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 26; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 27; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 82 Rz. 15. 371) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 33; Koch, § 82 Rz. 10; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 19. 372) I. E. str; vgl. Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 26; Koch, § 82 Rz. 10; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 82 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 15; Priester, in: Festschrift Hüffer, S. 777 (782 ff.). Zum Ganzen OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.7.2006 – 8 W 271, 272/06, ZIP 2007, 231 (232). 373) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 36; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 44. 374) Koch, § 82 Rz. 13.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

träge mit (ehemaligen) Vorstandsmitgliedern (vgl. § 112 Satz 1 AktG; Æ § 3 Rz. 235 ff.), insbesondere Anstellungsverträge (Æ Rz. 48 ff. und § 3 Rz. 195 ff.) oder Verträge im Zusammenhang mit der Vorstandsvergütung (§§ 84, 87 AktG; Æ Rz. 448 ff. und § 3 Rz. 203 ff.). In der Praxis wird diese Schranke leicht in Konstellationen übersehen, in der (Berater-)Verträge für die Vorstandstätigkeit nicht unmittelbar mit dem Vorstandsmitglied, sondern mit einem Dritten – oftmals einer Gesellschaft – geschlossen werden, der mit dem Vorstandsmitglied wirtschaftlich identisch ist.375) 162 Ferner muss der Vorstand verschiedene gesetzliche Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats beachten. Praktisch relevant sind vor allem die Zustimmungserfordernisse bei Kreditgewährungen an Vorstandsmitglieder (vgl. § 89 Abs. 1 Satz 1 AktG und bei Instituten § 15 KWG; Æ Rz. 320 ff. und § 3 Rz. 254 ff.) und Aufsichtsratsmitglieder (§ 115 Abs. 1 Satz 1 AktG), zu (Berater-)Verträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern (§ 114 Abs. 1 AktG; Æ § 3 Rz. 42) sowie zur Aktienausgabe im Rahmen der genehmigten Kapitalerhöhung (§ 204 Abs. 1 Satz 2 AktG). Bei börsennotierten Gesellschaften ist zudem an mögliche Zustimmungspflichten für sog. Related Party Transactions zu denken (§ 111b Abs. 1 AktG; Æ § 3 Rz. 93).376) 163 Weitere Schranken ergeben sich für den Vorstand aus den gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zu bestimmenden Zustimmungsvorbehalten für bestimmte Arten von Geschäften (Æ § 3 Rz. 136 ff.), allerdings nur insoweit, wie diese auch tatsächlich wirksam implementiert wurden.377) Sie sind durch die Satzung oder – was die praktische Regel ist – vom Aufsichtsrat entweder ad-hoc per Beschluss oder in der Geschäftsordnung des Vorstands (Æ Rz. 160) festzulegen. Praktisch wirken sie wie ein Vetorecht des Aufsichtsrats, so dass die von dem Zustimmungskatalog erfasste Maßnahme vor Erteilung der Zustimmung nicht ergriffen werden darf.378) Nur in absoluten Ausnahmefällen, etwa bei einer unternehmensfeindlichen Obstruktionspolitik des Aufsichtsrats – wenn auch die Ersatzzustimmung der Hauptversammlung (§ 111 Abs. 4 Satz 3 AktG) nicht eingeholt werden kann –379) oder wenn eine Zustimmung des Aufsichtsrats trotz Ergreifens aller zumutbarer Schritte bei außerordentlich bedeutsamen Maßnah___________ 375) I. E. str.; vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2019 – II ZR 392/17, ZIP 2019, 564 (565 ff.), Rz. 17 ff.; BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 24; Koch, § 112 Rz. 10; Krieger, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 712 (716 f.); Vetter, in: Festschrift HoffmannBecking, S. 1297 (1310); Æ § 3 Rz. 236. 376) Ausführlich dazu JIG/Meyer, Grds. 6 Rz. 29 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b Rz. 2 ff. 377) OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, juris, Rz. 51. 378) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 (1924), Rz. 16; Koch, § 82 Rz. 12; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 20; Hüffer, NZG 2007, 47 (52). 379) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 34; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 41 und § 76 Rz. 30; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 20.

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men in der verfügbaren Zeit nicht mehr erreichbar ist,380) kann dem Vorstand je nach den Umständen des Einzelfalls zur Wahrung des Unternehmensinteresses eine alleinige Notzuständigkeit zuzubilligen bzw. eine nachträgliche Genehmigung der Maßnahme ausreichend sein. Praxishinweis: Ob der Zustimmungskatalog eine konkret beabsichtigte Maßnahme 164 tatsächlich erfasst, kann im Einzelfall allein durch (objektive) Auslegung der Geschäftsordnung (Æ Rz. 11) zu bestimmen sein. Nur in Ausnahmefällen kann die Unwirksamkeit eines Zustimmungsvorbehalts aufgrund fehlender Bestimmtheit in Betracht kommen.381) Um das Risiko einer Kompetenzverletzung des Aufsichtsrats zu minimieren, sollte der Vorstand aber im Zweifel vom Bestehen eines Zustimmungsvorbehalts ausgehen, die Maßnahme dem Aufsichtsrat vorlegen und ggf. für die Zukunft eine Klarstellung der auslegungsbedürftigen Regelung anregen. Die kraft Gesetzes oder kraft Satzung zulässigen Beschränkungen kann der 165 Aufsichtsrat auch zum Gegenstand der Anstellungsverträge (Æ Rz. 49 und § 3 Rz. 195 ff.) mit den Vorstandsmitgliedern machen.382) Insbesondere kann darin auf eine in der Geschäftsordnung für den Vorstand geregelte Geschäftsverteilung (Æ Rz. 160) oder sonstige einzuhaltende Regelwerke (z. B. Corporate Governance oder Compliance-Richtlinien Æ Rz. 306) verwiesen oder durch Zuweisung bestimmter Aufgaben unmittelbar eine Geschäftsverteilung erreicht werden.383) 4.

Beschränkungen durch die Hauptversammlung

Auch die Hauptversammlung begrenzt in bestimmten Fällen die Geschäftsfüh- 166 rungsbefugnis des Vorstands. Für bestimmte Gegenstände ist eine Beschlussfassung der Hauptversammlung nach dem Gesetz zwingend vorgesehen.384) Insoweit sind die in § 119 Abs. 1 AktG genannten Fälle zu nennen (Æ Rz. 380), insbesondere die Verwendung des Bilanzgewinns (§ 174 AktG), die Abschlussprüferbestellung (§ 318 Abs. 1 Satz 1 HGB), Änderungen der Satzung (§ 179 AktG; Æ Rz. 7 ff.) – z. B. zum Unternehmensgegenstand (Æ Rz. 156 ff.) – sowie die Vornahme von Kapitalerhöhungen und -herabsetzungen (§§ 182 ff. AktG). Hierher gehören ferner Zustimmungsbeschlüsse der Hauptversammlung zu Verzicht und Vergleich über Organhaftungsansprüche (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG), zu Gesamtvermögensgeschäften (§ 179a AktG), zu Unternehmensverträgen (§ 293 Abs. 1 Satz 1 AktG) sowie zu Verschmelzung, Formwechsel oder anderen Maßnahmen nach dem UmwG (z. B. §§ 13, 125, 193 UmwG). ___________ 380) Str.; vgl. Koch, § 111 Rz. 70; Ihrig/Schäfer, § 20 Rz. 561; Fonk, ZGR 2006, 841 (868 ff.) jeweils m. w. N. 381) OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 410 (411). Vgl. auch OLG Stuttgart, Urt. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (603). 382) Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 42. 383) Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 18; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 45. 384) Ausführlich Marsch-Barner/Schäfer/Marsch-Barner/von der Linden, § 33 Rz. 17 ff.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

167 Der Vorstand kann der Hauptversammlung zudem bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen zur Entscheidung vorlegen (§ 119 Abs. 2 AktG). Er ist dann – wie bei allen sonstigen von der Hauptversammlung im Rahmen ihrer Zuständigkeit beschlossenen rechtmäßigen Maßnahmen – zu ihrer Ausführung verpflichtet (§ 83 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 398).385) Als Kehrseite der Ausführungspflicht ist der Vorstand für die Maßnahme jedoch nicht zum Schadensersatz verpflichtet, wenn der Beschluss der Hauptversammlung gesetzmäßig ist (§ 93 Abs. 4 Satz 1 AktG; Æ § 2 Rz. 110 ff.). Entscheidet die Hauptversammlung jedoch ohne ein Verlangen des Vorstands über Fragen der Geschäftsführung, ist der Vorstand daran nicht gebunden.386) 168 Praxishinweis: Besonders bei Publikumsgesellschaften führt die Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung für eine konkrete Geschäftsführungsmaßnahme wegen der erforderlichen Zustimmung einer Aktionärsmehrheit und allfälligen Anfechtungsrisiken zu beträchtlicher Transaktionsunsicherheit, vor allem wenn die Maßnahme durch Profiaktionäre oder institutionelle Investoren kritisch begleitet wird. Eine Vorlage nach § 119 Abs. 2 AktG mit dem Ziel der Enthaftung des Vorstands kommt deshalb praktisch nur in Konzernkonstellationen oder bei Familiengesellschaften in Betracht. 169 Nach den vom BGH in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten Grundsätzen der sog. Holzmüller- bzw. Gelatine-Doktrin besteht ausnahmsweise ein ungeschriebenes Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung sowie eine damit korrespondierende Pflicht des Vorstands zur Vorlage der betreffenden Maßnahme an die Hauptversammlung.387) Eine Vorlagepflicht besteht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen bei Maßnahmen, die so tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und deren Vermögensinteresse eingreifen, dass diese Auswirkungen an die Notwendigkeit einer Satzungsänderung heranreichen.388) Die ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung dient zum einen dem Schutz der Aktionäre vor einer zwangsläufigen Mediatisierung ihres Einflusses auf bestimmte Unternehmensteile, wenn diese auf nachgelagerte (und damit dem unmittelbaren Zugriff der Aktionäre entzogene) Beteiligungsgesellschaften ausgegliedert werden. Zum anderen dient sie dem Schutz der

___________ 385) H. M.; vgl. Koch, § 82 Rz. 11; Fleischer/Kort, § 2 Rz. 18; a. A. Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 (725 f.). Ausführlich zur Ausführungspflicht Ihrig/Schäfer, § 30 Rz. 1191 ff. 386) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 35; Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 27. 387) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (Gelatine I) = ZIP 2004, 993; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02, ZIP 2004, 1001 (Gelatine II); BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568 (Holzmüller). Ausführlich dazu Koch, § 119 Rz. 16 ff.; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 31 ff.; Schmidt/Lutter/ Spindler, § 119 Rz. 26 ff.; Fleischer, NJW 2004, 2335 ff.; Liebscher, ZGR 2005, 1 ff. 388) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (40) = ZIP 2004, 993 (996); BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 (136, 131) = ZIP 1982, 568 (571).

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B. Geschäftsführung

Anteilseigner vor einer durch grundlegende Entscheidungen des Vorstands eintretenden nachhaltigen Schwächung des Wertes ihrer Beteiligung.389) Angesichts des vorgenannten Schutzzwecks der ungeschriebenen Zustimmungs- 170 pflicht ist qualitative Voraussetzung für eine Vorlagepflicht, dass die betreffende Maßnahme zu einer Mediatisierung der Aktionärsrechte führt.390) Bei Konzernbildungssachverhalten ist dies für die Ausgliederung auf eine 100 %ige Tochtergesellschaft anzunehmen; je nach konkreter Ausgestaltung können aber die vorrangigen Zustimmungspflichten gemäß § 179a AktG oder §§ 123 Abs. 3, 125, 13, 65 UmwG zu beachten sein.391) Auch die „Verenkelung“, d. h. die Einbringung einer bestehenden Tochtergesellschaft in eine andere Tochtergesellschaft, ist ein tauglicher Anwendungsfall, nicht aber das bloße „Umhängen“ einer Beteiligung von einer 100 %igen Tochtergesellschaft in eine andere 100 %ige Tochtergesellschaft.392) Kein Zustimmungserfordernis besteht ferner nach h. M. bei dem Erwerb393) und der Veräußerung394) von Beteiligungen. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann schließlich bei Maßnahmen von Tochtergesellschaften (z. B. Kapitalerhöhung), nicht aber beim Börsengang oder Delisting der AG, an eine ungeschriebene Zustimmungspflicht der Hauptversammlung zu denken sein.395) Praxishinweis: In jüngerer Zeit erheben Aktionärsschutzvereinigungen zunehmend 171 die Forderung, die Zustimmung der Hauptversammlung auch zu wichtigen Transaktionen einzuholen – und zwar auch dann, wenn eine Hauptversammlungszuständigkeit nach den vorgenannten Holzmüller-Rechtsgrundsätzen nicht ___________ 389) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (40) = ZIP 2004, 993 (996); BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 (136, 139) = ZIP 1982, 568 (573 f.); Koch, § 119 Rz. 16. 390) BGH, Beschl. v 20.11.2006 – II ZR 226/05, ZIP 2007, 24; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (40) = ZIP 2004, 993 (996); OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07, ZIP 2008, 832 (833); Ihrig/Schäfer, § 2 Rz. 47. 391) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568; MünchKommAktG/ Kubis, § 119 Rz. 65; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 33. 392) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (47) = ZIP 2004, 993 (998 f.); Ihrig/ Schäfer, § 2 Rz. 47. 393) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, ZIP 2011, 75 (77); Hölters/Weber/ Drinhausen, § 119 Rz. 21; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 71; MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 68 f.; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 10; Kiefner, ZIP 2011, 545 ff.; a. A. BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 30 ff.; Koch, § 119 Rz. 21. 394) BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 1 BvR 1460/10, ZIP 2011, 2094 (2096), Rz. 18 ff.; BGH, Beschl. V. 20.11.2006 – II ZR 226/05, ZIP 2007, 24; OLG Köln, Urt. v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, ZIP 2009, 1469 (1471); OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07, ZIP 2008, 832 (834); Grigoleit/Herrler, § 119 Rz. 27, 32; Koch, § 119 Rz. 22; Schmidt/Lutter/ Spindler, § 119 Rz. 35; a. A. OLG Stuttgart, Urt. v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, ZIP 2003, 1981 (1988); BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 43 f. 395) Einzelheiten str. Vgl. umfassende Darstellung erfasster Fallkonstellationen bei Hölters/ Weber/Drinhausen, § 119 Rz. 21; Koch, § 119 Rz. 20 ff.; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 33 ff. und Marsch-Barner/Schäfer/Marsch-Barner/von der Linden, § 33 Rz. 41 ff.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

gegeben ist (z. B. Zusammenschlussvorhaben Linde/Praxair). Hier hat die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) im Vorfeld der ordentlichen Hauptversammlung 2017 der Linde AG verlangt, die Tagesordnung um einen entsprechenden Punkt zu ergänzen. Richtigerweise besteht keine rechtliche Grundlage für eine Hauptversammlungsbeteiligung in solchen Fällen.396) Sie ist auch zumindest dann nicht geboten, wenn die Aktionäre es selbst in der Hand haben, durch Annahme oder Nichtannahme eines ihnen unterbreiteten (Übernahme-)Angebots über die Durchführung der Transaktion zu entscheiden.397) 172 Eine Vorlagepflicht nach der Holzmüller- bzw. Gelatine-Doktrin besteht darüber hinaus nur, wenn auch bestimmte quantitative Voraussetzungen erfüllt sind. Der Bereich, auf den sich die Maßnahme erstreckt, muss in seiner Bedeutung für die Gesellschaft die Ausmaße der Ausgliederung in dem „Holzmüller“-Fall erreichen.398) Eine Zustimmungspflicht kommt daher erst in Betracht, wenn ein Schwellenwert von 75 % – 80 % des Gesellschaftsvermögens überschritten wird.399) Als mögliche Referenzgrößen für diese Prüfung sind insbesondere Bilanzsumme, (bilanzielles) Eigenkapital, Umsatz und Ergebnis vor Steuern400) sowie die Mitarbeiterzahl401) relevant. Dabei sind die Daten des Konzerns maßgeblich.402) Den genannten Schwellenwerten kommt aber allenfalls Indizwirkung im Rahmen einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung zu, bei der auch der Grad der Mediatisierung zu berücksichtigen ist.403) 173 Praxishinweis: Wenn die vorgenannten Voraussetzungen nicht vorliegen, kann eine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung freilich noch aus anderen Gründen in ___________ 396) Siehe OLG München, Urt. v. 14.10.2020 – 7 U 448/19, NZG 2020, 1160 sowie die ausführlich begründete vorinstanzliche Entscheidung des LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17, ZIP 2019, 225. Vgl. auch die dahingehende Entscheidung des Gesetzgebers, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum Regierungsentwurf ARUG II, BT-Drucks. 19/15153, S. 52 f. 397) Strohn, ZHR 182 (2018), 114 ff.; Wilsing, in: Festschrift Marsch-Barner, S. 487 ff. 398) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (45) = ZIP 2004, 993 (998). Dies waren im „Holzmüller“-Fall 80 % der Aktiva; vgl. Koch, § 119 Rz. 25; MünchHdb GesR IV/ Krieger, § 70 Rz. 11. 399) OLG Köln, Urt. v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, ZIP 2009, 1469 (1471); OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07, ZIP 2008, 832 (835); Koch, § 119 Rz. 25; Schmidt/Lutter/ Spindler, § 119 Rz. 32; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 11; Priester, AG 2011, 654 (661). 400) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (48) = ZIP 2004, 993 (999). 401) OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07, ZIP 2008, 832 (834); Koch, § 119 Rz. 25; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 11; a. A. BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 52. 402) LG München, Urt. v. 8.6.2006 – 5 HK O 5025/06, ZIP 2006, 2036 (2040); Emmerich/ Habersack/Habersack, Vor § 311 AktG Rz. 46; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 50; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 11; a. A. Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 32. 403) BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 52; Koch, § 119 Rz. 25; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 32. Vgl. auch OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, ZIP 2005, 1415 (1418).

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B. Geschäftsführung

Betracht kommen, z. B. falls infolge eines Erwerbs oder einer Veräußerung der satzungsmäßige Unternehmensgegenstand dauerhaft über- oder unterschritten würde (Æ Rz. 157 f.).404) Liegt ein Holzmüller- bzw. Gelatine-Sachverhalt vor, ergeben sich als Rechts- 174 folgen für den Vorstand neben der Vorlagepflicht erweiterte Bekanntmachungspflichten sowie die Pflicht zur Erstattung eines „Holzmüller“-Berichts.405) Die Hauptversammlung muss der Maßnahme mit einfacher Stimmenmehrheit und Dreiviertel-Mehrheit des vertretenen Grundkapitals zustimmen.406) Der Zustimmungsbeschluss entfaltet jedoch keine Außenwirkung. Missachtet der Vorstand die Vorlagepflicht, führt das also – außer im Fall eines Missbrauchs der Vertretungsmacht (Æ Rz. 207) – nach allgemeinen Grundsätzen nicht zur Unwirksamkeit von mit Dritten abgeschlossenen Rechtsgeschäften, sondern lediglich zu einem pflichtwidrigen Vorstandsverhalten im Innenverhältnis zur Gesellschaft (Æ Rz. 176 ff.).407) Aktionäre haben einen klagbaren Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch hinsichtlich der Maßnahme, welcher der Sicherungsverfügung gemäß § 935 ZPO zugänglich ist.408) 5.

Beschränkungen durch die eigene Beschlusslage des Vorstands

Schließlich führt die eigene Beschlusslage zu einer Selbstbindung des Vor- 175 stands. Wenn der Vorstand in der Vergangenheit bereits über einen bestimmten Gegenstand Beschluss gefasst hat, bedarf es für dessen Änderung oder Aufhebung eines weiteren Vorstandsbeschlusses. Ein einzelnes Vorstandsmitglied darf daher auch dann keine den bisherigen Beschluss durchbrechende Entscheidungen treffen, wenn es nach der Geschäftsverteilung (Æ Rz. 127) grundsätzlich hierfür zuständig ist. Hinsichtlich der Beschlussmodalitäten (Æ Rz. 138) gelten dieselben Regeln, die auch für den Ausgangsbeschluss maßgeblich waren. 6.

Rechtsfolgen bei Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis

Missachten einzelne oder alle Vorstandsmitglieder die vorgenannten Schran- 176 ken, liegt im Innenverhältnis zur Gesellschaft ein Verstoß gegen § 82 Abs. 2 AktG bzw. andere aktienrechtliche Vorschriften und damit eine Verletzung der Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.) des bzw. der betreffenden Vorstandsmitglie___________ 404) Marsch-Barner/Schäfer/Marsch-Barner/von der Linden, § 33 Rz. 44. 405) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 23.3.1999 – 5 U 193/97, ZIP 1999, 842 (845); Emmerich/ Habersack/Habersack, Vor § 311 AktG Rz. 50; Koch, § 119 Rz. 27. 406) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (45) = ZIP 2004, 993 (998). 407) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 (38) = ZIP 2004, 993 (995); BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 (132) = ZIP 1982, 568 (571); Hölters/ Weber/Drinhausen, § 119 Rz. 26; Grigoleit/Herrler, § 119 Rz. 34; Ihrig/Schäfer, § 2 Rz. 47. 408) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 (132 ff.) = ZIP 1982, 568 (572); OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07, ZIP 2008, 832 f.; Großkomm-AktG/ Habersack, § 82 Rz. 30; Koch, § 119 Rz. 26.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

der vor. Dies begründet unter den weiteren Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 AktG einen Schadensersatzanspruch der Gesellschaft (Æ § 2 Rz. 2 ff.)409) und kann je nach Intensität der Pflichtverletzung eine Abberufung des Vorstandsmitglieds gemäß § 84 Abs. 4 AktG (Æ § 3 Rz. 186 ff.), eine Kündigung des Anstellungsvertrags (Æ § 3 Rz. 226 ff.) und in besonderen Fällen eine Strafbarkeit des Vorstandsmitglieds (z. B. wegen Untreue gemäß § 266 StGB; Æ § 21 Rz. 2 ff.) rechtfertigen.410) Die Pflichtverletzung kann ferner Anlass sein, dass Aktionäre die Entlastung des betreffenden Vorstandsmitglieds versagen (vgl. § 120 Abs. 1 AktG) bzw. Vorstand und Aufsichtsrat der Hauptversammlung einen entsprechenden Beschlussvorschlag unterbreiten (vgl. § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). 177 Zum Schutz der Eigenverantwortlichkeit des Vorstands (Æ Rz. 22 ff.) kann der Aufsichtsrat grundsätzlich weder die Vornahme noch die Unterlassung bestimmter Geschäftsführungsmaßnahmen klageweise erzwingen. Er muss den Vorstand vielmehr mit den vorgenannten Instrumenten zur Erfüllung seiner Pflichten anhalten. Die Erhebung einer Klage kommt aber ausnahmsweise in Betracht, wenn es um die Vornahme oder Unterlassung einer Maßnahme geht, bei der dem Vorstand kein Ermessen zusteht, wie z. B. die Ausführung von Hauptversammlungsbeschlüssen (Æ Rz. 167), die Berichterstattung an den Aufsichtsrat (Æ § 3 Rz. 112 ff.) oder das Unterlassen einer Maßnahme, die an die Zustimmung des Aufsichtsrats gebunden ist (Æ Rz. 163).411) Auch Aktionäre können nur in seltenen Ausnahmefällen auf Vollzug bzw. Nichtvollzug einer Maßnahme klagen, wenn der Vorstand einen in Geschäftsführungsangelegenheiten ergangenen Beschluss gemäß § 119 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 167) missachtet.412) 178 Im Außenverhältnis wirken sich Verstöße gegen § 82 Abs. 2 AktG wegen des Grundsatzes der Unbeschränkbarkeit der Vertretungsbefugnis (§ 82 Abs. 1 AktG; Æ Rz. 185) regelmäßig nicht aus. Eine Maßnahme bleibt daher ungeachtet des Verstoßes gegenüber Dritten regelmäßig wirksam, sofern nicht ausnahmsweise ein Fall des Missbrauchs der Vertretungsmacht oder der Kollusion (Æ Rz. 207) vorliegt.413) Auch die Verletzung anderer aktienrechtlicher Vorschriften als § 82 Abs. 2 AktG hat nur ausnahmsweise die Unwirksamkeit der Maßnahme ___________ 409) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 24 (Missachtung der Kompetenzen des Aufsichtsrats); BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 16 (Überschreitung des satzungsmäßigen Unternehmenszwecks bzw. -gegenstands). 410) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 37; Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 30; Koch, § 82 Rz. 14. 411) Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 19; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 48; Hölters/ Weber/Weber, § 82 Rz. 26 jeweils m. w. N. Weiterführend zur Organklage: BeckOGKAktG/Fleischer, § 90 Rz. 71 ff.; Wilsing/Wilsing, Ziffer 5.1.1 Rz. 10 ff. 412) Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 30; Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 19. 413) MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 46; Fleischer/Kort, § 2 Rz. 21.

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C. Vertretung

im Außenverhältnis zur Folge (Æ Rz. 197 ff.), i. d. R. bewendet es aber bei der grundsätzlichen Wirksamkeit der Maßnahme gegenüber Dritten.414) VI.

Checkliste für Geschäftsführungsentscheidungen des Gesamtvorstands



Prüfung der Zuständigkeit für die Entscheidung: Gesamtvorstand als Kollegialorgan oder einzelne/mehrere Vorstandsmitglieder aufgrund ordnungsgemäßer Geschäftsverteilung? (Æ Rz. 125 ff., 63 ff., 80 ff.)



Sorgfältige inhaltliche Vorbereitung der Entscheidung (Æ Rz. 261 ff.) unter Beachtung der Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.), insbesondere: Delegation zur Vorbereitung auf einzelne Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter oder Dritte? (Æ Rz. 117 ff.); Prüfung zu beachtender Schranken der Geschäftsführung durch Gesetz, Satzung, Geschäftsordnung, Aufsichtsrat oder Hauptversammlung (Æ Rz. 152 ff.), sorgfältige Herausarbeitung der Entscheidungsgründe im Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) und sorgfältige Ermittlung weiterer Entscheidungsgrundlagen unter Beachtung der Voraussetzungen der Business Judgement Rule (Æ § 2 Rz. 25 ff.).



Form der konkreten Beschlussfassung (Æ Rz. 131 ff.)



Prüfung etwaiger Besonderheiten hinsichtlich der Teilnahme- und Beschlussberechtigung einzelner Mitglieder, insbesondere Bestehen von Stimmverboten und Umgang mit Interessenkonflikten (Æ Rz. 140 ff.)



Beachtung bestehender Beschlussmodalitäten (Beschlussfähigkeit, Mehrheitserfordernisse, etc. (Æ Rz. 138, 71 ff.)



Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Dokumentation der Entscheidung (Æ Rz. 136)



Pflichtenprogramm überstimmter Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 149 ff.)

C.

Vertretung

I.

Begriff und Abgrenzung

179

Vertretung ist jedes rechtsgeschäftliche Handeln des Vorstands im Namen 180 der Gesellschaft gegenüber Dritten. Sie ist damit derjenige Teilbereich der Geschäftsführung (Æ Rz. 54 ff.), durch den die Gesellschaft nach außen verpflichtet wird. Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG vertritt der Vorstand die Gesellschaft gerichtlich 181 und außergerichtlich; er ist damit der organschaftliche Vertreter der AG (Æ Rz. 182 ff.). Ob er die Gesellschaft wirksam verpflichten kann, ist eine Frage der Vertretungsmacht. Die Vertretungsmacht der Vorstandsmitglieder ent___________ 414) Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 31.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

steht mit Wirksamwerden der Bestellung.415) Von der organschaftlichen Vertretung der AG durch ihren Vorstand ist die rechtsgeschäftliche Vertretung zu unterscheiden, die der Vorstand auf Personen unterhalb des Vorstands übertragen darf (Æ Rz. 209 ff.). II.

Organschaftliche Vertretung

182 Der Vorstand handelt für die selbst nicht handlungsfähige AG und ermöglicht ihr damit die Teilnahme am Rechtsverkehr. Nur ausnahmsweise wird die AG (auch) durch den Aufsichtsrat vertreten (Æ Rz. 198 f. und § 3 Rz. 235 ff., 243). Der Vorstand hat die Stellung eines gesetzlichen Vertreters, so dass die allgemeinen Regeln zu §§ 164 ff. BGB, insbesondere die Bestimmungen zu den Folgen bei Überschreitung der Vertretungsmacht gemäß §§ 177 ff. BGB, ergänzend herangezogen werden können (Æ Rz. 205 ff.).416) 1.

Gegenstand und Umfang

183 Die Vertretungsmacht des Vorstands umfasst die gerichtliche Vertretung der AG, also insbesondere die Erhebung von (Schieds-)Klagen, den Abschluss gerichtlicher Vergleiche und alle sonstigen Prozesshandlungen für die AG.417) Wird die Gesellschaft durch den Vorstand vertreten, können die Vorstandsmitglieder nicht als Zeugen auftreten, sondern – unabhängig von ihrer Beteiligung in der Prozessführung – nur im Wege der Parteivernehmung vernommen werden (§ 455 Abs. 1 Satz 1 ZPO).418) In Klagen und Schriftsätzen gehört die Nennung der einzelnen Vorstandsmitglieder zur Parteibezeichnung (§§ 130 Nr. 1, 253 Abs. 4, 313 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Gegen die AG gerichtete Klagen sind dem Vorstand zuzustellen, wobei Zustellung an ein Vorstandsmitglied genügt (§ 170 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO). Besondere Zustellungsbestimmungen enthalten § 78 Abs. 2 Sätze 3 und 4 AktG. 184 Auch die außergerichtliche Vertretung der AG obliegt grundsätzlich dem Vorstand. Darunter fallen insbesondere die Vertretung bei Vertragsabschlüssen im rechtsgeschäftlichen Verkehr mit Dritten sowie der Kontakt mit Behörden, aber auch körperschaftsrechtliche Akte gegenüber Aktionären wie z. B. die Erteilung der Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien (§ 68 Abs. 2 Satz 2 AktG), nicht aber Maßnahmen der organinternen Willensbildung sowie gesellschaftsinterne Mitwirkungshandlungen.419) ___________ 415) 416) 417) 418)

BGH, Urt. v. 6.3.1975 – II ZR 80/73, BGHZ 64, 72 (75) = NJW 1975, 1117 (1118). BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 4 f.; Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 14. Koch, § 78 Rz. 3; Ihrig/Schäfer, § 3 Rz. 51. RG, Urt. v. 1.10.1880 – II 184/80, RGZ 2, 400; Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 5; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 78 Rz. 21. 419) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 6; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 6.

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C. Vertretung

Die organschaftliche Vertretungsmacht des Vorstands ist grundsätzlich unbe- 185 schränkt (vgl. § 78 Abs. 1 AktG) und nicht – auch nicht durch Satzung – beschränkbar (82 Abs. 1 AktG). Insbesondere schränken weder Unternehmensgegenstand noch Gesellschaftszweck (Æ Rz. 8) sie ein.420) Es bestehen aber verschiedene gesetzliche Grenzen (Æ Rz. 197 ff.). Beschränkungen können dem Vorstand im Übrigen hinsichtlich seiner Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis zur AG auferlegt werden (Æ Rz. 153 ff.); sie wirken sich aber nicht auf die Möglichkeit aus, die Gesellschaft nach außen zu verpflichten. 2.

Ausgestaltung der organschaftlichen Vertretungsmacht

Das Gesetz bestimmt verschiedentlich, dass „der Vorstand“ die Gesellschaft ver- 186 treten muss. Nur in wenigen Fällen müssen zwingend alle Vorstandsmitglieder an der Vertretung mitwirken, wie etwa bei der Anmeldung der Gesellschaft (§ 36 Abs. 1 AktG) oder der Unterzeichnung des Jahresabschlusses (§ 245 HGB). In den meisten Fällen, insbesondere bei verschiedenen Handelsregisteranmeldungen (z. B. §§ 81 Abs. 1, 184 Abs. 1, 327e Abs. 1 AktG etc.) ist hingegen das Handeln von Vorstandsmitgliedern in vertretungsberechtigter Zahl erforderlich, aber auch ausreichend.421) Was dies konkret bedeutet, bestimmt sich dann maßgeblich danach, ob sich die Vertretung des Vorstands nach der gesetzlichen Regelung richtet (Æ Rz. 187) oder etwas Abweichendes bestimmt wurde (Æ Rz. 190 ff.). a)

Gesetzliche Regel: Gesamtvertretung

Die Aktivvertretung der AG obliegt im Regelfall des mehrgliedrigen Vorstands 187 sämtlichen Vorstandsmitgliedern gemeinschaftlich (§ 78 Abs. 2 Satz 1 AktG). Ihren Mitwirkungsbeitrag können die Vorstandsmitglieder entweder durch unmittelbare Beteiligung an dem jeweiligen Geschäft (z. B. durch gleichzeitige Unterzeichnung oder getrennte Abgabe inhaltsgleicher Erklärungen), durch Ermächtigung eines anderen Vorstandsmitglieds zur Vornahme des Geschäfts im Voraus (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AktG; Æ Rz. 194 f.) oder durch nachträgliche Genehmigung eines ohne ihre Mitwirkung geschlossenen, schwebend unwirksamen Geschäfts (§ 177 Abs. 1 BGB) bewirken, wobei im Fall der Ermächtigung bzw. Genehmigung die ggf. für das Geschäft erforderliche Form nicht einzuhalten ist (§ 182 Abs. 2 BGB).422) Vorübergehende Verhinderung eines Vor___________ 420) Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 3; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 67. 421) MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 47; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 9. 422) Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 16 f.; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 14; Ihrig/Schäfer, § 3 Rz. 53. Zur Wahrung des Schriftformerfordernisses vgl. BGH, Urt. v. 22.4.2015 – XII ZR 55/14, ZIP 2015, 1177 (1178), Rz. 20 ff.; BGH, Urt. v. 23.1.2013 – XII ZR 35/11, ZIP 2013, 523 (524), Rz. 12 ff.; BGH, Urt. v. 4.11.2009 – XII ZR 86/07, BGHZ 183, 67 = ZIP 2010, 185 (186 f.), Rz. 17 ff.; Koch, § 78 Rz. 12.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

standsmitglieds verhindert Vertretung der AG bis die Verhinderung behoben oder ein neues Vorstandsmitglied bestellt ist.423) Ein Alleinvorstand hat naturgemäß Alleinvertretungsmacht, es sei denn, der Vorstand muss nach Gesetz oder Satzung aus mehreren Mitgliedern bestehen.424) 188 Praxishinweis: Eine spezialgesetzliche Ausnahme vom Prinzip der Gesamtvertretung sieht § 15 InsO vor, wonach der Insolvenzantrag von jedem Vorstandsmitglied einzeln gestellt werden kann. 189 Für die Passivvertretung der AG gilt stets und zwingend Einzelvertretungsmacht jedes Vorstandsmitglieds (§ 78 Abs. 2 Satz 2 AktG). Gegenüber der AG abzugebende Willenserklärungen oder geschäftsähnliche Handlungen425) werden also mit Abgabe gegenüber einem Vorstandsmitglied wirksam. b)

Abweichende Gestaltungen

190 In der Praxis wählen Gesellschaften zumeist eine flexiblere Form der Vertretung. Dies kann entweder durch Satzungsregelung oder durch einen Beschluss des Aufsichtsrats aufgrund satzungsmäßiger Ermächtigung erfolgen (§ 78 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Sätze 1 und 2 AktG). Dabei ist der vollständige Ausschluss eines Vorstandsmitglieds von der Vertretung ebenso unzulässig wie die ausschließliche Betrauung eines anderen Organs oder Dritter mit der organschaftlichen Vertretung.426) Dasselbe gilt zum Schutz des Rechtsverkehrs für bedingte Regelungen der Vertretungsmacht.427) Abgesehen von diesen Grenzen besteht im Übrigen weitgehende Gestaltungsfreiheit. 191 Zulässig ist etwa Einzelvertretung zugunsten eines (z. B. des Vorstandsvorsitzenden) oder mehrerer Vorstandsmitglieder (vgl. § 78 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 AktG), sie ist jedoch praktisch eher selten.428) In diesem Fall bleibt es für die übrigen Vorstandsmitglieder mangels anderweitiger Regelung beim Grundsatz der Gesamtvertretung (Æ Rz. 187).429) 192 Viele Gesellschaften entscheiden sich für eine gemischte oder „unechte“ Gesamtvertretung, bei der ein Vorstandsmitglied die AG gemeinsam mit einem Prokuristen vertritt (§ 78 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 AktG). Der Umfang der Vertretungsmacht richtet sich im letztgenannten Fall ungeachtet der Mitwirkung eines ___________ 423) BGH, Urt. v. 12.12.1960 – II ZR 255/59, BGHZ 34, 27 (29); Wachter/Link, § 78 Rz. 17; Koch, § 78 Rz. 11; Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 16. 424) Koch, § 78 Rz. 11; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 29. 425) Für diese gilt § 78 Abs. 2 Satz 2 AktG entsprechend: BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 27. 426) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 36; Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 62; KKAktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 34; Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 24. 427) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 36; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 37. 428) Koch, § 78 Rz. 15; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 37; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 11. 429) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 66; Hölters/Weber/Weber, § 78 Rz. 30.

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C. Vertretung

Prokuristen nach §§ 78, 82 AktG, so dass der Prokurist z. B. auch bei dem Vorstand obliegenden Registeranmeldungen mitwirken kann.430) Unzulässig ist aber jedenfalls die Bestimmung unechter Gesamtvertretung in einer Weise, durch die der Alleinvorstand oder alle Vorstandsmitglieder an die zwingende Mitwirkung eines Prokuristen gebunden würden.431) Weil grundsätzlich eine Vertretung der AG allein durch Vorstandsmitglieder 193 möglich sein muss,432) wird neben unechter Gesamtvertretung zumeist die praktisch häufigste Form modifizierter Gesamtvertretung vorgesehen, bei der die Gesellschaft durch zwei oder mehrere Vorstandsmitglieder gemeinschaftlich vertreten werden kann (§ 78 Abs. 2 Satz 1 AktG). Sie kann als „halbseitige“ Gesamtvertretung derart gestaltet werden, dass ein Mitglied Einzelvertretungsmacht hat, während das andere Mitglied die AG nur unter Mitwirkung des anderen vertreten kann.433) Hinsichtlich der Modalitäten der Vertretung besteht hier genauso wie bei der unechten Gesamtvertretung dieselbe Flexibilität wie bei der Gesamtvertretung (Æ Rz. 187), so dass gleichzeitige und getrennte Unterzeichnung, Ermächtigung des anderen Gesamtvertreters und nachträgliche Genehmigung möglich sind. 3.

Einzelermächtigung

In allen vorgenannten Fällen der Gesamtvertretung, d. h. auch bei unechter Ge- 194 samtvertretung, können ein oder mehrere Gesamtvertreter (d. h. Vorstandsmitglieder und Prokuristen) zur Vornahme bestimmter Geschäfte oder bestimmter Arten von Geschäften ermächtigt werden (§ 78 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AktG). Die Ermächtigung muss von Gesamtvertretern in vertretungsberechtigter Zahl (das können zwei, mehrere oder alle Vorstandsmitglieder oder Prokuristen sein) erklärt werden, wobei der Ermächtigte mitwirken darf.434) Durch die Möglichkeit der Ermächtigung wird das Vorstandshandeln bei Gesamtvertretung flexibler und das ermächtigte Vorstandsmitglied kann die AG vertreten, ohne dass ihm ein Haftungsrisiko gemäß § 179 BGB bei Verweigerung der Genehmigung verbleibt.435) Die Ermächtigung bedarf nicht der Form des zugrundeliegenden Geschäfts, sondern kann insbesondere mündlich oder sogar kon___________ 430) Vgl. BGH, Beschl. v. 14.2.1974 – II ZB 6/73, BGHZ 62, 166 (170) = NJW 1974, 1194; BGH, Urt. v. 31.3.1954 – II ZR 57/53, BGHZ 13, 61 (64) = NJW 1954, 1158; MünchKommAktG/ Spindler, § 78 Rz. 47; Ihrig/Schäfer, § 3 Rz. 54. 431) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 36; Koch, § 78 Rz. 16; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 34. 432) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 38; Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 67. 433) MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 42; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 19. 434) OLG Bamberg, Beschl. v. 25.3.2020 – 4 W 21/20, ZIP 2020, 1461 (1462) (Genossenschaft); Wachter/Link, § 78 Rz. 27; Koch, § 78 Rz. 19; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 55; teilweise a. A. Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 74. 435) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 41; Schwarz, NZG 2001, 529 (530).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

kludent, z. B. durch bewusstes Dulden selbständiger Tätigkeit eines Vorstandsmitglieds durch die übrigen gesamtvertretungsberechtigten Mitglieder, erfolgen.436) Sie ist bis zur Vornahme des Geschäfts frei widerruflich, und zwar durch jeden an der Ermächtigung Mitwirkenden einzeln oder nach h. M. durch nicht an der Ermächtigung mitwirkende Vorstandsmitglieder in vertretungsberechtigter Zahl.437) Die Ermächtigung erlischt mit dem Ende des Amtes des Ermächtigenden und/oder des Ermächtigten.438) 195 Die Ermächtigung kann zur Vornahme bestimmter Geschäfte und bestimmter Arten von Geschäften erfolgen. Letzteres darf sich aber nicht auf sämtliche Geschäfte beziehen, weil das im Ergebnis einer Einzelvertretung gleichkäme, die allenfalls durch die Satzung oder den Aufsichtsrat festgelegt werden darf (Æ Rz. 190).439) Zudem muss die Art von Geschäften, auf die sich die Ermächtigung bezieht, gegenständlich präzise bestimmt und nicht nur betragsmäßig beschränkt sein. Beispiel: 196 Zulässig wäre etwa die Ermächtigung zur Aufnahme von Darlehen bis zu einem bestimmten Betrag, unzulässig die Ermächtigung zu allen Geschäften bis EUR 100.000 oder eine Ermächtigung, die einschränkungslos den gesamten Geschäftsverkehr zur Hausbank erfasst.440) 4.

Schranken der Vertretungsmacht

197 Kraft Gesetzes ist die im Grundsatz unbeschränkte und unbeschränkbare (§ 82 Abs. 1 AktG) organschaftliche Vertretungsmacht des Vorstands in bestimmten Fällen eingeschränkt. So besteht keine (alleinige) Vertretungsmacht des Vorstands in Fällen, in denen (auch) andere Organe für die Vertretung der AG zuständig sind (Æ Rz. 198 ff.). Grenzen der Vertretungsmacht können sich zudem in Fällen der Mehrvertretung (§ 181 Alt. 2 BGB) ergeben (Æ Rz. 203 f.). Diese Fälle sind von den bloß gegenüber der Gesellschaft wirkenden Mitwir___________ 436) RG, Urt. v. 5.2.1929 – II 332/28, RGZ 129, 279 (288); BAG, Urt. v. 18.12.1980 – 2 AZR 980/78, NJW 1981, 2374; OLG München, Urt. v. 19.9.2013 – 23 U 1003/13, ZIP 2013, 1955 (1956); Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 29; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 22. 437) Koch, § 78 Rz. 22; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 62; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 24; für die Zulässigkeit eines Widerrufs nur durch einen einzelnen Gesamtvertreter; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 47; Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 78; für die Zulässigkeit eines Widerrufs nur durch Vorstandsmitglieder in vertretungsberechtigter Zahl: Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 31; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 73. 438) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 72; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 24; Schwarz, ZGR 2001, 744 (779). 439) BGH, Urt. v. 25.11.1985 – II ZR 115/85, ZIP 1986, 501 (503). 440) BGH, Urt. v. 25.11.1985 – II ZR 115/85, ZIP 1986, 501 (503); Koch, § 78 Rz. 21; Ihrig/ Schäfer, § 3 Rz. 57.

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C. Vertretung

kungsbefugnissen von Aufsichtsrat und Hauptversammlung zu unterscheiden (Æ Rz. 161 ff.). a)

Aktienrechtliche Kompetenzen anderer Organe

Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Kompetenz des Aufsichtsrats 198 für die gerichtliche und außergerichtliche Vertretung der AG gegenüber dem Vorstand gemäß § 112 Satz 1 AktG (Æ Rz. 161 und § 3 Rz. 235 ff.). Nicht der Vorstand, sondern der Aufsichtsrat ist daher z. B. zuständig für die Bestellung und den Widerruf der Bestellung von Vorstandsmitgliedern, den Abschluss von Anstellungs- oder Aufhebungsverträgen sowie die Kündigung des Anstellungsvertrags (vgl. § 84 Abs. 1 und Abs. 4 AktG), den Abschluss von Vergütungsvereinbarungen,441) Kreditgewährungen an Vorstandsmitglieder442) oder sonstige Verträge mit Vorstandsmitgliedern sowie die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen bzw. den Abschluss von Vergleichsvereinbarungen über Organhaftungsansprüche mit (ehemaligen) Vorstandsmitgliedern. In diesen Fällen kann der Vorstand die AG überhaupt nicht wirksam vertreten. Demgegenüber ist die Zuständigkeit des Aufsichtsrats als organschaftlicher Empfangsvertreter in dem Fall, dass die AG keinen Vorstand (mehr) hat (Führungslosigkeit; § 78 Abs. 1 Satz 2 AktG) nur von geringer praktischer Bedeutung.443) In anderen Fällen kann der Vorstand die AG nur gemeinsam mit dem Auf- 199 sichtsrat vertreten. Eine solche Doppelvertretung der AG ordnet das Gesetz vor allem bei Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse an (z. B. §§ 246 Abs. 2 Satz 2, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG);444) im Freigabeverfahren (§ 246a AktG) gilt jedoch keine Doppelvertretung.445) Bei der Anmeldung von Beschlüssen über Kapitalmaßnahmen kommt es zudem zur Vertretung der AG durch Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzenden (z. B. §§ 184 Abs. 1 Satz 1, 188 Abs. 1).446) Schließlich kann die Vertretungsmacht des Vorstands im Außenverhältnis von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängen, wie z. B. bei Verträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern (§ 114 Satz 1 AktG; Æ § 3 Rz. 42) oder der Festlegung des Inhalts der Aktienrechte und der Bedingungen der Aktienausgabe beim genehmigten Kapital (§ 204 Abs. 1 Satz 2 ___________ 441) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1120 (1222), Rz. 24 für den Abschluss einer Vereinbarung mit einer GmbH, die eine Vorstandsvergütung zum Gegenstand hatte. 442) Siehe dazu auch die zusätzlichen Anforderungen gemäß § 89 AktG (Æ Rz. 320 ff. und § 3 Rz. 254 ff.); das Erfordernis eines Aufsichtsratsbeschlusses ergibt sich bereits aus der Anwendbarkeit von § 112 AktG. 443) Koch, § 78 Rz. 4a; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 86 ff. 444) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 15 und Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 4 mit weiteren Beispielen. 445) OLG Bremen, Beschl. v. 1.12.2008 – 2 W 71/08, AG 2009, 412; Marsch-Barner/Schäfer/ Arnold, § 20 Rz. 65. 446) Koch, § 78 Rz. 8 mit weiteren Beispielen.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

AktG).447) Bei mitbestimmten Gesellschaften erfordert die Ausübung des Stimmrechts aus einer Beteiligung an ebenfalls mitbestimmten Gesellschaften in bestimmten Angelegenheiten ebenfalls die vorherige Befassung des Aufsichtsrats (§ 32 MitbestG, § 15 MontanMitbestErgG).448) 200 Zum Teil kann der Vorstand die AG nicht ohne die Zustimmung der Hauptversammlung wirksam vertreten. Ein praktisch wichtiger Anwendungsfall ist die Zustimmung zum Verzicht auf oder den Vergleich über Organhaftungsansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder (vor allem §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3 AktG; Æ § 4 Rz. 31 ff.). Daneben bestehen ähnliche Zustimmungsvorbehalte hinsichtlich des Verzichts auf Schadensersatzansprüche im Vertragskonzern (vgl. §§ 309 Abs. 3 Satz 1, 310 Abs. 4 AktG) und im faktischen Konzern (§§ 317 Abs. 4, § 318 Abs. 4 AktG). Auch bei Abschluss und Änderung von Unternehmensverträgen (§§ 293 Abs. 1 Satz 1, 295 Abs. 1 Satz 1 AktG) und Verschmelzungsverträgen (§ 13 UmwG) sowie bei Gesamtvermögensgeschäften (§ 179a Abs. 1 Satz 1 AktG), nicht aber in Holzmüller- bzw. Gelatine-Fällen (Æ Rz. 174), ist die Zustimmung der Hauptversammlung Voraussetzung für die Wirksamkeit des Geschäfts.449) 201 Schließlich ist die Vertretungsmacht des Vorstands in gesetzlichen Sonderfällen ausgeschlossen. Beispiele hierfür bilden die Bestellung eines besonderen Vertreters zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch die Hauptversammlung (§ 147 Abs. 2 AktG; Æ § 6) sowie die Alleinzuständigkeit des Insolvenzverwalters nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der AG (§ 80 Abs. 1 InsO). b)

Insichgeschäfte (§ 181 BGB)

202 Bei Insichgeschäften gelten für den Vorstand die in § 181 BGB vorgesehenen Schranken der organschaftlichen Vertretungsmacht.450) Dabei besteht für die Anwendbarkeit von § 181 Alt. 1 BGB im Fall des Selbstkontrahierens, d. h. bei Geschäften eines Vorstandsmitglieds im Namen der Gesellschaft mit sich im eigenen Namen, kein Raum, weil dem Vorstand aufgrund der Zuständigkeit des Aufsichtsrats gemäß § 112 Satz 1 AktG bereits die organschaftliche Vertretungsmacht fehlt.451) 203 Das Verbot der Mehrvertretung gemäß § 181 Alt. 2 BGB, d. h. der gleichzeitigen Vertretung der Gesellschaft und eines Dritten bei einem Geschäft mit der ___________ 447) 448) 449) 450)

Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 4 mit weiteren Beispielen. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 19; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 9. Weitere Beispiele bei BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 16 und Koch, § 78 Rz. 8. Dies gilt auch für den Alleinvorstand, der zugleich Alleinaktionär ist; Großkomm-AktG/ Habersack, § 78 Rz. 23; Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 8. 451) Wachter/Link, § 78 Rz. 6; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 71; Suttmann, MittBayNot 2011, 1 (8).

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C. Vertretung

AG durch ein Vorstandsmitglied, findet hingegen Anwendung. Es greift schon dann ein, wenn ein Vorstandsmitglied als Gesamtvertreter (Æ Rz. 187, 192 f.) für die AG tätig wird. In diesem Fall lässt sich ein Verstoß gegen § 181 Alt. 2 BGB aber dadurch vermeiden, dass ein zur Gesamtvertretung befugtes Vorstandsmitglied das andere gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 AktG zur Einzelvertretung ermächtigt (Æ Rz. 194 f.).452) Das Verbot der Mehrvertretung bildet vor allem bei Abschluss oder Änderung von Verträgen – auch von Gesellschaftsverträgen453) – zwischen konzernverbundenen Gesellschaften mit identischem Leitungspersonal eine oftmals zu beachtende Schranke der Vertretungsmacht.454) Auf Beschlüsse der AG ist es weitgehend unanwendbar.455) Ausnahmen vom Verbot der Mehrvertretung gelten, wenn letztere dem Vor- 204 standsmitglied gestattet ist oder das Rechtsgeschäft ausschließlich der Erfüllung einer Verbindlichkeit dient. Die Gestattung kann entweder bereits in der Satzung enthalten sein (analog § 78 Abs. 3 Satz 1 AktG) oder vom Aufsichtsrat erteilt werden, der für eine generelle Gestattung aber einer Satzungsermächtigung bedarf.456) Die in der Satzung vorgesehene Befreiung vom Mehrvertretungsverbot ist im Handelsregister einzutragen.457) Eine Einzelermächtigung darf der Aufsichtsrat hingegen nach h. M. auch ohne eine Satzungsgrundlage erteilen.458) c)

Rechtsfolgen bei Überschreitung der Vertretungsmacht

Folge der unbeschränkten und unbeschränkbaren (§ 82 Abs. 1 AktG) Vertre- 205 tungsmacht des Vorstands ist, dass die vom Vorstand geschlossenen Geschäfte im Interesse des Rechtsverkehrs weitgehend wirksam sind. Das gilt vorbehaltlich gewisser Ausnahmen (Æ Rz. 207) selbst dann, wenn der Vorstand im Innenverhältnis zur Gesellschaft Beschränkungen seiner Geschäftsführung unterliegt (§ 82 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 153 ff.), er diese aber missachtet und die ihm eingeräumten Befugnisse überschreitet. Zulässig bleibt aber, dass der Vorstand

___________ 452) BHZ, Urt. v. 6.3.1975 – II ZR 80/73, BGHZ 64, 72 (75) = NJW 1075, 1117; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 78 Rz. 8; a. A. Koch, § 78 Rz. 6; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 72 jeweils m. w. N. 453) Staudinger/Schilken, § 181 Rz. 22; Baetzgen, RNotZ 2005, 193 (221); Suttmann, MittBayNot 2011, 1 (12). 454) Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 85; Robles y Zepf, BB 2012, 1876 ff. 455) BGH, Urt. v. 22.9.1969 – II ZR 144/68, BGHZ 52, 316 (318) = NJW 1970, 33 (GmbH); MünchKommBGB/Schubert § 181 Rz. 33; Baetzgen, RNotZ 2005, 193 (222); Suttmann, MittBayNot 2011, 1 (14). 456) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 12; Koch, § 78 Rz. 7; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 124; a. A. Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 25. 457) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 47. 458) Koch, § 78 Rz. 7; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 124.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

die Wirksamkeit von Verträgen unter die aufschiebende Bedingung der Zustimmung von Aufsichtsrat oder Hauptversammlung stellt.459) 206 Der Vorstand kann die Gesellschaft nicht wirksam verpflichten, wenn er von der alleinigen Vertretung der AG ausgeschlossen ist. Bedarf der Vorstand der Mitwirkung eines anderen Organs (Æ Rz. 199 f.), bestimmen sich die Rechtsfolgen bei Fehlen dieser Mitwirkungshandlung nach §§ 177 ff. BGB.460) Dasselbe gilt bei Insichgeschäften gemäß § 181 BGB (Æ Rz. 202 ff.).461) Fehlt dem Vorstand gar jede Vertretungskompetenz, weil ein anderes Organ zur Vertretung der AG berufen ist (Æ Rz. 198 ff.), nimmt die h. M. bei Tätigwerden des Vorstands einen Verstoß gegen die zwingende aktienrechtliche Kompetenzordnung und entsprechend die Nichtigkeit des Geschäfts gemäß § 134 BGB an.462) Überzeugender und zugleich praktisch flexibler erscheint jedoch auch hier der Rückgriff auf §§ 177 ff. BGB.463) Hierdurch droht insbesondere nicht die Gefahr, dass durch eine vorschnelle Genehmigungspraxis seitens des Aufsichtsrats die faktische Entscheidungszuständigkeit auf den Vorstand verlagert würde.464) Denn das übergangene Organ ist in der Erteilung der Genehmigung frei und von ihm kann durchaus erwartet werden, dass es sich bei dieser Entscheidung allein von den Interessen der Gesellschaft leiten lässt.465) In sämtlichen vorgenannten Fällen ist das abgeschlossene Geschäft also richtigerweise bis zur Genehmigung durch das (mit-)zuständige Organ schwebend unwirksam. Verweigert dieses die Zustimmung, ist das Geschäft endgültig unwirksam und eine Haftung der Vorstandsmitglieder als Vertreter ohne Vertretungsmacht gemäß § 179 BGB denkbar; diese wird aber zumeist entfallen, weil der Vertragspartner den Mangel der Vertretungsbefugnis mindestens kennen musste (vgl. § 179 Abs. 3 BGB).466) ___________ 459) BGH, Urt. v. 23.6.1997 – II ZR 353/95, ZIP 1997, 1419 f.; Koch, § 82 Rz. 3; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 14; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 23 Rz. 26. 460) Koch, § 82 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 17 und § 82 Rz. 11; MünchKommAktG/ Spindler, § 82 Rz. 25; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 5. 461) BGH, Urt. v. 29.11.1993 – II ZR 107/92, ZIP 1994, 129 (131); BGH, Urt. v. 8.10.1975 – VIII ZR 115/74, BGHZ 65, 123 (125 f.) = NJW 1976, 104 (105); Großkomm-AktG/ Habersack, § 78 Rz. 23; Schmidt/Lutter/Seibt, § 78 Rz. 8. 462) OLG Hamburg, Urt. v. 16.5.1986 – 11 U 238/85, ZIP 1986, 1249 (1251); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 82 Rz. 11; Koch, § 82 Rz. 5; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 20; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 26; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 5. Zum Streitstand zu § 112 AktG Æ § 3 Rz. 240. 463) Wachter/Link, § 82 Rz. 5; Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 13; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 11; wohl auch MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 23 Rz. 26. 464) MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 26. 465) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 13. 466) Koch, § 82 Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 25; Hölters/Weber/Weber, § 82 Rz. 5.

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C. Vertretung

Der Grundsatz der unbeschränkten und unbeschränkbaren Vertretungsbefug- 207 nis wird ausnahmsweise durchbrochen, wenn es im Einzelfall an der Schutzwürdigkeit des Rechtsverkehrs fehlt. Dies ist zum einen bei evidentem Missbrauch der Vertretungsmacht der Fall. Er liegt vor, soweit der Vorstand die Grenzen seiner Geschäftsführungsbefugnis überschreitet und dies dem Geschäftspartner objektiv evident war, d. h. aufgrund massiver Verdachtsmomente für jedermann klar und sofort, also ohne Nachforschungen, erkennbar.467) Einfache Fahrlässigkeit genügt nach h. M. insoweit nicht.468) Ein Missbrauchs- oder Schädigungsbewusstsein des Vorstandsmitglieds ist hier ebenso wenig erforderlich wie der Eintritt eines Schadens bei der Gesellschaft.469) Nach dem BGH und der h. M. steht der Gesellschaft in einem solchen Fall die Arglisteinrede gemäß § 242 BGB gegen ihre Inanspruchnahme zu.470) Zum anderen ist das abgeschlossene Rechtsgeschäft nach h. M. gemäß § 138 BGB sittenwidrig und damit nichtig, wenn Vorstand und Geschäftspartner arglistig bewusst und gewollt zum Schaden der Gesellschaft zusammenwirken (sog. Kollusion).471) In diesem Fall haften Vorstand und Geschäftspartner der Gesellschaft nach §§ 826, 840 BGB.472) Schließlich kann der Grundsatz der Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht bei Geschäften mit der Gesellschaft nahestehenden Dritten, die aufgrund ihrer Stellung typischerweise Einblick in die Innenverhältnisse der Gesellschaft haben (z. B. Aufsichtsratsmitglieder, Konzernunternehmen, Unternehmensangehörige), im Einzelfall unanwendbar sein, so dass sich diese Personen Geschäftsführungsbeschränkungen des Vorstands entgegenhalten lassen müssen.473)

___________ 467) BGH, Urt. v. 5.11.2003 – VIII ZR 218/01, NZG 2004, 139 (140); BGH, Urt. v. 19.4.1994 – XI ZR 18/93, ZIP 1994, 859 (860); BGH, Urt. v. 14.3.1988 – II ZR 211/87, NJW 1988, 2241 (2243); Wachter/Link, § 82 Rz. 5; Koch, § 82 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 6. 468) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 15; Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 13. Anders noch BGH, Urt. 25.3.1968 – II ZR 208/64, BGHZ 50, 112 (114). 469) BGH, Beschl. v. 19.6.2006 – II ZR 337/05, ZIP 2006, 1391 (GmbH); Wachter/Link, § 82 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 14; Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 6. 470) Siehe die Rechtsprechungsnachweise in den vorherigen Fußnoten sowie BGH, Urt. v. 25.10.1994 – XI ZR 239/93, BGHZ 127, 239 = ZIP 1994, 1843 (1844); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 82 Rz. 49; MünchKommAktG/Spindler, § 82 Rz. 66. Nach a. A. sollen §§ 177 ff. BGB (zumindest teilweise) analog anwendbar sein. Zum Ganzen: BeckOGKAktG/ Fleischer, § 82 Rz. 16; Koch, § 82 Rz. 7a; Grigoleit/Grigoleit, § 82 Rz. 9. 471) BGH, Urt. v. 5.11.2003 – VIII ZR 218/01, NZG 2004, 139 (140); BGH, Urt. v. 17.5.1988 – VI ZR 233/87, NJW 1989, 26 (27); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 13; Großkomm-AktG/Habersack, § 82 Rz. 11; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 82 Rz. 45; Grigoleit/ Grigoleit, § 82 Rz. 9. 472) Wachter/Link, § 82 Rz. 4; Schmidt/Lutter/Seibt, § 82 Rz. 6. 473) Zum Ganzen Wachter/Link, § 82 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 82 Rz. 18 ff.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

5.

Publizität

208 Die Namen der Vorstandsmitglieder, die Vertretungsregelung sowie jede Änderung hat der Vorstand in vertretungsberechtigter Zahl zum Handelsregister anzumelden (§ 81 AktG). Die Eintragung hat rein deklaratorischen Charakter.474) Gleichwohl sollten alle Änderungen wegen der Publizitätswirkungen des Handelsregisters (§ 15 HGB) unverzüglich veranlasst werden.475) Zudem sind auf allen Geschäftsbriefen die Namen sämtlicher Vorstandsmitglieder anzugeben (§ 80 AktG). III.

Rechtsgeschäftliche Vertretung

209 Von der organschaftlichen Vertretung der AG durch ihren Vorstand ist die rechtsgeschäftliche bzw. gewillkürte Vertretung der AG durch Bevollmächtigte nach den allgemeinen zivil- und handelsrechtlichen Regeln (§§ 164 ff. BGB, §§ 48 ff. HGB, 54 ff. HGB) zu unterscheiden.476) Die Bevollmächtigung obliegt dem Vorstand. Durch sie kann der Kreis der rechtsgeschäftlich (insbesondere bei dem Abschluss von Verträgen) für die AG Handelnden erweitert werden.477) Weil es sich um keine organschaftliche Vertretung handelt, können die durch Gesetz dem Vorstand obliegenden Aufgaben, z. B. Einberufung der Hauptversammlung (§ 121 Abs. 2 AktG), Unterzeichnung des Jahresabschlusses (§ 245 HGB) oder Stellung des Insolvenzantrags (§ 15 InsO), sowie die einem anderen Organ obliegenden Aufgaben von Bevollmächtigten nicht wahrgenommen werden.478) Anders als die organschaftliche Vertretungsmacht der Vorstandsmitglieder ist die rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht beschränkbar und wird i. d. R. beschränkt.479) Soweit ihre Erteilung gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängt, hat dies lediglich für das Innenverhältnis Bedeutung (Æ Rz. 163, 178). Vom Registergericht ist das Vorliegen einer solchen Zustimmung daher nicht zu prüfen.480) 210 Praxishinweis: Selbst, wenn die Gesellschaft bei einem bestimmten Geschäft im Außenverhältnis von Bevollmächtigten vertreten werden kann, ist immer zu prüfen, ob für dieses Geschäft – z. B. wegen seiner Bedeutung – im Innenverhältnis eine Befassung des (Gesamt-)Vorstands erforderlich ist (Æ Rz. 179). ___________ 474) Koch, § 81 Rz. 9; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 87. 475) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 15. 476) Zudem unterliegt die AG den allgemeinen Grundsätzen über Rechtscheinvollmachten, insbesondere Duldungs- und Anscheinsvollmacht; vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 107; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 59, 68; zu den allgemeinen Grundsätzen: MünchKommBGB/Schubert, § 167 Rz. 101 ff. 477) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 80; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 107. 478) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 50; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 110. 479) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 19. 480) BGH, Beschl. v. 14.2.1974 – II ZB 6/73, BGHZ 62, 166 (168) = NJW 1974, 1194 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 48.

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C. Vertretung

In der Praxis verbreitet ist die Prokura (§§ 48 ff. HGB). Ihre Erteilung obliegt 211 dem Gesamtvorstand, weil es sich dabei um eine bedeutende Personalmaßnahme handelt, die zu den Leitungsaufgaben des Vorstands (Æ Rz. 16) zählt.481) Die Satzung kann Erteilung der Prokura weder ausschließen noch Erteilung auf eine bestimmte Form, z. B. Einzelprokura oder Gesamtprokura (§ 48 Abs. 2 HGB), beschränken.482) Erteilung und Erlöschen sind vom Vorstand (Æ Rz. 186) zum Handelsregister anzumelden (§ 53 Abs. 1 und 3 HGB). Der Umfang der Vertretungsmacht ist bei der Prokura gesetzlich bestimmt (§ 49 HGB) und grundsätzlich Dritten gegenüber nicht beschränkbar (§ 50 Abs. 1 HGB). Bei Erteilung unechter Gesamtvertretung erweitert sich die Vertretungsmacht des Prokuristen aber auf die des Vorstandsmitglieds (Æ Rz. 192). Eine Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) können sowohl der Vorstand als auch 212 Prokuristen für die AG erteilen.483) Anders als bei der Prokura kann die Erteilung schlüssig erfolgen, und weder Erteilung noch Widerruf sind zum Handelsregister anzumelden.484) Der Vorstand kann schließlich in verschiedenster Form Vollmacht (§ 166 Abs. 2 213 BGB) erteilen oder – durchaus praxisüblich – von Vertretern ohne Vertretungsmacht geschlossene Rechtsgeschäfte nachträglich genehmigen (§ 177 Abs. 1 BGB). Vollmachtserteilung kann etwa in Form einer Generalvollmacht dergestalt erfolgen, dass die Vollmacht über Generalhandlungsvollmacht (§ 54 HGB) hinausgeht und den Bevollmächtigten zur Vornahme sämtlicher Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen für den Vollmachtgeber ermächtigt. Erforderlich ist aber, dass die Grenzen des § 76 AktG gewahrt bleiben (Æ Rz. 32 f.), die Vertretungsbefugnis des Vorstands erhalten bleibt und die Vollmacht widerruflich ist.485) Üblich ist zudem die Erteilung von Spezialvollmacht für bestimmte Geschäfte, z. B. an Unternehmensmitarbeiter oder Berater. Diese bedarf grundsätzlich nicht der Form des zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts (§ 167 Abs. 2 BGB). Beispiele: Abschlussvollmacht für kommerzielle Verträge (Kauf, Miete, Leasing, Pacht, Fran- 214 chise, Service etc.), Unternehmenskaufverträge,486) Gesellschaftsverträge, die Abgabe gesellschaftsrechtlicher Stimmrechte, Prozessvollmacht an Rechtsanwälte etc. ___________ 481) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 49; Hölters/Weber/Weber, § 78 Rz. 40; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 20. 482) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 80; Koch, § 78 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 79; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 25. 483) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 51; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 25. 484) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 6 Rz. 25 und 28. 485) Koch, § 78 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 78 Rz. 78; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 114; a. A. BGH, Urt. v. 18.10.1976 – II ZR 9/75, NJW 1977, 199 f. (GmbH). 486) Zur Vollmachtserteilung bei M&A-Transaktionen Bergjahn/Klotz, ZIP 2016, 2300 ff.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

215 Von den Beschränkungen des § 181 BGB (Æ Rz. 202 ff.) kann der Vorstand einen Bevollmächtigten befreien, wenn er selbst von diesen Beschränkungen befreit ist.487) IV.

Wissenszurechnung, Willensmängel und Verschuldenszurechnung

1.

Wissenszurechnung

216 Zahlreiche zivil-, handels- und gesellschaftsrechtliche Vorschriften knüpfen Eintritt oder Ausbleiben bestimmter Rechtsfolgen an die Kenntnis oder Unkenntnis bestimmter Umstände (z. B. §§ 122 Abs. 2, 123 Abs. 2, 142 Abs. 2, § 179 Abs. 3, 442, 444, 892, 932 ff. BGB, § 15 HGB, Art. 17 MAR). In diesem Rahmen ist oft entscheidend, wessen Wissen der AG zugerechnet wird. 217 Praxishinweis: Fragen der Wissenszurechnung werden insbesondere bei M&ATransaktionen im Zusammenhang mit Kenntnisgarantien,488) im Rahmen der Pflicht zur Veröffentlichung von Ad-hoc-Mitteilungen489) sowie allgemein bei Rechtsgeschäften der AG mit Dritten relevant, wenn der Vertragspartner sich auf die Kenntnis bestimmter Umstände innerhalb der Gesellschaft beruft. 218 Das Wissen bzw. schuldhafte Nichtwissen eines konkret an einem Rechtsgeschäft beteiligten (Gesamt-)Vertreters ist der Gesellschaft in jedem Fall zurechenbar (§ 166 Abs. 1 BGB), einschließlich des privat oder zufällig erlangten Wissens des Handelnden.490) Der BGH hatte der AG darüber hinaus früher sämtliches Wissen ihrer Organmitglieder allein kraft deren Organstellung sogar über deren Amtszeit hinaus als eigenes Wissen zugerechnet.491) Davon ist er inzwischen abgerückt und erkennt den Grund für die Wissenszurechnung nunmehr im Gedanken des Verkehrsschutzes und der daran anknüpfenden Pflicht zu ordnungsgemäßer Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation.492) Zurechenbar sind der AG daher alle „typischerweise aktenmäßig festgehaltenen“ Informationen.493) Selbst bei Unkenntnis des konkret handelnden, vertretungsbefugten Organmitglieds ist der AG die Kenntnis eines bestimmten ___________ 487) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 81; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 26; Suttmann, MittBayNot 2011, 1 (9). 488) Dazu Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046 ff. 489) Ausführlich zur Wissenszurechnung im Zusammenhang mit Art. 17 MAR Ihrig, ZHR 181 (2017), 381 ff.; zu § 15 WpHG Buck-Heeb, AG 2015, 801 ff.; Koch, ZIP 2015, 1757 ff. Zu Art. 17 MAR Ƨ 10 Rz. 4 ff. 490) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 56; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 31. 491) St. Rspr. bis BGH, Urt. v. 8.12.1989 – V ZR 246/87, BGHZ 109, 327 = NJW 1990, 975 (976). 492) BGH, Urt. v. 12.11.1998 – IX ZR 145/98, BGHZ 140, 54 = ZIP 1998, 2162 (2165); BGH, Urt. v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30 (37 f.) = ZIP 1996, 548 (551). Ob die Zurechnung analog § 31 BGB oder analog § 166 Abs. 2 BGB erfolgt, ließ der BGH dabei offen. 493) BGH, Urt. v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30 (37 f.) = ZIP 1996, 548 (550).

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C. Vertretung

Umstandes daher zuzurechnen, wenn die unterlassene Weitergabe dieses Wissens an den Handelnden eine Verletzung der Informationsorganisationspflicht der Gesellschaft (Æ Rz. 259) darstellt. Dies ist zum einen der Fall, wenn die Wissensträger der Gesellschaft – d. h. die Repräsentanten, die dazu berufen sind, im Rechtsverkehr bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei angefallenen Informationen zur Kenntnis zu nehmen – die erkennbar erheblichen Informationen nicht an die entscheidenden Personen zur Speicherung oder aktenmäßigen Verwahrung weiterleiten (Informationsweiterleitungspflicht als Problem der Wissenszurechnung). Zum anderen ist hiervon auszugehen, wenn ein Informationsaustausch bzw. Rückgriff auf das aktenmäßig festgehaltene Wissen unter den konkreten Umständen des Einzelfalls geboten und möglich war, jedoch gleichwohl unterblieb (Informationsabfragepflicht als Problem des Wissens).494) Seine Rechtsprechung rechtfertigt der BGH mit dem Argument, eine Benach- 219 teiligung des Rechtsverkehrs gegenüber größeren Betrieben zu verhindern („Gleichstellungsargument“), weil sich diese aufgrund der typischen Arbeitsteilung und Wissensspaltung sonst häufiger auf Nichtwissen berufen könnten als natürliche Personen.495) Dies mag zutreffen; die Konzeption der Rechtsprechung führt aber letztlich zu der nicht überzeugenden Konsequenz, dass Gesellschaften aufgrund fahrlässiger Organisationsdefizite Kenntnis bestimmter Umstände oder sogar Arglist vorwerfbar sein kann, was auf die Einebnung der Unterscheidung zwischen Kenntnis und Kennenmüssen hinausläuft.496) Praktische Folge der Rechtsprechung des BGH ist, dass die AG sich Kenntnis 220 und Kennenmüssen aller Vorstandsmitglieder regelmäßig zurechnen lassen muss, weil eine Pflicht zur vollständigen und reibungslosen vorstandsinternen Informationserteilung besteht (Æ Rz. 97). Eine Wissenszurechnung dürfte aber ausscheiden, wenn Vorstandsmitglieder ausnahmsweise gegenüber ihren Organkollegen zur Verschwiegenheit verpflichtet sind oder gesetzliche Schranken der Informationspflicht bestehen (Æ Rz. 145).497) Auch privat erlangtes Wissen einzelner – nicht an dem konkreten Geschäft beteiligter – Vorstandsmitglieder ist der AG nicht zurechenbar.498) Ob Kenntnis von Personen unterhalb des Vorstands oder ausgeschiedener Vorstandsmitglieder der AG zugerechnet wird, bestimmt sich im Einzelfall danach, ob die vom BGH angenommene In___________ 494) BGH, Urt. v. 12.11.1998 – IX ZR 145/98, BGHZ 140, 54 = ZIP 1998, 2162 (2165); BGH, Urt. v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30 (37 f.) = ZIP 1996, 548 (551). Siehe zum Ganzen auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 78 Rz. 54; Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 39 ff.; Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 39. 495) BGH, Urt. v. 2.2.1996 – V ZR 239/94, BGHZ 132, 30 (37 f.) = ZIP 1996, 548 (550 f.). 496) Eingehend Grigoleit, ZHR 181 (2017), 160 (195 f.). 497) Koch, § 78 Rz. 28. 498) BGH, Urt. v. 9.4.1990 – II ZR 1/89, NJW 1990, 2544 (2545); Koch, § 78 Rz. 26; GroßkommAktG/Habersack, § 78 Rz. 42; Fleischer, NJW 2006, 3239 (3241 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

formationsweiterleitungs- oder Informationsabfragepflicht besteht und verletzt wurde (Æ Rz. 218). 221 Jedenfalls kann der Gesellschaft niemals das Wissen ihrer Organmitglieder oder Mitarbeiter zugerechnet werden, welches diese in ihrer Eigenschaft als Organmitglied anderer Gesellschaften erlangt haben und aufgrund ihrer Verschwiegenheitspflicht (Æ Rz. 331 ff.) nicht preisgeben durften.499) Entsprechende Fragen stellen sich praktisch häufig bei konzernverbundenen Gesellschaften mit identischem Leitungspersonal. 2.

Willensmängel

222 Willensmängel i. S. v. §§ 116 ff. BGB sind der AG bereits als eigene zurechenbar, wenn sie in der Person auch nur eines Vorstandsmitglieds bzw. Gesamtvertreters (Æ Rz. 187, 192 f.) vorliegen.500) 3.

Verhaltens- und Verschuldenszurechnung sowie Organhaftung

223 Die AG haftet für das zum Schadensersatz verpflichtende Verhalten ihres Vorstands, eines Vorstandsmitglieds oder eines anderen verfassungsmäßig berufenen Vertreters in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtung (§ 31 BGB). Sowohl das Verhalten als auch das Verschulden der Vorstandsmitglieder werden der AG danach ohne Exkulpationsmöglichkeit im Rahmen vertraglicher, deliktischer und aller sonstigen Ansprüche gegen die Gesellschaft als eigenes zugerechnet.501) Das Handeln des Organmitglieds muss aber in den ihm zugewiesenen Wirkungskreis fallen.502) Das erfordert einen inneren sachlichen, nicht lediglich zeitlichen oder örtlichen, Zusammenhang zwischen dem zugewiesenen Aufgabenbereich und der ersatzbegründenden Handlung, der allerdings sogar noch bei Überschreitung der Vertretungsmacht und Missbrauch der Organstellung angenommen werden kann.503) Handelt ein Vorstandsmitglied für mehrere Konzerngesellschaften, entscheidet sich die Zurechnung danach, in wessen Pflichtenkreis es konkret tätig war.504)

___________ 499) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063 (1066 f.), Rz. 29 ff. (37); Koch, § 78 Rz. 26; Buck-Heeb, AG 2015, 801 (810); Koch, ZIP 2015, 1757 (1762 f.); Verse, AG 2015, 413 (415 ff.); Wilsing/Kleemann, BB 2016, 1425. 500) Großkomm-AktG/Habersack, § 78 Rz. 42; Koch, § 78 Rz. 34; MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 94. 501) Koch, § 78 Rz. 23; Hölters/Weber/Weber, § 78 Rz. 44. 502) BGH, Urt. v. 8.7.1986 – VI ZR 47/85, BGHZ 98, 148 (151 f.) = ZIP 1986, 1179 (1180). 503) BGH, Urt. v. 8.7.1986 – VI ZR 47/85, BGHZ 98, 148 (151 f.) = ZIP 1986, 1179 (1180); Grigoleit/Grigoleit, § 78 Rz. 52. 504) BGH, Urt. v. 2.12.2014 – VI ZR 501/13, GWR 2015, 32 mit Anm. Kessler.

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Meyer

D. Organschaftliche Pflichten

V.

Checkliste für die Vertretung der Gesellschaft durch den Vorstand



Ist für den Abschluss des konkreten Geschäfts ausnahmsweise der Aufsichtsrat oder ein anderes Organ zuständig? (Æ Rz. 198, 201)



Sind für das konkrete Geschäft Mitwirkungs- oder Zustimmungspflichten anderer Organe zu beachten, die für die Wirksamkeit des Geschäfts relevant sind? (Æ Rz. 199 f.)



In welcher Besetzung vertritt der Vorstand die Gesellschaft bei dem konkreten Geschäft? (Æ Rz. 186 ff.)



Bestehen bei dem konkreten Geschäft Beschränkungen unter dem Gesichtspunkt der Mehrvertretung gemäß § 181 Alt. 2 BGB? (Æ Rz. 202 ff.)



Unterliegen die Vertreter bei dem konkreten Geschäft Beschränkungen der Geschäftsführungsbefugnis (Æ Rz. 152 ff.), deren Missachtung ausnahmsweise zur Überschreitung der Grenzen der Vertretungsmacht führt? (Æ Rz. 205 ff.)



Sollen und dürfen Bevollmächtigte die Gesellschaft bei dem konkreten Geschäft im Rahmen ihrer Vertretungsmacht vertreten? (Æ Rz. 209 ff.)

D.

Organschaftliche Pflichten

224

Illert/Meyer

Kraft ihrer Organstellung obliegen den Vorstandsmitgliedern vielfältige gesetz- 225 liche Pflichten. Unter ihnen hat die Geschäftsführung (Æ Rz. 54) einschließlich der Pflicht des Vorstands, die Gesellschaft in eigener Verantwortung zu leiten (Æ Rz. 15 ff.), herausgehobene Bedeutung. Bei der Geschäftsführung unterliegen die Vorstandsmitglieder einer allgemeinen Sorgfaltspflicht (Æ Rz. 226 ff.), welche ihr Handeln maßgeblich prägt. Diese wird flankiert durch eine Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft (Æ Rz. 308 ff.) und eine Verschwiegenheitspflicht hinsichtlich vertraulicher Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft (Æ Rz. 331 ff.). Zusätzliche gesetzliche Pflichten bestehen für den Vorstand aufgrund vielfältiger praxisrelevanter Bestimmungen des AktG (Æ Rz. 346 ff.). Zu den Folgen im Falle einer Verletzung dieser Pflichten Æ Rz. 442 ff. I.

Sorgfaltspflicht bei der Geschäftsführung

1.

Begriff und Verhältnis zum Geschäftsleiterermessen

Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines or- 226 dentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG). Diese zentrale Vorschrift des Vorstandsrechts hat nach h. M. eine Doppelfunktion:505) Sie konkretisiert zum einen den allgemeinen Verschul___________ 505) Wachter/Link, § 93 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 15; Koch, § 93 Rz. 7; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 11; Seyfarth, § 8 Rz. 27. Vgl. auch OLG Köln, Urt. v. 28.2.2013 – 18 U 298/11, AG 2013, 570 (571).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

densmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB und umschreibt damit den typisierten Verschuldensmaßstab eines Unternehmensleiters, anhand dessen das organschaftliche Vorstandshandeln im Einzelfall haftungsrechtlich zu bewerten ist (Æ § 2 Rz. 57 ff.). Zum anderen fungiert sie als Pflichtenquelle: In Form einer Generalklausel bzw. eines Auffangtatbestands gibt sie eine objektive Verhaltenspflicht vor, aus der Rechtsprechung und Literatur situationsbezogene Einzelpflichten ableiten, soweit diese nicht bereits anderweitig tatbestandlich umschrieben sind. Nachfolgend wird der zweite Aspekt eingehend beleuchtet. 227 Nach der Rechtsprechung des BGH und der einhelligen Auffassung im aktienrechtlichen Schrifttum muss Vorstandsmitgliedern bei der Führung der Geschäfte zugleich ein weiter unternehmerischer Handlungsspielraum zugebilligt werden, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist (sog. Geschäftsleitermessen).506) Andernfalls bestünde das Risiko, dass sie die Eingehung unternehmerischer Risiken aus Sorge vor möglicher Haftung so weit wie möglich vermeiden, sowie die Gefahr, dass Gerichte in Kenntnis der später eingetretenen Tatsachen überzogene Anforderungen an die organschaftliche Sorgfaltspflicht stellen und einem Rückschaufehler unterliegen (hindsight bias).507) Eine Pflichtverletzung kommt vor diesem Hintergrund immer erst in Betracht, wenn die Grenzen verantwortungsvollen, ausschließlich am Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) orientierten, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhenden unternehmerischen Handelns deutlich überschritten werden bzw. wird.508) Insoweit schafft § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einen sicheren Hafen (safe harbor) und Haftungsfreiraum für Vorstandsmitglieder, d. h. diese verstoßen nicht gegen ihre Sorgfaltspflicht, wenn sie unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG handeln (sog. Business Judgement Rule; Æ § 2 Rz. 25 ff.); der Rückgriff auf § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG ist in diesem Fall ausgeschlossen.509) 228 Ausgangspunkt der Konkretisierung der Sorgfaltspflicht ist die Feststellung, dass Vorstandsmitglieder zur Wahrung des Vorteils der Gesellschaft und zur Abwendung von Schäden verpflichtet sind.510) Um das daraus folgende Pflich___________ 506) BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06, BGHZ 175, 365 (369) = ZIP 2008, 785 (786); BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253) = ZIP 1997, 883 (885) – ARAG/Garmenbeck; Koch, § 93 Rz. 26; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 13; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 12 ff. jeweils m. w. N. 507) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 80; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 13. 508) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253 f.) = ZIP 1997, 883 (886) – ARAG/Garmenbeck. Dem folgend BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2469), Rz. 29 – HSH Nordbank. 509) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 61; Fleischer, ZIP 2004, 685 (688 f.). 510) BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (220), Rz. 38 = ZIP 2008, 1232 (1237) (GmbH); BGH, Urt. v. 27.9.1956 – II ZR 144/55, BGHZ 21, 354 (357) = WM 1956, 1352; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 16; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 60; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 66.

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D. Organschaftliche Pflichten

tenprogramm praktisch handhabbar zu machen, bietet sich die Untergliederung der aus § 93 Abs. 1 AktG ableitbaren Einzelpflichten in die nachfolgenden Pflichtenkreise an:511) 2.

Legalitätspflicht

Die Legalitätspflicht ist Kardinalpflicht und verpflichtet alle Vorstandsmitglie- 229 der zu eigener Regeltreue und zur Sorge für regelkonformes Verhalten der AG.512) Vorstandsmitglieder dürfen deshalb auch keine Rechtsverstöße anordnen und müssen Sorge dafür tragen, dass das Unternehmen so organisiert ist, dass keine Rechtsverletzungen stattfinden (sog. Legalitätskontrollpflicht).513) Diese Punkte sind vor allem im Rahmen der Compliance-Pflichten des Vorstands relevant (Æ Rz. 285 ff.). Die Legalitätspflicht besteht grundsätzlich nur gegenüber der Gesellschaft und nicht im Verhältnis zu außenstehenden Dritten, so dass ihre Verletzung allein Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand (Æ § 2 Rz. 2 ff.), nicht hingegen Direktansprüche von Aktionären oder Gläubigern (Æ § 2 Rz. 224 ff.) entstehen lässt.514) Die Legalitätspflicht bildet eine absolute Schranke der Geschäftsführungsbe- 230 fugnis (Æ Rz. 55). Sie kann den Vorstand in seinen Handlungsoptionen von vornherein insoweit begrenzen, als überhaupt nur bestimmte oder sogar eine einzige Entscheidungsvariante zulässigerweise in Betracht kommen. Auch in seinem unternehmerischen Ermessen (Æ Rz. 227) ist der Vorstand insoweit beschränkt; für die Anwendung der Haftungsprivilegierung aufgrund der Business Judgement Rule bleibt bei Maßnahmen, die gegen die Legalitätspflicht verstoßen, kein Raum (sog. gebundene Entscheidung; Æ § 2 Rz. 33 f.). a)

Interne Pflichtenbindung

Bestandteil der Legalitätspflicht ist zunächst die Bindung des Vorstands an AktG, 231 Satzung (Æ Rz. 7 ff.,) und Geschäftsordnung (Æ Rz. 11 f.). Jedes Vorstandsmit___________ 511) Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 17. 512) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (34), Rz. 22 = ZIP 2012, 1552 (1554); BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (220), Rz. 38 = ZIP 2008, 1232 (1237) (GmbH); BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (375) = ZIP 1996, 2017 (2019) (GmbH); OLG Köln, Urt. v. 28.2.2013 – 18 U 298/11, AG 2013, 570 (571); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 17 und Rz. 19 ff.; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 132 ff.; Hüffer/Koch, § 93 Rz. 9; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 67 ff.; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 88 ff.; Wachter/Link, § 93 Rz. 12; Bicker, AG 2014, 8 ff.; Thole, ZHR 173 (2009), 504 ff. Vgl. auch Grds. 5 DCGK. 513) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); Simon/ Merkelbach, AG 2014, 318 (320 f.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (509); Verse, ZHR 175 (2011), 401 ff. 514) BGH, Urt. v. 18.6.2014 – I ZR 242/12, BGHZ 201, 344 (351), Rz. 23 = ZIP 2014, ZIP 2014, 1475 (1477); BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (34), Rz. 23 = ZIP 2012, 1552 (1554); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 306 und 324.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

glied muss danach sämtliche ihm durch das AktG auferlegten organschaftlichen Verhaltenspflichten erfüllen.515) Dazu gehören insbesondere die ordnungsgemäße und weisungsfreie (Æ Rz. 22) Erfüllung aller dem Vorstand kraft Gesetzes zugewiesener Leitungsaufgaben (Æ Rz. 17) und die Erfüllung aller sonstigen aktienrechtlichen Verhaltenspflichten (Æ Rz. 3) wie z. B. des Gebots der Kapitalerhaltung (§§ 57 ff. AktG; Æ Rz. 346 ff.) und der Publizitätspflichten gemäß §§ 80, 81 AktG (Æ Rz. 208), die Wahrung der Vorschriften zur Beteiligungstransparenz gemäß §§ 20 ff. AktG und §§ 33 ff. WpHG, zur Finanzberichterstattung gemäß §§ 114 ff. WpHG sowie zur Ad-hoc-Publizität gemäß Art. 17 MAR (Æ § 10 Rz. 4 ff.), die Beachtung der Sorgfaltspflicht gemäß § 93 Abs. 1 AktG selbst einschließlich der Sondertatbestände zur Aufbringung und Erhaltung des Grundkapitals gemäß § 93 Abs. 3 AktG (Æ § 2 Rz. 186 ff.), die Erstellung schriftlicher Berichte z. B. bei Abschluss von Unternehmensverträgen (§ 293a AktG) und Umwandlungsmaßnahmen (§§ 8, 127, 192 UmwG) sowie bei ordentlichen Kapitalerhöhungen (§ 186 Abs. 4 Satz 2 AktG) und beim genehmigten Kapital (§ 203 Abs. 2 Satz 2 AktG). Auch die Verantwortung des Vorstands für die gesetzmäßige Zusammensetzung der Organe (Æ Rz. 34 ff., § 3 Rz. 6 ff.) und die Fassung rechtmäßiger Beschlüsse (Æ Rz. 146 ff., § 3 Rz. 67 ff., zu Hauptversammlungsbeschlüssen §§ 245 Nr. 4, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG) gehören hierher.516) 232 Ferner müssen Vorstandsmitglieder die aktienrechtlichen Schranken ihrer Geschäftsführungsbefugnis (Æ Rz. 152 ff.) und namentlich die aktienrechtliche Kompetenzordnung einhalten. Jede Überschreitung der eigenen Kompetenzen stellt einen Verstoß gegen § 93 Abs. 1 AktG dar.517) Einzelne Vorstandsmitglieder verstoßen daher gegen ihre aktienrechtlichen Kompetenzen, wenn sie Entscheidungen treffen, die in die Kompetenz des Gesamtvorstands fallen (Æ Rz. 125 f.) oder wenn sie ungeachtet der Ressortverteilung (Æ Rz. 80 ff.) über die Grenzen der ressortübergreifenden Überwachungspflicht hinaus (Æ Rz. 102 ff.) stetig in ein fremdes Ressort „hineinregieren“.518) Auch begehen Vorstandsmitglieder einen Sorgfaltspflichtverstoß wegen Kompetenzüberschreitung, wenn sie die Grenzen des Unternehmensgegenstands über- oder unterschreiten (Æ Rz. 157 f.).519) Von erheblicher Bedeutung sind in diesem Zusammenhang ferner Verletzungen von Kompetenzen des Aufsichtsrats und ___________ 515) Ausführliche Darstellung bei BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 20 ff. Vgl. auch MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 31; Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333. 516) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 157; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 68. 517) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 24 (Missachtung der Kompetenzen des Aufsichtsrats); BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 16 (Überschreitung des satzungsmäßigen Unternehmenszwecks bzw. -gegenstands). 518) OLG München, Urt. v. 3.3.1993 – 7 U 3817/92, AG 1993, 285; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 25; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 169; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 67. 519) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 16; BGH, Urt. v. 5.10.1992 – II ZR 172/91, BGHZ 119, 305 (332) = ZIP 1992, 1542 (1551).

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D. Organschaftliche Pflichten

– seltener – der Hauptversammlung. In der Praxis treten solche Fälle bei dem Abschluss von Verträgen mit Dritten ohne die erforderliche Zustimmung von Aufsichtsrat (Æ Rz. 162 ff., 198) oder der Hauptversammlung (Æ Rz. 166 ff., 200) und – praktisch noch bedeutsamer – bei Geschäften mit (ausgeschiedenen) Vorstandsmitgliedern auf (§ 112 AktG; Æ Rz. 161, 198). Praxishinweis: Vor allem in „versteckten“ Fallgestaltungen wird die Kompetenz 233 des Aufsichtsrats gemäß § 112 AktG häufig übersehen.520) Bei allen Geschäften, an denen (ausgeschiedene) Vorstandsmitglieder selbst beteiligt sind, bei Geschäften zwischen der AG und einer Gesellschaft, an der (ausgeschiedene) Vorstandsmitglieder beteiligt sind, und bei allen Geschäften, die einen Bezug zu den Rechten oder Pflichten von Vorstandsmitgliedern haben (z. B. Regelung von Vergütungskomponenten), sollte daher besonders sorgfältig geprüft werden, ob der Aufsichtsrat ausnahmsweise zuständig ist. b)

Externe Pflichtenbindung

Bestandteil der Legalitätspflicht ist ferner die Pflicht der Vorstandsmitglieder, 234 für die Einhaltung sämtlicher Vorschriften zu sorgen, die das Unternehmen als Rechtssubjekt im Außenverhältnis treffen.521) Sofern ein Vorstandsmitglied für die Verletzung einer solchen Vorschrift durch die Gesellschaft verantwortlich ist, insbesondere weil die Kontrolle der Einhaltung in sein Ressort fiel (Æ Rz. 99, 114), oder das Vorstandsmitglied seiner ressortübergreifenden Überwachungspflicht nicht nachkam (Æ Rz. 102 ff.), liegt grundsätzlich auch im Innenverhältnis zur Gesellschaft eine Pflichtverletzung vor.522) Verpflichtungen der Gesellschaft ergeben sich insbesondere aus den vielfältigen Bestimmungen des Zivil- und Verbraucherschutzrechts, des Handels-, Gesellschaft- und Kapitalmarktrechts, des Übernahmerechts, des Buchführungs- und Bilanzrechts, des Insolvenzrechts, des Kartellrechts, des Wettbewerbsrechts und gewerblichen Rechtsschutzes, des Arbeits- und Sozialrechts, des Aufsichtsrechts, des Verwaltungsrechts, des Umweltrechts, des Steuerrechts sowie des Straf- und Ordnungswidrigkeitsrechts (Æ Rz. 4).523) Dabei ist nach h. M. nicht zwischen ___________ 520) Insoweit anschaulich BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 24. 521) BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (220), Rz. 38 = ZIP 2008, 1232 (1237) (GmbH); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (572 f.); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 74, 132 f.; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 7; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 87; Fleischer, ZIP 2005, 141 (144); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (509). 522) BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (220), Rz. 38 = ZIP 2008, 1232 (1237) (GmbH); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 133; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 71; Thole, ZHR 173 (2009), 504 (509). 523) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 28; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 74; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 71; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 87; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 67; Fleischer, ZIP 2005, 141 (144).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

wichtigen und weniger wichtigen Vorschriften mit reinem Ordnungscharakter zu differenzieren.524) Beispiel: 235 Auch die Anweisung an einen Fahrer eines Kurierdienstunternehmens, Park- und Halteverbote zu missachten, verstößt gegen die Legalitätspflicht. 236 Vom Vorstand können im Einzelfall auch ungeschriebene gewohnheitsrechtliche Vorgaben zu beachten sein.525) 237 Weiter hat der Vorstand für die Wahrung ausländischer Rechtsvorschriften (Æ Rz. 5), die nicht in einem unauflösbaren Widerspruch zum deutschen Recht stehen, Sorge zu tragen; dies hat vor allem im Zusammenhang mit internationalen Anti-Korruptionsvorschriften praktische Bedeutung erlangt.526) 238 Auch für die Einhaltung ihrer allgemeinen Berufspflichten aus der Ausübung einer freiberuflichen (z. B. Rechtsanwalt, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer) oder sonstigen Tätigkeit sind Vorstandsmitglieder der Gesellschaft gegenüber verpflichtet.527) Hierzu zählt auch die den Vorstandsmitgliedern obliegende Aufsichtspflicht gemäß § 130 OWiG (Æ § 21). 239 Hingegen ist der Vorstand im Rahmen seiner Legalitätspflicht nach h. M. nicht an vertragliche Pflichten der Gesellschaft gegenüber Dritten gebunden.528) ___________ 524) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 133; Koch, § 93 Rz. 10; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 87; Bicker, AG 2014, 8 (11); Fleischer, ZIP 2005, 141 (149 f.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (520); a. A. U.H. Schneider, in: Festschrift Hüffer, S. 905 (909 f.); für Ausnahme bei Bagatellverstößen Habersack, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 429 (437 f.). 525) Gewohnheitsrecht sind Rechtsnormen, die „nicht durch förmliche Setzung, sondern durch längere tatsächliche Übung entstanden sind, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muss und von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird“ (BVerfG, Beschl. v. 28.6.1967 – 2 BvR 143/61, BVerfGE 22, 114 = NJW 1967, 2051 [2052]). Zur mit dem Gesetzesrecht prinzipiell gleichrangigen Geltungskraft von Gewohnheitsrecht vgl. MünchKommZPO/Prütting, § 293 Rz. 18 (i. R. v. § 293 ZPO) und allgemein Böttcher, NZG 2011, 1054 (1056). 526) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (572 f.) (zum OECDÜbereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 33 f.; Koch, § 93 Rz. 13 ff.; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 31; Cichy/Cziupka, BB 2014, 1482 (1484 f.); Fleischer, NZG 2014, 321 (322). Für eine Differenzierung zwischen gelebtem und nicht gelebtem Recht dagegen Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 142 ff.; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 73; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 109 ff.; Bicker, AG 2014, 8 (12). 527) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 59; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 145 ff.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 77. 528) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 42; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 148; Bicker, AG 2014, 8 (9); Fleischer, ZIP 2005, 141 (150); Habersack, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 429 (436); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (343); U.H. Schneider, in: Festschrift Hüffer, S. 905 (910 f.); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (423 f.); a. A. Koch, § 93 Rz. 38; ders., ZGR 2006, 769 (786 f.); Schäfer, ZIP 2005, 1253 (1256); S.H. Schneider, DB 2005, 707 (711); Wiedemann, ZGR 2011, 183 (199).

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D. Organschaftliche Pflichten

Dies gilt freilich nur, solange der vorsätzliche Vertragsbruch keinen Verstoß gegen die guten Sitten darstellt (§ 826 BGB).529) Die bewusste Verletzung vertraglicher Pflichten kann freilich eine Verletzung der Sorgfaltspflicht im engeren Sinne (Æ Rz. 251 ff.) darstellen.530) Ausnahmsweise darf der Vorstand sich für einen bewussten Vertragsbruch entscheiden und eine Verpflichtung erst später oder gar nicht erfüllen, sondern es sogar auf einen Prozess und die Verurteilung zur Leistung von Schadensersatz ankommen lassen, wenn er unter Berücksichtigung der daraus für die Gesellschaft folgenden Nachteile nach sorgfältiger Abwägung zu der Überzeugung gelangt, dass diese Entscheidung im Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) liegt.531) Beispiele:532) Verzögerung einer Zahlung zur Überwindung eines Liquiditätsengpasses; Leis- 240 tungsverweigerung mit dem Ziel der Modifikation von Pflichten und Rechten durch Verhandlung, Auflagen, Aufrechnung oder Verzicht bzw. Abschluss eines gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs, Entwurf besonders vorteilhafter AGB entgegen rechtlicher Bedenken. Handelsbräuche, nationale und internationale Verhaltenskodizes (z. B. der 241 DCGK; Æ Rz. 417 ff.), sonstige freiwillige (auch unternehmenseigene) Richtlinien oder Empfehlungen staatlicher und politischer Institutionen binden den Vorstand im Rahmen seiner Legalitätspflicht ebenfalls nicht.533) Deren Nichtbeachtung kann aber dem Unternehmensinteresse zuwiderlaufen (Æ Rz. 29) und zu spürbarem Reputations- und Vertrauensverlust bei Geschäftspartnern, der Öffentlichkeit oder Mitarbeitern des Unternehmens führen.534) Dann kann die Missachtung solcher Grundsätze jedenfalls einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht im engeren Sinne (Æ Rz. 251 ff.; vgl. zu Compliance-Richtlinien Æ Rz. 306) darstellen. Kein Gesetzesrecht ist schließlich die ständige Rechtsprechung, so dass ein 242 Abweichen hiervon jedenfalls keinen Verstoß gegen die Legalitätspflicht darstellt. Allerdings gebietet die Sorgfaltspflicht im engeren Sinne (Æ Rz. 251 ff.) es dem Vorstand im Ausgangspunkt, die höchstrichterliche Rechtsprechung zu ___________ 529) Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (423 f.). Ebenso Bicker, AG 2014, 8 (9); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (343). 530) BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (220), Rz. 38 = ZIP 2008, 1232 (1237) (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 42; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 148. 531) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 148; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 33; Fleischer, ZIP 2005, 141 (150); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (343); Paefgen, AG 2014, 554 (559); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (518). 532) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 42; Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (343); Paefgen, AG 2014, 554 (559); Strohn, CCZ 2013, 177 (184). 533) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 149; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 73. 534) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 31 f., 57 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 150.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

beachten.535) Er darf sich aber ausnahmsweise nach sorgfältiger Information und Abwägung von Chancen und Risiken zu einer bestimmten Rechtsfrage über eine gefestigte Rechtsauffassung hinwegsetzen, um ihre Gültigkeit oder vorherrschende Auslegung in Frage zu stellen. Dabei steigen die Anforderungen an das Gewicht der für ein solches Vorgehen erforderlichen Gründe mit zunehmender Verfestigung der Rechtsauffassung.536) c)

„Nützliche“ Pflichtverletzungen

243 Die Legalitätspflicht genießt immer Vorrang gegenüber dem Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.). Nach h. M. ist daher grundsätzlich jedes gegen Rechtsvorschriften verstoßende Verhalten pflichtwidrig, gleich ob der Vorstand den Rechtsverstoß subjektiv im Interesse der Gesellschaft oder sogar objektiv zu ihrem Nutzen begangen hat.537) Selbst ein im Verhältnis zum erwarteten Vorteil vernachlässigbares Entdeckungs- oder Verfolgungsrisiko spielt insofern keine Rolle.538) Bestehen verschiedene Handlungsoptionen, von denen eine zu einem Rechtsverstoß führen würde, darf der Vorstand sich also nicht aus Opportunitätsoder Wirtschaftlichkeitserwägungen für diese Option entscheiden. Beispiele:539) 244 Verbotene schwarze Kassen oder Schmiergeldzahlungen im in- und ausländischen Geschäftsverkehr, kartellrechtswidrige Preis- und Gebietsabsprachen, unlautere Wettbewerbshandlungen, Missachtung kostenträchtiger Umweltstandards, unerlaubte Nutzung von Patenten, Lizenzen oder Marken etc. 245 Die vorgenannten Grundsätze gelten im Ausgangspunkt gleichermaßen für die Beseitigung andauernder Rechtsverstöße im Unternehmen, die vom Vorstand identifiziert wurden (Æ Rz. 295). ___________ 535) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 16 – ISION. 536) Im Einzelnen str. Vgl. zum Ganzen Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 138; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 99; Bicker, AG 2014, 8 (11); Dreher, in: Festschrift Konzen, S. 85 (92 f.); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (423 f.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (524). 537) BGH, Urt. v. 27.8.2010 – 2 StR 111/09, BGHSt 55, 266 (275 f.), Rz. 29 = ZIP 2010, 1892 (1894); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 52; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 134; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 69; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 106; Wachter/Link, § 93 Rz. 12; Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (90 f.); Bicker, AG 2014, 8 (11); Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2248 f.); Bunz, CCZ 2021, 81; Fleischer, ZIP 2005, 141 (145 ff.); Fleischer, NJW 2009, 2337 (2338); Habersack, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 429 (437 ff.); Kort, in: Festschrift Hopt, Band I, S. 983 (992 f.); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (342 ff.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (512 ff.). 538) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 134; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 71. 539) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 52; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 71; Thole, ZHR 173 (2009), 504 (512).

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D. Organschaftliche Pflichten

d)

Unklare oder umstrittene Rechtslage

Hohe Praxisrelevanz hat die Frage, welches Pflichtenprogramm für den Vor- 246 stand bei Zweifeln über die Rechtslage besteht.540) Eine unklare Rechtslage kann z. B. auftreten nach Gesetzesänderungen bzw. Einführung neuer Rechtsmaterien, deren Anwendung durch (Aufsichts-)Behörden oder die Rechtsprechung ungewiss ist, bei Fehlen jeglicher oder mindestens höchstrichterlicher Rechtsprechung zu einer Frage, bei Vorliegen divergierender gerichtlicher Entscheidungen oder bei Divergenzen zwischen obergerichtlicher Rechtsprechung und der vorherrschenden Auffassung im Schrifttum, bei Bestehen eines Meinungsstreits oder Fehlen jeglicher Hinweise im Schrifttum sowie bei Vorschriften mit unbestimmten Rechtsbegriffen, die von der Rechtsprechung noch nicht konkretisiert wurden oder bei denen Unklarheit über die Auslegung besteht.541) Den Vorstand trifft zunächst eine Rechtsvergewisserungspflicht. Er muss kraft 247 seiner Legalitätspflicht die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen, die rechtlichen Zusammenhänge eingehend prüfen und bei entsprechender Bedeutung der Frage internen oder externen Rechtsrat (Æ Rz. 117 ff.) einholen.542) Bei Zweifeln am Erstgutachten oder Fragen von herausragender wirtschaftlicher Tragweite (z. B. Fusions-, Umwandlungs- oder Übernahmevorhaben) kann es im Einzelfall geboten sein, eine zweite Meinung einzuholen.543) Bei besonders eilbedürftigen Entscheidungen ist eine summarische Prüfung ausreichend.544) Jedenfalls pflichtwidrig ist es aber, wenn sich der Vorstand bei unklarer Rechtslage überhaupt keine Gedanken über seine Entscheidung gemacht hat.545) Gelangt der Vorstand danach zu einer klaren Einschätzung, wird er sich bei 248 seiner Entscheidung grundsätzlich an dieser Rechtsauffassung zu orientieren haben (Æ Rz. 242). Soweit der eingeholte Rechtsrat zu keiner klaren Einschätzung führt und im Einzelfall tatsächlich nicht aufklärbare Unsicherheiten über den anwendbaren Rechtsrahmen verbleiben sollten, ist dem Vorstand ausnahms___________ 540) Vergleichbar ist die Frage des Umgangs mit tatsächlichen Unsicherheiten, vgl. Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2255), sowie mit komplizierten Fragen der Vertragsgestaltung, vgl. GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139. 541) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2249); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 ff. 542) Vgl. BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 16 – ISION; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 28.10.2010 – WpÜG 10/09, AG 2010, 296 (297); Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 66; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 91; Fleischer, BB 2008, 1070 (1071); Kocher, CCZ 2009, 215 (217); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (335 ff.). 543) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 38; Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2255); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (342); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (421). 544) Fleischer, ZIP 2005, 141 (150); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (420 f.). 545) Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2255); Kocher, CCZ 2009, 215 (217). Vgl. auch Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (341).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

weise ein Handlungsspielraum zuzubilligen. Er muss dann das Risiko einer nachträglichen Haftbarmachung wegen einer Gesetzesverletzung mit den wirtschaftlichen Vorteilen für die Gesellschaft sorgfältig abwägen und dabei auch das Ausmaß der Rechtsunsicherheit sowie die Bedeutung der Entscheidung für die Gesellschaft berücksichtigen.546) Soweit sich nach dieser Abwägung aus keiner der Entscheidungsvarianten unverhältnismäßig schwere Nachteile für die Gesellschaft ergeben, muss sich der Vorstand nicht für den rechtssichersten Weg entscheiden, sondern er darf einen der Gesellschaft günstigen Standpunkt einnehmen, solange die von ihm gewählte Auslegung vertretbar erscheint.547) Stellt sich die – durch interne oder externe Expertise abgesicherte – Einschätzung schlussendlich als falsch heraus und kommt es demgemäß bei objektiver expost Betrachtung zu einem Verstoß gegen die Legalitätspflicht, bleibt der Vorstand gleichwohl unter den Voraussetzungen für eine Enthaftung bei Vertrauen auf Expertenrat (Æ § 2 Rz. 58 ff.) von einer persönlichen Haftung verschont. Hingegen entfällt nach der Rechtsprechung des BGH nicht bereits die objektive Pflichtwidrigkeit des Verhaltens (Æ § 2 Rz. 35). e)

Rechtfertigungsgründe

249 Ein gegen die Legalitätspflicht verstoßendes Vorstandsmitglied kann ausnahmsweise gerechtfertigt sein. Dies wird vor allem in Fällen einer rechtfertigenden Pflichtenkollision oder eines aktienrechtlichen Notstands angenommen, in denen die Legalitätspflicht des Vorstands mit anderen Pflichten kollidiert und bei strenger Einhaltung der Legalitätspflicht ein schwerer, unmittelbarer Schaden für die Gesellschaft oder sonstige übergeordnete Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit von Mitarbeitern droht.548) Eine Rechtfertigung kommt allerdings nur in absoluten Ausnahmefällen bei Anlegung strenger Maßstäbe in Betracht, wenn keine anderen Handlungsalternativen zur Schadensabwehr bestehen.549) Beispiele:550) 250 Abwehr eines feindlichen Übernahmeangebots entgegen der Neutralitätspflicht gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG, wenn dem Vorstand konkrete Anhaltspunkte für ___________ 546) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 39; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 140; KK-AktG/Mertens, § 93 Rz. 75; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 34; Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (92); Bicker, AG 2014, 8 (10); Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2255 f.); Kocher, CCZ 2009, 215 (217); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (346); Verse, ZGR 2017, 174 (184 ff.). 547) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 39; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 75; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 98; Bicker, AG 2014, 8 (10); Fleischer, BB 2008, 1070 (1071); Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (346); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (421); Thole, ZHR 173 (2209), 504 (524 f.). 548) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 43; Koch, § 93 Rz. 78; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 103; Bicker, AG 2014, 8 (12); Poelzig/Thole, ZGR 2010, 836 (859 ff.). 549) Bicker, AG 2014, 8 (13); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (424). 550) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 43; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 76; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 103; Bicker, AG 2014, 8 (12).

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D. Organschaftliche Pflichten

eine gesetzeswidrige Ausbeutung oder dauernde rechtswidrige Tätigkeit des Unternehmens nach der Übernahme vorliegen; Sonderzahlungen an missbräuchlich klagende Kleinaktionäre, wenn der Gesellschaft ein schwerer, unmittelbar bevorstehender Schaden droht und das Freigabeverfahren gemäß § 246a AktG ausnahmsweise keine Abhilfe schafft. 3.

Sorgfaltspflicht im engeren Sinne

Innerhalb der Grenze der Legalitätspflicht muss jedes Vorstandsmitglied die 251 ihm übertragene Unternehmensleitung und Geschäftsführung im Rahmen des ihm vorgegebenen Pflichtenrahmens umfänglich wahrnehmen und sein Amt mit der erforderlichen Sorgfalt führen. Praxishinweis: Unter der Sorgfaltspflicht im engeren Sinne lassen sich sämtliche aus 252 der Sorgfaltspflicht ableitbare Einzelpflichten zusammenfassen, die ein Vorstandsmitglied bei der Geschäftsführung in seinem Verantwortungsbereich treffen. Hierunter fallen also die Pflichten eines Vorstandsmitglieds bei Maßnahmen und Entscheidungen, die im Wege horizontaler Delegation in seine alleinige Verantwortung übertragen wurden (Æ Rz. 95 ff., 117 f.) und die Pflichten aller Vorstandsmitglieder bei nicht abschließend delegationsfähigen Entscheidungen (Æ Rz. 94). a)

Sorgfaltsmaßstab und Typisierung

Ein Vorstandsmitglied muss bei der Geschäftsführung gemäß § 93 Abs. 1 253 Satz 1 AktG „die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ anwenden. Der Sorgfaltsmaßstab ist immer individuell anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu bestimmen. Das Vorstandsmitglied muss die Anforderungen einhalten, die an einen pflichtbewussten, selbstständig tätigen Geschäftsleiter eines Unternehmens vergleichbarer Art und Größe zu stellen sind, der nicht mit eigenem Vermögen wirtschaftet, sondern wie ein Treuhänder fremde Vermögensinteressen verwaltet.551) Der Sorgfaltsmaßstab ist normativer Natur, so dass es auf eine in dem konkreten Unternehmen oder der Branche übliche Nachlässigkeit nicht ankommt.552) Auch individuelle Unkenntnis entlastet nicht, weil ein Vorstandsmitglied die für die Ausübung des Amtes erforderliche Kenntnis besitzen bzw. sich diese Kenntnis erforderlichenfalls verschaffen muss.553) Ansteigende Sorgfaltsanforderungen können insbe___________ 551) BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 143/93, BGHZ 129, 30 (34) = ZIP 1995, 591 (592) (GmbH); OLG Köln, Urt. v. 28.2.2013 – 18 U 298/11, AG 2013, 570 (571); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.11.2010 – 5 U 110/08, AG 2011, 462 (463); Koch, § 93 Rz. 9; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 25. 552) Wachter/Link, § 93 Rz. 10; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 25; Böttcher, NZG 2009, 1047 (1049 ff.). 553) OLG Jena, Urt. v. 8.8.2000 – 8 U 1387/98, NZG 2001, 86 (87); Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 90; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 59; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315). Vgl. auch BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (199) = ZIP 1994, 1103 (1110).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

sondere aus zunehmender Anspannung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage des Unternehmens, zunehmender Bedeutung bzw. einem zunehmenden Risiko der konkreten Maßnahme oder Entscheidung für das Unternehmen, der besonderen Stellung als Vorstandsvorsitzender554) oder aus der konkreten Aufgabenverteilung innerhalb des mehrgliedrigen Vorstands (Æ Rz. 95 ff.) resultieren.555) Maßgeblich für die Bestimmung der Sorgfaltspflicht ist dabei stets die Lage im Zeitpunkt der Entscheidung (ex ante-Betrachtung).556) 254 Praxishinweis: Rechtsprechung und Literatur haben die aus der Sorgfaltspflicht im engeren Sinne ableitbaren Einzelpflichten umfassend erfasst und typisiert. Es treten gleichwohl immer wieder Situationen auf, für die die bekannten Fallgruppen nicht oder nicht vollständig passen. Eine konkrete Verhaltenspflicht kann für ein Vorstandsmitglied dann dadurch hergeleitet oder konkretisiert werden, dass der betreffende Sachverhalt unter die vorgenannte allgemeine Sorgfaltspflicht subsumiert wird. 255 Eine sinnvolle Struktur für die Typisierung des Pflichtenkorsetts des Vorstands lässt sich aus den zentralen Leitungsaufgaben des Vorstands (Æ Rz. 16) ableiten.557) Sämtliche aus der Sorgfaltspflicht im engeren Sinne folgenden Einzelpflichten lassen sich mindestens einem dieser Aufgabenbereiche zuordnen: 256 Alle Vorstandsmitglieder müssen für eine klare und umfassende Unternehmensplanung sorgen und in diesem Zusammenhang insbesondere die strategische Ausrichtung des Unternehmens festlegen (Grds. 2 DCGK).558) Sie müssen namentlich eine Finanz-, Investitions- und Personalplanung erstellen und je nach Bedarf, Unternehmensgröße und Branche zudem eine Produktions-, Absatz-, Beschaffungs-, Entwicklungs-, Kosten- und Ergebnisplanung vornehmen.559) Eine dahingehende Pflicht besteht jedenfalls hinsichtlich der kurzfristigen Planung (laufendes und folgendes Geschäftsjahr), während eine Mittelund Langfristplanung nur je nach den Umständen des Einzelfalls verpflichtend, aber jedenfalls ratsam ist.560) Daneben obliegt dem Vorstand eine Steuerungsund Überwachungsverantwortung, aufgrund der alle Vorstandsmitglieder die Geschäfte und Ergebnisentwicklung in allen unternehmerischen Teilbereichen kritisch begleiten und unter den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit, Zweck___________ 554) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 117. 555) OLG Jena, Urt. v. 8.8.2000 – 8 U 1387/98, NZG 2001, 86 (87); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 57; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 66. 556) BGH, Urt. v. 1.1.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 (78), Rz. 13 = ZIP 2009, 70 (72); LG Essen, Urt. v. 25.4.2012 – 41 O 45/10, ZIP 2012, 2061 (2062) – Arcandor; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 6. 557) Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 68 ff. 558) Weiterführend zum Strategiebegriff, dem Inhalt strategischer Entscheidungen und den Pflichten des Vorstands in diesem Zusammenhang Kremer u. a./v. Werder, Grds. 2 Rz. 3 ff.; JIG/Meyer, Grds. 2 Rz. 3 ff. 559) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 69; vgl. Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 48. 560) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 50.

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D. Organschaftliche Pflichten

mäßigkeit und Rechtmäßigkeit kontrollieren müssen.561) Ausfluss dieser Verantwortung sind die Pflichten des Vorstands zur Einrichtung eines zuverlässigen Controllings, einer angemessenen internen Revision sowie zur Einrichtung eines funktionierenden Frühwarnsystems gemäß § 91 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 367 ff.).562) Aus der Organisationsverantwortung des Vorstands folgt ferner die Pflicht, 257 eine gesetzmäßige, satzungskonforme und den Erfordernissen des konkreten Unternehmens (je nach Art, Größe, Börsennotierung, Umfeld, Kosten etc.) angemessene Organisationsstruktur einzurichten.563) Dazu gehört neben einer adäquaten Vorstandsbinnenorganisation (Æ Rz. 80 ff. und 96) zugleich der Aufbau einer möglichst reibungslosen Aufbau- und Ablauforganisation in den einzelnen unternehmerischen Teilbereichen,564) durch die der Vorstand sich jederzeit einen hinreichenden Überblick über die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft verschaffen kann (Æ Rz. 97).565) I. d. R. ist auch die Einrichtung einer Compliance-Organisation (Æ Rz. 300 ff.; § 16) sowie bei börsennotierten Gesellschaften immer die Schaffung eines funktionsfähigen Organisationssystems zur Einhaltung der Ad-hoc-Publizitätspflichten und sonstiger kapitalmarktrechtlicher Pflichten (Æ § 10 Rz. 3 ff.) erforderlich.566) Der Vorstand ist ferner zur angemessenen Unternehmensfinanzierung verpflich- 258 tet, durch die vor allem der Bestand des Unternehmens und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft sichergestellt werden muss (Æ Rz. 24). Insbesondere muss der Vorstand daher im Interesse eines langfristigen Erhalts des Unternehmens für die Sicherung der Liquidität und Finanzierung sowie für die Erhaltung und Stärkung der Ertragskraft sorgen und eine unternehmensinterne Finanzplanung erstellen.567) Ferner muss er seine Entscheidungen und Maßnahmen am Gebot der Wirtschaftlichkeit ausrichten und darf kein Gesellschaftsvermögen verschwenden.568) Zudem muss er für die Beachtung der Kapitalerhaltungsvorschriften gemäß §§ 57 ff. AktG (Æ Rz. 346 ff.) sorgen und sich um die Themen Cash-Management, Ergebnisverwendung, Ergebnisermittlung und Kapitalstruk___________ 561) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 71; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 83. 562) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 9; Götz, AG 1995, 337 (338). 563) Wachter/Link, § 93 Rz. 13; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 55; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 153; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 67, 83. 564) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 73; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 153. 565) BGH, Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, ZIP 2012, 1557 (1558), Rz. 11; BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560 (561); Fleischer, NZG 2003, 449 (454 f.). 566) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 73; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 80; Ihrig/ Schäfer, § 24 Rz. 657. 567) OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (601); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 179; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 12; Seibt, ZIP 2013, 1597 (1598). 568) Vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331 (338 f.) = ZIP 2006, 72 (74); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 191; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 82; Seibt, ZIP 2013, 1597 (1598).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

turmanagement kümmern.569) Zur Erfüllung der vorstehenden Pflichten ist die Schaffung hinreichender organisatorischer Vorkehrungen unabdingbar (Æ Rz. 257). Im Zusammenhang mit der Krise der Gesellschaft verschärfen sich die anzulegenden Sorgfaltsanforderungen (Æ Rz. 253) mit der Folge, dass für den Vorstand aus seiner Finanzierungsverantwortung weitere Pflichten zur Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung erwachsen (Æ Rz. 367 ff. und § 12 Rz. 7 ff.).570) 259 Schließlich bestehen im Zusammenhang mit der Informationsverantwortung des Vorstands vielfältige Einzelpflichten. Der Vorstand muss einen reibungslosen und effektiven Informationsfluss sowohl innerhalb des Vorstands als auch über das gesamte Unternehmen gewährleisten (Æ Rz. 97), und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der Gesellschaft das Wissen einzelner Repräsentanten zurechenbar sein kann (Æ Rz. 218 ff.). In die Informationsversorgung muss der Vorstand auch den Aufsichtsrat nach Maßgabe der Vorgaben gemäß § 90 AktG einbeziehen (Æ § 3 Rz. 112 ff.). Aus der Informationsverantwortung folgt schließlich die Pflicht des Vorstands, sich in angemessener Weise die für seine Geschäftsführung erforderlichen Informationen zu verschaffen.571) 260 Praxishinweis: Die Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage hat damit eine Doppelfunktion: Es handelt sich um eine der Sorgfaltspflicht entspringende Pflicht des Vorstands, die im Fall der Verletzung haftungsbegründend sein kann. Gleichzeitig ist sie Voraussetzung für eine mögliche haftungsrechtliche Privilegierung durch die Business Judgement Rule (Æ § 2 Rz. 36 ff.). b)

Grundlegende Sorgfaltsanforderungen an alle Vorstandsentscheidung

261 Aus den unter Rz. 253 ff. und den zur Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.) dargelegten Grundsätzen folgen bestimmte Sorgfaltsanforderungen, die der Vorstand bei jeder Entscheidung beachten muss. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die Pflicht zur sorgfältigen Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen.572) Dabei muss der Vorstand bei entsprechender Bedeutung der Frage internen oder externen Sachverstand (Æ Rz. 117 ff.) einholen, wenn ihm selbst

___________ 569) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 74; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 12. 570) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 75 ff.; Bork, ZIP 2011, 101 ff. 571) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 78; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 66. 572) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253 f.) = ZIP 1997, 883 (886) – ARAG/Garmenbeck; OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683; LG Essen, Urt. v. 25.4.2012 – 41 O 45/10, ZIP 2012, 2061 (2062) – Arcandor; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 92; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 66; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 91; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1527; Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2255). Vgl. auch BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2470), Rz. 32 ff. – HSH Nordbank.

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D. Organschaftliche Pflichten

die erforderliche Sachkunde fehlt.573) Welche Intensität der Informationsbeschaffung für die konkrete Entscheidung angemessen ist, hängt im Einzelfall insbesondere von dem zeitlichen Vorlauf, der tatsächlichen bzw. rechtlichen Möglichkeit der Informationsbeschaffung, dem Gewicht und der Art der zu treffenden Entscheidung, ihren wirtschaftlichen Folgen und dem Verhältnis von Informationsbeschaffungskosten und voraussichtlichem Informationsnutzen ab (Æ § 2 Rz. 36 ff.).574) Praxishinweis: Ein großes Zusammenschlussvorhaben, Vergleiche mit Vertrags- 262 partnern oder Behörden mit erheblicher wirtschaftlicher oder sonstiger Bedeutung oder eine konzernweite Umstrukturierung erfordern daher in der Regel eine gefestigte Informationsbasis. Bei Entscheidungen unter Zeitdruck ist eine geringere Informationsbasis angemessen, sofern die Zeitnot auf objektiven und sachlich nachvollziehbaren Gründen beruht. Als Grundregel erfordern Gesamtvorstandsentscheidungen intensivere Vorbereitung als Entscheidungen eines einzelnen Vorstandsmitglieds.575) In diesem Rahmen kann es nach Abwägung von Vor- und Nachteilen eines entsprechenden Vorgehens bei bestimmten Maßnahmen (z. B. bei Übernahme- oder Zusammenschlussvorhaben, M&A-Transaktionen, Umstrukturierungen, Strukturmaßnahmen oder behördlichen Ermittlungsverfahren) – soweit möglich – sinnvoll sein, die Abstimmung mit in die Entscheidung involvierten staatlichen Behörden oder Gerichten zu suchen, um die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Maßnahme frühzeitig einschätzen und so mögliche Schäden von der Gesellschaft abwenden zu können (z. B. Einholung verbindlicher Auskünfte bei zuständigem Finanzamt, Abstimmung mit Kartellbehörden, BaFin, Steuerfahndung oder Staatsanwaltschaft, Abstimmung mit Gerichten über Handelsregisteranmeldungen, Bestellung gerichtlicher Prüfer etc). Nicht zuletzt kann dies einen Verschuldensvorwurf entfallen lassen (Æ § 2 Rz. 61). Auf der Grundlage dieser Information muss der Vorstand die in der konkreten 263 Situation bestehenden Risiken der Entscheidung sorgfältig abschätzen sowie Vor- und Nachteile abwägen.576) Er ist dabei ausschließlich dem Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) verpflichtet. ___________ 573) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 16; OLG Frankfurt/ M., Urt. v. 28.10.2010 – WpÜG 10/09, AG 2010, 296 (297); LG Essen, Urt. v. 25.4.2012 – 41 O 45/10, ZIP 2012, 2061 (2062) – Arcandor; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 92; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 47a; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 66; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 91. 574) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 92; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 104 ff.; Hüffer/Koch, § 93 Rz. 20; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 17; Lang/Balzer, WM 2012, 1167 (1168 f.); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (722); Spindler, AG 2006, 677 (681). 575) Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (736); Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1450). Vgl. auch Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315 f.). 576) BGH, Urt. v. 13.8.2009 – 3 StR 576/08, ZIP 2009, 1854 (1857), Rz. 27; BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, ZIP 2008, 1675 (1676 f.), Rz. 11; OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 92; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315); Goette, in: Festschrift 50 Jahre BGH, S. 123 (140 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

264 Fällt die Entscheidung in die Ressortverantwortung eines bestimmten Vorstandsmitglieds (Æ Rz. 127 ff.), hat der Ressortleiter die vorgenannten Pflichten zu beachten und seinen Organkollegen ordnungsgemäß zu berichten (Æ Rz. 99 ff.). Für die Organkollegen verbleibt es bei der ressortübergreifenden Überwachungspflicht (Æ Rz. 102 ff.). 265 Bei Gesamtvorstandsentscheidungen (Æ Rz. 125 ff.) kann der Vorstand einen oder mehrere Berichterstatter zur Vorbereitung der Entscheidung (Æ Rz. 117 ff.) bestimmen.577) Das Pflichtenprogramm eines solchen Berichterstatters entspricht dem eines ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieds. (Æ Rz. 99 ff.).578) Er muss insbesondere die wesentlichen Grundlagen ihm vorgelegter Vorlagen auf Fehler überprüfen, die entscheidungsrelevanten Informationen beschaffen, sichten und auswerten und auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen und der Risiken abschätzen.579) Seinen Organkollegen hat der Berichterstatter die Informationen für die Entscheidung in geeigneter Form zur Verfügung zu stellen, so dass diese eine fundierte eigene Entscheidung treffen können.580) 266 Die übrigen Vorstandsmitglieder müssen hingegen überprüfen, ob die Entscheidungsgrundlage sorgfältig vorbereitet wurde und sich selbst mit der gebotenen Intensität mit dem Entscheidungsgegenstand sowie den wesentlichen Entscheidungsparametern befassen.581) Sie dürfen im Grundsatz wie bei der abschließenden horizontalen Delegation (Æ Rz. 105 ff.) darauf vertrauen, dass der Berichterstatter angemessene Entscheidungsvorlagen vorlegt und sich auf deren Richtigkeit und Vollständigkeit verlassen. Erforderlich ist eine gewissenhafte Prüfung der Vorlage auf Plausibilität und – soweit möglich – inhaltliche Richtigkeit, jedoch keine Prüfung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Informationsgrundlagen und Risikoabwägung, jedenfalls solange weder die Prüfung der Vorlage selbst hieran Zweifel begründet noch Zweifel an der Kompetenz und Zuverlässigkeit des Berichterstatters bestehen.582)

___________ Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 17; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (722). Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (723). Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (315); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (723). Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (723). Zum Informationsniveau bei Bankvorständen siehe auch LG Düsseldorf, Urt. v. 25.4.2014 – 39 O 36/11, BB 2014, 2388 mit Anmerkung Bachmann (eG) – ApoBank. 581) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 379; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1505; Emde, in: Festschrift U.H Schneider, S. 295 (304); Froesch, DB 2009, 722 (724). Vgl. auch BGH, Urt. v. 26.6.1994 – II ZR 109/94, ZIP 1994, 1334 (1336); BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, ZIP 1985, 1135 (1136) (beide GmbH). 582) Hüffer/Koch, § 93 Rz. 22; Emde, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 295 (304 und 319); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (723). Strenger Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1450 f.).

577) 578) 579) 580)

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D. Organschaftliche Pflichten

Praxishinweis: Oftmals werden Gesamtvorstandsentscheidungen aber die Ressorts 267 aller Vorstandsmitglieder betreffen. In diesem Bereich dürfte eine reine Plausiblitätsprüfung nicht mehr ausreichend sein. c)

Einzelfälle

Allgemein ist der Vorstand zum sorgfältigen Umgang mit Gesellschaftsmitteln 268 verpflichtet. Er darf daher von marktüblichen Konditionen grundsätzlich nicht erheblich abweichen, wenngleich ihm bei der Bestimmung der Modalitäten ein weitgehendes Ermessen zuzubilligen ist (Æ Rz. 227).583) Kulanzleistungen wie z. B. Spenden bleiben deshalb im Grundsatz möglich und können sogar im Unternehmensinteresse geboten sein (Æ Rz. 29), solange sie insgesamt in angemessener Höhe erfolgen.584) Eine pflichtwidrige Verschwendung von Gesellschaftsmitteln sind aber z. B. die Veranlassung der Zahlung eines großen Geldbetrags an einen zweifelhaften Geschäftspartner ohne Absicherung,585) grobe Fehlkalkulationen,586) hoch fragwürdige Investitionen,587) der Abschluss für die Gesellschaft völlig nutzloser Verträge,588) völlig unwirtschaftliche Anschaffungen zu überhöhten Preisen,589) Auszahlungen von Provisionen ohne Vermittlungsleistung590) sowie die Auszahlung einer unangemessenen Vergütung an den Aufsichtsrat.591) Bei der Anlage frei verfügbaren Gesellschaftsvermögens in Wertpapiere oder sonstigen Vermögensgegenständen (z. B. Verbriefungsgeschäft) muss der Vorstand den Anlagegegenstand sorgfältig auswählen, die Risiken und Ertragschancen abwägen und übermäßige Risikokonzentrationen vermeiden; ein striktes Verbot zur Eingehung von Klumpenrisiken besteht jedoch nicht.592) ___________ 583) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 84; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 10; Bachmann, NZG 2013, 1121 (1125). Vgl. auch BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304, 313 f. = ZIP 2013, 1712 (1715), Rz. 26 ff.; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.11.2010 – 5 U 110/08, AG 2011, 462 (463). 584) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 191 und 210 f.; Koch, § 93 Rz. 37. 585) OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.1996 – 6 U 11/95, ZIP 1997, 27 (30). 586) Vgl. BGH, Beschl. v. 18.2.2008 – II ZR 62/07, ZIP 2008, 736 (737), Rz. 5 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 123. 587) BGH, Urt. v. 4.7.1977 – II ZR 150/75, BGHZ 69, 207 (213 ff.) = NJW 1977, 2311 (2312) (KG) (Übernahme einer Kommanditbeteiligung, obwohl die Gesellschaft bei den gegebenen Verhältnissen kaum Bestand haben konnte und jede finanzielle Beteiligung ein außergewöhnliches Wagnis darstellte); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 190. 588) BGH, Urt. v. 9.12.1996 – II ZR 240/95, ZIP 1997, 199 (200) (Unternehmensberatung durch Rechtsreferendar). 589) BGH, Urt. v. 13.7.1998 – II ZR 131/97, AG 1998, 519 (520). 590) OLG Köln, Urt. v. 28.2.2013 – 18 U 298/11, AG 2013, 570 (571). 591) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 72; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 190. 592) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 110; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 200; Fleischer/Schmolke, ZHR 173 (2009) 649 (676 ff.). Strenger aber OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28 (31 f.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

269 Die Kreditaufnahme kann insbesondere dann pflichtwidrig sein, wenn die Kreditverpflichtung die Leistungsfähigkeit des Unternehmens von vornherein übersteigt bzw. nur bei besonders guter Geschäftsentwicklung rückführbar ist.593) 270 Praktisch ungleich wichtiger sind Fragen der Kreditgewährung.594) Für die Ausübung von Ermessen (Æ Rz. 227) ist erst Raum, wenn der Vorstand die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig ermittelt und Chancen und Risiken der Kreditvergabe sorgfältig abgewogen hat.595) Der Vorstand darf Darlehen grundsätzlich nicht ohne die üblichen Sicherheiten gewähren und muss zudem für die ordnungsgemäße Bewertung der Sicherheiten sowie die Beachtung der Beleihungsobergrenzen sorgen.596) Das gilt auch für Warenkredite.597) Pflichtwidrig sein können ferner die Überschreitung von gesellschaftsinternen Kreditrichtlinien in beträchtlicher Höhe,598) die mangelhafte Prüfung des Kreditrisikos bei Darlehenshingaben sowie insbesondere bei umfangreichen langfristigen Darlehen, und bei einem Cash-Management unterlassene Abhilfemaßnahmen (Kündigung, Einforderung von Sicherheiten, unterbliebene Einrichtung eines geeigneten Informations- oder Frühwarnsystems) bei späterer Erkennbarkeit fehlender Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs.599) Außerdem sind gerade bei Großkrediten oftmals ein Gesamtvorstandsbeschluss oder die Zustimmung des Aufsichtsrats oder des Kreditausschusses des Aufsichtsrats zu beachten (Æ Rz. 232).600) An die Zustimmung des Aufsichtsrats binden §§ 89, 115 AktG zudem Kreditgewährungen an Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 320 ff.; § 3 Rz. 254 ff.), Aufsichtsratsmitglieder, bestimmte nahestehende Personen (z. B. Mehrheitsaktionäre oder Ehepartner)601) und Prokuristen. ___________ 593) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 197. 594) Ausführlich BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 111 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 198; Fleischer, NJW 2009, 2337 (2342). 595) BGH, Beschl. v. 3.11.2008 – II ZR 236/07, ZIP 2009, 223, Rz. 3; OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683; Lang/Balzer, WM 2012, 1167 (1168 f.). 596) BGH, Urt. v. 21.3.2005 – II ZR 54/03, ZIP 2005, 981 (982); BGH, Urt. v. 3.12.2001 – II ZR 308/99, ZIP 2002, 213 (214) (beide eG). Siehe zu Ausnahmen (zweifelsfreie Bonität, besonderes Interesse an Kreditvergabe): OLG Celle, AG 2008, Urt. v. 28.5.2008 – 9 U 184/07, AG 2008, 711 (713); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.10.2011 – 5 U 27/10, BeckRS 2011, 27373; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 12.12.2007 – 17 U 111/07, AG 2008, 453 (456). 597) BGH, Urt. v. 16.2.1981 – II ZR 49/80, WM 1981, 440 (441 f.); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 113 mit weiteren Beispielen. 598) BGH, Urt. v. 3.12.1973 – II ZR 85/70, WM 1974, 131 (133) (eG). 599) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 (79) = ZIP 2009, 70 (72), Rz. 14; OLG Hamm, Urt. v. 12.7.2012 – I-27 U 12/10, AG 2012, 683. 600) BGH, Urt. v. 8.1.2007 – II ZR 304/04, ZIP 2007, 322 (323 f.), Rz. 11; OLG Koblenz, Urt. v. 24.9.2008 – 12 U 1437/04, NZG 2008, 280 (LS). 601) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263 (1266 f.); OLG Düsseldorf, Urt. v. 1.12.1994 – 13 U 5/94, GmbHR 1995, 227 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 112.

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D. Organschaftliche Pflichten

Spekulations- und Risikogeschäfte sind nicht per se pflichtwidrig, sondern 271 können je nach den Gesamtumständen des Einzelfalls vom Ermessen des Vorstands (Æ Rz. 227) gedeckt sein.602) Eine Pflichtverletzung liegt erst vor, wenn der Vorstand die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt.603) Dies ist z. B. der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Fehlschlags deutlich überwiegt oder das Geschäftsrisiko außer Verhältnis zu den Gewinnaussichten steht.604) Nimmt der Vorstand zur Absicherung bestimmter Risiken Sicherungsgeschäfte vor (sog. Hedging), dürfen diese nicht ihrerseits reinen Spekulationscharakter haben.605) Als per se pflichtwidrig beurteilt die Rechtsprechung i. d. R. die Eingehung von Risiken, die unverhältnismäßig, für das Unternehmen unangemessen oder im Fall ihrer Realisierung bestandsgefährdend wären, wie insbesondere sog. Klumpenrisiken.606) Angemessener erscheint auch insoweit, mit der h. L. darauf abzustellen, ob die Eingehung des Risikos im Einzelfall nach angemessener Abwägung von Chancen und Risiken unter Berücksichtigung von Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und branchenüblichen Absicherungen noch vertretbar erscheint,607) wobei die Pflicht zur angemessenen Vorbereitung der Entscheidung und Informationsbeschaffung in diesen Fällen besondere Bedeutung erlangt (Æ Rz. 259). Im Zusammenhang mit Spekulations- und Risikogeschäften ist stets zu prüfen, ob der Unternehmensgegenstand beachtet wird (Æ Rz. 232, 157). Ansprüche der Gesellschaft gegen Dritte, deren Verfolgung wirtschaftlich 272 sinnvoll erscheint, muss der Vorstand grundsätzlich nach Kräften zum Wohl der Gesellschaft realisieren.608) Die Sorgfaltspflicht gebietet daher regelmäßig, ___________ 602) OLG Jena, Urt. v. 8.8.2000 – 8 U 1387/98, NZG 2011, 86 (87); LG Düsseldorf, Urt. v. 25.4.2014 – 39 O 36/11, BB 2014, 2388 mit Anmerkung Bachmann (eG) – ApoBank; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 194; Fleischer, NJW 2009, 2337 (2342). Vgl. auch LG Leipzig, Urt. v. 8.11.2013 – 08 O 3757/10, BeckRS 2014, 01102 – SachsenLB. 603) BGHZ 135, 244 (253 f.) = ZIP 1997, 883 (886) – ARAG/Garmenbeck; OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 410 (413). Vgl. auch BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2469), Rz. 29 – HSH Nordbank. 604) OLG Jena, Urt. v. 8.8.2000 – 8 U 1387/98, NZG 2011, 86 (87); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 107; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 194. Vgl. auch BGHZ 119, 305 (332) = ZIP 1992, 1542 (1551) (Spekulationsgeschäfte auf dem Rohölterminmarkt). 605) OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 410 (413). 606) BGH, Urt. v. 4.7.1977 – II ZR 150/75, BGHZ 69, 207 (213 ff.) = NJW 1977, 2311 (2312) (KG); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28 (32); OLG Jena, Urt. v. 8.8.2000 – 8 U 1387/98, NZG 2011, 86 (87); Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 136; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 86 f.; Lutter, ZIP 2009, 197 (199). 607) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 108 und 122; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 88 und 195; Koch, § 93 Rz. 53; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 18; Balthasar/ Hamelmann, WM 2010, 589 (590); Schmitz-Remberg, BB 2014, 2701 (2703 f.). 608) OLG Koblenz, Urt. v. 12.5.1999 – 1 U 1649/97, NJW-RR 2000, 483 (484); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 116; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 89; Wachter/Link, § 93 Rz. 9. Zu den Organpflichten im Vorfeld, während und bei der Beendigung eines Zivilprozesses siehe Zeyher/Mader, ZHR 185 (2021), 125 ff.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

den Eintritt der Verjährung durch geeignete Maßnahmen zu verhindern und auf realisierbare Forderungen grundsätzlich nicht zu verzichten609) sowie rechtzeitig auf eine Vermögensverschlechterung des Schuldners zu reagieren610). Von der Durchsetzung darf der Vorstand nur im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen aus sachlichen Gründen absehen. Beispiele:611) 273 Anspruch erkennbar fraglich, Zahlungsfähigkeit des Schuldners zweifelhaft, Durchführung eines langwierigen und den Wert der Forderung kostenmäßig übersteigenden, aussichtslosen oder unter Reputationsgesichtspunkten schädlichen Prozesses, Nichtgeltendmachung aus geschäftlichem Kalkül. 274 Im Umkehrschluss folgt daraus, dass der Vorstand grundsätzlich auch zur Abwehr rechtsgrundloser Forderungen gegen die Gesellschaft verpflichtet ist, wenn nicht übergeordnete Gründe des Gesellschaftswohls deren Befriedigung rechtfertigen. 275 Im Rahmen seines Ermessens (Æ Rz. 227) darf der Vorstand grundsätzlich (gerichtliche oder außergerichtliche) Vergleiche über Drittansprüche und Drittverbindlichkeiten schließen.612) Je komplizierter und vielschichtiger der Rechtsstreit, umso weniger Raum besteht für den Vorwurf sorgfaltspflichtwidrigen Verhaltens.613) Der Vorstand muss aber immer besonderes Augenmerk auf die Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage legen. Dafür muss er insbesondere sämtliche relevanten Gesichtspunkte, Vor- und Nachteile sowie die (möglichen) Auswirkungen beider Entscheidungsvarianten (Vergleichsoption und weitere streitige Durchsetzung) so weit wie möglich herausarbeiten.614) 276 Praxishinweis: I. d. R. erfordert dies eine sorgfältige Einschätzung der Erfolgsaussichten der Gesellschaft bei fortdauernder streitiger Durchsetzung,615) der voraussichtlichen Kosten in beiden Entscheidungsalternativen, der sonstigen wirtschaftlichen und bilanziellen Folgen der Entscheidung sowie der Chancen und Risiken (z. B. für die Reputation, aufsichtsrechtliche Implikationen etc.) beider Entscheidungsalternativen. ___________ 609) BGH, Urt. v. 1.3.1982 – II ZR 189/80, WM 1982, 532 (eG); OLG Koblenz, Urt. v. 12.5.1999 – 1 U 1649/97, NJW-RR 2000, 483 (484); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 199. 610) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 (79) = ZIP 2009, 70 (72), Rz. 14; BGH, Urt. v. 4.3.1985 – II ZR 271/83, BGHZ 94, 55 (58) = ZIP 1985, 607. 611) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 116; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 199; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 89. 612) BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 (26) = ZIP 2011, 1306 (1311), Rz. 51; Fleischer, AG 2015, 133 (143 f.); Zeyher/Mader, ZHR 185 (2021), 125 (163 ff.). 613) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 120. 614) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 120. 615) Ausführlich dazu Fleischer, AG 2015, 133 (146 ff.).

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D. Organschaftliche Pflichten

Der Vorstand hat ferner die Kompetenz, Organhaftungsansprüche gegen 277 Aufsichtsratsmitglieder gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG zu verfolgen.616) Solche Ansprüche hat er grundsätzlich geltend zu machen, wenn eine Prozessrisikoanalyse ergibt, dass die Ansprüche bestehen und durchsetzbar sind und keine mindestens gleichwertigen Belange des Gesellschaftswohls ein Absehen von der Anspruchsgeltendmachung erfordern (Æ § 3 Rz. 276 ff.). Insoweit finden die vom BGH617) in der sog. ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung entwickelten Leitlinien nach allgemeiner Auffassung Anwendung, wenngleich deren Herleitung aus der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats für den Vorstand nicht ganz passt.618) Zu den Vorstandspflichten bei Verzicht und Vergleich über solche Ansprüche Æ § 4 Rz. 31 ff. Bei Anteils- oder Unternehmenskäufen (Æ § 13) genießt der Vorstand zwar 278 grundsätzlich ein breites Ermessen (Æ Rz. 227) und häufig den Schutz der Business Judgement Rule (Æ § 2 Rz. 25 ff.).619) Zu Sorgfaltspflichtverletzungen kann es aber gleichwohl in jedem Stadium einer Transaktion von der Bewertung über die Due Diligence bis hin zur prozessualen Umsetzung kommen.620) So sind für den Vorstand des Erwerbers etwa das Fehlen einer umsetzbaren und nachvollziehbaren Akquisitionsstrategie, insbesondere die Unvereinbarkeit des Transaktionsziels mit dem Unternehmensgegenstand (Æ Rz. 8) oder die Durchführung der Transaktion aus unternehmensfremden Gründen, sowie das Fehlen einer umfassend abgestimmten rechtlichen, steuerlichen und finanziellen Struktur der Transaktion sorgfaltspflichtwidrig.621) In der Regel erfordert die Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage ferner die Durchfüh-

___________ 616) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 72; Lutter/Krieger/Verse, § 13 Rz. 1025; Thum/ Klofat, NZG 2010, 1087. 617) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253) = ZIP 1997, 883 (885) – ARAG/Garmenbeck. 618) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 117; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 72; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 72 i. V. m. § 111 Rz. 44; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 141; Lutter/Krieger/Verse, § 13 Rz. 1025; Thum/Klofat, NZG 2010, 1087. Vgl. auch LG Essen, Urt. v. 25.4.2012 – 41 O 45/10, ZIP 2012, 2061 – Arcandor. Zurückhaltender Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 178. 619) BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06, BGHZ 175, 365 (369) = ZIP 2008, 785 (786), Rz. 12 ff.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 115; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 11; Nauheim/Goette, DStR 2013, 2520 ff.; Krempl, M&A Review 2016, 386 (387 f.). 620) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Engelhardt, Rz. 1133. Überblick über die Sorgfaltspflichten des Vorstands von Erwerber- und Zielgesellschaft bei BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 114; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 212; Seyfarth, § 8 Rz. 50 ff.; Krempl, M&A Review 2016, 386 ff.; Schiffer/Mayer, BB 2016, 2627 ff.; Sörgel/Müller, M&A Review 2015, 128 (130 ff.). 621) Krempl, M&A Review 2016, 386 (388).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

rung einer Due Diligence-Prüfung bei der Zielgesellschaft,622) deren Umfang sich im Einzelfall anhand der Risikoanfälligkeit des zu erwerbenden Unternehmens bestimmt.623) Hiervon können nach h. M. jedoch Ausnahmen bestehen, und zwar bei „feindlichen Übernahmen“, bei denen der Vorstand der Zielgesellschaft mit dem Erwerber nicht kooperiert, bei hohem Zeitdruck, wie z. B. in einem Auktionsverfahren, bei verhältnismäßig kleinen Erwerben und wenn dem Erwerber alle erforderlichen Informationen schon aus anderer Quelle bekannt sind.624) Häufig muss der Vorstand ferner auf die Einhaltung erforderlicher Gremienbeteiligungen achten, und bei der Gestaltung des Unternehmenskaufvertrags müssen die verhandelten Konditionen der jeweiligen Risikolage der beabsichtigten Investition angepasst sowie rechtlich wirksam und durchsetzbar vereinbart werden.625) 279 Im Konzern bestehen schließlich sowohl bei vertraglicher als auch bei faktischer Konzernierung Sonderpflichten des Vorstands (Æ § 7 Rz. 33 ff., 128 ff.). Für den Vorstand der abhängigen Gesellschaft ergibt sich daraus eine Modifikation (faktischer Konzern) bzw. ein grundsätzlicher Ausschluss (Vertragskonzern) der Anwendung von § 93 Abs. 1 AktG, während die Vorschrift für den Vorstand der herrschenden Gesellschaft anwendbar bleibt.626) Kraft seiner Sorgfaltspflicht ist der Vorstand der herrschenden Gesellschaft insbesondere zur sorgfältigen Verwaltung des in Beteiligungen investierten Gesellschaftsvermögens verpflichtet. Er muss die sich aus den Beteiligungen ergebenden Einflussnahmerechte daher so wahrnehmen, wie es dem Interesse der herrschenden Gesellschaft, insbesondere dem Ziel der Sicherung ihrer dauerhaften Rentabilität, entspricht.627) 280 Praxishinweis: Diese Pflicht haben Vorstandsmitglieder immer dann zu berücksichtigen, wenn sie für die Gesellschaft in einer Hauptversammlung oder Gesellschafterversammlung einer Tochtergesellschaft das Stimmrecht ausüben und dadurch über die ___________ 622) OLG Oldenburg, Urt. v. 22.6.2006 – 1 U 34/03, NZG 2007, 434 (436); LG Frankfurt/M., Urt. v. 7.10.1997 – k 3/11 O 44/9, ZIP 1998, 641 (644); LG Hannover, Urt. v. 23.2.1977 – 1 O 123/75, AG 1977, 198 (200); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 11; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 119; Böttcher, NZG 2007, 481 (483); Cahn, in: Festschrift Stilz, S. 99 (104); Cahn, Der Konzern 2015, 105 (111); Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (276 f.); Kiethe, NZG 1999, 976 (982 f.); Liese/Theusinger, BB 2007, 71; Lutter, ZIP 2007, 841 (844); Werner, ZIP 2000, 989 (990, 994). Abweichend Goette, DStR 2014, 1776 (1777). 623) Goette, DStR 2014, 1776 (1777 f.); Grützner/Leisch, DB 2012, 787 (791). 624) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 162 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 212; Böttcher, NZG 2007, 481 (483 ff.); Cahn, in: Festschrift Stilz, S. 99 (104 f.); Liese/ Theusinger, BB 2007, 71 (72); Werner, ZIP 2000, 989 (994, 996). 625) Krempl, M&A Review 2016, 386 (390); Schiffer/Mayer, BB 2016, 2627 (2630). 626) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 205 ff. 627) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 112; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 76 Rz. 53; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 204; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 42; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold, § 20 Rz. 59.

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D. Organschaftliche Pflichten

Durchführung bestimmter Maßnahmen oder die Zustimmung hierzu entscheiden. Mittelbar folgt daraus auch für den Vorstand der herrschenden Gesellschaft die Pflicht, die Maßnahme einschließlich des Vorliegens einer angemessenen Informationsgrundlage sorgfältig zu prüfen und Chancen und Risiken abzuwägen. 4.

Überwachungspflichten

Aus der Sorgfaltspflicht folgt ferner eine Pflicht jedes Vorstandsmitglieds, in 281 geeigneter Weise das recht- und zweckmäßige Verhalten nachgeordneter Unternehmensangehöriger und seiner Vorstandskollegen zu überwachen. Praxishinweis: Unter die Überwachungspflichten fallen damit diejenigen aus der 282 Sorgfaltspflicht ableitbaren Einzelpflichten bei Geschäftsführungsaufgaben, für die ein Vorstandsmitglied nicht die primäre Verantwortung trägt. a)

Horizontale Delegation

Bestandteil der Überwachungspflichten sind die Pflichten des Vorstands bei 283 horizontaler Delegation durch Geschäftsverteilung auf verschiedene Ressorts innerhalb des Vorstands, sei es zur Erledigung (Æ Rz. 95 ff.) oder zur Vorbereitung (Æ Rz. 117 ff.). Dazu zählt insbesondere die Pflicht aller Vorstandsmitglieder zur ressortübergreifenden Überwachung ihrer ressortverantwortlichen Organkollegen (Æ Rz. 102 ff.). b)

Vertikale Delegation

Von der Pflicht zur ressortübergreifenden Überwachung sind die Organisations-, 284 Auswahl-, Instruktions- und Überwachungspflichten des Vorstands bei der Übertragung von Aufgaben auf nachgeordnete Unternehmensmitarbeiter im Wege vertikaler Delegation (Æ Rz. 109 ff.) zu unterscheiden. 5.

Compliance-Pflichten

Dem Gesamtvorstand obliegt schließlich als nicht abschließend delegationsfähige 285 Leitungsaufgabe (Æ Rz. 15 ff.) eine Compliance-Verantwortung. Sie verpflichtet jedes Vorstandsmitglied über die eigene Regeltreue hinaus zur Sorge für regelkonformes Verhalten der AG (sog. Legalitätskontrollpflicht) und Einhaltung unternehmensinterner Standards, insbesondere durch eine Organisation des Unternehmens, durch die keine Rechtsverletzungen stattfinden (vgl. auch Grds. 5 DCGK).628) ___________ 628) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (34), Rz. 22 = ZIP 2012, 1552 (1554); BGH, Urt. v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 (220), Rz. 38 = ZIP 2008, 1232 (1237) (GmbH); BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (375) = ZIP 1996, 2017 (2019) (GmbH); OLG Köln, Urt. v. 28.2.2013 – 18 U 298/11, AG 2013, 570 (571); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); Koch, § 76 Rz. 12; Wachter/Link, § 93 Rz. 21; Hauschka, NJW 2004, 257; Simon/ Merkelbach, AG 2014, 318 (320 f.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (509); Goette, ZHR 175 (2011), 388 (390 f.); U.H. Schneider, ZIP 2003, 645 (646).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

286 Praxishinweis: Die Haftungsrelevanz der Compliance-Pflichten, insbesondere der daraus resultierenden Organisationspflicht, ist beträchtlich, weil sich praktisch jede Rechtsverletzung auf ein Organisationsdefizit zurückführen lässt. Zwar ist der Bestand einer Organisationspflichtverletzung aus ex-ante Sicht zu beurteilen (Æ Rz. 253). Praktisch kommt es in gerichtlichen Auseinandersetzungen aber (irrtümlicherweise) immer wieder vor, dass ex-post von dem Eintritt eines Schadens oder einer Gesetzesverletzung auf einen Organisationsmangel geschlossen wird. 287 Ob die Compliance-Verantwortung konzernweite Geltung beansprucht, ist bislang nicht abschließend geklärt. Nach h. M. ist der Vorstand im Rahmen seiner (Einwirkungs-)Möglichkeiten verpflichtet, für eine konzernweite Compliance zu sorgen (zu Compliance-Management im Konzern Æ § 16 Rz. 68 ff.).629) Die Praxis sollte sich schon deshalb daran orientieren, weil ausländische Rechtsordnungen die Unternehmensgruppe häufig als Einheit betrachten und entsprechend bebußen, und weil der Vorstand einer Muttergesellschaft für Rechtsverstöße bei Tochtergesellschaften ordnungswidrigkeitsrechtlich gemäß § 130 OWiG in Anspruch genommen werden kann (Æ § 22 Rz. 27 ff.).630) a)

Pflicht zu eigener Regeltreue

288 Vorstandsmitglieder verletzen ihre Compliance-Pflicht stets, wenn sie selbst rechtswidrige Handlungen begehen oder andere Leitungspersonen oder Mitarbeiter zu einer rechtswidrigen Handlung anregen (Æ Rz. 231 ff.). b)

Verhaltenspflichten bei Anhaltspunkten für regelwidriges Verhalten

289 Die Pflicht zur Durchsetzung der Regeltreue auf nachgeordneten Ebenen verpflichtet den Vorstand insbesondere zum Einschreiten bei Kenntniserlangung von einem Rechtsverstoß im Unternehmen. Das reaktive Pflichtenprogramm des Vorstands konkretisiert sich bei konkreten Verdachtsmomenten in der Pflichtentrias „Aufklären, Abstellen, Ahnden“.631)

___________ 629) Dafür OLG Jena, Urt. v. 12.8.2009 – 7 U 244/07, AG 2010, 376 (377); BeckOGK-AktG Fleischer, § 91 Rz. 89 ff.; Koch, § 76 Rz. 20; Fleischer, CCZ 2008, 1 (3 ff., 6); Koch, WM 2009, 1013 (1014); Lutter, in: Festschrift Goette, S. 289 (291); U.H. Schneider/S.H. Schneider, ZIP 2007, 2061 (2065); Verse, ZHR 175 (2011), 401 (424); Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1106). Implizit auch LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (574). 630) Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 9. 631) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 72; Koch, § 76 Rz. 16; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 28; Arnold, ZGR 2014, 76 (81); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (177); Fleischer, NZG 2014, 321 (324); Habersack, AG 2014, 1 (5); Reichert, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 943 (948 ff., 958 ff.); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2174); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (242 ff.).

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D. Organschaftliche Pflichten

aa)

Aufklären

Treten Verdachtsmomente für Gesetzesverletzungen oder Verstöße gegen un- 290 ternehmensinterne Compliance-Richtlinien auf, besteht grundsätzlich eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und kein Ermessen des Vorstands (Æ Rz. 227).632) Diese Pflicht trifft den Vorstand grds. auch bei Verdachtsmomenten gegen Aufsichtsratsmitglieder.633) Erforderlich sind schlüssige Verdachtsmomente, die Rechtsverstöße wahrscheinlich erscheinen lassen, wobei an die Wahrscheinlichkeit umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je schwerwiegender die Folgen für das Unternehmen sind, sofern sich der Verdacht erhärten sollte.634) Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob die Verdachtsmomente auch vorstandseigenes Fehlverhalten betreffen (ausführlich zur erforderlichen Verdachtsschwelle Æ § 16 Rz. 205 ff.).635) Innerhalb des Vorstands kann die Zuständigkeit für die Aufklärung als bloßer 291 Bestandteil des Compliance-Managements und reine Geschäftsführungsaufgabe auf ein einzelnes Vorstandsmitglied – zumeist das für den betroffenen Bereich ressortverantwortliche Mitglied – delegiert werden (Æ Rz. 80 ff.).636) Beim Verdacht ressorttypischer und eher geringfügiger Rechtsverstöße wird man nach den Umständen des Einzelfalls sogar eine Annexkompetenz des ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieds annehmen können.637) Der Vorstand ist nicht nur zuständig, wenn der Verdacht ausschließlich gegen Mitarbeiter des Unternehmens oder Mitglieder des Aufsichtsrats besteht, sondern auch, wenn er sich zugleich gegen einzelne Vorstandsmitglieder richtet.638) Zur Gewährleistung einer unabhängigen Untersuchung können dann aber eine Umorganisation der Verantwortlichkeiten im Vorstand (Æ Rz. 89) oder anderweitige Abhilfemaßnahmen zum Umgang mit Interessenkonflikten (Æ Rz. 141) geboten sein. ___________ 632) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 72; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 7; Bachmann, ZHR 180 (2016), 563 (564); Ott/Lüneborg, CCZ 2019, 71 (72); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2174); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (242); Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598 (1599 f.); Wagner, CCZ 2009, 8 (12 f.). 633) Koch, ZHR 180 (2016), 578 ff.; Tielmann/Struck, DStR 2013, 1191 ff. 634) Vgl. Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 13; Fuhrmann, NZG 2016, 881 (885); Wisskirchen/Glaser, DB 2011, 1392 (1394). So wohl auch Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832 (1834 f.). 635) Grunewald, NZG 2013, 841 (842). 636) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 84; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 10; Bicker, AG 2012, 542 (544); Fleischer, NZG 2014, 321 (323); Fuhrmann, NZG 2016, 881 (882); Wagner, CCZ 2009, 8 (14). 637) Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 10; Wagner, CCZ 2009, 8 (14); zweifelnd Fuhrmann, NZG 2016, 881 (882). 638) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 87 f.; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 12; Arnold, ZGR 2014, 76 (100 f.); Habersack, AG 2014, 1 (6); Wagner, CCZ 2009, 8 (14 f.); a. A. Fuhrmann, NZG 2016, 881 (883).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Zudem muss der Aufsichtsratsvorsitzende unverzüglich informiert werden.639) Der Aufsichtsrat muss sodann anhand der Umstände des Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der Intensität des Verdachts und der Anzahl der betroffenen Vorstandsmitglieder, entscheiden, ob er sich auf die Ergebnisse der Vorstandsuntersuchung verlassen kann, oder ob er parallel oder mindestens auf der Vorstandsuntersuchung aufbauend eine eigene Untersuchung durchführt, was jedenfalls bei Betroffenheit des gesamten Vorstands regelmäßig erforderlich sein wird.640) 292 Auf welche Art und Weise und in welchem Umfang der Vorstand seiner Aufklärungspflicht gerecht wird, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und liegt grundsätzlich in seinem Ermessen (Æ Rz. 227).641) Die ausgewählte Aufklärungsmethode muss aber jedenfalls zur Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage für die Entscheidung über das weitere Vorgehen (Æ Rz. 259 ff.) geeignet und hinsichtlich des Zeitaufwands und der Kosten angemessen sein.642) Erforderlich ist deshalb nicht stets eine allumfassende Aufklärung, vielmehr müssen sich die ergriffenen Maßnahmen nach der konkreten Situation und dem bestehenden Verdachtsgrad richten und eine weitere Aufklärung kann im wohlverstandenen Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) ausnahmsweise unterbleiben, wenn die mit ihr verbundenen Nachteile für das Unternehmen die möglichen Vorteile überwiegen.643) 293 In der Praxis werden zur Aufklärung oftmals formale unternehmensinterne Ermittlungen (sog. Internal Investigations, dazu ausführlich Æ § 16 Rz. 201 ff.) durchgeführt.644) Die zu diesem Zweck eingesetzten externen Berater erhalten hierbei zumeist extensive Untersuchungsbefugnisse und können – soweit die Grenzen des Daten- und Arbeitnehmerschutzes gewahrt werden – auf zahlreiche Aufklärungsinstrumente zugreifen, wie beispielsweise die Sichtung von ___________ 639) Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 12; Wagner, CCZ 2009, 8 (14). 640) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 87 f.; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 21; Arnold, ZGR 2014, 76 (100 ff.); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (193 ff.); Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226 (233); Fuhrmann, NZG 2016, 881 (883); Habersack, AG 2014, 1 (6); Hugger, ZHR 179 (2015), 214 (217 f.); Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 (210); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (248 f.). 641) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 72; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 15; Arnold, ZGR 2014, 76 (83); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (178); Habersack, in: Festschrift Stilz, S. 191 (201); Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 (211); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2176); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (244); Wagner, CCZ 2009, 8 (16 f.). 642) Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 15 f. 643) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 72; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 28; Moosmayer, § 5 Teil C. Rz. 311 ff.; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 14; Arnold, ZGR 2014, 76 (84); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (244). 644) Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 1 ff.; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 1 ff.; Bachmann, ZHR 180 (2016), 563 ff.; Fuhrmann, NZG 2016, 881 ff.; Lüneborg/ Resch, NZG 2018, 209 (211); Wagner, CCZ 2009, 8 ff.

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D. Organschaftliche Pflichten

Unternehmensunterlagen und E-Mails, die EDV und die Befragung von Unternehmensmitarbeitern.645) Der Vorstand muss sich in regelmäßigen Abständen über den Stand der Ermittlungen berichten lassen646) und ggf. etwaige Ad-hocVeröffentlichungspflichten beachten.647) Praxishinweis: Im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens darf der Vorstand entschei- 294 den, ob er die Aufklärung unternehmensintern oder unter Hinzuziehung externer Berater (Æ Rz. 121 f.) durchführt, ob er Behörden einschaltet (Æ § 2 Rz. 32),648) welche Personen er im Rahmen von Dokumentenreviews als sog. Custodians auswählt oder mit wem er Interviews durchführt etc. Unter Effektivitätsgesichtspunkten darf der Vorstand auch ein gestaffeltes Vorgehen wählen, bei dem erst mit zunehmendem Verdachtsgrad weitergehende Prüfungen erfolgen, wie z. B. eine sukzessive Erweiterung des Personenkreises, der Aufklärungsmittel oder eine Steigerung der Prüfungsintensität (von stichprobenartiger zu vollständiger Prüfung). Werden externe Berater eingeschaltet, sollte allerdings stets auf die Einhaltung der Voraussetzungen für eine mögliche Erstattungsfähigkeit der hierfür aufgewendeten Kosten i. R. v. möglichen Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder geachtet werden (Æ § 2 Rz. 83 ff.). bb)

Abstellen

Die im Rahmen der Aufklärung festgestellten Rechtsverstöße muss der Vorstand 295 nachhaltig abstellen. Das „Ob“ des Abstellens ist eine Pflichtaufgabe.649) Der Vorstand muss daher geeignete Maßnahmen ergreifen, um den Rechtsverstoß dauerhaft zu beenden und die Rechtmäßigkeit wiederherzustellen, selbst wenn dies für die Gesellschaft mit (wirtschaftlichen) Nachteilen verbunden ist. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen müssen „mit der gebotenen Schnelligkeit“ ergriffen werden.650) Bestehen mehrere alternative Mittel zur Beseitigung des Rechtsverstoßes, muss der Vorstand nur dann ein bestimmtes Mittel wählen, wenn die übrigen Maßnahmen keinen vergleichbaren Erfolg versprechen.651) ___________ 645) Große Aufmerksamkeit hat die Beschlagnahme der in diesem Rahmen erstellten Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der sog. „VW Dieselthematik“ erregt. Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 • 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, NJW 2018, 2385 ff. 646) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (574); Koch, § 76 Rz. 16; Fleischer, NZG 2014, 321 (323 f.). 647) Dazu Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001 ff. und 2041 ff. 648) Koch, § 76 Rz. 16; Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (243); Schockenhoff, NZG 2015, 409 (410); Seibt/Cziupka, AG 2015, 93 (104 ff.); Wettner/Mann, DStR 2014, 655 (656). 649) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 187; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 72; Fleischer, NZG 2014, 321 (324); Reichert, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 943 (948 f., 960); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2177); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320). Vgl. auch BGH, Urt. v. 8.10.1984 – II ZR 175/83, GmbHR 1985, 143. 650) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 72, Fn. 341; Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320). 651) Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2177).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

296 Hinsichtlich des „Wie“ des Abstellens darf der Vorstand unter mehreren, im konkreten Fall aus ex-ante Perspektive gleichermaßen zur Beseitigung des Rechtsverstoßes geeigneten Mitteln nach pflichtgemäßem Ermessen auswählen.652) Es kann daher im Einzelfall zulässig sein, anstelle einer für die Gesellschaft mit schwerwiegenden Nachteilen verbundenen, sofortigen Beseitigung des rechtswidrigen Zustands eine Alternative zu wählen, die ebenso effektiv aber nur unwesentlich später zu einer Beendigung des Rechtsverstoßes führt, für die Gesellschaft jedoch schonender ist.653) Jedenfalls muss dies nach den Grundsätzen zur Rechtfertigung des Vorstandshandelns bei Pflichtenkollisionen (Æ Rz. 249) gelten, wenn der Vorstand durch eine sofortige Beendigung des Rechtsverstoßes den Bestand der Gesellschaft gefährden würde (Æ Rz. 24). cc) Ahnden 297 Festgestellte Verstöße, die Unternehmensangehörigen individuell zugeordnet werden können, müssen schließlich sichtbar und mit angemessenen Mitteln sanktioniert werden, wohingegen der Vorstand über Art und Umfang der Sanktionierung nach pflichtgemäßem Ermessen (Æ Rz. 227) unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls entscheiden kann.654) Beispiele: 298 Arbeitsrechtliche Sanktionen (z. B. Abmahnung, Versetzung, ordentliche oder außerordentliche Tat- oder Verdachtskündigung),655) Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, Initiierung von Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren. 299 Deckt der Vorstand eigenes Fehlverhalten auf, besteht aufgrund der Selbstbelastungsfreiheit keine Pflicht zur Offenbarung, soweit sich ein Vorstandsmitglied dadurch der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung bzw. zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche aussetzen würde.656) c) Compliance-Organisation 300 Für regulierte Unternehmen der Bank-, Wertpapierdienstleistungs- und Versicherungsbranche besteht eine generelle Pflicht zu einer standardisierten und ___________ 652) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 187; Reichert, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 943 (948 f., 960 f.); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2177 f.). Vgl. auch Fleischer, NZG 2014, 321 (324); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320) zur Ahndung von Rechtsverstößen. 653) Vgl. Reichert, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 943 (960 f.). 654) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 73; Bicker, ZWH 2013, 473 (480); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (178); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2178 f.); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320). 655) Dann/Schmidt, NJW 2009, 1851 (1854); Eufinger, RdA 2017, 223 (225 ff.); Hauschka/ Greve, BB 2007, 165 (171 f.). 656) OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.11.1999 – 6 U 146/98, NZG 2000, 651 (GmbH); OLG Köln, Urt. v. 29.6.2000 – 18 U 31/00, NZG 2000, 1137 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 168; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 114; Grunewald, NZG 2013, 841 (845). Strenger Hopt, ZGR 2004, 1 (27).

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D. Organschaftliche Pflichten

einzelfallunabhängigen Compliance-Organisation aufgrund der Sonderbestimmungen in §§ 25a KWG, 29 VAG und § 80 WpHG (Æ § 11 Rz. 8 ff., 57).657) Auf das Pflichtenprogramm nicht regulierter Aktiengesellschaften strahlen diese Sonderpflichten jedoch nicht aus.658) Den Vorstand der AG trifft vielmehr nach h. M. nur bei entsprechender Gefährdungslage (z. B. aufgrund Branchenzugehörigkeit, Größe des Unternehmens, weltweiter Marktpräsenz, Kundenstruktur oder Missständen in der Vergangenheit) eine auf Schadensprävention und Risikokontrolle angelegte Pflicht zur Einrichtung einer ComplianceOrganisation.659) Praxishinweis: Dessen ungeachtet kann jedem Vorstand – unabhängig von der Größe 301 und Komplexität des Unternehmens – im Interesse einer sicheren Haftungsvermeidung nur dringend empfohlen werden, ein wirksames CMS vorzuhalten (Æ § 16 Rz. 8 ff.). Jedenfalls bei großen börsennotierten Aktiengesellschaften mit dementsprechender Risikoexposition kann kein Zweifel am Bestand einer Pflicht zur Einrichtung eines Compliance-Systems bestehen.660) Während der Gesamtvorstand aufgrund des Charakters als Leitungsaufgabe 302 über die Grundlinien der Compliance-Organisation zu beschließen hat, kann und muss die Hauptverantwortung für Compliance innerhalb des Vorstands klar verteilt werden.661) Insoweit kann die Umsetzung und Implementierung konkreter Organisationsmaßnahmen (z. B. Kontrollhandlungen) einem bestimmten Ressortvorstand, aber auch auf nachgeordnete Mitarbeiter, übertragen werden (Æ Rz. 117 ff.).662) Bei der Ausgestaltung der Compliance-Organisation steht dem Vorstand 303 grundsätzlich Ermessen zu (Æ Rz. 227), die Organisation muss aber Art, Größe und Organisation des Unternehmens, den zu beachtenden Vorschriften, der geographischen Präsenz sowie Verdachtsfällen aus der Vergangenheit Rech-

___________ 657) Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 122 und 132 ff.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 30; Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 (746 ff.). 658) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 80 (nur punktueller Rückgriff); Koch, § 76 Rz. 16a; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 64. 659) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 69; Koch, § 76 Rz. 13 ff.; Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 122; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 8; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (177); Bürkle, CCZ 2015, 52 (54); Habersack, AG 2014, 1 (3 f.); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2174). 660) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 8; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 32. 661) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (574); Koch, § 76 Rz. 16b; Fleischer, NZG 2014, 321 (326); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320 f.). 662) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 83 ff.; Koch, § 76 Rz. 12; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (179 ff.); Harbarth, ZHR 179 (2015), 136 (162 ff.); Nietsch, ZHR 180 (2016), 733 ff.; Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

nung tragen.663) In diesem Rahmen kommen grundsätzlich sowohl eine zentrale Organisation, bei der eine eigenständige Compliance-Einheit im Unternehmen eingerichtet wird, als auch eine dezentrale Organisation, bei der die einzelnen Unternehmensbereiche die Compliance-Aufgaben selbst wahrnehmen, in Betracht (autonome oder Matrix-Compliance-Organisation Æ § 16 Rz. 168 ff.).664) Erforderlich ist aber stets, dass durch die gewählte Organisation ComplianceVerstöße effizient verhindert werden können.665) 304 Erster Schritt zur Vorbereitung einer unternehmensspezifischen ComplianceOrganisation ist die Durchführung einer angemessenen Risikoanalyse zur Bestimmung der Risikoexposition des konkreten Unternehmens (zur Umsetzung einer Risikoanalyse ausführlich Æ § 16 Rz. 109 ff.).666) Insoweit muss der Vorstand die gefahrgeneigten Tätigkeitsbereiche des Unternehmens aufdecken und identifizieren sowie die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung und die potentielle Schadenshöhe ermitteln und in Bezug zueinander setzen.667) 305 Praxishinweis: Besonderes Augenmerk ist dabei in den besonders Compliancerelevanten Risikobereichen des Kapitalmarkt- und Kartellrechts, des Korruptionsstrafrechts, des Produkthaftungsrechts, des Umweltrechts, des Datenschutzrechts sowie den Bereichen Diskriminierung und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und zunehmend auch des Steuerrechts geboten.668) 306 Auf der Grundlage der Risikoanalyse sind adäquate Maßnahmen zur Steuerung der Compliance-Risiken zu veranlassen (zur Umsetzung Æ § 16 Rz. 156 ff.), beispielsweise durch Konzeption interner Regularien669) (dazu Æ § 16 Rz. 177 ff.). In der Praxis haben sich im Sinne einer Best Practice bestimmte Kernelemente der Compliance-Organisation herausgebildet (zu den Kernelementen eines Compliance-Management-Systems ausführlich Æ § 16 Rz. 109 ff.). Dies sind namentlich ein uneingeschränktes Bekenntnis des Vorstands zur Einhaltung geltenden Rechts und die Verdeutlichung, dass Rechtsverstöße und Verstöße ___________ 663) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); Schmidt/ ‚Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 36; Bürkle, CCZ 2015, 52 (54); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (319); Verse, ZHR 175 (2011), 401 (414). 664) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 36; Simon/Merkelbach, AG 2014, 318. 665) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); GroßkommAktG/Kort, § 91 Rz. 122; Bürkle, CCZ 2015, 52 (54); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (319). 666) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 70; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 52; Ihrig/ Schäfer, § 22 Rz. 598; Bürkle, ZHR 179 (2015), 173 (176); ders. CCZ 2015, 52 (54); Hauschka, AG 2004, 461 (467); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (321); von Busekist/Schlitt, CCZ 2012, 86 (88). 667) Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (321); Von Busekist/Schlitt, CCZ 2012, 86 (88). 668) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 69; Koch, § 76 Rz. 11; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 53; Hauschka, NJW 2004, 257 (258 f.). 669) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 70; Moosmayer, § 5 Teil C. Rz. 311 ff.; Kindler, in: Festschrift Roth, S. 367 (370).

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gegen interne Richtlinien deutlich und sichtbar geahndet werden (tone from the top), eine fortlaufende Risikoanalyse, die angemessene personelle Ausstattung der Compliance-Organisation (insbesondere die Bestellung eines ComplianceBeauftragten) mit klarer Zuordnung der Verantwortlichkeiten in Vorstand und dem gesamten Unternehmen, die Schaffung eines Berichtswesens (einschließlich eines angemessenen Hinweisgeber-Systems, dazu Æ § 16 Rz. 126 ff.), eine regelmäßige Kontrolle der Wirksamkeit der Systeme (Æ § 16 Rz. 196 ff.), die auch Lehren aus eingetretenen Verstößen berücksichtigt, die sorgfältige Auswahl, Schulung und Überwachung der Mitarbeiter durch wiederkehrende Stichproben sowie angemessene organisatorische Vorkehrungen, um für ausreichende Maßnahmen zur Aufklärung, Untersuchung und Ahndung von Rechtsverletzungen zu sorgen.670) Praxishinweis: Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass nicht sämtliche vorge- 307 nannten Elemente zwingender Bestandteil jedes Compliance-Systems sind; das Fehlen einzelner Elemente ist damit nicht automatisch haftungsrelevant. Entscheidend ist vielmehr, dass die nach der konkreten Risikostruktur des individuellen Unternehmens erforderlichen Maßnahmen ergriffen wurden.671) II.

Allgemeine Treuepflicht

1.

Allgemeiner Pflichteninhalt

Aufgrund ihrer Organstellung und ihrer treuhänderischen Pflicht zur Verwal- 308 tung des Gesellschaftsvermögens unterliegen Vorstandsmitglieder gegenüber der Aktiengesellschaft nach allgemeiner Auffassung einer – gesetzlich nicht ausdrücklich normierten – organschaftlichen Treue- bzw. Loyalitätspflicht.672) Ein Vorstandsmitglied ist daher – in den Grenzen seiner Persönlichkeits- und Gesundheitsinteressen – verpflichtet, seine persönlichen Interessen dem Wohl der Gesellschaft unterzuordnen und seine berufliche Arbeitskraft sowie Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.673) ___________ 670) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 8; Ihrig/Schäfer, § 22 Rz. 598; Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (177); Bürkle, CCZ 2015, 52 (54 f.); Fleischer, NZG 2014, 321 (326); Hoffmann/ Schieffer, NZG 2017, 401 (404 ff.); Klahold/Kremer, ZGR 2010, 113 (127 ff.); Simon/ Merkelbach, AG 2014, 318 (318, 321); Verse, ZHR 175 (2011), 401 (414). 671) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 68, 70 f.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 37. 672) BGH, Urt. v. 9.11.1967 – II ZR 64/67, BGHZ 49, 30 (31) = NJW 1968, 396 (GmbH); BGH, Urt. v. 26.3.1956 – II ZR 57/55, BGHZ 20, 239 (246) = NJW 1956, 906; BGH, Urt. v. 28.4.1954 – II ZR 211/53, BGHZ 13, 188 (192 f.) = NJW 1954, 998 (999); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 224; Koch, § 84 Rz. 10; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 95 ff.; Wachter/Link, § 93 Rz. 51; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 62; Seyfarth, § 8 Rz. 78; Fleischer, WM 2003, 1045 ff. 673) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 162 f.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 74; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 96; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 125.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Beispiele:674) 309 Leistung von Überstunden und Verschiebung bzw. Abbruch eines Urlaubs soweit erforderlich, keine Amtsniederlegung zur Unzeit. Nicht erforderlich ist der gesundheitsschonende Verzicht auf gefährliche Sportarten. 310 Auf die Belange der Gesellschaft muss ein Vorstandsmitglied in gewissem Rahmen auch bei seinem außerdienstlichen Verhalten Rücksicht nehmen. Insbesondere muss es herabsetzende Äußerungen über die Gesellschaft und ihre Organmitglieder oder die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft gefährdende Äußerungen unterlassen.675) Zudem darf es Geschäftschancen der Gesellschaft auch bei privater Kenntnisnahme nicht an sich ziehen (Æ Rz. 316). 311 Noch nach dem Ende der Organstellung besteht eine nachwirkende Treuepflicht. Einerseits verbietet diese, bestimmte Geschäftschancen oder Verträge mitzunehmen sowie der Verschwiegenheitspflicht (Æ Rz. 331 ff.) unterliegende Informationen für eigene Geschäfte auszunutzen, andererseits kann ein scheidendes Vorstandsmitglied aus diesem Grund zum Hinweis auf besonders dringende Angelegenheiten an seinen Nachfolger oder zur anderweitigen Unterstützung der Gesellschaft verpflichtet sein.676) Beispiel: 312 Bereitschaft zur Zeugenaussage in gerichtlichen Verfahren, die Sachverhalte aus der Amtszeit des Vorstandsmitglieds zum Gegenstand haben. 313 Abgesichert wird die Treuepflicht haftungsrechtlich durch eine mögliche Schadensersatzpflicht nach § 93 Abs. 2 AktG (Æ § 2 Rz. 2 ff.) und strafrechtlich durch den Untreuetatbestand (§ 266 StGB; Æ § 21 Rz. 2 ff.).677) 2.

Praxisrelevante Ausprägungen der Treuepflicht

a)

Keine Ausnutzung der Organstellung

314 Ein Vorstandsmitglied darf kraft seiner Treuepflicht seine Organstellung nicht zum eigenen Vorteil auf Kosten der Gesellschaft ausnutzen.678) Unzulässig sind daher die Aneignung von Gesellschaftsressourcen sowie die Inanspruchnahme

___________ 674) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 96; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 63 f. 675) BGH, Beschl. v. 6.11.2012 – II ZR 111/12, ZIP 2012, 2438 f. – Piech/Sardinien-Äußerungen; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 98; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 127. 676) BGH, Urt. v. 28.2.2012 – II ZR 244/10, ZIP 2012, 867 (868), Rz. 13; BGH, Urt. v. 11.10.1976 – II ZR 104/75, WM 1977, 194 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 194; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 273. Ausführlich U.H. Schneider, in: Festschrift Hommelhoff, S. 1023 ff. 677) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 62. 678) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 93 AktG Rz. 9; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 75; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 68.

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D. Organschaftliche Pflichten

betrieblicher Mittel, sofern das Vorstandsmitglied keinen Anspruch darauf hat und kein angemessenes Entgelt entrichtet.679) Beispiele: Erstattung von Kosten für Bewirtung oder Transport, unerlaubte Privatnutzung 315 des Dienstwagens, Firmenhelikopters oder Firmenjets, Heranziehung von Angestellten für private Zwecke etc. Soweit das Verhalten auch gegen gesetzliche Vorgaben wie z. B. das Verbot der Untreue gemäß § 266 StGB (Æ § 21 Rz. 2 ff.) oder verbindliche gesellschaftsinterne Vorgaben verstößt, liegt zugleich eine Verletzung der Legalitätspflicht (Æ Rz. 229 ff.) vor, wobei die Abgrenzung im Einzelfall nicht immer ganz klar sein wird. b)

Geschäftschancen der Gesellschaft

Als besondere Ausprägung des Verbots der Aneignung von Gesellschaftsres- 316 sourcen darf ein Vorstandsmitglied Geschäftschancen, die dem Unternehmen zustehen, nicht für sich auf eigene Rechnung nutzen bzw. auf Rechnung zugunsten nahestehender Personen realisieren, sondern es muss diese allein zum Vorteil der Gesellschaft wahrnehmen (sog. Geschäftschancenlehre).680) Hinsichtlich der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte 317 Geschäftsaussicht in diesem Sinne als dem Unternehmen zugehörig zu behandeln ist und somit ein mögliches Eigengeschäft durch den Vorstand sperrt, nimmt die Rechtsprechung eine Beurteilung im Einzelfall vor, versteht den Begriff der „Geschäftschance“ aber traditionell weit.681) Demnach erstreckt sich diese auf sämtliche Rechtsgeschäfte, die in den Geschäftsbereich der Gesellschaft fallen, also mit dem Unternehmensgegenstand der Gesellschaft deckungsgleich sind.682) Erfasst werden darüber hinaus alle unternehmerischen Abschlussmöglichkeiten hinsichtlich eines Rechtsgeschäfts, soweit ein solches entweder bereits intern beschlossen, die Vertragsverhandlungen aufgenommen ___________ 679) BGH, Urt. v. 24.11.1975 – II ZR 104/73, NJW 1976, 797 (GmbH zu § 626 BGB); LG Essen, Urt. v. 14.11.2014 – 35 KLs 14/13, ZIP 2016, 675 (§ 266 StGB) – Arcandor (bestätigt durch BGH, Urt. v. 17.2.2016 – 1 StR 209/15, juris); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 239 und 267; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 126. 680) BGH, Urt. v. 4.12.2012 – II ZR 159/10, ZIP 2013, 361 (363), Rz. 21 (GbR); BGH, Urt. v. 23.9.1985 – II ZR 246/84, ZIP 1985, 1482 (1483) (GmbH); Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 105; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 71; Seyfarth, § 8 Rz. 85; Fleischer, NZG 2003, 985 ff. Vgl. auch Grds. 20 Satz 2 DCGK. 681) BGH, Urt. v. 4.12.2012 – II ZR 159/10, ZIP 2013, 361 (363), Rz. 21 (GbR); BGH, Urt. v. 8.5.1989 – II ZR 229/88, ZIP 1989, 986 (987) (KG); BGH, Urt. v. 23.9.1985 – II ZR 246/84, ZIP 1985, 1484 (1485) (GmbH); BGH, Urt. v. 21.2.1983 – II ZR 183/82, ZIP 1983, 689 (690). 682) BGH, Urt. v. 4.12.2012 – II ZR 159/10, ZIP 2013, 361 (363), Rz. 21 (GbR); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 178 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 255; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 72.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

oder auch nur ein dahingehendes Interesse geäußert wurden.683) Für die rechtliche Zuordnung der Geschäftschance kommt es nicht darauf an, ob das Vorstandsmitglied davon privat oder in dienstlicher Funktion Kenntnis erlangt hat, weil die organschaftliche Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft unabhängig von den hierbei bestehenden Zuordnungsschwierigkeiten nicht teilbar ist.684) 318 Zulässig und in Zweifelsfällen empfehlenswert ist, dass das Vorstandsmitglied sich die Wahrnehmung einer ggf. der Gesellschaft zustehenden Geschäftschance gemäß § 88 AktG analog vom Aufsichtsrat gestatten und sich so vom Abschlussverbot befreien lässt.685) c)

Eigengeschäfte von Vorstandsmitgliedern

319 Bei Eigengeschäften mit der Gesellschaft darf ein Vorstandsmitglied die Gesellschaft nicht dadurch schädigen, dass ihm bei dem Geschäft aufgrund seiner Organstellung unberechtigte Vorteile entstehen.686) Solche Geschäfte müssen daher grundsätzlich einem Drittvergleich standhalten.687) Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt lediglich bei Abschluss des Anstellungsvertrags, bei dem das Vorstandsmitglied eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen darf.688) d)

Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder

320 Sonderfall der Eigengeschäfte sind Kreditgewährungen an Vorstandsmitglieder i. S. v. § 89 AktG. Der Kreditbegriff erfasst jede Art einer zeitweisen Überlassung von Geld oder Sachmitteln – mit Ausnahme von Kleinkrediten i. S. v. § 89 Abs. 1 Satz 5 AktG – und damit Darlehensgewährungen gleichermaßen wie die Bestellung von Sicherheiten und die Begründung ebenso wie die Verlängerung, Erhöhung oder unangemessene Stundung bestehender Kredite und vorfällige Auszahlungen geschuldeter Leistungen.689) ___________ 683) BGH, Urt. v. 8.5.1989 – II ZR 229/88, ZIP 1989, 986 (987) (KG); Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 76; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 256. 684) BGH, Urt. v. 4.12.2012 – II ZR 159/10, ZIP 2013, 361 (364), Rz. 27 (GbR); BGH, Urt. v. 23.9.1985 – II ZR 246/84, ZIP 1985, 1484 (1485) (GmbH); a. A. BeckOGK-AktG/ Fleischer, AktG § 93 Rz. 188. 685) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 77; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 105; MünchKommAktG/Spindler, § 88 Rz. 67; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 73. 686) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.11.2010 – 5 U 110/08, AG 2011, 462 (463); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 242. 687) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 174; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 78; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 21. 688) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 236 und 243; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 21; Seyfarth, § 8 Rz. 81. 689) Koch, § 89 Rz. 2; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 89 Rz. 13; Ihrig/Schäfer, § 13 Rz. 321.

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D. Organschaftliche Pflichten

Neben den allgemeinen Sorgfaltsanforderungen (Æ Rz. 270) sind bei solchen 321 Kreditgewährungen die besonderen Voraussetzungen gemäß § 89 AktG zu beachten. Erforderlich ist insbesondere ein ausdrücklicher vorheriger Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats oder eines zuständigen Aufsichtsratsausschusses, der die Bestimmtheitsanforderungen nach § 89 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG erfüllen muss (Æ § 3 Rz. 254).690) Der Zustimmungsvorbehalt gilt auch für Kredite an Prokuristen, Handlungsbevollmächtigte und Organmitglieder abhängiger Unternehmen (§ 89 Abs. 2 AktG), Kredite an nahe Angehörige der Vorstandsmitglieder und Strohmänner (§ 89 Abs. 3 AktG) sowie für Kredite an andere Gesellschaften, an denen ein Vorstandsmitglied, Prokurist oder Handlungsbevollmächtigter Organmitglied ist (§ 89 Abs. 5 AktG). Eine § 89 AktG verdrängende Spezialregelung besteht mit § 15 KWG für Organkredite bei Kreditinstituten und Finanzdienstleitungsunternehmen (§ 89 Abs. 6 AktG). Ohne vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats gewährte Kredite sind nach h. M. 322 zwar wirksam, vorbehaltlich einer nachträglichen Zustimmung hat die Gesellschaft aber einen Anspruch auf sofortige Rückgewähr des Kredits (§ 89 Abs. 5 AktG).691) Daneben können selbst bei nachträglicher Zustimmung Schadensersatzansprüche der Gesellschaft bestehen (§ 93 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 8 AktG).692) e)

Wettbewerbsverbot/Vorstands-Doppelmandate

Ausprägung der Treuepflicht ist ferner das (gesetzliche) Wettbewerbsverbot 323 gemäß § 88 AktG. Es dient dem Schutz der Gesellschaft zum einen vor Wettbewerbshandlungen und zum anderen vor einem anderweitigen Einsatz der Arbeitskraft des Vorstandsmitglieds.693) Vorstandsmitglieder dürfen danach ohne Einwilligung des Aufsichtsrats kein 324 Handelsgewerbe (§§ 1 ff. HGB)694) – und nach h. M. gleichermaßen keine sonstigen gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeiten695) – betreiben und auch keine Geschäfte im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung machen (§ 88 Abs. 1 Satz 1 AktG). Den Begriff des „Geschäftemachens” fasst die Rechtsprechung weit und versteht darunter jede, wenn auch nur spekulative, auf Gewinnerzielung gerichtete Teilnahme am geschäftlichen ___________ 690) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 100; Ihrig/Schäfer, § 13 Rz. 325 f.; Kort, ZIP 2008, 717 (720). 691) Koch, § 89 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 89 Rz. 22. 692) MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 57; Ihrig/Schäfer, § 13 Rz. 330. 693) BGH, Urt. v. 2.4.2001 – II ZR 217/99, ZIP 2001, 958 (959); BGH, Urt. v. 17.2.1997 – II ZR 278/95, ZIP 1997, 1063 (1064); Wachter/Link, § 88 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 88 Rz. 1; Schmidt/Lutter/Seibt, § 88 Rz. 1. 694) Auf den Geschäftszweig der AG kommt es insoweit nicht an: Koch, § 88 Rz. 3. 695) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, AG 2000, 518 (519); Schmidt/ Lutter/Seibt, § 88 Rz. 6; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 88 Rz. 10; a. A. Großkomm-AktG/ Kort, § 88 Rz. 22 ff.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Verkehr, die nicht nur zur Befriedigung eigener privater Bedürfnisse erfolgt, also nicht lediglich persönlichen Charakter hat.696) Für die Bestimmung des „Geschäftszweigs der Gesellschaft“ ist grundsätzlich der tatsächliche Geschäftszweig maßgeblich; jedenfalls wenn und soweit sich die tatsächlichen Geschäfte der Gesellschaft nicht mehr im Rahmen des durch die Hauptversammlung beschlossenen Unternehmensgegenstands halten, sondern darüber hinausgehen, kommt es allerdings auf den satzungsmäßigen Unternehmensgegenstand an.697) 325 Vorstandsmitglieder dürfen außerdem nicht ohne Weiteres Organmitglied oder persönlich haftender Gesellschafter einer anderen Handelsgesellschaft sein (§ 88 Abs. 1 Satz 2 AktG). Praktische Bedeutung hat die Vorschrift vor allem im Konzern im Zusammenhang mit Vorstands-Doppelmandaten.698) Diese sind grundsätzlich zulässig und in ihrer Wirksamkeit allein von der Einwilligung der Aufsichtsräte beider Gesellschaften abhängig.699) Praxisüblich sind sie vor allem bei Spartenorganisation der Gruppe unter einer gemeinsamen Holdinggesellschaft (Æ Rz. 86 ff.), bei der die Vorstandsvorsitzenden der (Sparten-)Tochtergesellschaften gemeinsam den Konzernvorstand bilden.700) Vorstands-Doppelmandate führen häufig zu Interessenkonflikten, denen betroffene Vorstandsmitglieder mindestens durch Offenlegung gegenüber Aufsichtsrat und Vorstandskollegen und – je nach Intensität des Konflikts – ggf. mit weiteren Maßnahmen begegnen müssen (Æ Rz. 141 ff.). 326 Die nach § 88 Abs. 1 Satz 3 AktG erforderliche Einwilligung des Aufsichtsrats oder eines zuständigen Aufsichtsratsausschusses erfordert die vorherige Zustimmung (§ 183 BGB), die nicht pauschal, sondern nur durch ausdrücklichen Beschluss für ein bestimmtes Geschäft, eine bestimmte Geschäftsart oder eine bestimmte Organtätigkeit etc. erfolgen kann.701) 327 Rechtsfolge bei Verstößen gegen § 88 Abs. 1 AktG ist ein – verschuldensabhängiger – Schadensersatzanspruch der Gesellschaft (§ 88 Abs. 2 Satz 1 AktG), auf den ergänzend §§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG (Æ § 2 Rz. 96, 194 ff.) und § 93 Abs. 4 Satz 3, Abs. 5 AktG sowie §§ 249 ff. BGB Anwendung finden (Æ § 2 Rz. 70 ff.).702) Alternativ hat die Gesellschaft ein – ebenfalls vom Verschulden des Vorstandsmitglieds abhängiges – Eintrittsrecht, d. h. sie darf den erzielten ___________ 696) BGH, Urt. v. 2.4.2001 – II ZR 217/99, ZIP 2001, 958 (959); BGH, Urt. v. 17.2.1997 – II ZR 278/95, ZIP 1997, 1063 (1064). 697) OLG Köln, Beschl. v. 19.10.2018 – 18 W 53/17, ZIP 2019, 1010 (1012). 698) Siehe dazu Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 233 f.; Kort, ZIP 2008, 717 (719). 699) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, ZIP 2009, 1162 (1163), Rz. 14; Koch, § 88 Rz. 4; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 53; Spindler, in: Festschrift K. Schmidt, S. 1529 (1539); Wirth, in: Festschrift Bauer, S. 1147 (1150). 700) Fonk, NZG 2010, 368; Hoffmann-Becking, ZHR 150 (1986), 570; Passarge, NZG 2007, 441; Wirth, in: Festschrift Bauer, S. 1147 (1150). 701) Koch, § 88 Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 88 Rz. 25 f. 702) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 88 Rz. 34; Koch, § 88 Rz. 6.

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D. Organschaftliche Pflichten

Geschäftsgewinn an sich ziehen (§ 88 Abs. 2 Satz 2 AktG). Diese Ansprüche verjähren in drei Monaten ab Kenntnisnahme oder grobfahrlässiger Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände durch alle übrigen Vorstandsmitglieder und Mitglieder des Aufsichtsrats, längstens jedoch nach fünf Jahren seit Anspruchsentstehung (§ 88 Abs. 3 AktG). Das gesetzliche Wettbewerbsverbot gemäß § 88 AktG gilt grundsätzlich nur 328 für die Dauer der Organtätigkeit.703) Nur ausnahmsweise besteht darüber hinaus im Fall einer Abberufung (Æ Rz. 48 und § 3 Rz. 186 ff.) ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot, sofern der Anstellungsvertrag bei der Abberufung nicht gekündigt wurde und die Gesellschaft sich zur Fortzahlung der Bezüge bereit erklärt.704) Insbesondere für die Zeit nach dem Ausscheiden aus der Organstellung sind jedoch vertragliche Vereinbarungen über Wettbewerbsverbote (Æ Rz. 480) verbreitet.705) f)

Offenlegungspflichten

Vorstandsmitglieder sind dem Aufsichtsrat schließlich aufgrund der Treue- 329 pflicht grundsätzlich zu unbedingter Offenheit einschließlich vollständiger Information im Rahmen der Berichterstattung gemäß § 90 AktG (Æ § 3 Rz. 112 ff.) verpflichtet.706) Daraus können sich neben der Pflicht zur Offenlegung von Interessenkonflikten (Æ Rz. 325) auch sonstige Mitteilungspflichten gegenüber dem Aufsichtsrat, z. B. die Information über einen drohenden krankheitsbedingten Verlust der Diensttauglichkeit (jedoch nicht auch über die Diagnose), ergeben.707) Einer Pflicht zur Aufdeckung eigenen pflichtwidrigen Verhaltens unterliegt ein Vorstandsmitglied nach h. M. allerdings nicht (Æ Rz. 299). 3.

Treuebindung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand

Auch die Gesellschaft unterliegt gegenüber den Vorstandsmitgliedern einer 330 Treue- bzw. Fürsorgepflicht.708) Praxisrelevante Ausprägungen dieser Pflicht sind etwa das Erfordernis eines wichtigen Grundes zum Widerruf der Bestellung als ___________ 703) BGH, Urt. v. 11.10.1976 – II ZR 104/75, WM 1977, 194 (GmbH); OLG Düsseldorf, Urt. v. 3.12.1998 – 6 U 151/98, ZIP 1999, 311 (312) (GmbH); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 273; Schmidt/Lutter/Seibt, § 88 Rz. 5; Hölters/Weber/Weber, § 88 Rz. 5. 704) Str. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, AG 2000, 518 (519); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 88 Rz. 6 und 7; MünchKommAktG/Spindler, § 88 Rz. 11; a. A. BeckOGKAktG/Fleischer, § 88 Rz. 10; Koch, § 88 Rz. 2; Großkomm-AktG/Kort, § 88 Rz. 109. 705) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 88 Rz. 42; Koch, § 88 Rz. 10; Kort, ZIP 2008, 717 (718). 706) BGH, Urt. v. 26.3.1956 – II ZR 57/55, BGHZ 20, 239 (246) = NJW 1956, 906; OLG München, Urt. v. 14.3.2012 – 7 U 681/11, AG 2012, 753 (755); KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 108. 707) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 165; Koch, § 84 Rz. 10; Bayer, in: Festschrift Hommelhoff, S. 87 (90 ff.); Fleischer, NZG 2010, 561 (562). 708) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 225; Koch, § 84 Rz. 11.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Vorstand (Æ Rz. 48 und § 3 Rz. 186) oder die Verpflichtung der Gesellschaft zur Erstattung oder Bevorschussung von Rechtsverteidigerkosten oder sonstigen erstattungsfähigen Auslagen des Vorstandsmitglieds (Æ Rz. 488 ff.). Aus dieser Pflicht lässt sich nach h. M. aber keine Rücksichtnahmepflicht der AG zur angemessenen Beschränkung der Rechtsverfolgung von Organhaftungsansprüchen bei fahrlässigen Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern herleiten.709) III.

Verschwiegenheitspflicht

331 Eine besondere Ausprägung der organschaftlichen Treuepflicht (Æ Rz. 308 ff.) ist die für den Vorstand (und nahezu deckungsgleich für den Aufsichtsrat; Æ § 3 Rz. 296 ff.) gesetzlich ausdrücklich normierte allgemeine Verschwiegenheitspflicht.710) Vorstandsmitglieder müssen über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, Stillschweigen bewahren (§ 93 Abs. 1 Satz 3 AktG). Erforderlich und grundsätzlich hinreichend ist Ursächlichkeit der Vorstandsmitgliedschaft für die Informationserlangung; auch privat erlangte Informationen können aber ausnahmsweise im Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) vertraulich zu behandeln sein.711) 332 Die zwingende Verschwiegenheitspflicht kann weder durch Satzung oder Geschäftsordnung (Æ Rz. 7 ff.) noch eine vertragliche Abrede generell abbedungen oder gelockert werden, so dass ein Vorstandsmitglied von ihr nicht im Vorhinein für einen bestimmten Themenbereich generell entbunden werden kann.712) Sie wirkt hinsichtlich der während der Amtszeit erlangten Informationen auch nach Beendigung der Organbestellung fort.713) Durch § 404 AktG erfährt sie außerdem eine strafrechtliche Absicherung (Æ § 21 Rz. 347 ff.).

___________ 709) Ausführlich zum Ganzen Hüffer/Koch, § 93 Rz. 51 f.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 39; Fleischer, ZIP 2014, 1305 ff.; Habersack, ZHR 177 (2013), 782 (801 f.); Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1877 (1878 ff.); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (265 ff.). 710) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 200; Großkomm-AktG-Hopt/Roth, § 93 Rz. 279 ff.; Koch, § 93 Rz. 62; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 129; Wachter/Link, § 93 Rz. 52. 711) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 25; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 114; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 139. 712) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063 (1067), Rz. 34 (Aufsichtsrat); BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (326 f.) = NJW 1975, 1412 (Aufsichtsrat); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 22; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 161. 713) OLG Hamm, Urt. v. 7.11.1984 – 8 U 8/84, GmbHR 1985, 157 (GmbH); Koch, § 93 Rz. 65; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 22; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/ Arnold, § 7 Rz. 74; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 340.

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D. Organschaftliche Pflichten

1.

Geschützte Informationen

Der Verschwiegenheitspflicht unterfallen Geheimnisse, d. h. alle Tatsachen, 333 die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis bekannt sind, die nach dem – geäußerten oder mutmaßlichen – Willen der Gesellschaft geheim gehalten werden sollen und hinsichtlich derer ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse an der Geheimhaltung besteht.714) Maßgeblich für die Beurteilung ist der materielle Bedeutungsgehalt; die Bezeichnung als Geheimnis kann aber indizielle Wirkung haben.715) Beispiele:716) Betriebsgeheimnisse im Sinne technischer Informationen wie Herstellungsverfah- 334 ren, Rezepturen, Forschungsvorhaben etc. und Geschäftsgeheimnisse im Sinne kaufmännischer Informationen wie Geschäftspartner und Kundestamm, (M&A-) Verhandlungen und Verträge, Marketingstrategie, Produktionsvorhaben, Finanzsituation, Kreditverträge, Unternehmens- und Finanzplanung, Personaldaten und wesentliche Personalentscheidungen usw., Verlauf und Ergebnisse von Gremiensitzungen, insbesondere Stimmabgabe etc. Ebenfalls geschützt sind vertrauliche Angaben, d. h. alle Informationen, die 335 das Vorstandsmitglied – nicht notwendig durch eigene Tätigkeit – erlangt hat und hinsichtlich derer ein Interesse der Gesellschaft daran besteht, dass sie nicht weitergegeben werden, auch wenn sie bereits offenkundig und daher kein Geheimnis mehr sind.717) Die Bezeichnung der Information als vertraulich ist nicht erforderlich.718) Beispiele:719) Interna aus den Leitungsgremien wie Meinungsäußerungen, Stellungnahmen und 336 Stimmabgaben in Sitzungen von Vorstand und Aufsichtsrat, Personalangelegenhei___________ 714) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063 (1067), Rz. 34 (Aufsichtsrat); BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12, BGHZ 198, 354 (372 f.) = ZIP 2013, 2454 (2460), Rz. 47; BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (329) = NJW 1975, 1412 (1413) (Aufsichtsrat); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 23. 715) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (329) = NJW 1975, 1412 (1413) (Aufsichtsrat); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 207; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 283. 716) BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12, BGHZ 198, 354 (372 f.) = ZIP 2013, 2454 (2459), Rz. 47; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 206; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 283; Koch, § 93 Rz. 63 f.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 23; Fleischer/ Schmolke, DB 2007, 95 (97). 717) OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (602); OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218 (219); Koch, § 93 Rz. 30; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 24; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 137; Wachter/ Link, § 93 Rz. 54. 718) Koch, § 93 Rz. 64; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 24. 719) OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218 (219); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 286; Koch, § 93 Rz. 64.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

ten, Informationen über Streitigkeiten innerhalb der Gesellschaft und über kontroverse Diskussionen im Vorstand oder Aufsichtsrat. 2.

Umfang der Verschwiegenheit

337 Die Verschwiegenheitspflicht besteht gegenüber allen Personen außer Organmitgliedern der Gesellschaft.720) Sie verbietet damit jede Form der Offenbarung der geschützten Information an Dritte, insbesondere an Arbeitnehmer, den Betriebsrat, andere Organe der Betriebsverfassung, aber auch an Investoren721) bzw. (Mehrheits-)Aktionäre.722) Diesen ist aber in den Grenzen von § 131 AktG im Rahmen der Hauptversammlung Auskunft zu erteilen (Æ Rz. 393). In der Praxis wird dem Informationsbedürfnis von (Groß-)Aktionären zumeist durch den Abschluss gesonderter Vereinbarungen Rechnung getragen, etwa im faktischen Konzern durch sog. Relationship Agreements723) oder im Venture Capital Bereich durch Aufnahme umfassender Informationspflichten in eine unter Beteiligung des Vorstands abgeschlossene Gesellschaftervereinbarung724). Keine Geltung beansprucht die Verschwiegenheitspflicht innerhalb des Vorstands (Æ Rz. 97 und 100) und grundsätzlich auch nicht gegenüber dem Aufsichtsrat, dem der Vorstand zu unbedingter Offenheit verpflichtet ist (Æ Rz. 329).725) 338 Praxishinweis: In besonderen Einzelfällen, wie z. B. bei laufenden Übernahmeoder Fusionsverhandlungen, kann es aber im Unternehmensinteresse geboten sein, den (Gesamt-)Aufsichtsrat nicht unmittelbar, sondern erst zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt einzubeziehen (Æ § 3 Rz. 117).726) 339 Ausnahmen von der Verschwiegenheitspflicht gelten, wo gesetzliche Auskunftsansprüche die Informationsgewährung erfordern. So kann sich der Vorstand etwa nicht gegenüber der Prüfstelle für Rechnungslegung (§ 342b HGB) sowie dem Abschlussprüfer (§ 320 Abs. 2 HGB) auf seine Schweigepflicht berufen.727) Daneben können spezialgesetzliche Informationspflichten, wie z. B. die Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht gemäß Art. 17 MAR (Æ § 10) die Preis___________ 720) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063 (1066), Rz. 32 (Aufsichtsrat). 721) Zur Reichweite der Verschwiegenheitspflicht gegenüber Investoren Fleischer, ZGR 2009, 505 ff. 722) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 26; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 142 f.; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 343. 723) Koch, § 311 Rz. 48c; Schmidt/Lutter/Seibt, § 76 Rz. 47. 724) Weitnauer, in: Münchener Vertragshandbuch WirtschaftsR I, 8. Aufl., 2020, I. 12, Ziffer 15 Anm. 37; Thelen, RNotZ 2020, 121 (130). 725) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 79; Koch, § 93 Rz. 65; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 26; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 116. 726) Vgl. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 1.10.2013 – 5 U 214/12, AG 2014, 373 (375), Rz. 33; Cahn, AG 2014, 525 (531); Rieger/Rothenfußer, NZG 2014, 1012 (1013); kritisch Burgard/ Heiman, NZG 2014, 1294 f. 727) Hüffer/Koch, § 93 Rz. 65; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 209; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 344; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 80.

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D. Organschaftliche Pflichten

gabe bestimmter Informationen erfordern. Besondere Informationspflichten bestehen ferner gegenüber der BaFin (z. B. § 107 Abs. 5 WpHG, § 44 KWG; Æ § 11).728) Schließlich tritt die Verschwiegenheitspflicht im Konzern gegenüber dem konzernleitenden Unternehmen zurück, soweit dies dem Zweck der einheitlichen Leitung des Konzerns dient; eine Pflicht zur Informationserteilung besteht allerdings nur im Vertragskonzern bei Bestehen einer Weisung.729) Die Verschwiegenheitspflicht gilt im Übrigen nicht absolut, sondern immer 340 nur soweit, als das Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) dies erfordert.730) Daher ist eine Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht zulässig, wenn ein spezifisches Offenlegungsinteresse der Gesellschaft besteht, welches das Geheimhaltungsinteresse im Einzelfall überwiegt.731) Darüber kann jedes Vorstandsmitglied in seinem Geschäftsbereich grundsätzlich allein entscheiden und die Entscheidung auch auf nachgelagerte Unternehmensmitarbeiter, wie z. B. Mitarbeiter der Rechtsabteilung, delegieren (Æ Rz. 109 ff.); der Gesamtvorstand muss nur dann entscheiden, wenn das Geheimnis für die Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist.732) Die Hauptversammlung ist nicht zur Entscheidung über die Offenbarung befugt.733) Im Rahmen der vorgenannten Abwägung kann es insbesondere geboten sein, Arbeitnehmer der Gesellschaft oder Kreditgeber in Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse einzuweihen, mit einem Großaktionär oder dem Betriebsrat über geheime Pläne zu sprechen oder sachverständige Berater (Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Investmentbanker) hinzuzuziehen, wobei letztere vertraglich zur Verschwiegenheit zu verpflichten sind, wenn sie nicht schon der beruflichen Verschwiegenheit unterliegen.734) Soweit Geheimhaltungsinteressen Dritter zu beachten sind, können ein vorheriges Freigabeersuchen an diese oder die Schwärzung einzelner Passagen erforderlich sein.735) Praxishinweis: Sofern ein Dokument oder sonstiges Medium Informationen ent- 341 hält, die nach Durchführung der vorgenannten Abwägung nicht offengelegt werden ___________ 728) Hüffer/Koch, § 93 Rz. 68. 729) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 288; Koch, § 93 Rz. 65 und § 311 Rz. 36a ff.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 26; Wachter/Link, § 93 Rz. 58; Fleischer, ZGR 2009, 505 (533 ff.). 730) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063 (1067), Rz. 34 f. (Aufsichtsrat); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 150. 731) BGH, Urt. v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, BGHZ 193, 110 (121) = ZIP 2012, 1291 (1294), Rz. 40 (Aufsichtsrat); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 27; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 310; Wilsing/von der Linden, ZHR 178 (2014), 419 (427). 732) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 211; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 310; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 158; Roschmann/Frey, AG 1996, 449 (452). 733) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, ZIP 2016, 1063 (1067), Rz. 35 (Aufsichtsrat). 734) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 211; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 79; Koch, § 93 Rz. 169; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 27. 735) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 305; Schiffer/Bruß, BB 2012, 847 (849 ff.).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

dürfen, ist stets weiter zu prüfen, ob nicht die Herausgabe einer bearbeiteten bzw. geschwärzten Fassung geboten ist (z. B. für Zwecke von Gerichtsverfahren o. ä.). In einem solchen Fall sollten alle geschützten Einzelangaben in dem jeweiligen Dokument geschwärzt werden, so dass die Angaben nicht mehr erkennbar sind. Die Schwärzungen sollten nur durchgeführt werden, soweit dies mit Blick auf die geschützten Informationen zwingend erforderlich ist, also Wort für Wort und nicht als Schwärzungen ganzer Seiten. Durch ein solches Vorgehen bleiben der Umfang von Abschnitten oder Absätzen sowie sonstige Strukturelemente des maßgeblichen Dokuments erkennbar, so dass die Struktur des Dokuments als Ganzes erhalten bleibt. 342 Die Verschwiegenheit kann für das einzelne Vorstandsmitglied unzumutbar sein, etwa weil es Informationen zur Wahrung der eigenen Rechte offenlegen muss, z. B. zur Verteidigung im Abberufungs- oder Schadensersatzprozess.736) Im Strafprozess haben Vorstandsmitglieder kein Zeugnisverweigerungsrecht; im Zivilprozess ist ein amtierendes Vorstandsmitglied Partei, wohingegen ausgeschiedene Mitglieder das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO haben.737) 3.

Ermöglichung einer Due Diligence-Prüfung

343 Wenn ein überwiegendes Offenlegungsinteresse besteht, können geschützte Informationen auch gegenüber einem Kaufinteressenten der Gesellschaft im Rahmen der bei Unternehmenskäufen durchzuführenden Due Diligence-Prüfung offenbart werden.738) Über die Offenlegung entscheidet der Gesamtvorstand nach pflichtgemäßem Ermessen.739) Maßgeblich für die Entscheidung ist, ob nach den konkreten Umständen des Einzelfalls der Beteiligungserwerb bzw. die Übernahme der Gesellschaft im Unternehmensinteresse (Æ Rz. 23 ff.) liegen (z. B. wegen einer Verbesserung der Kapitalausstattung, dem Zufluss neuen Knowhows, der Erschließung neuer Märkte, der allgemein verbesserten Position gegenüber Wettbewerbern oder aus der Übernahme resultierenden Rationalisierungseffekten)740) und der Abschluss des Geschäfts zwingend eine Due DiligencePrüfung voraussetzt.741) Bei der Abwägung spielen auch die Lage der Gesellschaft (z. B. Vorliegen einer Krise), die Person des möglichen Erwerbers (z. B. unmittelbarer Konkurrent), das Stadium des Veräußerungsprozesses sowie Art ___________ 736) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 210; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 79. 737) OLG Koblenz, Beschl. v. 5.3.1987 – 6 W 38/87, AG 1987, 184; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 80; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 345. 738) H. M. Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 212; Koch, § 93 Rz. 67; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 154; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 347; Seyfarth, § 8 Rz. 54; Banerjea, ZIP 2003, 1730. Ablehnend Lutter, ZIP 1997, 613 (617 f.); Ziemons, AG 1999, 492 (495). 739) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 212; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 304; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 27; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (280, 282). 740) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 166. 741) Koch, § 93 Rz. 67; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 27; Seyfarth, § 8 Rz. 54.

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D. Organschaftliche Pflichten

und Umfang der begehrten Information und deren Bedeutung für die Gesellschaft und das Zustandekommen des Verkaufs eine wesentliche Rolle.742) Nur in besonderen Ausnahmefällen kann sich das Ermessen des Vorstands zu einer Pflicht verdichten, eine Due Diligence zu gestatten (z. B. in der Krise der Gesellschaft), ggf. aber auch dahin, sie zu versagen (z. B. wenn ein Scheitern aus kartellrechtlichen Gründen offenkundig ist oder bei erkennbarer Absicht des Erwerbers, das Unternehmen auszuschlachten oder vom Markt zu nehmen).743) Abreden zur pauschalen Verpflichtung des Vorstands zur Gestattung einer Due Diligence sind vor dem Hintergrund des Abwägungserfordernisses unwirksam.744) Jedenfalls ist für die Informationserteilung ein ernsthaftes Erwerbsinteresse 344 erforderlich, was grundsätzlich den Abschluss eines memorandum of understanding oder eines letter of intent voraussetzt.745) Außerdem ist das Verfahren zur Informationserteilung so auszugestalten, dass die Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft möglichst weitgehend geschützt werden, z. B. durch den Abschluss einer – mit wirksamen Sanktionen versehenen – Vertraulichkeitsvereinbarung (Non Disclosure Agreement), die Schwärzung einzelner Passagen oder die Einschaltung unabhängiger Berater.746) Ebenfalls zum Schutz der Vertraulichkeit sollte die Informationserteilung schrittweise erfolgen und sensible Unternehmensinformationen an den potentiellen Erwerber erst mit Voranschreiten der Vertragsverhandlungen herausgegeben werden.747) Ist der Erwerbsinteressent bereits Aktionär der Zielgesellschaft, verlangen an- 345 dere Aktionäre oftmals in der nächsten Hauptversammlung, aufgrund ihres Nachinformationsanspruchs (§ 131 Abs. 4 Satz 1 AktG) dieselben Informationen wie der Erwerber zu erhalten. Weil die Informationen dem Erwerbsinteressenten aber typischerweise nicht aufgrund seiner Aktionärsstellung, sondern in der Rolle als möglicher Erwerber erteilt werden, besteht ein solcher Anspruch grundsätzlich nicht.748) ___________ 742) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 213; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 85. 743) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 212; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 304; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (280). 744) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 155; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 347. 745) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 304; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (281); Müller, NJW 2000, 3452 (3455). 746) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 213; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 305; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 27; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 137; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 85; Ihrig/Schäfer, § 14 Rz. 347; Schiffer/ Bruß, BB 2012, 847 (849 ff.). 747) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 213; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 27; Ihrig/ Schäfer, § 14 Rz. 347. 748) Koch, § 131 Rz. 71; Seyfarth, § 8 Rz. 55; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (288).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

IV.

Praxisrelevante gesetzliche Einzelpflichten

1.

Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung

346 Die Kapitalaufbringung erfordert nach dem Grundsatz der realen Kapitalaufbringung eine tatsächliche und endgültige Aufbringung des satzungsgemäß festgelegten Grundkapitals749) durch Leistung von Bar- oder Sacheinlagen. Bei der Erbringung von Sacheinlagen sind gesteigerte Anforderungen zu beachten, die sich insbesondere aus §§ 27, 33 Abs. 2 Nr. 4, 33a f., 36 Abs. 2, 36a Abs. 2 und 37a AktG ergeben. Durch Verweis in den §§ 182 ff. AktG finden diese Bestimmungen zum Teil auch bei Sachkapitalerhöhungen Anwendung. Daneben wird die Kapitalaufbringung maßgeblich durch die §§ 54, 56, 63 bis 66 AktG gesichert.750) 347 Im Interesse der Gläubiger soll verhindert werden, dass das aufgebrachte Kapital an die Aktionäre zurückfließt.751) Diesen Grundsatz der Kapitalerhaltung sichert § 57 Abs. 1 AktG;752) daneben bestehen weitere Schutzvorschriften in den §§ 117 Abs. 1 Satz 1, 89, 115, 302, 311 ff., 92 Abs. 1 AktG753). Die Nichteinhaltung der Kapitalerhaltungsvorschriften birgt aufgrund der gegenüber § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG verschärften Haftung des § 93 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 AktG (Æ § 2 Rz. 186 ff.)754) erhöhte Risiken für den Vorstand. 348 Praxishinweis: Verstöße gegen § 57 AktG treten häufig in „versteckten“ Konstellationen auf, in denen die Schranken des Kapitalerhaltungsrechts leicht übersehen werden. Bei jeglichen (unmittelbaren oder mittelbaren) Leistungen der Gesellschaft an ihre Aktionäre ist daher besondere Vorsicht und im Zweifel eine sorgfältige Prüfung anzuraten. a)

Reichweite

349 Obwohl § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG von Einlagen spricht, verbietet der Begriff der Einlagenrückgewähr über die Rückgewähr der vom Aktionär geleisteten Einlagen hinaus grundsätzlich jede Zuwendung der Gesellschaft an Aktionäre, es sei denn, das (Aktien-)Gesetz gewährt einen Anspruch darauf, wie dies etwa bei der Ausschüttung des Bilanzgewinns der Fall ist.755) Erfasst wird neben der ___________ 749) Schmidt/Lutter/Bayer, § 27 Rz. 3; MünchKommAktG/Pentz, § 27 Rz. 5. 750) MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 1. Eingehend Wachter, DStR 2010, 1240. 751) BGH, Urt. v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, ZIP 2012, 1753 (1754); MünchKommAktG/ Bayer, § 57 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rz. 11 f. 752) BeckOGK-AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rz. 11; Koch, § 57 Rz. 1. 753) MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 1. 754) Weitergehend dazu Umnuß/Unger, § 7 Rz. 8. 755) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, NZG 2017, 344 (345); BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 (12); BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, NZG 2008, 106 (107); BGH, Urt. v. 14.5.1992 – II ZR 299/90, NJW 1992, 2821; BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, BGHZ 90, 381 (386); BGH, Urt. v. 11.10.1956 – II ZR 47/55, WM 1957, 61; RG, Urt. v. 20.2.1923 – II 36/22, RGZ 107, 161 (168) (§§ 213 und 215 a. F.).

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D. Organschaftliche Pflichten

Rückgewähr selbst auch schon die Verpflichtung zur Ausschüttung von Gesellschaftsvermögen.756) § 57 Abs. 1 AktG ist zwingend und daher weder vertraglich noch durch Satzung abdingbar.757) b)

Verstoß gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr

Offene Verstöße gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr sind einseitige 350 Leistungen der Gesellschaft an den Aktionär.758) Beispiele hierfür sind etwa Dividendenzahlungen, die ohne wirksamen Jahresabschluss oder Gewinnverwendungsbeschluss erfolgen,759) Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn, die nicht von § 59 AktG gedeckt sind760) oder auf Aktien, aus denen Rechte nicht bestehen oder ruhen761) sowie die Gewährung ungesicherter Darlehen an den Aktionär.762) Auch Kapitalrückzahlungen ohne oder aufgrund eines nichtigen Kapitalherabsetzungsbeschlusses oder unter Verstoß gegen § 225 Abs. 2 AktG763) und geldwerte Leistungen für Aktionäre, sei es anlässlich des Erscheinens zur Hauptversammlung, persönlicher Festtage, für mitgliedschaftliche Treue oder besonderes Engagement764), stellen einen offenen Verstoß dar. Schließlich wird man die im Venture Capital Bereiche praktisch übliche Übernahme von Garantien der Gesellschaft im Rahmen von Kapitalerhöhungen hierher zählen müssen.765) Demgegenüber beruhen verdeckte Verstöße darauf, dass zwar ein Austausch 351 gegenseitiger Leistungen erfolgt, der Leistungsaustausch jedoch nicht zu marktüblichen Bedingungen abgeschlossen wurde.766) Es handelt sich um Umsatzgeschäfte, bei welchen ein objektives Missverhältnis zum Nachteil der Gesell-

___________ 756) RG, Urt. v. 13.12.1935 – II 161/35, RGZ 149, 385 (400) (§§ 213 und 215 a. F.); MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 12; Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 2. 757) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 6; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 58. 758) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 25; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 59. 759) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 26; Heidel/Drinhausen § 57 Rz. 7; Koch, § 57 Rz. 7. 760) RG, Urt. v. 20.2.1923 – II 36/22, RGZ 107, 161 (168) (§§ 213 und 215 a. F.); GroßkommAktG/Henze, § 57 Rz. 28; Heidel/Drinhausen § 57 Rz. 7; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 59. 761) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 30; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 59. 762) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, AG 1995, 512; LG Dortmund, Urt. v. 1.8.2001 – 20 O 143/93, AG 2002, 97 (98 f.); Koch, § 57 Rz. 7. 763) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 32, MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 59. 764) MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 81 (Halte- und Präsenzboni); Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 16 (Präsenzboni); Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 32. 765) Gottschalk/Ulmer, DStR 2021, 1173 (1176 f.); Thelen, RNotZ 2020, 121 (129). 766) BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, NZG 106 (107); Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 35, 41; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 60; KK-AktG/Drygala, § 57 Rz. 37.

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schaft besteht,767) wodurch einer Leistung der Gesellschaft keine gleichwertige Gegenleistung des Aktionärs gegenübersteht.768) 352 Fehlt ein Marktpreis als Vergleichsmaßstab, so ist zu differenzieren: Bei Abgabe von Gegenständen des Anlagevermögens ist der Wiederbeschaffungswert anzusetzen, der sich aus der betrieblichen Kostenrechnung ergibt, bei einem Unternehmenskauf sind die dafür anerkannten Bewertungsmethoden maßgeblich.769) Handelt es sich um Serviceleistungen, kann dem Leistenden auferlegt werden, die Höhe seines Vergütungsanspruches darzulegen; bei Aktien ist der Börsenkurs Richtgröße, bei nicht börsennotierten Aktien ist es der zeitnahe Anschaffungs- oder Abgabepreis.770) 353 Auch die Überlassung zum Selbstkostenpreis verstößt nach wohl überwiegender Auffassung zumindest dann gegen das Gebot des § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG, wenn ein Verkauf am Markt einträglicher gewesen wäre.771) Jedoch ist eine Rechtfertigung im Einzelfall aus betrieblichen Gründen durchaus denkbar, wenn die Gesellschaft das Geschäft unter gleichen Umständen auch mit einem Nichtgesellschafter abgeschlossen hätte.772) 354 Typische Risiken für nicht auf den ersten Blick erkennbare Verstöße bergen insbesondere Austauschverträge zwischen Gesellschaft und Aktionär.773) Allerdings sind im Rahmen eines Austauschverhältnisses erbrachte Leistungen der Aktiengesellschaft an Aktionäre nicht per se unzulässig, sondern vielmehr zulässig, wenn sie anhand des Verhältnisses des Wertes der beiderseitigen Leis___________ 767) BGH, Urt. v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, AG 680 (680 f.); OLG Koblenz, Urt. v. 5.4.2007 – 6 U 342/04, AG 2007, 408 (409); KG, Urt. v. 15.3.1999 – 8 U 4630/98, AG 2000, 183; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.1.1992 – 16 U 120/90, AG 194 (196); GroßkommAktG/Henze, § 57 Rz. 40; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 60 m. w. N. 768) BGH, Urt. v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, AG 2012, 680 (680 f.); BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, NJW 1987, 1194 (1195) (GmbH); MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 60. 769) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 42; Koch, § 57 Rz. 10. 770) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 43 f.; Koch, § 57 Rz. 10. 771) MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 59 (anders für Sonderkonditionen für Aktionäre, Rz. 51); KK-AktG/Drygala, § 57 Rz. 61; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 14; GroßkommAktG/Henze, § 57 Rz. 57. 772) BGH, Urt. v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, NJW 1996, 589 (589 f.) (GmbH); BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, NJW 1987, 1194 (1195) (GmbH); Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 15; Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 41. 773) BGH, Urt. v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, ZIP 2012, 1753 (1754) (Veräußerung eines Geschäftsbereichs an Aktionär unter Wert), BGH, Urt. v. 10.3.1997 – II ZR 339/95, ZIP 1997, 927 (Genossenschaft, Zahlung überhöhter Milchpreise an Mitglieder); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.11.1995 – 6 U 192/91, AG 1996, 324 (325) (Überlassung eines Warenzeichens an Aktionär); BGH, Urt. v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, NJW 1987, 1194 (1195) (GmbH, Errichtung eines Hauses unter Selbstkosten für Gesellschafter); weitere Beispiele bei Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 21 ff.; Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 48; Koch, § 57 Rz. 12.

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D. Organschaftliche Pflichten

tungen marktüblichen Standards entsprechen.774) Dabei können auch anderweitige individuelle Vorteile für die Gesellschaft zu berücksichtigen sein.775) Fehlt es an einem Marktpreis als Vergleichsmaßstab, liegt ein objektives Missverhältnis nicht vor, wenn ein gewissenhaft nach kaufmännischen Grundsätzen handelnder Geschäftsleiter das betreffende Geschäft unter sonst gleichen Umständen zu gleichen Bedingungen auch mit einem Nichtgesellschafter abgeschlossen hätte.776) Praxishinweis: Die wechselseitige Nutzung eines Gegenstands unter Kostentra- 355 gung der AG ist auch dann nicht zwingend zum Nachteil der Gesellschaft, wenn diese von ihrer Nutzungsmöglichkeit effektiv keinen Gebrauch macht. Entscheidend ist, ob eine solche Vereinbarung hypothetisch auch mit einem Dritten getroffen worden wäre. Ferner sind Fälle der Darlehensgewährung erfasst, sofern der Gegenleistungs- 356 bzw. Rückgewähranspruch nicht vollwertig nach § 57 Abs. 1 Satz 3 AktG ist, wobei es darauf ankommt, ob nach vernünftiger kaufmännischer Betrachtung im Zeitpunkt der Besicherung ein Forderungsausfall als unwahrscheinlich anzusehen ist.777) Eine Besicherung des Darlehens ist nicht per se erforderlich,778) eine Verzinsung zumindest bei längerfristigen Darlehen über ein Jahr hingegen schon.779) Beim Cash-Pooling kommt es ebenso auf das Kriterium der Vollwertigkeit an, 357 wobei auch hier eine Verzinsung zumindest bei kurzfristigen Darlehen nicht zwingend ist.780) Für das im Rahmen der Konzernfinanzierung bedeutsame Cash-Pooling ist allerdings § 311 AktG eine Spezialregelung, welcher insbesondere die Pflicht des Vorstands der abhängigen Gesellschaft zur laufenden ___________ 774) BGH, Urt. v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, ZIP 2012, 1753 (1754) (Veräußerung eines Geschäftsbereichs an Aktionär unter Wert); BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, ZIP 2008, 118 (119), Rz. 16; BeckOGK-AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rz. 23; Großkomm-AktG/ Henze, § 57 Rz. 35. 775) Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 41; Koch, § 57 Rz. 10; Johannsen-Roth/Goslar, AG 2007, 573 (580). 776) BGH, Urt. v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, NJW 1996, 589, (590) (GmbH); MünchKommAktG/ Bayer, § 57 Rz. 60; Grigoleit/Grigoleit/Rachlitz, § 57 Rz. 12. 777) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, NZG 2017, 344 (345); BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 (76); KK-AktG/Drygala, § 57 Rz. 68; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 46. 778) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 (76) (Upstream-Darlehen durch AG an Mehrheitsaktionär); MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 164, 162; BeckOGK-AktG/ Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rz. 41; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 48; Drygala/Kremer, ZIP 2007, 1289 (1293) (Cash-Pool). 779) MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 169; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 52; Koch, § 57 Rz. 26; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 82; Drygala/Kremer, ZIP 2007, 1289 (1293) (Cash-Pool). 780) Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 58; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 84; Drygala/ Kremer, ZIP 2007, 1289 (1293); zum faktischen Konzern Altmeppen, NZG 2010, 401 (404).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

Prüfung des Kreditrisikos nicht entfallen lässt; diese ergibt sich weiter aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.781) 358 Auch der – ggf. durch einen Beratervertrag oder Vergleich bemäntelte – Abkauf von Anfechtungsklagen782) und die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos durch die AG bei der Platzierung von Altaktien an der Börse ohne Freistellung durch den Altaktionär783) können einen Verstoß gegen § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG begründen. 359 Sog. Break-Fee-Vereinbarungen im Rahmen von Kaufvertragsverhandlungen bei M&A-Transaktionen stellen hingegen keinen Verstoß dar, solange sie im wohlverstandenen Interesse der Zielgesellschaft liegen oder über eine angemessene Kostenerstattung für den Bieter nicht hinausgehen.784) 360 Bei der – vor allem bei Private Equity Transaktionen anzutreffenden – Zahlung einer sog. Superdividende wird der Jahresüberschuss – etwa durch Auflösung von Gewinnrücklagen (z. B. im Wege kombinierter Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und Kapitalherabsetzung), die Aufdeckung stiller Reserven in Tochtergesellschaften etc. – und damit auch der ausschüttungsfähige Bilanzgewinn erhöht. Dies ist vorbehaltlich der Beachtung allgemeiner Schranken (z. B. § 150 AktG, § 93 AktG) grundsätzlich zulässig und verstößt nicht per se gegen § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG. Im Rahmen des Anspruchs des Aktionärs auf den Bilanzgewinn kommt es nicht auf die Herkunft der Mittel an (Dividendenautonomie der Aktionäre); allerdings droht dem Vorstand dort eine Haftung, wo für Investitionen benötigtes Kapital zur Ausschüttung freigegeben oder die Existenz der Gesellschaft gefährdet wird.785) 361 § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG erfasst auch Tatbestände unter Einbeziehung Dritter. Erfasst sind Leistungen durch Dritte, etwa das Handeln eines Aktionärs für Rechnung der Gesellschaft oder Leistungen durch ein abhängiges oder in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen.786) Auch für Leistungen an Dritte zuguns___________ 781) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 77; MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 179 f.; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 58. 782) BGH, Urt. v. 14.5.1992 – II ZR 299/90, NJW 1992, 2821 (2822); Großkomm-AktG/ Henze, § 57 Rz. 70 f.; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 68; Schmidt/Lutter/ Fleischer, § 57 Rz. 23; Koch, § 57 Rz. 13; Ehmann/Walden, NZG 2013, 806 (807). Zur Möglichkeit der Rechtfertigung siehe Rz. 249 f. 783) BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 (12 f.); allg. zur Haftungsfreistellung bei der Platzierung von Aktien siehe Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 24 f.; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 66; Koch, § 57 Rz. 15. 784) Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 28; Banerjea, DB 2003, 1489 (1493); Fleischer, AG 2009, 345 (351 f.); Sieger/Hasselbach, BB 2000, 625 (629). 785) Habersack, in: Festschrift K. Schmidt, S. 523 (541, 532). 786) OLG Hamburg, Urt. v. 23.5.1980 – 11 U 117/79, AG 1980, 275 (278) (Handeln für Rechnung der Gesellschaft); KK-AktG/Drygala, § 57 Rz. 120 f.; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 30; Koch, § 57 Rz. 17; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 70.

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D. Organschaftliche Pflichten

ten eines Aktionärs kann § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG gelten.787) Es genügt die Aktionärsstellung zum Zeitpunkt der Zusage der Leistung ebenso wie eine künftige Aktionärsstellung;788) hierbei greift die Vermutung, dass die Leistung mit Rücksicht auf die Aktionärsstellung erfolgte.789) Bei der Besicherung eines Kredits zugunsten des Aktionärs ist die Vollwertig- 362 keit des Freistellungsanspruchs gegen den Aktionär maßgeblich, wobei es für die Beurteilung des Zeitpunkts einer möglichen Einlagenrückgewähr auf die Bestellung der dinglichen Sicherheit und nicht auf deren Verwertung ankommt.790) Praxishinweis: Relevanz erlangt diese Frage insbesondere im Rahmen von Akqui- 363 sitionsfinanzierungen für die dort erfolgende Bestellung von Sicherheiten der Gesellschaft zur Besicherung von Verbindlichkeiten des Aktionärs.791) Ferner gilt das Verbot der Einlagenrückgewähr auch für den wirtschaftlich be- 364 trachtet als Aktionär anzusehenden faktischen Aktionär,792) die auf Rechnung oder Risiko der AG erfolgende Leistung unter Dritten793) und sonstige, dem Aktionär zurechenbare Leistungen an Dritte.794) c)

Ausnahmen

Der (nach § 71a AktG zulässige) Erwerb eigener Aktien stellt grundsätzlich 365 eine Einlagerückgewähr dar, wird aber durch § 57 Abs. 1 Satz 2 AktG aus___________ 787) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, AG 2017, 233 (234 f.); BGH, Urt. v. 11.10.1956 – II ZR 47/55, WM 1957, 61; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 31; Koch, § 57 Rz. 18; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 71. 788) BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, NZG 2008, 106 (künftige Aktionärsstellung); BGH, Urt. v. 24.3.1954 – II ZR 23/53, BGHZ 13, 49 (54) (GmbH) (Gesellschafterstellung zum Zeitpunkt der Zusage); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 30.11.1995 – 6 U 192/91, AG 1996, 324 (325) (Aktionärsstellung zum Zeitpunkt der Zusage); OLG Hamburg, Urt. v. 23.5.1980 – 11 U 117/79, AG 1980, 275 (278 f.) (Aktionärsstellung zum Zeitpunkt der Abrede, wobei ausdrücklich offengelassen wird, ob § 57 Abs. 1 AktG Satz 1 AktG auch eingreifen würde bei Beteiligungsveräußerung vor Einlagenrückgewähr); GroßkommAktG/Henze, § 57 Rz. 80. 789) BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, NZG 2008, 106 (künftige Aktionärsstellung); MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 113; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 71; a. A. bezüglich ausgeschiedenem Aktionär BeckOGK-AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rz. 57 f.; KK-AktG/Drygala, § 57 Rz. 119. 790) BGH, Urt. v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, NZG 2017, 344 (345) (Besicherung eines Darlehensrückzahlungsanspruches des Sicherungsnehmers gegen den Aktionär); BGH, Urt. v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, NZG 2017, 658 (659) (GmbH). 791) Siehe hierzu für die GmbH Meyer, Die Besicherung der Akquisitionsfinanzierung beim Leveraged Buy-out einer GmbH, 2010. 792) BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, NZG 2008, 106; Fallgruppen bei MünchKommAktG/ Bayer, § 57 Rz. 115 ff.; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 31; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 71. 793) Heidel/Drinhausen § 57 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 32. 794) MünchKommAktG/Bayer, § 57 Rz. 120 ff.; Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 88; Koch, § 57 Rz. 19; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 73.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

nahmsweise gestattet. Die Zahlung eines unangemessenen Preises stellt hingegen wiederum einen Verstoß gegen das Verbot aus Satz 1 dar.795) Im Zuge der ordentlichen Kapitalherabsetzung ist, anders als bei der vereinfachten Kapitalherabsetzung, unter Wahrung der §§ 222 ff. AktG die Einlagenrückgewähr zulässig.796) Schließlich besteht bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags nach § 57 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 AktG ebenfalls eine Ausnahme vom Rückzahlungsverbot des § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG. d)

Rechtsfolgen und Haftungsrisiken bei Verstoß

366 Im Falle eines Verstoßes gegen § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG ist weder das Verpflichtungs- noch das Erfüllungsgeschäft nichtig; stattdessen hat eine Rückabwicklung gemäß § 62 AktG zu erfolgen.797) Diesen Anspruch muss der Vorstand durchsetzen.798) Ein gegen § 57 AktG verstoßender Hauptversammlungsbeschluss ist nichtig gemäß § 241 Nr. 3 AktG.799) Auch kann sich der Vorstand in diesem Fall der Haftung nach § 93 Abs. 3 Nr. 1, 2, 5 AktG aussetzen.800) 2.

Überwachung und Risikomanagement

367 Wesentliche Teilbereiche der Leitungsaufgaben des Vorstands (Æ Rz. 16 ff.) heben § 91 Abs. 2 AktG mit der Verpflichtung zur Einrichtung eines Früherkennungs- und Überwachungssystems und § 91 Abs. 3 AktG mit der Pflicht börsennotierter Unternehmen zur Einrichtung eines internen Kontrollsystems (Æ § 18) und Risikomanagementsystems (Æ § 17) hervor. Beide Aufgaben fallen in die Gesamtverantwortung des Vorstands (Æ Rz. 91).801) ___________ 795) Heidel/Drinhausen § 57 Rz. 31; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 57 Rz. 34; Großkomm-AktG/ Henze, § 57 Rz. 65; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 74. 796) Heidel/Drinhausen § 57 Rz. 35; Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 185; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 75. 797) BGH, Urt. v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 (315); BGH, Urt. v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, BGHZ 136, 125 (129) (GmbH); BeckOGK-AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rz. 89; Heidel/Drinhausen § 57 Rz. 53; Nodoushani NZG 2013, 687; Wilsing/Meyer, EWiR 2013, 297 f. Zur Haftung des Aktionärs/Dritter MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 101. 798) KK-AktG/Drygala, § 62 Rz. 94; Schmidt/Lutter/Fleischer, § 62 Rz. 19; Koch, § 62 Rz. 15; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 101. 799) BGH, Urt. v. 26.6.2012 – II ZR 30/11, ZIP 2012, 1753 (1754 f.); Großkomm-AktG/ Henze, § 57 Rz. 202; MünchKommAktG/Hüffer/Schäfer, § 241 Rz. 55; MünchHdb GesR IV/ Rieckers, § 16 Rz. 102. 800) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263 (1265 ff.); Schmidt/Lutter/ Fleischer, § 57 Rz. 76; Großkomm-AktG/Henze, § 57 Rz. 226; Koch, § 57 Rz. 32; MünchHdb GesR IV/Rieckers, § 16 Rz. 103. 801) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 1. Ebenso zu § 91 Abs. 2 AktG LG Berlin, Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, AG 2002, 682 (684); Großkomm-AktG/Kort § 91 Rz. 54; Koch, § 91 Rz. 4; Küting/Weber/Weiss/Heiden, § 91 AktG Rz. 62.

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D. Organschaftliche Pflichten

a)

Früherkennungs- und Überwachungssystem (§ 91 Abs. 2 AktG)

§ 91 Abs. 2 AktG dient der Insolvenz- und Krisenprophylaxe.802) Unternehmen 368 müssen danach ein zweistufiges System einrichten, ein Früherkennungssystem zur Erkennung existenzgefährdender Entwicklungen sowie ein – diesem nachgeschaltetes – Überwachungssystem zur Überprüfung von dessen Funktionsfähigkeit.803) Das Früherkennungssystem soll Einzelrisiken systematisch und dauerhaft er- 369 fassen, welche – für sich genommen, kumuliert oder in Wechselwirkung tretend – eine Bestandsgefährdung darstellen.804) Die Pflicht besteht nicht darin, Risikozustände als solche zu erkennen, sondern die sich aus ihrer Veränderung ergebenden, für das Unternehmen schadhaften Entwicklungen.805) Dabei wird der Begriff der bestandsgefährdenden Entwicklungen unterschiedlich beurteilt: Weit gefasst bezieht er sich auf alle Risiken, welche die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft beeinträchtigen; nach wohl h. M. meint er bloß solche, welche die Insolvenzgefahr erheblich steigern oder hervorrufen.806) Die Risikoerkennung muss früh erfolgen, also dem Vorstand die Möglichkeit 370 zum rechtzeitigen Handeln eröffnen.807) Die Einrichtung eines umfassenden Risikomanagement-Systems wird dabei von § 91 Abs. 2 AktG nicht vorausgesetzt.808) Ausreichend ist die Schaffung einer Unternehmensorganisation, die nach Erfahrung eines gewissenhaften Geschäftsleiters aus einer ex-ante Betrachtung sicherstellt, dass bestandsgefährdende Risiken rechtzeitig erkannt und abgewendet werden können.809) Unter Berücksichtigung der Risikosituation, Größe und Branchenzugehörigkeit des Unternehmens kommt dem Vorstand hierbei hinsichtlich der konkreten Auswahl der Überwachungsmittel ein weiter Ermessensspielraum (Æ Rz. 227) zu.810) ___________ 802) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 30; Küting/Weber/Weiss/Heiden, § 91 AktG Rz. 62; mit Beispielen Großkomm-AktG/Kort § 91 Rz. 21. 803) VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03[1], WM 2004, 2157 (2160 f.) (Versicherungsverein); LG Berlin, Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, AG 2002, 682 (683); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 37; Koch, § 91 Rz. 6 ff.; Drygala/Drygala, ZIP 2000, 297 (299). 804) Koch, § 91 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 21; Heidel/Oltmanns, § 91 Rz. 7. 805) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 32; Koch, § 91 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 91 Rz. 8. 806) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 33; Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 36; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 91 Rz. 9; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 23; wohl auch Koch, § 91 Rz. 7; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 21 ff. 807) Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 44; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 91 Rz. 11; KKAktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 24; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 27. 808) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Arnold, § 7 Rz. 56; Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 10; Seyfarth, § 8 Rz. 119. 809) Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 11. 810) Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 47; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 91 Rz. 12; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 91 Rz. 25; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 23, 28.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

371 Das Überwachungssystem des § 91 Abs. 2 AktG soll nach h. M. die Einhaltung der Früherkennungsmaßnahmen, nicht aber eine Identifikation bestandsgefährdender Entwicklungen sicherstellen; insbesondere besteht keine Pflicht zur Einrichtung eines allumfassenden Risikomanagements.811) Jedoch trifft den Vorstand die Pflicht zur Schaffung eines Berichtswesens (Æ Rz. 259), insbesondere bedarf es einer Abteilung Controlling sowie einer internen Revision, welche den Vorstand rechtzeitig unterrichten.812) Früherkennungs- und Überwachungssystem sind personell zu trennen und die gewonnenen Erkenntnisse zu dokumentieren.813) Die praktische Relevanz insbesondere der Dokumentationspflicht zeigt sich daran, dass nach umstrittener Auffassung bei Nichteinhaltung der Hauptversammlungsbeschluss zur Entlastung des Vorstands anfechtbar sein kann.814) 372 Bei börsennotierten Gesellschaften ist die Einrichtung eines Früherkennungsund Überwachungssystems Bestandteil der Prüfung (§ 317 Abs. 4 HGB). 373 Ob die obengenannten Pflichten den Vorstand auch im Konzern treffen, ist noch nicht geklärt. Zum Teil wird von einer Pflicht zur Einrichtung eines konzernweiten Früherkennungssystems ausgegangen, zum Teil wird dies abgelehnt.815) Ebenfalls denkbar ist ein differenzierendes abgestuftes Konzept, wonach der Vorstand der Obergesellschaft dazu verpflichtet ist, seinen Einfluss auf die Untergesellschaft diesbezüglich in dem Umfang wahrzunehmen, in welchem es dem Pflichtenmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters entspricht; die sich nach der Art des Konzerns (Vertragskonzern oder faktischer Konzern; Æ § 7) richtende Einwirkungsmöglichkeit bestimmt dann den Umfang der Vorstandpflicht.816) b)

Internes Kontroll- und Risikomanagementsystem (§ 91 Abs. 3 AktG)

374 Während § 91 Abs. 2 AktG lediglich die Einrichtung eines Früherkennungssystems hinsichtlich bestandsgefährdender Risiken regelt, geht § 91 Abs. 3 AktG darüber hinaus und verpflichtet zur Einrichtung eines umfassenden internen ___________ 811) OLG Celle, Urt. v. 28.5.2008 – 9 U184/07, AG 2008, 711 (712); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 91 Rz. 35; Koch, § 91 Rz. 10 f.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 91 Rz. 13 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 26 (abweichend zum Begriff der Überwachung als Umsetzungskontrolle); Drygala/Drygala, ZIP 2000, 297 (299). 812) Koch, § 91 Rz. 13; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 91 Rz. 13; MünchKommAktG/ Spindler, § 91 Rz. 50 f. 813) LG München I, Urt. v. 5.4.2007 – 5 HKO 15964/06, AG 2007, 417 (418); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 91 Rz. 36; Koch, § 91 Rz. 13. 814) LG München I, Urt. v. 5.4.2007 – 5 HKO 15964/06, AG 2007, 417 (418); krit. dazu Theusinger/Liese, NZG 2008, 289. 815) Streitstand bei BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 82. 816) MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 81.

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D. Organschaftliche Pflichten

Kontrollsystems (Æ § 18) und Risikomanagementsystems (Æ § 17).817) § 91 Abs. 3 AktG gilt nur für börsennotierte Gesellschaften, Vorstände nichtbörsennotierter Unternehmen können aber kraft ihrer allgemeinen Organisationsverantwortung gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG (Æ Rz. 257) zur Einrichtung entsprechender Systeme verpflichtet sein.818) Das interne Kontroll- und Risikomanagementsystem muss so ausgestaltet sein, dass es im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessen und wirksam ist, was wiederum maßgeblich von Art, Umfang, Komplexität und Risikogehalt der Geschäftstätigkeit abhängt.819) Schließlich erschöpft sich das Pflichtenprogramm nach § 91 Abs. 3 AktG nicht in der einmaligen Einrichtung eines internen Kontroll- und Risikomanagementsystems, es erfordert auch dessen regelmäßige und anlassbezogene Fortentwicklung, Überwachung und Kontrolle.820) c)

Haftungsrisiken

Für den Vorstand folgt aus einer Verletzung seiner in die Verantwortung des 375 Gesamtvorstands fallenden Pflichten aus § 91 Abs. 2 AktG eine gesamtschuldnerische Haftung (Æ § 2 Rz. 2 ff., 145 ff.).821) Ferner kann die Verletzung dieser Pflichten bis hin zur Abberufung und Kündigung führen (Æ § 3 Rz. 186 ff. und 202 ff.).822) Eine Haftung des Vorstands Dritten gegenüber kommt auch im Hinblick auf §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB sowie § 826 BGB in Betracht, sofern unrichtige Risikomanagementunterlagen verwendet werden und der Dritte dadurch zu einer Vermögensdisposition veranlasst wird.823) 3.

Statusverfahren

Bei mitbestimmten Gesellschaften muss der Vorstand dafür sorgen, dass der 376 Aufsichtsrat jederzeit nach den für ihn maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften ___________ 817) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 50. 818) Begründung Regierungsentwurf FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 115; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 91 Rz. 52; Hopt/Kumpan, AG 2021, 129 (131). 819) Hopt/Kumpan, AG 2021, 129 (131). Einzelheiten zur Ausgestaltung unter §§ 17 und 18 sowie bei JIG/Ghassemi-Tabar, Grds. 4 Rz. 25 ff. und 40 ff.; Fischer/Schuck, NZG 2021, 534 (538 f.). 820) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 59. 821) VG Frankfurt/M., Urt. v. 8.7.2004 – 1 E 7363/03 (1), AG 2005, 264 (265); LG Berlin Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, AG 2002, 682 (683); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 47 und 61; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 27. 822) LG Berlin Urt. v. 3.7.2002 – 2 O 358/01, AG 2002, 682 (683 f.) (aus formalen Gründen aufgehoben durch KG, Urt. v. 27.9.2004 – 2 U 191/02, NZG 2004, 1165); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 47 und 61; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 27; Preußner/ Zimmermann, AG 2002, 657 (658 f.). 823) Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 86; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 29; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 78.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

zusammengesetzt ist. Dies gilt insbesondere, wenn sich der mitbestimmungsrechtliche Status der Gesellschaft ändert, namentlich bei dem Wechsel in ein (anderes) Mitbestimmungsregime sowie bei Schwellenänderungen innerhalb desselben Regimes (§ 7 MitbestG).824) Mit dem Statusverfahren (§§ 96– 98 AktG) sieht das AktG ein Verfahren vor, durch das der Vorstand auf relevante Veränderungen der Zusammensetzung des Aufsichtsrats reagieren und auf eine gesetzmäßige Zusammensetzung hinwirken kann.825) 377 Das Verfahren vollzieht sich im Wesentlichen in zwei Stufen. In einem ersten Schritt hat der Vorstand nach § 97 Abs. 1 Satz 1 AktG unverzüglich eine Bekanntmachung in den Gesellschaftsblättern, und damit in jedem Fall im Bundesanzeiger (§ 25 AktG), zu veröffentlichen, die sowohl den Hinweis auf eine (vermeintliche) unrichtige Zusammensetzung als auch die nach Ansicht des Vorstands richtige neue Zusammensetzung einschließlich der hierfür maßgeblichen Vorschriften enthalten muss. Diese Bekanntmachung hat außerdem durch Aushang in sämtlichen inländischen Betrieben der Gesellschaft zur Unterrichtung der Betriebsräte und Arbeitnehmer zu erfolgen. Sofern nicht innerhalb eines Monats nach der Bekanntmachung von einem der Antragsberechtigten (§ 98 Abs. 2 AktG) das zuständige Landgericht (§ 98 Abs. 1 AktG) angerufen wird, ist der neue Aufsichtsrat nach den in der Bekanntmachung des Vorstands angegebenen gesetzlichen Vorschriften zusammenzusetzen (§ 97 Abs. 2). 4.

Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung

378 Von großer praktischer Bedeutung sind die Aufgaben des Vorstands im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung (Æ § 5).826) 379 Praxishinweis: Vor allem für große börsennotierte Gesellschaften ist die Hauptversammlung eine der wichtigsten Veranstaltungen des Jahres. Sie dient nicht nur dazu, wesentliche Entscheidungen z. B. zu Ergebnisverwendungen, Zusammensetzung des Aufsichtsrats oder Strukturmaßnahmen der Gesellschaft zu beschließen. Vor allem für Aktionäre und die Öffentlichkeit bietet die Hauptversammlung vielmehr eine wichtige Plattform zum Austausch über und zur Kritik an der Unternehmensführung der Verwaltung. Hinzu kommt eine zunehmende Professionalisierung der Aktionäre. Sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Durchführung von Hauptversammlungen sind daher besonders hohe Sorgfaltsanforderungen anzulegen. Häufig wird zudem die Unterstützung der internen Rechtsabteilung (Æ Rz. 117) und ggf. auch die Hinzuziehung externer Sachverständiger (z. B. von HV-Dienstleistern, Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern etc.; Æ Rz. 122) unerlässlich sein. ___________ 824) MünchKommAktG/Annuß, § 7 MitbestG Rz. 4; Grigoleit/Tomasic, § 97 Rz. 3 f. 825) Siehe dazu Koch, § 97 Rz. 1 ff.; Ihrig/Schäfer, § 26 Rz. 940 ff.; Schnitker/Grau, NZG 2007, 486 ff. 826) Dazu eingehend Fleischer/Pentz, § 17; Ihrig/Schäfer, §§ 28 – 30.

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D. Organschaftliche Pflichten

a)

Aufgaben der Hauptversammlung

Nach § 119 Abs. 1 AktG beschließt die Hauptversammlung in den im Gesetz 380 und in der Satzung ausdrücklich bestimmten Fällen. Zu den gesetzlich bestimmten Fällen zählen insbesondere Beschlussfassungen über die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 AktG), die Verwendung des Bilanzgewinns (§§ 119 Abs. 1 Nr. 2, 174 AktG), die Entlastung von Vorstandsund Aufsichtsratsmitgliedern für das abgelaufene Geschäftsjahr (§§ 119 Abs. 1 Nr. 3, 120 AktG), die Abschlussprüferbestellung (§§ 119 Abs. 1 Nr. 4, 318 Abs. 1 Satz 1 HGB), Änderungen der Satzung (§§ 119 Abs. 1 Nr. 5, 179 AktG; Æ Rz. 7 ff.), die Vornahme von Kapitalerhöhungen und -herabsetzungen (§§ 119 Abs. 1 Nr. 6, 182 ff. AktG), die Bestellung von (Sonder-)Prüfern (§§ 119 Abs. 1 Nr. 7, 142 Abs. 1 AktG) sowie die Auflösung der Gesellschaft (§§ 119 Abs. 1 Nr. 8, 262 ff. AktG). Ferner ist die Hauptversammlung zur Zustimmung zu Verzicht und Vergleich über Organhaftungsansprüche (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG), zu Gesamtvermögensgeschäften (§ 179a AktG), zu Unternehmensverträgen (§ 293 Abs. 1 Satz 1 AktG), zu Verschmelzung, Formwechsel oder anderen Maßnahmen nach dem UmwG (z. B. §§ 13, 125, 193 UmwG) sowie zur Beschlussfassung über einen Ausschluss von Minderheitsaktionären nach § 327a Abs. 1 AktG oder § 62 Abs. 5 UmwG zuständig. Zu denken ist ferner an die Fälle einer möglichen ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit kraft der von der Rechtsprechung entwickelten Holzmüller- bzw. Gelatine-Doktrin (Æ Rz. 169 ff.). Während der Vorstand in den vorgenannten Fällen zwingend für eine Befassung 381 der Hauptversammlung sorgen muss, kann er der Hauptversammlung darüber hinaus freiwillig bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen zur Entscheidung vorlegen (§ 119 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 167). Zudem kann er die Hauptversammlung anrufen, um die Ersatzzustimmung für Maßnahmen zu erlangen, deren Zustimmung der Aufsichtsrat verweigert (§ 111 Abs. 4 Satz 3 AktG; Æ Rz. 163). b)

Vorstandspflichten bei der Vorbereitung der Hauptversammlung

Auf Verlangen der Hauptversammlung ist der Vorstand verpflichtet, die in 382 Rz. 380 genannten, in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallenden Maßnahmen und Verträge vorzubereiten, die nur mit Zustimmung der Hauptversammlung wirksam werden (§ 83 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AktG). Der Vorstand ist zudem grundsätzlich für die Einberufung der Hauptversamm- 383 lung zuständig (§ 121 Abs. 2 Satz 1 AktG). Weil es sich um eine Leitungsentscheidung (Æ Rz. 16) handelt, ist eine Beschlussfassung des Gesamtvorstands (Æ Rz. 125) erforderlich.827) ___________ 827) Hölters/Weber/Drinhausen, § 121 Rz. 14; Koch, § 121 Rz. 6.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

384 Praxishinweis: In der Praxis wird die Einberufungsunterlage einschließlich etwaiger von der Hauptversammlung zu beschließender Verträge (§ 124 Abs. 2 Satz 3 AktG) sowie der Beschlussvorschläge des Vorstands (§ 124 Abs. 3 AktG) zumeist von Mitarbeitern der Rechtsabteilung (Æ Rz. 117) – ggf. mit Unterstützung externer Berater (Æ Rz. 122) – vorbereitet und deren Veröffentlichung dann abschließend von Vorstand und Aufsichtsrat beschlossen. Eine durchgehende Einbindung des Vorstands ist hingegen nicht zwingend erforderlich. 385 Die Einberufung hat in den durch Gesetz oder Satzung bestimmten Fällen sowie dann zu erfolgen, wenn das Wohl der Gesellschaft828) es erfordert (§ 121 Abs. 1 AktG). Bei Vorliegen solcher Einberufungsgründe besteht eine Pflicht des Vorstands zur unverzüglichen (§ 121 BGB) Einberufung.829) Wichtigster Einberufungsgrund und Grundlage für die jährlich stattfindende ordentliche Hauptversammlung ist § 175 Abs. 1 Satz 1 AktG. Danach ist die Hauptversammlung vom Vorstand unverzüglich nach Eingang des Berichts des Aufsichtsrats (Æ § 3 Rz. 244) über die Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht (Æ Rz. 402 ff.) innerhalb der ersten acht Monate des Geschäftsjahres einzuberufen (§ 175 Abs. 1 Satz 1 AktG). Ferner muss der Vorstand bei Verlust der Hälfte des Grundkapitals (§ 92 Abs. 1 AktG) und – praktisch von größerer Bedeutung – im Fall des entsprechenden Verlangens einer qualifizierten Aktionärsminderheit (§ 122 Abs. 1 AktG) die Hauptversammlung einberufen. Auch wenn eine der unter Rz. 380 genannten sonstigen Maßnahmen, die in die alleinige Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, ansteht, muss eine Einberufung erfolgen.830) 386 Ausnahmsweise können auch andere Personen für die Einberufung zuständig sein (§ 121 Abs. 2 Satz 3 AktG). Von praktischer Bedeutung sind insbesondere das Recht des Aufsichtsrats zur Einberufung einer Hauptversammlung, wenn das Wohl der Gesellschaft dies verlangt (§ 111 Abs. 3 AktG; Æ § 3 Rz. 165 f.), sowie das Einberufungsrecht eines gerichtlich hierzu ermächtigten Aktionärs (§ 122 Abs. 3 AktG). 387 Sofern der Vorstand die Hauptversammlung einberufen hat, ist er auch für eine etwaige Rücknahme der Einberufung zuständig, selbst wenn die Einberufung auf das Verlangen einer Aktionärsminderheit gemäß § 122 Abs. 1 AktG zurückzuführen war.831) 388 Im Zusammenhang mit der Einberufung sind grundsätzlich die strengen Formund Fristvorschriften sowie die Bekanntmachungspflichten gemäß §§ 121 ff. AktG zu beachten. Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise bei Vollversammlungen, in denen alle Aktionäre erschienen sind (§ 121 Abs. 6 AktG). ___________ 828) 829) 830) 831)

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Siehe dazu Koch, § 121 Rz. 5; Schmidt/Lutter/Ziemons, § 121 Rz. 12 ff.; Butzke, Rz. 38 ff. Grigoleit/Herrler, § 121 Rz. 3; BeckOGK-AktG/Rieckers, § 121 Rz. 5. Koch, § 121 Rz. 3. BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, ZIP 2015, 2069.

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D. Organschaftliche Pflichten

Praxishinweis: Diese Ausnahme ist vor allem für nicht börsennotierte Gesellschaften 389 mit einem kleinen Aktionärskreis und damit besonders für Familiengesellschaften sowie in Konzernkonstellationen bei einhundertprozentigen Tochtergesellschaften relevant. c)

Vorstandspflichten bei der Durchführung der Hauptversammlung

Die (amtierenden) Mitglieder des Vorstands sollen gemäß § 118 Abs. 3 AktG 390 an der Hauptversammlung teilnehmen. Erforderlich ist eine höchstpersönliche Teilnahme, weshalb keine Stellvertretung möglich ist.832) Das soll gewährleisten, dass der Vorstand als Gesamtorgan seiner Auskunftspflicht (§§ 131, 176 I 1 AktG; Æ Rz. 391) gerecht wird.833) Eine Ausnahme von der Teilnahmepflicht besteht nur bei wichtigen Hinderungsgründen, insbesondere bei krankheitsbedingter Verhinderung.834) Eine Verletzung der Teilnahmepflicht hat wegen des Charakters von § 118 Abs. 3 AktG als „Sollvorschrift“ jedoch keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der gefassten Beschlüsse und führt insbesondere nicht zur Anfechtbarkeit der Beschlüsse i. S. v. § 243 Abs. 1 AktG.835) Ausnahmsweise kann das Fehlen eines Vorstandsmitglieds aber das Auskunftsrecht der Aktionäre betreffen und damit auch mittelbar zur Beschlussanfechtung aufgrund einer Verletzung der Aktionärsrechte führen, wenn aufgrund des Fehlens eine erforderliche Auskunft nicht erteilt werden kann.836) Die Leitung der eigentlichen Hauptversammlung obliegt nicht dem Vorstand, 391 sondern dem Versammlungsleiter. Dies ist zumeist aufgrund entsprechender Satzungsregelungen der Aufsichtsratsvorsitzende der Gesellschaft. Die wichtigste Aufgabe des Vorstands im Rahmen der Hauptversammlung besteht hingegen in der Auskunftserteilung an die Aktionäre. Zum einen muss der Vorstand der Hauptversammlung nach § 176 Abs. 1 AktG 392 die „in § 175 Abs. 2 AktG genannten Vorlagen“ durch mündlichen Vortrag erläutern. Daraus hat sich die übliche Praxis entwickelt, dass der Vorstandsvorsitzende zu Beginn jeder Hauptversammlung im Rahmen einer allgemeinen Erläuterung zum abgelaufenen Geschäftsjahr neben ggf. weiteren aktuellen Entwicklungen jedenfalls den festgestellten (Konzern-)Jahresabschluss sowie den (Konzern-)Lagebericht erläutert. Im Rahmen der sich zumeist anschließenden Generaldebatte hat der Vorstand 393 sodann jedem Aktionär Auskunft zu den Angelegenheiten der Gesellschaft zu erteilen, jedoch nur, soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands ___________ 832) 833) 834) 835)

Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 41. Großkomm-AktG/Mülbert, § 118 Rz. 29. Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 41; Unmuth, NZG 2020, 448 (449). BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 118 Rz. 30 f.; Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 44; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 1. 836) MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rz. 103; Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 44.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

der Tagesordnung erforderlich ist (§ 131 Abs. 1 Satz 1 AktG).837) Die Einschränkung des Auskunftsrechts durch das Erforderlichkeitskriterium ist europarechtskonform und stellt für die Praxis ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung eines stringenten Versammlungsablaufs dar.838) Dem Vorstand obliegt es ferner zu entscheiden, ob ein Grund zur Auskunftsverweigerung nach § 131 Abs. 3 AktG vorliegt.839) Sowohl Auskunftserteilung als auch Auskunftsverweigerung sind einfache Geschäftsführungsaufgaben.840) Es ist also anhand der konkreten Geschäftsverteilung der Gesellschaft zu bestimmen, ob der Gesamtvorstand oder ein ressortverantwortliches Vorstandsmitglied hierfür zuständig ist (Æ Rz. 124 ff.). 394 Praxishinweis: Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Kompetenzzuweisung zur Auskunftserteilung durch den Vorstand sind die – praktisch üblichen – Auskünfte durch den Versammlungsleiter bzw. Aufsichtsratsvorsitzenden, insbesondere zu Fragen betreffend die Aufsichtsratstätigkeit, rechtlich nicht ohne Weiteres mit § 131 AktG in Einklang zu bringen. Üblicherweise wird in diesen Fällen davon ausgegangen, dass sich der Vorstand die Bekundungen – mindestens konkludent – als seine Auskunft zu eigen macht oder der Aufsichtsratsvorsitzende Auskunftsperson des Vorstands ist.841) 395 In der Hauptversammlung hat der Vorstand auch etwaige Nachinformationsansprüche von Aktionären zu erfüllen, die sich ergeben, wenn einzelnen Aktionären wegen ihrer Eigenschaft als Aktionär eine Auskunft außerhalb der Hauptversammlung erteilt wurde (§ 131 Abs. 4 AktG). 396 Praxishinweis: Entsprechende Nachinformationsansprüche können vor allem entstehen, wenn einzelnen Aktionären im Rahmen von Investorengesprächen bestimmte, nicht öffentliche Informationen über die Gesellschaft erteilt werden. Hingegen begründet die Erteilung von Informationen an einen Erwerbsinteressenten im Rahmen der Due Diligence grundsätzlich keinen Nachinformationsanspruch der übrigen Aktionäre, weil die Informationserteilung hier aufgrund der Stellung als potentieller Erwerber und nicht wegen der Eigenschaft des Informationsempfängers als Aktionär erteilt wird (Æ Rz. 345).842)

___________ 837) Eingehend zum Kriterium der Erforderlichkeit OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 29.12.2020 – 5 U 231/19 (Revision anhängig unter Az. II ZR 6/21), ZIP 2021, 901 (902 ff.); OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 7.10.2019 – 20 U 2/18, NZG 2020, 309 (310 f.), Rz. 31 ff. 838) BGH, Beschl. v. 5.11.2013 – II ZB 28/12, ZIP 2013, 2454 (2454 f.), Rz. 20 f.; Koch, § 131 Rz. 21; Wilsing/Meyer, KSzW 2014, 85 ff. 839) Dazu Hölters/Weber/Drinhausen, § 131 Rz. 29 ff.; Koch, § 131 Rz. 54 ff.; Schmidt/Lutter/ Spindler, § 131 Rz. 70 ff. 840) Hölters/Weber/Drinhausen, § 131 Rz. 6; Koch, § 131 Rz. 8. 841) Butzke, Rz. 28 ff. 842) Koch, § 131 Rz. 71; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (288); Kocher, Der Konzern 2008, 611 (614 f.).

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D. Organschaftliche Pflichten

d)

Vorstandspflichten im Nachgang zur Hauptversammlung

Über die Hauptversammlung und die darin gefassten Beschlüsse ist grundsätzlich 397 eine Niederschrift aufzunehmen, deren Inhalt sich nach § 130 Abs. 2 AktG bestimmt. Während im Grundsatz nach § 130 Abs. 1 Satz 1 AktG eine notarielle Niederschrift erforderlich ist, genügt bei nicht börsennotierten Gesellschaften gemäß § 130 Abs. 1 Satz 3 AktG eine vom Aufsichtsratsvorsitzenden unterzeichnete Niederschrift, solange keine Beschlüsse gefasst werden, für die das Gesetz eine Dreiviertel- oder größere Mehrheit vorsieht (insbesondere Satzungsänderungen). Unverzüglich nach der Hauptversammlung muss der Vorstand (Æ Rz. 186) eine öffentlich beglaubigte bzw. eine vom Aufsichtsratsvorsitzenden unterzeichnete Niederschrift nebst Anlagen zum Handelsregister einreichen. Die von der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse muss der Vorstand aus- 398 führen (§ 83 Abs. 2 AktG). Wichtigste praktische Anwendungsfälle sind Handelsregisteranmeldungen von Beschlüssen, z. B. zu Satzungsänderungen, Kapitalmaßnahmen, Unternehmensverträgen oder einem Ausschluss von Minderheitsaktionären, sowie der Abschluss von Verträgen, zu denen die Hauptversammlung ihre Zustimmung erteilt hat.843) Zu den weiteren Aufgaben des Vorstands im Nachgang zur Hauptversammlung 399 gehört insbesondere die Vertretung der Gesellschaft (Æ Rz. 180 ff.) im Rahmen von Auskunfts- und Beschlussmängelklagen. Während der Vorstand bei Auskunftsklagen von Aktionären gemäß § 132 AktG allein zur Vertretung befugt ist, wird die Gesellschaft bei Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen von Aktionären gemäß §§ 246 Abs. 2 Satz 2, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG durch Vorstand und Aufsichtsrat vertreten (Æ Rz. 199). Umgekehrt ist der Vorstand nach § 245 Nr. 4 AktG berechtigt – jedoch allenfalls ausnahmsweise844) verpflichtet – anfechtbare Beschlüsse der Hauptversammlung anzufechten. Auch zur Erhebung der Nichtigkeitsklage ist der Vorstand gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG berechtigt. 5.

Buchführung und Rechnungslegung

Den Vorstand trifft nicht nur aus § 91 Abs. 1 AktG, sondern schon aufgrund der 400 Kaufmannseigenschaft der AG die Buchführungspflicht der §§ 238 ff. HGB.845) a)

Rechnungslegung

Die Buchführungspflicht ist Leitungsaufgabe des Vorstands (Æ Rz. 16 f.) und 401 fällt damit in dessen Gesamtverantwortung.846) Während eine Befreiung von ___________ 843) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 83 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Seibt, § 83 Rz. 11. 844) Siehe dazu KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 68. 845) Großkomm-AktG/Kort § 91 Rz. 4; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 4; MünchHdb GesR IV/Kraft, § 25 Rz. 128. 846) BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, BGH NJW 1986, 54 (55) (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 91 Rz. 5; Koch, § 91 Rz. 2 f.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

dieser Pflicht nicht in Betracht kommt,847) ist neben der Delegation an nachgeordnete Unternehmensebenen bzw. externe Hilfspersonen (Æ Rz. 109 ff. und 121 f.)848) insbesondere eine Delegation im Wege der organinternen Geschäftsverteilung (Æ Rz. 80 ff.), zumeist auf das Ressort Finanzen, üblich.849) Wegen des Charakters als Leitungsaufgabe ist allerdings nur eine Delegation zur Vorbereitung (Æ Rz. 93 und 117 ff.) möglich. Zudem bleibt jedes Vorstandsmitglied aufgrund seiner Gesamtverantwortung für die Rechnungslegung zur sachgerechten Auswahl und Überwachung des Ressortverantwortlichen verpflichtet (Æ Rz. 96 und 102 ff.).850) 402 Die Pflicht zur Buchführung und Unternehmensleitung zieht die Pflicht zur Aufstellung des Jahresabschlusses (§ 242 Abs. 3, 264 Abs. 1 HGB) sowie des Lageberichts (§ 289 HGB) nach sich (vgl. § 170 Abs. 1 Satz 1 AktG).851) Wirkt der Gesamtvorstand bei der Aufstellung des Jahresabschlusses nicht ordnungsgemäß mit, d. h. fehlt es insbesondere an einem Gesamtvorstandsbeschluss unter Beteiligung aller Vorstandsmitglieder, hat dies die Nichtigkeit des Jahresabschlusses zur Folge (§ 256 Abs. 2 AktG). 403 Praxishinweis: Die Mitwirkung jedes einzelnen Vorstandsmitglieds an der Erstellung des Jahresabschlusses ist nur in schwerwiegenden Fällen verzichtbar,852) etwa aufgrund längerer Erkrankung.853) Entsprechend dem Stimmverbot bei Interessenund Pflichtenkollisionen wird – etwa im Zusammenhang mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen das betreffende Vorstandsmitglied – allenfalls ein schwerwiegender und tiefgreifender Interessenkonflikt (Æ Rz. 141 ff.) die Mitwirkung ausschließen. Fehlt es daran, besteht die Mitwirkungspflicht des Vorstandsmitglieds fort. 404 Im Rahmen von Beschlüssen über die Aufstellung des Jahresabschlusses kommt dem Vorstand Ermessen (Æ Rz. 227) insoweit zu, als er z. B. bilanzpolitische Ermessensentscheidungen treffen oder in den Grenzen von §§ 150 ff. AktG die Ausschüttungs- oder Thesaurierungspolitik der Gesellschaft bestimmt.854) 405 Der aus Bilanz (§ 266 HGB, §§ 150, 152 AktG) und GuV (§ 275 HGB, § 158 AktG) bestehende Jahresabschluss ist um einen Anhang zu erweitern (§ 264 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 160 AktG). Ferner muss der Vorstand einen Lagebericht ___________ 847) MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 4; Küting/Weber/Weiss/Heiden, § 91 AktG Rz. 24; Fleischer, WM 2006, 2021. 848) Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 13; Ihrig/Schäfer, § 23 Rz. 612. 849) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 13; Küting/Weber/Weiss/Heiden, § 91 AktG Rz. 25. 850) BGH, Urt. v. 26.6.1995 – II ZR 109/94, ZIP 1995, 1334 (1335) (GmbH); Koch, § 91 Rz. 3; Küting/Weber/Weiss/Heiden, § 91 AktG Rz. 25. 851) MünchKommAktG/Hennrichs/Pöschke, § 172 Rz. 20; MünchHdb GesR IV/Kraft, § 25 Rz. 128 ff. 852) OLG Karlsruhe, Urt. v. 21.11.1986 – 15 U 78/84, WM 1987, 533 (536). 853) MünchKommAktG/Koch, § 256 Rz. 35; BeckOGK-AktG/Jansen, § 256 Rz. 49. 854) Koch, § 171 Rz. 7 f.

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D. Organschaftliche Pflichten

(§§ 289, 289a HGB) erstellen; allein kleine Kapitalgesellschaften (§ 267 Abs. 1 HGB) sind hiervon nach § 264 Abs. 1 Satz 4 HGB befreit. Praxishinweis: Wenngleich dies gesetzlich nicht mehr zwingend vorgesehen ist, fas- 406 sen Unternehmen Jahresabschluss, Anhang und Lagebericht sowie zahlreiche weitere Informationen i. d. R. im Rahmen eines Geschäftsberichts zusammen, um für ihre Aktionäre sämtliche relevanten Informationen übersichtlich und verständlich aufzubereiten.855) Der Jahresabschluss ist in den ersten drei Monaten des neuen Geschäftsjahres 407 für das vergangene Geschäftsjahr aufzustellen (§ 264 Abs. 1 Satz 3 HGB). Maßgeblich für die Wahrung der Frist ist bei prüfungspflichtigen AGs (§ 316 Abs. 1 Satz 1 HGB) die Übergabe an den Abschlussprüfer, bei anderen Gesellschaften die Übergabe an den Aufsichtsrat.856) Eine Ausnahme gilt wiederum für kleine Gesellschaften (§ 264 Abs. 1 Satz 4 HGB – sechs Monate) sowie für Konzernabschlüsse (§ 290 Abs. 1 Sätze 1 und 2 HGB – fünf bzw. vier Monate). Den durch Beschluss des Gesamtvorstands aufgestellten Jahresabschluss muss 408 der Vorstand dem Aufsichtsrat vorlegen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 AktG). Zugleich muss der Vorstand dem Aufsichtsrat einen Gewinnverwendungsvorschlag vorlegen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 AktG). Übermittlung zu Händen des Aufsichtsratsvorsitzenden oder des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses ist ausreichend.857) Die Vorlage ist zudem einfache Geschäftsführungsmaßnahme und kann daher vom zuständigen Vorstandsmitglied allein vorgenommen werden.858) Dem Aufsichtsrat obliegt sodann die Billigung des Jahresabschlusses (§ 172 Satz 1 AktG). Mit der Billigung ist der Jahresabschluss festgestellt und verbindlich; Änderungen können noch bis zur Einberufung der Hauptversammlung vorgenommen werden, danach nur noch ausnahmsweise.859) Alternativ können Vorstand und Aufsichtsrat beschließen, die Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptversammlung zu überlassen, was praktisch aber die Ausnahme ist. Eine Verletzung der Vorlagepflicht durch den Vorstand kann nicht nur die 409 Festsetzung eines Zwangsgeldes nach § 407 Abs. 1 i. V. m. § 170 Abs. 1 AktG, sondern auch eine Schadensersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft und unter Umständen sogar eine Abberufung nach sich ziehen.860)

___________ 855) 856) 857) 858) 859) 860)

Vgl. Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Schwieters, § 10 Rz. 190 ff.; Ihrig/Schäfer, § 24 Rz. 687. Staub/Meyer, § 264 Rz. 8; Ihrig/Schäfer, § 23 Rz. 614. Koch, § 170 Rz. 4. Koch, § 170 Rz. 3; Ihrig/Schäfer, § 23 Rz. 616. Koch, § 172 Rz. 10; Müller, in: Festschrift Quack, S. 359 (363). MünchKommAktG/Hennrichs/Pöschke, § 170 Rz. 36; Koch, § 170 Rz. 3; Heidel/Oltmanns, § 91 Rz. 5.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

410 Verletzt der Vorstand seine Buchführungspflicht, führt dies im Verhältnis zur Gesellschaft zur Haftung nach § 93 Abs. 2 AktG.861) Dritten gegenüber haftet der Vorstand für unrichtige Angaben in Bilanz, Jahresabschluss, Lagebericht, Konzernabschluss und Konzernlagebericht nach §§ 823 Abs. 2 i. V. m. 331 Nr. 1 und 2, 334 HGB und 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, bei fehlerhaftem Bilanzeid nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 331 Nr. 3a, 264 Abs. 2 Satz 3 HGB sowie für fehlerhafte Regelpublizität nach § 826 BGB.862) Auch eine Haftung nach § 311 BGB kommt bei einem auf Offenlegung der fehlerhaften Bücher aufbauendem Vertrauen in Betracht.863) Eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 91 AktG trifft den Vorstand jedoch mangels drittschützenden Charakters der Vorschrift nicht.864) Zu den strafrechtlichen Konsequenzen der Verletzung von Buchführungspflichten siehe § 21 Rz. 155. 411 Der Jahresabschluss ist nach der Feststellung durch alle Vorstandsmitglieder zu unterzeichnen (§§ 245 Satz 1, 264 Abs. 1 Satz 1 HGB). Verpflichtend ist außerdem die Leistung des sog. „Bilanzeides“, der sich ähnlich für den Lagebericht (§ 289 Abs. 1 Satz 5 HGB), den Konzernabschluss (§ 297 Abs. 2 Satz 4 HGB), sowie den Konzernlagebericht (§ 315 Abs. 1 Satz 6 HGB) wiederfindet. 412 Im Falle einer Pflicht zur Prüfung nach §§ 316 Abs. 1 Satz 1, 267 Abs. 1 HGB beauftragt der Aufsichtsrat den von der Hauptversammlung bestellten (Æ Rz. 380) Abschlussprüfer. Allerdings ist weiterhin der Vorstand gesetzlicher Vertreter i. S. d. § 320 HGB, sodass er zuständig ist für die Vorlage von Jahresabschluss, Lagebericht und gesondertem nichtfinanziellen Bericht (Æ Rz. 427 ff.).865) 413 Im Verhältnis zur Hauptversammlung besteht eine Vorlagepflicht bzgl. der in § 175 Abs. 2 benannten Dokumente, u. a. des Jahresabschlusses (§ 176 Abs. 1 Satz 1 AktG). Haben Vorstand und Aufsichtstrat dies beschlossen, obliegt ausnahmsweise auch die Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptversammlung (§ 173 Abs. 1 AktG).

___________ 861) BGH, Urt. v. 14.11.2005 – II ZR 178/03, BGHZ 165, 85 (92) (GmbH); BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 24; Fleischer, WM 2006, 2021 (2025). 862) BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, BGHZ 160, 134 (140 f.); BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, BGHZ 149, 10 (20) (beide zu § 400 AktG); LG Bonn, Urt. v. 15.5.2001 – 11 O 181/00, AG 2001, 484 (486) (zu §§ 331, 400 HGB); MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 1; Fleischer, WM 2006, 2021 (2027) (beide zu § 331 HGB); MünchKommAktG/ Spindler, § 91 Rz. 13 (zu § 826 BGB); umfassend BeckOGK-AktG/Fleischer, AktG § 91 Rz. 25. 863) Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 91 Rz. 11 f.; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 13. 864) Großkomm-AktG/Kort, § 91 Rz. 80; Heidel/Oltmanns, § 91 Rz. 5; MünchKommAktG/ Spindler, § 91 Rz. 12; Küting/Weber/Weiss/Heiden, § 91 AktG Rz. 43; MünchHdb GesR IV/Kraft, § 25 Rz. 128; a. A. Schnorr, ZHR 170 (2006), 9. Offengelassen von BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366 (378 f.) (GmbH). 865) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 90; Ihrig/Schäfer, § 23 Rz. 625.

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D. Organschaftliche Pflichten

Darüber hinaus trifft den Vorstand eine Aufbewahrungspflicht, welche zum 414 einen die in § 238 Abs. 2 HGB, zum anderen die in § 257 Abs. 1 HGB genannten Unterlagen, einschließlich der Jahresabschlüsse und Lageberichte, erfasst.866) b)

Publizitätspflicht

Gemäß § 325 HGB sind Jahresabschluss und Lagebericht mitsamt Bestäti- 415 gungs- oder Versagungsvermerk zwecks Veröffentlichung elektronisch dem Bundesanzeiger zu übermitteln. Die zu veröffentlichenden Unterlagen umfassen ferner den Bericht des Aufsichtsrats (Æ § 3 Rz. 248) sowie die Erklärung zum DCGK nach § 161 AktG (Æ Rz. 417 ff.). Für kleine Kapitalgesellschaften gelten die Erleichterungen des § 326 HGB. Die Zuwiderhandlung der Vorschriften über Offenlegungspflichten stellt 416 eine Ordnungswidrigkeit nach § 334 Abs. 1 Nr. 5 HGB dar. Haftungsrechtliche Risiken für den Vorstand bergen indes die zum Teil als drittschützend eingestuften Offenlegungsvorschriften i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB.867) 6.

Pflicht zur Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG

a)

Inhalt

Gemäß § 161 Abs. 1 AktG erklären Vorstand und Aufsichtsrat einer börsenno- 417 tierten Gesellschaft jährlich, dass den Empfehlungen der Regierungskommission DCGK entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht. Gleiches gilt nach § 161 Abs. 1 Satz 2 AktG auch für einen Freiverkehrsemittenten, sofern er zugleich an einem organisierten Markt andere Wertpapiere, die nicht Aktien sind, emittiert hat.868) Die Entsprechenserklärung muss daher sowohl eine vergangenheitsbezogene als auch eine zukunftsbezogene Komponente hinsichtlich der Beachtung der Empfehlungen enthalten.869) Die Entsprechenserklärung ist von Vorstand und Aufsichtsrat gemeinsam oder 418 aufgrund getrennter Beschlüsse abzugeben. Nach dem sog. „Comply or explain-Prinzip“ ist im Rahmen der Erklärung entweder pauschal anzugeben, dass die Empfehlungen des DCGK in der Vergangenheit eingehalten wurden, oder es ist zu berichten, inwieweit und mit welcher konkreten Begründung von Regelungen des DCGK abgewichen wurde. ___________ 866) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 21; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 11; MünchHdb GesR IV/Kraft, § 25 Rz. 126. 867) Ihrig/Schäfer, § 23 Rz. 630; Jansen, DStR 1999, 1490 (1496 f.); a. A. Staub/Kersting, § 325 Rz. 113 m. w. N. 868) Begründung Regierungsentwurf BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, S. 104; Koch, § 161 Rz. 6b; Kuthe/Geiser, NZG 2008, 172 f. 869) Koch, § 161 Rz. 20; KK-AktG/Lutter, § 161 Rz. 29; Henssler/Strohn/Vetter, § 161 AktG Rz. 9; Vetter, DNotZ 2003, 748 (755).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

419 Praxishinweis: Die praktische Relevanz des DCGK ist beträchtlich, weil der Kapitalmarkt der (Nicht-)Befolgung des DCGK eine hohe Bedeutung beimisst und Unternehmen oftmals einen regelrechten „Rechtfertigungsdruck“ verspüren, wenn sie von den Regeln „guter Unternehmensführung“ abweichen. Im Ergebnis sollte allerdings stets abgewogen werden, ob eine bestimmte Regelung für das konkrete Unternehmen sinnvoll ist, und erforderlichenfalls mit hinreichender Begründung eine Abweichung vom DCGK erklärt werden. b)

Rechtsfolgen bei Verstößen gegen § 161 AktG

420 Eine Innenhaftung des Vorstands nach §§ 93 Abs. 2 AktG (Æ § 2 Rz. 2 ff.) wird allenfalls bei unmittelbaren Verstößen gegen die Pflicht zur Abgabe der Entsprechenserklärung aus § 161 AktG selbst in Betracht kommen.870) Verstöße gegen den Inhalt der DCGK-Empfehlungen können hingegen bereits mangels Rechtsqualität des DCGK keine Pflichtverletzung begründen.871) Allein wenn der Inhalt einer Empfehlung zugleich durch Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag zur verbindlichen Verpflichtung der Organmitglieder wurde, kann aus einem Verstoß gegen die Empfehlung eine Innenhaftung resultieren.872) 421 Gemäß § 334 Abs. 1 Nr. 1d, Nr. 2f HGB kann eine Missachtung von § 161 AktG eine Ordnungswidrigkeit darstellen, sofern die Angabe im Jahres- bzw. Konzernabschluss fehlt, dass die Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG abgegeben und öffentlich zugänglich gemacht wurde. 422 Ferner kann sich eine Strafbarkeit aus § 331 Nr. 1 HGB ergeben, da die Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG nach § 289a Abs. 2 Nr. 1 HGB Teil der Erklärung zur Unternehmensführung (Æ Rz. 425) im Lagebericht der Gesellschaft (Æ Rz. 405) ist. Unter diesen Tatbestand sollen etwa unrichtige Entsprechenserklärungen fallen, die nicht aktualisiert werden, wobei das bedingte Vorsatzerfordernis zu beachten ist. 423 Eine fehlende oder unrichtige Entsprechenserklärung kann zur Anfechtbarkeit der Entlastungsbeschlüsse führen, wobei der Anfechtungsgrund allein im Verstoß gegen die Erklärungspflicht, nicht aber in der Nichtbeachtung einzelner Kodex-Empfehlungen selbst liegt.873)

___________ 870) BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 161 Rz. 145 – konkret bei Pflicht zur Abgabe, Richtigkeit, Rechtzeitigkeit, Begründung und Publizität. 871) Zutreffend Hüffer/Koch, § 161 Rz. 26 f.; Bachmann, WM 2002, 2137 (2138); Berg/ Stöcker, WM 2002, 1569 (1575 ff.); Ettinger/Grützediek, AG 2003, 353 (354 f.); Theusinger/ Liese, DB 2008, 1419 (1420); siehe auch BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 161 Rz. 147. 872) MünchKommAktG/Goette, § 161 Rz. 99; Bürgers/Körber/Lieder/Hemeling, § 161 Rz. 46, 49; Schmidt/Lutter/Spindler, § 161 Rz. 68. 873) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11, NJW 2012, 3235 (3237), Rz. 25 ff.; Koch, § 161 Rz. 31 unter Verweis auf die fehlende Normqualität der Empfehlungen.

168

Illert/Meyer

D. Organschaftliche Pflichten

7.

Pflicht zur Erstattung des Vergütungsberichts nach § 162 AktG

Gemäß § 285 Nr. 9 lit. a) HGB sind im Anhang zum Jahresabschluss (Æ 424 Rz. 402) Angaben zu den Gesamtbezügen aller amtierenden Vorstandsmitglieder anzugeben. Bei börsennotierten Gesellschaften haben Vorstand und Aufsichtsrat gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 AktG außerdem jährlich einen „klaren und verständlichen“ Vergütungsbericht mit dem Inhalt gemäß §§ 162 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AktG zu erstellen.874) In ihm müssen u. a. zwingend alle im letzten Jahr jedem gegenwärtigen und früheren Mitglied des Vorstands und des Aufsichtsrats von der Gesellschaft bzw. konzernverbundenen Unternehmen gewährten und geschuldeten875) Vergütungen individualisiert offen gelegt werden, und zwar aufgeschlüsselt in erfolgsunabhängige und erfolgsbezogene Komponenten sowie solche mit langfristiger Anreizwirkung. Wie beim Vergütungssystem (Æ § 3 Rz. 217) beschließt die Hauptversammlung der börsennotierten Gesellschaft auch hier grds. über die Billigung des Vergütungsberichts (§ 120a Abs. 4 AktG). 8.

Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289f HGB

Der Vorstand börsennotierter Gesellschaften muss eine Erklärung zur Unter- 425 nehmensführung abgeben, die i. d. R. Teil des Lageberichts (Æ Rz. 402) ist (§ 289f Abs. 1 HGB). In diese Erklärung sind neben der Entsprechenserklärung gemäß § 161 AktG (Æ Rz. 417 ff.) auch relevante Angaben zu Unternehmensführungspraktiken und der Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat (§ 289 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB) sowie bei börsennotierten AGs die Festlegungen nach § 76 Abs. 4 und § 111 Abs. 5 AktG (Æ Rz. 41) aufzunehmen.876) Nach Grds. 23 DCGK berichten Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter 426 Unternehmen außerdem jährlich in der Erklärung zur Unternehmensführung über die Corporate Governance der Gesellschaft. Mit dem Bericht sollen die Aktionäre Auskunft über die Corporate Governance Praxis des Unternehmens erhalten. Dies betrifft hinsichtlich der internen Leitungsstrukturen Angaben zu Funktionszuweisungen der Organe und deren Arbeitsabläufe und hinsichtlich des Verhältnisses der AG zu Aktionären und Dritten insbesondere Angaben dazu, wie deren Interessen beachtet werden.877)

___________ 874) Dazu allg. Koch, § 162 Rz. 1 ff.; Arnold/Hofer/Dolde, AG 2021, 813 ff.; Rimmelspacher/ Roland, WPg 2020, 201 ff.; Orth/Oser/Philippsen/Sultana, DB 2019, 2814 ff. 875) Zu der – besonders für variable Vergütungsbestandteile streitigen und praktisch uneinheitlich gehandhabten – Auslegung dieses Begriffs vgl. BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 162 Rz. 48 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 162 Rz. 17 einerseits und Grigoleit/ Rachlitz, § 162 Rz. 33 f.; Arnold/Hofer/Dolde, AG 2021, 813 (816) andererseits. 876) Zum Ganzen Kocher, DStR 2010, 1034 ff.; Kuthe/Geiser, NZG 2008, 172 ff. 877) Ihrig/Schäfer, § 24 Rz. 691.

Illert/Meyer

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

9.

Nichtfinanzielle Erklärung nach §§ 289b, 289c HGB

a)

Anwendungsbereich

427 Große kapitalmarktorientierte Unternehmen, Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen (§§ 289b Abs. 1, 340a Abs. 1a, 341a Abs. 1a HGB) sind seit dem Geschäftsjahr 2017 verpflichtet, eine nichtfinanzielle Erklärung zu veröffentlichen.878) Konkret unterfallen gemäß § 289b Abs. 1 HGB bestimmte Kapitalgesellschaften der Pflicht zur Erweiterung des Lageberichts um eine nichtfinanzielle Erklärung, wenn folgende Merkmale erfüllt sind:879) 1) Eine Kapitalgesellschaft erfüllt die Voraussetzungen des § 267 Abs. 3 Satz 1 HGB und stellt damit eine „große Kapitalgesellschaft“ dar. Hierbei müssen zwei der drei genannten Schwellenwerte an zwei aufeinanderfolgenden Bilanzstichtagen überschritten werden. Dies betrifft eine Bilanzsumme von 20 Mio. €, Umsatzerlöse von 40 Mio. € sowie die Beschäftigung von mehr als 500 Arbeitnehmern im Jahresdurchschnitt. 2) Die Kapitalgesellschaft hat im Jahresdurchschnitt mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigt (unabhängig von § 267 Abs. 3 Satz 1 HGB). 3) Die Kapitalgesellschaft ist kapitalmarktorientiert gemäß § 264d HGB. 428 Vom Anwendungsbereich erfasst werden somit grundsätzlich auch haftungsbeschränkte Personengesellschaften sowie Genossenschaften.880) 429 Tochterunternehmen sind von der Pflicht zur Erstellung einer nichtfinanziellen Erklärung dann befreit, wenn sie selbst nach § 264 Abs. 3 HGB keinen Lagebericht aufstellen, als Tochterunternehmen in den Konzernlagebericht eines Mutterunternehmens mit Sitz in einem EU- oder EWR-Staat einbezogen sind und dieser Konzernlagebericht eine nichtfinanzielle Konzernerklärung enthält.881) b)

Inhalt der CSR-Pflichten

430 In § 289c HGB werden die gesetzlichen Inhalte der nichtfinanziellen Berichterstattung normiert. Demnach ist zum einen nach Abs. 1 das Geschäftsmodell der Kapitalgesellschaft kurz zu beschreiben. Zum anderen sind in Abs. 2 die als bedeutsam angesehenen Belange aufgelistet, zu denen verpflichtend Stellung bezogen werden muss. Hierzu zählen die Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelange, Angaben zur Achtung der Menschenrechte und zur Bekämpfung ___________ 878) Lanfermann, BB 2017, 747; Velte, IRZ 2017, 325. Vgl. außerdem Illert/Schneider, DB 2021, Beil. Nr. 2 zu Heft 20, 27; Schmidt/Strenger, NZG 2019, 481 zu ersten empirischen Untersuchungen betreffend die Qualität der nichtfinanziellen Erklärung. 879) Zur Übersicht des Anwendungsbereichs Meeh-Bunse/Hermeling/Schomaker, DStR 2017, 1127; siehe auch Mock, ZIP 2017, 1195 (1197). 880) Lanfermann, BB 2017, 747; Mock, ZIP 2017, 1195 (1197). 881) Kajüter, IRZ 2016, 507 (508); Lanfermann, BB 2017, 747.

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D. Organschaftliche Pflichten

von Korruption sowie Bestechung. Nähere diesbezügliche Ausgestaltungshinweise sind in § 289c Abs. 3 HGB enthalten. Sofern eine Kapitalgesellschaft in Bezug auf einen oder mehrere der genannten 431 Aspekte kein Konzept verfolgen sollte, hat sie dies gemäß § 289c Abs. 4 HGB anstelle der auf den jeweiligen Aspekt bezogenen Angaben in der nichtfinanziellen Erklärung klar und begründet zu erläutern. Grundsätzlich sind drei verschiedene Umsetzungsformen der Berichterstat- 432 tung möglich. Konkret können: 1) die nichtfinanziellen Angaben an verschiedenen Stellen innerhalb des (Konzern-)Lageberichts integriert werden, 2) eine komprimierte Angabe der nichtfinanziellen Angaben in einem separaten Abschnitt des Lageberichts erfolgen, oder 3) ein gesonderter nichtfinanzieller Bericht erstellt und veröffentlicht werden (auf der Homepage spätestens vier Monate nach dem Abschlussstichtag und mindestens für zehn Jahre).882) c)

Adressaten der Pflichten

Die Pflicht zur Abgabe der CSR-Berichterstattung obliegt dem Vorstand als 433 gesetzlichem Vertreter der AG. Daneben wird in § 171 AktG eine besondere Prüfungspflicht des Aufsichts- 434 rats normiert.883) Hiernach ist der Aufsichtsrat zum einen dazu verpflichtet sicherzustellen, dass den gesetzlichen CSR-Berichtspflichten entsprochen wird.884) Zum anderen wird aber zutreffend auch eine materielle Prüfung der CSR-Berichterstattung angeraten, wobei der Aufsichtsrat hierbei Unterstützung durch den Abschlussprüfer hinzuziehen kann.885) Eine Pflicht zur Hinzuziehung externen Rats besteht hingegen ausdrücklich nicht, vielmehr liegt eine solche im Ermessen des jeweiligen Unternehmens.886) d)

Rechtsfolgen bei Verstößen gegen CSR-Berichtspflichten

Verstöße gegen die CSR-Berichtspflichten können empfindliche Rechtsfolgen 435 haben. So wird gemäß § 331 Nr. 2 HGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder 436 mit Geldstrafe bestraft, wer als Mitglied des vertretungsberechtigten Organs oder des Aufsichtsrats einer Kapitalgesellschaft die Verhältnisse des Konzerns ___________ 882) 883) 884) 885) 886)

Zu den Formen Kajüter, IRZ 2016, 507 (509); Lanfermann, BB 2017, 747 (748). Nietsch, NZG 2016, 1330 (1333); Lanfermann, BB 2017, 747. Nietsch, NZG 2016, 1330 (1335). Lanfermann, BB 2017, 747 (749) mit Verweis auf Koch, § 171 Rz. 5. Lanfermann, BB 2017, 747 (749 f.).

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171

§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

im Konzernabschluss, im Konzernlagebericht einschließlich der nichtfinanziellen Konzernerklärung, im gesonderten nichtfinanziellen Konzernbericht oder im Konzernzwischenabschluss nach § 340i Abs. 4 HGB unrichtig wiedergibt oder verschleiert. 437 Daneben drohen den gesetzlichen Vertretern des Mutterunternehmens Bußgelder bei Verstößen gegen die Erstellungs- und Offenlegungspflicht einer nichtfinanziellen Konzernerklärung bzw. bei fehlerhaften gesonderten nichtfinanziellen Konzernberichten. Der Bußgeldrahmen für kapitalmarktorientierte Unternehmen wurde im Zuge des CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes deutlich verschärft. Nunmehr können gemäß § 334 Abs. 3a, 3b HGB bzw. §§ 340n Abs. 3, 3a, 341n Abs. 3, 3a HGB Geldbußen von bis zu 10 Mio. €, 5 % des jährlichen Gesamtumsatzes oder dem Zweifachen des durch den Verstoß erlangten wirtschaftlichen Vorteils verhängt werden, wobei der jeweils höchste Betrag die Grenze darstellt.887) 438 Inhaltliche Fehler bei der nichtfinanziellen Erklärung begründen eine Verletzung der allgemeinen Geschäftsleitungspflicht des Vorstands nach § 76 Abs. 1 AktG, sodass eine Haftung nach § 93 Abs. 2 AktG in Betracht kommt. 439 Daneben ist eine Haftung des Aufsichtsrats aufgrund einer fehlerhaften Überwachung denkbar. Jedoch handelt es sich hierbei wohl eher um eine theoretische Haftungsgefahr, da der Nachweis eines durch die jeweilige schuldhafte Pflichtverletzung kausal verursachten Schadens der Gesellschaft schwierig ist. Gleiches gilt auch für eine grundsätzlich denkbare persönliche Haftung der Leitungsorgane aus § 823 bzw. § 826 BGB.888) 440 Bei einer Verletzung der CSR-Berichtspflichten ist allerdings zusätzlich das latent bestehende Risiko einer Anfechtbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen zu beachten.889) 441 Praxishinweis: Aufgrund der sehr weitreichenden Sanktionen, aber auch weil Investoren diesen Themen zunehmende Bedeutung beimessen, sollten sich sowohl der Vorstand als auch der Aufsichtsrat intensiv mit den CSR-Berichtspflichten auseinandersetzen. V.

Rechtsfolgen bei pflichtwidrigem Verhalten

442 Verletzt ein Vorstandsmitglied seine organschaftlichen Pflichten und erleidet die Gesellschaft hierdurch einen Schaden, kann das Vorstandsmitglied der Gesellschaft insbesondere gemäß § 93 Abs. 2 AktG (Æ § 2 Rz. 2 ff.) zum Schadensersatz verpflichtet sein. Je nach Erheblichkeit der Pflichtverletzung kann das pflichtwidrige Verhalten dem Aufsichtsrat ferner Anlass zum Widerruf der ___________ 887) Holzmeier/Burth/Hachmeister, IRZ 2017, 215 (220). 888) Zutreffend Roth-Mingram, NZG 2015, 1341 (1344 f.). 889) Hierzu ausführlich Roth-Mingram, NZG 2015, 1341 (1344).

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Illert/Meyer

E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

Bestellung des Vorstandsmitglieds (Æ § 3 Rz. 186 ff.) und ggf. zur Kündigung des Anstellungsvertrags (Æ § 3 Rz. 226 ff.) geben. In beiden vorgenannten Fällen obliegt die Beurteilung, ob tatsächlich eine Pflichtverletzung vorliegt, allein dem Aufsichtsrat. Dieser muss in eigener Kompetenz und Verantwortung sowohl das Vorliegen einer Pflichtverletzung als auch daran anknüpfend das Bestehen von Haftungsansprüchen bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen für eine mögliche Abberufung prüfen. Bei der Beurteilung, ob eine Pflichtwidrigkeit vorliegt, steht dem Aufsichtsrat kein Handlungsermessen zu; maßgebend ist vielmehr die objektive Rechtslage.890) Praxishinweis: Die Bindung des Aufsichtsrats an die objektive Rechtslage bedeutet 443 allerdings nicht, dass der Aufsichtsrat bei der Beurteilung laufender bzw. noch nicht abschließend geklärter Sachverhalte an abweichende (Rechts-)Auffassungen staatlicher (Ermittlungs-)Behörden, wie z. B. die parallel ermittelnde Staatsanwaltschaft oder die BaFin, gebunden ist. Gelangt der Aufsichtsrat hier nach sorgfältiger Prüfung – ggf. unter Einbeziehung interner oder externer Beratung (Æ Rz. 117 ff., 122) – zu der Überzeugung, dass kein pflichtwidriges Verhalten des Vorstands vorliegt, darf er diesen Standpunkt einnehmen und von weiteren Sanktionen absehen. Dieser Standpunkt muss aber jedenfalls überprüft und ggf. aufgegeben werden, wenn die maßgebliche Frage später in einem (gerichtlichen) Verfahren geklärt und ein pflichtwidriges Verhalten (rechtskräftig) festgestellt wird. Das pflichtwidrige Verhalten von Vorstandsmitgliedern kann ferner Anlass für 444 eine Versagung der Entlastung durch die Hauptversammlung gemäß § 120 AktG sein. Zuletzt ist stets zu beachten, dass die Verletzung bestimmter Pflichten eine 445 Straftat oder Ordnungswidrigkeit darstellen kann. Zu den insoweit maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen siehe im Einzelnen §§ 20 ff. E.

Der Vorstandsanstellungsvertrag

Sappa

Die Rechtsstellung von Vorstandsmitgliedern beruht nach überwiegender Auf- 446 fassung auf zwei selbstständigen Rechtsverhältnissen (sog. Trennungsprinzip).891) Zum einen der Organstellung (Æ Rz. 49, § 3 Rz. 195 ff.) und zum anderen dem Anstellungsverhältnis.892) Diese beiden Rechtsverhältnisse sind – sowohl bei der Begründung als auch der Beendigung – strikt voneinander zu trennen.893) Der Anstellungsvertrag ist als Geschäftsbesorgungsvertrag i. S. d. §§ 611 ff., 675 Abs. 1 BGB zu qualifizieren, der grundsätzlich einer AGBKontrolle unterliegt894), und ist kein Arbeitsvertrag. ___________ 890) 891) 892) 893)

BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, ZIP 2014, 1729 (1730), Rz. 17. BGH, Urt. v. 24.11.1980 – II ZR 182/79, NJW 1981, 757; Koch, § 84 Rz. 2 m. w. N. BGH, Urt. v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, NJW 2003, 351; Koch, § 84 Rz. 2. BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, NJW 1984, 733; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 10 m. w. N. 894) BGH, Urt. v. 24.9.2019 – II ZR 192/18, NZA 2020, 64.

Sappa

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

I.

Begründung des Anstellungsvertrags

447 Die Kompetenz zum Abschluss des Anstellungsvertrags liegt auf Seiten der Aktiengesellschaft gemäß §§ 84 Abs. 1 Satz 5, 112 i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG bei ihrem Aufsichtsrat. Aufgrund des durch das VorstAG eingeführten Plenarvorbehalts für Vergütungsfragen, die nur unter Berücksichtigung der übrigen Bestimmungen des Anstellungsvertrags sinnvoll beurteilt werden können, besteht kaum noch praktische Relevanz der Delegation für den Abschluss des Anstellungsvertrags durch den Aufsichtsrat an einen seiner Ausschüsse.895) 448 Der der Organstellung zugrundeliegende Anstellungsvertrag muss nach zutreffender Auffassung nicht mit der Aktiengesellschaft selbst abgeschlossen werden, sondern kann auch mit einem Dritten abgeschlossen werden (sog. Drittanstellung),896) weil das Aktiengesetz nicht verlangt, dass mit einem Vorstandsmitglied überhaupt ein Anstellungsvertrag geschlossen wird. Auch die bisweilen geäußerte Sorge, dass bei einer Drittanstellung die durch § 76 AktG vorgesehene Unabhängigkeit der Vorstandsmitglieder bedroht werde, erscheint nicht durchschlagend. Vielmehr sichert § 76 AktG den weisungsfreien Verantwortungsraum der Vorstandsmitglieder und legt ihnen damit gleichzeitig die Pflicht auf, sich etwaigen Einflussnahmeversuchen zu widersetzen, soweit das aus Gründen des Unternehmenswohls erforderlich ist. Auch in Fällen der Drittanstellung muss der Aufsichtsrat allerdings über den Abschluss und Inhalt des Anstellungsvertrags mit dem Dritten beschließen, weil nur auf diese Weise der Gleichlauf von Bestellungs- und Anstellungskompetenz gewährleistet ist.897) Erfolgt die Bestellung erst nach Abschluss des Anstellungsvertrags mit dem Dritten, müssen dem Aufsichtsrat die Vertragsbedingungen zwischen dem Vorstandsmitglied und dem Dritten bekannt sein, weil nur auf diese Weise eine Überprüfung der Angemessenheit der Vergütung erfolgen kann.898) 449 Aufgrund des Trennungsprinzips muss der Aufsichtsrat einen Beschluss über den Abschluss des Anstellungsvertrags fassen, da in dem bloßen Bestellungsbe-

___________ 895) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 18; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 72; Koch, § 107 Rz. 59; Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1223. 896) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1254; Jooß, NZG 2011, 1130; Diekmann/Punte, WM 2016, 681; tendenziell wohl auch BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792; OLG München, Urt. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, BB 2017, 7222; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 79 m. w. N. 897) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792; OLG München, Urt. v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, BB 2017, 7222. 898) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792; Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1253.

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Sappa

E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

schluss ohne weitere Anhaltspunkte nicht zugleich ein Beschluss über den Abschluss des Anstellungsvertrags erblickt werden kann.899) II.

Inhalt des Anstellungsvertrags900)

Die mit dem Vorstandsmitglied vertraglich vereinbarten Rechte und Pflichten, 450 sind von den durch die Bestellung zum Mitglied des Vorstands gesetzlich begründeten Rechten und Pflichten zu unterscheiden. Die Ausgestaltung und der Inhalt des Anstellungsvertrags richten sich grundsätzlich nach der Verhandlungsmacht der Vertragsparteien, aber finden ihre Grenzen auch in den aktienrechtlichen Beschränkungen. 1.

Laufzeit901) und Form

Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG darf der Anstel- 451 lungsvertrag nur für eine Dauer von bis zu fünf Jahren abgeschlossen werden und auch eine automatische Verlängerung des Anstellungsvertrags über die Dauer von fünf Jahren hinaus ist unzulässig,902) Zulässig ist gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 AktG allerdings eine Verknüpfung der Laufzeit des Anstellungsvertrags mit der organschaftlichen Bestelldauer,903) so dass im Anstellungsvertrag vorgesehen werden kann, dass sich der Anstellungsvertrag um die Dauer der weiteren Bestellung verlängert.904) Ein unbefristeter Anstellungsvertrag gilt regelmäßig auf die Dauer der Bestellung abgeschlossen.905) Aufgrund des Trennungsprinzips muss die Dauer des Anstellungsvertrags zwar 452 nicht mit der Dauer der Bestellung übereinstimmen.906) Wurde der Anstellungsvertrag für eine längere Zeit abgeschlossen als die Bestellung erfolgt ist, besteht allerdings die Gefahr, dass die Entscheidungsfreiheit des Aufsichtsrats über die Wiederbestellung eingeschränkt ist. Aus diesem Grund wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es grundsätzlich unzulässig sei, Anstellungsverträge ___________ 899) OLG Schleswig, Urt. v. 16.11.2000 – 5 U 66/99, NZG 2001, 275; a. A. Ihrig/Schäfer, § 11 Rz. 163. 900) Muster bei Happ/Groß/Happ, 8.08; Beck’sches Formularbuch Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht/Hoffmann-Becking/Austmann unter X. 13. 901) Für Vorstandsmitglieder in einer dualistischen SE beträgt die maximale Laufzeit des Anstellungsvertrags gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii), 46 Abs. 1 SE-VO, § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG sechs Jahre. 902) BAG, Urt. v. 26.8.2009 – 5 AZR 522/08, NZG 2009, 1435. 903) BGH, Urt. v. 11.7.1953 – II ZR 126/52, NJW 1953, 1465 (1466); MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 82. 904) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1679; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 45. 905) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 83. 906) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 24.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

abzuschließen, die über die Bestelldauer hinaus gelten.907) In dem umgekehrten Fall, d. h., wenn der Anstellungsvertrag für eine kürzere Zeit abgeschlossen wird als die Bestellung erfolgt, gerät die Unabhängigkeit des Vorstandsmitglieds in Gefahr, weil es während des Bestehens seiner organschaftlichen Pflichten über seine Vertragsbedingungen verhandeln muss.908) Es empfiehlt sich daher – und entspricht auch der Praxis –, dass die Dauer der Bestellung und die Laufzeit des Anstellungsvertrags aufeinander abgestimmt sind. 453 Bei börsennotierten und kapitalmarktorientierten Aktiengesellschaften soll die Erstbestellung von Vorstandsmitgliedern gemäß B.3 DCGK für längstens drei Jahre erfolgen und soll eine vorzeitige Wiederbestellung gemäß B.4 DCGK nur bei Vorliegen wichtiger Gründe erfolgen. 454 Praxishinweis: Aufgrund der Vorgaben in § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG sollte bei der Vertragsgestaltung darauf geachtet werden, dass die Beschlussfassung des Aufsichtsrats über eine Wiederbestellung und Verlängerung des Anstellungsvertrags erst mit ausreichend zeitlichem Abstand zu der Jahresfrist des § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG erfolgen muss. 455 Eine Verlängerung des Anstellungsvertrags außerhalb des Jahreszeitraums des § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG ist, soweit kein Fall des § 84 Abs. 1 Satz 4 AktG vorliegt, unwirksam909) und führt zu einem fehlerhaften Anstellungsverhältnis. Auf das fehlerhafte Anstellungsverhältnis eines Vorstandsmitglieds sind nach überwiegender Auffassung die vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätze für das fehlerhafte Arbeitsverhältnis entsprechend anzuwenden.910) Dies bedeutet insbesondere, dass sich sowohl die Gesellschaft als auch das Vorstandsmitglied grundsätzlich jederzeit mit Wirkung für die Zukunft von dem Anstellungsvertrag lossagen können.911) Die Praxis behilft sich bei gewünschten Vertragsverlängerungen bzw. Verlängerungen der Bestelldauer außerhalb der Jahresfrist des § 84 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG in solchen Konstellationen mit der einvernehmlichen Aufhebung der Bestellung und einer sich anschließenden Wiederbestellung für den gewünschten Zeitraum; die aktienrechtliche Zulässigkeit dieser Praxis wurde vom BGH bestätigt.912) In börsennotierten Aktiengesellschaften gilt es zu beachten, dass eine vorzeitige Wiederbestellung gemäß der Empfehlung B.4 DCGK nur bei Vorliegen wichtiger Gründe erfolgen soll. ___________ 907) 908) 909) 910)

Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 236; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 81. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 83. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 50. BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, NJW 1964, 1367; BGH, Urt. v. 7.3.2000 – II ZR 282/98, NJW 2000, 2983; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 16; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 250; Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 137. 911) BGH, Urt. v. 20.8.2019 – II ZR 121/16, NJW 2019, 3718; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 33. 912) BGH, Urt. v. 17.7.2012 • II ZR 55/11, NZG 2012, 1027.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

Der Abschluss von Anstellungsverträgen ist grundsätzlich formfrei möglich, 456 allerdings wird in der Praxis aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit beim Vertragsabschluss üblicherweise (noch) die Schriftform eingehalten. Eine Ausnahme von der Formfreiheit gilt für Anstellungsverträge von Geschäftsleitern i. S. d. § 10 Abs. 4 InstitutsVergV sowie des § 3 Abs. 2 VersVergV, die sowohl für den Abschluss als auch für spätere Änderungen des Anstellungsvertrags ein Schriftformerfordernis vorsehen. 2.

Aufgaben

Mit Wirksamwerden der Bestellung zum Mitglied des Vorstands wird die 457 Rechtsstellung als Vorstandsmitglied mit den damit verbundenen gesetzlichen Rechten und Pflichten begründet.913) Dies umfasst insbesondere die gesetzliche Vertretung der Aktiengesellschaft und die Befugnis zur Geschäftsführung. Besteht der Vorstand aus mehreren Mitgliedern, sind bei Fehlen einer abweichenden Satzungsbestimmung gemäß § 78 Abs. 2 Satz 1 AktG sämtliche Vorstandsmitglieder nur gemeinschaftlich zur aktiven gesetzlichen Vertretung der Gesellschaft befugt; auch durch Satzungsbestimmung nicht abdingbar ist hingegen die passive Einzelvertretungsbefugnis eines jeden Vorstandsmitglieds gemäß § 78 Abs. 2 Satz 2 AktG.914) Die Bestellung zum Vorstandsmitglied beinhaltet aufgrund der Gesamtverant- 458 wortung des Vorstands nicht bereits die Zuweisung eines bestimmten Geschäftsbereichs,915) sondern die Pflichten des Vorstandsmitglieds werden durch den Anstellungsvertrag konkretisiert. Dies betrifft im mehrgliedrigen Vorstand oftmals die Zuweisung eines bestimmten Ressorts (z. B. Finanzen, Recht etc.; Æ Rz. 84 ff.). Selbst wenn im Anstellungsvertrag die Zuweisung eines bestimmten Ressorts vereinbart wird, setzt sich allerdings die Kompetenz des Aufsichtsrats zur Geschäftsverteilung gegen die vertragliche Bestimmung durch.916) Dem Vorstandsmitglied steht allenfalls die Niederlegung des Amtes bzw. außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrags sowie die Geltendmachung von Schadensersatz offen, wenn der Aufsichtsrat gegen die vertraglich vereinbarte Ressortzuständigkeit verstößt.917) Häufig finden sich in Anstellungsverträgen auch Regelungen, die das Vor- 459 standsmitglied verpflichten, Organfunktionen oder sonstige Aufgaben in ande___________ 913) BGH, Urt. v. 11.7.1951 – II ZR 118/50, BeckRS 1951, 101892; Henssler/Strohn/DaunerLieb, § 84 AktG Rz. 3. 914) MünchKommAktG/Spindler, § 78 Rz. 83. 915) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 3. 916) BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683; BGH, Urt. v. 10.5.2010 – II ZR 70/09, NZA 2010, 889; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 16. 917) MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 29; Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1187.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

ren Konzerngesellschaften oder Interessenverbänden zu übernehmen.918) Während G.15 DCGK für konzerninterne Aufsichtsratsmandate vorsieht, dass die für diese Ämter bezogene Vergütung angerechnet werden soll, soll der Aufsichtsrat bei der Übernahme konzernfremder Aufsichtsratsmandate gemäß G.16 DCGK entscheiden, ob und inwieweit die für diese Ämter bezogene Vergütung anzurechnen ist. 3.

Vergütung und sonstige Bezüge

460 Die zentralen Vertragsbestandteile des Anstellungsvertrags sind üblicherweise die Regelungen zur Vergütung, nachdem das Gesetz keine ausdrückliche Bestimmung enthält, nach der Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft allein kraft ihrer Organstellung einen Vergütungsanspruch gegen die Gesellschaft haben. Regelmäßig bildet daher der Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitglieds die Rechtsgrundlage für dessen Vergütung. Ist eine Vergütung jedoch ausnahmsweise nicht ausdrücklich vereinbart worden, gilt sie zumindest bei Vorstandsmitgliedern ohne Beteiligungsbesitz entsprechend § 612 Abs. 1 BGB als stillschweigend vereinbart.919) 461 Wesentliche Rahmenbedingungen zur Vorstandsvergütung ergeben sich aus § 87 AktG. Nach § 87 Abs. 1 AktG ist der Aufsichtsrat für die Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds zuständig und darüber hinaus verpflichtet, für die Angemessenheit der Gesamtbezüge zu sorgen (Æ § 3 Rz. 205 ff.). Erforderlich ist eine Angemessenheit der Gesamtbezüge, nicht aber eine Angemessenheit der einzelnen Vergütungsbestandteile.920) Für börsennotierte Gesellschaften sieht § 87a AktG921) zudem vor, dass der Aufsichtsrat über ein „klares und verständliches System zur Vergütung der Vorstandsmitglieder“ beschließt und „die Vergütung der Vorstandsmitglieder in Übereinstimmung mit einem der Hauptversammlung nach § 120a Absatz 1 zur Billigung vorgelegten Vergütungssystem festzusetzen“ hat. Der Begriff des Vergütungssystems ist bedeutungsgleich mit dem unionsrechtlichen Begriff „Vergütungspolitik“922) und umfasst nicht nur die eigentlichen Vergütungsbestandteile sowie deren Ausgestaltung, sondern gemäß § 87a Abs. 1 Nr. 8 AktG auch vergütungsbezogene Rechtsgeschäfte, wie die Laufzeit des Anstellungsvertrags, Beendigungsmöglichkeiten,

___________ 918) Zu den sich bei Vorstands-Doppelmandaten ergebenden rechtlichen Fragestellungen siehe Rz. 323 ff. 919) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 59 m. w. N.; a. A. Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 32 für Vergütungsanspruch auch bei Beteiligungsbesitz. 920) KK-AktG/Mertens/Cahn AktG § 87 Rz. 6; MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 41. 921) § 87a eingef. m. W. v. 1.1.2020 durch Gesetz v. 12.12.2019 (BGBl I, 2637). 922) Grigoleit/Grigoleit/Kochendörfer, § 87a Rz. 20.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

Kündigungsfristen oder etwaige Abfindungsregelungen.923) Die Pflicht, ein klares und verständliches System zur Vergütung der Vorstände zu beschließen, trifft anders als die Beschlussfassung über den Vergütungsbericht gemäß § 120a Abs. 5 AktG, alle börsennotierten Gesellschaften unabhängig von deren Größe.924) a)

Vergütungsbegriff

§ 87 Abs. 1 Satz 1 AktG fasst unter den Begriff der Gesamtbezüge des einzel- 462 nen Vorstandsmitglieds Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen sowie anreizorientierte Vergütungszusagen wie z. B. Aktienbezugsrechte und Nebenleistungen jeder Art. Die Aufzählung ist nicht abschließend, sondern es werden alle Leistungen erfasst, die einem aktiven Vorstandsmitglied mit Rücksicht auf seine Tätigkeit für die Gesellschaft gewährt werden.925) Hierzu zählen auch etwaige Sachbezüge, wie z. B. ein Dienstwagen zur privaten Nutzung, die Zurverfügungstellung eines Chauffeurs für Privatfahrten oder einer Dienstwohnung sowie die Beauftragung eines Steuerberaters durch die Anstellungsgesellschaft.926) Kein Vergütungsbestandteil sind die durch die Gesellschaft zu tragenden Prämien für eine D&O-Versicherung, weil diese nicht ganz oder überwiegend im Interesse des Vorstandsmitglieds abgeschlossen wird.927) Mit Rücksicht auf seine Tätigkeit gewährt werden einem Vorstandsmitglied 463 auch sog. Drittvergütungen, d. h. Bezüge, die das Vorstandsmitglied nicht von der Anstellungsgesellschaft, sondern von einem Dritten erhält. Die aktienrechtliche Zulässigkeit der Drittvergütung ist bislang nicht abschließend geklärt, allerdings lässt sich auch aus der Streichung der Drittvergütung aus dem DCGK nichts für die Unzulässigkeit einer Drittvergütung ableiten. Derartige Drittvergütungen sind vielmehr als zulässiger Bestandteil der Gesamtbezüge ___________ 923) Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 100; von Zehmen, BB 2021, 1098 (1100); Art. 9a Abs. 6 2. ARRL: „In der Vergütungspolitik werden die Laufzeit der Verträge der Mitglieder der Unternehmensleitung oder Vereinbarungen mit ihnen, die geltenden Kündigungsfristen, die Hauptmerkmale von Zusatzrentensystemen und Vorruhestandsprogrammen sowie die Bedingungen für die Beendigung und die Zahlungen im Zusammenhang mit der Beendigung angegeben“. 924) Henssler/Strohn/Liebscher, § 120a AktG Rz. 16; a. A. wohl Semler/v. Schenck/Wilsing/ Grau, § 11 Rz. 100, der börsennotierte kleine und mittelgroße Unternehmen unter Verweis auf § 120a Abs. 4 AktG vom „Say on Pay“ ausnimmt. 925) MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 23; Koch, § 87 Rz. 18; Henssler/Strohn/DaunerLieb, § 87 AktG Rz. 13. 926) MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 23; Fleischer/Thüsing, § 6 Rz. 2; de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792 (2793); umfassend zu Vorstandsbezügen Fleischer/Bauer, ZIP 2015, 1901. 927) Fleischer/Thüsing, § 6 Rz. 2; bzgl. der Prämie für eine D&O Versicherung ist dies jedoch umstritten, siehe Darstellung bei KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 20.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

eines Vorstandsmitglieds anzusehen, wobei die Gewährung der Drittvergütung einem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats unterliegt.928) b)

Vergütungsformen und Ausgestaltung

464 Die denkbaren Vergütungsformen für ein Vorstandsmitglied sind vielfältig und unterliegen – unter Berücksichtigung der aktienrechtlichen Grenzen – der privatautonomen Gestaltung der Vertragsparteien. 465 Während die Vereinbarung eines reinen Fixgehalts zwar weiterhin möglich ist,929) aber der Empfehlung in G.1 DCGK widerspricht, hat sich die Art und Ausgestaltung der variablen Vergütung in den letzten Jahren gewandelt.930) Neben einer jährlichen variablen Vergütung finden sich in Anstellungsverträgen mittlerweile häufig Regelungen zu sogenannten „Mid-Term Incentive Programs“ sowie „Long-Term Incentive Programs“. Allen drei Ausgestaltungsformen ist gemein, dass die Höhe der Vergütung an das Erreichen bestimmter Ziele geknüpft931) und bei Abschluss des Anstellungsvertrags ungewiss ist; diese Ziele können entweder einseitig unter Berücksichtigung billigen Ermessens durch die Aktiengesellschaft vorgegeben oder einvernehmlich zwischen Aktiengesellschaft und Vorstand vereinbart werden. Über die langfristigen Vergütungsbestandteile soll das Vorstandsmitglied gemäß G.10 DCGK frühestens vier Jahre nach der Gewährung verfügen können. 466 aa) Möglich sind auch reine Gewinnbeteiligungen oder die Übertragung von Geschäftsanteilen. Bereits bevor die Kodex-Kommission in G.10 DCGK aufgenommen hat, dass die variable Vergütung „überwiegend […] in Aktien der Gesellschaft angelegt oder aktienbasiert gewährt werden [soll]“, waren aktienbzw. aktienkursbasierte Vergütungsformen wie virtuelle Optionen (Phantom Stocks), Stock Appreciation Rights (SAR) und Aktienoptionspläne (Stock Option Plans) weit verbreitet.932) Im Gegensatz zu Aktienoptionsplänen haben Vorstandsmitglieder sowohl bei virtuellen Optionsplänen als auch bei Stock Appreciation Rights im Falle der Zielerreichung keinen Anspruch auf Ausgabe von Aktien, sondern einen Anspruch auf Auszahlung eines be___________ 928) MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 76; Hölters/Weber/ Weber, § 87 Rz. 13; tendenziell wohl auch BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792; a. A. Kalb/Fröhlich, NZG 2014, 167; Reuter, AG 2011, 274. 929) BGH, Urt. v. 24.9.2019 – II ZR 192/18, NZG 2020, 64; BeckOGK/Fleischer, § 87a Rz. 19 m. w. N.; MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87a Rz. 19; Wilsing/ Goslar, Ziffer 4.3.2 Rz. 9 m. w. N. 930) Ausführlich KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 22 ff.; MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 84 ff.; de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792; empirisch Götz/Friese, CFB 2010, 410. 931) de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792. 932) Ausführlich MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 102 ff.; de Beauregard/Schwimmbeck/Gleich, DB 2012, 2792; Kruchen, AG 2014, 655.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

stimmten Geldbetrags, dessen Höhe von der Entwicklung des Aktienkurses der Gesellschaft abhängig ist. bb) Die Verknüpfung des Gehalts mit Aktien des Unternehmens soll letztlich 467 für einen Gleichlauf der Interessen von Vorstand und Anteilseignern sorgen.933) Dieser Gleichlauf von Interessen wird ebenfalls durch sogenannte Bonus-/Malus-Regelungen bezweckt, bei denen positive wie auch negative Erfolgsbeiträge des Vorstandsmitglieds über einen bestimmten Bemessungszeitraum berücksichtigt werden und die Höhe der variablen Vergütung beeinflussen.934) Nachdem die Auswirkungen von positiven und negativen Erfolgsbeiträgen nicht im Vorfeld festgelegt werden können, steht sowohl das „Ob“ als auch das „Wie“ einer Anpassung bei solchen Systemen oftmals im Ermessen des Aufsichtsrats. Neben Bonus-/Malus-Regelungen, die Erfolgsbeiträge des Vorstandsmitglieds nur in Zeiten vor Auszahlung der variablen Vergütung berücksichtigen können, finden sich in Anstellungsverträgen vermehrt sog. Clawback-Klauseln. Clawback-Klauseln ermöglichen es der Aktiengesellschaft, aufgrund eines nachträglich festgestellten Fehlverhaltens des Vorstandsmitglieds in der Vergangenheit auch nach Auszahlung der variablen Vergütung deren Kürzung vorzunehmen und verpflichten das Vorstandsmitglied zur Rückzahlung der gesamten oder von Teilen der ausbezahlten variablen Vergütung. Diese insbesondere im angelsächsischen Raum bereits seit langer Zeit verbreiteten Regelungen haben in Deutschland zunächst im Bereich der regulierten Industrien Einzug gefunden, bevor nunmehr auch § 87a Abs. 1 Nr. 6 AktG und G.11 Satz 2 DCGK eine Rückforderungsmöglichkeit ausdrücklich vorsehen. cc) Ebenfalls aus dem angelsächsischen Raum stammen Bestimmungen, die die 468 Auswirkungen des Ausscheidens eines Vorstandsmitglieds aus dem Amt oder aus der Gesellschaft auf variable Vergütungsbestandteile, von dem Grund des Ausscheidens abhängig machen (sog. „Good-Leaver-Events“ und „Bad-Leaver-Events“). Üblicherweise behält das Vorstandsmitglied seine bereits erdienten Ansprüche nur, wenn das Ausscheiden ein „GoodLeaver-Event“ darstellt. Als „Good-Leaver-Event“ werden typischerweise Ausscheidensgründe definiert, die das Vorstandsmitglied nicht zu vertreten hat. Spiegelbildlich versteht man unter einem „Bad-Leaver-Event“ typischerweise alle Fallgestaltungen, in denen das Vorstandsmitglied das Ausscheiden zu vertreten hat. Auch wenn Good-Leaver- und Bad-LeaverKlauseln weit verbreitet sind und erhebliche praktische Bedeutung haben, ist ein verlässlicher Rahmen im Hinblick auf die Zulässigkeit derartiger Klauseln durch die Rechtsprechung bislang nicht gesetzt worden und be___________ 933) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 49. 934) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1500.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

stehen erhebliche Bedenken an der rechtlichen Wirksamkeit derartiger Klauseln. 469 dd) Nach wie vor ungeklärt ist ebenfalls, ob sich die variable Vergütung eines Vorstandsmitglieds an den Geschäftsergebnissen einer Obergesellschaft ausrichten darf.935) Es gibt insoweit weder eine eindeutige einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung, noch sind die von der wohl herrschenden Auffassung im Hinblick auf die Zulässigkeit einer derartigen Abhängigkeit vorgebrachten Argumente überzeugend. Insbesondere wird nicht nachvollziehbar begründet, worin das berechtigte Interesse der Anstellungsgesellschaft liegt, einen ihr nicht zugutekommenden und von ihr nicht beeinflussbaren Anreiz zu setzen. Ein solches Vergütungssystem ist vielmehr geeignet, einen Fehlanreiz zu setzen, und ist daher unangemessen i. S. d. § 87 Abs. 1 AktG.936) 470 Praxishinweis: Aus Unternehmenssicht sollte bei der Vertragsgestaltung Wert darauf gelegt werden, dass variable Vergütungsbestandteile ausschließlich für die Dauer der Bestellung zum Mitglied des Vorstands zu leisten sind und im Falle der Abberufung ohne gleichzeitige Beendigung des Anstellungsverhältnisses nur noch die feste Vergütung geschuldet wird. 471 ee) Spätestens seit der sog. Mannesmann-Entscheidung des BGH937) sind „nachträgliche Anerkennungsprämien ohne zukunftsbezogenen Nutzen“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Vertraglich nicht vorgesehene nachträgliche Anerkennungsprämien sind nur in engen Grenzen zulässig und sollten nur in Ausnahmefällen gewährt werden. Die Gewährung einer zulässigen nachträglichen Anerkennungsprämie setzt voraus, dass der Aktiengesellschaft dadurch selbst Vorteile zufließen, die in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der freiwilligen Zusatzvergütung verbundenen Minderung des Gesellschaftsvermögens stehen.938) Nach Auffassung des BGH kommt dies insbesondere in Betracht, wenn die freiwillige Sonderzahlung entweder dem begünstigten Vorstandsmitglied selbst oder zumindest anderen aktiven oder potenziellen Führungskräften signalisiert, dass sich außergewöhnliche Leistungen lohnen, von ihr also eine für die Aktiengesellschaft vorteilhafte Anreizwirkung ausgeht. 472 ff) Während die Gewährung einer Übergangsversorgung früher weit verbreitet war, ist sie heute zwar von geringerer praktischer Relevanz,939) allerdings gibt ___________ 935) Koch, § 87 Rz. 64; MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 68; OLG München, Urt. v. 7.5.2008 – 7 U 5618/07. 936) OLG München, Urt. v. 7.5.2008 – 7 U 5618/07; a. A. tendenziell BGH, Urt. v. 9.11.2009 – II ZR 154/08 und die wohl h. L., vgl. nur: Ihrig/Schäfer, § 12 Rz. 243 ff. 937) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NZG 2006, 141. 938) BGH, a. a. O. 939) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 6 Rz. 34.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

es weiterhin einige Aktiengesellschaften, die ihren Vorstandsmitgliedern nach dem Ausscheiden aus dem Amt eine Übergangsversorgung gewähren. Die Übergangsversorgung dient nicht einer Versorgung im Ruhestand oder sichert biometrische Risiken ab, sondern sie bezweckt eine Absicherung zum einen gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit und zum anderen der Aufrechterhaltung eines angemessenen Lebensstandards nach einem Ausscheiden aus der Gesellschaft. Auf eine Übergangsversorgung findet das BetrAVG daher keine Anwendung. Die Gewährung der Übergangsversorgung ist oftmals auf einen bestimmten Zeitraum nach Beendigung des Anstellungsverhältnisses beschränkt und erfolgt in einzelnen Fällen bis zum Eintritt des Vorstandsmitglieds in den Ruhestand bzw. bis zum Eintritt eines Versorgungsfalls, ggf. unter Anrechnung anderer Einkünfte, die das ausgeschiedene Vorstandsmitglied erzielt. Soweit eine Übergangsversorgung im Anstellungsvertrag vorgesehen wird, ist die Gewährung üblicherweise daran geknüpft, dass das Vorstandsamt aus einem vom Vorstandsmitglied nicht zu vertretenden Grund endet. Anders als die Übergangsversorgung knüpfen Ruhegehaltszusagen an ein 473 biologisches Ereignis an und sichern biometrische Risiken ab. Als biometrische Ereignisse erfasst das BetrAVG, das auch auf Vorstandsmitglieder ohne Mehrheitsbeteiligung anwendbar ist, das Alter, die Invalidität sowie den Tod. Soweit das BetrAVG Anwendung findet, muss sich die Ruhegehaltszusage daher an die im BetrAVG geregelten Bestimmungen halten. Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung kann aufgrund des im Vergleich zu Arbeitnehmern geringeren Schutzerfordernisses von Organmitgliedern von den Bestimmungen des BetrAVG auch zum Nachteil eines Vorstandsmitglieds abgewichen werden, soweit den Tarifparteien eine Abweichung vom BetrAVG durch Tarifvertrag gemäß § 19 Abs. 1 BetrAVG möglich ist.940) Inwieweit eine Abweichung im Einzelfall zulässig ist, ist aber noch weitgehend ungeklärt.941) gg) Vorstandsmitglieder sind weder in der gesetzlichen Rentenversicherung noch 474 in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung pflichtversichert, sie können sich aber zumindest in der gesetzlichen Rentenversicherung gem. § 7 SGB VI freiwillig versichern; eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ist hingegen gemäß § 28a Abs. 2 Satz 1 SGB III i. V. m. § 27Abs. 1 Nr. 5 SGB III nicht möglich. Die Befreiung von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft von der Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung und gesetzlichen Arbeitslosenversicherung ___________ 940) BGH, Urt. v. 23.5.2017 – II ZR 6/16, NZG 2017, 948; BAG, Urt. v. 21.4.2009 – 3 AZR 285/07, AP BetrAVG § 1 Beamtenversorgung Nr. 21. 941) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1781; Diller/Arnold, DB 2019, 608.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

erstreckt sich gemäß §§ 27 Abs. 1 Nr. 5 SGB III, 1 Satz 3 SGB VI auf alle Beschäftigungsverhältnisse, die das Vorstandsmitglied mit der Aktiengesellschaft und Konzernunternehmen i. S. d. § 18 AktG begründet.942) 475

Anders verhält es sich mit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Mangels ausdrücklicher Regelung sind Vorstandsmitglieder nach Auffassung des BSG regelmäßig abhängig beschäftigt, so dass sie im Grunde der Kranken- und Pflegeversicherungspflicht unterliegen.943) In der Praxis kommt aufgrund des Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze durch die Vorstandsbezüge jedoch regelmäßig eine Versicherungsfreiheit gemäß §§ 6 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6 SGB V, 20 SGB XI in Betracht. Unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des BSG haben Vorstandsmitglieder bei einer freiwilligen Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß §§ 257 Abs. 1 Satz 1 SGB V, 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XI bzw. bei privater Krankenversicherung gemäß § 257 Abs. 2 Satz 1 SGB V, § 61 Abs. 2 Satz 1 SGB IX Anspruch auf einen Beitragszuschuss gegen ihren Dienstherrn. Lehnt man die Beschäftigteneigenschaft eines Vorstandsmitglieds hingegen ab, hat dieses keinen Anspruch gegenüber dem Dienstherrn auf Gewährung eines Beitragszuschusses.944) 4.

Nebentätigkeiten

476 Soweit nichts anderes vereinbart ist, schuldet das Vorstandsmitglied der Gesellschaft seinen gesamten Arbeitseinsatz.945) Vor diesem Hintergrund sehen Anstellungsverträge in Anlehnung an die Empfehlung in E.3 DCGK regelmäßig ein Zustimmungserfordernis des Aufsichtsrats für Nebentätigkeiten oder weitergehend gar ein umfassendes Verbot von Nebentätigkeiten vor. Ein genereller Ausschluss von Nebentätigkeiten, der auch ehrenamtliche Tätigkeiten im Privatbereich des Vorstandsmitglieds betrifft, ist regelmäßig unangemessen und damit unwirksam. 477 Beantragt das Vorstandsmitglied eine Nebentätigkeitserlaubnis, darf der Aufsichtsrat seine Zustimmung zu der Nebentätigkeit nicht grundlos verweigern, sondern die Zustimmung darf nur verweigert werden, wenn berechtigte Interessen der Gesellschaft der Ausübung der Nebentätigkeit entgegenstehen.946) ___________ 942) Brand/Brand, SGB III, § 27 Rz. 9. 943) BSG, Urt. v. 12.1.2011 • B 12 KR 17/09 R, DB 2011, 1759; v. 6.10.2010 – B 12 KR 20/09 R, BeckRS 2011, 65179; a. A. BeckOGK/Fleischer AktG § 84 Rz. 33; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 65. 944) Beiner/Braun, Rz. 248. 945) BGH, Urt. v. 2.4.2001 – II ZR 217/99, NJW 2001, 2476; OLG Brandenburg, Urt. v. 24.6.2008 – 6 U 104/07, AG 2009, 513. 946) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, NZG 2000, 738; MünchKommAktG/ Spindler, § 88 Rz. 26.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

Aufgrund der organschaftlichen Treuepflicht eines Vorstandsmitglieds können sich auch Einschränkungen in dessen privaten Lebensbereich ergeben, jedenfalls dann, wenn sich das private Verhalten auf die Gesellschaft auswirkt.947) Praxishinweis: Zur Vermeidung von Unwirksamkeitsrisiken sollte in Anstel- 478 lungsverträgen kein generelles Verbot von Nebentätigkeiten vorgesehen werden, sondern die Zulässigkeit der Übernahme von Nebentätigkeiten sollte von der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig gemacht werden, wobei die Zustimmung nur aus berechtigten Gründen versagt werden darf. Zudem sollte der Gesellschaft auch die Möglichkeit vorbehalten sein, die Zustimmung zu widerrufen, soweit berechtigte Interessen der Gesellschaft der weiteren Ausübung der Nebentätigkeit entgegenstehen. 5.

Wettbewerbsverbote

a)

Gesetzliches und vertragliches Wettbewerbsverbot

Für die Dauer der Bestellung ist das Vorstandsmitglied an das gesetzliche Wett- 479 bewerbsverbot des § 88 AktG (Æ Rz. 323 ff.) gebunden, soweit § 88 AktG im Anstellungsvertrag nicht abbedungen wurde.948) Eine sog. Blankoeinwilligung, die dem Vorstandsmitglied jede Wettbewerbstätigkeit gestattet, aber in der Praxis ohnehin kaum vorkommt, ist gemäß § 88 Abs. 1 Satz 3 AktG unzulässig und führt nicht zu einer Befreiung des Vorstandsmitglieds von dem Wettbewerbsverbot.949) Die Einwilligung des Aufsichtsrats muss sich demgemäß immer auf bestimmte Handelsgewerbe oder Handelsgesellschaften oder auf bestimmte Arten von Geschäften beschränken. Anstellungsverträge enthalten entsprechend dem Grundsatz 19 DCGK übli- 480 cherweise ein über das gesetzliche Wettbewerbsverbot des § 88 AktG hinausgehendes vertragliches Wettbewerbsverbot. Vertragliche Wettbewerbsverbote für die Dauer der Laufzeit des Anstellungsvertrags sind von erheblicher praktischer Relevanz, weil umstritten ist, ob das gesetzliche Wettbewerbsverbot des § 88 AktG mit der Beendigung der Organstellung endet (Æ Rz. 328),950) oder ob im Falle eines ungekündigten Anstellungsvertrags trotz Beendigung der Organstellung gleichwohl eine Bindung an § 88 AktG besteht.951) Richtigerweise knüpft das Wettbewerbsverbot des § 88 AktG ausschließlich an die korporationsrechtliche Stellung des Vorstandsmitglieds an und endet daher mit der Beendigung der Vorstandstätigkeit.952) Sieht der Anstellungsvertrag kein ___________ 947) 948) 949) 950) 951) 952)

Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1640; Fleischer, NZG 2010, 561. BeckOGK-AktG/Fleischer AktG § 88 Rz. 9, 31. Hölters/Weber/Weber, § 88 Rz. 13. BeckOGK-AktG/Fleischer AktG § 88 Rz. 9 m. w. N. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, NZG 2000, 738. OLG Oldenburg, Urt. v. 17.2.2000 – 1 U 155/99, NZG 2000, 1038; Koch, § 88 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 88 Rz. 10; Hölters/Weber/Weber, § 88 Rz. 5; Grigoleit/ Schwennicke, § 88 Rz. 7.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

vertragliches Wettbewerbsverbot vor und endet die Organstellung des Vorstandsmitglieds vor der rechtlichen Beendigung des Anstellungsvertrags, ist es dem (ehemaligen) Vorstandsmitglied grundsätzlich gestattet, in Wettbewerb zur Gesellschaft zu treten, ohne dass die Gesellschaft sich dagegen zur Wehr setzen kann.953) 481 Ebenfalls nicht erfolgreich zur Wehr setzen kann sich die Gesellschaft gegen bloße Vorbereitungshandlungen des Vorstandsmitglieds auf eine künftige Wettbewerbstätigkeit. Die bloße Vorbereitung auf eine künftige Wettbewerbstätigkeit wird weder von dem gesetzlichen Wettbewerbsverbot des § 88 AktG erfasst954) noch können bloße Vorbereitungshandlungen in zulässiger Weise durch ein vertraglich vereinbartes Wettbewerbsverbot ausgeschlossen werden. Die Abgrenzung zwischen zulässiger bloßer Vorbereitung auf künftigen Wettbewerb und unzulässiger Wettbewerbshandlung ist im Einzelfall schwierig. Die Grenze der zulässigen Vorbereitungshandlung ist (erst) überschritten, wenn schutzwürdige Interessen der Gesellschaft durch die Handlung beeinträchtigt werden können.955) Dies ist zwar regelmäßig nicht anzunehmen, solange der Geschäftsbetrieb des künftigen Wettbewerbers noch nicht eröffnet ist.956) Informiert das Vorstandsmitglied potentielle Vertragspartner aber bereits über das Leistungsangebot und bringt seine grundsätzliche Vertragsbereitschaft zum Ausdruck, ist die Schwelle von der bloßen Vorbereitungshandlung zum Wettbewerb überschritten.957) b)

Nachvertragliches Wettbewerbsverbot

482 Ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot soll die Gesellschaft auch nach der Beendigung des Anstellungsvertrags vor einer Wettbewerbstätigkeit des (ehemaligen) Vorstandsmitglieds schützen. Aufgrund des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit des Vorstandsmitglieds muss ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot in zeitlicher (i. d. R. bis maximal zwei Jahre), sachlicher (enge Orientierung am Aufgabenbereich des Vorstandsmitglieds) und räumlicher Hinsicht (regionaler Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit) den berechtigten Interessen der Gesellschaft dienen. 483 Ist der Geltungsbereich eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots zu weit gefasst, dient es nicht einem berechtigten Interesse der Gesellschaft und ist, sofern nicht ausnahmsweise eine Einschränkung auf das zulässige Maß in Be___________ 953) Fleischer, AG 2005, 336. 954) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 5.11.1999 – 10 U 257/98, NZG 2000, 738; MünchKommAktG/ Spindler, § 88 Rz. 22; Fleischer, AG 2005, 336. 955) Fleischer, AG 2005, 336. 956) Zu § 60 HGB: BAG, Urt. v. 7.9.1972 – 2 AZR 486/71, AP HGB § 60 Nr. 7. 957) Zu § 60 HGB: BAG, Urt. v. 24.2.2021 – 10 AZR 8/19, AP HGB § 61 Nr. 6.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

tracht kommt958), unwirksam.959) Die auf Arbeitnehmer anwendbaren §§ 74 ff. HGB, insbesondere die gesetzlich angeordnete geltungserhaltende Reduktion des § 74a Abs. 2 HGB, finden auf Organmitglieder keine unmittelbare Anwendung.960) Die Wirksamkeit des nachvertraglichen Wettbewerbsverbots für Vorstandsmitglieder wird vielmehr im Rahmen einer Zwei-Stufen-Prüfung am Maßstab des § 138 BGB i. V. m. den in Art. 2 und 12 GG getroffenen Wertentscheidungen gemessen.961) Ein umfassendes nachvertragliches Wettbewerbsverbot ohne Karenzentschä- 484 digung ist nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen eines besonders schutzwürdigen Interesses der Gesellschaft und für kurze Zeit zulässig.962) Im Grundsatz ist ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot für das Vorstandsmitglied daher nur verbindlich, wenn es für die Dauer des Verbots als Gegenleistung eine angemessene Karenzentschädigung erhält.963) Die erforderliche Höhe der Karenzentschädigung ist einzelfallabhängig und kann nicht abstrakt bestimmt werden. Die Höhe der Karenzentschädigung sollte sich grundsätzlich an dem Umfang des Wettbewerbsverbots orientieren. Regelmäßig wird eine Entschädigung ausreichend sein, die in entsprechender Anwendung der §§ 74 ff. HBG bemessen wird. Eine Begrenzung der Karenzentschädigung auf einen bestimmten Prozentsatz der Festvergütung kommt, sofern die variable Vergütung nicht nur für die Dauer der Bestellung geschuldet ist, hingegen allenfalls in Betracht, wenn die Gesamtvergütung des Vorstandsmitglieds sich nicht überwiegend aus variablen Vergütungsbestandteilen zusammensetzt,964) und die Karenzentschädigung dem Vorstandsmitglied eine ausreichende Sicherung seines Lebensbedarfs gewährleistet. Praxishinweis: Um das Vorstandsmitglied auch für einen bestimmten Zeitraum 485 nach dem Ausscheiden aus der Gesellschaft daran zu hindern, für einen Wettbewerber der Gesellschaft tätig zu werden oder selbst in Wettbewerb zur Gesellschaft zu treten, sollte die Karenzentschädigung aufgrund der aus einer zu gering bemessenen Karenzentschädigung resultierenden Risiken entsprechend den §§ 74 ff. HGB bemessen werden. ___________ 958) BGH, Urt. v. 8.5.2000 – II ZR 308/98, NZG 2000, 831. 959) OLG München, Hinweisbeschl. v. 2.8.2018 – 7 U 2107/18, NZA-RR 2019, 82; BeckOGKAktG/Fleischer, § 88 Rz. 43 ff.; Koch, § 88 Rz. 10 m. w. N. 960) BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, NJW 1984, 2366; OLG München, a. a. O.; Koch, § 88 Rz. 10; Grigoleit/Schwennicke, § 88 Rz. 11. 961) BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, NJW 1984, 2366 (2367); OLG Nürnberg, Urt. v. 25.11.2009 – 12 U 681/09, GmbHR 2010, 141; Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 215. 962) BGH, Urt. v. 4.3.2002 – II ZR 77/00, NJW 2002, 1875; Kort, ZIP 2008, 717 (719). 963) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 88 Rz. 47 f.; Hölters/Weber/Weber, § 88 Rz. 25; Bauer/v. Medem, GWR 2011, 435 (437). 964) Beiner/Braun, Rz. 641.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

486 Im Falle der Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots sollen Abfindungszahlungen gemäß G.13 DCGK auf eine Karenzentschädigung angerechnet werden. Ebenso sollte im Anstellungsvertrag vorgesehen werden, dass die Karenzentschädigung auf ein Ruhegeld oder eine Übergangsversorgung angerechnet wird965), um eine Doppelversorgung zu vermeiden. 487 Abweichend von § 75a HGB wird in Anstellungsverträgen mit Vorständen oftmals vereinbart, dass die Gesellschaft mit der Wirkung auf das nachvertragliche Wettbewerbsverbot verzichten kann, dass sie bereits mit Ablauf von sechs Monaten seit dem Zugang des Verzichts von der Verpflichtung zur Zahlung der Karenzentschädigung frei wird. Ob eine derartige Klausel wirksam ist, wurde höchstrichterlich bislang nicht entschieden.966) Nach unzutreffender Auffassung des BGH wirkt ein Verzicht auf das nachvertragliche Wettbewerbsverbot bereits dann nicht mehr befreiend im Hinblick auf die Zahlung der Karenzentschädigung, wenn das Organmitglied sich auf die mit dem Wettbewerbsverbot verbundenen Einschränkungen seiner neuen beruflichen Tätigkeit eingerichtet hat.967) Die Auffassung des BGH führt zu nicht auflösbaren Wertungswidersprüchen zu dem für Arbeitnehmer geltenden § 75a HGB und führt insoweit zu einem nicht zu rechtfertigenden höheren Schutzniveau für Organmitglieder. Nach zutreffender Auffassung ist ein befreiender Verzicht auf das nachvertragliche Wettbewerbsverbot in entsprechender Anwendung des § 75a HGB daher stets, aber auch nur bis zur rechtlichen Beendigung des Anstellungsverhältnisses möglich.968) 6.

Ersatz von Auslagen und Kosten

488 Häufig findet sich in Anstellungsverträgen eine Regelung zum Umfang des Ersatzes für getätigte Aufwendungen des Vorstandsmitglieds. Fehlt es an einer vertraglichen Regelung, haben Vorstandsmitglieder nach Maßgabe der §§ 675 Abs. 1, 670 BGB einen Anspruch auf Auslagenersatz und Vorschusszahlung für Auslagen gemäß § 669 BGB. Dieser Anspruch erstreckt sich auf alle Ausgaben, die das Vorstandsmitglied belegen kann und im Rahmen seiner Geschäftsführungsaufgaben für erforderlich halten durfte, insbesondere auf Reiseund Repräsentationskosten, soweit sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem dienstlichen Zweck und zur finanziellen Lage der Gesellschaft stehen, so-

___________ 965) BAG, Urt. v. 30.10.1984 – 3 AZR 213/82, NZA 1985, 429. 966) Offen gelassen in BGH, Urt. v. 17.2.1992 – II ZR 140/91, NJW 1992, 1892; dafür: OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.8.1996 – 6 U 150/95, NJW-RR 1997, 164. 967) BGH, Urt. v. 4.3.2002 – II ZR 77/00, NJW 2002, 1875. 968) LG Frankfurt/M., Urt. v. 20.4.1994 – 3/8 O 150/93, GmbHR 1994, 803; Lembke, BB 2020, 52; a. A. OLG München, Urt. v. 28.7.2010 – 7 U 2417/10, GmbHR 2010, 1031; OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.8.1996 – 6 U 150/95, NJW-RR 1997, 164.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

wie auf Telekommunikationskosten und Aufwendungen für die persönliche Sicherheit.969) Zur Vermeidung von Interessenkonflikten ist nicht der Vorstand für die Erstat- 489 tung der Aufwendungen seiner Mitglieder zuständig, sondern diese Aufgabe obliegt gemäß § 112 AktG grundsätzlich dem Aufsichtsrat. Eine Ausnahme gilt nur, wenn es eine unternehmensweite Richtlinie oder, wie in größeren Unternehmen üblich, eine Richtlinie für Vorstandsmitglieder gibt, weil es sich in diesem Fall um eine bloße Richtlinienanwendung handelt und daher ein Interessenkonflikt ausscheidet.970) 7.

Pflicht zur Erstattung von Anwalts- und Gerichtskosten

Von zunehmender praktischer Bedeutung ist die Frage, ob und unter welchen 490 Voraussetzungen sowie in welcher Höhe Vorstandsmitglieder im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Prozess- oder Ermittlungsverfahren von der Gesellschaft nachträgliche Erstattung oder – im laufenden Prozess – Vorschuss für allfällige Anwalts- und Gerichtskosten beanspruchen können. Im Grundsatz besteht ein (Vorschuss-)Anspruch entsprechend §§ 669, 670 BGB (ggf. i. V. m. § 257 BGB), wenn ein innerer Zusammenhang des Prozesses bzw. Ermittlungsverfahrens mit der Organtätigkeit besteht und das Verhalten des Vorstandsmitglieds gegenüber seiner Gesellschaft pflichtgemäß war.971) Hinsichtlich des inneren Zusammenhangs zwischen dem Verfahren und der 491 Organtätigkeit ist zu unterscheiden zwischen Kosten, die mit der Wahrnehmung der jeweiligen dienstlichen Aufgabe zusammenhängen (dann erstattungspflichtig) und Kosten, die sich aus den allgemeinen Lebensrisiken ergeben (dann nicht erstattungspflichtig). Der tätigkeitsbezogene Zusammenhang ist dabei regelmäßig in weitem Umfang gegeben.972) Verfahrenskosten sind vor diesem Hintergrund stets erstattungspflichtig, wenn das Verfahren auf einer Handlung beruht, die das Vorstandsmitglied während der Erfüllung organschaftlicher oder anstellungsvertraglicher Pflichten vorgenommen hat. Der gesetzliche (Vorschuss-)Anspruch besteht grundsätzlich nur dann, wenn 492 das Verhalten des Vorstandsmitglieds nach Durchführung einer Prognose keine schuldhafte Pflichtverletzung gegenüber der Gesellschaft darstellt.973) Er___________ 969) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 68; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 106. 970) Seyfarth, Vorstandsrecht, § 4 Rz. 72. 971) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 74; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 93; Krieger/ Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 21 Rz. 6 ff.; Fleischer, WM 2005, 909 (915); Werner, GmbHR 2012, 1107. 972) Krieger/Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 21 Rz. 10; Krieger, in: Festschrift Bezzenberger, S. 211 (212); Werner, GmbHR 2012, 1107. 973) H. M.: Krieger/Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 17 Rz. 14; Krause, Special 8 zu BB 2007, 2 (8); Krieger, in: Festschrift Bezzenberger, S. 211 (223); für eine generelle Vorschusspflicht hingegen Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 407; Fleischer, WM 2005, 909 (915).

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

gibt die Prognose dagegen, dass dem Verfahren eine schuldhafte Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft zugrunde liegt, kommt allenfalls eine freiwillige Kostenübernahme durch die Gesellschaft nach den Grundsätzen zur Übernahme von Geldstrafen und Geldbußen (Æ Rz. 499 ff.) in Betracht. 493 Hinsichtlich der Höhe des Vorschusses ist zu beachten, dass nur angemessene Kosten erstattungsfähig sind. Das sind Anwaltshonorare jedenfalls bis zur Höhe der gesetzlichen Gebühren. Individuell ausgehandelte Honorare, die über die gesetzliche Gebühr hinausgehen, sind nur ausnahmsweise erstattungsfähig, insbesondere wenn ein erforderlicher spezialisierter Anwalt zu den gesetzlichen Gebühren nicht gefunden werden kann.974) Vor allem bei wirtschafts-(straf-)rechtlichen Mandaten oder Verfahren in ausländischen Jurisdiktionen sind Honorarvereinbarungen aber üblich, und eine qualifizierte anwaltliche Vertretung wird zu den gesetzlichen Gebühren gerade bei schwierigen und umfangreichen Verfahren nicht zu erlangen sein.975) Bei Vorschussgewährung ist die Kostenübernahme allerdings zur Absicherung der Position der Gesellschaft für den Fall, dass sich nach Abschluss des Verfahrens die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens des Vorstandsmitglieds herausstellt, unter den Vorbehalt der Rückforderung zu stellen; eine Pflicht zur Besicherung des Rückforderungsanspruchs besteht jedoch nicht.976) 494 Die vorgenannten Grundsätze gelten gleichermaßen für Vorstandsmitglieder, die im Laufe des gegen sie geführten Verfahrens aus der Gesellschaft ausscheiden oder bereits ausgeschieden sind, solange ein hinreichender Bezug zur früheren Tätigkeit als Organmitglied besteht.977) 8.

Erfindungen

495 Das Arbeitnehmererfindungsgesetz findet keine unmittelbare oder entsprechende Anwendung auf Vorstandsmitglieder,978) so dass die Anwendbarkeit des Arbeitnehmererfindungsgesetzes in der Praxis oftmals vertraglich vereinbart wird. Es ist zulässig, eine modifizierte Anwendbarkeit des Arbeitnehmererfindungsgesetzes zu vereinbaren, was in der Praxis regelmäßig getan wird im Hinblick auf das Nichtbestehen eines Anspruchs auf gesonderte Erfindervergü___________ 974) BGH, Urt. v. 16.7.2015 – IX ZR 197/14, ZIP 2015, 1684 (1688), Rz. 58. 975) Krieger/Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 17 Rz. 31; Fleischer, WM 2005, 909 (915). Im Ergebnis ebenso OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, ZIP 2011, 868. 976) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 74; Koch, § 84 Rz. 23b; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 407; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 93; Krieger/Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 17 Rz. 17; Heutz, DB 2012, 902 (903); Werner, GmbHR 2012, 1107 (1110 f.). 977) Krieger/Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 21 Rz. 12; Krause, Special 8 zu BB 2007, 2 ff. (insb. 3 und 16); Schick, ZWH 2012, 433 (435). 978) BGH, Urt. v. 24.10.1989 – X ZR 58/88, GRUR 1990, 193.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

tung. Besteht keine vertragliche Regelung über den Umgang mit Erfindungen im Rahmen des Anstellungsverhältnisses, steht eine Erfindung grundsätzlich dem jeweiligen Vorstandsmitglied zu.979) 9.

Change of Control-Klauseln

Sog. Change of Control-Klauseln sollen ein am Wohl des Unternehmens und 496 der Aktionäre ausgerichtetes Tätigwerden des Vorstandsmitglieds fördern, ohne dass das Vorstandsmitglied persönliche wirtschaftliche Nachteile als Folge eines Kontrollwechsels befürchten muss. Auch wenn Change of ControlKlauseln in der Praxis weit verbreitet sind, sieht G.14 DCGK als Anregung vor, dass „Zusagen für Leistungen aus Anlass der vorzeitigen Beendigung des Anstellungsvertrags durch das Vorstandsmitglied infolge eines Kontrollwechsels (Change of Control) […] nicht vereinbart werden [sollten]“. Aufgrund der Ausgestaltung als Anregung kann indes ohne Offenlegung nach § 161 AktG davon abgewichen werden. Change of Control-Klauseln können vielfältig ausgestaltet werden980), regeln aber üblicherweise ein Sonderkündigungsrecht des Vorstandsmitglieds verbunden mit einer finanziellen Ausgleichszahlung für den Fall eines Kontrollwechsels.981) Bei der Gestaltung von Change of Control-Klauseln hat der Aufsichtsrat sowohl auf das Angemessenheitserfordernis des § 87 Abs. 1 AktG als auch auf die künftige Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats im Hinblick auf eine Wiederbestellung des Vorstandsmitglieds zu achten.982) Für den Fall der Gewährung von finanziellen Leistungen anlässlich einer vorzeitigen Beendigung des Anstellungsvertrags infolge eines Kontrollwechsels, sind diese Leistungen auf das Abfindungs-Cap gemäß G.13 DGCK anzurechnen.983) 10.

Abfindungszahlungen

Vertraglich vereinbarte Abfindungszahlungen an Vorstandsmitglieder für den 497 Fall der vorzeitigen Beendigung des Anstellungsverhältnisses, z. B. aufgrund des Erreichens einer Altersgrenze oder aufgrund eines Aufhebungsvertrags, oder für den Fall der Nichtwiederbestellung aus Unternehmensgründen, ohne dass ein wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 2 BGB vorliegt, müssen dem Angemessenheitserfordernis des § 87 Abs. 1 AktG genügen984) und dürfen die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrats im Hinblick auf eine Wiederbestellung ___________ 979) OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.6.1999 – 2 U 11/98, GRUR 2000, 49; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 84 Rz. 97. 980) JIG/Kießling, G.14 Rz. 5. 981) Koch, § 87 Rz. 23 f; Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 209. 982) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Kubis, § 3 Rz. 185. 983) Kremer u. a./Bachmann, G.14 Rz. 9; Koch, § 87 Rz. 24. 984) MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 154.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

des Vorstandsmitglieds nicht beschränken.985) Abfindungen für den Fall der Nichtwiederbestellung sind daher nur in Ausnahmefällen rechtlich zulässig. Abfindungen, die an ausscheidende Vorstandsmitglieder gezahlt werden, obwohl ein wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 2 BGB vorliegt, sind grundsätzlich unangemessen und können allenfalls im Ausnahmefall gerechtfertigt werden; eine bereits im Anstellungsvertrag getroffene Vereinbarung über eine Abfindung selbst für den Fall einer Kündigung aus wichtigem Grund ist wegen eines Verstoßes gegen § 134 BGB nichtig, da es sich um eine unzulässige Einschränkung des außerordentlichen Kündigungsrechts des Aufsichtsrats handelt.986) 498 Nach G.13 des DGCK sollen Zahlungen an ein Vorstandsmitglied bei vorzeitiger Beendigung der Vorstandstätigkeit den Wert von zwei Jahres(gesamt)vergütungen nicht überschreiten und nicht mehr als die Restlaufzeit des Anstellungsvertrags vergüten. Darüber sollen im Falle der Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots Abfindungszahlungen gemäß G.13 DCGK auf eine Karenzentschädigung angerechnet werden. 11.

Übernahme von Geldbußen, Geldstrafen und Geldauflagen

499 Wird einem Vorstandsmitglied für eine Handlung im Zusammenhang mit seiner Organtätigkeit in einem Ermittlungs- oder Strafverfahren eine Geldbuße, Geldstrafe oder Geldauflage auferlegt, stellt sich häufig die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Gesellschaft die gegen das Vorstandsmitglied verhängte Geldstrafe, Geldbuße oder Geldauflage freiwillig übernehmen darf. 500 Eine im Anstellungsvertrag getroffene Freistellungszusage der Gesellschaft gegenüber dem Vorstandsmitglied bereits vor einer möglichen strafbaren Handlung stellt eine nach § 93 Abs. 2, Abs. 4 AktG unzulässige Haftungserleichterung dar und ist damit unzulässig.987) 501 Die nachträgliche Erstattung ist hingegen grundsätzlich zulässig. Hierüber entscheidet der Gesamtaufsichtsrat, weil es sich dabei um eine Vergütungsentscheidung handelt (Æ § 3 Rz. 203 f.). Die freiwillige Erstattungsleistung ohne vertragliche Grundlage muss sorgfaltsgemäß i. S. v. § 93 Abs. 1 AktG sein (Æ Rz. 226 ff.) und insbesondere im Unternehmensinteresse i. S. v. § 76 Abs. 1 AktG (Æ Rz. 23 ff.) liegen. Andernfalls können sich die Aufsichtsratsmitglieder pflichtwidrig verhalten und u. U. eine Untreue gemäß § 266 StGB (Æ § 21 Rz. 2 ff.) begehen.988) Die Kostenübernahme muss als Vergütungsbestandteil ferner das An___________ 985) Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 129. 986) BGH, Urt. v. 3.7.2000 – II ZR 282–98, DStR 2000, 1743; Spindler, DStR 2004, 36. 987) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 408 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 95; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 102. 988) Krieger/Schneider/Marsch-Barner/Wilk, § 21 Rz. 41 ff.; Krieger, in: Festschrift Bezzenberger, S. 211 (216 f.); zur strafrechtlichen Dimension vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, ZIP 2006, 72 ff. – Mannesmann (Æ § 21 Rz. 99 ff.).

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

gemessenheitserfordernis gemäß § 87 AktG erfüllen (Æ § 3 Rz. 205 ff.). Sofern das Vorstandsmitglied durch das in Rede stehende Verhalten gleichzeitig seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft verletzt hat, setzt eine freiwillige (endgültige) Übernahme der Geldbuße, Geldstrafe bzw. Geldauflage ferner die Einhaltung der Voraussetzungen von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (Æ § 2 Rz. 117 ff.) und damit neben dem Ablauf der Dreijahresfrist insbesondere einen zustimmenden Hauptversammlungsbeschluss voraus.989) 12.

Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Für Vorstandsmitglieder sind die gesetzlichen Regelungen zu Urlaub (BUrlG) 502 und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (EFZG) nicht anwendbar. Insoweit empfiehlt sich eine vertragliche Regelung im Anstellungsvertrag. Fehlt es daran, steht dem Vorstandsmitglied aufgrund der Fürsorgepflicht der Aktiengesellschaft ein Anspruch auf angemessenen bezahlten Urlaub zu; bei Krankheit besteht der Vergütungsanspruch gemäß § 616 BGB ohne vertragliche Regelung nur dann fort, wenn das Vorstandsmitglied ohne sein Verschulden für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit an der Dienstleistung verhindert ist.990) Mangels gesetzlicher Regelung empfiehlt es sich, im Anstellungsvertrag Regelungen sowohl betreffend den Verfall von Urlaubsansprüchen zu einem bestimmten Zeitpunkt als auch betreffend den Ausschluss einer Urlaubsabgeltung im Falle der Beendigung des Anstellungsverhältnisses aufzunehmen, auch wenn die wohl herrschende Meinung der Auffassung ist, dass ein Ausschluss des Urlaubsabgeltungsanspruchs unwirksam sei.991) Die von der herrschenden Auffassung vorgebrachten Argumente können indes nicht überzeugen, weil der aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn abgeleitete Urlaubsanspruch nicht mehr der Erholung dienen kann, und selbst für Arbeitnehmer eine Urlaubsabgeltung für den übergesetzlichen Urlaub wirksam ausgeschlossen werden kann.992) Praxishinweis: Gelegentlich findet sich in Anstellungsverträgen für die Urlaubs- 503 nahme ein Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats. Ein derartiger Zustimmungsvorbehalt greift in die autonome Leitungsbefugnis des Vorstands ein. Aus diesem Grund sollte der Anstellungsvertrag vorsehen, dass der Zeitpunkt des Urlaubs des einzelnen Vorstandsmitglieds im Vorstand abzustimmen ist und dem Aufsichtsrat der Zeitpunkt und die Dauer des Urlaubs jeweils nur informatorisch mitzuteilen ist. ___________ 989) Vgl. BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, ZIP 2014, 1728. Zum Ganzen BeckOGKAktG/Fleischer, § 84 Rz. 72 f.; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 405. 990) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 51, 66; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 33, 36. 991) BGH, Urt. v. 3.12.1962 – II ZR 201/61, NJW 1963, 535; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.12.1999 – 6 U 119/99; NZG 2000, 377; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 99; a. A. Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 76. 992) BAG, Urt. v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

13.

Elternzeit und Mutterschutz

504 Gemäß § 84 Abs. 3 AktG n. F.993) hat ein Mitglied eines Vorstands, der aus mehreren Personen besteht, das Recht, den Aufsichtsrat um den Widerruf seiner Bestellung zu ersuchen, wenn es wegen Mutterschutz, Elternzeit, der Pflege eines Familienangehörigen oder Krankheit seinen mit der Bestellung verbundenen Pflichten vorübergehend nicht nachkommen kann. Der Widerruf der Bestellung führt dazu, dass das Vorstandsmitglied von allen Pflichten und Haftungsrisiken aus der Zeit der Nichtbestellung, die mit der Organstellung verbunden sind, befreit wird.994) Soweit laufende Vorstandsdienstverträge nicht aufgrund des Widerrufs der Bestellung enden und das Vorstandsmitglied Anspruch auf Neuabschluss eines inhaltsgleichen Anstellungsvertrags nach Wiederbestellung hat, ruht das Anstellungsverhältnis für die Dauer des Widerrufs. Mangels Anwendbarkeit des BEEG, MuSchG oder PflegeZG auf Vorstandsmitglieder haben diese für die Dauer des Ruhens des Anstellungsverhältnisses keinen Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung gegen ihre Anstellungsgesellschaft bzw. keinen Anspruch auf Elterngeld oder Pflegegeld.995) 505 Aufgrund des neu eingeführten Anspruchs auf Widerruf der Bestellung sollten zukünftig in allen Vorstandsanstellungsverträgen Regelungen vorgesehen werden, die die Zeit einer etwaigen Mandatspause betreffen.996) Neben Einsichts- und Zugangsrechten des Vorstandsmitglieds sollten insbesondere Bestimmungen betreffend die Auswirkungen der Mandatspause auf die festen und variablen Vergütungsbestandteile, auf Urlaubsansprüche und auf Betriebsrentenanwartschaften aufgenommen werden und es empfehlen sich Regelungen im Hinblick auf Gegenstände, die dem Vorstandsmitglied von der Aktiengesellschaft zur Verfügung gestellt wurden.997) Zudem sollte in Anstellungsverträgen vorgesehen werden, dass das Vorstandsmitglied seine Amtsgeschäfte vor der Mandatspause ordnungsgemäß übergibt und auch während der Mandatspause in angemessenem Rahmen in Notfällen unter Berücksichtigung der Interessen des pausierenden Mandatsträgers zur Verfügung steht. 14.

Auskunfts-, Herausgabe- und Informationspflichten

506 Treffen die Parteien keine abweichenden Regelungen im Anstellungsvertrag, haben Vorstandsmitglieder nach §§ 666, 667 BGB eine Auskunftspflicht über ___________ 993) Eingef. m. W. v. 12.8.2021 durch das Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst v. 7.8.2021 (BGBl I, 3311) – „FüPoG II“. 994) de Raet/Möslein, NJW 2021, 2920. 995) Jacobi/Hangarter, ArbRB 2021, 311. 996) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BT-Drucks. 19/30514, 22 schlägt Regelungen betreffend den Zugang zu Informationen, die Einsichtnahme in E-Mails oder den Zugang zu den Geschäftsräumen vor. 997) Dörrwächter, NZG 2022, 195.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

die in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen und eine Herausgabepflicht bei Beendigung der Vorstandstätigkeit.998) Herauszugeben ist alles, was das Vorstandsmitglied aus seiner Tätigkeit erlangt hat.999) Die Herausgabepflicht bezieht sich aber nicht auf Notizen über persönliche Eindrücke, Gespräche und zur eigenen Information angefertigte Notizen des Vorstandsmitglieds.1000) Nach Beendigung der Organtätigkeit hat das Vorstandsmitglied seinerseits, 507 soweit es keinen Zugang zu den Gesellschaftsunterlagen mehr hat, in Nachwirkung der Treuepflicht der Gesellschaft (Æ Rz. 330) und aus dem Rechtsgedanken des § 810 BGB einen Anspruch gegen die Gesellschaft auf Einsichtnahme in die maßgeblichen Unterlagen (Æ § 2 Rz. 207).1001) Hiervon ist nach hier vertretener Auffassung auch die Befugnis umfasst, Kopien dieser Unterlagen anzufertigen. In Anbetracht von Sinn und Zweck des Einsichtsrechts, das Organmitglied überhaupt in die Lage zu versetzen, der ihm obliegenden Darlegungs- und Beweispflicht in einem etwaigen Schadensersatzprozess nachkommen zu können, beschränkt sich dieser Anspruch aber auf Unterlagen, die für die vom Vorstandsmitglied darzulegende und zu beweisende Frage erforderlich sind, ob die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters eingehalten wurde. Weder sind daher Unterlagen zu Fragen einsehbar, die ohnehin von der Gesellschaft darzulegen und zu beweisen sind (z. B. das Vorliegen eines Schadens), noch müssen Informationen zu Gesichtspunkten erteilt werden, die als solche für die Beurteilung des Pflichtverletzungsvorwurfs relevant sind (z. B. interne Untersuchungsprotokolle, Protokolle über von der Gesellschaft durchgeführte Mitarbeiterbefragungen oder von der Gesellschaft eingeholte Gutachten). Aufgrund der Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 AktG und der eingeschränk- 508 ten Reichweite der Herausgabe- und Einsichtsrechte des ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds sowie der schwierigen prozessualen Durchsetzung im Einzelfall1002), empfiehlt sich aus Sicht des Vorstandsmitglieds insoweit eine Regelung in den Anstellungsvertrag aufzunehmen. Aus Sicht des Vorstandsmitglieds sollte im Anstellungsvertrag klargestellt werden, dass die Gesellschaft dem Vorstandsmitglied nach seinem Ausscheiden Einsicht in sämtliche Unterlagen ___________ 998) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, ZIP 2008, 1821; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 86 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 97; Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 130; Ihrig/ Schäfer, § 11 Rz. 169; Freund, NZG 2015, 1419. 999) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, ZIP 2008, 1821; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 87; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 97. 1000) Vgl. BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, ZIP 2008, 1821 (1822), Rz. 5: „der ihm ausgehändigten Unterlagen“. 1001) BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, ZIP 2008, 1821 (1822), Rz. 5; OLG Stuttgart, Urt. v. 5.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 (2387); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 87, § 93 Rz. 279; Fleischer, NZG 2010, 121 (122); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 147; Freund, NZG 2015, 1419 (1420 f.). 1002) Freund, NZG 2021, 579; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

geben oder Abschriften von Unterlagen aushändigen muss, soweit das Vorstandsmitglied dies für seine Rechtsberatung oder Rechtsverteidigung für erforderlich hält. 15.

Prozessuales

509 Aus Unternehmenssicht ist zu empfehlen, eine Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Anstellungsvertrag im Wege des Urkundenprozesses gemäß §§ 592 ff. ZPO vertraglich auszuschließen. Nach h. M. kann ein Vorstandsmitglied, insbesondere auch nach Ausspruch einer Kündigung, seine Vergütungsansprüche im Urkundenprozess geltend machen,1003) wenn für Streitigkeiten aus dem Anstellungsverhältnis nicht ausnahmsweise die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen gemäß § 2 Abs. 4 ArbGG vereinbart wurde. Im Falle einer Streitigkeit über Vergütungsansprüche des (ehemaligen) Vorstandsmitglieds für Zeiten nach Ausspruch einer Kündigung wird es der beklagten Gesellschaft aufgrund der beschränkten Zulässigkeit von Beweismitteln im Rahmen eines Urkundenprozesses oftmals nicht gelingen, den Kündigungsgrund und die Einhaltung der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu beweisen, während das Vorstandsmitglied bereits durch Vorlage des Anstellungsvertrags das Bestehen eines Vergütungsanspruchs durch eine Urkunde beweisen kann. Aufgrund dieser für das Unternehmen ungünstigen prozessualen Ausgangslage sollte der Aufsichtsrat bereits bei der Anfertigung des Anstellungsvertrags an etwaige spätere Trennungsstreitigkeiten denken. Nur wenn der mögliche Eintritt einer solchen Situation bereits bei der Vertragsgestaltung berücksichtigt worden ist, ist das Unternehmen nicht auf die Durchführung des sog. Nachverfahrens, in dem auf sämtliche zivilprozessualen Beweismittel zurückgegriffen werden darf, angewiesen. III.

Beendigung des Anstellungsvertrags

510 Das Anstellungsverhältnis eines Vorstandsmitglieds endet aufgrund der Befristung üblicherweise durch Zeitablauf, kann aber auch bereits vor dem vereinbarten Zeitablauf durch eine Kündigung oder den Abschluss eines Aufhebungsvertrags sein Ende finden. 511 Praxishinweis: Im Falle des Ausspruchs einer Kündigung gegenüber dem Vorstandsmitglied ist dringend zu empfehlen, dass ein von allen Aufsichtsratsmitgliedern oder von einer beschlusstragenden Mehrheit des Aufsichtsrats unterzeichneter Kündigungsbeschluss dem Vorstandsmitglied im Original übergeben wird, um eine Zurückweisung der Kündigung nach § 174 BGB zu vermeiden; dies gilt auch, wenn

___________ 1003) OLG München, Urt. v. 21.9.2011 – 7 U 4956/10, AG 2012, 295; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 78; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 200.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

der Aufsichtsratsvorsitzende die Kündigung übergibt oder unterzeichnet.1004) Es bietet sich an, in dem Kündigungsbeschluss zusätzlich vorzusehen, dass ein Vertreter des Aufsichtsrats ausdrücklich zur Erklärung der Kündigung bevollmächtigt wird. 1.

Zeitablauf

Das Anstellungsverhältnis eines Vorstandsmitglieds darf gemäß § 84 Abs. 1 512 Satz 5 i. V. m. Satz 1 AktG auf bis zu fünf Jahre befristet werden und endet mit Ablauf der Befristung.1005) In Anstellungsverträgen kann allerdings vereinbart werden, dass sich der Anstellungsvertrag im Falle einer erneuten Bestellung zum Mitglied des Vorstands für die Dauer der weiteren Bestellung verlängert. Eines neuerlichen Beschlusses des Aufsichtsrats über die Verlängerung des Anstellungsvertrags bedarf es in diesen Fällen nicht.1006) 2.

Ordentliche Kündigungsmöglichkeit

Aufgrund der Befristung des Anstellungsanstellungsvertrags ist eine ordentliche 513 Kündigung gemäß § 620 Abs. 1, 2 BGB nur möglich, wenn eine solche Kündigungsmöglichkeit im Anstellungsvertrag ausdrücklich vorgesehen ist. Die Vereinbarung einer ordentlichen Kündigungsmöglichkeit zu Gunsten der Gesellschaft ist indes nur wirksam, wenn sie auf Fälle beschränkt wird, in denen die Bestellung bereits widerrufen ist oder gleichzeitig widerrufen wird, d. h., wenn die Voraussetzungen für den Widerruf der Bestellung aus wichtigem Grund gemäß § 84 Abs. 4 AktG erfüllt sind.1007) Zweifelhaft erscheint nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 11.6.20201008), ob sich im Falle einer ordentlichen Kündigung die maßgebliche Kündigungsfrist nach § 622 BGB1009) oder nach § 621 BGB bemisst, so dass sich bis zu einer Klärung dieser Rechtsfrage empfiehlt, weiterhin § 622 Abs. 2 BGB entsprechend anzuwenden.

___________ 1004) OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, NZG 2004, 141; a. A. unter Verweis auf eine konkludente Übertragung der Erklärungsvertretungsmacht auf den Aufsichtsratsvorsitzenden: BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 42. 1005) Für Vorstandsmitglieder in einer dualistischen SE beträgt die maximale Laufzeit des Anstellungsvertrags gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii), 46 Abs. 1 SE-VO, § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG sechs Jahre. 1006) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1679; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 45. 1007) BeckOGK-AktG/Fleischer AktG § 84 Rz. 202; Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 242; Bauer/Krieger/Arnold, Arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge, 9. Auflage 2014, D Rz. 64; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 55. 1008) BAG, Urt. v. 11.6.2020 – 2 AZR 374/19, NZA 2020, 1179. 1009) So die bisher h. M., vgl. nur BGH, Urt. v. 29.1.1981 – II ZR 92/80, NJW 1981, 1270; BeckOGK-AktG/Fleischer § 84 Rz. 202 m. w. N.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

3.

Koppelungsklausel

514 Besondere Sorgfalt ist bei der Gestaltung von sog. Koppelungsklauseln zu verwenden. Koppelungsklauseln führen zu einer rechtlichen Abhängigkeit des Anstellungsverhältnisses von der Organstellung und stellen nach überwiegender Auffassung keinen Verstoß gegen das Trennungsprinzip dar.1010) Koppelungsklauseln können im Falle der Beendigung der Organstellung entweder eine Kündigungsmöglichkeit oder eine automatische Beendigung des Anstellungsvertrags vorsehen.1011) 515 Während der Bundesgerichtshof bislang davon ausgegangen ist, dass jedenfalls bei einem Widerruf der Bestellung, der auf einem Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung beruht und ohne wichtigen Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB erfolgt, die Kündigungsfrist des § 622 Abs. 1 Satz 2 BGB a. F. maßgeblich ist1012), erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sich der Bundesgerichtshof der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts in der Entscheidung vom 11.6.20211013) anschließen wird. Mangels Regelungslücke würden sich die Kündigungsfristen sodann nicht aus einer analogen Anwendung des § 622 BGB n. F. ergeben, sondern die Fristen des § 621 BGB wären maßgeblich. Zur Vermeidung der Unwirksamkeit einer Koppelungsklausel sollte bis zu einer Klärung dieser Rechtsfrage allerdings weiterhin § 622 Abs. 2 BGB entsprechend angewendet werden. 516 In der Literatur wird unter Hinweis auf § 622 Abs. 6 BGB überwiegend empfohlen, eine Koppelungsklausel nicht nur zu Gunsten der Aktiengesellschaft auszugestalten, sondern die Kündigungsmöglichkeit des Anstellungsverhältnisses bzw. den Eintritt der aufschiebenden Bedingung betreffend die Beendigung des Anstellungsverhältnisses auch im Falle einer Amtsniederlegung durch das Vorstandsmitglied eingreifen zu lassen.1014) Um dem Vorstandsmitglied nicht eine im Vertrag angelegte jederzeitige Amtsniederlegung, die eine außerordentliche Kündigung des Anstellungsverhältnisses durch die Gesellschaft für alle Fälle der Amtsniederlegung ausschließen würde, zu ermöglichen, sollte die Koppelungsklausel in jedem Fall auf eine Amtsniederlegung aus wichtigem Grund begrenzt werden.1015) Die unberechtigte Amtsniederlegung des Vorstands kann ___________ 1010) Werner, NZA 2020, 1446; ders. NZA 2015, 1234; Koehler NZG 2019, 1406; kritisch zu § 38 GmbHG: von Westphalen, NZG 2020, 321. 1011) BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 107; Heidel/Oltmanns, § 84 AktG Rz. 14 (wichtiger Kündigungsgrund); Semler/v. Schenck/Wilsing/Grau, § 11 Rz. 238; Werner, NZA 2020, 1444. 1012) BGH, Urt. v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, NJW 1989, 2683. 1013) BAG, Urt. v. 11.6.2020 – 2 AZR 374/19, NZA 2020, 1179. 1014) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1686; Bauer/Arnold ZIP 2006, 2337, 2343. 1015) Nach wohl h. A. bedarf die Amtsniederlegung des Vorstandsmitglieds keines wichtigen Grundes, vgl. Koch, § 84 Rz. 80 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 160.

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E. Der Vorstandsanstellungsvertrag

ihrerseits einen wichtigen Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB darstellen,1016) so dass das Vorstandsmitglied eine Amtsniederlegung reiflich überlegen sollte. Insbesondere bei börsennotierten oder kapitalmarktorientierten Gesellschaften 517 i. S. d. § 161 Abs. 1 Satz 2 AktG kommt vermehrt eine modifizierte Form von Koppelungsklauseln zum Einsatz, mit denen zugleich die Empfehlung G.13 DCGK umgesetzt wird. Bei einer modifizierten Koppelungsklausel endet das Anstellungsverhältnis bereits unmittelbar mit der Beendigung der Bestellung, aber das Vorstandsmitglied erhält zur Abgeltung seiner Restbezüge eine Abfindung in Höhe von zwei Jahresvergütungen, jedoch nicht mehr als das Vorstandsmitglied für die Restlaufzeit des Vertrags erhalten hätte.1017) Im Falle der Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots soll die Abfindungszahlung gemäß G.13 DCGK auf die Karenzentschädigung angerechnet werden. 4.

Außerordentliche Kündigung

Wie jedes andere Arbeits- oder Dienstverhältnis kann auch das Anstellungs- 518 verhältnis eines Vorstandsmitglieds aus einem wichtigen Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB außerordentlich fristlos gekündigt werden. Das außerordentliche Kündigungsrecht kann weder in der Satzung noch im Anstellungsvertrag wirksam ausgeschlossen werden.1018) Für die Einhaltung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB seitens der Aktiengesellschaft kommt es auf die Kenntnis des Aufsichtsrats als Gremium an. Nicht ausreichend ist nach herrschender Auffassung die Kenntnis einzelner Mitglieder des Aufsichtsrats von den kündigungsbegründenden Tatsachen.1019) Hinzukommen muss vielmehr, dass die Aufsichtsratsmitglieder Kenntnis über die kündigungsbegründenden Tatsachen entweder innerhalb einer Aufsichtsratssitzung oder anlässlich der Beschlussfassung außerhalb einer Aufsichtsratssitzung erlangt haben. Nicht ausreichend ist demnach, wenn (ggf. alle) Aufsichtsratsmitglieder außerhalb einer Aufsichtsratssitzung Kenntnis von den kündigungsbegründenden Tatsachen erlangt haben.1020) Verzögert ein Mitglied des Aufsichtsrats nach Kenntniserlangung der kündi- 519 gungsbegründenden Tatsachen die Einberufung einer Aufsichtsratssitzung unangemessen, muss sich die Aktiengesellschaft im Hinblick auf den Fristbeginn so behandeln lassen, als wäre die Aufsichtsratssitzung mit der billigerweise zumutbaren Beschleunigung einberufen worden.1021) ___________ 1016) BGH, Urt. v. 9.2.1978 – II ZR 189/76, NJW 1978, 1435; LG München I, Urt. v. 15.9.2017 – 5 HK O 21026/16, BeckRS 2017, 146415; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 35. 1017) Kremer u. a./Bachmann, G.13 Rz. 19; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 78. 1018) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1696. 1019) Goette/Arnold/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, § 4 Rz. 1696. 1020) Zur GmbH: BGH, Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, NZG 1998, 634. 1021) BGH, a. a. O.; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 175.

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§ 1 Rechte und Pflichten des Vorstands

5.

Aufhebungsvertrag

520 Der Anstellungsvertrag kann jederzeit einvernehmlich gegen oder ohne Zahlung einer Abfindung beendet werden. Bevor die Aktiengesellschaft mit dem Vorstandsmitglied Verhandlungen über einen Aufhebungsvertrag aufnimmt, sollte zunächst immer festgestellt werden, welche vertraglichen Ansprüche das Vorstandsmitglied bis zur regulären Beendigung des Anstellungsvertrags hat, weil nur auf diese Weise beurteilt werden kann, ob die finanziellen Rahmenbedingungen des Aufhebungsvertrags angemessen sind. Im Falle der Gewährung einer Abfindung ist zunächst zu unterscheiden zwischen Abfindungszahlungen, die dienstvertraglich vorgesehene Leistungen abgelten, und Abfindungszahlungen, die darüber hinausgehende Leistungen beinhalten. Soweit lediglich eine Abgeltung der vertraglich zugesagten Leistungen erfolgt und – soweit börsennotierte Gesellschaften betroffen sind – das Abfindungs-Cap der Empfehlung G.13 DGCK eingehalten wird, bedarf es keiner erneuten Angemessenheitsüberprüfung i. S. d. § 87 Abs. 1 AktG1022), sondern es ist eine Überprüfung der finanziellen Rahmenbedingungen am Maßstab der Business Judgement Rule der §§ 116, 93 AktG vorzunehmen.1023) Vereinzelt wird, insbesondere bei einem länger abzugeltenden Zeitraum, angenommen, dass eine Abzinsung zu erfolgen habe.1024) Sollen mit einer Abfindung hingegen nicht nur dienstvertraglich vorgesehene Leistungen abgegolten werden, hat eine erneute Angemessenheitsüberprüfung i. S. d. § 87 Abs. 1 AktG zu erfolgen und sind insbesondere die von der Rechtsprechung in der Mannesmann-Entscheidung1025) aufgestellten Grundsätze zu beachten; derartige Abfindungszahlungen werden daher regelmäßig unzulässig sein.

___________ 1022) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 83. 1023) Umstr., wie hier: KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 83; Semler/v. Schenck/Wilsing/ Grau, § 11 Rz. 376; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 155 m. w. N. 1024) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 83; MünchKommAktG/Spindler, Nachtrag zum ARUG II, § 87 Rz. 158. 1025) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NZG 2006, 141.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Illert/Meyer/Krenek

Übersicht A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG ....................................... 2 I. Haftungsvoraussetzungen ................. 6 1. Vorstandsmitglied ....................... 6 2. Pflichtverletzung ....................... 10 a) Relevante Vorstandspflichten..... 11 b) Erfordernis individueller Vorwerfbarkeit .......................... 15 aa) Eigenhändige Pflichtverletzungen.................................... 17 bb) Kollegialentscheidungen ........... 21 cc) Anregung von und Nichteinschreiten gegen pflichtwidrige Handlungen.................. 23 c) Business Judgement Rule.......... 25 aa) Unternehmerische Entscheidung ................................... 31 bb) Angemessene Informationsgrundlage.................................... 36 cc) Handeln zum Wohl der Gesellschaft................................ 44 dd) Handeln frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen................................... 51 ee) Handeln im guten Glauben....... 55 ff) Folgen bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen der Business Judgement Rule.......... 56 3. Verschulden ............................... 57 a) Verschuldensmaßstab ............... 57 b) Rechtsirrtum und Vertrauen auf Expertenrat ......................... 58 c) Mitverschulden .......................... 68 4. Schaden ...................................... 69 a) Allgemeine Schadensvoraussetzungen ................................... 70 b) Praxisrelevante Schadenspositionen....................................... 73 aa) (Kartell-)Bußgeld ...................... 76 bb) Sonstige Drittverbindlichkeiten der Gesellschaft.............. 81 cc) Beraterkosten und Kosten externer Dienstleister................ 83

dd) Schaden in Konzernkonstellationen ................................ 87 5. Kausalität .................................. 89 6. Darlegungs- und Beweislast (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG) ........ 96 II. Haftungshöhe................................... 97 III. Verjährung ...................................... 100 IV. Billigung durch die Hauptversammlung................................... 110 V. Verzicht, Vergleich und vergleichbare Rechtshandlungen ........ 117 1. Anwendungsbereich................ 120 2. Formelle Voraussetzungen ..... 127 a) Zuständigkeit........................... 127 b) Zustimmung der Hauptversammlung............................ 128 c) Kein Widerspruch einer qualifizierten Aktionärs-minderheit ....................... 132 d) Ablauf der Dreijahresfrist seit Anspruchsentstehung ...... 133 3. Materielle Voraussetzungen ... 140 VI. Gesamtschuld und Innenausgleich ............................................... 145 1. Gesamtschuldnerische Haftung.................................... 146 2. Innenausgleich......................... 148 VII.Anspruchsverfolgung .................... 155 1. Aufsichtsrat ............................. 155 2. Besondere Vertreter und Aktionäre................................. 159 3. Gesellschaftsgläubiger............. 161 VIII. Auswirkungen von Verschmelzung und Formwechsel.................. 164 IX. Möglichkeiten zur Haftungsbegrenzung ..................................... 172 1. Generelle Bestimmungen zur Haftungsbeschränkung .... 173 2. Situative Haftungsdispositionen ................................ 175 3. Sorgfältige Mandatswahrnehmung und Dokumentation ........................................... 178

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§ 2 Haftung des Vorstands B. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 3 AktG................................... 186 I. Überblick........................................ 186 II. Einzelne Tatbestände..................... 190 C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung................... 192 I. Zuständigkeit innerhalb der Gesellschaft.............................. 192 II. Darlegungs- und Beweislast ......... 194 1. Vorstandseigenschaft.............. 195 2. Pflichtwidrigkeit des Vorstandshandelns ........... 196 3. Schaden.................................... 203 4. Kausalität ................................. 205 III. Besonderheiten............................... 206 1. Ausgeschiedene Vorstandsmitglieder ................................ 206

2. 3. 4.

IV. V.

D. I. II.

Rechtsnachfolger .....................210 Regressprozess.........................211 Sondertatbestände des § 93 Abs. 3 AktG .............................212 5. Sonderfall § 93 Abs. 5 AktG ....215 Haftung des Aufsichtsrates............216 Gerichtliche Zuständigkeiten ........217 1. Sachliche und örtliche Zuständigkeit ...............................217 2. Funktionelle Zuständigkeit.....219 3. Internationale Zuständigkeit ...............................220 4. Schiedsgerichtsbarkeit? ...........223 Außenhaftung................................224 Haftung gegenüber Aktionären.....224 Haftung gegenüber Dritten ...........231

Schrifttum: Allmendinger/Lüneborg, Organhaftung ehemaliger Geschäftsleiter nach dem Formwechsel einer Aktiengesellschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ZIP 2017, 1842; Altmeppen, Haftung der Geschäftsleiter einer Kapitalgesellschaft für Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, ZIP 1995, 881; Altmeppen, Haftung für Delikte „aus dem Unternehmen“, dargestellt am Fall „Dieselgate“, ZIP 2016, 97; Ast/ Klocke, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit und zivilrechtliche Haftung von Geschäftsführern wegen Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, DZWiR 2015, 491; Bachmann, Das „vernünftige“ Vorstandsmitglied – Zum richtigen Verständnis der deutschen Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG), in: Festschrift Stilz, 2014, S. 25; Bachmann, Die Beschränkung der Organhaftung nach den Grundsätzen des Arbeitsrechts, ZIP 2017, 841; Bachmann, Die Geschäftsleiterhaftung im Fokus von Rechtsprechung und Rechtspolitik, BB 2015, 771; Bachmann, Haftung des AG-Vorstands wegen Einrichtung eines mangelhaften Compliance-Systems zur Verhinderung von Schmiergeldzahlungen („Siemens“), ZIP 2014, 579; Bachmann, LAG Düsseldorf: Kein Regress gegen Geschäftsleiter wegen Kartellbuße, BB 2015, 911; Bachmann, Reformbedarf bei der Business Judgement Rule?, ZHR 177 (2013), 1; Balthasar/Hamelmann, Finanzkrise und Vorstandshaftung nach § 93 Abs. 2 AktG: Grenzen der Justiziabilität unternehmerischer Entscheidungen, WM 2010, 589; Bärenz/Fragel, Der Abwendungsvergleich gemäß § 302 Absatz 3 Satz 2 AktG als Sanierungsinstrument in der Krise der herrschenden Gesellschaft, in: Festschrift Görg, 2010, S. 13; L. Bauer, Zur Darlegungs- und Beweislast des Vorstands in organschaftlichen Haftungsprozessen, NZG 2015, 549; Bauer/ Krets, Gesellschaftsrechtliche Sonderregeln bei der Beendigung von Vorstands- und Geschäftsführerverträgen, DB 2003, 811; Baums, Managerhaftung und Verjährung, ZHR 174 (2010), 593; Baums, Risiko und Risikosteuerung im Aktienrecht, ZGR 2011, 218; Baur/Holle, Zur privilegierenden Wirkung der Business Judgment Rule bei Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage – Haften unbefangene Vorstandsmitglieder im Rahmen unternehmerischer Entscheidungen nur für grobe Fehler?, AG 2017, 597; Bayer, Legalitätspflicht der Unternehmensleitung, nützliche Gesetzesverstöße und Regress bei verhängten Sanktionen, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, S. 85; Bayer/Scholz, Die Pflichten von Aufsichtsrat und Hauptversammlung beim Vergleich über Haftungsansprüche gegen Vorstandsmitglieder – Überlegungen anlässlich des Siemens/NeubürgerVergleichs, ZIP 2015, 149; Bayer/Scholz, Haftungsbegrenzung und D&O-Versicherung im Recht aktienrechtlicher Organhaftung – Grundsatzüberlegungen zum 70. DJT 2014, NZG 2014, 926; Bayer/Scholz, Zulässigkeit und Grenzen des Kartellbußgeldregresses,

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§ 2 Haftung des Vorstands GmbHR 2015, 449; Bayer/Scholz, Zweifelsfragen der gesamtschuldnerischen Organhaftung im Aktienrecht, ZGR 2016, 619; Bayreuther, Haftung von Organen und Arbeitnehmern für Unternehmensgeldbußen, NZA 2015, 1239; Bezzenberger, Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, ZGR 1996, 661; Bicker, Legalitätspflicht des Vorstands – ohne Wenn und Aber?, AG 2014, 8; Binder/Kraayvanger, Regress der Kapitalgesellschaft bei der Geschäftsleitung für gegen das Unternehmen verhängte Geldbußen, BB 2015, 1219; Blasche, Die Anwendung der Business Judgement Rule bei Kollegialentscheidungen und Vorliegen eines Interessenkonflikts bei einem der Vorstandsmitglieder, AG 2010, 692; Blaurock, Kartellgeldbußhaftung und gesellschaftsrechtlicher Rückgriff, in: Festschrift Bornkamm, 2014, S. 107; Böttcher, Organpflichten beim Unternehmenskauf, NZG 2007, 481; Brömmelmeyer, Neue Regeln für die Binnenhaftung des Vorstands – Ein Beitrag zur Konkretisierung der Business Judgment Rule, WM 2005, 2065; Brüggemeier, Die Einflußnahme auf die Verwaltung einer Aktiengesellschaft, AG 1988, 93; Buck-Heeb, Die Haftung von Mitgliedern des Leitungsorgans bei unklarer Rechtslage, BB 2013, 2247; Buck-Heeb, Die Plausibilitätsprüfung bei Vorliegen eines Rechtsrats – zur Enthaftung von Vorstand, Geschäftsführer und Aufsichtsrat, BB 2016, 1347; Bunte, Regress gegen Mitarbeiter bei kartellrechtlichen Unternehmensgeldbußen, NJW 2018, 123; Bunz, Die Business Judgment Rule bei Interessenkonflikten im Kollegialorgan, NZG 2011, 1294; Bunz, Legalitätspflicht und nützliche Pflichtverletzungen – Eine Fallstudie, CCZ 2021, 81; Cahn, Aufsichtsrat und Business Judgment Rule, WM 2013, 1293; Cahn, Business Judgement Rule und Rechtsfragen, Der Konzern 2015, 105; Cahn, Die Ausfallhaftung des GmbH-Gesellschafters, ZGR 2003, 298; Cahn, Vergleichsverbote im Gesellschaftsrecht, Diss. 1996; Canaris, Hauptversammlungsbeschlüsse und Haftung der Verwaltungsmitglieder im Vertragskonzern, ZGR 1978, 207; Cannivé/Suerbaum, Die Fairness Opinion bei Sachkapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften: Rechtliche Anforderungen und Ausgestaltung nach IDW S 8, AG 2011, 317; Casper, Hat die grundsätzliche Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats im Sinne des ARAG/Garmenbeck-Urteils ausgedient?, ZHR 176 (2012), 617; Cordes, Die rechtliche Durchsetzung von GmbH-Organhaftungsansprüchen nach einer Verschmelzung auf eine AG, ZfPW 2017, 497; Cyrus, Neue Entwicklungen in der D&O-Versicherung, NZG 2018, 7; Daghles, CybersecurityCompliance: Pflichten und Haftungsrisiken für Geschäftsleiter in Zeiten fortschreitender Digitalisierung, DB 2018, 2289; Deckenbrock, Ersatzfähigkeit außergerichtlicher Rechtsverteidigungskosten bei unberechtigter Geltendmachung vertraglicher Ansprüche, NJW 2009, 1247; Deilmann/Otte, Verteidigung ausgeschiedener Organmitglieder gegen Schadensersatzklagen – Zugang zu Unterlagen der Gesellschaft, BB 2011, 1291; Diekmann/ Fleischmann, Umgang mit Interessenkonflikten in Aufsichtsrat und Vorstand der Aktiengesellschaft, AG 2013, 141; Dietz-Vellmer, Hauptversammlungsbeschlüsse nach § 119 II AktG – geeignetes Mittel zur Haftungsvermeidung für Organe?, NZG 2014, 721; Dietz-Vellmer, Organhaftungsansprüche in der Aktiengesellschaft: Anforderungen an Verzicht oder Vergleich durch die Gesellschaft, NZG 2011, 248; Dreher, Die kartellrechtliche Bußgeldverantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern – Vorstandshandeln zwischen aktienrechtlichem Legalitätsprinzip und kartellrechtlicher Unsicherheit, in: Festschrift Konzen, 2006, S. 85; Dreher, Unternehmen und Politik – Die gesellschaftspolitische Kompetenz der Aktiengesellschaft, ZHR 155 (1991) 349; Dreher, Versicherungsschutz für die Verletzung von Kartellrecht oder von Unternehmensinnenrecht in der D&O-Versicherung und Ausschluss vorsätzlicher oder wissentlicher Pflichtverletzungen, VersR 2015, 781; Druey, Standardisierung der Sorgfaltspflicht? Fragen zur Business Judgment Rule, in: Festschrift Goette, 2011, S. 57; Eichner/Höller, Anforderungen an das Tätigwerden des Aufsichtsrats bei Verdacht einer Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands, AG 2011, 885; Ek/Kock, Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat, 3. Aufl., 2019; Empt/Orlikowski-Wolf, Die Haftung von Vorstand und Verwaltungsrat von Anstalten des öffentlichen Rechts am Beispiel Nordrhein-Westfalens, ZIP 2016, 1053; Eufinger, Die Regresshaftung von Vorstand und Geschäftsführer für Kartellverstöße der Gesellschaft, WM 2015, 1265; Eufinger, Zur Haftung des Organs für Kartellbußgelder des Verbands, CCZ 2021, 50; v. Falkenhausen, Enthaftung durch Hauptversammlungsbe-

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§ 2 Haftung des Vorstands schluss – Kann § 93 IV 1 AktG den Vorstand vor Haftung schützen?, NZG 2016, 601; Fassbach/Wettich, Der Aufsichtsrat: Überwachungsaufgabe, persönliche Haftung und D&O-Versicherung, KSzW 2016, 269; Fest, Darlegungs- und Beweislast bei Prognoseentscheidungen im Rahmen der Business Judgment Rule, NZG 2011, 540; Fischbach, Hauptversammlungsvorlagen des Aufsichtsrats, ZIP 2013, 1153; Fischbach/Lüneborg, Die Organpflichten bei der Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen im Aktienkonzern, NZG 2015, 1142; Fischer, Die Verjährung beim Gesamtschuldnerregress unter Organmitgliedern, ZIP 2014, 406; Fischer, Haftung und Abberufung von Bankvorständen, DStR 2007, 1083; Fleischer, Aktienrechtliche Compliance-Pflichten im Praxistest: Das Siemens/Neubürger-Urteil des LG München I, NZG 2014, 321; Fleischer, Aktuelle Entwicklungen der Managerhaftung, NJW 2009, 2337; Fleischer, Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts, NJW 2005, 3525; Fleischer, Die „Business Judgment Rule”: Vom Richterrecht zur Kodifizierung, ZIP 2004, 685; Fleischer, Expertenrat und Organhaftung, KSzW 2013, 3; Fleischer, Haftungsfreistellung, Prozesskostenersatz und Versicherung für Vorstandsmitglieder – eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme zur Enthaftung des Managements, WM 2005, 909; Fleischer, Kartellrechtsverstöße und Vorstandsrecht, BB 2008, 1070; Fleischer, Kompetenzüberschreitungen von Geschäftsleitern im Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht, DStR 2009, 1204; Fleischer, Rechtsrat und Organwalterhaftung im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 187; Fleischer, Regresshaftung von Geschäftsleitern wegen Verbandsgeldbußen, DB 2014, 345; Fleischer, Ruinöse Managerhaftung: Reaktionsmöglichkeiten de lege lata und de lege ferenda, ZIP 2014, 1305; Fleischer, Vergleiche über Organhaftungs-, Einlage- und Drittansprüche der Aktiengesellschaft, AG 2015, 133; Fleischer, Verjährung von Organhaftungsansprüchen: Rechtspraxis – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik, AG 2014, 457; Fleischer, Vorstandshaftung und Rechtsirrtum über die Vertretungskompetenz beim Abschluss eines Interim-Management-Vertrags, DB 2015, 1764; Fleischer, Vorstandshaftung und Vertrauen auf anwaltlichen Rat, NZG 2010, 121; Fleischer, Vorstandspflichten bei rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschlüssen, BB 2005, 2025; Fleischer, Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung im Aktienrecht, NZG 2003, 449; Fleischer, Zur aktienrechtlichen Verantwortlichkeit faktischer Organe, AG 2004, 517; Fleischer, Zur rechtlichen Bedeutung der Fairness Opinion im deutschen Aktienund Übernahmerecht, ZIP 2011, 201; Fleischer, Zur Verantwortlichkeit einzelner Vorstandsmitglieder bei Kollegialentscheidungen im Aktienrecht, BB 2004, 2645; Florstedt, Cum/ex-Geschäfte und Vorstandshaftung, NZG 2017, 601; Freitag/Korch, Die Angemessenheit der Information im Rahmen der Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG), ZIP 2012, 2281; Freund, Brennpunkte der Organhaftung, NZG 2015, 1419; Freund, Gesamtschuldnerregress in der Organhaftung, GmbHR 2013, 785; Froesch, Managerhaftung – Risikominimierung durch Delegation?, DB 2009, 722; Gaul, Regressansprüche bei Kartellbußen im Lichte der Rechtsprechung und der aktuellen Debatte über die Reform der Organhaftung, AG 2015, 109; Ganzer, Informationsbedarf beim Unternehmenserwerb, AG 2022, 22; Glöckner/Müller-Tautphaeus, Rückgriffshaftung von Organmitgliedern bei Kartellrechtsverstößen, AG 2001, 344; Goette, Gesellschaftsrechtliche Grundfragen im Spiegel der Rechtsprechung, ZGR 2008, 436; Goette, Grundsätzliche Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats bei sorgfaltswidrig schädigendem Verhalten im AG-Vorstand, ZHR 176 (2012), 588; Goette, Leitung, Aufsicht, Haftung – zur Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung einer modernen Unternehmensführung, in: Festschrift 50 Jahre BGH, 2000, S. 123; Goette, Managerhaftung: Handeln auf Grundlage angemessener Information, DStR 2014, 1776; Goette, Organisationspflichten in Kapitalgesellschaften zwischen Rechtspflicht und Opportunität, ZHR 175 (2011), 388; Goette, Zu den vom Aufsichtsrat zu beachtenden Abwägungskriterien im Rahmen seiner Entscheidung nach den ARAG/GARMENBECK-Kriterien – dargestellt am Beispiele des Kartellrechts, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 377; Goette, „Zur ARAG/GARMENBECKDoktrin“, Liber amicorum Winter, 2011, 157; Goette, Zur Verteilung der Darlegungsund Beweislast der objektiven Pflichtwidrigkeit bei der Organhaftung, ZGR 1995, 648; Grooterhorst, Das Einsichtnahmerecht des ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds in Ge-

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§ 2 Haftung des Vorstands schäftsunterlagen im Haftungsfall, AG 2011, 389; Gross, Deliktische Außenhaftung des GmbH-Geschäftsführers, ZGR 1998, 551; Grunewald, Die Abwälzung von Bußgeldern, Verbands- und Vertragsstrafen im Wege des Regresses, NZG 2016, 1121; Grunewald, Haftungsvereinbarungen zwischen Aktiengesellschaft und Vorstandsmitgliedern, AG 2013, 813; Grunewald/Hennrichs, Haftungsgrundsätze für Entscheidungen unter Unsicherheit, in: Festschrift Maier-Reimer, 2010, S. 147; Guntermann, Der Gesamtschuldnerregress unter Vorstandsmitgliedern, AG 2017, 606; Haarmann, Keine eigenständige rechtliche Bedeutung des Interessenkonflikts im Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Wegen, 2015, S. 423; Haarmann/Weiß, Reformbedarf bei der aktienrechtlichen Organhaftung, BB 2014, 2115; Habersack, 19 Jahre „ARAG/Garmenbeck“ – und viele Fragen offen, NZG 2016, 321; Habersack, Die Freistellung des Organwalters von seiner Haftung gegenüber der Gesellschaft, in: Festschrift Ulmer, 2003, S. 151; Habersack, Die Legalitätspflicht des Vorstands der AG, in: Festschrift U.H. Schneider, 2011, S. 429; Habersack, Die Umplatzierung von Aktien und das Verbot der Einlagenrückgewähr – Folgerungen aus der „DTAG“-Entscheidung des BGH, insbesondere hinsichtlich des Regresses des Aktionärs, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, S. 303; Habersack, Enthaftung des Vorstandsmitglieds qua Anstellungsvertrag?, NZG 2015, 1297; Habersack, Gesteigerte Überwachungspflichten des Leiters eines sachnahen Vorstandsressorts? WM 2005, 2360; Habersack, Organverantwortlichkeit und rechtmäßiges Alternativverhalten, in: Festschrift Vetter, 2019, S. 183; Habersack, Perspektiven der aktienrechtlichen Organhaftung, ZHR 177 (2013), 782; Habersack, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen gemäß § 93 Abs. 4 S. 3 AktG – de lege lata und de lege ferenda, in: Festschrift Baums, 2017, S. 531; Habersack/Schürnbrand, Das Schicksal gebundener Ansprüche beim Formwechsel, NZG 2007, 81; Habersack/ Schürnbrand, Die Rechtsnatur der Haftung aus §§ 93 Abs. 3 AktG, 43 Abs. 3 GmbHG, WM 2005, 957; Haertlein, Vorstandshaftung wegen (Nicht-)Ausführung eines Gewinnverwendungsbeschlusses mit Dividendenausschüttung, ZHR 168 (2004), 437; Harbarth, Unternehmerisches Ermessen des Vorstands im Interessenkonflikt, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, S. 323; Harbarth/Höfer, Beginn der Dreijahresfrist des § 93 IV 3 AktG bei nicht abgeschlossener Schadensentstehung, NZG 2016, 686; Harbarth/Jaspers, Verlängerung der Verjährung von Organhaftungsansprüchen durch das Restrukturierungsgesetz, NZG 2011, 368; Hasselbach, Der Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegen Organmitglieder, DB 2010, 2037; Hasselbach, Haftungsfreistellung für Vorstandsmitglieder, NZG 2016, 890; Hasselbach/Seibel, Die Freistellung von Vorstandsmitgliedern und leitenden Angestellten von der Haftung für Kartellverstöße, AG 2008, 770; Hauger/ Palzer, Kartellbußen und gesellschaftsrechtlicher Innenregress, ZGR 2015, 33; Hauschka, Corporate Compliance – Unternehmensorganisatorische Ansätze zur Erfüllung der Pflichten von Vorständen und Geschäftsführern, AG 2004, 461; Henze, Leitungsverantwortung des Vorstands – Überwachungspflicht des Aufsichtsrats, BB 2000, 209; Heyers, Gestaltungsperspektiven aktienrechtlicher Organhaftung am Beispiel der Regressansprüche der Gesellschaft infolge von Kartellordnungswidrigkeiten – eine rechtsökonomische und wertungsjuristische Analyse, WM 2016, 581; Hirte, Der Abwendungsvergleich nach § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG, in: Liber Amicorum Happ, 2006, 65; Hirte/Stoll, Die Enthaftung insolventer Geschäftsleiter und Aufsichtsratsmitglieder durch Abwendungsvergleich, ZIP 2010, 253; Hoffmann, Existenzvernichtende Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten, NJW 2012, 1393; Hoffmann-Becking, Haftungsbeschränkung durch Geschäftsverteilung in Geschäftsführung und Vorstand, NZG 2021, 93; Hoffmann-Becking, Sinn und Unsinn der D&O-Versicherung, ZHR 181 (2017), 737; Hohenstatt/Naber, Die D&O-Versicherung im Vorstandsvertrag, DB 2010, 2321; Holle, Die Binnenhaftung des Vorstands bei unklarer Rechtslage, AG 2016, 270; Hopt, Aktionärskreis und Vorstandsneutralität, ZGR 1993, 534; Hopt, Die Verantwortlichkeit von Vorstand und Aufsichtsrat: Grundsatz und Praxisprobleme – unter besonderer Berücksichtigung der Banken, ZIP 2013, 1793; Horn, Die Haftung des Vorstands der AG nach § 93 AktG und die Pflichten des Aufsichtsrats, ZIP 1997, 1129; Hüffer, Das Leitungsermessen des Vorstands in der Aktiengesellschaft, in: Festschrift Raiser, 2005, S. 163; Hüffer, Unternehmenszusammenschlüsse: Bewertungsfragen, Anfechtungsprobleme und Integrationsschran-

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§ 2 Haftung des Vorstands ken, ZHR 172 (2008), 572; Hunecke, Ersatzfähigkeit außergerichtlicher Anwaltskosten, NJW 2015, 3745; Ihrig, Reformbedarf beim Haftungstatbestand des § 93 AktG, WM 2004, 2098; Junge, Das Unternehmensinteresse, in: Festschrift v. Caemmerer, 1978, S. 547; Kapp/Gärtner, Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat bei Verstößen gegen das Kartellrecht, CCZ 2009, 168; Kersting, Organhaftung für Kartellbußgelder, ZIP 2016, 1266; Kiefner/Krämer, Geschäftsleiterhaftung nach ISION und das Vertrauendürfen auf Rechtsrat, AG 2012, 498; Kindler, Vorstands- und Geschäftsführerhaftung mit Augenmaß – Über einige neuere Grundsatzentscheidungen des II. Zivilsenats des BGH zu §§ 93 AktG und § 43 GmbHG, in: Festschrift Goette, 2011, S. 231; Kleinhenz/Leyendecker, Voraussetzungen und Reichweite der Haftungsbefreiung nach § 93 Abs. 4 S. 1 AktG bei M&A-Transaktionen, BB 2012, 861; Klöhn, Geschäftsleiterhaftung und unternehmensinterner Rechtsrat, DB 2013, 1535; Knops, Verjährungsbeginn durch Anspruchsentstehung bei Schadensersatzansprüchen – insb. nach den §§ 37a und d WpHG, AcP 205 (2005), 821; Koch, Beschränkung der Regressfolgen im Kapitalgesellschaftsrecht, AG 2012, 429; Koch, Begriff und Rechtsfolgen von Interessenkonflikten und Unabhängigkeit im Aktienrecht, ZGR 2014, 697; Koch, Beschlusserfordernis und rechtmäßiges Alternativverhalten bei der Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG, in: Festschrift Köndgen, 2016, S. 329; Koch, Beschränkungen des gesellschaftsrechtlichen Innenregresses bei Bußgeldzahlungen, Liber Amicorum Winter, 2011, 327; Koch, Das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), ZGR 2006, 769; Koch, Regressreduzierung im Kapitalgesellschaftsrecht – eine Sammelreplik, AG 2014, 513; Kocher, Zur Reichweite der Business Judgment Rule, CCZ 2009, 215; Kolb, Keine Haftung des GmbH-Geschäftsführers für eine gegen die Gesellschaft verhängte Kartellbuße, GWR 2015, 169; Kollmann/Aufdermauer, Für die gegen eine Gesellschaft verhängte Unternehmenskartellgeldbuße kann im Innenverhältnis kein Regress beim Geschäftsführer genommen werden, BB 2015, 1018; Kort, Die Haftung des Einflussnehmers auf Kapitalgesellschaften in ausländischen Rechtsordnungen – Vorbild für ein neues Verständnis von § 117 AktG?, AG 2005, 453; Kremer, Kooperation des Unternehmens mit der Staatsanwaltschaft im Compliance Bereich, in: Festschrift U.H. Schneider, 2011, S. 701; Krieger, Beweislastumkehr und Informationsanspruch des Vorstandsmitglieds bei Schadensersatzforderungen nach § 93 Abs. 2 AktG, in: Festschrift Schneider, 2011, S. 717; Krieger, Wie viele Rechtsberater braucht ein Geschäftsleiter?, ZGR 2012, 496; Krieger, Zahlungen der Aktiengesellschaft im Strafverfahren gegen Vorstandsmitglieder, in: Festschrift Bezzenberger, 2000, S. 211; Kropff, Aktiengesetz, 1965; Kuhner, Die Business Judgement Rule im Bilanzrecht, Der Konzern 2017, 360; Labusga, Die Ersatzfähigkeit von Unternehmensgeldbußen im Innenregress gegen verantwortliche Vorstandsmitglieder, VersR 2017, 396; Lange, Die Haftung des (versicherungsnehmenden) Unternehmens anstelle des D&O-Versicherers, VersR 2010, 162; Langenbucher, Rechtsermittlungspflichten und Rechtsbefolgungspflichten des Vorstands – Ein Beitrag zur aktienrechtlichen Legalitätspflicht, in: Festschrift Lwowski, 2014, S. 333; Langenbucher, Vorstandshandeln und Kontrolle – Zu einigen Neuerungen durch das UMAG, DStR 2005, 2083; Leuering, Organhaftung und Schiedsverfahren, NJW 2014, 657; Liese/Theusinger, Zur Frage der Geschäftsführerhaftung aufgrund einer Fehlinvestition, BB 2007, 71; von der Linden, Haftung für Fehler bei der Leitung der Hauptversammlung, NZG 2013, 208; Löbbe/Fischbach, Die Business Judgment Rule bei Kollegialentscheidungen des Vorstands, AG 2014, 717; Lücke, Der Einsatz von KI in der und durch die Unternehmensleitung, BB 2019, 1986; Lutter, Die Business Judgment Rule und ihre praktische Anwendung, ZIP 2007, 841; Lutter, Interessenkonflikte und Business Judgment Rule, in: Festschrift Canaris II, 2007, S. 245; Lüneborg/Resch, Die Ersatzfähigkeit von Kosten interner Ermittlungen und sonstiger Rechtsberatung im Rahmen der Organhaftung, NZG 2018, 209; Lohse, Schmiergeld als Schaden? Zur Vorteilsausgleichung im Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 581; Marsch-Barner, Vorteilsausgleich bei der Schadensersatzhaftung nach § 93 AktG, ZHR 173 (2009), 723; Meier-Greve, Vorstandshaftung wegen mangelhafter Corporate Compliance, BB 2009, 2555; Merkt, Bilanzierungsentscheidungen und unternehmerisches Ermessen, Der Konzern 2017, 353; Merkt/Mylich, Einlage eigener Aktien und Rechtsrat

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§ 2 Haftung des Vorstands durch den Aufsichtsrat, NZG 2012, 525; S. Meyer, Compliance-Verantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern – Legalitätsprinzip und Risikomanagement, DB 2014, 1063; Nietsch, Geschäftsleiterermessen und Unternehmensorganisation bei der AG, ZGR 2015, 631; Paefgen, Die Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule, NZG 2009, 891; Paefgen, Dogmatische Grundlagen, Anwendungsbereich und Formulierung einer Business Judgment Rule im künftigen UMAG, AG 2004, 245; Paefgen, Organhaftung: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven, AG 2014, 554; Peetz, Der faktische Geschäftsführer – faktisch oder eine Fiktion, GmbHR 2017, 57; Peltzer, Mehr Ausgewogenheit bei der Vorstandshaftung, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 861; Peters, Angemessene Informationsbasis als Voraussetzung pflichtgemäßen Vorstandshandelns, AG 2010, 811; Rahlmeyer/v. Eiff, Anmerkung zum BGH-Urteil v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, CCZ 2015, 92; Rahlmeyer/Fassbach, Vorstandshaftung und Prozessfinanzierung, GWR 2015, 331; Raisch, Zum Begriff und zur Bedeutung des Unternehmensinteresses als Verhaltensmaxime von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, in: Festschrift Hefermehl, 1976, S. 347; Redeke, Institutionelle Investoren und Organhaftung, AG 2015, 253; Redeke, Zur gerichtlichen Kontrolle der Angemessenheit der Informationsgrundlage im Rahmen der Business Judgment Rule nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, ZIP 2011, 59; Redeke, Zur gesellschaftsrechtlichen Gremienberatung durch die Rechtsabteilung, AG 2017, 289; Reichert, Das Prinzip der Regelverfolgung von Schadensersatzanprüchen nach „ARAG/Garmenbeck“ – Eine kritische Würdigung, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, S. 907; Reichert, „ARAG/ Garmenbeck“ im Praxistest – Entscheidungsgrundlagen über die Verfolgung von Organhaftungsansprüchen, ZIP 2016, 1189; Reichert, Existenzgefährdung bei der Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen, ZHR 177 (2013), 756; Reichert/Suchy, Die Two-Tier Trigger Policy – Marketinginstrument oder zukunftsweisendes D&O-Versicherungskonzept?, NZG 2017, 88; Riehm, Alternative Streitbeilegung und Verjährungshemmung, NJW 2017, 113; Riewe, Aktuelles Internationales und ausländisches Insolvenzrecht, NZI 2010, 291; Ruchatz, Auskunftspflichten der Aktiengesellschaft bei Organhaftungsverfahren im Verhältnis zum Anspruchsgegner und gegenüber dem D&O-Versicherer, AG 2015, 1; Saenger/ Uphoff, Erstattungsfähigkeit anwaltlicher Zeithonorare, NJW 2014, 1412; Schäfer, Die Binnenhaftung von Vorstand und Aufsichtsrat nach der Renovierung durch das UMAG, ZIP 2005, 1253; Schäfer, Interessenkonflikte und Unabhängigkeit im Recht der GmbH und der Personengesellschaften, ZGR 2014, 731; v. Schenk, Handlungsbedarf bei der D&O-Versicherung, NZG 2015, 494; Schirrmacher/Hildebrandt, Die Business Judgement Rule bei der Übernahmeverteidigung, AG 2021, 220; Schmitz-Remberg, Existenzgefährdende Maßnahmen im Lichte der Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, BB 2014, 2701; Schneider, Bericht über die Diskussion des Referats Bergmann, VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2013, 2014, 17; S.H. Schneider, Unternehmerische Entscheidungen als Anwendungsvoraussetzung für die Business Judgement Rule, DB 2005, 707; U.H. Schneider, Anwaltlicher Rat zu unternehmerischen Entscheidungen bei Rechtsunsicherheit, DB 2011, 99; U.H. Schneider, Die Haftung von Mitgliedern des Vorstands und der Geschäftsführer bei Vertragsverletzungen der Gesellschaft, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 905; Schnorbus/Ganzer, Recht und Praxis der Prüfung und Verfolgung von Vorstandsfehlverhalten durch den Aufsichtsrat – Teil I –, WM 2015, 1832; Schnorbus/ Ganzer, Recht und Praxis der Prüfung und Verfolgung von Vorstandsfehlverhalten durch den Aufsichtsrat – Teil II –, WM 2015, 1877; Schnorbus/Klormann, Verzicht des Vorstands auf die Einrede der Verjährung nach § 93 VI AktG und die Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats nach ARAG/Garmenbeck, NZG 2015, 938; Schockenhoff, Haftung und Enthaftung von Geschäftsleitern bei Compliance-Verstößen in Konzernen mit MatrixStrukturen, ZHR 180 (2016), 197; Schockenhoff/Culmann, Rechtsschutz gegen Leerverkäufer?, AG 2016, 517; Scholz/Weiß, Schiedsverfahren zur Vermeidung der Vorstandshaftung?, AG 2015, 523; Schöne/Petersen, Regressansprüche gegen (ehemalige) Vorstandsmitglieder – quo vadis?, AG 2012, 700; Seibert/Schütz, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts – UMAG, ZIP 2004, 252; Seibt, 20 Thesen zur Binnenverantwortung im Unternehmen im Lichte des reformierten Kapitalmarktsanktionsrechts, NZG 2015, 1097; Seibt, „Halbver-

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§ 2 Haftung des Vorstands mögensschutzklausel“ als Instrument zur Vermeidung existenzgefährdender Binnenregressansprüche in Fällen grober Disproportionalität, NZG 2016, 361; Seibt/Cziupka, 20 Thesen zur Compliance-Verantwortung im System der Organhaftung aus Anlass des Siemens/Neubürger-Urteils, DB 2014, 1598; Seibt/Cziupka, Rechtspflichten und Best Practices für Vorstands- und Aufsichtsratshandeln bei der Kapitalmarktrecht-Compliance, AG 2015, 93; Selter, Haftungsrisiken von Vorstandsmitgliedern bei fehlendem und von Aufsichtsratsmitgliedern bei vorhandenem Fachwissen, AG 2012, 11; Spindler, Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für fehlerhafte Auslegung von Rechtsbegriffen, in: Festschrift Canaris II, 2007, S. 403; Spindler, Haftung und Aktionärsklage nach dem neuen UMAG, NZG 2005, 865; Spindler, Organhaftung in der AG – Reformbedarf aus wissenschaftlicher Perspektive, AG 2013, 889; Spindler, Prognosen im Gesellschaftsrecht, AG 2006, 677; Strohn, Beratung der Geschäftsleitung durch Spezialisten als Ausweg aus der Haftung?, ZHR 176 (2012), 137; Strohn, Pflichtenmaßstab und Verschulden bei der Haftung von Organen einer Kapitalgesellschaft, CCZ 2013, 177; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gemäß § 93 Abs. 6 AktG, § 43 Abs. 4 GmbHG, § 34 Abs. 6 GenG, Diss. 2005; Suchy, Schadensumfang bei Haftung von Vorständen und Geschäftsführern wegen Unternehmensgeldbußen für kartellrechtliche Verstöße, NZG 2015, 591; Theusinger/Liese, Besteht eine Rechtspflicht zur Dokumentation von Risikoüberwachungssystemen i. S. des § 91 II 1 AktG?, NZG 2008, 289; Thomas, Bußgeldregress, Übelszufügung und D&OVersicherung, NZG 2015, 1409; Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, Habil. 2010; Thomas, Haftpflichtrechtliche Verjährungsverlängerung und D&ODeckung, AG 2016, 473; Thole, Managerhaftung für Gesetzesverstöße, ZHR 173 (2009), 504; Turiaux/Knigge, Vorstandshaftung ohne Grenzen? – Rechtssichere Vorstands- und Unternehmensorganisation als Instrument der Risikominimierung, DB 2004, 2199; Ulmer, Haftungsfreistellung bis zur Grenze grober Fahrlässigkeit bei unternehmerischen Fehlentscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat?, DB 2004, 859; Unmuth, Hauptversammlungszustimmung bei Abtretung des Deckungsanspruchs und sich anschließendem Vergleich mit dem D&O-Versicherer, AG 2020, 890; Urban, Organhaftung begrenzen? Möglichkeiten der Pflichtendelegation, GWR 2013, 106; Verhoeven, Ausschluss der Aufrechnung von Schadensersatzansprüchen der AG gegen Ansprüche eines Vorstandsmitglieds aus Aufhebungsvereinbarung, EWiR 2008, 353; Verse, Organhaftung bei unklarer Rechtslage – Raum für eine Legal Judgment Rule?, ZGR 2017, 174; E. Vetter, Drittanstellung von Vorstandsmitgliedern, aktienrechtliche Kompetenzverteilung und Exkulpation des Vorstands bei rechtlicher Beratung, NZG 2015, 889; J. Vetter, Geschäftsleiterpflichten zwischen Legalität und Legitimität, ZGR 2018, 338; Wach, Zeitbombe BGHZ 152, 280: Erfolgshaftung für unternehmerische Entscheidungen?, Ars aequi et boni in mundo, in: Festschrift Schütze, 2015, S. 663; G. Wagner, Organhaftung im Interesse der Verhaltenssteuerung – Skizze eines Haftungsregimes, ZHR 178 (2014), 227; Wahlers/Wolff, Individualabreden zur Verhinderung der drohenden Verjährung von Organhaftungsansprüchen bei der Aktiengesellschaft, AG 2011, 605; Waltenberg, Unter Beobachtung – Der amerikanische Monitor im deutschen Unternehmen, CCZ 2017, 146; Weber/Schäfer, Kartellbußgelder gegen Vorstandsmitglieder, NZG 2020, 407; Weller/Rahlmeyer, Ausgleichsklauseln in Aufhebungsvereinbarungen mit Vorstandsmitgliedern – Steine statt Brot?!, GWR 2014, 167; Werner, Die Enthaftung des Vorstands: Die strafrechtliche Dimension, CCZ 2011, 201; Werner, Die Verjährungsverlängerung und ihre Auswirkungen auf die D&O-Versicherung, VersR 2016, 1352; Westermann, Freistellungserklärungen für Organmitglieder im Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Beusch, 1993, S. 871; Wettich, Aktuelle Entwicklungen und Trends in der Hauptversammlungssaison 2015 und Ausblick auf 2016, AG 2015, 681; Wettich, Aktuelle Entwicklungen und Trends in der Hauptversammlungssaison 2016 und Ausblick auf 2017, AG 2017, 60; Wiersch, Geschäftsleiterpflichten bei Gewährung von Kulanzleistungen, NZG 2013, 1206; Wilhelmi, Beschränkung der Organhaftung und innerbetrieblicher Schadensausgleich, NZG 2017, 681; Wilsing, Der Vergleich über Organhaftungsansprüche – Überlegungen zum materiellen Prüfungsmaßstab des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, in: Festschrift Haarmann, 2015, S. 257; Wilsing,

208

Illert/Meyer/Krenek

A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG Voraussetzungen und Folgen der Nichtgeltendmachung von Haftungsansprüchen aus übergeordneten Gründen des Unternehmenswohls, in: Festschrift Maier-Reimer, 2010, S. 889; Wilsing/von der Linden, Selbstbefreiung des Aufsichtsrats vom Gebot der Gremienvertraulichkeit, ZHR 178 (2014), 419; Windorfer, Der Verjährungsverzicht, NJW 2015, 3329; Winnen, Die Innenhaftung des Vorstands nach dem UMAG, Diss. 2008; Winter, Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 1103; Woitkewitsch, Ersatzpflicht für außergerichtliche Rechtsanwaltsund Inkassokosten, MDR 2012, 500; Wolff/Jansen, Ausschluss der Haftung der Vorstandsmitglieder durch formlose Billigung des Vorstandshandelns durch die Aktionäre?, NZG 2013, 1165; Zenner, Die Anwendung der Business Judgement Rule im Rahmen der vertikalen Delegation, AG 2021, 502; Zimmermann, Kartellrechtliche Bußgelder gegen Aktiengesellschaft und Vorstand: Rückgriffsmöglichkeiten, Schadensumfang und Verjährung, WM 2008, 433; Zimmermann, Vereinbarungen über die Erledigung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften, in: Festschrift Duden, 1977, S. 773.

Verletzen Vorstandsmitglieder bei der Führung der Geschäfte der AG ihnen 1 obliegende Pflichten, droht ihnen eine persönliche Haftung für daraus resultierende Schäden. Zu unterscheiden ist zwischen der Haftung des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft einerseits (sog. Innenhaftung) und gegenüber Dritten (z. B. Aktionären, Gläubigern etc.) andererseits (sog. Außenhaftung).1) In der Praxis hat die Innenhaftung nach § 93 Abs. 2 AktG im Fall der Verletzung einer organschaftlichen Pflicht (Æ § 1 Rz. 225 ff.) mit Abstand die größte Bedeutung (Æ Rz. 2 ff.). Das entspricht auch der Grundkonzeption des Aktienrechts, wonach organschaftliche Pflichtverletzungen prinzipiell nur zur Innenhaftung des Vorstands gegenüber der Gesellschaft führen.2) Für acht (vormals: neun) besonders wichtige Fälle von Pflichtverletzungen, die die Kapitalgrundlagen der Gesellschaft schmälern, finden sich Sondertatbestände der Innenhaftung in § 93 Abs. 3 AktG (die sog. acht „Todsünden“3); Æ Rz. 186 ff.). Schließlich kommt es nur in Ausnahmefällen zu einer möglichen unmittelbaren Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern gegenüber Aktionären und Dritten, und dies i. d. R. auch nur, soweit im Einzelfall die engen Voraussetzungen besonderer Anspruchsgrundlagen erfüllt sind (Æ Rz. 224 ff.). A.

Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Illert/Meyer

§ 93 Abs. 2 AktG ist die zentrale Haftungsnorm des Aktienrechts und An- 2 spruchsgrundlage für Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder. Nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG sind Vorstandsmitglieder der Gesellschaft als Gesamtschuldner schadensersatzpflichtig, wenn sie schuldhaft ___________ 1) 2)

3)

Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 384 f.; Koch, § 93 Rz. 186. BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 = ZIP 2012, 1552 (1554), Rz. 23; OLG Rostock, Urt. v. 16.2.2007 – 8 U 54/06, GmbHR 2007, 762 (GmbH); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 384; Koch, § 93 Rz. 144; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1500; Fleischer, BB 2004, 2645. Vormals „neun Todsünden“; vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 321.

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§ 2 Haftung des Vorstands

eine ihnen obliegende Pflicht verletzt haben, der Gesellschaft aufgrund dieser Pflichtverletzung ein kausaler Schaden entstanden ist und der Anspruch der Gesellschaft nicht verjährt ist. Die Regelung ist nach ganz h. M. zwingend und ermöglicht damit weder einen Haftungsausschluss noch eine Haftungsreduzierung, aber auch keine Haftungsverschärfung durch Regelungen in Satzung (Æ § 1 Rz. 7) oder Anstellungsvertrag (Æ § 1 Rz. 49 und § 3 Rz. 195 ff.).4) 3 Der gesetzliche Organhaftungsanspruch aus § 93 Abs. 2 AktG knüpft allein an das organschaftliche Bestellungsverhältnis des Vorstandsmitglieds an und findet unabhängig davon Anwendung, ob die Gesellschaft mit dem Vorstandsmitglied zugleich einen Anstellungsvertrag geschlossen hat (Æ § 1 Rz. 48 f.). Ob der Gesellschaft im letzteren Fall auch ein vertraglicher Anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB wegen der Verletzung anstellungsvertraglicher Pflichten zusteht, ist umstritten. Praktisch wirkt sich der Streit allerdings nicht aus, weil die Verletzung aller anstellungsvertraglichen Pflichten (Æ § 1 Rz. 442 ff.) jedenfalls auch unter § 93 Abs. 2 AktG fällt (Æ Rz. 14).5) 4 Die Haftung von Vorstandsmitgliedern gegenüber der Gesellschaft nach § 93 Abs. 2 AktG war lange Zeit eher die Ausnahme denn die Regel, weil Vorstand und Aufsichtsrat aufgrund kollegialer Verbundenheit regelmäßig von einer Anspruchsverfolgung absahen.6) In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Vorstandsinnenhaftung jedoch enorm an praktischer Bedeutung gewonnen und die Fälle haftungsrechtlicher Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern haben spürbar zugenommen. Verschiedene Faktoren haben hierzu beigetragen. Ausgangspunkt dürfte die sog. ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH7) aus dem Jahr 1997 sein (Æ § 3 Rz. 276 ff.), durch die der BGH die Pflicht des Aufsichtsrats zur sorgfältigen Prüfung und ggf. Verfolgung von Schadensersatzansprüchen nach § 93 Abs. 2 AktG gegen Vorstandsmitglieder deutlich herausgestellt hat. Infolge der globalen Banken- und Finanzkrise kam es sodann zu einer spürbaren Verschärfung des allgemeinen Haftungsklimas. Dies äußerte sich namentlich in parteiübergreifenden Bestrebungen zur gesetzlichen Verschärfung der Managerhaftung und der Kontrolle über die Vorstandstätigkeit – insbesondere in regulierten Märkten (Æ § 11) –, in einer (deutlich) gestiegenen öffentlichen und medialen Erwartungshaltung, Manager für (angebliches) Fehlverhalten haftbar zu machen8) sowie in einer zunehmenden Bereit___________ 4)

5) 6) 7) 8)

210

Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 11 ff.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 8; Hopt, ZIP 2013, 1793 (1800); Spindler, AG 2013, 889 (890); a. A. Grunewald, AG 2013, 813 ff.; Hoffmann, NJW 2012, 1393 (1395 ff.). BGH, Urt. v. 12.6.1989 – II ZR 334/87, ZIP 1989, 1390 (1392) (GmbH); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 46; Koch, § 93 Rz. 71. Koch, § 93 Rz. 2. BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253) = ZIP 1997, 883 (885) – ARAG/Garmenbeck. Vgl. nur zuletzt die sog. „Diesel-Affäre“.

Illert/Meyer

A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

schaft von Gerichten und Staatsanwaltschaften, Gesetze streng zu interpretieren und Organmitglieder in die Pflicht zu nehmen9). Außerdem trägt die stetige Professionalisierung der Aktionäre zu einer Zunahme von Haftungsrisiken bei. Insbesondere institutionelle Investoren, aktivistische Investoren und ProfiAktionäre drängen in haftungsrelevanten Sachverhalten vermehrt auf die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen und machen dabei auch Gebrauch von den ihnen zustehenden aktienrechtlichen Instrumenten (z. B. Sonderprüfung gemäß § 142 AktG, Bestellung eines besonderen Vertreters oder Aktionärsklage gemäß §§ 147, 148 AktG; Æ § 6 Rz. 1 ff.).10) Schließlich schaffen die inzwischen weit verbreiteten D&O-Versicherungen (Æ § 24) einen Anreiz für Gesellschaften, Ansprüche gegen Organmitglieder zu verfolgen und erlittene Schäden unter Rückgriff auf die Versicherung zu kompensieren.11) Praxishinweis: In Verbindung mit bisweilen exorbitanten Haftungsrisiken 5 (Æ Rz. 97 f.) hat diese Entwicklung das Verhalten vieler Vorstände beeinflusst und nicht selten eine Risikoaversion und ein extremes Absicherungsbedürfnis zur Folge. Das ist für eine effektive Führung der Geschäfte und die Wahrnehmung des dem Vorstand zustehenden Ermessens (Æ § 1 Rz. 227) mitunter hinderlich. Die Lösung dieses Problems besteht nicht in einer vollständigen Abstandnahme von riskanten (aber erforderlichen) Maßnahmen. Vielmehr kann dem Vorstand nur empfohlen werden, stets gewissenhaft auf die Beachtung der Voraussetzungen der Business Judgement Rule (Æ Rz. 25 ff.) zu achten. Mit zunehmender Bedeutung der Entscheidung und insbesondere in haftungsträchtigen Situationen sollte er sich bei Entscheidungsvorbereitung und -findung zudem durch interne oder externe Sachverständige unterstützen lassen und ggf. ein (schriftliches) Sachverständigengutachten einholen, um nach den Grundsätzen der sog. ISION-Rechtsprechung des BGH die Möglichkeit einer haftungsrechtlichen Exkulpation zu erlangen (Æ Rz. 58 ff.). Dies muss und darf allerdings nicht in einer rein formalen Absicherungspolitik münden.12) I.

Haftungsvoraussetzungen

1.

Vorstandsmitglied

Die Haftung nach § 93 Abs. 2 AktG trifft alle Vorstandsmitglieder, einschließ- 6 lich der besonderen Vorstandsmitglieder (Æ § 1 Rz. 42 ff.) sowie gerichtlich bestellter Mitglieder (§ 85 AktG), und zwar für Pflichtverletzungen während der Dauer des Bestellungsverhältnisses, d. h. vom Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Bestellung (Æ § 3 Rz. 182 a. E.) bis zur Beendigung der Bestellung ___________ 9) Vgl. z. B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, ZIP 2010, 28 (31 f.) – IKB (Haftung für risikobehaftete Anlagen im Zusammenhang mit der Finanzkrise; Æ § 1 Rz. 268); LG München I, Urt. v. 10.12.2014 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2015, 275 – Siemens/ Neubürger (Haftung für Compliance-Pflichtverletzungen; Æ § 1 Rz. 285 ff.). 10) Zurückhaltender Redeke, AG 2015, 253 ff. 11) Koch, § 93 Rz. 2; v. Schenck, NZG 2015, 494 (495); Spindler, AG 2013, 889 (896). 12) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12.

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211

§ 2 Haftung des Vorstands

(Æ § 3 Rz. 186 ff.) bzw. dem ggf. späteren Zeitpunkt, in dem das Vorstandsmitglied seine Funktion nicht mehr ausübt.13) Auch gegen ausgeschiedene Vorstandsmitglieder kann die Gesellschaft damit nach § 93 Abs. 2 AktG vorgehen, solange der Anspruch während des Bestellungsverhältnisses entstanden ist.14) Keine Anwendung findet die Vorschrift auf Leitungspersonen, die nicht dem Vorstand angehören, selbst wenn diese als Bereichsvorstand bezeichnet werden (Æ § 1 Rz. 47). Diese können jedoch als faktisches Organ (Æ Rz. 8) nach § 93 Abs. 2 AktG haften.15) 7 Von der Vorschrift sind fehlerhaft bestellte Vorstandsmitglieder (Æ § 1 Rz. 51) ebenfalls erfasst, sofern diese mit Wissen des Aufsichtsrats ihr Amt ausüben.16) Grund für den Bestellungsmangel können z. B. ein fehlerhafter Aufsichtsratsbeschluss (Æ § 3 Rz. 77) oder das Fehlen zwingender Bestellungsvoraussetzungen (Æ § 1 Rz. 38 ff.) sein. 8 Nach h. M. fallen auch sog. faktische Organmitglieder, die ohne jeglichen Bestellungsakt wie Vorstandsmitglieder für die Gesellschaft tätig werden, unter § 93 Abs. 2 AktG.17) Die Rechtsprechung verlangt für das Vorliegen eines faktischen Organs aber jedenfalls ein eigenes, nach außen hervortretendes, üblicherweise der Geschäftsleitung (Æ § 1 Rz. 54 ff.) zuzurechnendes Handeln.18) 9 Für die Haftung von Sparkassenvorständen gilt § 93 Abs. 2 AktG entsprechend.19) ___________ 13) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 220 ff.; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 214 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 39 ff.; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 6. 14) Koch, § 93 Rz. 72. 15) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 219; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 365. 16) BGH, Urt. v. 25.6.2001 – II ZR 38/99, ZIP 2001, 1458 (1459) (GmbH); BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 (287) = NJW 1964, 1367; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 88; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 2; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 15. 17) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 88; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 362 ff.; Koch, § 93 Rz. 73; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 2; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 18; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 8; Fleischer, AG 2004, 517 (523 ff.); a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 43; offen gelassen von BGH, Urt. v. 27.6.2005 – II ZR 113/03, ZIP 2005, 1414 (1415) (GmbH); BGH, Urt. v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61 (69) = ZIP 2002, 848 (851) (GmbH). 18) BGH, Urt. v. 27.6.2005 – II ZR 113/03, ZIP 2005, 1414 (1415) (GmbH); BGH, Urt. v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61 (69) = ZIP 2002, 848 (851) (GmbH); BGH, Urt. v. 21.3.1998 – II ZR 194/87, BGHZ 104, 44 (48) = ZIP 1988, 771 (772) (GmbH); Cahn, ZGR 2003, 298 (314 f.); Peetz, GmbHR 2017, 57 (64 ff.); a. A. die h. L.: BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 233; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 88; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 364. 19) BGH, Beschl. v. 15.9.2014 – II ZR 112/13, ZIP 2015, 370 (371); Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 2. Ausführlich Empt/Orlikowski-Wolf, ZIP 2016, 1053 ff.

212

Illert/Meyer

A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

2.

Pflichtverletzung

Die Haftung nach § 93 Abs. 2 AktG setzt eine widerrechtliche (Æ § 1 Rz. 249 f.) 10 Pflichtverletzung voraus. a)

Relevante Vorstandspflichten

Maßgeblich sind grundsätzlich nur pflichtwidrige Verhaltensweisen, die im Zu- 11 sammenhang mit dem dienstlichen Handeln stehen und nicht entweder der privaten oder einer anderen gesellschaftsfremden Sphäre zuzuordnen sind.20) In diesem Rahmen kann grundsätzlich die Verletzung jeder organschaftlichen 12 Pflicht haftungsbegründend wirken. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sehen sich Vorstandsmitglieder mit dem Vorwurf einer Verletzung der aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG resultierenden Sorgfaltspflicht konfrontiert, wonach jedes Vorstandsmitglied bei der Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden hat (Æ § 1 Rz. 226 ff.). Ihre Sorgfaltspflicht verletzen Vorstandsmitglieder insbesondere, wenn sie sich entgegen der ihnen obliegenden Legalitätspflicht entweder selbst nicht regeltreu verhalten – insbesondere indem sie gegen aktienrechtliche Einzelpflichten (Æ § 1 Rz. 346 ff.), sonstige gesetzliche Bestimmungen, Regelungen der Satzung oder einer Geschäftsordnung verstoßen – oder wenn sie nicht hinreichend für regelkonformes Verhalten der AG sorgen (Æ § 1 Rz. 229 ff.). Ferner kommt eine Pflichtverletzung in Betracht, wenn Vorstandsmitglieder die ihnen übertragene Unternehmensleitung und Geschäftsführung im Rahmen des ihnen vorgegebenen Pflichtenrahmens nicht umfänglich wahrnehmen oder ihr Amt nicht mit der erforderlichen Sorgfalt führen (Æ § 1 Rz. 251 ff.). Zu denken ist außerdem an Pflichtverletzungen dadurch, dass Vorstandsmitglieder das Verhalten nachgeordneter Unternehmensangehöriger und ihrer Vorstandskollegen nicht in geeigneter Weise überwachen (§ 1 Rz. 281 ff.) oder dass sie die ihnen obliegenden – weitreichenden – Compliance-Pflichten nicht beachten (Æ § 1 Rz. 285 ff.). Daneben können Verstöße gegen die Treuepflicht (Æ § 1 Rz. 308 ff.) einschließlich der Verschwiegenheitspflicht (Æ § 1 Rz. 331 ff.) des Vorstands eine Haftung nach § 93 Abs. 2 AktG begründen. Verstöße gegen die in § 93 Abs. 3 AktG ausdrücklich aufgelisteten Verbote 13 zur Verhinderung von Kapitalabflüssen unterliegen einer eigenständigen Regelung (Æ Rz. 186 ff.). Unter ihnen hat vor allem der Verstoß gegen den Kapitalerhaltungsgrundsatz gemäß § 57 Abs. 1 AktG (Æ § 1 Rz. 346 ff.) praktische Bedeutung.

___________ 20) Wachter/Link, § 93 Rz. 65; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 244; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 65.

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213

§ 2 Haftung des Vorstands

14 Auch die Verletzung anstellungsvertraglicher Pflichten (Æ § 1 Rz. 442 ff.) ist unter § 93 Abs. 2 AktG potentiell haftungsrelevant, weil Vorstandsmitglieder auch als Organmitglied ihre vertraglich übernommenen Pflichten erfüllen müssen.21) b)

Erfordernis individueller Vorwerfbarkeit

15 Die Vorstandsmitglieder trifft grundsätzlich eine Gesamtverantwortung. Aufgrund dieser sind sämtliche Mitglieder des Vorstands nicht nur gemeinsam zur Leitung der Gesellschaft und zur Geschäftsführung verpflichtet, sondern sie tragen auch gemeinsam die (haftungsrechtliche) Verantwortung für die gesamte Leitung der Gesellschaft sowie das ordnungsgemäße und rechtmäßige Funktionieren des Vorstands (Æ § 1 Rz. 91 ff.). 16 Aus der Gesamtverantwortung folgt aber nicht zwangsläufig eine Mithaftung jedes Vorstandsmitglieds für pflichtwidrige Gesamtvorstandsentscheidungen sowie Pflichtverletzungen der Vorstandskollegen oder nachgeordneter Hilfspersonen. Vielmehr haften Vorstandsmitglieder immer nur für ihnen individuell vorwerfbare (Überwachungs-)Pflichtverletzungen aufgrund eigenen Verhaltens.22) Eine Zurechnung etwaigen Fehlverhaltens von Vorstandskollegen oder Hilfspersonen, der sich die Gesellschaft bzw. ein Vorstandsmitglied bedient, entsprechend der allgemeinen Zurechnungsnormen des Zivilrechts (§§ 31, 278, 831 BGB) kommt nicht in Betracht.23) Vorstandsmitglieder verletzen ihre Pflichten vor diesem Hintergrund nur, wenn sie eigenhändig tätig werden, an Kollegialentscheidungen mitwirken oder wenn sie pflichtwidrige Handlungen anderer Vorstandsmitglieder oder von Mitarbeitern anregen oder pflichtwidrig nicht dagegen einschreiten.24) aa)

Eigenhändige Pflichtverletzungen

17 Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Geschäftsführungsaufgabe kommen eigenhändige Pflichtverletzungen insbesondere bei bestehender Ressortverteilung in Fällen in Betracht, in denen ein Vorstandsmitglied bestimmte Geschäftsführungsaufgaben als Ressortleiter alleinverantwortlich zur Erledigung wahrnehmen darf (Æ § 1 Rz. 99) oder in denen einem Vorstandsmitglied die Vorbereitung einer Gesamtvorstandsaufgabe als Berichterstatter übertragen ___________ 21) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 369; Koch, § 93 Rz. 77; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 21; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1521; MünchHdb GesR IV/Kraft/HoffmannBecking, § 26 Rz. 7. 22) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 48 f.; Ihrig/Schäfer § 37 Rz. 1500; Fleischer, NZG 2003, 449 (453); Habersack, WM 2005, 2360 (2361 a. E.); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (718). 23) Koch, § 93 Rz. 85; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1500; Fleischer, NZG 2003, 449 (453) (Æ § 1 Rz. 111). 24) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 27; BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 22.

214

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

wurde (§ 1 Rz. 117 ff.). Das betreffende Vorstandsmitglied darf hier insbesondere nicht bei der Entscheidungsvorbereitung oder -findung gegen die Legalitätspflicht (Æ § 1 Rz. 229 ff.) oder die Sorgfaltspflicht im engeren Sinne (Æ § 1 Rz. 251 ff.) verstoßen. Dabei ist stets genau zu prüfen, welcher individuelle Sorgfaltsmaßstab im konkreten Fall an das Verhalten des Vorstandsmitglieds anzulegen ist (Æ § 1 Rz. 253) und ob das Vorstandsmitglied im Lichte der ihm bekannten oder jedenfalls erkennbaren Umstände den geschuldeten Sorgfaltsanforderungen gerecht wurde. Schädlich sind Pflichtverletzungen durch aktives Tun gleichermaßen wie solche durch pflichtwidriges Unterlassen, wobei die Pflichtwidrigkeit im letztgenannten Fall i. d. R. beendet ist, wenn die Verhinderungshandlung nicht mehr nahholbar ist (Æ § 4 Rz. 9). Praxishinweis: Wenn der Vorstand Aufgaben im Wege vertikaler Delegation auf 18 nachgeordnete Mitarbeiter überträgt, kann das Vorliegen einer individuell vorwerfbaren und eigenhändigen Pflichtverletzung eines Vorstandsmitglieds bisweilen schwierig zu beurteilen sein.25) Als Leitlinie gilt auch hier, dass sich der Vorstand pflichtwidriges Verhalten Dritter nicht zurechnen lassen muss, sondern nur für eigene Pflichtverletzungen haftet. Bei der vertikalen Delegation zur Erledigung (Æ § 1 Rz. 109 ff.) haften Vor- 19 standsmitglieder vor diesem Hintergrund nur für die Verletzung eigener Auswahl, Einweisungs- oder Überwachungspflichten. Erfüllen sie diese Pflichten, haften sie selbst dann nicht, wenn der Delegationsempfänger seine Pflichten verletzt, solange dies für den Vorstand nicht erkennbar war. Bei der vertikalen Delegation zur Vorbereitung (Æ § 1 Rz. 117 ff.) obliegt die end- 20 gültige Entscheidung weiter dem Gesamtvorstand oder jedenfalls einem ressortzuständigen Vorstandsmitglied. Hier bleibt Anknüpfungspunkt für eine mögliche Haftung des Vorstands primär diese Entscheidung selbst. In einem ersten Schritt ist deshalb zu prüfen, ob die Entscheidung des Vorstands den Anforderungen genügt, welche aufgrund der Sorgfalts- und Treuepflicht an das Vorstandshandeln zu stellen sind. Verstößt die Entscheidung gegen die Legalitätspflicht oder ist sie aus anderen Gründen nicht sorgfaltspflichtgemäß, z. B. weil die Entscheidungsgrundlagen nicht hinreichend ermittelt wurden, wird dies dem (ressort-)verantwortlichen Vorstandsmitglied zumeist als eigener Pflichtenverstoß vorwerfbar sein, insbesondere wenn der Mangel dem Vorstandsmitglied bekannt oder erkennbar war. Eine individuell vorwerfbare Pflichtverletzung kann hier aber ausnahmsweise ausscheiden, wenn der betreffende Mangel bzw. Umstand dem Vorstandsmitglied unbekannt und auch unter keinen Umständen erkennbar war, z. B. weil ihm von dem zur Vorbereitung eingeschalten Delegationsempfänger wichtige Informationen vorenthalten wurden, ohne dass dies erkennbar war. In diesem Fall ist in einem zweiten Schritt wiederum zu prüfen, ob das Vorstandsmitglied seinen Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungspflichten hinreichend nachgekommen ist, wobei gerade bei Gesamtvorstandsaufgaben ein gesteigerter Überwachungsmaßstab anzulegen ist. Wenn auch in___________ 25) Eingehend hierzu Zenner, AG 2021, 502 ff.

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§ 2 Haftung des Vorstands

soweit keine Pflichtverletzung vorliegt, kommt eine Haftung des Vorstands ausnahmsweise nicht in Betracht. bb)

Kollegialentscheidungen

21 Bei den in die Zuständigkeit des Gesamtvorstands (Æ § 1 Rz. 125) fallenden Kollegialentscheidungen verletzen jedenfalls die zustimmenden Vorstandsmitglieder ihre Pflichten durch eigenes Verhalten, wenn bei dem oder durch den Beschluss eine Sorgfalts- oder Treuepflichtverletzung stattfindet.26) Zur Kausalität des pflichtwidrigen Verhaltens für eingetretene Schäden Æ Rz. 95. 22 Sog. „überstimmte Vorstandsmitglieder“, die entweder überhaupt nicht an der Beschlussfassung teilnehmen, sich der Stimme enthalten oder gegen den Beschlussvorschlag stimmen, haften hingegen zwar nicht für etwaige eigene Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Vorstandsbeschluss bzw. der getroffenen Vorstandsentscheidung selbst. Sie sind damit aber nicht von jeglicher Haftung befreit.27) Vielmehr obliegt ihnen bei gesetzes- oder satzungswidrigen Beschlüssen ein gesteigertes Pflichtenprogramm, nach dem sie weiter auf ein rechtmäßiges Verhalten des Vorstands hinzuwirken haben (Æ § 1 Rz. 149 ff.). Nur wenn sie diese Pflichten erfüllen, scheidet ihre Haftung sicher aus. cc)

Anregung von und Nichteinschreiten gegen pflichtwidrige Handlungen

23 Zur Haftung des Vorstands wegen Anregens von oder Nichteinschreitens gegen pflichtwidrige Handlungen anderer Vorstandsmitglieder kann es insbesondere bei der Verletzung der ressortübergreifenden Überwachungspflicht (Æ § 1 Rz. 102 ff.) kommen. 24 Bei pflichtwidrigen Handlungen von Mitarbeitern kommt ein individueller Pflichtverletzungsvorwurf gegen Vorstandsmitglieder zum einen im Zusammenhang mit den Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungspflichten bei vertikaler Delegation (Æ § 1 Rz. 111 ff.) in Betracht. Zum anderen ist insoweit an die reaktiven Compliance-Pflichten des Vorstands bei Verdachtsmomenten von Regelverstößen im Unternehmen (Æ § 1 Rz. 289 ff.) zu denken. c)

Business Judgement Rule

25 Vorstandsmitglieder dürfen und müssen bei der Geschäftsführung grundsätzlich ein breites Geschäftsleiterermessen ausüben, damit sie unausweichliche geschäftliche Risiken (und Chancen) für die Gesellschaft eingehen können (Æ § 1 Rz. 227). Das schließt naturgemäß die Gefahr von Fehleinschätzungen und geschäftlichem Misserfolg ein. Für solche geschäftlichen Misserfolge soll der ___________ 26) Fleischer, BB 2004, 2645 (2646). 27) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 370; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 187 ff.; Ihrig/Schäfer, § 37 Rz. 1504; Fleischer, BB 2004, 2645 (2648).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Vorstand bei sachgerechter Vorbereitung seiner Entscheidung jedoch nicht haften; vielmehr verbleibt das unternehmerische Risiko bei der Gesellschaft und den Kapitalgebern. Bei unternehmerischen Entscheidungen unterliegen die Vorstandsmitglieder demnach keiner Erfolgshaftung.28) Dieses in Anlehnung an die US-amerikanische Business Judgement Rule entwickelte Konzept ist heute einhellig anerkannt und der hierdurch gewährte Haftungsfreiraum (safe harbor) bei Geschäftsführungsmaßnahmen das praktisch mit Abstand wichtigste Mittel zur Begrenzung der bisweilen scharfen Vorstandshaftung. Der BGH hat dieses Konzept erstmals im Jahr 1997 in seiner wegweisenden 26 sog. ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung höchstrichterlich bestätigt (Æ § 3 Rz. 276 ff.).29) Er hat dort herausgestellt, dass dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte ein weiter Handlungsspielraum eingeräumt werden müsse, ohne welchen unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar sei. Dazu gehöre neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen. Zeige der Vorstand bei der Wahrnehmung seiner Leitungsaufgabe keine „glückliche Hand“, könne der Aufsichtsrat auf eine Ablösung hinwirken. Eine Schadensersatzpflicht des Vorstands könne daraus aber nicht hergeleitet werden. Diese komme erst in Betracht, wenn die Grenzen verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns deutlich überschritten seien, die unternehmerische Risikobereitschaft in unverantwortlicher Weise überspannt werde oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten müsse.30) Seit dem Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfech- 27 tungsrechts („UMAG“) vom 22. September 2005 ist die Business Judgement Rule gesetzlich in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verankert. Danach wird bei unternehmerischen Entscheidungen ein objektiv sorgfaltspflichtgemäßes Verhalten unwiderleglich vermutet, wenn die Vorstandsmitglieder vernünftigerweise annehmen durften, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.31) Der Rückgriff auf § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG ist dann ausgeschlossen.32) Um sog. Rückschaufehler (hindsight bias; Æ § 1 Rz. 227) ___________ 28) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Henssler/Strohn/ Dauner-Lieb, § 93 AktG Rz. 18; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 29; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 61; Koch, § 93 Rz. 26; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 5; von der Linden, NZG 2013, 208 (210); Schäfer, ZIP 2005, 1253; Winnen, Die Innenhaftung des Vorstands nach dem UMAG, 2009, S. 89. 29) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253 ff.) = ZIP 1997, 883 (885 f.) – ARAG/Garmenbeck. 30) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253) = ZIP 1997, 883 (885 f.) – ARAG/Garmenbeck. 31) Siehe dazu z. B. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 82 ff.; Koch, § 93 Rz. 27 ff. (30, 33); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 13 f.; Lutter, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 245 (247, 249 f.); U.H. Schneider, in: Festschrift Hüffer, S. 905 (908). 32) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 61; Fleischer, ZIP 2004, 685 (688 f.).

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§ 2 Haftung des Vorstands

zu verhindern, sind unternehmerische Ermessensentscheidungen des Vorstands auch gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Gerichte dürfen sie insbesondere nicht durch ihr eigenes Ermessen ersetzen,33) was das Gesetz dadurch zum Ausdruck bringt, dass es grundsätzlich genügt, wenn das Vorstandsmitglied das Vorliegen der Voraussetzungen „vernünftigerweise annehmen durfte“.34) Unternehmerische Entscheidungen sind damit aber nicht per se der gerichtlichen Nachprüfung entzogen, da Gerichten in jedem Fall die Überprüfung obliegt, ob die Voraussetzungen gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind. Insoweit ist die gerichtliche Prüfungsdichte hinsichtlich der Angemessenheit der Informationsgrundlage strenger als bei der Inhaltskontrolle der unternehmerischen Entscheidung am Maßstab des Gesellschaftswohls.35) 28 Praxishinweis: Liegen die Voraussetzungen der Business Judgement Rule vor und wird damit ein objektiv sorgfaltspflichtgemäßes Verhalten vermutet, scheidet nicht nur eine Haftung des Vorstandsmitglieds gemäß § 93 Abs. 2 AktG aus. Auch eine strafrechtliche Verantwortung wegen Untreue kommt in diesem Fall nicht in Betracht (Æ § 21 Rz. 15 ff.).36) Außerdem kann ein Widerruf der Organstellung jedenfalls nicht mit dem Vorliegen einer groben Pflichtverletzung,37) wohl aber aus anderen Gründen bei nachhaltiger Störung der Vertrauensgrundlage38), gerechtfertigt werden (Æ § 3 Rz. 187). 29 Unternehmerische Entscheidungen von Vorstandsmitgliedern sind daher jedenfalls dann mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar und somit rechtmäßig, wenn kumulativ die folgenden Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind: 

Vorliegen einer unternehmerischen Entscheidung;



Handeln auf der Grundlage angemessener Information;



Handeln zum Wohle der Gesellschaft;



Handeln frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen; und

 Handeln im guten Glauben. 30 Praxishinweis: Bei komplexen unternehmerischen Entscheidungen kann das Vorliegen einzelner Voraussetzungen schwierig zu beurteilen sein. Wegen des großen ___________ 33) BGH, Urt. v. 3.12.2001 – II ZR 308/99, ZIP 2002, 213 (Gen); BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253) = ZIP 1997, 883 (885 f.) – ARAG/Garmenbeck; OLG Oldenburg, Urt. v. 22.6.2006 – 1 U 34/01, NZG 2007, 434 (435) = ZIP 2006, 2087 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 80; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 63; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 43. 34) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 84; Bachmann, in: Festschrift Stilz, S. 25 (30 ff.). 35) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 86; Koch, § 93 Rz. 51; Redeke, ZIP 2011, 59 (60 ff.). 36) BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2469 f.), Rz. 29 – HSH Nordbank. 37) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 15; Fleischer, ZIP 2004, 685 (688); Schäfer, ZIP 2005, 1253 (1255). 38) Darauf zutreffend hinweisend Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 128.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Interesses an einer „haftungsfesten“ Entscheidung lassen sich viele Vorstände bei der Vorbereitung solcher Entscheidungen – insbesondere zur Schaffung der Voraussetzungen gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – umfassend rechtlich beraten. Praktisch verbreitet sind zudem schriftliche Gutachten von Anwaltskanzleien, die das Vorliegen der Voraussetzungen der Business Judgement Rule für eine bestimmte unternehmerische Entscheidung bestätigen (sog. Business Judgement Rule Opinions). Solche Opinions haben für den Vorstand den weiteren Nutzen, dass sie ggf. zum Schuldausschluss nach den Grundsätzen der sog. ISION-Rechtsprechung des BGH (Æ Rz. 58 ff.) führen und damit in doppelter Hinsicht haftungsvermeidende Wirkung entfalten können. aa)

Unternehmerische Entscheidung

Erforderlich ist eine bewusste unternehmerische Entscheidung des Vorstands 31 durch Tun oder Unterlassen nach informierter Auswahl verschiedener Handlungsmöglichkeiten und verantwortlicher Risikoabwägung; die bloße Untätigkeit kann hingegen keine haftungsrechtliche Privilegierung durch die Business Judgement Rule zur Folge haben.39) Eine unternehmerische Entscheidung i. S. v. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG setzt die Möglichkeit voraus, zwischen mehreren Verhaltensalternativen zu wählen. Dabei darf im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht feststehen, welche dieser Alternativen sich für das Unternehmen im Nachhinein als vorteilhaft herausstellen wird. Der Vorstand muss also unter Unsicherheit handeln und eine Prognose anstellen, wie sich seine Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht auswirken könnte. Die denkbaren Szenarien hat das Gremium dann mit ihren Vor- und Nachteilen gegeneinander abzuwägen.40) Typische unternehmerische Entscheidungen41) sind insbesondere (Des-)Investi- 32 tionsentscheidungen (z. B. Erwerb von UMTS-Lizenzen42), M&A-Transaktionen aller Art43)), (Bewertungs-)Entscheidungen im Zusammenhang mit einem möglichen Zusammenschlussvorhaben mit einem anderen Unternehmen (z. B. Verhandlung über Verschmelzungsverträge44); ggf. auch Entscheidungen zur ___________ 39) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 100; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 42; Koch, § 93 Rz. 35; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 51; Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (414). 40) Siehe hierzu Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 93 AktG Rz. 20 f.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89; Koch, § 93 Rz. 35; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 48; S.H. Schneider, DB 2005, 707 (711); U.H. Schneider, DB 2011, 99 (100); Spindler, AG 2006, 677 (681). 41) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 87; Koch, § 93 Rz. 35 ff. jeweils m. w. N. 42) BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06, BGHZ 175, 365 = ZIP 2008, 785 (786), Rz. 11 ff. 43) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89; Holzapfel/Pöllath/Bergjahn/Engelhardt/Engelhardt, Rz. 1136; Ganzer, AG 2022, 22 ff. 44) OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.10.2010 – 20 W 16/06, AG 2011, 49 (53 f.), Rz. 104 = ZIP 2010, 2404; Hüffer, ZHR 172 (2008), 572 (574 f.).

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§ 2 Haftung des Vorstands

Übernahmeverteidigung45)), Organisationsentscheidungen (z. B. Erweiterung einer Niederlassung46), Eröffnung neuer oder Abstoßung alter Geschäftsfelder47), Neuprodukteinführungen48)), Kreditaufnahmen und Kreditvergaben,49) Abschluss von Vergleichen50) mit Dritten oder Organmitgliedern (Æ Rz. 117 ff.), die (prozessuale) (Nicht-)Geltendmachung von Ansprüchen gegen Dritte51) oder – unter den weiteren Voraussetzungen der sog. ARAG/GarmenbeckRechtsprechung (Æ Rz. 156 f. und § 3 Rz. 276 ff.) – gegen Organmitglieder52), Vergütungsentscheidungen bezüglich leitender Angestellter53) oder – aus Sicht des Aufsichtsrats – des Vorstands (Æ § 3 Rz. 285 f.)54) sowie u. U. die Gewährung von Kulanzleistungen (Æ § 1 Rz. 268)55) und die Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz56). Auch im Rahmen der Compliance-Pflichten trifft der Vorstand bestimmte unternehmerische Ermessensentscheidungen, insbesondere hinsichtlich der Art und Weise der Aufklärung, Abstellung und Ahndung von Fehlverhalten auf Mitarbeiterebene sowie der Compliance-Organisation (Æ § 1 Rz. 292, 296 f., 303). Gleiches gilt für die Wahrnehmung der übrigen aktienrechtlichen Organisations-, Planungs- und Überwachungsaufgaben (Æ § 1 Rz. 255 ff.), zu deren Beachtung der Vorstand zwar dem Grunde nach verpflichtet ist, bei deren Ausfüllung ihm aber ein Organisations- und Planungsermessen zugebilligt werden muss.57) Schließlich stellt die Entscheidung zur Zusammenarbeit mit (Aufsichts-)Behörden oder der Staatsanwaltschaft bei laufenden Verfahren gegen die Gesellschaft – einschließlich der Akzeptanz von Strafen oder Bußgel-

___________ 45) 46) 47) 48) 49) 50) 51) 52) 53) 54) 55) 56) 57)

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Zum Ganzen Schirrmacher/Hildebrandt, AG 2021, 220. BGH, Urt. v. 22.2.2011, ZIP 2011, 766 (767), Rz. 19 ff. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 87. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89. BGH, Urt. v. 3.12.2001 – II ZR 308/99, ZIP 2002, 213 (214 f.) (Gen); OLG Celle, Urt. v. 28.5.2008 – 9 U 184/07, WM 2008, 1745 (1746); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 87. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89, 120. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 87. OLG Oldenburg, Urt. v. 22.6.2006 – 1 U 34/03, NZG 2007, 434 (435) = ZIP 2006, 2087 (GmbH). BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331 (336) = ZIP 2006, 72 – Mannesmann; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 28. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 191; Koch, § 93 Rz. 37; Wiersch, NZG 2013, 1206 ff. Zu den Grenzen des Ermessens insbesondere bei Leitungsentscheidungen: Lücke, BB 2019, 1986 (1994). Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 90; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 37; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 7. Zu unternehmerischen Entscheidungen bei der Bilanzerstellung (Æ § 1 Rz. 402 ff.) siehe Koch, § 93 Rz. 35 ff.; Kuhner, Der Konzern 2017, 360 ff.; Merkt, Der Konzern 2017, 353 ff.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

dern – eine unternehmerische Entscheidung gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG dar.58) Rechtlich gebundene Entscheidungen, die dem Vorstand durch Gesetz, Sat- 33 zung oder organschaftliche Treubindungen verbindlich vorgegeben sind, fallen demgegenüber nicht unter die Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.59) Hier fehlt es bereits an der Möglichkeit, unter mehreren Handlungsalternativen auszuwählen. Ferner kann eine unternehmerische Entscheidung immer nur eine rechtmäßige 34 sein. Illegales Verhalten des Vorstands, insbesondere der Verstoß gegen Gesetz, Satzung oder eine Geschäftsordnung, ist der Legalitätspflicht des Vorstands (Æ § 1 Rz. 229 ff.) zuzuordnen und fällt daher ebenfalls nicht unter die Business Judgement Rule.60) Die Legalitätspflicht beschränkt die Handlungsmöglichkeiten des Vorstands bereits im Ansatz; zwischen einer rechtmäßigen und einer rechtswidrigen Handlungsalternative darf der Vorstand grundsätzlich nicht auswählen. Das schließt auch für die Gesellschaft „nützliche“ Pflichtverletzungen aus (Æ § 1 Rz. 243 ff.). Inwiefern eine von Unsicherheit geprägte unternehmerische Entscheidung 35 i. S. d. Business Judgement Rule auch anzunehmen ist, wenn der Vorstand mit einer unklaren oder umstrittenen Rechtslage konfrontiert ist (Legal Judgement Rule), wird im aktienrechtlichen Schrifttum uneinheitlich beurteilt. Allgemein anerkannt ist zunächst, dass den Vorstand in derartigen Fällen eine Rechtsvergewisserungspflicht und bei verbleibenden Zweifeln über die Rechtslage eine Pflicht zur sorgfältigen Abwägung der Handlungsoptionen einschließlich der möglichen Folgen für die Gesellschaft trifft (Æ § 1 Rz. 246 ff.). Nimmt der Vorstand nach Erfüllung dieser Pflichten einen Standpunkt ein, der sich expost als rechtswidrig herausstellt und einen Verstoß gegen die Legalitätspflicht begründet, plädiert die wohl h. M. im aktienrechtlichen Schrifttum dafür, in entsprechender Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ein objektiv pflichtgemäßes Verhalten anzunehmen.61) Eine verbreitete Gegenauffassung lehnt die ___________ 58) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 87; Koch, § 93 Rz. 39; Kremer, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 701 (705). 59) Vgl. Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Koch, § 93 Rz. 35; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 15 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 17; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold/Arnold, § 23 Rz. 22. 60) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 15; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 17; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1524; Bunz, CCZ 2021, 81 (82). 61) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 38 ff. (38, 44 f.); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 140; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 16; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 88 ff.; Bachmann, in: Festschrift Stilz, S. 25 (26); Bachmann, ZHR 177 (2013), 1 (8); Bicker, AG 2014, 8 (10 f.); Cahn, Der Konzern 2015, 105 (107 f.); Habersack, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 429 (436 f.); Nietsch, ZGR 2015, 631 (650 ff.); Ott, ZGR 2017, 149 (158 f.); Paefgen, AG 2014, 554 (560); Spindler, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 403 (421).

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§ 2 Haftung des Vorstands

analoge Anwendung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG hingegen in Anlehnung an die Grundsätze zur sog. ISION-Rechtsprechung des BGH ab und gelangt bei Erfüllung der diesbezüglichen Pflichten (Æ Rz. 58 ff.) lediglich zu einem Ausschluss des Verschuldensvorwurfs, wobei die rechtliche Einschätzung des Vorstands der vollen gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist.62) Die erstgenannte Auffassung ist überzeugender, weil sie insbesondere die Abberufung und Kündigung eines Vorstandsmitglieds aus wichtigem Grund wegen grober Pflichtverletzung (Æ § 3 Rz. 186 ff. und 226 ff.) ausschließt.63) bb)

Angemessene Informationsgrundlage

36 Eine Haftungsprivilegierung durch die Business Judgement Rule nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG setzt ferner voraus, dass die Vorstandsmitglieder bei ihrer Entscheidung vernünftigerweise annehmen durften, auf der Grundlage angemessener Informationen zu handeln. 37 Die gesetzliche Formulierung „angemessene Information“ verdeutlicht, dass sich der Vorstand in der konkreten Entscheidungssituation nicht jede nur denkbare Information beschaffen muss.64) Dies wird durch die Gesetzesmaterialien zum UMAG gestützt. Darin heißt es,65) dass insbesondere bei Entscheidungen unter hohem Zeitdruck eine umfassende Entscheidungsvorbereitung schwierig oder gar unmöglich sein kann. Abzustellen sei daher auf die vom Vorstandsmitglied vernünftigerweise als angemessen erachtete Information, auf deren Basis dann nach freier Würdigung eine unternehmerische Entscheidung zu fällen ist. Dem Vorstand wird also in den Grenzen der Sorgfaltspflicht ein erheblicher Spielraum eingeräumt, den Informationsbedarf abzuwägen und sich selbst eine Annahme dazu zu bilden. Information müsse und könne nicht allumfassend sein, sondern habe betriebswirtschaftlich gegebene Schwerpunkte (Rentabilität, Risikobewertung, Investitionsvolumen, Finanzierung, etc.). Welche Intensität der Informationsbeschaffung i. S. d. Norm „angemessen“ sei, habe der Vorstand stets im Einzelfall anhand des Zeitvorlaufs, des Gewichts und der Art der zu treffenden Entscheidung, den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten des Informationszugangs und unter Berücksichtigung aner___________ 62) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 28; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 16 – ISION; Koch, § 93 Rz. 40; Krieger/Schneider/Born, § 14 Rz. 15; Krieger/Schneider/Wilsing, § 31 Rz. 26; Buck-Heeb, BB 2013, 2247 ff.; Langenbucher, in: Festschrift Lwowski, S. 333 (340 ff.); Strohn, CCZ 2013, 177 f.; Verse, ZGR 2017, 174 (192). Vgl. auch Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 63) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 51. 64) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 48; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 17; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 33; Böttcher, NZG 2007, 481 (483); Fleischer, NJW 2005, 3525 (3528); Fleischer, NJW 2009, 2337 (2339); Koch, ZGR 2006, 769 (788 f.); Löbbe/ Fischbach, AG 2014, 717 (722). 65) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

kannter betriebswirtschaftlicher Verhaltensmaßstäbe, insbesondere dem Verhältnis von Informationsbeschaffungskosten und -nutzen, selbst zu entscheiden. Dieser Einschätzung hat sich das aktienrechtliche Schrifttum einhellig angeschlossen.66) Daraus folgt, dass dem Vorstand für die Beurteilung von Art und Umfang der 38 Informationsbeschaffung ein Entscheidungsspielraum zugebilligt wird.67) Dem steht nicht entgegen, dass der BGH in jüngerer Vergangenheit für eine sorgfältige Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen verlangt hat, es seien „alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“ auszuschöpfen.68) Denn auch der BGH stellt der Sache nach nur auf die in der konkreten Entscheidungssituation verfügbaren Informationsquellen ab.69) Ungeachtet der Zubilligung eines Entscheidungsspielraums bei der Schaffung 39 einer angemessenen Informationsgrundlage unterliegt die vom Vorstand insoweit getroffene Entscheidung der gerichtlichen Überprüfung (Æ Rz. 27 a. E.). Es haben sich allerdings noch keine einheitlichen Maßstäbe zu der von Gerichten anzulegenden Prüfungsdichte herausgebildet. Während ein Teil des aktienrechtlichen Schrifttums die Entscheidung über die Informationsgrundlage ihrerseits als unternehmerische Entscheidung einordnet und die gerichtliche Überprüfung im Sinne einer informationsrechtlichen Business Judgement Rule auf eine bloße Evidenzkontrolle und Fälle beschränkt, in denen die Grenzen sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen deutlich überschritten wur___________ 66) Siehe nur BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 92, 94; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 47; Koch, § 93 Rz. 42 f.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 17; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 55, 91; Böttcher, NZG 2007, 481 (483); Ihrig, WM 2004, 2098 (2105 f.); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (722); Spindler, AG 2006, 677 (681); Ulmer, DB 2004, 859 (860); ähnlich Lutter, ZIP 2007, 841 (844). 67) Siehe OLG Frankfurt/M., Urt. v. 15.6.2011 – 21 W 18/11, ZIP 2011, 1764 (1767); Hölters/ Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 33; Koch, § 93 Rz. 44; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 55, 115; Bachmann, in: Festschrift Stilz, S. 25 (41); Baums, ZGR 2011, 218 (236 f.); Druey, in: Festschrift Goette, S. 57 (65); Freitag/Korch, ZIP 2012, 2281 f.; Grunewald/ Hennrichs, in: Festschrift Maier-Reimer, S. 147 (149); Liese/Theusinger, BB 2007, 71 (72) (zur Due Diligence bei der GmbH); Peters, AG 2010, 811 (812). 68) BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 (313 f.) = ZIP 2013, 1712 (1715), Rz. 30 (GmbH); BGH, Beschl. v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, ZIP 2008, 1675 (1676), Rz. 11 (GmbH); OLG Hamm, Urt. v. 17.3.2016 – I-27 U 36/15, 27 U 36/15, AG 2016, 508 (509); wohl auch Goette, ZGR 2008, 436 (448) (dort Fn. 46); zurückhaltender BGH, Urt. v. 3.11.2008 – II ZR 236/07, ZIP 2009, 223, Rz. 3 („Entscheidungsgrundlagen sorgfältig ermittelt”). Zurückhaltender auch BGH, Urt. v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766 (767), Rz. 19. 69) Ebenso Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 48 (dort Fn. 79); Koch, § 93 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 57; Balthasar/Hamelmann, WM 2010, 589 (591); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (722); vgl. auch Schneider, VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2013, 2014, S. 18 (mit Hinweis auf die Ansichten von Bergmann und Goette). So ausdrücklich auch BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2470), Rz. 34 – HSH Nordbank.

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§ 2 Haftung des Vorstands

den,70) hält die wohl überwiegende Auffassung eine engmaschigere gerichtliche Plausibilitätskontrolle für zulässig.71) 40 Praxishinweis: Ergibt die (gerichtliche) Überprüfung, dass für eine Entscheidung im konkreten Fall keine angemessene Informationsgrundlage bestand, führt dies nicht nur zur Unanwendbarkeit der Business Judgement Rule. I. d. R. liegt damit zugleich eine Sorgfaltspflichtverletzung des bzw. der zuständigen Vorstandsmitglieder vor (Æ § 1 Rz. 259 ff.). 41 Auf Informationen Dritter darf sich der Vorstand nicht ungeprüft verlassen. Vielmehr muss er grundsätzlich eigene Informationsquellen im Unternehmen schaffen, ihr Funktionieren überwachen und sie nutzen.72) Der Vorstand kann sich freilich bei der Informationsbeschaffung durch interne oder externe Sachverständige beraten lassen, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist, z. B. aufgrund der Bedeutung der Entscheidung oder wegen des Fehlens eigener Sachkunde. Auch kann die Ansprache von Behörden zur weiteren Informationsbeschaffung sinnvoll sein. „Formale Absicherungsstrategien“ wie das routinemäßige Einholen von Sachverständigengutachten, Beratervoten oder externen Marktanalysen sind hingegen weder erforderlich noch ausreichend.73) Fehlt es ungeachtet der Beratung an einer angemessenen Informationsgrundlage, scheidet eine Haftungsprivilegierung nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zwar aus. Unter den Voraussetzungen der sog. ISION-Rechtsprechung des BGH kann es aber an einem Verschuldensvorwurf fehlen (Æ Rz. 58 ff.). Liegt die Verantwortung für die Entscheidung und damit für die Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage kraft Ressortverteilung bei einem Vorstandsmitglied oder für Gesamtvorstandsaufgaben bei einem Berichterstatter, dürfen die übrigen Vorstandsmitglieder in gewissem Maße auf das pflichtgemäße Verhalten ihres Vorstandskollegen vertrauen und sich auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken (Æ § 1 Rz. 264 ff.).74) 42 Damit der Vorstand auf angemessener Informationsgrundlage handelt, muss er die erhaltenen Informationen schließlich gewichten und die möglichen Entscheidungsalternativen sowie deren mögliche Konsequenzen prüfen.75) Auch dafür können weitere Informationsbeschaffungen erforderlich sein. Sollte der ___________ 70) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 102 f.; Bachmann, in: Festschrift Stilz, S. 25 (41 f.); Freitag/Korch, ZIP 2012, 2281 (2282); Kocher, CCZ 2009, 215 (220); Lutter, ZIP 2007, 841 (844 f.). 71) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 94; Koch, § 93 Rz. 45; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 17; Baur/Holle, AG 2017, 597 (598 ff.); Redeke, ZIP 2011, 59 (60 ff.). 72) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2009 – I-6 W 45/09, AG 2010, 126 (128); Koch, § 93 Rz. 46. 73) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 13; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 92; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 34. 74) Koch, § 93 Rz. 48; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (722 ff.). 75) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 35.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Vorstand nicht in der Lage sein, alle erforderlichen Informationen zu erlangen, z. B. hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Konsequenzen tatsächlich eintreten werden, kann er seine Entscheidung nicht bedingungslos auf diese Information stützen. Er muss vielmehr die verbleibende Unsicherheit in seiner Entscheidung berücksichtigen, indem er solchen Konsequenzen weniger Gewicht einräumt, als er es im Falle einer vollständigen Information über den Eintritt der Konsequenz tun würde. Praxishinweis: Es ist nochmals zu betonen, dass sich der Vorstand nicht jede er- 43 denkliche Information, die in der konkreten Entscheidungssituation existieren könnte, beschaffen muss. Erforderlich, aber auch hinreichend ist eine gründliche Entscheidungsvorbereitung und sachgerechte Risikoabschätzung in der konkreten Situation, wobei die Informationsgrundlage umso breiter und gefestigter sein muss, je wichtiger die Entscheidung für den Bestand und Erfolg des Unternehmens ist.76) Eine unter § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG haftungsrechtlich privilegierte Entscheidung kann also im Einzelfall auch dann vorliegen, wenn der Vorstand bewusst aufgrund der zu geringen verfügbaren Zeit oder wegen eines unverhältnismäßig hohen (Kosten-)Aufwands gegenüber dem Nutzen der Information von einer (möglichen) weitergehenden Informationsbeschaffung absieht oder wenn sich tatsächliche Unklarheiten nicht weiter aufklären lassen. In diesen Fällen kann der Vorstand die Entscheidungsfindung ohne diese Information vorantreiben. Er muss das Informationsdefizit jedoch in angemessener Weise berücksichtigen, indem er z. B. Annahmen trifft, die dann nicht als wesentliche Entscheidungsfaktoren dienen dürfen und geringer gewichtet werden müssen. cc)

Handeln zum Wohl der Gesellschaft

Die Vorstandsmitglieder müssen bei ihrer Entscheidung vernünftigerweise an- 44 nehmen dürfen, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln. Nach den Gesetzesmaterialien zum UMAG soll dies jedenfalls der Fall sein, wenn die Entscheidung der langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens dient.77) Hierbei hat es allerdings kein bewenden. Vielmehr ist das Wohl der Gesellschaft mit dem Unternehmensinteresse praktisch gleichzusetzen, an dem der Vorstand sein Verhalten bei der Leitung der Gesellschaft nach § 76 AktG stets auszurichten hat.78) Folglich muss der Vorstand sein Verhalten auch im Rahmen von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sowohl an den Aktionärsinteressen als auch an den Interessen von Arbeitnehmern und der Öffentlichkeit (Gemeinwohl) als den maßgeblichen Stakeholdern ausrichten (Æ § 1 Rz. 23 ff.). Etwaige Interessengegensätze zwischen den verschiedenen Bezugsgruppen muss ___________ 76) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 92; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 107; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 59. 77) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; ebenso BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 101; Koch, § 93 Rz. 51. 78) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 15; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 98; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 24; Schäfer, ZIP 2005, 1253 (1257).

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§ 2 Haftung des Vorstands

der Vorstand abwägen und sorgsam in Einklang bringen, ohne an eine bestimmte Rangfolge der Interessen gebunden zu sein.79) 45 Im Konzern muss der Vorstand i. d. R. die Interessen seiner eigenen Gesellschaft berücksichtigen.80) Sofern allerdings ein Beherrschungs- oder ein Gewinnabführungsvertrag besteht, ist der Vorstand der beherrschten Gesellschaft zumindest zur moderaten Berücksichtigung der Konzerninteressen („konzernfreundliches Verhalten“) verpflichtet; nach der Auffassung einer bedeutenden Meinung im aktienrechtlichen Schrifttum muss der Vorstand sogar die Interessen des Konzerns denen seiner Gesellschaft vorziehen (Æ § 7 Rz. 82 f.).81) 46 Maßgeblich ist stets das ex-ante angestrebte Gesellschaftswohl.82) Im Falle eines Rechtsstreits darf ein Gericht also nicht aus den später eingetretenen – ex ante aber noch nicht absehbaren oder unwahrscheinlichen – Konsequenzen einer unternehmerischen Entscheidung und aus dem Ergebnis des Rechtsstreits auf eine Pflichtverletzung der Vorstandsmitglieder im Entscheidungszeitpunkt schließen (hindsight bias).83) 47 Bei seiner Beurteilung, ob die Entscheidung dem Wohl der Gesellschaft dient, steht dem Vorstand zudem ein weiter unternehmerischer Ermessensspielraum zu, der nur in deutlich engeren Grenzen als das Vorliegen einer angemessenen Informationsgrundlage (Æ Rz. 39) gerichtlich überprüfbar ist. Die Einschätzung des Vorstands dürfen Gerichte nicht durch eigenes Ermessen ersetzen, sondern sie müssen sich auf eine Evidenzkontrolle beschränken.84) Ein Handeln zum Wohl der Gesellschaft liegt erst dann nicht mehr vor, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes unternehmerisches Handeln ___________ 79) BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (331) = NJW 1975, 1412 – Bayer; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 15; Wilsing/ von der Linden, Präambel Rz. 27; Dreher, ZHR 155 (1991), 349 (362 f.); Henze, BB 2000, 209 (212); Hopt, ZGR 1993, 534 (536 f.); Junge, in: Festschrift v. Caemmerer, S. 547 (556); Raisch, in: Festschrift Hefermehl, S. 347 (362 f.); Wilsing/von der Linden, ZHR 178 (2014), 419 (430 f.); J. Vetter, ZGR 2018, 338 (376), zu dem Recht, aber nicht der Pflicht, in den Grenzen der Legalität Gemeinwohlbelange zu berücksichtigen. 80) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 100. 81) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 115; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 71; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 55 f.; Grigoleit/Grigoleit, § 76 Rz. 103; a. A. MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 158; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 Rz. 54. 82) BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (199) = ZIP 1994, 1103 (1110) (GmbH); BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96 (113) = NJW 1979, 1823 (1827); Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 15; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 101; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 23; Goette, in: Festschrift 50 Jahre BGH, S. 123 (138); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (724). 83) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 43; Schäfer, ZIP 2005, 1253. 84) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 102; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 65; Brömmelmeyer, WM 2005, 2065 (2068).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

bewegen muss, deutlich überschritten sind bzw. die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist.85) Daher ist jede noch nachvollziehbare Entscheidung hinzunehmen, wohingegen erst ganz und gar unvernünftige Entscheidungen oder schlechthin unvertretbares Vorstandshandeln die Grenzen der Business Judgement Rule überschreiten.86) Praxishinweis: Die Grenze zu schlechthin unvertretbarem Vorstandshandeln ist 48 erst spät überschritten. Ist dies aber der Fall, wird zumeist gleichzeitig eine Verletzung der Sorgfaltspflicht vorliegen (Æ § 1 Rz. 268 ff.). Dient das Handeln nicht mehr dem Wohl der Gesellschaft, wird außerdem oftmals die Schwelle zur Untreue gemäß § 266 StGB überschritten sein (Æ § 21 Rz. 100).87) Inwieweit das Eingehen von Risiken mit dem Wohl der Gesellschaft vereinbar 49 ist, kann stets nur im Einzelfall beantwortet werden. Im Grundsatz gilt, dass Entscheidungen des Vorstands den Bestand des Unternehmens und deren dauerhafte Rentabilität nicht gefährden dürfen, weil das Leitungsermessen des Vorstands darin eine absolute Schranke findet (Æ § 1 Rz. 24).88) Das hindert den Vorstand aber nicht per se an der Eingehung potentiell bestands- bzw. existenzgefährdender Risiken, solange die Entscheidung im Einzelfall nach angemessener Abwägung von Chancen und Risiken unter Berücksichtigung von Risikoeintrittswahrscheinlichkeit und branchenüblichen Absicherungen noch vertretbar erscheint (Æ § 1 Rz. 271).89) Praxishinweis: Eine „haftungsfeste“ Entscheidung erfordert nach alledem, dass der 50 Vorstand die möglichen Vor- und Nachteile der Entscheidung und deren Auswirkungen auf die maßgeblichen Interessensgruppen umfassend identifiziert (Æ § 1 Rz. 25 ff.) und schlussendlich sorgfältig abwägt, ob die Entscheidung insgesamt dem ___________ 85) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253 f.) = ZIP 1997, 883 (886) – ARAG/Garmenbeck. Dem folgend BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2469), Rz. 29 – HSH Nordbank. 86) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 102; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 29 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 113; Koch, § 93 Rz. 26, 51 f. m. w. N. zu Fällen „schlechthin unvertretbaren“ Vorstandshandelns (siehe insoweit ferner indikativ die Fälle unter Æ § 1 Rz. 268 ff.); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 18; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (724); Lutter, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 245 (246); Paefgen, AG 2004, 245 (255). So auch BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2470), Rz. 31 – HSH Nordbank. 87) BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2470), Rz. 31 – HSH Nordbank. 88) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.8.2011 – 13 U 100/10, ZIP 2011, 2008 (2010); OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1995, 1263 (1268); Koch, § 76 Rz. 34; GroßkommAktG/Kort, § 76 Rz. 53; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 21 ff.; MünchKommAktG/ Spindler, § 76 Rz. 73; Hüffer, in: Festschrift Raiser, S. 163 (168 ff.); Langenbucher, DStR 2005, 2083 f. 89) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 108, 121; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 88 und 195; Koch, § 93 Rz. 53; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 18; Balthasar/ Hamelmann, WM 2010, 589 (590); Schmitz-Remberg, BB 2014, 2701 (2703 f.); a. A. KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 24 m. w. N.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Wohl der Gesellschaft bzw. dem Unternehmensinteresse dient. Der Vorstand muss dabei nicht die „bestmögliche“, sondern lediglich eine vertretbare Entscheidung treffen. Bei diesem Prozess können insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen der Entscheidungsalternativen, bilanzielle Auswirkungen, bei (gerichtlichen) Prozessen und Verfahren die Erfolgsaussichten, Reputationsgesichtspunkte, mögliche Auswirkungen der Entscheidungsalternativen auf das Verhältnis zu (Aufsichts-)Behörden etc. zu beachten sein. Jedem Vorstandsmitglied wird eine eigene Abwägungsentscheidung abverlangt. Die ermittelten Abwägungsgesichtspunkte sind schließlich sorgfältig zu dokumentieren, wobei ein pauschaler Verweis auf vorbereitete Unterlagen oder Gutachten, z. B. eine Business Judgement Rule Opinion, insoweit ggf. nicht genügt. dd)

Handeln frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen

51 Die ungeschriebene Voraussetzung, dass Vorstandsmitglieder ihre Entscheidung frei von Sonderinteressen und sachfremden Einflüssen und damit sachlich unbefangen treffen müssen, folgt daraus, dass die Entscheidung zum Wohl der Gesellschaft erfolgen muss.90) 52 Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das betroffene Vorstandsmitglied die Entscheidung objektiv, unvoreingenommen und frei von Interessenkonflikten (Æ § 1 Rz. 141 ff.) vornimmt.91) Insbesondere darf ein Vorstandsmitglied die Entscheidung nicht mit dem Ziel treffen, Vorteile für sich selbst oder dritte Personen oder Gesellschaften, an denen es beteiligt ist, zu erzielen, es sei denn, dass solche Vorteile eine unmittelbare Konsequenz der Vorteile für die Gesellschaft darstellen, welche durch die Entscheidung gerade beabsichtigt werden.92) Ein Interessenkonflikt muss objektiv vorliegen, die bloße Vorstellung seines Vorliegens genügt nicht.93) 53 Wenn ein Vorstandsmitglied an einer unternehmerischen Entscheidung mitwirkt, obwohl es einem Interessenkonflikt unterliegt, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG für das konfligierte Vorstandsmitglied nicht anwendbar.94) Ob sich das betroffene Vor___________ 90) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Koch, § 93 Rz. 55; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold/Arnold, § 2 Rz. 24; MünchHdb GesR IV/HoffmannBecking, § 25 Rz. 59. 91) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 96; Koch, § 93 Rz. 55; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 69; Harbarth, in: Festschrift Hommelhoff, S. 323 (329 ff.); Koch, ZGR 2014, 697 (701 ff.); Lutter, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 245 (248 ff.). 92) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Fleischer/Fleischer, § 7 Rz. 57; Koch, § 93 Rz. 55 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 26; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 69. Bei einer Übernahmeverteidigung besteht der nach § 33 WpÜG gesetzlich vermutete Interessenkonflikt ausnahmsweise nicht, wenn mindestens eine Sperrminorität die Übernahme verhindern möchte, so Schirrmacher/Hildebrandt, AG 2021, 220 (226 f.). 93) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 93; Koch, § 93 Rz. 55 f.; Harbarth, in: Festschrift Hommelhoff, S. 323 (327 ff.). 94) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 96; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 44; Koch, § 93 Rz. 55 f.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 71; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717, 726; a. A. bei Offenlegung des Konflikts Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 15.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

standsmitglied auch sorgfaltspflichtwidrig verhalten hat, muss dann gesondert anhand allgemeiner Kriterien beurteilt werden (Æ § 1 Rz. 227 ff.). Besonders ist in diesen Fällen darauf zu achten, ob das betreffende Vorstandsmitglied seinen spezifischen Pflichten zum Umgang mit einem Interessenkonflikt nachgekommen ist (Æ § 1 Rz. 141 ff.). Nach h. M. in der aktienrechtlichen Literatur bleibt das Privileg der Business 54 Judgement Rule für die übrigen Mitglieder des Vorstands jedenfalls bestehen, sofern das bzw. die betroffenen Vorstandsmitglieder ihren Interessenkonflikt vor der Vorstandsentscheidung offengelegt und nicht an Beratung und Abstimmung teilgenommen haben (Æ § 1 Rz. 143).95) Im Fall eines nicht offengelegten Konflikts nimmt eine verbreitete Auffassung im aktienrechtlichen Schrifttum an, dass die Entscheidung der übrigen Vorstandmitglieder „infiziert“ wird und die Business Judgement Rule auch für diese nicht mehr eingreift.96) Die inzwischen wohl h. M. geht aber zu Recht auch in diesem Fall von einer Fortgeltung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus.97) ee)

Handeln im guten Glauben

Ausweislich der Regierungsbegründung zum UMAG und nach einer verbreiteten 55 Auffassung im aktienrechtlichen Schrifttum müssen die Vorstandsmitglieder in gutem Glauben handeln. Diese Voraussetzung resultiert aus der Voraussetzung, dass Vorstandsmitglieder in der Lage sein müssen, vernünftigerweise anzunehmen, frei von Sonderinteressen und anderen sachfremden Einflüssen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Sie müssen demzufolge subjektiv annehmen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Wenn sie selbst nicht daran glauben, die Entscheidung sei richtig, sollen sie den Haftungsschutz nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht genießen.98)

___________ 95) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 97; Koch, § 93 Rz. 58; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 72; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold/Arnold, § 23 Rz. 25; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (725 f.). Liberaler (keine Offenlegung oder Enthaltung vonnöten) KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 19. 96) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 29; Blasche, AG 2010, 692 (695); Lutter, in: Festschrift Canaris, Band II, S. 245 (248). 97) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 98; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 96; Koch, § 93 Rz. 57; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 19; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 71; Bunz, NZG 2011, 1294 (1296); Diekmann/Fleischmann, AG 2013, 141 (150); Haarmann, in: Festschrift Wegen, S. 423 (437) (Aufsichtsrat); Koch, ZGR 2014, 697 (708 f.); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (727); Schäfer, ZGR 2014, 731 (746 f.). 98) Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Fleischer/Fleischer, § 7 Rz. 60; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 103; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 38; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 115; MünchHdb GesR IV/HoffmannBecking, § 25 Rz. 59; Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (728). Siehe auch KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 93 Rz. 31 m. w. N.

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§ 2 Haftung des Vorstands

ff)

Folgen bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen der Business Judgement Rule

56 Wenn ein Vorstandsmitglied die vorgenannten Voraussetzungen der Business Judgement Rule in Bezug auf eine bestimmte Entscheidung nicht erfüllt, ist es weder per se schadensersatzpflichtig noch besteht eine entsprechende Vermutung. Damit ein Vorstandsmitglied schadensersatzpflichtig ist, muss vielmehr der Nachweis erbracht werden, dass es seine Pflichten, insbesondere gemäß § 93 Abs. 1 AktG, verletzt hat.99) Eine Sorgfaltspflichtverletzung kann insbesondere dann angenommen werden, wenn ein Vorstandsmitglied auf einer unangemessenen Informationsgrundlage handelt. Eine Treuepflichtverletzung kommt in Betracht, wenn es aus eigensüchtigen Motiven nicht zum Wohl der Gesellschaft handelt. Eine Pflichtverletzung ist aber nicht ohne Weiteres gegeben, wenn ein Vorstandsmitglied eine Entscheidung trifft, obwohl es einem Interessenkonflikt unterliegt (siehe im Einzelnen Æ Rz. 39 f., 47 f., 53).100) 3.

Verschulden

a)

Verschuldensmaßstab

57 Die Haftung nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG setzt eigenes (Æ Rz. 15 ff.) schuldhaftes Handeln des Vorstandsmitglieds voraus. Außer Vorsatz genügt insoweit jede Form von Fahrlässigkeit.101) § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG umschreibt neben der objektiven Sorgfaltspflicht zugleich einen objektiven bzw. typisierten Verschuldensmaßstab, für den es entscheidend darauf ankommt, ob das Organmitglied die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewendet hat (Æ § 1 Rz. 226). Bei objektiv pflichtwidrigem Verhalten wird daher typischerweise zugleich ein Verschulden gegeben sein.102) Aus demselben Grund muss ein Vorstandsmitglied über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines ordentlichen Organmitglieds bei Gesellschaften der konkreten Branche bzw. über Spezialkenntnisse verfügen, die zur Führung des übernommenen Ressorts vonnöten sind, und können sich nicht mit schuldbefreiender Wirkung auf Un___________ 99) BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467 (2470), Rz. 31 – HSH Nordbank; OLG München, WM 2017, 1415 (1418 f.); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 47 m. w. N. Vgl. auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 85; Koch, § 93 Rz. 30; Koch, ZGR 2014, 697 (702 f.); Schäfer, ZIP 2005, 1253 (1255). 100) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253 f.) = ZIP 1997, 883 – ARAG/ Garmenbeck; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 47; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1527; Bachmann, in: Festschrift Stilz, S. 25 (27 f.). 101) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 248 (auch zur Unanwendbarkeit der Rechtsprechungsregeln über betrieblich veranlasste Tätigkeit); Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 236; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 34; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1531. 102) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 28; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 247; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 89 f.; Koch, § 93 Rz. 79.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

erfahrenheit oder Unkenntnis berufen.103) Fehlt ihm die erforderliche Sachkunde oder Zeit, sich mit der betreffenden Frage auseinanderzusetzen, muss das Vorstandsmitglied Expertenrat in Anspruch nehmen (Æ Rz. 58). b)

Rechtsirrtum und Vertrauen auf Expertenrat

Insbesondere bei komplexen Sachverhalten sowie in Fällen unklarer oder um- 58 strittener Rechtslage (Æ § 1 Rz. 246 ff.) kann es vorkommen, dass der Vorstand gegen seine (Legalitäts-)Pflicht verstößt, dabei aber irrtümlich von der Rechtmäßigkeit seines Handelns ausgeht. Im Ausgangspunkt liegt in diesen Fällen das Risiko einer Verkennung der Rechtslage beim Organmitglied.104) Ein Vorstandsmitglied kann sich daher nur ausnahmsweise wegen eines unverschuldeten und unvermeidbaren (Verbots-)Irrtums entlasten, wenn es die Rechtslage sorgfältig geprüft, soweit erforderlich Rechtsrat eingeholt und die höchstrichterliche Rechtsprechung sorgfältig beachtet hat.105) Nach der sog. ISION-Rechtsprechung des BGH muss ein Vorstandsmitglied sich dafür unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lassen und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterziehen.106) Diese Grundsätze gelten nicht nur bei der Einholung von Rechtsrat, sondern gleichermaßen für die Einholung sog. Fairness Opinions, die insbesondere im Zusammenhang mit M&A-Transaktionen von praktischer Bedeutung sind,107) sowie bei der Beauftragung sonstiger Auskunftspersonen, wie z. B. von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern, Investmentbankern oder Vergütungsberatern etc.).108) Hinsichtlich der Person des hinzugezogenen Experten ist erforderlich, dass 59 dieser sowohl fachlich kompetent ist als auch die erforderliche Unabhängigkeit ___________ 103) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 28; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 59; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 37; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 25; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1531. 104) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 28; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 16 – ISION. 105) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 16 – ISION. 106) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222), Rz. 28; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 18 – ISION; BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 (1266 f.), Rz. 16; OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 410 (414); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 44, 252; Koch, § 93 Rz. 81; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 34; Krieger/Schneider/ Krieger, § 3 Rz. 8; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 13 f.; Holle, AG 2016, 270 (278 f.). Vgl. auch Verse, ZGR 2017, 174 (181 ff.). 107) Koch, § 93 Rz. 47; Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317 (320 f.); Fleischer, ZIP 2011, 201 (206 f.). Vgl. OLG Köln, Urt. v. 31.1.2013 – 18 U 21/12, ZIP 2013, 516 (517 f.). 108) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 252; Fleischer, KSzW 2013, 3 (5) m. w. N.

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§ 2 Haftung des Vorstands

besitzt.109) Die erforderliche Fachkompetenz bestimmt sich danach, ob der Berater hinsichtlich des relevanten Rechtsgebiets über besondere Kenntnisse und Erfahrungen verfügt.110) Eine schlichte Anfrage bei einer vom Vorstand für fachkundig gehaltenen Person durch die Gesellschaft genügt nicht.111) Auch unter Berufung auf eine unzutreffende Beratung durch den Aufsichtsrat kann sich der Vorstand nicht entlasten.112) 60 Unabhängigkeit meint, dass der Berater seine (Rechts-)Auskunft sachlich unabhängig, d. h. unbeeinflusst von unmittelbaren oder mittelbaren Vorgaben hinsichtlich des Ergebnisses erteilt hat.113) Die erforderliche Unabhängigkeit weisen i. d. R. auch unternehmenseigene Rechtsabteilungen auf.114) Die Einholung externer Rechtsberatung stellt aber typischerweise den rechtlich sichersten Weg dar, um eine wirksame Haftungsfreistellung herbeizuführen, und sollte insbesondere bei hochkomplexen Sachverhalten oder spezialisierten Rechtsmaterien, die über den üblichen Tätigkeitsbereich der Rechtsabteilung hinausgehen, gewählt werden.115) An der erforderlichen Unabhängigkeit kann es im Einzelfall bei Vorbefassung des Rechtsberaters fehlen, wobei hier im Interesse der Beratungskontinuität keine zu strengen Anforderungen anzulegen sind.116) 61 Praxishinweis: Auch die Auskunft spezialisierter Behörden, z. B. der BaFin, des Bundeskartellamts oder der Finanzverwaltung, kann haftungsentlastende Wirkung entfalten.117) Eine Ansprache dieser Behörden sollte daher im Einzelfall erwogen ___________ 109) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 46 f.; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 233; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 8. 110) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 18 – ISION („von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt“); Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 233; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Koch, § 93 Rz. 82; Strohn, CCZ 2013, 177 (180 f.). 111) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099), Rz. 18 – ISION. 112) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2100), Rz. 20 – ISION. 113) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1223), Rz. 36. 114) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 47; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 233; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1532; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 36; Cahn, WM 2013, 1293 (1303 f.); Fleischer, NZG 2010, 121 (123 f.); Fleischer, in: Festschrift Hüffer, S. 187 (192 f.); Klöhn, DB 2013, 1535 (1537 ff.); Merkt/Mylich, NZG 2012, 525 (528); Redeke, AG 2017, 289 (291 f.); Sander/ Schneider, ZGR 2013, 725 (749 ff.); Strohn, ZHR 176 (2012), 137 (140 f.). 115) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 75, 231; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Koch, § 93 Rz. 83; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 92; Buck-Heeb, BB 2013, 2247 (2255); Selter, AG 2012, 11 (15). 116) Wachter/Link, § 93 Rz. 36; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 47; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 34; Kiefner/Krämer, AG 2012, 498 (499 f.); Krieger, ZGR 2012, 496 (500 f.); Redeke, AG 2017, 289 (293 ff.); Strohn, ZHR 176 (2012), 137 (139 f.); Strohn, CCZ 2013, 177 (181 f.). 117) BGH AG 2017, 662, Rz. 17 (§ 52 KWG); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Koch, § 93 Rz. 83.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

werden, nicht zuletzt, weil dies auch für die Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage von Bedeutung sein kann (Æ Rz. 41 und § 1 Rz. 261 f.). Grundlegende Voraussetzung für eine Enthaftung des Vorstands ist ferner, 62 dass der Vorstand dem beauftragten Experten bereits im Vorfeld alle für die Beurteilung der Rechtsfrage erforderlichen Informationen zur Verfügung stellt und so eine ordnungsgemäße Begutachtung ermöglicht; Rechtsrat, der auf vorsätzlicher oder fahrlässiger Falschinformation beruht, entlastet nicht.118) Insbesondere bei komplexen Sachverhalten kann zunächst eine ordentliche Aufarbeitung des Sachverhalts erforderlich sein.119) Allerdings ist für eine Enthaftung nicht auch erforderlich, dass der Prüfauftrag gezielt auf die konkret haftungsrechtliche relevante Fragestellung gerichtet ist.120) Nachdem der Experte den Rechtsrat erteilt hat, ist das Ergebnis zusätzlich einer 63 Plausibilitätskontrolle hinsichtlich offenkundiger Fehler, Widersprüche und Begründungslücken zu unterziehen, die gutachterlichen Schlussfolgerungen sind mit den geschäftlichen Erfahrungen des Vorstandsmitglieds abzugleichen und es ist kritisch zu hinterfragen, ob das Ergebnis frei von Interessenkonflikten zustande gekommen ist.121) Dabei dürfen die Anforderungen allerdings nicht überspannt werden und dem Verständnishorizont und der Vorbildung des Empfängers ist Rechnung zu tragen.122) Regelmäßig wird der Rechtsrat schriftlich zu erteilen sein.123) Insbesondere bei 64 komplexen Sachverhalten und Rechtsfragen ist dies für eine angemessene Plausibilisierung nötig. Sofern eine Entscheidung besonders eilbedürftig oder die zu beurteilende Frage klar und einfach gelagert ist, kann aber auch eine mündliche Beratung ausreichend sein.124) ___________ 118) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 48; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Krieger, ZGR 2012, 496 (499); Strohn, CCZ 2013, 177 (183). 119) Koch, § 93 Rz. 81; Krieger, ZGR 2012, 496 (498 f.). 120) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1222 f.), Rz. 29 ff.; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 47; a. A. Strohn, CCZ 2013, 177 (182 f.). 121) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 49; Fleischer, KSzW 2013, 3 (9); Peters, AG 2010, 811 (816); Strohn, CCZ 2013, 177 (183). 122) Vgl. dazu BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1223), Rz. 32; Hölters/ Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 234; Koch, § 93 Rz. 81; MünchHdb GesR IV/HoffmannBecking, § 25 Rz. 36 (Maßstab des fachlichen Laien); Buck-Heeb, BB 2016, 1347 ff.; Florstedt, NZG 2017, 601 (607 ff.) (zu sog. Cum/ex-Geschäften). 123) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2100), Rz. 24 – ISION; Hölters/ Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 233; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Koch, § 93 Rz. 82. 124) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2100), Rz. 24 – ISION; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 139; Koch, § 93 Rz. 82; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1532; Strohn, ZHR 176 (2012), 137 (142); E. Vetter, NZG 2015, 889 (894). Für weitergehende Zulässigkeit mündlicher Auskunft BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 49; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 34.

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§ 2 Haftung des Vorstands

65 Praxishinweis: Die vollständige Lektüre des schriftlichen Sachverständigengutachtens ist praktisch oftmals nicht möglich, für eine Enthaftung aber auch nicht zwingend erforderlich. Vielmehr genügt es, wenn das Vorstandsmitglied eine Kurzfassung oder Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse zur Kenntnis nimmt und das Gesamtgutachten ergänzend stichprobenartig überprüft.125) Im Übrigen kann das Vorstandsmitglied die Plausibilitätskontrolle ergänzend durch die Rechtsabteilung durchführen lassen.126) 66 Bleibt die Rechtslage trotz Einholung von Rechtsrat unklar, darf der Vorstand nach sorgfältiger Abwägung unter Berücksichtigung des Risikos einer nachträglichen Haftbarmachung, des Ausmaßes der Rechtsunsicherheit sowie der Bedeutung der Entscheidung für die Gesellschaft und den möglichen nachteiligen Folgen einen vertretbaren, der Gesellschaft günstigen Standpunkt einnehmen (Æ § 1 Rz. 248). Er handelt dann ohne Schuld, wenn sich der erteilte Rat als falsch herausstellt. 67 Praxishinweis: Die Einholung von Sachverständigengutachten stellt nach alledem ein wichtiges Instrument zur Begrenzung der Vorstandshaftung dar. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine standardisierte Absicherung durch (externe) Gutachten erforderlich oder stets sinnvoll ist. Dabei muss beachtet werden, dass Auskünfte von Sachverständigen, die nur eine „Feigenblattfunktion“ erfüllen sollen, ohnehin nicht schuldbefreiend wirken.127) Es ist daher stets im Einzelfall anhand der Bedeutung der Entscheidung zu prüfen, ob die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich und angemessen ist. Soweit dies der Fall ist, sollte der Vorstand bei der Auswahl des Sachverständigen und der Plausibilitätskontrolle der erteilten Auskunft einen strengen Sorgfaltsmaßstab anlegen, um sicher in den Genuss der Enthaftung zu gelangen. c)

Mitverschulden

68 Auf ein Mitverschulden (§ 254 BGB) seiner Vorstandskollegen kann sich ein Vorstandsmitglied aufgrund der in § 93 Abs. 2 AktG angeordneten gesamtschuldnerischen Solidarhaftung (Æ Rz. 145 ff.) nicht berufen.128) Ebenso wenig kann ein ersatzpflichtiges Vorstandsmitglied ein Mitverschulden des Aufsichtsrats wegen eines Überwachungsverschuldens in Bezug auf sein eigenes Fehlverhalten einwenden.129) Denn die jeweiligen Organpflichten im Binnenbe___________ 125) Koch, § 93 Rz. 81; Fleischer, DB 2015, 1764 (1769); Strohn, CCZ 2013, 177 (183 f.). 126) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 49; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1532. 127) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 252; vgl. auch MünchHdb GesR IV/HoffmannBecking, § 25 Rz. 36. 128) BGH, Urt. v. 20.3.1986 – II ZR 114/85, ZIP 1987, 1052; BGH Urt. v. 14.3.1983 – II ZR 103/82, ZIP 1983, 824 (GmbH); OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.1996 – 6 U 11/95, ZIP 1997, 27 (36); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 253; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 236. 129) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 253; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 91; Hölters/ Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 236; Großkomm-Akt/Hopt/Roth, § 93 Rz. 404.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

reich der AG bestehen nebeneinander und jedes Organmitglied ist für die Erfüllung seiner eigenen Pflichten im Rahmen des gesetzlichen und satzungsmäßigen Geschäftsbereichs selbstständig verantwortlich.130) Etwas anderes gilt im Rahmen des Innenregresses (Æ Rz. 148 ff.). Gegenüber der Gesellschaft kann der Mitverschuldenseinwand allerdings im Einzelfall in Betracht kommen, wenn diese es nach dem Ausscheiden des Vorstandsmitglieds versäumt hat, den Schaden zu mindern.131) Außerdem kann es im Einzelfall an der Kausalität des Handelns eines ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds für einen eingetretenen Schaden fehlen (Æ Rz. 92). 4.

Schaden

Für eine Schadensersatzpflicht des Vorstands nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG 69 muss der Gesellschaft aufgrund des pflichtwidrigen Verhaltens ein Schaden entstanden sein. a)

Allgemeine Schadensvoraussetzungen

Das Vorliegen eines Schadens sowie Art und Umfang des Schadens bestimmen 70 sich nach den bürgerlich-rechtlichen Normen der §§ 249 ff. BGB.132) Nach der sog. Differenzhypothese besteht der Schaden grundsätzlich in der Differenz zwischen der Vermögenslage der Gesellschaft infolge des schädigenden Ereignisses und dem Vermögensstand, der ohne dieses Ereignis bestünde; das Vermögen der Gesellschaft nach Eintritt des schädigenden Ereignisses (IstZustand) ist also mit dem hypothetischen Stand des Gesellschaftsvermögens ohne das schädigende Ereignis zu vergleichen und die Gesellschaft durch das Vorstandsmitglied so zu stellen, als sei das pflichtwidrige Geschäft nicht abgeschlossen worden.133) Erstattungsfähig sind danach unter den allgemeinen Voraussetzungen auch mittelbare Schäden bzw. Folgeschäden sowie entgangene

___________ 130) BGH, Urt. v. 20.11.2014 – III ZR 509/13, ZIP 2015, 166 (167) (Stiftung), Rz. 22; BGH, Beschl. v. 26.11.2007 – II ZR 161/06, ZIP 2008, 117, Rz. 3; Koch, § 93 Rz. 116; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 50; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 163. 131) OLG Oldenburg, Urt. v. 22.6.2006 – 1 U 34/03, ZIP 2007, 2087 (2088) (GmbH); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 404; Koch, § 93 Rz. 87. 132) OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.1996 – 6 U 11/95, ZIP 1997, 27 (36); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (576); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 254; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 92; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 36; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 192; Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 37; Fleischer, DStR 2009, 1204 (1205 ff.); Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 (212). 133) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 21; BGH, Beschl. v. 18.2.2008 – II ZR 62/07, ZIP 2008, 736 (737 f.), Rz. 8 (GmbH); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (576); Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 237; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 409; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1529.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Gewinne (§ 252 BGB).134) Bloße Vermögensgefährdungen begründen hingegen noch keinen Schaden.135) 71 Weil die Grundsätze der Vorteilsausgleichung auf den Schadensersatzanspruch gemäß § 93 Abs. 2 AktG nach h. M. Anwendung finden, können von der Gesellschaft durch das pflichtwidrige Verhalten erzielte Vorteile bei der Berechnung des Schadens zu berücksichtigen sein. Dies gilt jedoch nur, soweit solche Vorteile adäquat kausal auf die pflichtwidrige Handlung zurückzuführen sind und deren Anrechnung Sinn und Zweck der Schadensersatzpflicht entspricht, d. h. eine Anrechnung die geschädigte Gesellschaft nicht unzumutbar belastet und das schädigende Vorstandsmitglied nicht unbillig begünstigt.136) Relevant wird dies vor allem für Gewinne aus pflichtwidrig abgeschlossenen Geschäften, die auch dann im Wege der Vorteilsausgleichung auf entstandene Verluste anzurechnen sind, wenn die schadensverursachende Maßnahme Bestandteil eines Maßnahmenbündels ist (z. B. Vielzahl von Wertpapiergeschäften mit Sicherungsgeschäften).137) Die Darlegungs- und Beweislast (Æ Rz. 194 ff.) für das Vorliegen des anzurechnenden Vorteils trägt das Vorstandsmitglied.138) 72 Auch sog. „Sowieso“-Kosten, d. h. Kosten, die der Gesellschaft auch bei ordnungsgemäßer Pflichterfüllung des Vorstands entstanden wären, unterliegen den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung und können daher ebenfalls vom Schaden abzuziehen sein, wenn das Vorstandsmitglied seiner diesbezüglichen Darlegungs- und Beweislast genügt.139) ___________ 134) BGH, Beschl. v. 22.6.2009 – II ZR 143/08, ZIP 2009, 1467 (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 256; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 237; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 409. 135) BGH, Urt. v. 28.10.1993 – IX ZR 21/93, BGHZ 124, 27 (30) = ZIP 1993, 1886 (1889); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 256; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 237. 136) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 26; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2101), Rz. 31 – ISION; OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2015 – I-6 U 48/14, AG 2016, 410 (414 f.); Koch, § 93 Rz. 90; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 63; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 192; Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (93 ff.); Fleischer, DStR 2009, 1204 ff.; a. A. Illhardt/Scholz, DZWiR 2013, 512 (513 ff.); Lohse, in: Festschrift Hüffer, S. 581 (597 ff.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (529 f.). 137) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 26 ff.; Koch, § 93 Rz. 86; a. A. noch die Vorinstanz OLG Frankfurt/M., Urt. v. 22.3.2011 – 5 U 29/06, AG 2011, 595 (596 f.), Rz. 66 ff. (Gesamtsaldo für Schaden maßgeblich) und dem folgend Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 99; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 242; Bunz, CCZ 2021, 81 (84). 138) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (458), Rz. 29; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2102), Rz. 34 – ISION; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 411; Koch, § 93 Rz. 86; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1529. 139) BGH, Urt. v. 8.5.2003 – VII ZR 407/01, NJW-RR 2003, 1239 (1240); OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.11.2008 – 19 U 13/08, BeckRS 2012, 06971; Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 (215 f.).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

b)

Praxisrelevante Schadenspositionen

Bei Austauschgeschäften besteht der Schaden der Gesellschaft häufig in der 73 negativen Differenz zwischen dem Wert der erworbenen Sache bzw. des erworbenen Rechts und dem hierfür aufgewendeten Vermögen. Denkbar sind zudem Folgeschäden des pflichtwidrigen Erwerbs. Beispiele: (Pflichtwidrig) überteuerter Erwerb eines Grundstücks, eines Unternehmens oder 74 einer Unternehmensbeteiligung, eines Nutzungsrechts, Patents usw., Belastung des Gesellschaftsvermögens mit einer Forderung ohne adäquate Gegenleistung140) oder Kreditvergabe ohne werthaltigen Darlehensrückzahlungsanspruch141), Vergütung von für die Gesellschaft nutzlosen Dienstleistungen, Verluste aus Zinsderivategeschäften142) etc. Ein Schaden der Gesellschaft kann sich auch daraus ergeben, dass ein Vorstands- 75 mitglied Bestechungszahlungen leistet143) oder die Gesellschaft infolge des pflichtwidrigen Verhaltens eines Vorstandsmitglieds Dritten gegenüber einstehen muss.144) Typische Fälle solcher Haftungsschäden sind der Gesellschaft auferlegte Bußgelder (Æ Rz. 76 ff.) und eine Inanspruchnahme durch geschädigte Drittgläubiger der Gesellschaft (Æ Rz. 81 f.), worunter im Fall einer verdeckten Gewinnausschüttung auch die Steuerbelastung der Gesellschaft fällt.145) Zunehmende Bedeutung erlangt ferner die Frage, ob bzw. in welchem Umfang die Kosten der Aufklärung möglicher Compliance-Pflichtverletzungen im Unternehmen (Æ § 1 Rz. 288 ff.) einen ersatzfähigen Schaden darstellen (Æ Rz. 83 ff.). aa)

(Kartell-)Bußgeld

Noch keine abschließende Klarheit besteht hinsichtlich der Frage, ob gegen das 76 Unternehmen verhängte (Kartell-)Geldbußen und -strafen sowie Kompensationszahlungen gegenüber Behörden eine erstattungsfähige Schadensposition i. S. v. § 93 Abs. 2 AktG darstellen und demgemäß im Wege des Innenregresses auf ein verantwortliches Vorstandsmitglied abgewälzt werden können. Das LAG Düsseldorf lehnt dies in einer nicht rechtskräftigen Entscheidung ab, 77 insbesondere weil die Abwälzung eines solchen Schadens dem differenzierten kartellrechtlichen Sanktionssystem des § 81 Abs. 4 GWB widerspreche und eine ___________ 140) OLG Naumburg, Urt. v. 30.11.1998 – 11 U 22/98, NZG 1999, 353 (355); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 257. 141) BGH, Urt. v. 13.8.2009 – 3 StR 576/08, ZIP 2009, 1854 (1855), Rz. 19; Hölters/ Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 239. 142) BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 21. 143) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 246; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 418. 144) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 257; Koch, § 93 Rz. 87. 145) BGH, Urt. v. 24.9.2001 – II ZR 90/00, DStR 2002, 227 (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 257.

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§ 2 Haftung des Vorstands

solche Abwälzung zudem dem spezial- und generalpräventiven Zweck des Kartellbußgelds zuwiderlaufe.146) In Literatur147) und instanzgerichtlicher Rechtsprechung148) wird die Auffassung des LAG Düsseldorf mitunter geteilt. Das BAG hat das Urteil des LAG Düsseldorf jedoch aufgehoben und mit dem Hinweis zurückverwiesen, dass es sich bei der Frage der Abwälzbarkeit von Kartellgeldbußen auf Geschäftsführer um eine kartellrechtliche Vorfrage handele, die von den für Kartellsachen zuständigen Landgerichten zu klären sei.149) Eine höchstrichterliche Klärung der Frage steht also noch aus. 78 Die h. M. im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum hält sämtliche Bußgelder demgegenüber für erstattungsfähig.150) Dies erscheint überzeugend und entspricht auch der in der Rechtsprechung grundsätzlich anerkannten Linie, dass Dritte für verhängte Geldbußen grundsätzlich in Regress genommen werden können.151) Es vermag auch nicht zu überzeugen, dass das kartellrechtliche oder ordnungswidrigkeitsrechtliche Sanktionssystem bei Bestehen eines Schadensersatzanspruchs unterlaufen würde, weil Zivil- und Ordnungswidrigkeitenrecht als eigenständige Regelungsbereiche nebeneinander stehen.152) Einen ersatzfähigen Schaden stellt allerdings nur der Ahndungsteil des (Kartell-)Bußgelds ___________ 146) LAG Düsseldorf, (Teil-)Urt. v. 20.1.2015 – 16 Sa 459/14, ZIP 2015, 829 (830 ff.) (GmbH). 147) Bachmann, BB 2015, 911; Bunte, NJW 2018, 123 (125); Dreher, in: Festschrift Konzen, S. 85 (103 ff.); Dreher, VersR 2015, 781 (787 f.); Gaul, AG 2015, 109 (110 f.); Goette, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 377 (380 f.); Grunewald, NZG 2016, 1121 ff.; Horn, ZIP 1997, 1129 ff.; Kollmann/Aufdermauer, BB 2015, 1018 (1024); Labusga, VersR 2017, 396 ff.; Thomas, NZG 2015, 1409 ff.; wohl auch Kolb, GWR 2015, 169. 148) LG Saarbrücken, Urt. v. 15.9.2020 – 7 HK O 6/16, BeckRS 2020, 32440, Rz. 122 f.; kritisch Eufinger, CCZ 2021, 50 (52). 149) BAG, Urt. v. 29.6.2017 – 8 AZR 189/15, ZIP 2017, 2424 ff. 150) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 258; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 419; Koch, § 93 Rz. 88; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 194; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1529 (Nur sofern das Organmitglied wegen derselben Sache nicht persönlich belangt wird); Krieger/Schneider/Wilsing, § 31 Rz. 29 ff.; Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (94 f.); Bayer/Scholz, GmbHR 2015, 449 (450 f.); Bayreuther, NZA 2015, 1239 (1240 ff.); Bicker, AG 2014, 8 (13); Binder/Kraayvanger, BB 2015, 1219 (1227 f.); Blaurock, in: Festschrift Bornkamm, S. 107 (114 f.); Bunz, CCZ 2021, 81 (84); Fleischer, BB 2008, 1070 (1073); Glöckner/Müller-Tautphaeus, AG 2001, S. 344 (345 f.); Hauger/Palzer, ZGR 2015, 33 (53 ff.); Heyers, WM 2016, 581 f.; Kapp/Gärtner, CCZ 2009, 168 (170); Kersting, ZIP 2016, 1266 (1267 ff.); Koch, Liber Amicorum Winter, 2011, S. 327 (334 f.); Marsch-Barner, ZHR 173 (2009), 723 (729 f.); Seibt, NZG 2015, 1097 (1101); Suchy, NZG 2015, 591 (592 ff.); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (532 f.); Zimmermann, WM 2008, 434 (437). Zur Regressmöglichkeit bei Verstößen gegen die DSGVO Daghles, DB 2018, 2289 (2294). 151) BGH Urt. v. 14.11.1996 – IX ZR 215/95, NJW 1997, 518 f.; BGH Urt. v. 31.1.1957 – II ZR 41/56, BGHZ 23, 222 (224 ff.) = BB 57, 240; Kersting, ZIP 2016, 1266 ff. 152) Bunz, CCZ 2021, 81 (84); Fleischer, DB 2014, 345 (347); Kapp/Gärtner, CCZ 2009, 168 (170); Kersting, ZIP 2016, 1266 (1267); Suchy, NZG 2015, 591 (592); Zimmermann, WM 2008, 433 (437).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

und nicht auch der Abschöpfungsteil dar, durch welchen lediglich der durch die Pflichtverletzung erlangte Vorteil wieder beseitigt werden soll.153) Darüber hinaus wird von einigen Stimmen eine summenmäßige Begrenzung 79 des Schadensersatzanspruchs befürwortet.154) Zudem wird teilweise erwogen, den Anspruch der Höhe nach durch den persönlichen Kartellbußgeldrahmen155) oder unter Berücksichtigung von Schadensumfang, Schwere der Pflichtverletzung und Vergütungshöhe156) zu beschränken. Eine solche höhenmäßige Begrenzung des Schadensersatzanspruchs lässt sich nach geltendem Recht dogmatisch allerdings nicht begründen (Æ Rz. 97 ff.).157) Praxishinweis: Die Rechtslage zur Abwälzbarkeit von Bußgeldern auf Organmitglie- 80 der kann nach alledem nur als offen bezeichnet werden. Bis zu einer endgültigen Klärung der Rechtslage durch die (höchstrichterliche) Rechtsprechung darf die Unternehmenspraxis daher in Fällen der vorliegenden Art nicht uneingeschränkt von einer Ersatzfähigkeit ausgehen. Vielmehr muss bei der Bezifferung der Erfolgswahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme ein Sicherheitsabschlag vorgenommen werden. bb)

Sonstige Drittverbindlichkeiten der Gesellschaft

Einen ersatzfähigen Schaden kann die Gesellschaft ferner dadurch erleiden, dass 81 sie von Dritten in Anspruch genommen wird, die durch das pflichtwidrige Vorstandshandeln unmittelbar geschädigt wurden.158) Insofern ist z. B. an Schadensersatzansprüche von Geschäftspartnern bei Compliance-Verstößen159) oder Schadensersatzansprüche kartellgeschädigter Verbraucher gemäß § 33a GWB zu ___________ 153) Koch, § 93 Rz. 89; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 194; Krieger/Schneider/Wilsing, § 31 Rz. 30 f.; Fleischer, DB 2014, 345 (348); Seibt, NZG 2015, 1097 (1101); Zimmermann, WM 2008, 433 (438 f.). 154) Z. B. Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (95 ff.); Fleischer, BB 2008, 1070 (1073); Heyers, WM 2016, 581 (585 ff.); Koch, AG 2012, 429 ff.; Seibt/Cziupka, AG 2015, 93; Spindler, AG 2013, 889 (894 f.); eine Begrenzung des Schadensersatzes der Höhe nach verneinend z. B. Bayer/Scholz, GmbHR 2015, 449 (454 ff.); Bayreuther, NZA 2015, 1239 (1242); Binder/Kraayvanger, BB 2015, 1219 (1227 f.); Blaurock, in: Festschrift Bornkamm, S. 107 (115 f.); Kersting, ZIP 2016, 1266 (1269 ff.). 155) ArbG Essen, Urt. v. 19.12.2013 – 1 Ca 657/13, NZKart 2014, 193 (195 f.) (GmbH); Eufinger, WM 2015, 1265 (1270 f.); Fleischer, BB 2008, 1070 (1073); Gaul, AG 2015, 109 (117); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (533 f.). 156) Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (97 f.); Koch, Liber Amicorum Winter, 2011, S. 327 (350). 157) Siehe hierzu ausführlich Hauger/Palzer, ZGR 2015, 33 (80); Kersting, ZIP 2016, 1266 (1269 ff.); Schöne/Petersen, AG 2012, 700 (701 f.). 158) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 409; Koch, § 93 Rz. 87; U.H. Schneider, in: Festschrift Hüffer, S. 905 (910 ff.). Allgemein zur Verbindlichkeit als Schaden i. S. v. § 249 BGB BGH, Urt. v. 16.11.2006 – I ZR 257/03, NJW 2007, 1809 (1811); BGH, Urt. v. 29.6.1972 – II ZR 123/71, BGHZ 59, 148 (149) = NJW 1972, 1856 (1857); MünchKommBGB/Oetker, § 249 Rz. 16 m. w. N. 159) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 257; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 246; Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (93); Goette, ZHR 175 (2011), 388 (389).

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§ 2 Haftung des Vorstands

denken. Auch können Ansprüche geschädigter Anleger hierunter fallen, z. B. solche nach §§ 97, 98 WpHG bei unterlassener oder falscher Veröffentlichung einer Insiderinformation (Æ § 10 Rz. 33 f.) oder nach § 280 Abs. 1 BGB, §§ 823 ff. BGB wegen des Erwerbs einer nachteiligen Kapitalanlage aufgrund der Verletzung von Aufklärungspflichten oder einer fehlerhaften Beratung. 82 Wenn es in den vorgenannten Fällen noch zu keiner Inanspruchnahme der Gesellschaft gekommen ist, die Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch Dritter aber bereits vorliegen, kann die Bestimmung des konkreten Zeitpunkts der Schädigung des Gesellschaftsvermögens Schwierigkeiten bereiten. Praktisch relevant ist dies vor allem für den Beginn der Verjährung des Anspruchs aus § 93 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 101 ff.). Weil eine bloße Vermögensgefährdung noch keinen Schaden darstellt (Æ Rz. 70), ist der Bestand bloß latenter bzw. potentieller Verbindlichkeiten für § 93 Abs. 2 AktG nicht hinreichend. Erforderlich ist vielmehr nach der Rechtsprechung des BGH, dass der Geschädigte tatsächlich mit einer Verbindlichkeit beschwert ist.160) Der BGH scheint dabei einer bilanziellen Betrachtung zuzuneigen.161) Eine tatsächliche Existenz der Verbindlichkeit hat er zumeist erst angenommen, wenn die zugrundeliegende Forderung entweder rechtskräftig festgestellt,162) unbestritten163) oder immerhin bereits geltend gemacht worden ist164). Vor diesem Hintergrund tritt ein Schaden jedenfalls nicht vor dem Moment ein, in dem es für die Gesellschaft angezeigt ist, eine Rückstellung zu bilden,165) spätestens aber ab der Passivierungspflicht der entsprechenden Verbindlichkeit. cc)

Beraterkosten und Kosten externer Dienstleister

83 Beraterkosten sowie Kosten sonstiger externer Dienstleister kommen ebenfalls als mögliche Schäden der Gesellschaft in Betracht. Praktische Relevanz hat dies ___________ 160) BGH, Urt. v. 16.11.2006 – I ZR 257/03, NJW 2007, 1809 (1811); BGH, Urt. v. 9.11.1988 – VIII ZR 310/87, ZIP 1989, 168 (169); BGH, Urt. v. 11.6.1986 – VIII ZR 153/85, NJWRR 1987, 43 (44). 161) So Staudinger/Peters/Jacoby, § 199 Rz. 36; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gemäß §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, 2005, S. 352 f.; Fischer, DStR 2007, 1083 (1088). 162) BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 190/86, BGHZ 100, 228 = ZIP 1987, 776 (777 f.). 163) BGH, Urt. v. 16.11.2006 – I ZR 257/03, NJW 2007, 1809 (1811), Rz. 20. 164) BGH, Urt. v. 19.5.2009 – IX ZR 43/08, ZIP 2009, 1427 (1430) (GmbH), Rz. 28; BGH, Urt. v. 16.11.2006 – I ZR 257/03, NJW 2007, 1809 (1811), Rz. 20; BGH, Urt. v. 9.11.1988 – VIII ZR 310/87, ZIP 1989, 168 (169); BGH, Urt. v. 11.6.1986 – VIII ZR 153/85, NJWRR 1987, 43 (44). 165) LG Saarbrücken, Urt. v. 15.9.2020 – 7 HK O 6/16, BeckRS 2020, 32440, Rz. 76 (Bloßes Risiko genügt nicht, bilanzwirksame Umstände dahingegen schon); Staudinger/Peters/ Jacoby, § 199 Rz. 36; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gemäß §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, 2005, S. 352 f.; Fischer, DStR 2007, 1083 (1088).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

in jüngerer Zeit besonders im Zusammenhang mit den teils hohen Kosten erlangt, die Unternehmen zur Aufdeckung und Verfolgung möglicher Pflichtverstöße im Unternehmen, ggf. unter Einschaltung spezialisierter (internationaler) Anwaltskanzleien, im Rahmen von internen Ermittlungen entstehen (Æ § 1 Rz. 293 f.). Entsprechende Kosten werden jedenfalls im Grundsatz verbreitet als ersatzfähige Schäden anerkannt.166) Ihre Ersatzfähigkeit steht allerdings unter einer Reihe zusätzlicher Voraussetzungen. Bereits im Ansatz muss ein Ersatz für Kosten ausscheiden, die auch bei pflicht- 84 gemäßem Verhalten angefallen wären (sog. „Sowieso-Kosten“; Æ Rz. 72).167) Im Übrigen müssen die Kosten aus Sicht der geschädigten Gesellschaft zur Wahrnehmung ihrer Rechte erforderlich und zweckmäßig sein.168) Dem Grunde nach erforderlich und zweckmäßig sind die Kosten insbesondere dann, wenn es sich nicht um einen einfach gelagerten Sachverhalt handelt, der auch unter Zuhilfenahme eigener Fachabteilungen169) eigenständig aufgeklärt und bearbeitet werden kann.170) Die Beauftragung externer rechtlicher Berater wird daher umso eher erforderlich und zweckmäßig sein, je komplexer der Sachverhalt ist.171) Der Höhe nach erforderlich und zweckmäßig sind die Kosten externer Rechtsberater jedenfalls bis zur Höhe der gesetzlichen Gebühren.172) Darüber hinausgehende anwaltliche Zeithonorare sind erstattungsfähig, wenn im konkreten Fall eine Abrechnung auf Basis des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) nicht üblich und der von der Gesellschaft mit der Kanzlei vereinbarte Stundensatz mit den Stundensätzen vergleichbar ist, die andere, auf das Wirtschaftsrecht spezialisierte Kanzleien in vergleichbaren Fällen verlangen.173) Die___________ 166) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (576); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 409; Koch, § 93 Rz. 89; Fleischer, NZG 2014, 321 (327) m. w. N.; Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 ff.; Meier-Greve, BB 2009, 2555 (2558). 167) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 257 (dort Fn. 1255); Bachmann, ZIP 2014, 579 (582); S. Meyer, DB 2014, 1063 (1068). 168) BGH, Urt. 8.11.1994 – VI ZR 3/94, BGHZ 127, 348 (349) = NJW 1995, 446 (447); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (576). 169) LG Gießen, Beschl. v. 13.10.2009 – 1 S 71/09, NJW-RR 2010, 810. 170) BGH, Urt. v. 16.7.2015 – IX ZR 197/14, ZIP 2015, 1684 (1688); BGH, Urt. v. 8.5.2012 – XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159 = ZIP 2012, 1335 (1342); BGH, Urt. v. 23.10.2003 – IX ZR 249/02, NJW 2004, 444 (446). 171) OLG Koblenz, Urt. v. 29.5.2008 – 2 U 1620/06, NJW 2009, 1153 (1154); Soergel/ Ekkenga/Kuntz, § 249 Rz. 125; Deckenbrock, NJW 2009, 1247 (1249); Hunecke, NJW 2015, 3745 (3747); Woitkewitsch, MDR 2012, 500. 172) BGH, Urt. v. 16.7.2015 – IX ZR 197/14, ZIP 2015, 1684 (1688), Rz. 55. 173) BGH, Urt. v. 16.7.2015 – IX ZR 197/14, ZIP 2015, 1684 (1688), Rz. 58; OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, AG 2011, 204 = ZIP 2011, 868; Saenger/Uphoff, NJW 2014, 1412 (1414 f.); Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 (216 f.). In diese Richtung auch Fleischer, NZG 2014, 321 (327). Das LG München I (Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (576) hat die Erforderlichkeit der Einschaltung einer US-amerikanischen Anwaltskanzlei z. B. maßgeblich mit der Notierung der Siemens AG an der US-Börse und dem mit der Einschaltung verfolgten Ziel einer erheblichen Bußgeldreduzierung begründet.

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§ 2 Haftung des Vorstands

selben Grundsätze gelten hinsichtlich der Kosten sonstiger externer Dienstleister. Zwar handelt es sich insoweit nicht um Rechtsverfolgungskosten im eigentlichen Sinne. Die Kosten sind jedoch als Aufwendungen zur Schadensbeseitigung bzw. zur Geringhaltung des Schadens grundsätzlich erstattungsfähig.174) 85 Hinsichtlich der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit der Kosten ist die Gesellschaft darlegungs- und beweispflichtig.175) Die Erstattungsfähigkeit setzt dabei zumindest eine Mitverursachung durch das pflichtvergessene Vorstandsmitglied voraus.176) Bleibt bei einzelnen Kostenpositionen der Mitverursachungsbeitrag unklar, geht dies zu Lasten der Gesellschaft.177) Zudem hat eine konkrete Schadensberechnung zu erfolgen, so dass ein konkreter Vortrag zum streitgegenständlichen Schaden durch die Gesellschaft erforderlich ist; aus einheitlichen Rechnungen, in denen auch weitere Begutachtungen abgerechnet werden, muss dabei der konkret streitgegenständliche Betrag isoliert werden.178) Auf Grundlage des Vortrags ist allerdings die Schätzung eines Mindestschadens gemäß § 287 ZPO möglich (Æ Rz. 203).179) 86 Praxishinweis: Sowohl beauftragende Unternehmen als auch beauftragte Anwaltskanzleien bzw. Dienstleister müssen vor diesem Hintergrund auf eine Dokumentation der Tätigkeit achten, die es stets ermöglicht, die Prüfungstätigkeit einem konkreten untersuchten Sachverhalt bzw. einem konkreten potentiellen Vorstandsfehlverhalten zuzuordnen. dd)

Schaden in Konzernkonstellationen

87 Der Schaden muss im eigenen Vermögen der anspruchsberechtigten Gesellschaft eingetreten sein; bloße Schäden von Aktionären – selbst diejenigen eines Alleinaktionärs – bleiben hingegen außer Betracht.180) 88 In Konzernkonstellationen, insbesondere bei Vorstands-Doppelmandaten (Æ § 1 Rz. 325 ff.), kann es jedoch vorkommen, dass durch die Pflichtverletzung eines Vorstandsmitglieds sowohl das Vermögen der Tochtergesellschaft als auch das Vermögen der Muttergesellschaft geschädigt wird (sog. Doppelschaden). Insoweit ist anerkannt, dass ein reiner Reflexschaden der Muttergesellschaft, der in einer Entwertung ihrer Beteiligung an der Tochtergesellschaft besteht, keinen Schadensersatzanspruch der Muttergesellschaft auf Leistung an sich ___________ 174) Fleischer, NZG 2014, 321 (327). So auch generell Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209 (213). 175) BGH, Urt. v. 12.7.2011 – VI ZR 214/10, NJW 2011, 3657 (3658), Rz. 20; Hunecke, NJW 2015, 3745 (3746); Woitkewitsch, MDR 2012, 500 (502). 176) OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, AG 2011, 204 (205); Grüneberg/ Grüneberg, Vorbem. v. § 249 Rz. 33, 34 und 56. 177) OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, AG 2011, 204 (205) = ZIP 2011, 868. 178) OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, AG 2011, 204 (205) = ZIP 2011, 868. 179) OLG München, Urt. v. 21.7.2010 – 7 U 1879/10, AG 2011, 204 (205) = ZIP 2011, 868. 180) BGH, Urt. v. 8.2.1977 – VI ZR 249/74, NJW 1977, 1283; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 265; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 60; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 192.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

selbst, sondern lediglich einen Anspruch auf Leistung an die Tochtergesellschaft begründet.181) Nur wenn die Muttergesellschaft einen eigenen Schaden erleidet oder sie den Schaden der Tochtergesellschaft ausgeglichen hat – z. B. aufgrund einer Verlustausgleichspflicht gemäß § 302 AktG (Æ § 7 Rz. 260), steht ihr ein Anspruch auf Leistung an sich selbst zu.182) Im letztgenannten Fall kommt auch die Abtretung des Anspruchs der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft in Betracht.183) 5.

Kausalität

Die Pflichtverletzung muss für den Schaden der Gesellschaft nach allgemeinen 89 schadensrechtlichen Grundsätzen ursächlich sein.184) Insbesondere ist erforderlich, dass der Schaden adäquat kausal auf die Pflichtverletzung zurückzuführen ist.185) Eine solche Adäquanz ist dann gegeben, wenn das Ereignis im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, einen Erfolg der fraglichen Art herbeizuführen.186) An dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang kann es im Einzelfall feh- 90 len, wenn eine selbstschädigende und mindestens mitverursachende Handlung der Gesellschaft vorliegt. Wurde die Handlung allerdings durch das haftungsbegründende Ereignis herausgefordert oder wesentlich mitbestimmt oder stellt sie eine nicht ungewöhnliche, insbesondere eine unternehmerisch und wirtschaftlich nachvollziehbare, Reaktion darauf dar, liegt ein hinreichender Zurechnungszusammenhang vor.187) Praxishinweis: Vor diesem Hintergrund wird insbesondere die Argumentation 91 von in Anspruch genommenen Vorstandsmitgliedern, die Gesellschaft habe eigen___________ 181) BGH, Urt. v. 10.11.1986 – II ZR 140/85, ZIP 1987, 29 (32 f.); Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 93 Rz. 423; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 62. 182) BGH, Urt. v. 29.6.1987 – II ZR 173/86, ZIP 1987, 1316 (1319); BGH, Urt. v. 10.11.1986 – II ZR 140/85, ZIP 1987, 29 (32 f.); OLG München, Urt. v. 17.9.1999 – 23 U 1514/99, NZG 2000, 741 (743) (KGaA); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 421, 424; KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 62. 183) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 424; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 62. 184) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 93 AktG Rz. 35; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 55; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 196; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1530. 185) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 267; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 413; Koch, § 93 Rz. 86; Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 38; MünchHdb GesR IV/Kraft/ Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 20. 186) BGH, Urt. v. 11.1.2005 – X ZR 163/02; NJW 2005, 1420 (1421); BGH, Urt. v. 25.9.1952 – III ZR 322/51 BGHZ 7, 198 (204) = NJW 1953, 700; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 267; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 250. 187) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 = ZIP 2014, 1728 (1730), Rz. 18; BGH, Urt. v. 2.7.2013 – II ZR 293/11, ZIP 2013, 1577 (1578), Rz. 12 (GmbH); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 267; Fleischer, NZG 2014, 321 (327).

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§ 2 Haftung des Vorstands

verantwortlich eine (teure) Aufklärung unter Einschaltung externer Anwälte bei möglichen Compliance-Pflichtverletzungen (Æ Rz. 83 ff.) beschlossen188) oder im Wege einer Verständigung mit Staatsanwaltschaft oder anderen Behörden ein Bußgeld übernommen, hinsichtlich dessen sie das Organmitglied nun in Regress nimmt (Æ Rz. 76 ff.),189) in den meisten Fällen nicht geeignet sein, den Zurechnungszusammenhang zu unterbrechen. 92 Der erforderliche Zurechnungszusammenhang kann ferner ausnahmsweise bei sonstigen zwischentretenden Schadensursachen fehlen.190) Von praktischer Relevanz ist insofern der Fall einer Unterbrechung des Kausalverlaufs aufgrund späterer Entscheidungen des Vorstandes, an denen das in Anspruch genommene Vorstandsmitglieds aufgrund Ausscheidens nicht mehr beteiligt war.191) 93 Pflichtverletzungen durch Unterlassen sind für einen Schaden ursächlich, wenn bei hypothetischer Vornahme der rechtlich gebotenen Handlung der Eintritt des Schadens ausgeblieben wäre.192) Praktische Relevanz hat dies insbesondere in Fällen der Verletzung von Überwachungspflichten (Æ § 1 Rz. 281 ff.) und der (Compliance-)Organisationspflicht (Æ § 1 Rz. 300 ff.).193) Die Darlegungsund Beweislast hierfür trifft grundsätzlich die Gesellschaft (Æ Rz. 196 ff.).194) Weil der Nachweis eines hypothetischen Kausalverlaufs naturgemäß Schwierigkeiten bereitet und im Fall einer streitigen Auseinandersetzung keine konkreten Tatsachen zur Ursächlichkeit vorgetragen werden können, wird es allerdings als ausreichend erachtet, wenn eine hinreichend offensichtliche Verbindung zwischen dem pflichtwidrigen Unterlassen und den geltend gemachten Schadenspositionen dargelegt wird.195) ___________ 188) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 267; Fleischer, NZG 2014, 321 (327); Lüneborg/ Resch, NZG 2018, 209 (215). Vgl. auch Waltenberg, CCZ 2017, 146 (zur Einsetzung eines Compliance-Monitors). 189) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 267; Fleischer, DB 2014, 345 (351 f.); Lüneborg/ Resch, NZG 2018, 209 (215 und dort Fn. 76). 190) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (576); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 413. Allgemein BGH, Urt. v. 11.11.1999 – III ZR 98/99, NJW 2000, 947 (948) m. w. N. 191) LG Leipzig, Urt. v. 8.11.2013 – 08 O 3757/10, BeckRS 2014, 01102 – Sachsen LB; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 40. 192) BGH, Urt. v. 7.2.2012 – VI ZR 63/11, BGHZ 192, 298 (303) = NJW 2012, 850 (851), Rz. 10; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (577 f.); BeckOK BGB/Flume, § 249 Rz. 282. 193) Zur Kausalität in diesen Fällen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 267. 194) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314 (2315) (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 275; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 208. 195) BGH, Urt. v. 9.6.1980 – II ZR 187/79, ZIP 1980, 776 f. (GmbH); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.3.1992 – 23 U 118/91, NJW-RR 1993, 546 (547) (GmbH). So im Ergebnis auch LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (577); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 268; Fleischer, NZG 2014, 321 (328).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Das Vorstandsmitglied kann die Kausalität insbesondere mit dem Einwand an- 94 greifen, dass der Schaden auch dann eingetreten wäre, wenn es sich pflichtgemäß verhalten hätte (sog. rechtmäßiges Alternativverhalten).196) Damit es die ihm obliegende Darlegungs- und Beweislast (Æ Rz. 204) erfüllt, genügt nicht schon die bloße Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, sondern erforderlich ist der sichere Nachweis, dass derselbe Schaden auf jeden Fall eingetreten wäre.197) In Fällen der Geschäftsführung des Vorstands unter Missachtung von Zustimmungsvorbehalten des Aufsichtsrats (Æ § 1 Rz. 161 ff.) sowie bei vergleichbaren Verstößen gegen Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensregeln hält eine verbreitete Auffassung im aktienrechtlichen Schrifttum den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens in Anlehnung an die ältere Rechtsprechung für unanwendbar, damit der Schutzzweck dieser Regelungen nicht unterlaufen und die Nichterfüllung der Vorstandspflichten nicht sanktionslos bleibe.198) Danach wäre immer der Einwand ausgeschlossen, die Maßnahme oder Entscheidung wäre auch bei ordnungsgemäßer Beteiligung des Aufsichtsrats – bzw. des Gesamtvorstands bei Aufgaben, die ein Vorstandsmitglied ungeachtet der Zuständigkeit des Gesamtgremiums (Æ § 1 Rz. 125 f.) kompetenzwidrig wahrnimmt – zustande gekommen, weil diese gleichsinnig entschieden bzw. ihre Zustimmung erteilt hätten. Die neuere Rechtsprechung des BGH und mit ihr eine im vordringen befindliche Literaturauffassung gehen allerdings zutreffend davon aus, dass Verstöße gegen die vorgenannten Pflichten nicht per se eine Schadensersatzpflicht auslösen, dem Vorstandsmitglied also in diesen Fällen der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht vollständig abgeschnitten ist.199)

___________ 196) BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, ZIP 2013, 1165 (1169), Rz. 33 f.; BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 14; BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (284) = ZIP 2002, 2314 (2316) (GmbH); Koch, § 93 Rz. 92. 197) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 251; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 415; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 55; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 196. 198) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127 (135) = ZIP 1991, 653 (656); BGH, Urt. v. 25.2.1991 – II ZR 76/90, ZIP 1991, 509 (510); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 416; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 55; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 196. 199) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 (1927), Rz. 40 ff.; BGH, Urt. v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, ZIP 2008, 1818 (1820), Rz. 19 (GmbH); BGH, Urt. v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, ZIP 2007, 268 (269), Rz. 12 (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 269; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 93 f.; Hölters/Weber/Hölters/ Hölters, § 93 Rz. 251; Koch, § 93 Rz. 92; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 21; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1530; Fleischer, DStR 2009, 1204 (1208 ff.); Fleischer, NJW 2009, 2337 (2339 f.); Haarmann/Weiß, BB 2014, 2115 (2117 f.).

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§ 2 Haftung des Vorstands

Erforderlich ist dann aber der sichere Nachweis, dass die Aufsichtsratsmitglieder mehrheitlich zugestimmt hätten.200) 95 Bei Kollegialentscheidungen des Vorstands (Æ Rz. 21 f. und § 1 Rz. 125 f.) stellen sich im Grundsatz dieselben Fragen wie im Zusammenhang mit der Haftung des Aufsichtsrats (Æ § 4 Rz. 4 ff.). Auch hier kann sich das einzelne pflichtvergessene Vorstandsmitglied nicht darauf berufen, seine Stimmabgabe oder Enthaltung sei angesichts einer großen Mehrheit des Beschlusses nicht ursächlich geworden.201) Zur Enthaftung muss ein überstimmtes Vorstandsmitglied vielmehr weitergehende Pflichten erfüllen (Æ Rz. 22). 6.

Darlegungs- und Beweislast (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG)

96 Im Schadensersatzprozess obliegt der Gesellschaft – ggf. mit der Erleichterung des § 287 ZPO – die Darlegungs- und Beweislast für einen Schaden und dessen Verursachung durch ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Vorstandsmitglieds in seinem Pflichtenkreis, wohingegen das Vorstandsmitglied darzulegen und zu beweisen hat, dass es seine Pflichten nicht verletzt oder jedenfalls schuldlos gehandelt hat oder dass der Schaden auch bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten eingetreten wäre (Æ Rz. 194 ff.).202) II.

Haftungshöhe

97 Vorstandsmitglieder haften der Gesellschaft bei Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG im Grundsatz persönlich und unbeschränkt mit ihrem Privatvermögen auf Ersatz des gesamten erlittenen Schadens.203) Aufgrund des zwingenden Charakters der Vorschrift (Æ Rz. 2) bestehen auch nur begrenzte Möglichkeiten für eine Beschränkung oder Abmilderung der Haftung (Æ Rz. 172 ff.). ___________ 200) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 (1927), Rz. 39; BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 267; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 251; Koch, § 93 Rz. 93. Ob zur Vermeidung offensichtlicher Beweisschwierigkeit auch auf einen verantwortungsvoll handelnden Aufsichtsrat abgestellt werden kann (so Fleischer, DStR 2009, 1204 [1209 f.]; Habersack, in: Festschrift Vetter, S. 183 (184); Koch, in: Festschrift Köndgen, S. 329 [343 ff.]), ist noch nicht abschließend geklärt. 201) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 23; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 271 ff.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 95; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 414; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 22; Fleischer, BB 2004, 2645 (2647). 202) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 (1928), Rz. 45; BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (456), Rz. 14; BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860 (863), Rz. 42; BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (287) = ZIP 2002, 2314 (2317) (GmbH); OLG Köln, Urt. v. 1.10.2019 – 18 U 34/18, NZG, 2020, 110 (112), Rz. 72 ff. 203) Vgl. nur Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (261).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Im Lichte der allgemeinen Verschärfung des Haftungsklimas (Æ Rz. 4 f.) und 98 der bisweilen exorbitant hohen Schadenssumme, die ein pflichtwidriges Vorstandshandeln bei der Gesellschaft auslösen kann, werden im aktienrechtlichen Schrifttum in den vergangenen Jahren zunehmend Vorschläge diskutiert, wie sich eine Regressreduzierung erzielen lässt, um die ggf. existenzvernichtenden Folgen der scharfen Vorstandshaftung abzumildern.204) Insbesondere im Zusammenhang mit der Verhängung von Geldbußen gegen die Gesellschaft kamen zunächst Forderungen auf, dass Gesellschaften diese gar nicht oder jedenfalls nicht ungekürzt im Rahmen der Organhaftung an die Vorstandsmitglieder weiterreichen dürften (Æ Rz. 76 ff.).205) Nach teilweise vertretener Auffassung soll eine Begrenzung der Haftung des Vorstands durch Rückgriff auf die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung bei betrieblich veranlasster Tätigkeit möglich sein, wonach abgestuft nach dem Verschuldensgrad eine Haftung für Pflichtverletzungen quotenmäßig reduziert oder, im Falle leichtester Fahrlässigkeit, gänzlich ausgeschlossen sein kann.206) Nach ganz überwiegender Auffassung sind diese Grundsätze auf Organmitglieder einer AG aber nicht unmittelbar anwendbar.207) Verbreitet ist ferner die Ansicht, die Gesellschaft sei kraft ihrer Treue- bzw. Fürsorgepflicht (Æ § 1 Rz. 330) gegenüber den Vorstandsmitgliedern zur angemessenen Begrenzung der Rechtsverfolgung von Organhaftungsansprüchen bei fahrlässigen Pflichtverletzungen verpflichtet.208) Von einer verbreiteten Auffassung werden sämtliche vorgenannten Ansätze als mit dem geltenden Aktienrecht unvereinbar bzw. schwer begründbar abgelehnt.209) ___________ 204) Überblick dazu bei Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 395 ff.; Koch, § 93 Rz. 96 f.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 39; Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (263 ff.). 205) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 56; Dreher, in: Festschrift Konzen, S. 85 (104 ff.); Marsch-Barner, ZHR 173 (2009), 723 (730); Thole, ZHR 173 (2009), 504 (533 f.). Sympathien hierfür auch bei Goette, ZHR 176 (2012), 588 (603 f.). 206) Bachmann, ZIP 2017, 841 ff.; Casper, ZHR 176 (2012), 617 (637 ff.); Koch, Liber Amicorum Winter, 2011, S. 327 (338 ff.); Koch, AG 2014, 513 ff.; Spindler, AG 2013, 889 (894 f.); Wilhelmi, NZG 2017, 681 ff.; vehement hiergegen Schöne/Petersen, AG 2012, 700 (704 f.). 207) BGH, Urt. v. 27.2.1975 – II ZR 112/72, WM 1975, 467 (469) (Gen); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 395; Koch, § 93 Rz. 96; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 37; Fleischer, ZIP 2014, 1305 (1306); G. Wagner, ZHR 178 (2014), 227 (234); Koch, Liber Amicorum Winter, 2011, S. 327 (337 f.); vgl. auch Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (776). 208) Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (97); Hopt, ZIP 2013, 1793 (1804); Koch, Liber Amicorum Winter, 2011, S. 327 (338 f.); Koch, AG 2014, 513 (514); Koch, AG 2012, 429 (435 ff.); Peltzer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 861 (865); Reichert, ZHR 177 (2013), 756 (778 ff.); Spindler, AG 2013, 889 (894); im Grundsatz auch Casper, ZHR 176 (2012), 617 (636 ff.) (allerdings für Ausgestaltung als Einwendung des Vorstands). 209) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 39; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 45; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1535; Fleischer, ZIP 2014, 1305 (1307 f.); Grunewald, AG 2013, 813 (814 f.); Habersack, ZHR 177 (2013), 782 (801 ff.); Schöne/Petersen, AG 2012, 700 (701 ff.); G. Wagner, ZHR 178 (2014), 227 (276 ff.).

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§ 2 Haftung des Vorstands

99 Praxishinweis: Jedenfalls de lege lata210) können Gesellschaften vor diesem Hintergrund eine Regressreduzierung nicht rechtssicher aus den in der Literatur diskutierten Ansätzen herleiten. Sofern eine Beschränkung der Haftung von Organmitgliedern gewünscht ist, müssen die Mitglieder des jeweils für die Anspruchsverfolgung zuständigen Organs (Æ Rz. 155; § 4 Rz. 38) deshalb von den ihnen nach geltendem Recht zustehenden Instrumenten Gebrauch machen. Insbesondere sind dies ein (teilweises) Absehen von der Anspruchsverfolgung nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH (Æ Rz. 156 f. und § 3 Rz. 276 ff.) sowie der Abschluss eines Verzichts bzw. Vergleichs (Æ Rz. 117 ff.).211) III.

Verjährung

100 Die Verjährungsfrist des Anspruchs aus § 93 Abs. 2 AktG beträgt gemäß § 93 Abs. 6 AktG bei zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung börsennotierten Gesellschaften (§ 3 Abs. 2 AktG) zehn Jahre und bei nicht börsennotierten Gesellschaften fünf Jahre.212) Für Kreditinstitute gilt aufgrund der Sonderregelung in § 52a Abs. 1 KWG stets eine zehnjährige Verjährungsfrist. Die Fristberechnung richtet sich nach §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB.213) Konkurrierende Ansprüche, z. B. aus unerlaubter Handlung, unterliegen allerdings den jeweils allgemein für sie anwendbaren Verjährungsregeln.214) 101 Maßgeblich für den Fristbeginn ist gemäß § 200 Satz 1 BGB die objektive Entstehung des Anspruchs, d. h. der Zeitpunkt, in dem erstmals alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen einschließlich eines Schadens (Æ Rz. 69 ff.) vorliegen.215) Auf eine Kenntnis des Anspruchs aufseiten der Gesellschaft kommt ___________ 210) Regelungsvorschläge de lege ferenda z. B. bei Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 401; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 39; Bayer/Scholz, NZG 2014, 926 (928 ff.). 211) Im Ergebnis ebenso Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 39, 46; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1534 f.; Habersack, ZHR 177 (2013), 782 (803); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (268 ff.). 212) Die Verlängerung der Verjährungsfrist auf zehn Jahre für börsennotierte Gesellschaften gilt nach § 24 EGAktG auch für alle Ansprüche, die vor dem 15.12.2010 entstanden und noch nicht verjährt sind. 213) Koch, § 93 Rz. 175; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 200. 214) BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 (2220), Rz. 21 (GmbH); BGH, Urt. v. 17.3.1987 – VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190 (199 ff.) = ZIP 1987, 845 (848) (GmbH); OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, AG 2017, 631 (634); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 376; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 581; Koch, § 93 Rz. 176; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 45; Baums, ZHR 174 (2010), 593 (604); Harbarth/Jaspers, NZG 2011, 368 (373). 215) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, ZIP 2018, 2117 (2118) Rz. 16 ff.; BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 (2219), Rz. 16 (GmbH); LG Saarbrücken, Urt. v. 15.9.2020 – 7 HK O 6/16, BeckRS 2020, 32440, Rz. 72 ff.; OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, AG 2010, 133 (136); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 325 f.; Fleischer, AG 2014, 457 (460). Für einen Verjährungsbeginn spätestens mit dem Ausscheiden aus dem Amt Seyfarth, § 23 Rz. 70.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

es für den Verjährungsbeginn bei § 93 Abs. 6 AktG nicht an.216) Im Einzelfall kann die Gesellschaft aber bei unlauterem Verschweigen einer Pflichtverletzung durch das Vorstandsmitglied den Arglisteinwand gegen die Verjährungseinrede erheben.217) Liegen mehrere einzelne Pflichtverletzungen vor, ist der Beginn der Verjährungsfrist für jede Pflichtverletzung gesondert zu bestimmen.218) Für die Anspruchsentstehung genügt der Eintritt eines Schadens dem Grunde 102 nach, ohne dass der Schaden in dieser Phase bereits bezifferbar und tauglicher Gegenstand einer Leistungsklage sein muss; es genügt die Möglichkeit, eine die Verjährung unterbrechende Feststellungsklage zu erheben.219) Ein Schadenseintritt ist auch anzunehmen, wenn durch die Verletzungshandlung eine Verschlechterung der Vermögenslage eintritt, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits feststeht, ob der Schaden bestehen bleibt und damit endgültig wird.220) Ein drohender oder zukünftiger Schaden genügt hingegen nicht für den Verjährungsbeginn. Ist insbesondere noch offen, ob ein pflichtwidriges Verhalten zu einem Schaden führt, ist ein Anspruch noch nicht entstanden, so dass eine Verjährungsfrist nicht in Lauf gesetzt wird, selbst wenn gemäß § 256 ZPO bereits die Erhebung einer Klage möglich ist, mit der das Ziel verfolgt wird, die Verpflichtung zur Leistung künftigen Schadensersatzes festzustellen.221) Im Zusammenhang mit Verbindlichkeiten als Schaden ist die Bestimmung des 103 Verjährungsbeginns mitunter schwierig zu beurteilen. So entstehen z. B. Schadensersatzansprüche geschädigter Anleger aufgrund einer Verletzung von Aufklärungspflichten oder wegen einer Falschberatung bereits mit dem Zugang der Willenserklärung auf Abschluss des Anlagevertrags,222) die Verjährung solcher ___________ 216) Vgl. BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 (2219), Rz. 16 (GmbH); BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 190/86, BGHZ 100, 228 (231) = ZIP 1987, 776 (777); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 587; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1576. 217) BGH, Urt. v. 14.11.1994 – II ZR 160/93, ZIP 1995, 738 (746 f.) (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 372; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 599; Fleischer, AG 2014, 457 (461, 470). 218) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 74; Harbarth/Jaspers, NZG 2011, 368 (372). 219) BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 (2219), Rz. 16 (GmbH); BGH, Urt. v. 21.2.2005 – II ZR 112/03, ZIP 2005, 852; BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 190/86, BGHZ 100, 228 (231) = ZIP 1987, 776 (777); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 363; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 586. 220) BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 190/86, BGHZ 100, 228 (231) = ZIP 1987, 776 (777 f.); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 368. 221) So explizit BGH, Urt. v. 15.10.1992 – IX ZR 43/92, NJW 1993, 648 (650); BGH, Urt. v. 9.7.1992 – IX ZR 50/91, NJW 1992, 2828 (2829); BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 190/86, BGHZ 100, 228 (232) = ZIP 1987, 776 (778); Harbarth/Jaspers, NZG 2011, 368 (369); Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gemäß §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, 2005, S. 357. 222) BGH, Urt. v. 26.2.2013 – XI ZR 498/11, ZIP 2013, 615 (617), Rz. 25; BGH, Urt. v. 8.7.2010 – III ZR 249/09, BGHZ 186, 152 (159 f.) = ZIP 2010, 1548 (1550), Rz. 24; BGH, Urt. v. 8.3.2005 – XI ZR 170/04, ZIP 2005, 802 (803); Knops, AcP 205 (2005), S. 821 (842) m. w. N.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Ansprüche beginnt nach § 199 Abs. 1 BGB aber erst nach Anspruchsentstehung und Kenntnis des Gläubigers von den anspruchsbegründenden Tatsachen. Würde die Gesellschaft unmittelbar ab Entstehung der Drittverbindlichkeit einen Schaden erleiden, würde die Verjährung ihres Organhaftungsanspruchs aus § 93 Abs. 2 AktG bereits zu diesem Zeitpunkt beginnen. Dies hätte bei lange Zeit unentdeckten Pflichtverletzungen das unbillige Ergebnis zur Folge, dass es oftmals zu einer unerkannten Verjährung des Anspruchs der Gesellschaft gegen ihre Organmitglieder kommen könnte, während die Gesellschaft gegenüber möglicherweise geschädigten Anlegern aufgrund der objektiv-subjektiven Anknüpfung jener Ansprüche regelmäßig weiter zum Ersatz verpflichtet wäre.223) Derart unbillige Ergebnisse treten nicht ein, wenn für den Zeitpunkt der Entstehung eines Schadens der Gesellschaft in Fällen der vorliegenden Art nicht schon auf die Entstehung der Drittverbindlichkeit, sondern erst auf die Passivierungspflicht dieser Verbindlichkeit, frühestens aber die Pflicht zur Rückstellungsbildung, abgestellt wird (Æ Rz. 82). 104 Nach dem sog. Grundsatz der Schadenseinheit werden alle aufgrund der erstmaligen Pflichtverletzung entstandenen Schäden für Zwecke der Bestimmung des Verjährungsbeginns als einheitlicher Schaden behandelt. Die Verjährung beginnt daher für alle weiteren naheliegenden, aber noch nicht erkennbaren und nicht eingetretenen Folgeschäden, die auf das pflichtwidrige Verhalten zurückzuführen sind, bereits mit Eintritt des ersten Schadenspostens.224) Uneingeschränkt gilt dieser Grundsatz allerdings nur für Pflichtverletzungen durch positives Tun, nicht auch für solche durch Unterlassen (Æ § 4 Rz. 9).225) 105 Praxishinweis: Ein typisches Beispiel hierfür bilden die verschiedenen Schadensfolgen aus Compliance-Pflichtverletzungen, namentlich der Gesellschaft auferlegte Bußgelder, Verbindlichkeiten gegenüber Gläubigern oder sonstigen Dritten und die Kosten der Aufklärung möglicherweise pflichtwidrigen Verhaltens (Æ Rz. 76 ff.). In diesen Fällen müssen der Zeitpunkt drohender Verjährung stets sorgfältig geprüft und rechtzeitig verjährungshemmende Maßnahmen (Æ Rz. 107) ergriffen werden.

___________ 223) Vgl. Knops, AcP 205 (2005), 821 (835). Im Ergebnis ebenso Zimmermann, WM 2008, 433 (440) (zum Regress der Gesellschaft gegen Organmitglieder wegen kartellrechtlicher Bußgelder). Vgl. zum Ganzen auch die Rechtsprechung des BGH zur Steuerberaterhaftung; BGH, Urt. v. 26.5.1994 – IX ZR 57/93, NJW-RR 1994, 1210 (1211): „Liefe die Verjährungsfrist schon ab Entstehung der Steuerschuld, wären Schadensersatzansprüche gegen den Steuerberater vielfach bereits verjährt, bevor der Mandant den Beratungsfehler und dessen Folgen überhaupt erkennen kann.“ 224) BGH, Urt. v. 23.3.1987 – II ZR 190/86, BGHZ 100, 228 (232) = ZIP 1987, 776 (778); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 368; MünchKommBGB/Grothe, § 199 Rz. 9; Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 102. 225) Zur Rechtslage bei Pflichtverletzungen durch Unterlassen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 369 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 203; Harbarth/Höfer, NZG 2016, 686 (689) (zu § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Im Falle schädigenden Dauerverhaltens, insbesondere bei pflichtwidrigen Un- 106 terlassungen, wie z. B. der dauerhaften Duldung bzw. Nichtunterbindung eines pflichtwidrigen Zustands, beginnt die Verjährung nicht vor der Beendigung des rechtswidrigen Zustands, wovon i. d. R. mit Eintritt eines kausalen Schadens dem Grunde nach auszugehen ist (Æ § 4 Rz. 9).226) Hinsichtlich Hemmung und Neubeginn der Verjährung finden §§ 203 ff. 107 BGB Anwendung.227) Praktisch relevante Mittel zur Verjährungshemmung sind insbesondere die Aufnahme von Verhandlungen (§ 203 BGB), die Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) sowie Anträge bei staatlichen oder staatlich anerkannten Schlichtungsstellen (§ 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB), wie z. B. der Öffentlichen Rechtsauskunft (ÖRA) Hamburg.228) Eine Hemmung zugunsten der AG wirkt dabei nach h. M. auch zugunsten der Gläubiger, wenn diese gemäß § 93 Abs. 5 AktG gegen das Vorstandsmitglied vorgehen können (Æ Rz. 161 ff.), während Hemmungen zugunsten eines Gläubigers nur für diesen und den Insolvenzverwalter, nicht aber zugunsten der AG wirken.229) Nach früher h. M. ließ der zwingende Charakter von § 93 AktG (Æ Rz. 2) keiner- 108 lei (satzungsmäßige oder anstellungsvertragliche) Erleichterungen oder Erschwerungen der Verjährung zu.230) Die heute h. L. hält hingegen zumindest die Verlängerung der Verjährung von bereits entstandenen Schadensersatzansprüchen durch individualvertragliche Vereinbarung, z. B. im Anstellungsvertrag, für zulässig.231) Die Praxis greift aber i. d. R. ohnehin auf andere Instrumente, namentlich den Verjährungsverzicht in Form von Verjährungsverzichtserklärungen und Verjährungsverzichtsvereinbarungen, zurück.232) Um durch den ___________ 226) BGH, Urt. v. 18.9.2018 – II ZR 152/17, ZIP 2018, 2117 (2118), Rz. 17 ff.; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (578) (Die Verjährung beginnt mit der Entstehung des Anspruchs auf Schadensersatz zu laufen, wobei der Beginn nicht vor Beendigung der pflichtwidrigen Handlung liegen kann); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 591 f.; Koch, § 93 Rz. 178; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 203; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 328; Fleischer, AG 2014, 457 (462). 227) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 375; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 326; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 77b. 228) Zum Ganzen Riehm, NJW 2017, 113. 229) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 101; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 326; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 598; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 328. 230) Wachter/Link, § 93 Rz. 101; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 101; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 199; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gemäß §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, 2005, S. 369 f., 585; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 43. 231) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 374; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 585; Koch, § 93 Rz. 182; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 324; Reichert, ZIP 2016, 1189 (1196); Schnorbus/Klormann, NZG 2015, 938 (939 ff.); Wahlers/Wolff, AG 2011, 605 ff. 232) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 585; Koch, § 93 Rz. 182; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 77b. Ausführlich zum Verjährungsverzicht Schnorbus/Klormann, NZG 2015, 938 ff.; Windorfer, NJW 2015, 3329 ff.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Abschluss entsprechender Vereinbarungen nicht möglicherweise den Deckungsanspruch gegen den D&O-Versicherer zu gefährden, ist letzterer frühzeitig einzubeziehen (Æ § 26 Rz. 178).233) 109 Die bewusste Entscheidung, einen bestehenden Anspruch der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied gemäß § 93 Abs. 2 AktG verjähren zu lassen, ist an den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH zu messen und damit pflichtgemäß, wenn auch ein Absehen von der Anspruchsverfolgung pflichtgemäß ist (Æ Rz. 156 f. und § 3 Rz. 276 ff.).234) Einen zustimmenden Beschluss der Hauptversammlung nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG muss der Aufsichtsrat hierfür nicht einholen.235) IV.

Billigung durch die Hauptversammlung

110 Sofern die schadensersatzbegründende Handlung des Vorstandsmitglieds auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht, tritt jedenfalls der Gesellschaft gegenüber keine Ersatzpflicht ein (§ 93 Abs. 4 Satz 1 AktG). Davon bleibt allerdings das Recht der Gläubiger unberührt, unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 5 AktG (Æ Rz. 161 ff.) den Anspruch aus § 93 Abs. 2 AktG zu verfolgen. Die Haftungsentlastung ist Kehrseite der Pflicht des Vorstands zur Ausführung der Hauptversammlungsbeschlüsse gemäß § 83 Abs. 2 AktG (Æ § 1 Rz. 167 und 398).236) 111 Erforderlich ist ein förmlicher Beschluss der Hauptversammlung im Bereich ihrer Aufgaben (Æ § 1 Rz. 380 f.).237) Demgegenüber sind insbesondere bloße Meinungsäußerungen der Hauptversammlung oder die Billigung durch einzelne oder sogar alle Aktionäre bzw. den Alleinaktionär außerhalb der Hauptversammlung nicht ausreichend.238) Im letztgenannten Fall kann dem Vorstandsmitglied aber ausnahmsweise der Einwand unzulässiger Rechtsausübung zuste___________ 233) Koch, § 93 Rz. 182; Thomas, AG 2016, 473 (475 ff.); Werner, VersR 2016, 1352 (1354 ff.). 234) Koch, § 93 Rz. 181; Habersack, NZG 2016, 321 (325 f.); Reichert, ZIP 2016, 1189 (1196); Thomas, AG 2016, 473 (474). 235) Vgl. BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 (32) = ZIP 2014, 1728 (1730), Rz. 19; Koch, § 93 Rz. 181; Habersack, NZG 2016, 321 (325 f.). 236) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 (1926), Rz. 29; BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 326; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 470 f.; Koch, § 93 Rz. 153; Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 (725); a. A. Habersack, in: Festschrift Vetter, S. 183 (185): Nur lockerer Zusammenhang zwischen 93 Abs. 4 Satz 1 AktG und § 83 Abs. 2 AktG. 237) Koch, § 93 Rz. 154; v. Falkenhausen, NZG 2016, 601 (602). 238) OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, AG 2015, 434 (438), Rz. 47 f.; OLG Köln, Urt. v. 25.10.2012 – 18 U 37/12, AG 2013, 396; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 280; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 60; MünchHdb GesR IV/Kraft/ Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 36; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1571; v. Falkenhausen, NZG 2016, 601 (602); Wolff/Jansen, NZG 2013, 1165 ff.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

hen239) oder eine Berufung auf den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens in Betracht kommen.240) Der Beschluss muss ferner dem potentiell haftungsbegründenden Verhalten des Vorstandsmitglieds vorausgehen, während ein nachträglicher Hauptversammlungsbeschluss keine enthaftende Wirkung entfaltet.241) Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn der Vorstand sein vorheriges Handeln unter den Vorbehalt eines zustimmenden Hauptversammlungsbeschlusses gestellt hatte.242) Der Hauptversammlungsbeschluss muss gesetzmäßig sein, d. h. er darf weder 112 nichtig (§ 241 AktG) noch anfechtbar sein (§§ 243 ff. AktG).243) Daran fehlt es insbesondere bei Beschlüssen, die von der Hauptversammlung außerhalb ihrer Zuständigkeit gefasst wurden, namentlich bei allen Angelegenheiten der Geschäftsführung, die der Hauptversammlung nicht aufgrund der Holzmüllerbzw. Gelatine-Grundsätze oder einem Verlangen des Vorstands gemäß § 119 Abs. 2 AktG vorzulegen waren (Æ § 1 Rz. 167 ff.).244) Mit der Heilung (§ 242 AktG) eines nichtigen Beschlusses tritt nach h. M. zugleich dessen haftungsentlastende Wirkung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG ein.245) Wird ein fehlerhafter Beschluss nicht binnen Monatsfrist angefochten (§ 246 Abs. 1 AktG), muss der Vorstand auch einen solchen bestandskräftigen Beschluss grundsätzlich ausführen und wird daher nach h. M. grundsätzlich gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG enthaftet.246)

___________ 239) BGH, Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, ZIP 2018, 1923 (1926), Rz. 33 ff.; BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 327; Koch, § 93 Rz. 154; a. A. Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 60 m. w. N. 240) Habersack, in: Festschrift Vetter, S. 183 (185). 241) OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, AG 2008, 864 (865); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 328; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 283; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 272; Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 (722). 242) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 477; Koch, § 93 Rz. 155; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 59; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1570; weitergehend MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 32; Kleinhenz/Leyendecker, BB 2012, 861 ff. (auch bloßer Rücktrittsvorbehalt ausreichend). 243) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 33; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 329; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 267; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 33. 244) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 126; Koch, § 93 Rz. 155; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 63; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 155. 245) BGH, Urt. v. 6.10.1960 – II ZR 150/58, BGHZ 33, 175 (178 f.) = AG 1960, 329 (330); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 482; Koch, § 93 Rz. 155; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1571; a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 155. 246) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 128; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 486; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 156; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 237; Ihrig/ Schäfer, § 39 Rz. 1571; Haertlein, ZHR 168 (2004), 437 (446 f.); a. A. Heidel/Heidel, § 243 Rz. 66.

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§ 2 Haftung des Vorstands

113 Eine Enthaftung tritt allerdings auch bei gesetzmäßigen Beschlüssen im vorgenannten Sinne nicht ein, wenn das Vorstandsmitglied den Beschluss pflichtwidrig herbeigeführt hat. Das kommt bei geheilten und bestandskräftigen fehlerhaften Beschlüssen in Betracht, wenn das Vorstandsmitglied pflichtwidrig davon abgesehen hat, (rechtzeitig) Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage zu erheben (Æ § 1 Rz. 399). Das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes allein verpflichtet allerdings nicht zur Anfechtung, vielmehr muss darüber hinaus bei Ausführung des Beschlusses ein Schaden der AG absehbar oder die Ausführung des Beschlusses rechtswidrig sein.247) Von einer pflichtwidrigen Herbeiführung des Beschlusses ist ferner auszugehen, wenn das Vorstandsmitglied die Hauptversammlung falsch oder unvollständig unterrichtet oder nicht über alle Bedenken informiert hat.248) 114 Praxishinweis: Insbesondere aufgrund des Erfordernisses umfassender Information der Hauptversammlung kommt bei großen börsennotierten Gesellschaften eine Vorlage von Geschäftsführungsmaßnahmen gemäß § 119 Abs. 2 AktG mit dem vorrangigen Ziel einer Enthaftung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG praktisch kaum je in Betracht.249) Andernfalls müssten z. T. vertrauliche Informationen einer breiten (Bereichs-)Öffentlichkeit bekanntgegeben werden. Bei Gesellschaften mit überschaubarem Anlegerkreis, insbesondere bei Familiengesellschaften und im Konzern, kommen entsprechende Vorlagen mit dem Ziel einer Enthaftung hingegen häufiger vor. Daneben erlangen §§ 119 Abs. 2, 93 Abs. 4 Satz 1 AktG insbesondere bei verbleibenden Zweifeln über das Vorliegen der Voraussetzungen einer ungeschriebenen Zustimmungspflicht der Hauptversammlung kraft der von der Rechtsprechung entwickelten Holzmüller- bzw. Gelatine-Doktrin (Æ § 1 Rz. 169 ff.) praktische Bedeutung.250) 115 Eine Enthaftung nach § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG kommt einem Vorstandsmitglied ausnahmsweise auch dann nicht zugute, wenn sich nach der Beschlussfassung der Hauptversammlung und vor Befolgung dieses Beschlusses die Umstände wesentlich verändert haben, so dass die Ausführung des Beschlusses für die Gesellschaft schädlich wäre.251) In diesem Fall darf der Vorstand den bestehen___________ 247) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 335; Koch, § 93 Rz. 156; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 61; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 267; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1571; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 35; Fleischer, BB 2005, 2025 (2030); abweichend v. Falkenhausen, NZG 2016, 601 (603 f.). 248) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 333; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 288; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 488; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 154; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 35; Canaris, ZGR 1978, 207 (213); vgl. auch BGH, Urt. v. 15.1.2001 – II ZR 124/99, ZIP 2001, 416 (417 f.); a. A. DietzVellmer, NZG 2014, 721 (726 ff.). 249) Im Ergebnis ebenso Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 63. 250) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 326; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 31. 251) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 336; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 490; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 158.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

den Hauptversammlungsbeschluss nicht befolgen, aber auch nicht ignorieren, sondern er muss einen neuen Beschluss der Hauptversammlung herbeiführen.252) Eine Billigung des Vorstandshandelns durch den Aufsichtsrat genügt schließ- 116 lich niemals für eine Haftungsbefreiung, was § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG ausdrücklich klarstellt. V.

Verzicht, Vergleich und vergleichbare Rechtshandlungen

§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG stellt zum Schutz des Gesellschaftsvermögens und der 117 Minderheitsaktionäre253) strenge Anforderungen an Verzicht und Vergleich über Ersatzansprüche auf. Die Gesellschaft darf nur auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen, wenn die Hauptversammlung zustimmt, nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen, zur Niederschrift Widerspruch erhebt und seit der Entstehung des Anspruchs mindestens drei Jahre vergangen sind.254) Gläubiger der Gesellschaft werden bereits dadurch geschützt, dass von der Gesellschaft geschlossene Verzichts- oder Vergleichsvereinbarungen ihnen gegenüber nicht wirken (§ 93 Abs. 5 Satz 3 AktG; Æ Rz. 163). Einem Klagezulassungsverfahren gemäß § 148 AktG stehen solche Vereinbarungen allerdings entgegen.255) Bei Missachtung der Anforderungen gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ist hin- 118 sichtlich der Rechtsfolgen zu differenzieren. Ein vor Ablauf der Dreijahresfrist vorgenommenes Rechtsgeschäft ist grundsätzlich nichtig und muss neu vorgenommen werden; es wird auch nicht durch Zeitablauf geheilt, selbst wenn es unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Hauptversammlung steht und deren Zustimmung nach Fristablauf erfolgt.256) Nach Ablauf der Dreijahresfrist geschlossene Vereinbarungen sind hingegen bis zur Genehmigung durch die

___________ 252) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 336; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 490; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 62; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 275; Krieger/Schneider/Krieger, § 3 Rz. 41; a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 158. 253) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 (32) = ZIP 2014, 1728 (1730), Rz. 20; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 338; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 291; Koch, § 93 Rz. 158; ausführlich Fleischer, AG 2015, 133 ff. 254) Ähnliche Regelungen finden sich in §§ 50, 117 Abs. 4, 309 Abs. 3, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4 und 318 Abs. 4 AktG. Auf deren Auslegung kann daher bei der Anwendung von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zurückgegriffen werden, sofern die Vorschriften nicht im Einzelfall unterschiedliche Zwecke verfolgen. 255) Koch, § 93 Rz. 168; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 65; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248 (252 f.). 256) OLG München, Urt. v. 9.8.2018 – 23 U 1669/17, AG 2019, 221 (222); OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, AG 2017, 631 (632); Koch, § 93 Rz. 158; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 93 Rz. 171; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 286; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1575; Fleischer, AG 2015, 133 (138 f.).

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§ 2 Haftung des Vorstands

Hauptversammlung ohne Widerspruch der Minderheit lediglich schwebend unwirksam.257) 119 Praxishinweis: In der jüngeren Vergangenheit kam es wiederholt zu öffentlichkeitswirksamen Vergleichsvereinbarungen, namentlich im Zuge der Aufarbeitung größerer Korruptionsfälle.258) Dies verdeutlicht die große praktische Bedeutung von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG im Zusammenhang mit der Organhaftung. Auch stellen Verzicht und Vergleich – neben einer Nichtgeltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH (Æ Rz. 156 f. und § 3 Rz. 276 ff.) – die wohl praktisch wichtigsten Mittel zur Haftungsverschonung pflichtvergessener Organmitglieder dar. Zudem findet die Regelung über ihren Wortlaut hinaus auf alle sonstigen von der Gesellschaft vorgenommenen und auf Ausschluss oder Schmälerung des Anspruchs aus § 93 Abs. 2 AktG gerichteten Rechtshandlungen Anwendung, die in ihrer Wirkung einem Verzicht oder Vergleich wirtschaftlich gleichkommen (Æ Rz. 121 ff.).259) Vor diesem Hintergrund sollte vor jeder Disposition der Gesellschaft über bestehende, künftige oder auch nur mögliche Schadensersatzansprüche sorgfältig geprüft werden, inwieweit die Beschränkungen nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG eingreifen und einer Regelung entgegenstehen. 1.

Anwendungsbereich

120 Die Einschränkungen gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG gelten für alle Schadensersatzansprüche der Gesellschaft – nicht dagegen Ansprüche der Aktionäre selbst – gegen ihre Vorstandsmitglieder ungeachtet des Rechtsgrundes, sofern nur ein innerer Zusammenhang mit der Organstellung besteht.260) 121 Erfasst ist zunächst der Verzicht. Hierunter fallen sowohl ein Erlassvertrag i. S. v. § 397 Abs. 1 BGB als auch ein negatives Schuldanerkenntnis i. S. v. § 397 Abs. 2 BGB sowie ein Teilverzicht.261) Da in allen vorgenannten Fällen ein Vertrag und keine einseitige Erklärung vorliegt,262) bedarf es der Annahmeerklärung des Vorstandsmitglieds. Deren Zugang wird aber regelmäßig entbehrlich ___________ 257) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 351; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 533. 258) Siehe nur die Fälle Siemens/Neubürger (2015), Siemens/Ganswindt (2013); Siemens/v. Pierer u. a. (2010), MAN/Samuelsson u. a. (2014). Vgl. im Übrigen die Vergleiche Deutsche Bank/ Breuer (2016) sowie die Vergleichsvereinbarungen von BayernLB, Conergy, Infineon und Constantin Medien mit ehemaligen Vorstandsmitgliedern; vgl. auch BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 338; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248; Fleischer, AG 2015, 133. 259) Allg. M. Vgl. nur OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, AG 2017, 631 (632); Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 142; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 528; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 2920 ff.; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1572. 260) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 348; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 522; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 167; Fleischer/Fleischer, § 11 Rz. 104; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 41. 261) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 349; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 293; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 292. 262) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 293.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

sein (§ 151 Satz 1 BGB). Auch der prozessuale Verzicht gemäß § 306 ZPO und das Anerkenntnis gemäß § 307 ZPO bei negativer Feststellungsklage des Vorstandsmitglieds unterfallen der Vorschrift und bedingen damit die Erfüllung der Anforderungen gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG.263) Keine Verzichtswirkung entfaltet hingegen die Entlastung der Mitglieder des Vorstands durch die Hauptversammlung (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG). Anders als ein Verzicht zielt der Vergleich über Schadensersatzansprüche i. d. R. 122 nicht auf einen völligen Ausschluss, sondern auf eine höhenmäßige Minderung des Schadensersatzanspruchs.264) Unter § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG fallen außergerichtliche Vergleiche i. S. v. § 779 BGB ebenso wie gerichtliche, einschließlich des Prozess- und Schiedsvergleichs (§§ 794 Abs. 1 Nr. 1, 1053 ZPO) sowie des Anwaltsvergleichs (§§ 796a ff. ZPO).265) Praxishinweis: Der Inhalt der Vergleichsvereinbarung hängt naturgemäß von den 123 konkreten Umständen des Einzelfalls ab.266) Üblicherweise enthalten entsprechende Vereinbarungen einleitend eine ausführliche Darstellung des Sach- und Streitstands einschließlich einer konkreten Beschreibung des bzw. der streitgegenständlichen Ansprüche. Sodann folgen Regelungen zu Art und Höhe der Leistung des Vorstandsmitglieds (ggf. einschließlich einer Abtretung von Freistellungsansprüchen gegen die D&O-Versicherung;267) Æ § 26 Rz. 183), zur Höhe und den Modalitäten des (Teil)-Verzichts der Gesellschaft (ggf. einschließlich etwaiger Bedingungen, z. B. im Fall von Verstößen gegen Mitwirkungs- und Wohlverhaltenspflichten), ggf. Regelungen zu Freistellungen des Vorstandsmitglieds von Regressansprüchen Dritter in voller oder bestimmter Höhe und Regelungen zum Umgang mit (Gegen-)Ansprüchen des Vorstandsmitglieds und dessen Ansprüchen gegen Dritte sowie Bestimmungen zum Wirksamwerden des Vergleichs. Besteht eine D&O-Versicherung des Vorstandsmitglieds (Æ § 26), ist stets auf die möglichst frühzeitige Ansprache und Einbindung des D&O-Versicherers in Verhandlungen über einen möglichen Vergleich zu achten. Den Anforderungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG unterliegen ferner die in der 124 Praxis verbreiteten Ausgleichsklauseln in Aufhebungs- und Abfindungsver___________ 263) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 173. 264) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 293. 265) OLG München, Urt. v. 9.8.2018 – 23 U 1669/17, AG 2019, 221 (222); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 529; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 173; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1572; einschränkend zum Prozessvergleich Zimmermann, in: Festschrift Duden, S. 773 (784 f.). 266) Vgl. dazu Happ/Groß/Möhrle/Vetter/Happ, 8.13. Bei der Vertragsgestaltung können zudem die öffentlich verfügbaren Beispiele von Vergleichsvereinbarungen großer börsennotierter Unternehmen (Æ Nachweise in Fn. 253) wertvolle Anhaltspunkte bieten. 267) BGH, Urt. v. 13.4.2016 – IV ZR 51/14, AG 2016, 395 ff.; BGH, Urt. v. 13.4.2016 – IV ZR 304/13, ZIP 2016, 976. Zur Anwendbarkeit von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG auf die Abtretung dieses Deckungsanspruchs vgl. Unmuth AG 2020, 890 ff.

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§ 2 Haftung des Vorstands

einbarungen.268) Durch diese wird oftmals vereinbart, dass sämtliche aus dem Anstellungsverhältnis und seiner Beendigung abzuleitenden wechselseitigen Ansprüche der Vertragsparteien, seien sie bekannt oder nicht bekannt, gleich aus welchem Rechtsgrund, mit Abschluss der Vereinbarung geregelt und abgegolten sein sollen.269) Eine etwaige Nichtigkeit der Klausel bei Verstoß gegen § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (Æ Rz. 117) hat gemäß § 139 BGB die Nichtigkeit des gesamten Aufhebungs- bzw. Abfindungsvertrags zur Folge, wenn nicht eine gültige salvatorische Klausel vereinbart wurde.270) 125 Zu den weiteren gleichgestellten Rechtshandlungen i. S. v. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG gehören insbesondere eine Stundungsvereinbarung und ein pactum de non petendo als wirtschaftlicher Teilverzicht,271) ferner die Novation272) und der Verzicht auf eine Aufrechnungsmöglichkeit.273) Auch die Freistellung des Vorstands von Ansprüchen Dritter und Geldbußen fällt hierunter, sofern diese ihrerseits auf einem pflichtwidrigen Verhalten des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft beruhen (Æ § 1 Rz. 500 f.).274) Freistellungen durch Dritte (z. B. der Muttergesellschaft oder des Mehrheitsaktionärs; Æ Rz. 176 und § 4 Rz. 33) sind demgegenüber nicht an § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu messen.275) 126 Sonstige Verfügungen über den Schadensersatzanspruch, insbesondere eine Abtretung oder Verpfändung des Anspruchs sowie die Aufrechnung mit ihm, werden von der Vorschrift indessen grundsätzlich nicht erfasst, es sei denn, die Verfügung dient nachweislich einer Umgehung des Vergleichs- bzw. Verzichts___________ 268) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 349; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 142; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 293; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1572; Weller/Rahlmeyer, GWR 2014, 167 (168 ff.). 269) Siehe dazu Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht/HoffmannBecking/Austmann unter X. 14; Weller/Rahlmeyer, GWR 2014, 167. 270) Koch, § 93 Rz. 158; Bauer/Krets, DB 2003, 811. 271) OLG München, Urt. v. 30.3.2017 – 23 U 3159/16, AG 2017, 631 (632); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 350; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 528; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 93 Rz. 171. 272) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 294; Koch, § 93 Rz. 162. 273) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 294; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 528; a. A. LG Hamburg, Urt. v. 12.6.2006 – 415 O 14/06, EWiR 2008, 353 mit abl. Anm. Verhoeven. 274) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 (31) = ZIP 2014, 1728 (1730), Rz. 17; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 350; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 294; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 528; Koch, § 93 Rz. 164; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; Habersack, NZG 2015, 1297 (1299); Rahlmeyer/v. Eiff, CCZ 2015, 92 (93 f.); Wettich, AG 2015, 681 (683 f.); a. A. noch Krieger, in: Festschrift Bezzenberger, S. 211 (217 ff.); Hasselbach/Schneider, AG 2008, 770 (776 f.). 275) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 307; Koch, § 93 Rz. 165; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 64; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 295; Fleischer, ZIP 2014, 1305 (1309); Bauer/Krets, DB 2003, 811 (812); Hasselbach, DB 2010, 2037 (2040); Schockenhoff, ZHR 180 (2016), 197 (222 ff.); Weller/Rahlmeyer, GWR 2014, 167 (170).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

verbots.276) Hiervon wird i. d. R. bei unentgeltlicher Abtretung des Anspruchs an Dritte und in damit vergleichbaren Fällen konzerninterner Abtretungen ausgegangen, bei denen der Zessionar auf den Anspruch verzichten soll.277) In diesem Fall kann sich das verfügende Organmitglied zugleich selbst pflichtwidrig verhalten (Æ § 1 Rz. 268) und schadensersatzpflichtig machen.278) Sofern der Gesellschaft für die Hingabe des Anspruchs allerdings ein vollwertiger Ersatz zufließt, ist grundsätzlich nicht von einer Umgehung auszugehen.279) Nicht von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG erfasst wird schließlich ein Prozessfinanzierungsvertrag.280) 2.

Formelle Voraussetzungen

a)

Zuständigkeit

Bei dem Abschluss von Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen wird die Ge- 127 sellschaft nach den allgemeinen Regeln vertreten. Daher vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft bei Vereinbarungen mit Vorstandsmitgliedern (§ 112 Satz 1 AktG; Æ § 3 Rz. 235), während der Vorstand die Gesellschaft bei Verzicht und Vergleich über Ansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder vertritt (Æ § 1 Rz. 180 ff.). Das jeweils zuständige Organ hat die weiteren Voraussetzungen nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu beachten. Liegen diese nicht vor, fehlt es kraft Gesetzes an der erforderlichen Vertretungsmacht (Æ § 1 Rz. 200). b)

Zustimmung der Hauptversammlung

Verzicht, Vergleich und die ihnen gleichstehenden Rechtshandlungen (Æ 120 ff.) 128 erfordern für ihre Wirksamkeit stets die Zustimmung der Hauptversammlung der Gesellschaft. Das soll eine wechselseitige Haftungsverschonung von Vorstand und Aufsichtsrat ausschließen.281) Erforderlich, aber auch hinreichend, ist ein formeller Hauptversammlungsbeschluss mit einfacher Stimmenmehrheit, an dem das betroffene Vorstandsmitglied gemäß § 136 Abs. 1 AktG aufgrund ___________ 276) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 530; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; Koch, § 93 Rz. 163; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 297; Fleischer, WM 2005, 909 (919); Habersack, in: Festschrift Hommelhoff, S. 303 (315 ff.); Hasselbach, DB 2010, 2037 (2040). 277) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 530; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 305; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 172 m. w. N.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 297 ff. m. w. N.; Weller/Rahlmeyer, GWR 2014, 167 (169 f.). 278) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1572. 279) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 530; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 172; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 297. 280) Koch, § 93 Rz. 163; Rahlmeyer/Fassbach, GWR 2015, 331 (335). 281) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, BGHZ 202, 26 (32 f.) = ZIP 2014, 1728 (1730), Rz. 20; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 506; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 161.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Stimmverbots nicht mitwirken darf.282) Einer sachlichen Rechtfertigung bedarf der Beschluss der Hauptversammlung nicht, weshalb er auch keiner gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegt;283) die Hauptversammlung ist also in ihrer Entscheidung darüber frei, ob sie die Zustimmung zu einem ihr vorgelegten Vergleich erteilen oder versagen möchte. 129 Praxishinweis: Im Konzern bedarf es keines flankierenden Beschlusses der Hauptversammlung der Muttergesellschaft.284) Bei der Ausübung des Stimmrechts in der Hauptversammlung der Gesellschaft unterliegen Organmitglieder der Muttergesellschaft aber ihrerseits der Sorgfaltspflicht, weshalb sie sorgfältig abwägen müssen, ob die Erteilung der Zustimmung im Unternehmensinteresse der Muttergesellschaft liegt und mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar ist (Æ § 1 Rz. 279 f.).285) 130 Vorstand und Aufsichtsrat müssen nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG einen Beschlussvorschlag an die Hauptversammlung unterbreiten, in dem der Verzicht bzw. der Abschluss eines bestimmten Vergleichs vorgeschlagen wird. Der abzuschließende Vertrag ist dabei mindestens seinem wesentlichen Inhalt nach bekanntzumachen (§ 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 AktG).286) Ein umfassender Bericht über die (möglichen) Ansprüche, die Gegenstand des Verzichts bzw. Vergleichs sind, sowie über die Hintergründe und die Motivation für den Beschlussvorschlag wird zwar nicht für erforderlich, jedoch für ratsam gehalten.287) In der Praxis sind entsprechende Berichte die Regel. Oftmals wird darüber hinaus sogar der gesamte Wortlaut der Vereinbarung in der Einberufungsunterlage zur Hauptversammlung veröffentlicht, um die Risiken einer Beschlussanfechtung oder Ablehnung der Vereinbarung durch die Hauptversammlung zu minimieren. 131 Praxishinweis: Aufgrund der Bekanntmachungspflicht gemäß § 124 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 AktG wird der Inhalt von Vergleichsvereinbarungen bei börsennotierten Gesellschaften i. d. R. öffentlich transparent. Bei Gesellschaften mit überschaubarem Anlegerkreis ist dies nicht zwingend der Fall. Sofern eine Hauptversammlung in Form der Vollversammlung vorliegt, ist § 124 AktG nach § 121 Abs. 6 AktG unanwendbar.288) Der Wortlaut der Vereinbarung bzw. ein Bericht hierüber sind ___________ 282) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 340; Koch, § 93 Rz. 167; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 283; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 40. 283) LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.12.2016 – 3-5 O 154/16, juris, Rz. 116; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 507; Koch, § 93 Rz. 167; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248 (252); Habersack, in: Festschrift Baums, S. 531 (542 f.); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (269). 284) Koch, § 93 Rz. 166; Habersack, in: Festschrift Baums, S. 531 (535 ff.). 285) Vgl. dazu Fischbach/Lüneborg, NZG 2015, 1142 (1147 f.). 286) Hölters/Weber/Drinhausen, § 124 Rz. 12; Koch, § 124 Rz. 13; Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (269). 287) Koch, § 93 Rz. 167; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248 (250); Fleischer, AG 2015, 133 (136); Werner, CCZ 2011, 201 (203). 288) Hölters/Weber/Drinhausen, § 121 Rz. 48; Grigoleit/Herrler, § 121 Rz. 45; Koch, § 121 Rz. 22; MünchKommAktG/Kubis, § 121 Rz. 99; BeckOGK-AktG/Rieckers, § 121 Rz. 106.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

in einem solchen Fall auch nicht zum Handelsregister einzureichen, weil nach § 130 Abs. 5 AktG lediglich eine Abschrift der Niederschrift über die Hauptversammlung und ihrer Anlagen einreichungspflichtig sind, eine Vergleichsvereinbarung bzw. ein Bericht hierüber aber keine solchen Pflichtanlagen darstellen.289) c)

Kein Widerspruch einer qualifizierten Aktionärsminderheit

Es darf ferner nicht eine Minderheit der Aktionäre, deren Anteile zusammen 132 den zehnten Teil des Grundkapitals – nicht des in der Hauptversammlung vertretenen Kapitals – erreichen, Widerspruch zur Niederschrift eingelegt haben. Der Widerspruch ist zur Niederschrift des den Beschluss beurkundenden Notars (§ 130 Abs. 1 Satz 1 AktG) abzugeben; die bloße Stimmabgabe gegen den Verzicht oder Vergleich genügt nicht.290) d)

Ablauf der Dreijahresfrist seit Anspruchsentstehung

Zuletzt darf sich die Gesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung des Ersatz- 133 anspruchs hierüber vergleichen bzw. auf den Anspruch verzichten. Die Dreijahresfrist soll verhindern, dass die Gesellschaft vorschnell, d. h. vor Bekanntwerden des gesamten Schadensausmaßes, über Organhaftungsansprüche disponiert.291) Für den Beginn der Dreijahresfrist ist die objektive Entstehung des Anspruchs mit Möglichkeit klageweiser Durchsetzung maßgeblich (Æ Rz. 101 ff.292) Die Fristberechnung erfolgt anhand der allgemeinen Regeln der §§ 187, 188 BGB.293) Die Frist endet damit nach Ablauf von drei Jahren ab dem Tag des Verjährungsbeginns. Die Dreijahresfrist wird verbreitet als rechtspolitisch problematisch kritisiert, 134 weil sie einer zügigen und effektiven Generalbereinigung bei Ausscheiden von Vorstandsmitgliedern entgegensteht.294) Weil der Abschluss von Verzichts- und ___________ 289) Vgl. zu den Pflichtanlagen Koch, § 130 Rz. 25; KK-AktG/Noack/Zetzsche, § 130 Rz. 281. 290) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 343; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 516; Ihrig/ Schäfer, § 39 Rz. 1574. 291) Begründung Regierungsentwurf des AktG 1965 bei Kropff, AktG, 1965, S. 123; Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 135; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 518; Koch, § 93 Rz. 158; Fleischer, AG 2015, 133 (138). 292) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 297; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 520; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 65; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1573; Fleischer, AG 2015, 133 (138); Harbarth/Höfer, NZG 2016, 686 (688). 293) Wachter/Link, § 93 Rz. 88; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 344; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 282; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 39; Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (268). Eine entsprechende Anwendung der §§ 203 ff. BGB zur Hemmung der Verjährung wird nur vereinzelt vertreten; vgl. KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 165. 294) Vgl. nur BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 347; Koch, § 93 Rz. 165; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 65; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 164; Casper, ZHR 176 (2012), 617 (645); Fleischer, WM 2005, 909 (918 f.); Fleischer, AG 2015, 133 (140).

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§ 2 Haftung des Vorstands

Vergleichsvereinbarungen vor Ablauf der Dreijahresfrist nichtig ist (Æ Rz. 118), bleibt der Praxis allein die Möglichkeit, bereits vor Ablauf der Frist Vergleichsgespräche aufzunehmen und sich ggf. – jedoch nur in unverbindlicher Form – auf den Inhalt einer später abzuschließenden Vereinbarung zu verständigen.295) 135 Die dreijährige Sperrfrist296) findet gemäß § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG ausnahmsweise keine Anwendung, wenn der Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht, oder wenn die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt ist. Die Regelung zum Abwendungsvergleich in § 93 Abs. 4 Satz 4 Alt. 1 AktG bezweckt die wirtschaftliche Besserstellung der Gesellschaft. Weil ein weiteres Abwarten bei absehbarer Insolvenz des Schuldners die Gesellschaft auf die Insolvenzquote verweisen würde, läuft der eigentliche Zweck der Dreijahresfrist (Æ Rz. 133) hier ins Leere.297) Ausnahmsweise können deshalb auch Regelungen über alle künftigen, noch nicht entstandenen Ansprüche getroffen werden. 136 § 93 Abs. 4 Satz 4 Alt. 1 AktG spricht nur von dem Abschluss eines Vergleichs, so dass der vollständige Verzicht auf Ersatzansprüche von der Regelung nicht erfasst ist.298) Allerdings sollte es nach Sinn und Zweck der Regelung zulässig sein, wenn die Gesellschaft im Rahmen eines einheitlichen Vergleichs vollständig auf ihre Ersatzansprüche verzichtet, damit sie anderweitige Forderungen gegen das Vorstandsmitglied (z. B. auf Darlehensrückzahlung o. ä.) weitgehend realisieren kann, sofern dadurch eine Sanierung des Ersatzpflichtigen insgesamt ermöglicht und zugleich das Vermögen der Gesellschaft gegenüber der Durchführung eines Insolvenzverfahrens bessergestellt wird. 137 Der Begriff der Zahlungsunfähigkeit bestimmt sich grundsätzlich nach § 17 InsO.299) Davon abweichend genügt es aber für § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG, wenn die Zahlungsunfähigkeit erst durch die in Rede stehende Schadensersatzforderung herbeigeführt würde.300) Selbst wenn die Schadensersatzverbindlichkeit ___________ 295) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 65. 296) Die Zustimmung der Hauptversammlung und der fehlende Widerspruch einer qualifizierten Minderheit bleiben hingegen erforderlich; vgl. Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 304; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 288. Erst im Insolvenzverfahren sind diese Voraussetzungen – jedoch nur für den Insolvenzverwalter – obsolet; vgl. Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 64; Ihrig/Schäfer, § 39 Rz. 1573. 297) Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (255 f.). Zum nahezu wortgleichen § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG auch KK-AktG/Koppensteiner, § 302 Rz. 72; Bärenz/Fragel, in: Festschrift Görg, S. 13 (20). Vgl. auch Cahn, Vergleichsverbote im Gesellschaftsrecht, 1996, S. 118. 298) Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (256). 299) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 540; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 288; Fleischer, AG 2015, 133 (140). 300) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 540 (dort Fn. 1951); Fleischer, AG 2015, 133 (140); Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (257); Zimmermann, in: Festschrift Duden, S. 773 (787). Zum nahezu wortgleichen § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG ebenso MünchKommAktG/Altmeppen, § 302 Rz. 97 (dort Fn. 179); Hirte, Liber Amicorum Happ, 2006, S. 65 (72).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

eines Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft die einzige oder jedenfalls bedeutendste Verbindlichkeit darstellt und diese Verbindlichkeit die Zahlungsfähigkeit des Organmitglieds bei weitem übersteigt, kommt also der Abschluss eines Abwendungsvergleichs in Betracht. Ein Vergleich des Ersatzpflichtigen mit seinen Gläubigern kann auch durch 138 außergerichtlichen Vergleich erfolgen.301) Nach h. M. genügt bereits ein Vergleich mit nur einem Gläubiger, im Fall des § 93 AktG also der Gesellschaft.302) Allerdings kann der Umfang der Gläubigerbeteiligung dafür von Bedeutung sein, ob die Insolvenzabwendung erwartet werden kann oder nicht (Æ Rz. 139).303) Der Vergleich wird zur Abwendung der Insolvenz geschlossen, wenn eine 139 entsprechende ernsthafte Absicht der Vergleichsparteien besteht; auf eine im Ergebnis tatsächliche dauerhafte Abwendung des Insolvenzverfahrens kommt es nicht an. Hinzukommen muss aber jedenfalls, dass der Vergleich im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit einer gewissen Nachhaltigkeit objektiv geeignet erscheint und nicht nur zur bloßen Verringerung der Schulden des Vorstandsmitglieds dient.304) Der Vergleich muss erwarten lassen, dass aufgrund einer Prognose zur künftigen Vermögensentwicklung mindestens für die Dauer von einem Jahr nicht mit dem Eintritt (drohender) Zahlungsunfähigkeit zu rechnen ist.305) Sofern diese Voraussetzung erfüllt wird, ändert auch eine gleichwohl eintretende Insolvenz des Ersatzpflichtigen nichts an der grundsätzlichen Wirksamkeit des Vergleichs im Zusammenhang mit § 93 Abs. 4 Satz 4 AktG.306) 3.

Materielle Voraussetzungen

Das jeweils zuständige Organ (Æ Rz. 127) trifft eine Pflicht zur sorgfältigen 140 Vorbereitung des Haftungsvergleichs.307) In diesem Rahmen ist der Aufsichtsrat nicht an die Grundsätze gebunden, die der BGH in der ARAG/Garmenbeck___________ 301) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 345; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 540; Koch, § 93 Rz. 169. 302) Vgl. nur KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 176; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 288; Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (255 f.); a. A. Zimmermann, in: Festschrift Duden, S. 773 (787). 303) Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (256). 304) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 540; Lange, § 19 Rz. 64; Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (257). Zum nahezu wortgleichen § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG auch: Bärenz/Fragel, in: Festschrift Görg, S. 13 (23). Vgl. auch BGH, Urt. v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, BGHZ 165, 106 (112 f.) = ZIP 2006, 279 (281) (zum Sanierungsprivileg gemäß § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG a. F. – „zum Zweck der Überwindung der Krise“). 305) Lange, § 19 Rz. 64; Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (257). Abweichend zum nahezu wortgleichen § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG (3 Monate): Bärenz/Fragel, in: Festschrift Görg, S. 13 (24). 306) Hirte/Stoll, ZIP 2010, 253 (257). Davon unberührt bleibt allerdings das Risiko einer insolvenzrechtlichen Anfechtung des Vergleichs. 307) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 340; Fleischer, ZIP 2014, 1305 (1308).

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§ 2 Haftung des Vorstands

Rechtsprechung zur Anspruchsverfolgung aufgestellt hat (Æ Rz. 156 f. und § 3 Rz. 276 ff.),308) sondern es gilt der liberalere allgemeine Sorgfaltsmaßstab gemäß § 93 Abs. 1 AktG (Æ § 1 Rz. 226 ff.) einschließlich der Möglichkeit einer Privilegierung des Aufsichtsrats durch die Business Judgement Rule (Æ Rz. 25 ff.).309) Dabei ist der Sorgfaltsmaßstab dadurch modifiziert, dass sich das vorbereitende Organ an den weiten Ermessensspielräumen der Hauptversammlung orientieren darf.310) 141 In jedem Fall sind die allgemeinen Anforderungen an eine angemessene Informationsverschaffung gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (Æ Rz. 36 ff.) zu beachten, weshalb jedenfalls dann eine zuverlässige Information über die Vermögensverhältnisse des betroffenen Organmitglieds erforderlich ist, wenn der Vergleich (auch) mit der begrenzten Leistungsfähigkeit begründet wird.311) 142 Praxishinweis: Im Interesse einer einvernehmlichen Beilegung erklären sich Vorstandsmitglieder oftmals bereit, der Gesellschaft eine umfassende Vermögensaufstellung zur Verfügung zu stellen und die Richtigkeit und Vollständigkeit des Verzeichnisses zu versichern. Sofern aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen keine Zweifel an der Richtigkeit des Vermögensverzeichnisses und einer entsprechenden Erklärung bestehen, darf der Aufsichtsrat darauf vertrauen. Allerdings besteht keine Pflicht des Vorstandsmitglieds zur Erteilung entsprechender Auskünfte, so dass die Gesellschaft ggf. darauf verwiesen ist, eine Schätzung des maximal pfändbaren Privatvermögens vorzunehmen und dabei auch mögliche künftige Vermögenszuwächse des betroffenen Vorstandsmitglieds zu berücksichtigen.312) 143 Bei der Vergleichsvorbereitung hat im Übrigen eine detaillierte Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile des konkreten Vergleichs für die Gesellschaft mit den Vor- und Nachteilen bei streitiger Rechtsdurchsetzung im Rahmen der Prüfung, ob der Vergleich dem Wohl der Gesellschaft dient (Æ Rz. 44 ff.), große praktische Bedeutung.313) Hierfür genügen keine formelhaften Wendungen, sondern die abwägungserheblichen Belange sind sorgfältig zu ermitteln, genau zu spezifizieren und nach besten Kräften zu gewichten.314) Im Übrigen können Gesichtspunkte wie die Erfolgsaussichten einer prozessualen Anspruchsverfol___________ 308) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 = ZIP 1997, 883 – ARAG/ Garmenbeck. 309) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 340; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 503; Koch, § 93 Rz. 160; Bayer/Scholz, ZIP 2015, 149 (151 f.); Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248 (250 ff.); Fleischer, AG 2015, 133 (135 f.); Habersack, in: Festschrift Baums, S. 531 (539 f.); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (269 ff.); a. A. Hasselbach, DB 2010, 2037 (2040 ff.). 310) Bayer/Scholz, ZIP 2015, 149 (152); Fleischer, AG 2015, 133 (136); Seibt/Cziupka, AG 2015, 93 (107); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (285). 311) Koch, § 93 Rz. 160; Fleischer, AG 2015, 133 (136). 312) Koch, § 93 Rz. 160; Hasselbach, NZG 2016, 890 (894 ff.). 313) Fleischer, AG 2015, 133 (136); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (282). 314) Fleischer, AG 2015, 133 (136).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

gung, die Belastung der Gesellschaft ohne einen Vergleich, Reputationsrisiken, die Vermeidung einer Existenzvernichtung des Ersatzpflichtigen oder der mutmaßliche Wille der Hauptversammlung eine Rolle spielen.315) Stimmt die Hauptversammlung dem Vergleichsvorschlag zu, gelangt jedenfalls 144 der Vorstand im Fall eines Vergleichs über Ersatzansprüche mit Aufsichtsratsmitgliedern in den Genuss der Haftungsprivilegierung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG (Æ Rz. 110 ff.). Auf den Aufsichtsrat findet diese Bestimmung zwar nur in deutlich eingeschränkterem Umfang Anwendung (Æ § 4 Rz. 28 ff.). Allerdings erscheint eine Ungleichbehandlung von Vorstand und Aufsichtsrat im vorliegenden Zusammenhang nicht überzeugend, weshalb die besseren Gründe im Fall der Hauptversammlungszustimmung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG für die Anwendbarkeit von §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 1 AktG auf den Aufsichtsrat sprechen.316) VI.

Gesamtschuld und Innenausgleich

Gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG haften Vorstandsmitglieder für schuldhafte 145 Pflichtverletzungen als Gesamtschuldner i. S. d. §§ 421 ff. BGB. Jedes schadensersatzpflichtige Vorstandsmitglied ist daher unabhängig vom eigenen Verursachungsbeitrag und möglichen sonstigen Schädigern gegenüber der AG verpflichtet, den gesamten Schaden zu ersetzen, kann jedoch nach den allgemeinen Regeln des Gesamtschuldnerausgleichs Regress bei Mitschädigern nehmen. 1.

Gesamtschuldnerische Haftung

Verursachen zwei oder mehrere Vorstandsmitglieder durch schuldhafte Pflicht- 146 verletzungen einen Schaden der AG, haften sie als Gesamtschuldner (§§ 421 ff. BGB), also jeder für den gesamten Schaden in voller Höhe. Im Verhältnis zwischen Vorstandsmitglied und Gesellschaft kommt es auf die Art und das Gewicht der Pflichtverletzungen nicht an, solange nur eine individuell vorwerfbare Pflichtverletzung vorliegt (Æ Rz. 15 ff.).317) Daher ist ein Vorstandsmitglied, das seine ressortübergreifende Überwachungspflicht (Æ § 1 Rz. 102 ff.) verletzt ebenso Gesamtschuldner wie das Vorstandsmitglied, das in seinem eigenen Geschäftsbereich pflichtwidrig handelt.318) Für die Gesamtschuld ist keine Identität der zugrundeliegenden Haftungsan- 147 sprüche erforderlich, sodass neben den Vorstandsmitgliedern auch Aufsichts___________ 315) Ausführlich Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 259 (283 ff.). 316) Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248 (252); Fischbach, ZIP 2013, 1153 (1155); Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (288 f.); Lutter/Krieger/Verse, § 13 Rz. 1022. 317) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 30; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 462; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 30; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold/Arnold, § 23 Rz. 55. 318) MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 26.

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§ 2 Haftung des Vorstands

ratsmitglieder und gesellschaftsexterne Dritte als Gesamtschuldner in Betracht kommen.319) Die Haftung eines Aufsichtsratsmitglieds kann sich aus den §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ergeben und droht praktisch vor allem, wenn die Pflicht zur Überwachung des Vorstands schuldhaft verletzt wird (Æ § 3 Rz. 97 ff.). Dritte sind Gesamtschuldner, wenn sie der AG bezüglich des gleichen Schadens haften, z. B. auf vertraglicher oder deliktischer Grundlage. Der Kreis potentiell ersatzpflichtiger Dritter ist abstrakt kaum eingrenzbar und umfasst z. B. die Geschäftspartner oder Abschlussprüfer einer Gesellschaft, aber grundsätzlich auch ihre Arbeitnehmer einschließlich der Führungskräfte unterhalb der Vorstandsebene.320) Sollte die Haftung eines Dritten gegenüber der AG aufgrund einer gesetzlichen Regelung oder vertraglichen Vereinbarung ausgeschlossen sein, kommt zugunsten der haftenden Vorstandsmitglieder eine Haftungsreduzierung nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld in Betracht.321) 2.

Innenausgleich

148 Inwieweit ein Gesamtschuldner bei anderen Gesamtschuldnern Regress für eigene Ersatzzahlungen an die AG nehmen kann, der jeder Gesamtschuldner Ersatz in voller Höhe schuldet (§ 421 Satz 1 BGB), bestimmt sich nach den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln. Grundsätzlich sind die Gesamtschuldner untereinander zu gleichen Anteilen verpflichtet (§ 426 Abs. 1 Satz 1 BGB). In entsprechender Anwendung von § 254 BGB kommen abweichende Anteilsquoten aufgrund unterschiedlicher Verursachungsbeiträge in Betracht, wobei die konkreten Umstände des Einzelfalls entscheiden und die individuelle Verantwortlichkeit jedes Gesamtschuldners zu bewerten ist.322) Von besonderer Bedeutung sind insoweit Art und Schwere der jeweiligen Pflichtverletzung sowie der Grad des jeweiligen Verschuldens.323) 149 Bei der Abwägung der Verantwortungsbeiträge mehrerer anspruchsverpflichteter Vorstandsmitglieder können die allgemeine Organisationsstruktur einer AG und die Realstruktur der konkreten Gesellschaft berücksichtigt werden. Deshalb trägt ein Vorstandsmitglied, das für Schäden in seinem Ressort (Æ § 1 Rz. 80) unmittelbar verantwortlich ist, im Grundsatz einen größeren Verursachungsbeitrag als ein Vorstandsmitglied, das nur gegen seine Kontroll- und Überwachungspflichten für fremde Ressorts verstößt. Das unmittelbar verant___________ 319) MünchKommBGB/Heinemeyer, § 421 Rz. 6; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 51. 320) Koch, § 93 Rz. 117; Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619 (621 ff.). 321) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 51; vgl. allgemein zur gestörten Gesamtschuld MünchKommBGB/Heinemeyer, § 426 Rz. 58 ff. m. w. N. 322) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 31; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 324; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 100; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 465. 323) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 30; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 163; Fleischer/Fleischer, § 11 Rz. 82; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 27; Freund, GmbHR 2013, 785.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

wortliche Vorstandsmitglied muss daher im Innenverhältnis der Gesamtschuldner einen höheren Schadensanteil tragen. Aufgrund des Prinzips der Gesamtleitung der Gesellschaft trifft den Vorstandsvorsitzenden (Æ § 1 Rz. 42) – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – grundsätzlich keine erweiterte Ausgleichspflicht. Aus strukturellen Gründen kann der Vorstandsvorsitzende jedoch insbesondere dann einer weitergehenden Ausgleichspflicht als die sonstigen Vorstandsmitglieder ausgesetzt sein, wenn er aufgrund seiner herausgehobenen Stellung faktisch ausgeprägtere Einsichts- und Informationsrechte bezüglich der Angelegenheiten der Gesellschaft hat.324) Ähnliches gilt für Aufsichtsratsmitglieder, wenn diese zwar ihre Überwa- 150 chungspflicht verletzen, der resultierende Schaden jedoch unmittelbar aus der Verantwortungssphäre des Vorstands stammt. Entgegen einiger Stimmen im aktienrechtlichen Schrifttum ist ein unmittelbar verantwortliches Vorstandsmitglied gegenüber Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, die nur ihre Überwachungspflichten verletzt haben, im Innenverhältnis zwar zu größeren Ausgleichsanteilen, nicht aber generell zum vollen Ausgleich verpflichtet.325) Die Wertung von § 840 Abs. 2 BGB kann für die AG nicht herangezogen werden, da der wechselseitigen Kontrolle und Überwachung für die Organisation einer AG zentrale Bedeutung zukommt.326) Auch wenn daher generell eine vollständige Ausgleichspflicht des unmittelbar Verantwortlichen abzulehnen ist, kommt eine Haftungsfreistellung im Einzelfall in Betracht, wenn einzelne Überwachungspflichtverletzungen neben anderen Pflichtverletzungen kein wesentliches Gewicht haben. Ein etwaiger Regressanspruch hat gegenüber der Inanspruchnahme durch die 151 Gesellschaft keine anspruchsbeschränkende Wirkung. Bereits vor einer Ersatzleistung an die Gesellschaft kann ein in Anspruch genommener Gesamtschuldner allerdings von den übrigen Gesamtschuldnern Mitwirkung und Freistellung verlangen.327) Da im Regressprozess zwischen mehreren Gesamtschuldnern ebenfalls eine besondere Sachnähe des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds zu seinem eigenen, haftungsbegründenden Verursachungsbeitrag besteht, dürfte die Wertung von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG übertragbar und die Beweislastumkehr hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs aus §§ 93 ___________ 324) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 30; Seyfarth, § 23 Rz. 60; Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (670 ff.); a. A. Fleischer/Fleischer, § 8 Rz. 23. 325) Im Ergebnis ebenso; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 50; a. A. (alleinige Belastung des unmittelbaren Verursachers): Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 31; BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 324; Fleischer/Fleischer, § 11 Rz. 82; vermittelnd (grundsätzlich alleinige Belastung des unmittelbaren Verursachers, in Ausnahmefällen nur starke Belastung): Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 465, Freund, GmbHR 2013, 785 (788 f.). 326) Vgl. auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 465. 327) BGH, Urt. v. 18.6.2009 – VII ZR 167/08, BGHZ 181, 310 (313) = ZIP 2009, 1821 (1822), Rz. 12; BGH, Urt. v. 15.10.2007 – II ZR 136/06, ZIP 2007, 2313; Marsch-Barner/ Schäfer/Arnold/Arnold, § 23 Rz. 56.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Abs. 2 AktG, 426 Abs. 2 BGB im Regressprozess zulasten des beklagten Vorstandsmitglieds anwendbar sein (Æ Rz. 211).328) 152 Der Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB unterliegt der dreijährigen Regelverjährung (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB).329) Objektiv ist auf die Begründung der Gesamtschuld abzustellen, nicht erst auf die spätere Befriedigung der Gesellschaft.330) Demzufolge kann der Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB früh verjähren. Entsprechend sollten in Organhaftungskonstellationen immer Verjährungsfragen beachtet und, soweit erforderlich, rechtzeitig verjährungshemmende Maßnahmen ergriffen werden. Hierbei werden neben Klageerhebung und Streitverkündung praktisch häufig auch Verjährungsverzichtsvereinbarungen (vgl. § 202 Abs. 2 BGB; Æ Rz. 108) gewählt, da hierdurch eine häufig ungewünschte Öffentlichkeit vermieden werden kann.331) Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gesellschaft noch nicht entschieden hat, ob sie Ansprüche nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG gerichtlich geltend machen will und deswegen ihrerseits Vereinbarungen über einen vorübergehenden Verjährungsverzicht abschließt.332) 153 Kommt es zu gerichtlichen Organhaftungsklagen, verkünden die beklagten Vorstandsmitglieder üblicherweise weiteren, als Gesamtschuldner in Betracht kommenden Vorstandsmitgliedern oder Aufsichtsratsmitgliedern den Streit (§ 72 ZPO).333) Dies ist für die streitverkündenden Vorstandsmitglieder regelmäßig zweckmäßig, weil dadurch die Verjährung möglicher Regressansprüche gehemmt wird (§ 204 Abs. 1 Nr. 6 BGB) und die Streitverkündigung aufgrund ihrer Interventionswirkung (§§ 74, 68 ZPO) im Fall des Unterliegens die Durchsetzung der eigenen Regressansprüche erleichtert. Streitverkündungen können Organhaftungsklagen verkomplizieren und verzögern, da zusätzliche Prozessbeteiligte mit eigenen Interessen, Beratern und Prozessstrategien hinzukommen. Weiterhin können Streitverkündungen den Wert einer möglichen D&O-Versicherung aufzehren.334) Denn D&O-Versicherungen werden i. d. R. mit einer fixen Deckungshöchstsumme (Cap) abgeschlossen und beziehen regelmäßig als Gruppenversicherung alle gegenwärtigen und ehemaligen Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat, oftmals zudem nachgelagerte Führungskräfte ___________ 328) Ebenso Koch, § 93 Rz. 120; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 50; Guntermann, AG 2017, 606 (608 f.); a. A. Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 31; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 467. 329) BeckOK BGB/Gehrlein, § 426 Rz. 4; Fischer, ZIP 2014, 406 (407). 330) BGH, Urt. v. 18.6.2009 – VII ZR 167/08, BGHZ 181, 310 (313) = ZIP 2009, 1821 (1822), Rz. 12; BGH, Urt. v. 15.10.2007 – II ZR 136/06, ZIP 2007, 2313. 331) Vgl. Fischer, ZIP 2014, 406 (410); Freund, GmbHR 2013, 785 (789 f.). 332) Vgl. Seyfarth, § 23 Rz. 74. 333) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 463; Koch, § 93 Rz. 118; Fassbach/Wettich, KSzW 2016, 269 (276 f.); Guntermann, AG 2017, 606 (610); Reichert/Suchy, NZG 2017, 88 (90 f.). 334) Hoffmann-Becking, ZHR 181 (2017), 737 (741).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

der AG und Organmitglieder von Tochtergesellschaften, ein (Æ § 26 Rz. 38).335) Da neben der eigentlichen Schadensdeckung häufig auch Abwehrkosten gegen eine gerichtliche Inanspruchnahme durch die D&O-Versicherung abgedeckt werden (sog. Abwehrdeckung), zehrt bereits der Verfahrenseintritt von weiteren versicherungsvertraglich umfassten Personen den maximal auskehrbaren Betrag auf.336) Insbesondere wenn verschiedene Schäden mit bedeutsamen wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft entstanden sind, kann der Versicherungsschutz der D&O-Versicherung auf diese Weise ohne vollständige Kompensation zugunsten der geschädigten Gesellschaft aufgebraucht, jedenfalls aber deutlich abgeschmolzen, werden.337) Trotz der strengen Anforderungen von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG werden Or- 154 ganhaftungsstreitigkeiten zwischen Gesellschaften und ihren (ehemaligen) Organmitgliedern häufig durch Vergleiche beendet (Æ Rz. 117 ff.). Ein haftungsbefreiender Vergleich zwischen der AG und einem von mehreren Gesamtschuldnern hat grundsätzlich nur Einzelwirkung (§ 425 Abs. 1 BGB).338) Etwas anderes gilt, wenn eine befreiende Wirkung zugunsten anderer Gesamtschuldner erzielt werden soll – wovon im Zweifel nicht auszugehen ist.339) Diese Grundregeln sind auch bei Vergleichsverträgen zwischen der Gesellschaft und einzelnen Vorstandsmitgliedern anwendbar.340) Ohne mehrseitige Vertragsbindungen, welche die übrigen Gesamtschuldner erfassen, ist es wegen der Gefahr von Regressforderungen für einzelne Gesamtschuldner häufig nicht zweckmäßig, sich individuell mit der Gesellschaft zu vergleichen.341) Um zu verhindern, dass ein Vergleich durch den Gesamtschuldnerausgleich faktisch ausgehebelt wird, müssen Vergleichsverhandlungen daher praktisch regelmäßig mit mehreren, idealerweise allen Gesamtschuldnern gleichzeitig geführt werden.342) Die Kombination aus aktienrechtlichen Anforderungen und Beschränkungen an einen Vergleich (Æ Rz. 127 ff.) einerseits und dem Erfordernis, die unterschiedlichen Eigeninteressen aller beteiligten Gesamtschuldner miteinander in Einklang zu ___________ 335) Krieger/Schneider/Ihlas, § 19 Rz. 28 ff.; Ausführlich zu D&O-Versicherungen: Seyfarth, § 25 Rz. 1 ff. 336) Hoffmann-Becking, ZHR 181 (2017), 737 (741); zur Abwehrdeckung vgl. Krieger/ Schneider/Sieg, § 18 Rz. 45 ff. 337) Ähnlich Freund, GmbHR 2013, 785 (791); Hoffmann-Becking, ZHR 181, 737 (740 f.). 338) Vgl. etwa Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 462; Koch, § 93 Rz. 168; Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619 (632 ff.); Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1877 (1884). 339) BGH, Urt. v. 22.12.2011 – VII ZR 7/11, BGHZ 192, 182 (188 f.) = NJW 2012, 1071 (1073), Rz. 23; BGH, Urt. v. 21.3.2000 – IX ZR 39/99, ZIP 2000, 1000 (1001) (GmbH); MünchKommBGB/Heinemeyer, § 423 Rz. 5. 340) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 523. 341) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 432 unter Hinweis auf eine mögliche Freistellungsverpflichtung der Gesellschaft aus dem Vergleichsvertrag; ebenso Weber/Schäfer, NZG 2020, 407 (411) zu Kartellrechtsbußen. 342) Vgl. Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598 (1601).

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§ 2 Haftung des Vorstands

bringen andererseits machen Vergleichsverhandlungen bei Organhaftungsansprüchen häufig komplex und schwierig. VII. Anspruchsverfolgung 1.

Aufsichtsrat

155 Die Prüfung und Geltendmachung von Organhaftungsansprüchen gegenüber amtierenden und ehemaligen Vorstandsmitgliedern fällt bei der AG gemäß § 112 Satz 1 AktG grundsätzlich in die Zuständigkeit des Aufsichtsrats (Æ Rz. 192),343) der in diesem Zusammenhang auch mögliche Ad-hoc-Veröffentlichungspflichten nach Art. 17 Abs. 1 MAR (Æ § 10) im Blick behalten muss.344) 156 Dabei muss der Aufsichtsrat selbständig prüfen, ob und in welchem Umfang Schadensersatzansprüche der Gesellschaft bestehen und geltend zu machen sind. Insofern wird nach den Grundsätzen der sog. ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH überwiegend eine Verpflichtung zur zweistufigen Prüfung angenommen (Æ § 3 Rz. 276 ff.):345) Auf der ersten Stufe hat der Aufsichtsrat zunächst den Sachverhalt aufzuarbeiten und rechtlich zu würdigen sowie das Prozessrisiko und die Beitreibbarkeit der Ersatzansprüche zu analysieren. Gelangt der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis, dass Ersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber einem Vorstandsmitglied in Betracht kommen und voraussichtlich prozessual durchsetzbar und beitreibbar sind, so hat er auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob von einer Verfolgung ausnahmsweise doch abzusehen sein kann, wenn im Einzelfall gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls gegen die Rechtsverfolgung sprechen und diese Gründe das Interesse der Gesellschaft an einem Ausgleich des entstandenen Schadens überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind. An eine bestimmte Prüfungsreihenfolge ist der Aufsichtsrat dabei nicht gebunden, weshalb er nicht gehalten ist einen Anspruch zu prüfen bzw. zu verfolgen, wenn von Anfang an offensichtlich ist, dass keine Aussicht besteht, auch nur die Ermittlungskosten von dem Anspruchsgegner oder dessen D&O-Versicherung ersetzt zu bekommen.346) ___________ 343) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (885); BGH, Urt. v. 13.2.1989 – II ZR 209/88, ZIP 1989, 497; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 17, § 112 Rz. 8; BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 354; Marsch-Barner/Schäfer/Arnold/Arnold, § 23 Rz. 57. 344) BGH, Beschl. v. 10.7.2018 – II ZB 24/14, ZIP 2018, 2307 (zu § 15 Abs. 1 WpHG a. F.). 345) Zum Ganzen BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (885 f.) – ARAG/ Garmenbeck; Koch, § 111 Rz. 7 ff.; Eichner/Höller, AG 2011, 885 ff.; Reichert, ZIP 2016, 1189 ff.; Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832 ff. und 1877 ff.; Wilsing, in: Festschrift Haarmann, S. 257 (269 ff.); Wilsing, in: Festschrift Maier-Reimer, S. 889 ff. Zur Anwendbarkeit auf Konzernkonstellationen vgl. Fischbach/Lüneborg, NZG 2015, 1142 ff. 346) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 46; Koch, § 111 Rz. 23; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 111 Rz. 46; Bieder, NZG 2015, 1178 (1185); Casper, ZHR 176 (2012), 617 (632); Eichner/Höller, AG 2011, 885 (886, 892); Goette, Liber Amicorum Winter, 2011, S. 157 (159, 163); Goette, ZHR 176 (2012), 588 (608); Reichert, in: Festschrift Hommelhoff, S. 907 (909); Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832 (1833).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Praxishinweis: Welche Informationsgrundlage sich der Aufsichtsrat beschaffen 157 muss, um von der Anspruchsgeltendmachung wegen mangelnder Bonität der pflichtvergessenen Organmitglieder absehen zu dürfen, wird soweit ersichtlich bislang in der aktienrechtlichen Literatur nicht diskutiert. Jedenfalls wird eine eidesstattliche Versicherung auf ein von dem Vorstandsmitglied zu erstellendes Vermögensverzeichnis einen hinreichend aussagekräftigen Nachweis darstellen.347) Eine eidesstattliche Versicherung dürfte jedoch nicht zwingend erforderlich sein, sofern der Aufsichtsrat aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen im Übrigen keine Zweifel an der Richtigkeit des Vermögensverzeichnisses und einer entsprechenden Erklärung des Vorstandsmitglieds hat. In dem praktisch eher seltenen Fall, dass die Hauptversammlung die Gel- 158 tendmachung durch ordnungsgemäßen Beschluss mit einfacher Mehrheit beschließt, ist der Aufsichtsrat nach § 147 Abs. 1 AktG verpflichtet, den Ersatzanspruch geltend zu machen; der Anspruch soll in diesem Fall binnen sechs Monaten seit dem Tage der Hauptversammlung geltend gemacht werden. 2.

Besondere Vertreter und Aktionäre

Die Kompetenz des Aufsichtsrats zur Vertretung der Gesellschaft bei der Ver- 159 folgung von Schadensersatzansprüchen wird ausnahmsweise durch eine Kompetenz der Aktionäre ersetzt. So können nach § 147 Abs. 2 AktG entweder die Hauptversammlung oder das Gericht auf Antrag einer qualifizierten Aktionärsminderheit einen besonderen Vertreter bestellen, der anstelle des Aufsichtsrats die Geltendmachung des Anspruchs nach § 93 Abs. 2 AktG übernimmt (Æ § 6 Rz. 1 ff.). Nach § 148 AktG kann das Gericht außerdem, wiederum auf Antrag einer qualifizierten Aktionärsminderheit, eine Klage durch Aktionäre zulassen (Æ § 6 Rz. 31 ff.). Praxishinweis: Von dem besonderen Vertreter ist der entweder durch die Haupt- 160 versammlung oder das Gericht auf Antrag einer qualifizierten Aktionärsminderheit zu bestellende Sonderprüfer gemäß § 142 AktG zu unterscheiden. Während der besondere Vertreter grundsätzlich bereits festgestellte Schadensersatzansprüche verfolgen soll, ist der Sonderprüfer zur vorgelagerten Sachverhaltsaufklärung und Feststellung möglicherweise pflichtwidrigen Verhaltens berufen.348) Diese Abgrenzung der Kompetenzen von Sonderprüfer und besonderem Vertreter wird von der Rechtsprechung jedoch nicht immer stringent durchgehalten. Vielmehr werden besonderen Vertretern z. T. weitreichende Befugnisse auch zur Aufklärung haftungsrelevanter Sachverhalte eingeräumt (Æ § 6 Rz. 19).349) ___________ 347) So zu § 148 AktG hinsichtlich der Frage, ob und in welchen Fällen mangelnde Beitreibbarkeit eines Ersatzanspruchs die Ablehnung des Zulassungsantrags im Klageerzwingungsverfahren nach § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG rechtfertigt, BeckOGK-AktG/Mock, § 148 Rz. 100.2. Gegen eine detaillierte Bonitätsprüfung im dortigen Zusammenhang auch Grigoleit/Grigoleit/Rachlitz, § 148 Rz. 17 (dort Fn. 42). 348) OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.12.2018 – 6 U 215/16, ZIP 2019, 1112 (1122); Butzke, M. Rz. 3; Ihrig/Schäfer, § 40 Rz. 1598; Seyfarth, § 23 Rz. 99 ff. 349) Vgl. etwa BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (155), Rz. 16 f.

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§ 2 Haftung des Vorstands

3.

Gesellschaftsgläubiger

161 Wenn Gläubiger der Gesellschaft von dieser für eine Forderung keine Befriedigung erlangen, können sie ausnahmsweise den Ersatzanspruch der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 AktG geltend machen (§ 93 Abs. 5 Satz 1 AktG). Die Vorschrift gewährt den Gläubigern nach h. M. einen zusätzlichen eigenen Anspruch.350) 162 Voraussetzung dieses Anspruchs ist eine fällige Geldforderung des Gläubigers der Gesellschaft, welche die Gesellschaft nicht befriedigen kann; die bloße Zahlungsunwilligkeit genügt nicht, ein Vollstreckungsversuch ist wiederum nicht erforderlich.351) Eine objektive Zahlungsunfähigkeit liegt auch im Fall der Überschuldung vor.352) Ferner muss die Gesellschaft einen Schadensersatzanspruch gegen das Vorstandsmitglied haben, der gerade aus der Organtätigkeit folgt.353) Haftungsvoraussetzung ist zudem, dass das Vorstandsmitglied nach § 93 Abs. 5 Satz 2 AktG eine grobe Pflichtverletzung oder eine solche gemäß § 93 Abs. 3 AktG begangen hat. Der Gläubiger muss Zahlung an sich selbst fordern, die Leistung des Organmitglieds kann jedoch mit befreiender Wirkung sowohl an die Gesellschaft als auch an den Gläubiger erfolgen.354) 163 Nach § 93 Abs. 5 Satz 3 AktG stehen weder ein vorheriger Beschluss der Hauptversammlung (Æ Rz. 110 ff.) noch ein mit der Gesellschaft vereinbarter Verzicht oder Vergleich (Æ Rz. 117 ff.) einer Haftung des Vorstandsmitglieds gegenüber den Gläubigern entgegen. Die Gläubiger können jedoch selbst einen Verzicht oder Vergleich mit dem Vorstandsmitglied abschließen.355) Ist das Insolvenzverfahren eröffnet, so verlieren die Gläubiger ihre Aktivlegitimation; der Anspruch ist dann durch den Insolvenzverwalter geltend zu machen (§ 93 Abs. 5 Satz 4 AktG).356) VIII. Auswirkungen von Verschmelzung und Formwechsel 164 Häufig kommt es zu Umwandlungen unter Beteiligung einer AG, bei denen sich anschließend Fragen zum Umgang mit Organhaftungsansprüchen der Gesellschaft gemäß §§ 93 Abs. 2 AktG, 43 Abs. 2 GmbHG stellen. Üblich sind ___________ 350) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 357; Koch, § 93 Rz. 170; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 180; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 301; für Prozessstandschaft noch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.10.1976 – 1 U 19/76, WM 1977, 59 (62); LG Köln, Urt. v. 13.1.1976 – 3 O 243/75, AG 1976, 105 (106). 351) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 358 f.; Koch, § 93 Rz. 172; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 182. 352) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 559; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 305. 353) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 360; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 304. 354) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 45; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 362; Koch, § 93 Rz. 173. 355) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 352; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 315. 356) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 363; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 575; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 193.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

insbesondere die Verschmelzung der AG auf eine GmbH und umgekehrt sowie der Formwechsel einer AG in eine GmbH und umgekehrt. Die Ämter der Organmitglieder des übertragenden bzw. formwechselnden 165 Rechtsträgers enden mit Erlöschen des Rechtsträgers im Zuge der Verschmelzung bzw. mit Wirksamwerden des Formwechsels.357) Bis zu diesem Zeitpunkt ist allein das Rechtsverhältnis des Organmitglieds zum übertragenden bzw. formwechselnden Rechtsträger maßgeblich. Werden die Organmitglieder vom aufnehmenden bzw. formgewechselten Rechtsträger neu bestellt und handeln anschließend pflichtwidrig, richtet sich deren Haftung gegenüber dieser Gesellschaft nach den allgemeinen Regeln gemäß § 93 Abs. 2 AktG bzw. § 43 Abs. 2 GmbHG. Schadensersatzansprüche des übertragenden oder formwechselnden Rechts- 166 trägers, die durch eine vor der Verschmelzung bzw. dem Formwechsel begangene Pflichtverletzung bereits entstanden waren (Æ Rz. 101 ff.), gehen im Zuge der Verschmelzung auf den aufnehmenden Rechtsträger über (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG).358) Beim identitätswahrenden Formwechsel bestehen sie fort (§ 202 Abs. 1 Nr. 1 UmwG).359) Sie sind vom aufnehmenden Rechtsträger bzw. dem formgewechselten Rechtsträger bei dem Organmitglied zu liquidieren, und zwar auch dann, wenn sie auch oder erst beim aufnehmenden bzw. formgewechselten Rechtsträger einen Schaden begründet haben.360) Dogmatisch liegt ein Schadensersatzanspruch gemäß § 93 Abs. 2 AktG vor, wenn der betreffende Anspruch durch Eintritt sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen entstanden ist, als die Gesellschaft schon oder noch AG war. Der Anspruch folgt hingegen aus § 43 Abs. 2 GmbHG, wenn die Gesellschaft bei Anspruchsentstehung schon oder noch eine GmbH war. Bei der Verschmelzung auf eine AG wie auch bei dem Formwechsel in eine AG 167 ist der Aufsichtsrat für die Prüfung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG gegenüber ehemaligen Geschäftsführern der auf die AG verschmolzenen bzw. formgewechselten GmbH zuständig, und zwar unabhängig davon, ob die GmbH vor der Umwandlung einen Aufsichtsrat hatte.361) Denn durch die Verschmelzung bzw. den Formwechsel erlischt die GmbH und an ihre Stelle tritt die übernehmende AG mit ihrer eigenen Kompetenzordnung.362) Im umgekehrten Fall der Verschmelzung ___________ 357) BGH, Beschl. v. 18.6.2013 – II ZA 4/12, ZIP 2013, 1467, Rz. 3 (Verschmelzung); BGH, Beschl. v. 8.1.2007 – II ZR 267/05, ZIP 2007, 910 (911), Rz. 6 (Formwechsel). 358) Semler/Stengel/Leonard/Leonard/Simon, § 20 Rz. 20; KK-UmwG/Simon, § 25 Rz. 25; Widmann/Mayer/Vossius, § 20 Rz. 261. 359) Lutter/Hoger, § 202 Rz. 32. 360) Vgl. Böttcher/Habighorst/Schulte/Burg, § 25 Rz. 29; KK-UmwG/Simon, § 25 Rz. 44. 361) BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, ZIP 2004, 92 (GmbH); BGH, Urt. v. 28.4.1997 – II ZR 282/95, ZIP 1997, 1108; Lutter/Krieger/Verse, § 7 Rz. 454. 362) BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, ZIP 2004, 92 (GmbH); im Ergebnis auch Semler/ Stengel/Leonard/Simon, § 20 Rz. 20.

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§ 2 Haftung des Vorstands

auf eine GmbH bzw. des Formwechsels in eine GmbH ist gemäß § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG grundsätzlich die Gesellschafterversammlung für die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs zuständig. Etwas anderes gilt nur bei mitbestimmten GmbHs bei Bestehen eines obligatorischen Aufsichtsrats (vgl. § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG i. V. m. § 112 AktG) oder wenn die GmbH kraft Satzung einen (fakultativen) Aufsichtsrat bildet.363) 168 Soweit die Kompetenz zur Prüfung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 93 Abs. 2 AktG nach Formwechsel bzw. Verschmelzung bei der Gesellschafterversammlung der GmbH liegt, gelangen die Grundsätze zur Prüfung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen nach der ARAG/ Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH (Æ Rz. 156 f. und § 3 Rz. 276 ff.) nicht zur Anwendung, weil der Gesellschafterversammlung bei der Anspruchsverfolgung ein weites Ermessen zusteht.364) Umgekehrt finden diese Grundsätze aber auf die vom Aufsichtsrat der AG zu prüfenden und zu verfolgenden Organhaftungsansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG gegen ehemalige Geschäftsführer der auf sie verschmolzenen GmbH bzw. der formgewechselten GmbH Anwendung. Denn beide Gesichtspunkte der Begründung des BGH für diese Rechtsprechung, d. h. das Interesse der Gesellschaft an Schadenskompensation und einer Wiederherstellung des Gesellschaftsvermögens einerseits sowie der Gedanke der (nachträglichen) Vorstandskontrolle durch den Aufsichtsrat andererseits365) kommen im vorliegenden Fall gleichermaßen zum Tragen. Etwaige Schäden würden in jedem Fall allein den übernehmenden bzw. formgewechselten Rechtsträger belasten, weil Schäden entweder erst nach der Verschmelzung bzw. dem Formwechsel bei diesem entstehen oder jedenfalls auf ihn durch Verschmelzung bzw. Formwechsel übergehen. Ferner übernimmt der aufnehmende bzw. formgewechselte Rechtsträger nach Wirksamkeit der Umwandlung die Pflicht zur (nachträglichen) Kontrolle der früheren Geschäftsführung. 169 Die Beschränkungen gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG für Verzicht, Vergleich und wirtschaftlich vergleichbare Rechtshandlungen (Æ Rz. 117 ff.) in Bezug auf den Anspruch aus § 93 Abs. 2 AktG enden mit Formwechsel der AG in eine GmbH bzw. Verschmelzung einer AG auf eine GmbH;366) es gilt lediglich das eingeschränkte Verzichtsverbot gemäß § 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG.367) Im um___________ 363) Zum Ganzen Allmendinger/Lüneborg, ZIP 2017, 1842 (1843 ff.). 364) Allmendinger/Lüneborg, ZIP 2017, 1842 (1845 ff.). 365) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (255) = ZIP 1997, 883 (886) – ARAG/Garmenbeck. 366) Lutter/Grunewald, § 20 Rz. 30; Koch, § 93 Rz. 159; Allmendinger/Lüneborg, ZIP 2017, 1842 (1849 f.); Habersack/Schürnbrand, NZG 2007, 81 (87); Haßler, AG 2016, 388 (391); Hoffmann-Becking, in: Festschrift Ulmer, S. 242 (252, 263 f.). Etwas anderes gilt jedoch nach bestrittener Auffassung bei Verschmelzung von AG auf AG: Koch, § 93 Rz. 159; Haßler, AG 2016, 388 (391 ff.); Martens, AG 1986, 57 (58 ff.); a. A. Lutter/Grunewald, § 20 Rz. 30. 367) Habersack/Schürnbrand, NZG 2007, 81 (87).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

gekehrten Fall des Formwechsels in eine AG bzw. der Verschmelzung auf eine AG ist § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG hingegen bei Dispositionen über den Anspruch zu beachten.368) In Bezug auf die Verjährung des Schadensersatzanspruchs ist grundsätzlich maß- 170 geblich, wann der betreffende Anspruch entstanden ist und um welchen Anspruch es sich folglich handelt. Ein Anspruch nach § 93 Abs. 2 AktG unterliegt damit auch nach einem Formwechsel in eine GmbH oder einer Verschmelzung auf eine GmbH der fünf- bzw. zehnjährigen Verjährung gemäß § 93 Abs. 6 AktG (Æ Rz. 100 ff.), während der Anspruch nach § 43 Abs. 2 GmbHG ungeachtet eines Formwechsels der Gesellschaft in eine AG oder einer Verschmelzung auf eine AG stets nach § 43 Abs. 4 GmbHG in fünf Jahren verjährt.369) Schwierigkeiten können sich ergeben, wenn an dem Umwandlungsvorgang eine 171 börsennotierte AG beteiligt ist, bei der Organhaftungsansprüche in zehn statt in fünf Jahren verjähren. Bei der Verschmelzung auf eine börsennotierte AG und dem Formwechsel in eine solche sprechen die überzeugenden Gründe dafür, § 43 Abs. 4 GmbHG auf den Schadensersatzanspruch selbst dann anzuwenden, wenn allein die Pflichtverletzung in der GmbH begangen wurde, ein Schaden aber erst bei der AG eingetreten ist.370) Denn die zehnjährige Verjährungsfrist knüpft bei der AG an die Börsennotierung zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung an, woran es bei Pflichtverletzungen des GmbH-Geschäftsführers vor der Verschmelzung bzw. dem Formwechsel aber fehlt.371) Auch die gesetzliche Begründung für die zehnjährige Verjährung, wonach bei börsennotierten AGs aufgrund der komplexen Sachverhaltsgestaltungen bei Organhaftungsansprüchen regelmäßig das Bedürfnis für eine längere Frist bestehe, trägt nicht, wenn der Anspruch bereits bei der GmbH entstanden ist.372) Schließlich wäre die Anwendung der zehnjährigen Verjährungsfrist bei in der GmbH begründeten Schadensersatzansprüchen auch für den haftenden Geschäftsführer unbillig, der nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist gemäß § 43 Abs. 4 GmbHG schutzwürdiges Vertrauen in seine dauerhafte Enthaftung haben darf.373) Im umgekehrten Fall der Verschmelzung einer börsennotierten AG auf eine GmbH bzw. des entsprechenden Formwechsels findet § 93 Abs. 6 AktG fortlaufend Anwendung, so dass es insbesondere nicht zu einer Verkürzung der Verjährung von zehn auf fünf Jahre kommt.374) ___________ 368) 369) 370) 371) 372) 373) 374)

Habersack/Schürnbrand, NZG 2007, 81 (87). Cordes, ZfPW 2017, 497 (510 f.). Cordes, ZfPW 2017, 497 (510 f.); a. A. Lutter/Hoger, § 202 Rz. 32. Cordes, ZfPW 2017, 497 (510). Cordes, ZfPW 2017, 497 (510 f.). Cordes, ZfPW 2017, 497 (511). Cordes, ZfPW 2017, 497 (511).

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§ 2 Haftung des Vorstands

IX.

Möglichkeiten zur Haftungsbegrenzung

172 Aufgrund der gestiegenen praktischen Bedeutung der Organhaftung (Æ Rz. 4 f.) sowie der bisweilen exorbitanten Schadenshöhen (Æ Rz. 97 f.) sucht die Praxis in den letzten Jahren zunehmend nach Wegen zur rechtssicheren und möglichst weitreichenden Haftungsbegrenzung. Dabei müssen jedoch die engen Grenzen des Aktienrechts beachtet werden. 1.

Generelle Bestimmungen zur Haftungsbeschränkung

173 Die aktienrechtlichen Grenzen der Dispositionsbefugnis ergeben sich zum einen aus dem weitgehend verbindlichen Charakter des AktG und dem Grundsatz der Satzungsstrenge gemäß § 23 Abs. 5 AktG (Æ § 1 Rz. 7), aufgrund dessen satzungsmäßige Abweichungen von § 93 AktG und damit generelle Bestimmungen zur Haftungsbeschränkung in der Satzung unzulässig sind (Æ Rz. 2). Weder eine Milderung des Sorgfaltsmaßstabs (Æ § 1 Rz. 253), noch eine summenmäßige Begrenzung (Æ Rz. 97 ff.) oder eine Erleichterung der Verjährung (Æ Rz. 108) lassen sich damit durch die Satzung regeln.375) Einer Gestaltung mit generell haftungsbeschränkender Wirkung steht auch die – nicht selten übersehene – Regelung in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG entgegen, wonach Verzicht, Vergleich und alle wirtschaftlich ebenso wirkenden Rechtshandlungen erst drei Jahre nach der Entstehung des Schadensersatzanspruchs und nur unter Beteiligung der Hauptversammlung der AG zulässig sind (Æ Rz. 117 ff.). 174 Vor dem Hintergrund der Wertungen gemäß §§ 23 Abs. 5, 93 Abs. 4 Satz 3 AktG sind vertragliche Regelungen zur Beschränkung der Haftung – einschließlich etwaiger Beschränkungen der Haftungshöhe durch sog. Halbvermögensschutzklauseln – nach h. M. ebenfalls unzulässig.376) Ebenso wenig kommen pauschale und vorherige Freistellungszusagen der Gesellschaft im Anstellungsvertrag in Betracht (Æ § 1 Rz. 500). Ein wirksames und praktisch weit verbreitetes Mittel zum generellen Schutz eines Vorstandsmitglieds besteht allerdings in dem Abschluss einer D&O-Versicherung (Æ § 26), die hinreichend breite D&O-Versicherungsbedingungen vorweist und durch welche die spezifischen Bedürfnisse der versicherten Personen auch tatsächlich abgedeckt werden. Durch sog. „Verschaffungsklauseln“ (Æ § 26 Rz. 22) dürfen und ___________ 375) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 4 f.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 123; Krieger/ Schneider/Krieger, § 3 Rz. 44. 376) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 4; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 11; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 47 ff.; Koch, § 93 Rz. 100 f.; Krieger/Schneider/ Krieger, § 3 Rz. 44; Habersack, NZG 2015, 1297 ff.; Schockenhoff, ZHR 180 (2016), 197 (221 f.); Wettich, AG 2017, 60 (66 f.). Für die Zulässigkeit solcher Vertragsklauseln Seibt, NZG 2015, 1097 (1102); Seibt, NZG 2016, 361; ähnlich Grunewald, AG 2013, 813 (815 f.); Spindler, AG 2013, 889 (895). Allgemein für die Zulässigkeit vertraglicher Haftungsfreistellungen Hoffmann, NJW 2012, 1393 (1395 ff.). Für Beschränkbarkeit auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit Bachmann, in: Festschrift Stilz, S. 25 (30 ff.).

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

sollten Organmitglieder sich den Abschluss einer D&O-Versicherung zu ihren Gunsten sowie die wesentlichen Bedingungen, die die Gesellschaft in den Versicherungsvertrag hinein zu verhandeln hat, in ihren Anstellungsverträgen festschreiben lassen.377) 2.

Situative Haftungsdispositionen

Größere praktische Bedeutung als generelle Bestimmungen zur Haftungsver- 175 meidung haben angesichts der insoweit restriktiven Rechtslage situative Haftungsdispositionen in Ansehung eines konkreten Schadensersatzanspruchs. Insofern sind wegen des breiten Anwendungsbereichs von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (Æ Rz. 120 ff.) aber praktisch immer – und nicht nur bei Verzicht und Vergleich – der Ablauf der Dreijahresfrist und das Erfordernis der Beteiligung der Hauptversammlung zu beachten (Æ Rz. 128 ff.). Das gilt namentlich auch bei der Übernahme einer Geldbuße, Geldstrafe oder Geldauflage durch die Gesellschaft, sofern dieser eine pflichtwidrige Handlung des Vorstandsmitglieds gegenüber der Gesellschaft zugrunde liegt (Æ Rz. 125, § 1 Rz. 501). Hingegen sind Freistellungen durch Dritte nicht an § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG 176 zu messen (Æ Rz. 125).378) Entsprechende Vereinbarungen können aber gegen den Grundsatz der eigenverantwortlichen Leitung durch den Vorstand gemäß § 76 Abs. 1 AktG verstoßen (Æ § 1 Rz. 22 ff.), sofern die konkrete Gefahr einer faktischen Bindung an die Interessen des Freistellenden besteht.379) Zudem kann eine unzulässige Einflussnahme des Dritten auf den Vorstand gemäß § 117 AktG (Æ Rz. 229) in Betracht kommen.380) Schließlich sind Leistungen Dritter aus Freistellungsvereinbarungen Bestandteil der im Vergütungsbericht offen zu legenden Gesamtvergütung (vgl. § 162 Abs. 2 Nr. 1 AktG) und unterliegen gemäß § 87 Abs. 1 AktG der Angemessenheitsprüfung durch den Aufsichtsrat (Æ § 3 Rz. 205 ff.). Insbesondere für Vorstandsmitglieder von Gesellschaften mit überschaubarem 177 Aktionärskreis (z. B. Familiengesellschaften oder Konzerntochtergesellschaften) kann erwägenswert sein, eine Enthaftung durch Beschluss der Hauptversammlung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG (Æ Rz. 110 ff.) nach Vorlage einer ___________ 377) Großkomm-AktG/Hopt, § 93 Rz. 455; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 104; Cyrus, NZG 2018, 7 (8); Fleischer, WM 2005, 909 (919); Lange, VersR 2010, 162. Gestaltungsvorschlag einer solchen Klausel bei Hohenstatt/Naber, DB 2010, 2321 ff. 378) Siehe bereits die Nachweise in Fn. 270 sowie eingehend Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, 2010, S. 40 ff.; Habersack, in: Festschrift Ulmer, S. 151 (169 ff.); Westermann, in: Festschrift Beusch, S. 871 (873 ff., 881 ff.). 379) Ek/Kock, Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat, 2019, Rz. 628; Habersack, in: Festschrift Ulmer, S. 151 (170); Westermann, in: Festschrift Beusch, S. 871 (883). 380) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 531; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 171; Ek/ Kock, Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat, 2019, Rz. 628.

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§ 2 Haftung des Vorstands

Geschäftsführungsangelegenheit an die Hauptversammlung gemäß § 119 Abs. 2 AktG (Æ § 1 Rz. 167 f.) zu erreichen. 3.

Sorgfältige Mandatswahrnehmung und Dokumentation

178 Da die Möglichkeiten einer Abmilderung der Haftungsfolgen äußerst begrenzt sind, muss die Haftungsvermeidung letztlich auf Tatbestandsseite ansetzen. Die beste Haftungsprophylaxe besteht damit in einer sorgfaltsgemäßen Wahrnehmung des Mandats. 179 Bereits vor der Amtsübernahme sind Vorstandsmitglieder gut beraten, sich so gut wie möglich über die allgemeinen rechtlichen und faktischen Anforderungen an die Vorstandstätigkeit und daraus für sie folgende, im Ergebnis unvermeidbare Risiken zu informieren. Dabei kann eine Auswertung öffentlich zugänglicher Gesellschaftsunterlagen, wie z. B. der Satzung und des Jahresabschlusses, der Geschäftsordnungen sowie aktueller Presseberichte, und von Gesprächen mit dem Vorstands- und/oder Aufsichtsratsvorsitzenden zur Vorbereitung auf das Amt nützlich sein. Gleiches gilt für eine Analyse des Aktionärskreises (z. B. Zusammensetzung und Stabilität) und sich daraus für die Gesellschaft bzw. die Organmitglieder ergebenden typischen (Haftungs-)Risiken. Auch eine Prüfung der Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat (z. B. tatsächliche Machtverhältnisse, im Organ vertretene Kompetenzen, Führungsstil) sind in diesem Zusammenhang sinnvoll. Außerdem sollte sich das designierte Vorstandsmitglied vor Augen führen, was genau von ihm fachlich erwartet wird und welche (Führungs-)Rolle es im Gremium einnehmen soll. Eine derartige „Due Diligence“ kann im Einzelfall zur Vermeidung unnötiger (Haftungs)Risiken führen. 180 Nach der Amtsübernahme besteht keine Pflicht zur umfassenden Prüfung der bisherigen Geschäfte. Gleichwohl sollten sich Vorstandsmitglieder zum Schutz vor Haftung im Rahmen des Möglichen einen umfassenden Überblick über die Lage der Gesellschaft verschaffen.381) Soweit sie dabei auf Unregelmäßigkeiten stoßen, insbesondere innerhalb des ihnen zugewiesenen Ressorts (Æ § 1 Rz. 80), ist dem unverzüglich nachzugehen. Denn sie haften zwar nicht für Pflichtverletzungen des Amtsvorgängers und pflichtwidrige Gesamtvorstandsentscheidungen vor ihrer Amtszeit, sondern nur für eigene, ihnen individuell vorwerfbare Pflichtverletzungen (Æ Rz. 6 und 15 f.). Einen solchen Vorwurf vermag es aber zu begründen, dass identifizierte Organisationsdefizite nicht behoben (Æ § 1 Rz. 257) oder erkannte Rechtsverletzungen nicht unverzüglich aufgeklärt, abgestellt und geahndet werden (Æ § 1 Rz. 289 ff.). 181 Im Übrigen liegt ein Schlüssel zum Schutz vor einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme des Vorstands in der sorgfaltsgemäßen Mandatswahrnehmung. ___________ 381) OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, ZIP 2015, 1586.

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A. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 AktG

Dabei sollten Vorstandsmitglieder bei unternehmerischen Entscheidungen stets darauf achten, sich in den Grenzen der Business Judgement Rule (Æ Rz. 25 ff.) zu bewegen. Insoweit kommt der sorgfältigen Vorbereitung der Entscheidung unter sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen eine herausgehobene Bedeutung zu (Æ Rz. 43 und § 1 Rz. 261). Der Vorstand sollte insbesondere dafür sorgen, für die konkrete Entscheidung eine nach den Gesamtumständen angemessene Informationsgrundlage zu schaffen (Æ Rz. 36 ff.) und sorgfältig herausarbeiten, ob die beabsichtigte Entscheidung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Interessen dem Wohl der Gesellschaft dient (Æ Rz. 44 ff.). Soweit möglich, sollten dem Vorstand alle maßgeblichen Informationen mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf vor der Entscheidung zur Verfügung stehen. Außerdem wird es je nach Bedeutung der Entscheidung und eigener Sachkenntnis sinnvoll bzw. erforderlich sein, unabhängigen Expertenrat zu bestimmten Fragestellungen einzuholen. Unter den weiteren Voraussetzungen der ISION-Rechtsprechung des BGH eröffnet dies zugleich die Möglichkeit der Exkulpation aufgrund eines unverschuldeten und unvermeidbaren Verbotsirrtums (Æ Rz. 58 ff.). Dissentierende Vorstandsmitglieder dürfen zur eigenen Enthaftung bei einer Gesamtvorstandsentscheidung nicht lediglich gegen die Maßnahme stimmen, sondern sie müssen die ihnen in diesem Fall obliegenden weitergehenden Pflichten erfüllen (Æ § 1 Rz. 149 ff.). Praxishinweis: Besondere praktische Bedeutung haben (behauptete) Verletzungen 182 der Compliance-Pflichten des Vorstands erlangt (Æ § 1 Rz. 285 ff.). Vor diesem Hintergrund kann Vorstandsmitgliedern nur dringend empfohlen werden, insbesondere der Pflicht zu sorgfältiger und effektiver Compliance-Organisation (Æ § 1 Rz. 300 ff. und § 16 Rz. 20 ff.) nachzukommen und bei konkreten Verdachtsfällen auch ihren reaktiven Compliance-Pflichten zu genügen (Æ § 1 Rz. 289 ff.). Haftungsrisiken lassen sich ferner durch eine angemessene betriebliche Orga- 183 nisation einschließlich der Delegation von Vorstandsaufgaben (Æ § 1 Rz. 91 ff.) reduzieren.382) Diese Reduzierung des Haftungsrisikos folgt daraus, dass dem Delegationsempfänger ein eigener Verantwortungsbereich zur selbstständigen Wahrnehmung übertragen wird. Verletzt der Delegationsempfänger seine Pflichten, können das bzw. die delegierenden Vorstandsmitglieder hierfür nicht haftungsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, weil Vorstandsmitglieder nur für eigenes Fehlverhalten haften, Fehlverhalten Dritter ihnen aber nicht zugerechnet wird (Æ Rz. 16). Aus der Perspektive des bzw. der delegierenden Vorstandsmitglieder führt die zulässige Delegation zu einer Modifikation des Pflichtenkreises: An die Stelle der Pflicht zur umfassenden eigenen Befassung und Erledigung tritt bei der zulässigen horizontalen Delegation eine ressortübergreifende Überwachungspflicht (Æ § 1 Rz. 102 ff.) der nicht primärverantwortlichen Vorstandsmitglieder. Bei der vertikalen Delegation verbleiben ___________ 382) Zum Ganzen Freund, NZG 2015, 1419 (1424); Froesch, DB 2009, 722 (723); Turiaux/ Knigge, DB 2004, 2199 ff.; Urban, GWR 2013, 106.

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§ 2 Haftung des Vorstands

dem bzw. den delegierenden Vorstandsmitgliedern eigene Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungspflichten (Æ § 1 Rz. 111 ff.). In beiden Fällen ist das jeweilige Pflichtenprogramm, das sich durch die Modifikation des Pflichtenkreises ergibt, gegenüber dem ursprünglichen Pflichtenprogramm abgeschwächt (zur horizontalen Delegation Æ § 1 Rz. 266).383) Allerdings haften delegierende Vorstandsmitglieder naturgemäß auch dann, wenn sie diese Residualpflichten verletzen. 184 Praxishinweis: Wiederum ist darauf hinzuweisen, dass die zulässige Delegation als Mittel zur Haftungsbegrenzung insbesondere in dem praktisch äußerst relevanten Bereich der Compliance-Pflichten von großer Bedeutung ist (Æ § 16 Rz. 88 ff.). 185 Bei allen vorgenannten Gesichtspunkten sollte der Vorstand für eine vollständige und lückenlose Dokumentation der Entscheidung sowie aller wesentlichen Entscheidungsgründe in den Vorstandsprotokollen (Æ § 1 Rz. 136 f.) sorgen, wobei die Anforderungen an die Dokumentation mit wachsender Bedeutung der Entscheidung zunehmen.384) Insbesondere haftungsrelevante Vorgänge, wie z. B. die Delegation von Organpflichten und wesentlichen Organisationsentscheidungen, sollten sorgfältig dokumentiert werden.385) Zwar folgt aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG keine Rechtspflicht zur Dokumentation; die Dokumentation stellt vielmehr eine Obliegenheit des Vorstands dar. Sie dient den Vorstandsmitgliedern aber zum einen dazu, in einem möglichen Haftungsprozess der sekundären Darlegungslast hinsichtlich der Einhaltung der Überwachungspflicht genügen zu können (Æ Rz. 199).386) Zum anderen kann durch eine sorgfältige Dokumentation ebenso bewiesen werden, dass im Einzelfall die Voraussetzungen der Business Judgement Rule eingehalten wurden und so eine Enthaftung herbeigeführt werden.387) B.

Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 3 AktG

I.

Überblick

186 § 93 Abs. 3 AktG enthält acht Sondertatbestände, die allesamt auf gesetzeswidrige Minderungen des Gesellschaftsvermögens Bezug nehmen.388) Die Vorschrift regelt einen Sonderfall des Schadensersatzanspruchs gemäß § 93 Abs. 2 ___________ 383) Vgl. Koch, § 77 Rz. 15; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; Krieger/Schneider/E. Vetter, § 22 Rz. 88; Froesch, DB 2009, 722 (726); Hoffmann-Becking, NZG 2021, 93. 384) Freund, NZG 2015, 1419 (1424). Zu den Dokumentationsanforderungen im Zusammenhang mit der Compliance-Organisation Æ § 16 Rz. 55 ff. 385) Hauschka, AG 2004, 461 (464 f.); Theusinger/Liese, NZG 2008, 289 (290). 386) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 93; Freund, NZG 2015, 1419 (1424). 387) Koch, § 93 Rz. 35; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 5 Rz. 93; Freund, NZG 2015, 1419 (1424); Goette, ZHR 175 (2011), 388 (397); Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1106). 388) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 326; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 125; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 251.

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B. Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 3 AktG

AktG.389) Für den Vorstand sind im Zusammenhang mit der Bestimmung einige Besonderheiten von Bedeutung. Zunächst besteht im Rahmen von § 93 Abs. 3 AktG kein Raum für unternehme- 187 rische Entscheidungen (Æ Rz. 33 f.), so dass eine Anwendung der Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (Æ Rz. 25 ff.) ausscheidet.390) Sodann weicht der Schadensbegriff des § 93 Abs. 3 AktG von den §§ 249 ff. 188 BGB ab. Nach § 93 Abs. 3 AktG wird vermutet, dass der Schaden bereits im Abfluss (Nr. 1–3, 5–9) oder der Vorenthaltung (Nr. 4) der Mittel besteht (sog. Mindestschaden in Höhe des Abflusses).391) Rückzahlungs- oder Einlageansprüche der Gesellschaft gegen den Aktionär lassen den Schaden daher nicht entfallen; dafür muss vielmehr tatsächlich eine Zahlung in das Gesellschaftsvermögen geflossen sein.392) Das betreffende Vorstandsmitglied muss die Schadensvermutung widerlegen, will es einer Haftung entgehen.393) Dafür genügt nicht schon der Verweis auf das bisherige Ausbleiben eines (endgültigen) Schadens; vielmehr muss nachgewiesen werden, dass eine pflichtverletzungsbedingte Schädigung der Gesellschaft überhaupt nicht möglich ist.394) Der Schaden ist nicht auf den Mindestschaden in Höhe des Abflusses begrenzt, sondern erfasst auch weitergehende Schäden.395) Jedoch trifft bezüglich dieser Schäden nach allgemeinen Regeln die Gesellschaft die Beweislast (Æ Rz. 212 f.).396) ___________ 389) BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 (2219), Rz. 17 (GmbH); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.8.2004 – 23 U 170/03, AG 2005, 91 (94); MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 251; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 125; a. A. Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957 (960 f.). Ob es sich bei § 93 Abs. 3 AktG um eine selbstständige Anspruchsgrundlage handelt, ist umstritten; bejahend: BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 317; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 326; Koch, § 93 Rz. 150; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 251; ablehnend: Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 85 (dort Fn. 163). Der Ersatzanspruch der Gesellschaft wegen Zahlungen nach Insolvenzreife (§ 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F.) stellt auch im Rahmen des Deckungsanspruchs einer D&O-Versicherung einen gesetzlichen Haftpflichtanspruch auf Schadensersatz dar, dazu BGH, Urt. v. 18.11.2020 – IV ZR 217/19, ZIP 2020, 2510 (2511) Rz. 19 f. Zum Ganzen auch Æ Rz. 212. 390) Koch, § 93 Rz. 148; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 28; Koch, ZGR 2006, 769 (784 f.). 391) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 319; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 339; Koch, § 93 Rz. 149. 392) BGH, Urt. v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, ZIP 2008, 2217 (2220), Rz. 17 (GmbH); Ihrig/ Schäfer, § 38 Rz. 1536. 393) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 319; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 343; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 57. 394) RG, Urt. v. 30.11.1938 – II 39/38, RGZ 159, 211 (230) (OHG); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 319; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 252; Habersack/Schürnbrand WM 2005, 957 (958). 395) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 340; Koch, § 93 Rz. 149; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 134. 396) Koch, § 93 Rz. 150 KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 134; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 263; Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957 (958).

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281

§ 2 Haftung des Vorstands

189 Bei einer Verletzung von § 93 Abs. 3 AktG wird ferner die Geltendmachung der Ersatzansprüche durch die Gläubiger der Gesellschaft erleichtert, da § 93 Abs. 5 Satz 2 AktG in diesem Fall leichte Fahrlässigkeit anstelle der sonst erforderlichen groben Pflichtverletzung genügen lässt. II.

Einzelne Tatbestände

190 § 93 Abs. 3 Nr. 1 AktG nimmt Bezug auf das Verbot der Einlagenrückgewähr der §§ 57 Abs. 1 (Æ § 1 Rz. 347 ff.) und 230 AktG; einbezogen werden offene und verdeckte Verstöße.397) § 93 Abs. 3 Nr. 2 AktG erfasst Verstöße gegen die §§ 57 Abs. 2 und 3, 58 Abs. 4, 60 und 233 AktG.398) § 93 Abs. 3 Nr. 3 AktG gilt für Verstöße gegen die §§ 56, 71–71e, §§ 237–239 AktG.399) § 93 Abs. 3 Nr. 4 AktG betrifft Verstöße gegen § 10 Abs. 2 AktG, also die Ausgabe von Inhaberaktien vor der vollen Leistung des Ausgabebetrags; der Schaden besteht in dem ausstehenden Ausgabebetrag.400) Die Ersatzpflicht tritt auch dann ein, wenn die Unwirksamkeit der Sacheinlagevereinbarung eine Pflicht zur Bareinlage entstehen lässt401) bzw. eine unwirksame Sacheinlage anstelle der vereinbarten Bareinlage geleistet wird.402) 191 § 93 Abs. 3 Nr. 5 AktG erfasst etwa eine Verletzung der §§ 57 Abs. 3, 61, 71, 225 Abs. 2, 230, 233, 237 und 271, 272 AktG.403) § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F. bezog sich auf § 92 Abs. 2 AktG a. F./§ 15b InsO (Æ § 12 Rz. 112 ff.).404)§ 93 Abs. 3 Nr. 7 AktG betrifft jegliche Vergütung an Aufsichtsratsmitglieder, die unter Verstoß gegen §§ 113, 114 AktG (Æ § 3 Rz. 33 ff., 42) gewährt wird.405) Ebenso trifft die Aufsichtsratsmitglieder in diesem Fall eine Haftung nach ___________ 397) Koch, § 93 Rz. 151; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 58. 398) Koch, § 93 Rz. 151; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 127; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 255. 399) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 332; Koch, § 93 Rz. 151; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 58. 400) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 333; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 58. 401) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2098), Rz. 12 – ISION; BGH, Urt. v. 18.2.2008 – II ZR 132/06, BGHZ 175, 265 (274) = ZIP 2008, 788 (790), Rz. 17 – Rheinmöve; Merkt/Mylich, NZG 2012, 525 (526). 402) RG, Urt. v. 30.11.1938 – II 39/38, RGZ 159, 211 (231) (OHG); KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 129; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 30. 403) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 334; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 130; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 30. 404) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 335; Koch, § 93 Rz. 152; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 131. Der Ersatzanspruch der Gesellschaft wegen Zahlungen nach Insolvenzreife (§ 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F.) stellt auch im Rahmen des Deckungsanspruchs einer D&O-Versicherung einen gesetzlichen Haftpflichtanspruch auf Schadensersatz dar, dazu BGH, Urt. v. 18.11.2020 – IV ZR 217/19, ZIP 2020, 2510 (2511) Rz. 19 f. Zum Ganzen auch Æ Rz. 212. 405) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 336; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 260; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 30.

282

Illert/Meyer

C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

§ 116 AktG (Æ § 4). § 93 Abs. 3 Nr. 8 AktG erfasst die Gewährung von Krediten entgegen §§ 89, 115 AktG an Vorstandsmitglieder und leitende Angestellte sowie an Aufsichtsratsmitglieder (Æ § 1 Rz. 320 ff. und § 3 Rz. 254 ff.).406) Bei § 93 Abs. 3 Nr. 9 AktG geht es um Verstöße gegen § 199 AktG.407) C.

Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

I.

Zuständigkeit innerhalb der Gesellschaft

Krenek

Im Innenverhältnis der Gesellschaft ist für die Verfolgung von Ansprüchen gegen 192 die Mitglieder des Vorstands der Aufsichtsrat gemäß § 112 AktG gerichtlich wie außergerichtlich zuständig. Neben dem Wortlaut der Vorschrift spricht hierfür vor allem auch der Normzweck; es gehört nämlich zu den vergangenheitsbezogenen Kontroll- und Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrats, Ersatzansprüche gegen amtierende und ausgeschiedene Vorstandsmitglieder zu prüfen und über die Anspruchsverfolgung zu entscheiden. Auch soll eine unvoreingenommene Vertretung der Gesellschaft sichergestellt werden, die von möglichen Interessenkollisionen und darauf beruhenden sachfremden Erwägungen unbeeinflusst ist und sachdienliche Gesellschaftsbelange wahrt. Im Interesse der Rechtssicherheit ist hierbei eine typisierende Betrachtungsweise geboten.408) Soweit es um die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder wegen der Verletzung 193 ihrer Aufsichts- und Überwachungspflichten und eine entsprechende Schadenersatzpflicht nach §§ 116 Satz 1, 93 AktG geht, wird die Gesellschaft dagegen vom Vorstand vertreten.409) II.

Darlegungs- und Beweislast

Die Darlegungs- und Beweislast zu den einzelnen Tatbestandmerkmalen einer 194 Inanspruchnahme des Vorstands aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG (Vorstandseigenschaft, Pflichtverletzung, Schaden, Kausalität) folgt mit einer – wenn auch ganz zentralen – Ausnahme den allgemeinen Beweislastregelungen, wonach jede Seite die ihr günstigen Voraussetzungen darlegen und im Bestreitensfalle beweisen muss. ___________ 406) Koch, § 93 Rz. 152; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 58; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 93 Rz. 133. 407) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 338; Koch, § 93 Rz. 152; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 93 Rz. 58. 408) So die ganz h. M.; vgl. nur BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (885); OLG Saarbrücken, Urt. v. 11.10.2012, ZIP 2012, 2205 (2206) für den Fall der Inanspruchnahme der Witwe eines Vorstandmitglieds; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 602; BeckOGK-AktG/Fleischer, AktG, § 93 Rz. 354. 409) Vgl. BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 153.

Krenek

283

§ 2 Haftung des Vorstands

1.

Vorstandseigenschaft

195 Hinsichtlich der Vorstandseigenschaft der in Anspruch genommenen Person besteht keinerlei Zweifel, dass die Gesellschaft hierfür darlegungs- und beweispflichtig ist, wobei dies auch dann gilt, wenn es um die Haftung eines fehlerhaft bestellten Vorstandsmitglieds geht (Æ Rz. 7); hier muss die Gesellschaft darlegen, dass die Organstellung in Vollzug gesetzt wurde.410) 2.

Pflichtwidrigkeit des Vorstandshandelns

196 Für eine der zentralen Tatbestandsvoraussetzungen enthält § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG eine bedeutsame Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast, wonach der Gläubiger die ihm günstigen Anspruchsvoraussetzungen darlegen und im Bestreitensfalle beweisen muss. Nach dieser Vorschrift dagegen trifft die Beweislast die Vorstandsmitglieder, wenn streitig ist, ob sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers angewandt haben. 197 Hinter dieser Anordnung des Gesetzgebers steht der Grundgedanke, dass das jeweilige Organmitglied die Umstände seines Verhaltens und damit auch die Gesichtspunkte überschauen kann, die für die Beurteilung der Pflichtmäßigkeit seines Verhaltens sprechen, während die von ihm verwaltete juristische Person in diesem Punkt stets in einer Beweisnot wäre. Demgemäß trifft die Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast in Richtung auf das Verhalten des Vorstands dahin, dass sie ein Verhalten des Geschäftsleiters aus dessen Pflichtenkreis darlegen und ggf. beweisen muss, das als pflichtwidrig überhaupt in Betracht kommt, also insofern als „möglicherweise“ pflichtwidrig in Betracht kommt.411) 198 Allerdings darf dies nicht uferlos ausgedehnt werden und nicht in dem Sinn verstanden werden, dass jedes Handeln im Pflichtenkreis des Organmitglieds „möglicherweise“ pflichtwidrig sei. Sie ist dahingehend zu konkretisieren, dass nicht irgendein Verhalten des Vorstandsmitglieds genügt; vielmehr muss die ___________ 410) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 430. 411) Grundlegend BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (283 f.) = ZIP 2002, 2314 (2315 f.) (GmbH); ebenso BGH, Urt. v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766, Rz. 17; BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, ZIP 2013, 1712 (1714), Rz. 22; OLG Nürnberg, Beschl. v. 28.10.2014 – 12 U 567/13, ZIP 2015, 430; OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386; OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472 (2474); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); Koch, § 93 Rz. 104; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 41; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 435; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 140; Mehrbrey/Witte/ Gossen, § 9 Rz. 71; Seyfarth, § 23 Rz. 40; Goette, ZGR 1995, 648 ff. unter ausführlicher Darstellung der Rechtsprechung des RG wie auch des BGH; a. A. und sehr kritisch zur Begründung namentlich des BGH Wach, in: Festschrift Schütze, S. 663 ff., der wie bei § 280 Abs. 1 BGB § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG nur auf den subjektiven Tatbestand angewandt wissen will; Kindler, in: Festschrift Goette, S. 231 (234 f.).

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C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

Gesellschaft auch Umstände darlegen und beweisen, woraus sich zumindest der Anschein ergibt, dass das dem Vorstandsmitglied zur Last gelegte Verhalten pflichtwidrig sein könnte. Anderenfalls würde sich die Darlegungs- und Beweislast in einer mit der gesetzlichen Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG schwer in Einklang zu bringenden Weise zu Lasten des Vorstandsmitglieds verschieben. Es bestünde damit die Gefahr, dass Vorstandsmitglieder auch ohne greifbare Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Verhalten willkürlich im Nachhinein in Anspruch genommen werden könnten. Es würden zu Lasten des Vorstandsmitglieds auch für Fälle wertneutralen Verhaltens umfangreiche Anforderungen an dessen Entlastung gestellt werden, die es in vielen Fällen im Nachhinein nicht erfüllen kann. Im Ergebnis liefe dies auf eine die Tragweite dieser Beweislastregelung überschreitende – widerlegbare – Erfolgshaftung des Vorstandsmitglieds hinaus.412) Gelingt der Gesellschaft die Darlegung oder ggf. der Beweis eines möglicher- 199 weise objektiv pflichtwidrigen Verhaltens des Vorstandmitglieds, dann muss dieses darlegen und beweisen, dass sein Verhalten weder objektiv noch subjektiv vorwerfbar war, er sich also objektiv pflichtgemäß verhalten hat oder ihn jedenfalls kein Verschuldensvorwurf trifft; es wird also nicht zwischen objektiver Pflichtwidrigkeit (Rechtswidrigkeit) und subjektiver Pflichtwidrigkeit (Schuld) unterschieden.413) Soweit es um die Voraussetzungen der Business Judgement Rule nach § 93 200 Abs. 1 Satz 2 AktG geht, ist umstritten, inwieweit diese Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast auch hier zum Tragen kommen. Eine Mindermeinung414) vertritt auch unter Hinweis auf die Herkunft der Business Judgement Rule aus dem amerikanischen Rechtskreis und den Normzweck der Regelungen im UMAG die Auffassung, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen unternehmerischer Organverantwortung der Verwaltung und Aktionärsklage herzustellen lasse es als unabweisbar erscheinen, die Darlegungs- und Beweislast für die Ausschlusstatbestände der Business Judgement Rule der Gesellschaft aufzuerlegen; auch soll eine Vermutung dafür sprechen, die Vorstandsmitglieder dürften bei einer unternehmerischen Entscheidung annehmen, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, weshalb sie nur eine sekundäre Darlegungslast treffe. ___________ 412) So ausdrücklich OLG Nürnberg, Beschl. v. 28.10.2014 – 12 U 567/13, ZIP 2015, 430 f. für den Fall einer an sich wertneutralen Reisekostenabrechnung, wobei der Anlass für die Dienstreise vom Aufsichtsrat gebilligt wurde (Expansion des Unternehmens nach Fernost) mit krit. Anm. L. Bauer, NZG 2015, 549 (550); Koch, § 93 Rz. 105; Bachmann, BB 2015, 771 (774 f.). 413) So ausdrücklich OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 (2387). 414) Vgl. Paefgen, AG 2004, 245 (258); Paefgen, NZG 2009, 891 (892 ff.); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 93 Rz. 439.

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§ 2 Haftung des Vorstands

201 Dieser Ansicht kann indes mit der h. M.415) nicht gefolgt werden; die Grundsätze des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG gelten auch im Anwendungsbereich der Business Judgement Rule. Hierfür sprechen bereits der Wortlaut sowie der Gesamtzusammenhang der Norm, nachdem gerade nicht zwischen den einzelnen Pflichtverletzungen differenziert wird. Auch die Entstehungsgeschichte spricht für diese Auffassung. Die Begründung des Regierungsentwurfs, die sich der Deutsche Bundestag letztlich zu eigen gemacht hat, weist gesetzessystematisch darauf hin, dass der Haftungsfreiraum von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Ausnahme und Einschränkung gegenüber Satz 1 formuliert ist, weshalb die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale bei dem jeweiligen Organmitglied liege.416) Hiermit wird dem Vorstandsmitglied auch keine unüberwindbare Hürde auferlegt, wenn er die der unternehmerischen Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen hinreichend dokumentiert.417) Der Hinweis auf die Herkunft aus dem anglo-amerikanischen Recht mit prozessualen Wurzeln vermag nicht zu überzeugen, weil auch bei deren Verankerung der Gesetzgeber Grundstrukturen des amerikanischen Verfahrensrechts zur Vermeidung von Brüchen mit dem deutschen Prozessrecht nicht mit übernehmen wollte. 202 Ebenso wenig besteht Anlass für eine andere Verteilung der Darlegungs- und Beweislast als in § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG vorgesehen im Bereich von sozialen Aufwendungen wie Spenden. Da der Vorstand hier ein weites unternehmerisches Ermessen hat (Æ § 1 Rz. 268) und auch die Motive seines Handelns offenlegen kann, ist kein Grund erkennbar, hier andere Grundsätze anzuwenden.418) 3.

Schaden

203 Hinsichtlich der Entstehung eines Schadens gelten dagegen uneingeschränkt die allgemeinen Grundsätze, so dass die Gesellschaft darlegen und beweisen muss, dass ihr ein Schaden entstanden ist. Für das Beweismaß finden jedoch insoweit nicht die strengen Voraussetzungen des § 286 ZPO Anwendung, son___________ 415) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (286 ff.) = ZIP 2002, 2314 (2316) (GmbH); Urt. v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766, Rz. 19 ff. (implizit); Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455, Rz. 14; Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, ZIP 2013, 1712, Rz. 28; OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472 (2474); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 41; Koch, § 93 Rz. 106; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 205; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 141; Seyfarth, § 23 Rz. 42; Seibert/ Schütze, ZIP 2004, 252 (253); Spindler, NZG 2005, 865 (872); L. Bauer, NZG 2015, 549 (550); im Grundsatz auch Fest, NZG 2011, 540 ff., der indes für eine gestufte Darlegungs- und Beweislast zwischen Vorstandsmitglied und Gesellschaft eintritt. 416) Vgl. Begründung Regierungsentwurf UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 417) Wie hier Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 41; L. Bauer, NZG 2015, 549 (551). 418) Ebenso Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 43; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 277; Koch, § 93 Rz. 107; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 209; zweifelnd auch Bürgers/ Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 28.

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C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

dern diejenigen des § 287 ZPO, der auch die Substantiierungslast der klagenden Partei erleichtert; danach genügt es, dass sie Tatsachen vorträgt und unter Beweis stellt, die für eine Schadensschätzung nach § 287 hinreichende Anhaltspunkte bieten.419) Will sich das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied mit den Grundsätzen 204 des rechtmäßigen Alternativverhaltens verteidigen, so muss es wiederum darlegen und beweisen, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, weil es sich dabei um einen günstigen Umstand handelt und die allgemeinen Grundsätze hier eingreifen.420) 4.

Kausalität

Den erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und 205 dem Schaden muss die Gesellschaft darlegen und beweisen, wobei ihr allerdings die Erleichterungen des § 287 ZPO zugutekommen. Unter diese Vorschrift fällt nämlich auch die Beurteilung der Frage, ob und inwieweit der Gesellschaft durch das dem Beklagten vorgeworfene Verhalten ein Schaden entstanden ist. Bei einem auf § 93 Abs. 2 AktG gestützten Schadensersatzanspruch, bei dem es sich um einen kraft Gesetzes bestehenden Anspruch handelt,421) gehört aber wie bei einem Schadensersatzanspruch aus Vertragsverletzung der Ursachenzusammenhang mit einem daraus erwachsenen allgemeinen Vermögensschaden nicht zur haftungsbegründenden, sondern zur haftungsausfüllenden Kausalität, für deren Nachweis gleichfalls die in § 287 ZPO vorgesehenen Erleichterungen gelten.422) III.

Besonderheiten

1.

Ausgeschiedene Vorstandsmitglieder

Keine Einigkeit besteht, inwieweit die Grundsätze zur Darlegungs- und Be- 206 weislast hinsichtlich der Pflichtverletzung gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auch ___________ 419) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (287) = ZIP 2002, 2314 (2316) (GmbH); insbesondere auch zu § 287 ZPO; BGH, Urt. v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766, Rz. 17; BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, ZIP 2013, 1712, Rz. 22; OLG München, Urt. v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, ZIP 2015, 2472 (2474); MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 208; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 27; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 275. 420) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455, Rz. 14; BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, ZIP 2013, 1712, Rz. 22; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 441; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 71. 421) Zur Rechtsnatur vgl. LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (577); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 11. 422) BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (287) = ZIP 2002, 2314 (2316) (GmbH); BGH, Beschl. v. 18.2.2008 – II ZR 62/07, ZIP 2008, 736 Rz. 8; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (577); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 275; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 440; Bayer, in: Festschrift K. Schmidt, S. 85 (98).

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§ 2 Haftung des Vorstands

auf ausgeschiedene Vorstandsmitglieder Anwendung finden können. Teilweise wird namentlich in der Literatur423) die Ansicht vertreten, diese Norm dürfe auf ausgeschiedene Vorstandsmitglieder keine Anwendung finden; die Vorschrift des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG müsse insoweit einer teleologischen Reduktion zugeführt werden. 207 Dem kann nicht gefolgt werden; vielmehr ist mit der h. M.424) in Rechtsprechung und Literatur davon auszugehen, dass die Vorschrift des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auch auf ausgeschiedene Vorstandsmitglieder Anwendung findet. Eine teleologische Reduktion, die voraussetzen würde, dass der Normzweck weiter reicht als der Wortlaut, ist indes nicht gerechtfertigt, weil Beweisschwierigkeiten des ausgeschiedenen Organmitglieds, das keinen unmittelbaren Zugriff mehr auf Geschäftsunterlagen hat, mit Mitteln des geltenden Rechts begegnet werden kann. Es ist dabei nämlich zu berücksichtigen, dass auch dem ausgeschiedenen Vorstandsmitglied aufgrund der Vorschrift des § 810 BGB ein Anspruch auf Einsicht in die Geschäftsunterlagen hat, die es zu seiner Verteidigung gegen eine Inanspruchnahme benötigt; hinzu kommt ein zumindest aus der nachwirkenden Treuepflicht abzuleitender Auskunftsanspruch des ausgeschiedenen Vorstandsmitglieds (Æ § 1 Rz. 507).425) Für das Bestehen des Anspruchs aus § 810 BGB muss es genügen, dass die Unterlagen in einem Zusammenhang mit dem Vorwurf stehen, der gegen das Vorstandsmitglied gerichtet ist; insoweit wird ein großzügiger Maßstab anzulegen sein, der indes nicht zu einer Ausforschung der Gesellschaft führen darf. Erforderlich, aber auch ausreichend ist das Bestehen eines Sachzusammenhangs im weitesten Sinne einer Zugehörigkeit zu dem betroffenen Lebenssachverhalt, aus dem die Gesellschaft ihre Ansprüche ableitet.426) Nicht umfasst von dem Anspruch sind aller___________ 423) So vor allem Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 448; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 29; Hopt, ZIP 2013, 1793 (1803); Bachmann, ZIP 2014, 579 (582); in diese Richtung auch Grooterhorst, AG 2011, 389 (392). 424) Vgl. BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (285) = ZIP 2002, 2314 (2316) (GmbH); OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 (2387); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 279; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 44; Koch, § 93 Rz. 108 f.; Heidel/U. Schmidt, § 93 Rz. 110 und 114; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 72; Seyfarth, § 23 Rz. 43; Krieger, in: Festschrift Schneider, S. 717 (719); Paefgen, AG 2014, 554 (566). 425) Vgl. BGH, Urt. v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 (285) = ZIP 2002, 2314 (2316) (GmbH); BGH, Beschl. v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, ZIP 2008, 1821 (1822); OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, ZIP 2009, 2386 (2387); LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HKO 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 212; Koch, § 93 Rz. 110; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 147; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 72; Seyfarth, § 23 Rz. 46; Paefgen, AG 2014, 554 (566); Ruchatz, AG 2015, 1 (2); Freund, NZG 2015, 1419 (1421); vertiefend vor allem Krieger, in: Festschrift Schneider, S. 717 (722 ff.). 426) Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 212; Freund, NZG 2015, 1419 (1421); Deilmann/ Otte, BB 2011, 1291 (1293); enger Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 44.

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C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

dings Unterlagen, die die AG erstellen ließ, um den Sachverhalt aufzuklären, weil anderenfalls der Grundsatz verletzt würde, dass keine Partei gehalten ist, dem Gegner das Material für das Obsiegen im Prozess zu verschaffen.427) Im Rechtsstreit selbst bestehen zudem die zivilprozessualen Vorlageverpflichtun- 208 gen hinsichtlich entsprechender Urkunden, die sich aus §§ 142 Abs. 1, 143, 273 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 5 ZPO oder auch § 258 HGB (speziell hinsichtlich der Handelsbücher) ergeben; daneben gelten weiterhin die Vorlagepflichten aus §§ 422, 423 ZPO, die indes – im Gegensatz insbesondere zu § 142 Abs. 1 ZPO und 258 Abs. 1 HGB428) – das Bestehen einer Vorlegungspflicht nach bürgerlichem Recht voraussetzen. Kommt die Gesellschaft dem Anspruch auf Einsicht und Auskunft nicht nach, 209 müssen die Grundsätze der sekundären Darlegungs- und Beweislast zur Anwendung gelangen. Diese greifen nämlich immer dann ein, wenn die primär darlegungsbelastete Partei keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung hat, während dem Prozessgegner nähere Angaben dazu ohne weiteres möglich und zumutbar sind; eine Beweislastumkehr ist damit nicht verbunden. Erfolgt eine substantiierte Erwiderung, so trifft dann den Behauptenden, also das ehemalige Vorstandsmitglied, die volle Beweislast für die fehlende Pflichtverletzung. Bei Nichterfüllung gilt dagegen der Vortrag des primär darlegungspflichtigen Vorstandsmitglieds ungeachtet der Mängel im Vortrag als zugestanden.429) Des Rückgriffs auf die Grundsätze der Beweislastvereitelung bedarf es mithin nicht.430) 2.

Rechtsnachfolger

Gegenüber dem (Gesamt-)Rechtsnachfolger des Vorstandsmitglieds – in erster 210 Linie wohl dessen Erben – kann dagegen mit der h. M.431) nicht von der Geltung der Regelung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG ausgegangen werden. Zur Begründung wird zutreffend darauf hingewiesen, dass der Normzweck der größeren Sachnähe auf den Rechtsnachfolger gerade nicht zutreffe, weshalb insoweit eine teleologische Reduktion dieser Norm notwendig ist. Dem kann hier auch ___________ 427) Hierzu eingehend Krieger, in: Festschrift Schneider, S. 717 (727 f.); auch Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 44; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 212; Seyfarth, § 23 Rz. 48; Ruchatz, AG 2015, 1 (2 f.); Deilmann/Otte, BB 2011, 1291 (1293). 428) Vgl. Baumbach/Hopt/Merkt, § 258 Rz. 2. 429) Speziell zu § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 212; Krieger, in: Festschrift Schneider, S. 717 (721); allgemein zu diesen in st. Rspr. angewandten Grundsätzen z. B. BGH, Urt. v. 8.1.2014 – I ZR 169/12, NJW 2014, 2360 (2361); Zöller/ Greger, § 138 Rz. 8b und Vor § 284 Rz. 34. 430) Für deren Anwendung indes Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 44. 431) Vgl. nur Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 447; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 212; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 146; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 279; Heidel/U. Schmidt, § 93 Rz. 110; Paefgen, AG 2014, 554 (566).

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§ 2 Haftung des Vorstands

nicht der Gedanke des Einsichts- und Auskunftsanspruchs entgegengehalten werden, weil der Rechtsnachfolger gerade keinerlei Kenntnisse darüber hat, welche Unterlagen in der Gesellschaft vorhanden sein können, die ihm die Rechtsverteidigung ermöglichen. 3.

Regressprozess

211 Wenn eines von mehreren Organmitgliedern erfolgreich auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, besteht aufgrund der Anordnung einer gesamtschuldnerischen Haftung i. S. d. §§ 421 ff. BGB in § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG ohne Rücksicht auf den jeweiligen Verschuldensbeitrag die Möglichkeit des Regresses aufgrund der Anordnung des Innenausgleichs in § 426 BGB (Æ Rz. 148 ff.). Die Anwendbarkeit von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG in diesem Regressprozess der Organmitglieder untereinander ist umstritten. Teilweise wird die Ansicht vertreten, das Argument der größeren Sachnähe komme hier nicht zum Tragen, weshalb die Vorschrift keine Anwendung finden dürfe.432) Die besseren Gründe sprechen indes für die Gegenansicht zur Anwendbarkeit von § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auch im Regressprozess. Die Haftungslage eines auf Regress in Anspruch genommenen Vorstandmitglieds kann sich nicht günstiger darstellen als die des in Anspruch genommen Mitglieds.433) Hierfür spricht auch der Gedanke des § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB, nach dem die Gläubigerforderung durch Erfüllung gemäß §§ 362 Abs. 1, 422 Abs. 1 BGB nicht erlischt, sondern für den Zweck des Rückgriffs erhalten bleibt434) – dann aber macht das Regress fordernde Vorstandsmitglied die Forderung der Gesellschaft geltend, was es rechtfertigt, auch die Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast anzuwenden. 4.

Sondertatbestände des § 93 Abs. 3 AktG

212 Die Vorschrift des § 93 Abs. 3 AktG (Æ Rz. 186 ff.) betrifft Fälle, in denen es um eine gesetz- und damit auch pflichtwidrige Minderung des Gesellschaftsvermögens geht, die keinen eigenständigen Haftungstatbestand beinhaltet, sondern auf die Vorschriften des § 93 Abs. 1 und Abs. 2 AktG zurückweist und damit auch keinen eigenständigen Schadensersatzanspruch normiert.435) Demgemäß müssen für die Voraussetzungen der Haftung dem Grunde nach die allgemeinen Erwägungen zu § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auch hier gelten. ___________ 432) So Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 467 f.; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 31. 433) So KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 50. 434) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.1988 – V ZR 183/86, ZIP 1988, 899 (901); Palandt/Grüneberg, § 426 Rz. 16. 435) Vgl. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 125; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 251; Koch, § 93 Rz. 149; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 317; ablehnend zu der Einordnung als Schadensersatzanspruch dagegen Habersack/Schürnbrand, WM 2005, 957 (958 ff.), die von einem verschuldensunabhängigen Folgenbeseitigungsanspruch eigener Art ausgehen.

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C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

Beim Schaden sind indes die Besonderheiten dieser Vorschrift auch bei der 213 Darlegungs- und Beweislast zu beachten. Hier wird nämlich das Entstehen eines Schadens der Gesellschaft vermutet, wobei die Gesellschaft hierzu indes vortragen muss, an wen in welcher Höhe bestimmte Zahlungen geflossen sind, damit die Vermutung des Schadens zum Tragen kommen kann. Dann muss das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied darlegen und ggf. beweisen, dass der Gesellschaft kein Schaden entstanden ist.436) Dazu genügt es allerdings nicht, dass ein Rückzahlungsanspruch gegen die Gesellschaft besteht; der in Anspruch genommene Vorstand muss vielmehr darlegen und beweisen, dass die Mittel tatsächlich wieder an die Gesellschaft zurückgeflossen sind, um einen Schaden zu verneinen.437) Indes bezieht sich diese Vermutung nur auf die infolge der pflichtwidrigen 214 Zahlung abgeflossenen oder vorenthaltenen Mittel. Die Darlegungs- und Beweislast für weitergehende Schäden bemisst sich nach den dargestellten Grundsätzen, weshalb diese unter Beachtung der Erleichterungen des § 287 ZPO von der Gesellschaft dargelegt und ggf. bewiesen werden müssen.438) 5.

Sonderfall § 93 Abs. 5 AktG

Aufgrund von § 93 Abs. 5 Satz 1 AktG können auch Gläubiger der Gesell- 215 schaft den Ersatzanspruch geltend machen, soweit sie von dieser keine Befriedigung erlangen können (Æ Rz. 161 ff.). § 93 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 AktG begrenzt die Haftung des Vorstandsmitglieds in anderen Fällen als denen des § 93 Abs. 3 AktG auf eine gröbliche Verletzung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters. In § 93 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 AktG wird sodann auf die sinngemäße Geltung der Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG verwiesen. Demgemäß bleibt es bei den allgemeinen Grundsätzen, wie sie dargestellt wurden. Eine Besonderheit gilt indes dann, wenn die Klage nicht auf die Verletzung eines nach § 93 Abs. 3 AktG qualifizierten Tatbestandes gestützt wird – dann muss das Vorstandsmitglied nur darlegen und beweisen, dass es die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht gröblich verletzt hat.439) ___________ 436) Nahezu allg. M., vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, AG 2010, 133 Ls. 2; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 343, 442; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 57; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 145; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 41; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 252; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 73, 125. 437) Vgl. Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 42; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 57; speziell zu § 93 Abs. 3 Nr. 3 und Nr. 4 AktG MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 252; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 125. 438) Vgl. nur Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 443; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 41; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 263; Heidel/U. Schmidt, § 93 Rz. 124; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 126; Seyfarth, § 23 Rz. 17. 439) So ausdrücklich MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 313; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 70.

Krenek

291

§ 2 Haftung des Vorstands

IV.

Haftung des Aufsichtsrates

216 Die soeben dargestellten Erwägungen gelten in gleicher Weise für die Haftung von amtierenden wie ehemaligen Mitgliedern des Aufsichtsrats (Æ § 4), nachdem § 116 AktG umfassend auf die Vorschrift des § 93 AktG verweist. V.

Gerichtliche Zuständigkeiten

1.

Sachliche und örtliche Zuständigkeit

217 Eine Zuständigkeit der Arbeitsgerichte kann nicht angenommen werden, weil das Vorstandsmitglied aufgrund von § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG kein Arbeitnehmer ist.440) Dies gilt auch für Arbeitnehmervertreter in mitbestimmten Aufsichtsräten; auch insoweit ist die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte nicht eröffnet.441) Demgemäß gelten für die sachliche und örtliche Zuständigkeit die allgemeinen Vorschriften der ZPO und des GVG. Dies bedeutet, dass die sachliche Zuständigkeit gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG streitwertabhängig ist. Da die Grenze indes bei € 5.000,- liegt, wird faktisch nahezu stets die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet sein. 218 Die örtliche Zuständigkeit bemisst sich nach § 12 ff. ZPO. Neben dem Wohnsitz des beklagten Vorstandsmitglieds gemäß §§ 12, 13 ZPO als allgemeiner Gerichtsstand kommt vor allem der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsorts aus § 29 Abs. 1 ZPO in Betracht. Dies ist der Sitz der Gesellschaft, weil die Vorstandsmitglieder ihre organschaftlichen Pflichten regelmäßig dort zu erfüllen haben und es sich bei dem Anspruch aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG um einen gesetzlichen Anspruch handelt, der in der Organstellung wurzelt.442) Für den Anspruch aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG lässt sich angesichts seiner Rechtsnatur der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung des § 32 ZPO nicht begründen; bei einer auf Delikt gestützten Klage kann indes das Gericht der unerlaubten Handlung auch den Anspruch aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG prüfen und entscheiden.443) 2.

Funktionelle Zuständigkeit

219 Beim Landgericht ist die funktionelle Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen aufgrund von § 95 Abs. 1 Nr. 4 a GVG zu bejahen, wobei vor ihr verhandelt wird, wenn die Gesellschaft dies in ihrer Klageschrift gemäß § 96 Abs. 1 ___________ 440) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 602; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 382; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 9. 441) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 602; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 9. 442) Vgl. zur Zuständigkeit BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 382; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 93 Rz. 603; Heidel/U. Schmidt, § 93 Rz. 198; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 373; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 61; zum Wesen der Haftung vgl. Seyfarth, § 23 Rz. 1. 443) So KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 9; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 374; allgemein zur Prüfungskompetenz des Gerichts am Gerichtsstand der unerlaubten Handlung BGH, Urt. v. 10.12.2002 – X ARZ 208/02, ZIP 2003, 1860 (1861 ff.).

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C. Prozessuale Fragen bei der Organhaftung

GVG beantragt oder der Beklagte gemäß § 98 Abs. 1 GVG einen entsprechenden Verweisungsantrag von der Zivilkammer an die Kammer für Handelssachen stellt. 3.

Internationale Zuständigkeit

Bei der internationalen Zuständigkeit sind vorab staatsvertragliche Regelungen 220 zu untersuchen, wobei in erster Linie die Zuständigkeit nach dem EuGVVO oder dem LugÜ maßgeblich sind. Maßgeblich ist dabei in erster Linie nach Art. 4 Abs. 1 EuGVVO bzw. Art. 2 Abs. 1 LugÜ der Wohnsitz des Beklagten; danach sind nämlich Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen. Daneben besteht auch die Möglichkeit des Gerichtsstandes aufgrund von 221 Art. 7 Nr. 2 EuGVVO bzw. Art. 5 Nr. 3 LugÜ, wonach eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden kann, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Der autonom auszulegende Begriff der unerlaubten Handlung soll einen Gerichtsstand für außervertragliche Rechtsverletzungen schaffen und umfasst daher auch Ansprüche wegen Vorstands- und Aufsichtsratshaftung.444) Die ratio legis dieser Zuständigkeitsvorschriften ist in dem Grundsatz zu sehen, dass dort, wo Unrecht geschieht, Abhilfe begehrt werden kann. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO und Art. 5 Nr. 3 LugÜ wollen den Gerichtsstand insgesamt für außervertragliche Rechtsbeziehungen schaffen. Angesichts der systematischen Einordnung von § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG in das System bestehender Schadensersatzansprüche ist der Anwendungsbereich dieser beiden Zuständigkeitsnormen eröffnet. Die Haftung des Vorstandsmitgliedes besteht kraft Gesetzes und beruht auf seiner Organstellung und gerade nicht auf dem Anstellungsvertrag (Æ Rz. 14).445) Ohne vorrangige staatsvertragliche Regelungen bleibt es bei dem allgemeinen 222 Grundsatz, wonach die internationale Zuständigkeit der örtlichen folgt.446) ___________ 444) So OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.12.2009 – 13 U 102/09, ZIP 2010, 2123 (2124) (GmbH); LG München I, Urt. v. 26.3.2015 – 11620/14; Zöller/Geimer, Art. 7 EuGVVO Rz. 55; Riewe, NZI 2010, 291; auch KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 377. 445) So die zutreffende h. M.; vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 11; Koch, § 93 Rz. 36; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 20 und 452; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 220; in diese Richtung erkennbar auch Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 17; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 2; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 59. 446) So die h. M.; vgl. nur BGH, Urt. vom 2.3.2010 – VI ZR 23/09, NJW 2010, 1752; BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 176/10, ZIP 2011, 2123 (2124); Thomas/Putzo/Hüßtege, § 1 Vorbem. Rz. 6.

Krenek

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§ 2 Haftung des Vorstands

4.

Schiedsgerichtsbarkeit?

223 Für die Haftung aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG können nach heute ganz überwiegend vertretener Auffassung Schiedsabreden getroffen werden, weshalb diese auch in einem Schiedsgerichtsverfahren durchgesetzt werden können.447) Für den Fall, dass ein Schiedsspruch einvernehmlich festgestellt werden soll, wodurch sich aber aufgrund der Vorschrift des § 1053 Abs. 2 Satz 1 ZPO nichts am Charakter als Schiedsspruch ändert,448) stellt sich die Frage der Konsequenzen von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG über die zeitliche Sperre eines Vergleichs über Ersatzansprüche aus § 93 Abs. 2 AktG und den Zustimmungsvorbehalt der Hauptversammlung (Æ Rz. 128 ff.). Dabei muss davon ausgegangen werden, dass es nicht möglich sein kann, durch einen einvernehmlich herbeigeführten Schiedsspruch die Vorgaben des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu umgehen. Konstruktiv wird dies entweder über den Gedanken hergeleitet, dass ein einvernehmlicher Schiedsspruch stets dann unzulässig ist, wenn den Parteien die materielle Vergleichsbefugnis fehlt449), oder es wird ein Verstoß gegen den ordre public i. S. d. § 1053 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 ZPO angenommen.450) D.

Außenhaftung

I.

Haftung gegenüber Aktionären

Illert/Meyer

224 Die als Innenhaftung konzipierte Vorstandsverantwortlichkeit aus § 93 Abs. 2 und 3 AktG (Æ Rz. 1) stellt grundsätzlich keine Anspruchsgrundlage für Aktionäre dar; sie ist auch kein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB.451) 225 Ein Vorstandsmitglied kann Aktionären aber nach allgemeinen Grundsätzen für eine unerlaubte Handlung nach den §§ 823 ff. BGB haften. In diesem Fall können Aktionäre zum einen unmittelbar gegen das pflichtvergessene Vorstandsmitglied vorgehen. Zum anderen kommt auch eine Ersatzpflicht der Gesellschaft in Betracht, soweit ihr die Handlung des Vorstandsmitglieds nach § 31 BGB zurechenbar ist (Æ § 1 Rz. 223). 226 Insbesondere können sich Aktionäre neben den für jedermann geltenden Rechten und Rechtsgütern des § 823 Abs. 1 BGB (Æ Rz. 234 ff.) grundsätzlich auf ___________ 447) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 602; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 383; Seyfarth, § 22 Rz. 26 und § 23 Rz. 115; Leuering, NJW 2014, 657 ff.; im Grundsatz auch Scholz/Weiß, AG 2015, 523 (524), dort vor allem auch ausführlich zur Problematik eines Schiedsspruchs mit vereinbartem Wortlaut und dessen Verhältnis zu § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG. 448) Vgl. Zöller/Geimer, § 1053 Rz. 6; Scholz/Weiß, AG 2015, 523 (524). 449) So Musielak/Voit/Voit, § 1053 Rz. 1 und 4 m. w. N. 450) So Scholz/Weiß, AG 2015, 523 (525 ff.). 451) BGH, Urt. v. 18.6.2014 – I ZR 242/12, BGHZ 194, 26 (34 f.) = ZIP 2014, 1475 (1477), Rz. 23 (GmbH); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 384 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 207; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 51.

294

Illert/Meyer

D. Außenhaftung

ihr Mitgliedschaftsrecht als sonstiges Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB berufen.452) Praktisch hat dies jedoch nur geringe Bedeutung, da allein das Vorliegen einer pflichtwidrigen Geschäftsführungsmaßnahme nach h. M. noch keine Verletzung des Mitgliedschaftsrechts begründen soll.453) Auf § 823 Abs. 2 BGB können Aktionäre Schadensersatzansprüche stützen, 227 soweit das Vorstandmitglied ein Schutzgesetz verletzt, welches gerade (auch) ihren Schutz bezweckt. Solche Schutzgesetze zugunsten von Aktionären sind z. B. § 399 AktG454) und § 400 AktG455). Als Schutzgesetze zugunsten der Aktionäre kommen ferner § 399 HGB, § 400 HGB, § 404 HGB, § 405 Abs. 1 HGB, § 331 HGB sowie §§ 263, 264a StGB in Betracht.456) Hinsichtlich § 92 Abs. 1 AktG457) (Æ § 12 Rz. 23 f.) und § 266 StGB458) (Æ § 21 Rz. 2 ff.) ist dies nach h. M. ebenfalls der Fall; letzteres gilt allerdings nur insoweit, wie der Aktionär bereits zum Zeitpunkt der schädigenden Handlung bzw. des Schadenseintritts Aktionär war.459) § 15a InsO (Æ § 12 Rz. 25 ff.) als Regelung zur Insolvenzantragspflicht ist hingegen jedenfalls gegenüber den Aktionären der AG kein Schutzgesetz.460) Gleiches gilt für § 92 Abs. 2 AktG a. F./§ 15b InsO (Æ § 12 Rz. 112 ff.).461) Auch in Bezug auf kapitalmarktrechtliche Vorschriften wie z. B. § 20a WpHG a. F. (Art. 12, 15 MAR; Æ § 10 Rz. 89 ff.) und §§ 31 ff. ___________ 452) BGH, Urt. v. 12.3.1990 – II ZR 179/89, BGHZ 110, 323 (327 f.) = ZIP 1990, 1067 (Verein); RG, Urt. v. 26.11.1920 – VII 286/20, RGZ 100, 274 (278) (GmbH); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 93 Rz. 210; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 52. 453) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 626 ff.; Koch, § 93 Rz. 140; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 79; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 52; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1553; a. A. bezüglich der Verletzung konkreter mitgliedschaftlicher Rechte KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 210 ff. 454) BGH, Urt. v. 26.9.2005 – II ZR 380/03, ZIP 2005, 2012 (2014) (zu § 399 Abs. 1 Nr. 4 AktG); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 80; MünchHdb GesR IV/Kraft/HoffmannBecking, § 26 Rz. 51. 455) BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 (97) = ZIP 2012, 318 (319), Rz. 18; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 630; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 80. 456) Zu einigen der genannten Paragraphen Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 368 m. w. N. 457) Dafür: BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 17; MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 21; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 51; a. A. KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 92 Rz. 21, Koch, § 92 Rz. 11 und § 93 Rz. 134; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1552. 458) Bejahend die h. M.: BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (31) = ZIP 2012, 1552 (1553), Rz. 13; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 399; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers, § 93 Rz. 55; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 368; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 93 Rz. 225; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 51; a. A. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 633; Koch, § 93 Rz. 135; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 80; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 346. 459) Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1552. 460) Koch, § 93 Rz. 135; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 344. 461) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 80; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 209; Ihrig/ Schäfer, § 38 Rz. 1552.

Illert/Meyer

295

§ 2 Haftung des Vorstands

WpHG a. F. (§§ 63 ff. WpHG) lehnt die Rechtsprechung den Schutzgesetzcharakter bislang weitgehend ab.462) 228 Bei Vorliegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch Vorstandsmitglieder können Aktionäre diese auch aus § 826 BGB in Anspruch nehmen.463) Bedeutung hatte § 826 BGB ursprünglich bei der Verletzung von Adhoc-Veröffentlichungspflichten erlangt; heute hat dies im Lichte der kapitalmarktrechtlichen Sonderhaftungstatbestände gemäß §§ 97, 98 WpHG nur noch geringe praktische Bedeutung (Æ § 10 Rz. 36 ff.). 229 Vorstandsmitglieder können Aktionären ferner aus § 117 Abs. 2 AktG zum Schadensersatz verpflichtet sein. Ausgangspunkt dafür ist die Haftung eines Einflussnehmers gegenüber der Gesellschaft und deren Aktionären, wenn dieser vorsätzlich unter Benutzung seines Einflusses auf die Gesellschaft ein Mitglied von Vorstand oder Aufsichtsrat, einen Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten dazu bestimmt, zum Schaden der Gesellschaft bzw. eines Aktionärs zu handeln (§ 117 Abs. 1 AktG). Neben einem solchen Einflussnehmer haften Vorstandsmitglieder als Gesamtschuldner, wenn sie unter Verletzung ihrer Pflichten gehandelt haben und sich nicht exkulpieren können, sofern auch die weiteren Voraussetzungen gemäß § 93 Abs. 2 AktG vorliegen (§ 117 Abs. 2 AktG).464) 230 Hinsichtlich der Schadensregulierung stellt sich das Problem des sog. Reflexbzw. Doppelschadens: Der Schaden der AG betrifft durch die Wertminderung der Aktien mittelbar auch den Aktionär.465) In diesem Fall kann der Aktionär grundsätzlich nur Zahlung an die Gesellschaft verlangen, nicht aber Leistung in sein Privatvermögen.466) Etwas anderes gilt nur, wenn der Aktionär einen unmittelbaren Eigenschaden geltend machen kann (Æ Rz. 88).467) ___________ 462) BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 (98) = ZIP 2012, 318 (320), Rz. 20 (zu § 20a WpHG a. F.); BGH, Urt. v. 17.9.2013 – XI ZR 332/12, ZIP 2013, 2001 (2003), Rz. 21 ff. (zu § 31d WpHG a. F.); Koch, § 93 Rz. 136 (auch für Art. 12, 15 MAR). A. A. zu Art. 12, 15 MAR: Poelzig, ZGR 2015, 801 ff.; Schockenhoff/Culmann, AG 2016, 517 (519 f.). 463) BGH, Urt. v. 28.7.2015 – VI ZR 465/14, AG 2015, 820, Rz. 24 ff. (Schwindelunternehmen); BGH, Urt. v. 17.3.2015 – VI ZR 11/14, ZIP 2015, 879 (882), Rz. 26 (Ausgabe wertloser Aktien); BGH, Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 (101 f.) = ZIP 2012, 318 (321), Rz. 27 f.; BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02, ZIP 2005, 1270 (1271 f.); BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 402/02, BGHZ 160, 149 (151 ff.) = ZIP 2004, 1593 (1596 ff.); OLG Stuttgart, Urt. v. 26.3.2015 – 2 U 102/14, ZIP 2015, 781 (782); Koch, § 93 Rz. 137. 464) Koch, § 117 Rz. 10. Zum Ganzen Brüggemeier, AG 1988, 93 ff.; Kort, AG 2005, 453 ff. 465) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 404; Koch, § 93 Rz. 139; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 81. 466) BGH, Urt. v. 14.5.2013 – II ZR 176/10, ZIP 2013, 1376 (1377), Rz. 16 (GmbH); BGH, Urt. v. 21.10.2002 – II ZR 118/02, ZIP 2003, 30 (GmbH); BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136 (165 f.) = ZIP 1995, 819 (829); Koch, § 93 Rz. 139; MünchHdb GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 53. 467) BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136 (166) = ZIP 1995, 819 (829); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 81; ausführlich KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 215.

296

Illert/Meyer

D. Außenhaftung

II.

Haftung gegenüber Dritten

Auch Dritte werden aus § 93 Abs. 2 AktG grundsätzlich nicht berechtigt und 231 können allein aus einer sorgfaltswidrigen Geschäftsführung keine Schadensersatzansprüche herleiten.468) Daher ist § 93 Abs. 1 AktG auch kein Schutzgesetz zugunsten Dritter i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB.469) Möglich ist eine vertragliche Haftung des Vorstandsmitglieds. Sie kommt z. B. 232 bei einem Schuldbeitritt,470) Garantieversprechen,471) einer Bürgschaft472) oder in Fällen in Betracht, in denen das Organmitglied Vertragspartei wurde.473) Auch eine Haftung des Vorstandsmitglieds aus Verschulden bei Vertragsver- 233 handlungen (culpa in contrahendo; §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 3 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB) ist ausnahmsweise neben der Haftung der Gesellschaft kraft Zurechnung gemäß § 31 BGB (Æ § 1 Rz. 223) möglich. Sie greift nicht schon deshalb ein, weil ein die Vertragsverhandlungen für die Gesellschaft führendes Vorstandsmitglied ein wirtschaftliches Eigeninteresses hat,474) z. B. weil es durch seine variable Vergütung indirekt von dem Geschäft profitiert.475) Erforderlich ist vielmehr, dass sich das gesamte wirtschaftliche Geschäftsinteresse in der Person des Vertretenen konzentriert und das Vorstandsmitglied gleichsam in eigener Sache verhandelt.476) Ferner kann die Inanspruchnahme besonderen persönlichen Vertrauens zu einer vorvertraglichen Haftung führen. Dieses entsteht etwa durch außergewöhnliche Sachkunde für den Vertragsgegenstand, persönliche Zuverlässigkeit oder eigene Einflussnahmemöglichkeit auf die Vertragsabwicklung.477) Eine entsprechende Haftung droht ferner bei Informatio___________ 468) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (34) = ZIP 2012, 1552 (1554), Rz. 23; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 648; Koch, § 93 Rz. 141. 469) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (35), = ZIP 2012, 1552 (1554), Rz. 23; BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366 (375) = ZIP 1994, 867 (870) (GmbH); KG, Urt. v. 20.7.2001 – 9 U 1912/00, AG 2003, 324 (325). 470) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 650; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 219. 471) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 248/99, ZIP 2001, 1496 f. (GmbH); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 386. 472) BGH, Urt. v. 28.1.2003 – XI ZR 243/02, BGHZ 153, 337 ff. = ZIP 2003, 524 ff. (GmbH); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 650. 473) OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.10.1996 – 10 U 247/95, WM 1997, 1719 (GmbH, Mietvertrag); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 650. 474) BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 108/93, ZIP 1995, 211 (212); BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 8/93, ZIP 1995, 124 f.; BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 138/92, ZIP 1995, 31; BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (183 ff.) = ZIP 1994, 1103 (GmbH); a. A. noch BGH, Urt. v. 23.10.1985 – VIII ZR 210/84, ZIP 1986, 26 (28) (GmbH); BGH, Urt. v. 5.4.1971 – VII ZR 163/69, BGHZ 56, 81 (84) = BB 1971, 544. 475) Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1542. 476) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 654; Koch, § 93 Rz. 147. 477) BGH, Urt. v. 5.4.1971 – VII ZR 163/69, BGHZ 56, 81 (85).

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§ 2 Haftung des Vorstands

nen über die Solvenz der Gesellschaft478) sowie hinsichtlich der gegenüber Anlageinteressenten getätigten Angaben, sofern der Vorstand diesen persönlich mit dem Anspruch gegenübertritt, sie über die für die Anlageentscheidung wesentlichen Umstände zu informieren.479) 234 Eine Haftung des Vorstands nach § 823 Abs. 1 BGB kommt bei einer unmittelbaren deliktischen Schädigung von Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum Dritter in Betracht.480) Denkbar sind zum einen Fälle, in denen das Vorstandsmitglied selbst eine unerlaubte Handlung begeht, z. B. indem es auf einer Dienstfahrt fahrlässig einen Verkehrsunfall verursacht.481) Nach der Rechtsprechung des BGH in dem sog. Baustoff-Urteil kann aber ebenso die Verletzung von Organisations- und Kontrollpflichten durch ein Vorstandsmitglied eine unmittelbare deliktische Außenhaftung begründen, wenn es dadurch zur Verletzung eines Rechts bzw. Rechtsguts i. S. v. § 823 Abs. 1 BGB kommt. Denn nach dieser Rechtsprechung treffe den Geschäftsführer einer GmbH eine Garantenstellung für die ordnungsgemäße Organisation der Gesellschaft, so dass eine (fahrlässige) Verletzung dieser Organisationspflicht zur Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB führen kann.482) Wo die Grenzen dieser Haftung verlaufen, ist noch nicht eindeutig definiert.483) Nachdem der BGH inzwischen entschieden hat, dass die Legalitätspflicht den Vorstand nur im Innenverhältnis und nicht gegenüber Dritten bindet (Æ § 1 Rz. 229), dürfte eine Außenhaftung des Vorstandsmitglieds bei (fahrlässigen) Organisationspflichtverletzungen nur in Ausnahmefällen, z. B. bei persönlicher Gewährsübernahme, in Betracht kommen.484) 235 Ebenfalls geschützt ist das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als sonstiges Recht i. S. v. § 823 Abs. 1 BGB. Dieser Gesichtspunkt ___________ 478) OLG Zweibrücken, Urt. v. 25.10.2001 – 4 U 71/00, NZG 2002, 423 (423 f.); BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 389. 479) BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 210/06, BGHZ 177, 25 (29 ff.) = ZIP 2008, 1526 (1527 f.); kritisch KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 221 m. w. N.; Fleischer, NJW 2009, 2337 (2340 f.). 480) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (35), Rz. 24 = ZIP 2012, 1552 (1554); BGH, Urt. v. 5.12.1989 – VI ZR 335/88, BGHZ 109, 297 (302) = ZIP 1990, 35 (37) (GmbH). 481) Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1543. 482) BGH, Urt. v. 5.12.1989 – VI ZR 335/88, BGHZ 109, 297 = ZIP 1990, 35 (GmbH); Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 83 m. w. N.; Altmeppen, ZIP 1995, 881 (885); a. A. die h. M. in der Literatur, siehe BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 393; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 664 m. w. N.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 357. Umfassende Darstellung bei Gross, ZGR 1998, 551 (562 ff.). 483) Zum Ganzen BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 391 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 661 ff.; Koch, § 93 Rz. 143 ff.; Altmeppen, ZIP 2016, 97 (98 ff.). 484) BGH, Urt. v. 18.6.2014 – I ZR 242/12, BGHZ 201, 344 (354) = ZIP 2014, 1475 (1478), Rz. 32 (GmbH); BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, BGHZ 194, 26 (35 f.) = ZIP 2012, 1552 (1554 f.), Rz. 24 ff.; OLG Schleswig, Beschl. v. 29.6.2011 – 3 U 89/10, NZG 2012, 104 (106); Koch, § 93 Rz. 145.

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D. Außenhaftung

ist im Zusammenhang mit Äußerungen eines Vorstandsmitglieds zur Kreditwürdigkeit eines Vertragspartners im weithin bekannten Fall Kirch/Deutsche Bank485) relevant geworden. Der BGH geht danach davon aus, dass die durch den Vorstandssprecher der Deutschen Bank getätigten Äußerungen hinsichtlich der Kreditierung des Kirch-Konzerns einen Eingriff in dessen Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb darstellten. Denn was der juristischen Person aufgrund ihrer vertraglichen Treuepflicht untersagt sei, müsse zwangsläufig auch den für sie handelnden Organen verboten sein.486) Ferner kommt in Fällen einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der 236 Gesellschaft zur Abwendung spezifischer Gefahren für Leib und Leben Dritter eine persönliche Außenhaftung von Vorstandsmitgliedern in Betracht. Dies ist vor allem zur Produkthaftung durch das sog. Lederspray-Urteil des BGH im strafrechtlichen Zusammenhang relevant geworden.487) Des Weiteren gilt § 823 Abs. 2 BGB bei Verletzung eines Schutzgesetzes, wobei 237 weitgehend die Grundsätze gelten, die auch im Verhältnis zu Aktionären Anwendung finden (Æ Rz. 227).488) Anders als gegenüber den Aktionären stellt § 15a InsO allerdings gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft ein Schutzgesetz dar (Æ § 12 Rz. 95 ff.). Zudem ist § 266a StGB nach h. M. Schutzgesetz zugunsten der Sozialversicherungsträger, weshalb Vorstandsmitglieder sowohl für die Nichtabführung des Arbeitnehmer- als auch des Arbeitgeberanteils haften.489) Wie im Verhältnis zu Aktionären findet auch § 826 BGB gegenüber Dritten 238 grundsätzlich Anwendung (Æ Rz. 228). Zur Haftung des Vorstands für Steuerschulden der Gesellschaft gemäß § 69 239 AO Æ § 14 Rz. 174 ff. Schließlich gewährt § 93 Abs. 5 AktG den Gläubigern der Gesellschaft einen 240 zusätzlichen eigenen Anspruch (Æ Rz. 161 ff.).490) ___________ 485) BGH, Urt. v. 24.1.2006 – XI ZR 384/03, BGHZ 166, 84 = ZIP 2006, 317. 486) BGH, Urt. v. 24.1.2006 – XI ZR 384/03, BGHZ 166, 84 (115) = ZIP 2006, 317 (331), Rz. 127. 487) BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (113 ff.) = ZIP 1990, 1413 (GmbH); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 224; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1545. 488) Überblick bei BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 399 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 658 ff. 489) BGH, Urt. v. 25.9.2006 – II ZR 108/05, ZIP 2006, 2127 (GmbH); BGH, Urt. v. 18.4.2005 – II ZR 61/03, ZIP 2005, 1026 (GmbH); BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (374 ff.) = ZIP 1996, 2017 (2018 ff.) (GmbH); OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.9.2014 – I-21 U 38/14, NZG 2015, 629 (GmbH); Koch, § 93 Rz. 141; Ihrig/Schäfer, § 38 Rz. 1547. 490) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 357; Koch, § 93 Rz. 171; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 180; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 301; für Prozessstandschaft noch LG Köln, Urt. v. 13.1.1976 – 3 O 243/75, AG 1976, 105 (106); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 21.10.1976 – 1 U 19/76, WM 1977, 59 (62); abweichend Ast/Klocke, DZWiR 2015, 491 (494 ff.).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

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Übersicht A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation.......................... 2 I. Ordnungsrahmen, insbesondere Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat ............................................... 2 II. Zusammensetzung des Aufsichtsrats ............................................. 6 1. Zahl der Mitglieder...................... 6 2. Persönliche Mindestanforderungen und Bestellungshindernisse ................................. 10 3. Vom Aufsichtsrat als Ganzes zu erfüllende Zusammensetzungskriterien ......... 17 III. Rechtsstellung von Aufsichtsratsmitgliedern.................................. 24 1. Bestellung und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern....................................... 24 2. Anstellungsverhältnis, Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern, Auslagenersatz, Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern................................. 33 3. Eigenverantwortlichkeit und Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung................... 43 4. Gleichbehandlungsgrundsatz .................................. 48 IV. Innere Organisation des Aufsichtsrats ........................................... 49 1. Selbstorganisationsrecht, Delegation von Aufgaben ......... 49 2. Aufsichtsratssitzungen.............. 53 3. Beschlussfassung des Aufsichtsrats ....................... 67 4. Vorsitzender, Stellvertreter, Ehrenvorsitzender ..................... 78 5. Aufsichtsratsausschüsse............ 84 B. Aufgaben des Aufsichtsrats ........... 96 I. Überwachung der Geschäftsführung.............................................. 97

1.

Gegenstand der Überwachung ..................................... 98 a) Personeller Überwachungsgegenstand ................................ 99 b) Inhaltlicher Überwachungsgegenstand .............................. 104 2. Maßstab der Überwachung .... 108 3. Überwachungsmittel und Einwirkungsmöglichkeiten..... 111 a) Regel-, Anlass- und Anforderungsberichte gemäß § 90 AktG ................................ 112 aa) Gegenstand und Turnus der Berichtspflichten............... 113 bb) Umfang und Art der Berichterstattung (§ 90 Abs. 4 AktG) ................. 121 cc) Abänderung der Berichtspflichten durch Satzung oder Aufsichtsrat..................... 124 b) Einsichts- und Prüfungsrecht (§ 111 Abs. 2 AktG)...... 125 c) Beratung und Beanstandungen............................... 133 d) Geschäftsordnung für den Vorstand (§ 77 Abs. 2 AktG)....................................... 135 e) Zustimmungsvorbehalte (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) .... 136 aa) Gegenstand von Zustimmungsvorbehalten............ 137 bb) Schaffung von Zustimmungsvorbehalten ................... 140 cc) Umgang des Vorstands mit Zustimmungsvorbehalten, insb. Zeitpunkt der Einholung der Zustimmung ................................. 143 dd) Ausübung von Zustimmungsvorbehalten ................... 145 ee) Wirkung der Zustimmung und ihrer Versagung................ 148

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats f)

Zustimmungsvorbehalte bei Related-Party Transactions (§ 111b Abs. 1 AktG)............. 151 aa) Erfasste Geschäfte mit nahestehenden Personen ........ 152 bb) Überschreitung des relevanten Schwellenwerts............ 155 cc) Ausnahmetatbestände............. 157 dd) Ausübung des Zustimmungsvorbehalts ..................... 160 ee) Veröffentlichungspflicht ........ 163 g) Widerruf der Bestellung und Kündigung ....................... 164 h) Einberufung einer Hauptversammlung (§ 111 Abs. 3 AktG)........................... 165 4. Überwachungsumfang............ 169 a) Generelle Überwachungsintensität.................................. 170 b) Anpassung der Überwachungsintensität bei speziellen Überwachungsgegenständen ........................... 173 II. Vertretungs- und Geschäftsführungsaufgaben........................... 177 1. Personalkompetenz in Bezug auf den Vorstand ......... 178 a) Bestellung ................................ 179 b) Beendigung der Bestellung ................................... 186 c) Ernennung eines Vorstandsvorsitzenden ................. 193 d) Anstellung ............................... 195 e) Vergütung................................ 203 aa) Zuständigkeit des Plenums; Delegation; Vergütungsberater...................................... 204 bb) Angemessenheits- und Üblichkeitsgebot..................... 205 cc) Zusätzliche Anforderungen für börsennotierte Gesellschaften.................................... 208 dd) Folgen eines Verstoßes gegen § 87 Abs. 1 AktG ......... 209 ee) Herabsetzung der Vergütung gemäß § 87 Abs. 2 AktG........................................ 211

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ff) Verbot kompensationsloser Anerkennungsprämien (Mannesmann-Rechtsprechung)................................214 gg) Festlegung eines Vergütungssystems durch den Aufsichtsrat; Beschlussfassung der Hauptversammlung über das Vergütungssystem (Say-on-Pay)......... 217 f) Beendigung des Anstellungsverhältnisses ...................225 aa) Kündigung des Anstellungsvertrags durch die Gesellschaft....226 bb) Kündigung des Anstellungsvertrags durch das Vorstandsmitglied ..........................232 cc) Aufhebungsvereinbarung ........233 2. Zustimmungsvorbehalte..........234 3. Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand ........235 4. Weitere Vertretungskompetenzen des Aufsichtsrats .........243 III. Sonstige Aufgaben ..........................244 1. Jahres- und Konzernabschluss...................................244 2. Abgabe der Entsprechenserklärung ..................................249 3. Repräsentationsfunktionen; öffentliche Stellungnahmen von Aufsichtsratsmitgliedern....251 4. Ad-hoc Mitteilungen und Aufschubbeschluss ..................253 5. Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder, Prokuristen und Handlungsbevollmächtigte..................................254 C. Pflichten des Aufsichtsrats...........258 I. Sorgfaltspflichten............................260 1. Legalitätspflicht .......................261 2. Sorgfaltspflicht im engeren Sinne .........................................263 a) Allgemeiner Maßstab ..............263 b) Einzelpflichten ........................268 aa) Pflicht zur Mitarbeit und eigenen Urteilsbildung ............268 bb) Pflicht zur angemessenen Organisation ............................269

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats cc) Informierungspflicht............... 273 dd) Insbesondere: Pflichten bei Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern (ARAG/ Garmenbeck) ........................... 276

c) Anwendung der Business Judgement Rule ....................... 284 3. Überwachungspflicht.............. 289 II. Treuepflichten ................................ 292 III. Verschwiegenheitspflichten .......................................... 296

Schrifttum: Anzinger, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung: Kompetenzverteilung und Offenlegung nach der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, ZGR 2019, 36; Arnold, Verantwortung und Zusammenwirken des Vorstands und Aufsichtsrats bei ComplianceUntersuchungen, ZGR 2014, 76; Arnold/Herzberg/Zeh, Das Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften nach § 87a AktG, AG 2020, 313; Austmann, Integration der Zielgesellschaft nach Übernahme, ZGR 2009, 277; Bachmann/Pauschinger, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung durch das ARUG II, ZIP 2019, 1; Backhaus, Das interne Verfahren zur Bewertung von Geschäften mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) gemäß § 111 a II 2 AktG, NZG 2020, 695; Bauer/Arnold, Vorstandsverträge im Kreuzfeuer der Kritik, DB 2006, 260; dies., Festsetzung und Herabsetzung der Vorstandsvergütung nach dem VorstAG, AG 2009, 717; Bauer/Krets, Gesellschaftsrechtliche Sonderregeln bei der Beendigung von Vorstands- und Geschäftsführerverträgen, DB 2003, 811; Baums, Anerkennungsprämien für Vorstandsmitglieder, in: Festschrift Huber, 2006, S. 657; Bayer/Hoffmann, Die Niederlegung des Aufsichtsratsmandats, AG 2014, R144; Bayer/Scholz, Vertretung durch den Aufsichtsrat nach § 112 AktG und Rechtsirrtümer im Kernbereich des Aktienrechts. Überlegungen anlässlich des BGH-Urteils vom 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1853; Behme, Die Berücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer für die Berechnung der Schwellenwerte im Recht der Unternehmensmitbestimmung, AG 2018, 1; Blassl, Compliance-Aufgaben des Aufsichtsrats – Ein Beitrag zur akzessorischen Legalitätskontrolle durch den Aufsichtsrat, WM 2017, 992; Böttcher, Organpflichten beim Unternehmenskauf, NZG 2007, 481; Brandi, Ermittlungspflicht des Aufsichtsrats über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens „am Vorstand vorbei“?, ZIP 2000, 173; Brinkschmidt, Protokolle des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse, Diss. 1992; Brouwer, Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats im Aktien- und GmbH-Recht – Zur Funktion und Wirkweise von Aufsichtsratsvorbehalten im Einheitsunternehmen und im Konzern, Diss. 2008; Handelsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins: Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG), NZG 2009, 612; Buhleier/Krowas, Persönliche Pflicht zur Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat, DB 2010, 1165; Bungert/Berger, Say on Pay und Related Party Transactions: Der RefE des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (Teil 2), DB 2018, 2860; Cahn, Aufsichtsrat und Business Judgment Rule, WM 2013, 1293; Cahn, Die Vertretung der Aktiengesellschaft durch den Aufsichtsrat, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 247; Dauner-Lieb/Friedrich, Zur Reichweite des § 87 II AktG – Rückgängigmachung der Kürzung nach Erholung der Lage der Gesellschaft?, NZG 2010, 688; Deilmann, Beschlussfassung im Aufsichtsrat: Beschlussfähigkeit und Mehrheitserfordernisse, BB 2012, 2191; Diekmann, Say on Pay – Umsetzung ins deutsche Recht nach dem ARUG-IIReferentenentwurf, BB 2018, 3010; Dietrich, Der neue § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG – Zustimmungsvorbehaltspflicht auch für unternehmerisches Unterlassen?, DStR 2003, 1577; Diller, Nachträgliche Herabsetzung von Vorstandsvergütungen und -ruhegeldern nach dem VorstAG, NZG 2009, 1006; Döll, Das Votum zum Vergütungssystem nach § 120 Abs. 4 AktG, WM 2010, 103; Dörrwächter, Die Suspendierung von Vorstandsmitgliedern, NZG 2018, 54; Dörrwächter/Trafkowski, Anmerkungen zum Abfindungs-Cap in Nummer 4.2.3 n. F. des Deutschen Corporate Governance Kodex, NZG 2007, 846; Dreher, Das Ermessen des Aufsichtsrats – Der Aufsichtsrat in der Aktiengesellschaft zwischen Verbandsautonomie und Richterkontrolle, ZHR 158 (1994), 614; Dreher, Der Abschluss von D&O-Versicherungen und die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung, ZHR 165

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats (2001), 293; Dreher, Die Sprache des Aufsichtsrats – Die Festlegung einer Fremdsprache als Arbeitssprache des Aufsichtsrats, in: Festschrift Lutter, 2000, S. 357; Dreher, Direktkontakte des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft zu dem Vorstand nachgeordneten Mitarbeitern, in: Festschrift Ulmer, 2003, S. 87; Drinhausen/Marsch-Barner, Die Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden in der börsennotierten Aktiengesellschaft, AG 2014, 337; Eichner/Höller, Anforderungen an das Tätigwerden des Aufsichtsrats bei Verdacht einer Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands, AG 2011, 885; Eisele/Oser, RegE ARUG II: Ausgewählte Anwendungsfragen der neuen Zustimmungs- und Publizitätspflichten für Geschäfte mit nahestehenden Personen, DB 2019, 1517; Fett/Theusinger, Die gerichtliche Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern – Einsatzmöglichkeiten und Fallstricke, AG 2010, 425; Fischer, Europaweite Wahl zum mitbestimmten Aufsichtsrat?, NZG 2014, 737; Fleischer, Fehlerhafte Aufsichtsratsbeschlüsse: Rechtsdogmatik – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik (Teil 2), DB 2013, 217; Fleischer, Gestaltungsgrenzen für Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats nach § 111 Abs. 4 S. 2 AktG, BB 2013, 835; Fleischer, Vertrauen von Geschäftsleitern und Aufsichtsratsmitgliedern auf Informationen Dritter. Konturen eines kapitalgesellschaftlichen Vertrauensgrundsatzes, ZIP 2009, 1397; Fleischer, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern: Zulässige Gestaltungsmöglichkeiten oder unzulässige Umgehung des § 34 Abs. 1 Satz 3 AktG?, DB 2011, 861; Fleischer, Aufsichtsratsverantwortlichkeit für die Vorstandsvergütung und Unabhängigkeit der Vergütungsberater, BB 2010, 67; Fleischer, Zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung im Aktienrecht (Teil I), DStR 2005, 1279; Fleischer, Aktienrechtliche Zweifelsfragen der Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder, WM 2004, 1057; Fleischer, Zur organschaftlichen Treuepflicht der Geschäftsleiter im Aktien- und GmbH-Recht, WM 2003, 1045; Fleischer/ Bedkowski, „Say on Pay” im deutschen Aktienrecht: Das neue Vergütungsvotum der Hauptversammlung nach § 120 Abs. 4 AktG, AG 2009, 677; Florstedt, Die wesentlichen Änderungen des ARUG II nach den Empfehlungen des Rechtsausschusses, ZIP 2020, 1; Florstedt, Zur Bedeutung der §§ 111 a – c AktG für das Distressed Debt Investing, ZIP 2021, 53; Fonk, Auslagenersatz für Aufsichtsratsmitglieder, NZG 2009, 761; Fonk, Die Zulässigkeit von Vorstandsbezügen dem Grunde nach – Aktienrechtliche Anmerkungen zum Urteil des LG Düsseldorf, NZG 2004, 1057 – Mannesmann, NZG 2005, 248; Fonk, Zustimmungsvorbehalte des AG-Aufsichtsrats, ZGR 2006, 841; Fonk, Was bleibt dem Personalausschuss des Aufsichtsrats der AG nach dem VorstAG?, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 347; v. Frankenberg und Ludwigsdorf, Bedeutung und Grenzen der Gleichbehandlung der Aufsichtsratsmitglieder in der Aktiengesellschaft. Aufgezeigt am Pflichten- und Haftungsmaßstab sowie an der Vergütung, Diss. 2006; Fuchs, Grenzen für eine aktienkursorientierte Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern, WM 2004, 2233; Fuhrmann, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats beim Verdacht von ComplianceVerstößen, AG 2015, R328; Gernoth, Die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats im Hinblick auf das Risiko-Management und die daraus resultierenden Haftungsfolgen für den Aufsichtsrat, DStR 2001, 299; Goette, „Zur ARAG/GARMENBECK-Doktrin“, Liber Amoricum Winter, 2011, S. 153; Göppert, Die Reichweite der Business Judgment Rule bei unternehmerischen Entscheidungen des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, Diss. 2010; Götz, Die Pflicht des Aufsichtsrats zur Haftbarmachung von Vorstandsmitgliedern – Besprechung des ARAG-Urteils des BGH, NJW 1997, 3275; Götz, Die Überwachung der Aktiengesellschaft im Lichte jüngerer Unternehmenskrisen, AG 1995, 337; Götz, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats nach dem Transparenz- und Publizitätsgesetz, NZG 2002, 599; Götz, Die vorzeitige Wiederwahl von Vorständen – Kritisches zur Wiederbestellung vor Beginn des Jahreszeitraums des § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG, AG 2002, 305; Grigoleit, Regulierung von Related Party Transactions im Kontext des deutschen Konzernrechts, ZGR 2019, 412; Grobecker, Beachtenswertes zur Hauptversammlungssaison, NZG 2010, 165; Grooterhorst, Pflichten und Haftung des Aufsichtsrats bei zustimmungsbedürftigen Geschäften des Vorstands, NZG 2011, 921; Groß, Befreiung von der Ad-hoc Publizitätspflicht nach § 15 Abs. 3 WpHG, in: Festschrift U.H. Schneider, 2011, S. 385; Gruber, Der unabhängige Finanzexperte im Aufsichtsrat nach dem Referentenentwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes, NZG 2008, 12; Habersack, 19 Jahre

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats „ARAG/Garmenbeck“ – und viele Fragen offen, NZG 2016, 321; Habersack, Die erfolgsabhängige Vergütung des Aufsichtsrats und ihre Grenzen – Zugleich Besprechung der Entscheidung BGH ZIP 2004, 613 (MobilCom), ZGR 2004, 721; Habersack, Die Teilhabe des Aufsichtsrats an der Leitungsaufgabe des Vorstands gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, dargestellt am Beispiel der Unternehmensplanung, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 259; Harbarth, Unternehmensorganisation und Vertrauensgrundsatz im Aktienrecht, ZGR 2017, 211; Haßler, Ermittlungspflichten des Aufsichtsrats bei Anhaltspunkten für Sorgfaltspflichtverletzungen durch den Vorstand unter Berücksichtigung der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung, Diss. 2014; Haßler, Informationsquellen des Aufsichtsrats bei der Ermittlung haftungsrelevanter Sorgfaltspflichten des Vorstands, BB 2017, 1603; Heller, Die Einberufung von Aufsichtsratssitzungen – ein Risikofaktor?, AG 2008, 160; Hellwig/Behme, Gemeinschaftsrechtliche Probleme der deutschen Unternehmensmitbestimmung, AG 2009, 261; Hennerkes/Schiffer, Ehrenvorsitzender oder Ehrenmitglied eines Aufsichtsrats – Ernennung und Kompetenzen, DB 1992, 875; Hennrichs, CSR-Umsetzung – Neue Pflichten für Aufsichtsräte, NZG 2017, 841; Henze, Leitungsverantwortung des Vorstands – Überwachungspflicht des Aufsichtsrats, BB 2000, 209; Herrler, Das Vergütungsvotum der Hauptversammlung, ZHR 184 (2020), 408; Hirt/Hopt/ Mattheus, Dialog zwischen dem Aufsichtsrat und Investoren – Rechtsvergleichende und rechtsdogmatische Überlegungen zur Investorenkommunikation in Deutschland, AG 2016, 725; Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl., 2002; Hoffmann-Becking, Abfindungsleistungen an ausscheidende Vorstandsmitglieder, ZIP 2007, 2101; Hoffmann-Becking, Das Recht des Aufsichtsrats zur Prüfung durch Sachverständige nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG, ZGR 2011, 136; Hoffmann-Becking, Vorstandsvergütung nach Mannesmann, NZG 2006, 127; Hoffmann-Becking, Rechtliche Anmerkungen zur Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung, ZHR 169 (2005), 155; Hoffmann-Becking, Gestaltungsmöglichkeiten bei Anreizsystemen, NZG 1999, 797; Hofschroer, Der Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft – Eine Konkretisierung der bestimmten Arten von Geschäften in qualitativer und quantitativer Hinsicht, Diss. 2013; Hohaus/Weber, Gesellschaftsrechtliche Probleme bei der Gewährung von Transaktionsboni durch einen Aktionär, DStR 2008, 104; Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015; Hölters/Weber, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern, AG 2005, 629; Hommelhoff, Zur Kreditüberwachung im Aufsichtsrat, in: Festschrift Werner, 1984, S. 315; Hommelhoff/Mattheus, Corporate Governance nach dem KonTraG, AG 1998, 249; Hüffer, Die leitungsbezogene Verantwortung des Aufsichtsrats, NZG 2007, 47; Hupka, Das Vergütungsvotum der Hauptversammlung – Eine rechtsökonomische und rechtsvergleichende Untersuchung zu § 129 Abs. 4 AktG, Diss. 2012; Huthmacher, Pflichten und Haftung der Aufsichtsratsmitglieder – Zugleich eine Untersuchung zur kollegialorganschaftlichen Innenhaftung des Aufsichtsrats, Diss. 2014; Ihrig, Gestaltungsfreiheit und -grenzen beim Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 617; Ihrig, Reformbedarf beim Haftungstatbestand des § 93 AktG, WM 2014, 2098; Ihrig/Kranz, EuGH-Entscheidung Geltl/Daimler: „Selbstbefreiung“ von der Ad-hoc-Publizitätspflicht, BB 2013, 451; Ihrig/Wandt/Wittgens, Die angemessene Vorstandsvergütung drei Jahre nach Inkrafttreten des VorstAG. Grundsätze, Leitlinien und Zweifelsfragen in der Praxis – eine Bestandsaufnahme, Beilage ZIP 40/2012, 1; Jaspers, Höchstgrenzen für Aufsichtsratsmandate nach Aktienrecht und DCGK, AG 2011, 154; Jaspers, Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Unabhängigkeit eines Aufsichtsratsmitgliedes nach dem BilMoG, AG 2009, 607; Johannsen-Roth/Horcher/Kießling, Rechtsentwicklungen im Aktienrecht 2017, DB-Beilage 3/2017, S. 17; Johannsen-Roth/ Kießling, Das Amt des Ehrenvorsitzenden des Aufsichtsrats – Rechtsrahmen und praktische Gestaltung, NZG 2013, 972; Johannsen-Roth/Kießling/Raapke, Rechtsentwicklungen 2021: Rechtsentwicklungen im Aktienrecht 2021, DB Sonderbeilage 2022, Nr. 03, 15; Jooß, Die Drittanstellung des Vorstandsmitglieds einer AG, NZG 2011, 1130; Jürgenmeyer, Satzungsklauseln über qualifizierte Beschlussmehrheiten im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, ZGR 2007, 112; Keilich/Brummer, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – Geheimhaltungspflichten auch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, BB 2012, 897;

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats Keusch/Rotter, Wirksamer Beschluss über einen Abberufungsantrag gemäß §§ 103 III, 108 AktG durch dreiköpfigen Aufsichtsrat?, NZG 2003, 671; Kleinert/Mayer, RelatedParty-Transactions nach dem Referentenentwurf zum ARUG II, EuZW 2019, 103; Koch, Aktienrechtsnovelle 2016. Änderungen für Aufsichtsratsmitglieder in Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung, BOARD 2016, 251; Koch, Die Herabsetzung der Vorstandsbezüge gemäß § 87 Abs. 2 AktG nach dem VorstAG, WM 2010, 49; Koch, Die schleichende Erosion der Verfolgungspflicht nach ARAG/Garmenbeck, NZG 2014, 934; Kocher/ Schneider, Zuständigkeitsfragen im Rahmen der Ad-hoc-Publizität, ZIP 2013, 1607; Kort, Rechtsfragen der Höhe und Zusammensetzung der Vergütung von Mitgliedern des Aufsichtsrats einer AG, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 483; Kort, Das „Mannesmann”-Urteil im Lichte von § 87 AktG, NJW 2005, 333 ff.; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, Diss. 1981; Krieger, Interim Manager im Vorstand der AG, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 711; Kumpman, Ad-hoc-Publizität nach der Marktmissbrauchsverordnung – Untersuchung wesentlicher Neuerungen und deren Auswirkungen auf Emittenten, DB 2016, 2039; Land/Hallermayer, Weitergabe von vertraulichen Informationen durch auf Veranlassung von Gebietskörperschaften gewählte Mitglieder des Aufsichtsrats gemäß §§ 394, 395 AktG, AG 2011, 114; Lenenbach, Kurzkommentar zu BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, ZIP 2004, 613, EWiR 2004, 413 f.; Leuschner/ Wolfgarten, Corporate Governance – Neue Anforderungen an Verwaltungs- und Aufsichtsräte von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, WPg 2015, 375; LeyendeckerLangner, Kapitalmarktkommunikation durch den Aufsichtsratsvorsitzenden, NZG 2015, 44; Lieder/Wernert, Related Party Transactions nach dem Referentenenwurf eines ARUG II, ZIP 2018, 2441; Lieder/Wernert, Related Party Transactions: Ein Update zum Regierungsentwurf des ARUG II, ZIP 2019, 989; Linker/Zinger, Rechte und Pflichten der Organe einer Aktiengesellschaft bei der Weitergabe vertraulicher Unternehmensinformationen, NZG 2002, 497; Löbbe, Umgang mit Interessenkonflikten bei Related Party Transactions, in: Festschrift Grunewald, 2021, S. 689; Löbbe/Fischbach, Die Business Judgment Rule bei Kollegialentscheidungen des Vorstands, AG 2014, 717; Löbbe/Fischbach, Die Neuregelungen des ARUG II zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Aktiengesellschaften, AG 2019, 373; Lutter, Unternehmensplanung und Aufsichtsrat, AG 1991, 249; Lutter, Vergleichende Corporate Governance – Die deutsche Sicht, ZGR 2001, 224; Lutter, Auswahlpflichten und Auswahlverschulden bei der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern, ZIP 2003, 417; Lutter, Die Business Judgement Rule und ihre praktische Anwendung, ZIP 2007, 841; Lutter, Das Abfindungs-Cap in Ziff 4.2.3 und 4 des Deutschen Corporate Governance-Kodex, BB 2009, 1874; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 2006; Lutter/Krieger, Hilfspersonen von Aufsichtsratsmitgliedern, DB 1995, 257; Markworth, Der Aufsichtsrats-Ausschuss zu Related Party Transactions nach § 107 Abs. 3 Sätze 4–6 AktG, AG 2020, 166; Martens, Die Zukunft der Anerkennungsprämie nach „Mannesmann“, in: Festschrift Westermann, 2008, S. 1191; Martinius/Zimmer, Keine Boni mehr für Aufsichtsräte?, BB 2011, 3014; Marsch-Barner, Aktuelle Rechtsfragen zur Vergütung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer AG, in: Festschrift Röhricht, 2005, S. 401; Maser/Göttle, Rechtlicher Rahmen für die Vergütung des Aufsichtsrats, NZG 2013, 201; Mertens, Schadensersatzhaftung des Aufsichtsrats bei Nichtbeachtung der Regeln des ARAG-Urteils über die Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, S. 1183; E. Meyer, Vorstandsvergütung. Eine rechtsökonomische Analyse zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, Diss. 2013; J. Meyer/Ludwig, Aktienoptionen für Aufsichtsräte ade? Zugleich Besprechung zu BGH, Urt. V. 16.2.2004 – II ZR 316/02, ZIP 2004, 613, ZIP 2004, 940; Mülbert, Die Selbstbefreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG durch den Aufsichtsrat, in: Festschrift Stilz, 2014, S. 411; Müller, ZGR 2019, Related Party Transactions im Konzern, 97; Müller, Related Party Transactions nach dem ARUG II, ZIP 2019, 2429; Niewiarra/ Servatius, Die gerichtliche Ersatzbestellung im Aufsichtsrat. Betrachtungen de lege lata und de lege ferenda, in: Festschrift Semler, 1993, S. 217; Paefgen, Börsenpreisorientierte Vergütung und Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats, WM 2004, 1169; Paefgen, Organhaftung: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven. Ein kritischer Werkstattbe-

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats richt vor dem Hintergrund der Beratungen des 70. Deutschen Juristentages 2014, AG 2014, 554; Paefgen, Struktur und Aufsichtsratsverfassung der mitbestimmten AG: zur Gestaltungsmacht der Satzung und der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats, Diss. 1982; Pahlke, Risikomanagement nach KonTraG – Überwachungspflichten und Haftungsrisiken für den Aufsichtsrat, NJW 2002, 1680; Paschos/Goslar, Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), AG 2019, 365; Peltzer, Keine Aktienoptionen mehr für Aufsichtsratsmitglieder, NZG 2004, 509; Peus, Der Aufsichtsratsvorsitzende – Seine Rechtsstellung nach dem Aktiengesetz und dem Mitbestimmungsgesetz, Diss. 1983; Poguntke, Anerkennungsprämien, Antrittsprämien und Untreuestrafbarkeit im Recht der Vorstandsvergütung, ZIP 2011, 893; Raapke, Die Regulierung der Vergütung von Organmitgliedern und Angestellten im Aktien- und Kapitalmarktrecht, Diss. 2012; Raiser, Satzungsvorschriften über Beschlußfähigkeit und Vertagung eines mitbestimmten Aufsichtsrats, NJW 1980, 209; Redeke/Schäfer/Troidl, Related Party Transactions: Zum internen Verfahren nach § 111a Abs. 2 AktG, AG 2020, 159; Reichert, Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern und die Anwendung der Business Judgement Rule bei Interessenkonflikten, in: Festschrift E. Vetter, 2019, S. 597; Reichert, „ARAG/Garmenbeck“ im Praxistest. Entscheidungsgrundlagen über die Verfolgung von Organhaftungsansprüchen, ZIP 2016, 1189; Reichert/Ullrich, Haftung von Aufsichtsrat und Vorstand nach dem VorstAG, in: Festschrift U.H. Schneider, 2011, S. 1017; Richter, Aktienoptionen für den Aufsichtsrat? – Eine kritische Analyse des BGH-Urteils vom 16.2.2004, BB 2004, 621, BB 2004, 949; Roth, Möglichkeiten vorstandsunabhängiger Information des Aufsichtsrats, AG 2004, 1; Säcker/Theisen, Die statutarische Regelung der inneren Ordnung des Aufsichtsrats in der mitbestimmten GmbH nach dem MitbestG 1976, AG 1980, 29; v. Schenck, Verträge mit Beratungsunternehmen, denen ein Aufsichtsratsmitglied des beratenen Unternehmens angehört – Zugleich eine Besprechung der BGH-Entscheidungen vom 3.7. und 20.11.2006, DStR 2007, 395; Schmidt, Related Party Transactions nach dem RegE zum ARUG II, EuZW 2019, 261; J. Schmidt, Die Umsetzung der Aktionärsrechte-Richtlinie 2017: der Referentenentwurf für das ARUG II, NZG 2018, 1201; S.H. Schmidt, Videokonferenzen als Aufsichtsratssitzungen, Diss. 2011; S.H. Schneider, Informationspflichten und Informationssystemeinrichtungspflichten im Aktienkonzern – Überlegungen zu einem Unternehmensinformationsgesetzbuch, diss. 2006; U.H. Schneider, Konzernleitung als Rechtsproblem – Überlegungen zu einem Konzernverfassungsrecht, BB 1981, 249; U.H. Schneider, Aktienoptionen als Bestandteil der Vergütung von Vorstandsmitgliedern – Vertragsrechtliche, gesellschaftsrechtliche und kapitalmarktrechtliche Probleme, ZIP 1996, 1769; U.H. Schneider/Nietsch, Die Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern bei der Aktiengesellschaft, in: Festschrift Westermann, 2008, S. 1447; U.H. Schneider/S.H. Schneider, Der Aufsichtsrat der Kreditinstitute zwischen gesellschaftsrechtlichen Vorgaben und aufsichtsrechtlichen Anforderungen – Ein Beitrag zur aufsichtsrechtlichen Corporate Governance der Kreditinstitute, NZG 2016, 41; Schönhöft/Oelze, Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat – Entgeltliche Arbeitsfreistellung für das Aufsichtsratsamt und Kollision mit dem Betriebsratsamt, NZA 2016, 145; Schulz/Ruf, Zweifelsfragen der neuen Regelungen über die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die Zielgrößen für die Frauenbeteiligung, BB 2015, 1155; Schumacher-Mohr, Fristprobleme bei der außerordentlichen Kündigung von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft, ZIP 2002, 2245; Schwark, Zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, in: Festschrift Raiser, 2005, S. 377; Schwintowski, Verschwiegenheitspflicht für politisch legitimierte Mitglieder des Aufsichtsrats, NJW 1990, 1009; Seebach, Kontrollpflicht und Flexibilität – Zu den Möglichkeiten des Aufsichtsrats bei der Ausgestaltung und Handhabung von Zustimmungsvorbehalten, AG 2012, 70; Seibert, Das VorstAG – Regelungen zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung und zum Aufsichtsrat, WM 2009, 1489; Seibt/Wollenschläger, Revision des Marktmissbrauchsrechts durch Marktmissbrauchsverordnung und Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für Marktmanipulation, AG 2014, 593; Selzner, Zum Verbot ungerechtfertigter Leistungen nach § 33d WpÜG, AG 2013, 818; Semler, Corporate Governance – Beratung durch Aufsichtsratsmitglieder, NZG 2007, 881; Semler, Verpflichtungen der Gesellschaft durch den

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats Aufsichtsrat und Zahlungen der Gesellschaft an seine Mitglieder, in: Festschrift Claussen, 1997, S. 381; Siebel, Der Ehrenvorsitzende – Anmerkungen zum Thema Theorie und Praxis im Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Peltzer, 2001, S. 519; Singhof, Die Amtsniederlegung durch das Aufsichtsratsmitglied einer Aktiengesellschaft, AG 1998, 318; Spindler, Prognosen im Gesellschaftsrecht, AG 2006, 677; Spindler, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung im ARUG II, AG 2020, 61; Spindler/Gerdemann, Die erfolgsabhängige Vergütung des Aufsichtsrats – Variable Vergütungsbestandteile im Spannungsfeld von Anreiz und Überwachungsfunktion, in: Festschrift Stilz, 2014, S. 629; Spindler, Die Neuregelung der Aufsichtsratsvergütung im Rahmen des Vergütungssytems nach ARUG II, in: Festschrift Krieger, 2020, S. 951; Stadler/Berner, Die gerichtliche Abberufung von Aufsichtsmitgliedern im dreiköpfigen Aufsichtsrat – ein bisher ungelöstes Problem, NZG 2003, 49; Thümmel, Aufsichtsratshaftung vor neuen Herausforderungen – Überwachungsfehler, unternehmerische Fehlentscheidungen, Organisationsmängel und andere Risikofelder, AG 2004, 83; Thüsing, Überlegungen zur Angemessenheit im Sinne des § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG, ZGR 2003, 457; Timm, Die Mitwirkung des Aufsichtsrates bei unternehmensstrukturellen Entscheidungen, DB 1980, 1201; Tödtmann/von Erdmann, Unwirksamkeit von Koppelungsklauseln in Vorstandsverträgen nach § 307 BGB, NZG 2022, 3; Traugott/Grün, Finanzielle Anreize für Vorstände börsennotierter Aktiengesellschaften bei Private Equity-Transaktionen, AG 2007, 761; Ulmer, Haftungsfreistellung bis zur Grenze der groben Fahrlässigkeit bei unternehmerischen Fehlentscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat? – Kritische Bemerkungen zur geplanten Kodifizierung der business judgment rule im UMAG-Entwurf (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG), DB 2004, 859; E. Vetter, Neue Vorgaben für die Wahl des Aufsichtsrats durch die Hauptversammlung nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 5 AktG, in: Festschrift Maier-Reimer, 2010, S. 795; E. Vetter, Stock Options für Aufsichtsräte – ein Widerspruch? – Zugleich Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 16.2.2004 – II ZR 316/02, AG 2004, 265, AG 2004, 234; E. Vetter, Die Teilnahme des Vorstands an den Sitzungen des Aufsichtsrats und die Corporate Governance, VersR 2002, 951; E. Vetter, Der kraftlose Hauptversammlungsbeschluss über das Vorstandsvergütungssystem nach § 120 Abs. 4 AktG, ZIP 2009, 2136; E. Vetter, Kapitalmarktkommunikation, Kapitalmarktdruck und Corporate Governance, AG 2014, 387; E. Vetter, Gruppenvorbesprechungen im Aufsichtsrat – Ausdruck einer Good Corporate Governance?, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 1017; E. Vetter, Der Vergütungsbericht nach § 162 AktG als gemeinsames Corporate Governance-Reporting von Vorstand und Aufsichtsrat, in: Festschrift Krieger, 2020, 1045; J. Vetter, Überlegungen zur Auslegung des § 111b Abs. 1 AktG, AG 2019, 853; Waldenberger/Kaufmann, Nachträgliche Herabsetzung der Vorstandsvergütung: Vermeidung von Haftungsrisiken für den Aufsichtsrat, BB 2010, 2257; Wagner, Aufsichtsratssitzung in Form der Videokonferenz – Gegenwärtiger Stand und mögliche Änderungen durch das Transparenz- und Publizitätsgesetz, NZG 2002, 57; Wasse, Die Internationalisierung des Aufsichtsrats – Herausforderungen in der Praxis, AG 2011, 685; Wedemann, Vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern: Gesetzesumgehung, Rechtsmissbrauch und intertemporale Organtreue auf dem Prüfstand, ZGR 2013, 316; H.P. Westermann, Bestellung und Funktion „weiterer Stellvertreter des Aufsichtsratsvorsitzenden in mitbestimmten Gesellschaften, in: Festschrift Fischer, 1979, S. 835; Wilsing/von der Linden, Unabhängigkeit, Interessenkonflikte und Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern – Gedanken zur Kodexnovelle 2012, DStR 2012, 1391; Winkler, Der Aufsichtsrat im Versicherungsunternehmen nach Solvency II, Diss. 2017; Winter, Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“, in: Festschrift Hüffer, 2010, S. 1103; Wittgens/Vollertsen, Gruppenvorbesprechungen im Aufsichtsrat. Zulässigkeit, Zweckmäßigkeit, Praxisfragen, AG 2015, 261; Wollburg, Unternehmensinteresse bei Vergütungsentscheidungen. Oder: Verstieß die Zahlung der Mannesmann-Prämien gegen das Unternehmensinteresse der Mannesmann AG?, ZIP 2004, 646; Wollburg, Zur Ausdehnung der Inkompatibilitätsregelung des § 287 Abs. 3 AktG in der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 1425; v. Zehmen, Vergütungssysteme für Vorstände auf dem Prüfstand, BB 2021, 628.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Der Aufsichtsrat entscheidet über die Zusammensetzung des Vorstands (§ 84 1 AktG) und überwacht dessen Leitung und Geschäftsführung der Gesellschaft (§ 111 Abs. 1 AktG). Diese zentralen Aufgaben übt er für die Aktionäre als wirtschaftliche Eigentümer des Gesellschaftsvermögens in Fremdorganschaft aus. Damit wird letztlich auch die Fungibilität und Kapitalmarktfähigkeit der Aktien sichergestellt, da ein ständig wechselnder und unbestimmt großer Mitgliederbestand, den die Aktiengesellschaft nach dem gesetzlichen Leitbild aufweist, nicht in der Lage wäre, die Geschäftsführung in Eigenverantwortung fortlaufend zu überwachen. Die rechtspolitische Bedeutung des Aufsichtsrats im Kompetenzgefüge der Aktiengesellschaft und damit einhergehend die Anforderungen an die Professionalisierung der Mitglieder des Aufsichtsrats haben in den vergangenen Jahren erheblich an Gewicht gewonnen. Dies reflektiert sich auch in der jüngeren (höchstrichterlichen) Rechtsprechung, die zu einer fortlaufenden Konkretisierung und Ausdehnung des Pflichtenkreises des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft – gerade auch in der kapitalmarktorientierten Unternehmenspraxis – geführt und zugleich die praktische Komplexität und Bedeutung der Aufsichtsratstätigkeit weiter erhöht hat. A.

Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

I.

Ordnungsrahmen, insbesondere Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat

Johannsen-Roth

Wie der Vorstand ist auch der Aufsichtsrat einer Vielzahl von Vorschriften aus 2 unterschiedlichen Rechtsquellen unterworfen. Die anwendbaren Rechtsquellen sind weitgehend deckungsgleich mit denjenigen, die auch für das Handeln des Vorstands relevant sind. Insbesondere ergeben sich aus dem Gesetz (vornehmlich dem Aktiengesetz), gesetzesähnlichen und gesetzesausfüllenden Vorschriften sowie der Satzung der Gesellschaft die relevanten Vorschriften, die den Ordnungsrahmen des Aufsichtsrats vorgeben (Æ § 1 Rz. 2 ff.). Daneben kann sich der Aufsichtsrat auch eine Geschäftsordnung geben. Mit 3 Blick auf die ihm zukommende Organisationsautonomie kann dies nur der Aufsichtsrat selbst entscheiden; der Erlass einer Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat durch Vorstand oder Satzungsgeber (d. h. die Gründer der Gesellschaft bzw. die Hauptversammlung, §§ 23, 28, 179 AktG) kommt hingegen nicht in Betracht.1) Der Satzungsgeber kann jedoch einzelne Regelungen, die ___________ 1)

Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 274; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 34; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 13 m. w. N.; a. A. offenbar Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 36 f. der auch dem Satzungsgeber eine Kompetenz zum Erlass einer Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat zugestehen will. Dem steht jedoch bereits entgegen, dass der Aufsichtsrat in der Lage bleiben muss, für die einer Satzungsregelung nicht zugänglichen Regelungen (wie etwa die Einrichtung von Ausschüssen gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG), eigenständige Regeln treffen zu können. Dies wäre nicht gewährleistet, wenn der Satzungsgeber (mit verdrängender Wirkung) eine Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat erlassen könnte.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

typischerweise in einer Geschäftsordnung geregelt werden, in die Satzung aufnehmen, soweit dem nicht die Organisationsautonomie des Aufsichtsrats entgegensteht.2) Entsprechende Regelungen in der Satzung gehen der Geschäftsordnung vor, sodass jene letztlich zwingende Bindungswirkung gegenüber dem Aufsichtsrat entfalten.3) Dem Aufsichtsrat bleibt es in diesem Zusammenhang aber unbenommen, ergänzende Regelungen in einer von ihm erlassenen Geschäftsordnung zu regeln.4) Zudem kann der Satzungsgeber anordnen, dass sich der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung geben muss. In diesem Fall ist der Aufsichtsrat verpflichtet, eine Geschäftsordnung zu erlassen und über deren Inhalt nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. Enthält die Satzung der Gesellschaft keine entsprechende Verpflichtung, entscheidet der Aufsichtsrat auch über deren Erlass nach pflichtgemäßem Ermessen.5) Unabhängig hiervon besteht in der Praxis – vor allem bei größeren Aktiengesellschaften – kaum einmal ein aktienrechtlicher Aufsichtsrat, der nicht von der Möglichkeit, eine Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat zu erlassen, Gebrauch macht. Für börsennotierte Gesellschaften wird in D.1 DCGK 2022 der Erlass einer Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat – sowie deren Zugänglichmachung auf der Internetseite der Gesellschaft – sogar ausdrücklich empfohlen. 4 Der Erlass einer Geschäftsordnung bedarf gemäß § 108 Abs. 1 AktG eines Aufsichtsratsbeschlusses, der mit einfacher Mehrheit zu fassen ist.6) Bei paritätisch mitbestimmten Gesellschaften kommt dem Aufsichtsratsvorsitzenden gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 MitbestG in diesem Zusammenhang ein Zweitstimmrecht zu, wenn die Beschlussfassung im ersten Wahlgang nicht die erforderliche einfache Mehrheit erreicht.7) Die Geschäftsordnung ist schon zu Dokumentationszwecken schriftlich oder in Textform gemäß § 126b BGB niederzulegen.8) ___________ 2) 3)

4)

5) 6) 7) 8)

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Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 36; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 176; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 13 m. w. N. BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, NJW 1975, 1412; Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 127; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 277; Hölters/Weber/Groß-Bölting/ Rabe, § 107 Rz. 176; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 34; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 182; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 652; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 176; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 2. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 276; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 176; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 36; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 182; MünchKommAktG/ Habersack, § 107 Rz. 177. Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 36; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 12 m. w. N. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 276; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 34; MünchKommAktG/ Habersack, § 107 Rz. 178; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 93. MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 178 m. w. N. Dazu Ausschussbericht zu § 77 AktG 1965, zitiert bei Kropff, Aktiengesetz, S. 100; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 78; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 56; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 77 Rz. 28.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Praxishinweis: Typische inhaltliche Regelungen einer Geschäftsordnung für den 5 Aufsichtsrat betreffen die Modalitäten der Einberufung und Durchführung von Aufsichtsratssitzungen und Beschlussfassungen, die notwendigen Quoren und Mehrheitserfordernisse sowie die Ein- und Besetzung von Ausschüssen. Daneben können in der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat auch Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats (Æ Rz. 136 ff.) geregelt werden. Letzteres bietet sich an, wenn der Aufsichtsrat keine Geschäftsordnung für den Vorstand erlassen hat; anderenfalls sollten die Zustimmungsvorbehalte zweckmäßigerweise in der Geschäftsordnung für den Vorstand – dem Adressaten der Zustimmungsvorbehalte – geregelt werden. Ebenfalls möglich, wenn auch nicht empfehlenswert, ist es, sowohl in der Geschäftsordnung für den Vorstand als auch in der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat (unterschiedliche) Zustimmungsvorbehalte zu regeln. Soweit bereits in der Satzung Zustimmungsvorbehalte enthalten sind, können weitere Zustimmungsvorbehalte in die Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat aufgenommen werden, wenn der Aufsichtsrat die satzungsmäßigen Zustimmungsvorbehalte nicht für hinreichend weitgehend hält. Gleichsam kann er eventuelle Schwellenwerte, die in der Satzung bei bestimmten Zustimmungsvorbehalten geregelt sind, absenken und somit bestehende Zustimmungsvorbehalte verschärfen. Der Aufsichtsrat kann die Satzung als höherrangiges Recht jedoch nicht durchbrechen, so dass eine Aufhebung von in der Satzung geregelten Zustimmungsvorbehalten oder die Erhöhung von in der Satzung geregelten Schwellenwerten in der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat nicht vorgesehen werden kann. Der Vorstand ist in jedem Fall verpflichtet, sämtliche Zustimmungsvorbehalte zu beachten; bei sich widersprechenden Zustimmungsvorbehalten gelten aus den vorgenannten Gründen regelmäßig die jeweils schärfsten Regelungen bzw. bei inhaltlichen Widersprüchen im Zweifel die höherrangigen Satzungsregelungen. II.

Zusammensetzung des Aufsichtsrats

1.

Zahl der Mitglieder

Nach dem gesetzlichen Leitbild des § 95 AktG besteht der (nicht mitbestimmte) 6 Aufsichtsrat aus (mindestens) drei Mitgliedern. Die Größe des Aufsichtsrats kann in der Satzung jedoch – je nach Höhe des Grundkapitals der Gesellschaft – auf bis zu 21 Mitglieder erhöht werden (§ 95 Satz 2 i. V. m. Satz 4 AktG). Abweichende Regelungen gelten für mitbestimmte Aufsichtsräte. Bei nach dem 7 MitbestG paritätisch mitbestimmten Aufsichtsräten richtet sich die Größe des Aufsichtsrats nach der Anzahl der in der Regel bei der Gesellschaft bzw. in der relevanten Unternehmensgruppe beschäftigten (inländischen9)) Mitarbeiter. Bei Gesellschaften mit in der Regel 2.000 bis 10.000 Mitarbeitern setzt sich der Aufsichtsrat aus sechs Anteilseignervertretern und sechs Arbeitnehmervertretern zu___________ 9)

Ganz h. M. etwa OLG München, Beschl. v. 20.2.2017 – 31 Wx 321/15, ZIP 2017, 476; KG, Beschl. v. 16.10.2015 – 14 W 89/15, ZIP 2015, 2172 (TUI); Behme, AG 2018, 1, passim; Fischer, NZG 2014, 737 (738); Hellwig/Behme, AG 2009, 261 (263); zur Europarechtskonformität der Auslegung der h. M. vgl. EuGH (Große Kammer), Urt. v. 18.7.2017 – C566/15, NZA 2017, 1000 (1002) (TUI).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

sammen (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MitbestG). Bei Gesellschaften mit in der Regel mehr als 10.000 bis zu 20.000 Mitarbeitern besteht der Aufsichtsrat aus jeweils acht und bei Gesellschaften mit in der Regel mehr als 20.000 Mitarbeitern aus jeweils zehn Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 MitbestG). Für Gesellschaften mit in der Regel mehr als 20.000 Mitarbeitern ist die Größe des Aufsichtsrats (20 Mitglieder) zwingend; bei Gesellschaften mit in der Regel weniger als 20.000 bzw. 10.000 Mitarbeitern kann in der Satzung hingegen vorgesehen werden, dass die Besetzung nach Maßgabe der jeweils höheren Schwellenwerte erfolgen soll (§ 7 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 MitbestG). 8 Bei nach dem DrittelbG mitbestimmten Gesellschaften bestehen grundsätzlich keine Größenvorgaben, die von den Vorgaben des Aktiengesetzes abweichen. Allerdings muss der Aufsichtsrat einer nach dem DrittelbG mitbestimmten Gesellschaft gemäß § 4 Abs. 1 DrittelbG (exakt) zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestehen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Gesamtzahl der Aufsichtsratsmitglieder durch drei teilbar ist. Diese Notwendigkeit wird in der seit der Aktienrechtsnovelle 201610) geltenden Neufassung des § 95 Satz 3 AktG (deklaratorisch) nachgezeichnet. Die früher geltende Vorgabe, dass die Mitgliederanzahl grundsätzlich auch bei nicht mitbestimmten Aufsichtsräten durch drei teilbar sein musste (§ 95 Satz 3 a. F. AktG), wurde durch die Aktienrechtsnovelle 2016 abgeschafft. 9 Für Unternehmen, die in bestimmten Branchen tätig sind, ergeben sich hiervon abweichende Erfordernisse nach dem MontanmitbestG und dem MontanmitbestErgG. 2.

Persönliche Mindestanforderungen und Bestellungshindernisse

10 Soweit keine Bestellungshindernisse bestehen, kann gemäß § 100 Abs. 1 AktG – unbeschadet im Einzelfall anwendbarer Spezialgesetze – grundsätzlich jede natürliche, unbeschränkt geschäftsfähige Person in den Aufsichtsrat gewählt werden. Das Aktienrecht sieht insbesondere keine Vorgaben in Bezug auf die Nationalität oder Sprachkenntnisse der Aufsichtsratsmitglieder vor.11) Auch eine besondere Sachkunde müssen Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich nicht aufweisen.12) Eine mangelnde fachliche Eignung des Aufsichtsratsmitglieds führt ___________ 10) Gesetz zur Änderung des Aktiengesetzes (Aktienrechtsnovelle 2016) v. 22.12.2015, BGBl I 2015, 2565. 11) Ausführlich Dreher, in: Festschrift Lutter, S. 357 (361 ff.); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 27; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 24; MünchHdb GesR IV/HoffmannBecking, § 30 Rz. 3. 12) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Wilsing/Winkler, § 2 Rz. 33; Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 200; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 28; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 4; KK-AktG/Mertens-Cahn, § 100 Rz. 10; MünchHdb GesR IV/HoffmannBecking, § 30 Rz. 4; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 16; vgl. zur Mindestqualifikation BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, ZIP 1983, 53.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

allerdings nicht zu einem weniger strengen Pflichten- oder Verschuldensmaßstab für das Aufsichtsratsmitglied (Æ § 4 Rz. 15 ff.). Spezialgesetzliche persönliche Mindestanforderungen werden gemäß § 100 11 Abs. 3 AktG insbesondere durch mitbestimmungsrechtliche Gesetze aufgestellt. Nach diesen Gesetzen müssen die von den Arbeitnehmern zu bestimmenden Aufsichtsratsmitglieder insbesondere volljährige Arbeitnehmer der Gesellschaft (vgl. etwa § 7 Abs. 4 MitbestG, § 4 Abs. 3 DrittelbG) bzw. Gewerkschaftsvertreter sein, die zugleich Mitarbeiter eines mitbestimmten Unternehmens sind (§ 7 Abs. 5 MitbestG). Zusätzliche Qualifikationsanforderungen ergeben sich etwa für Bankinstitute (§ 25d KWG und § 2d KWG13)) sowie für Versicherungsunternehmen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 VAG14)). Bestellungshindernisse bestehen vor allem dann, wenn das prospektive Auf- 12 sichtsratsmitglied andere Ämter ausübt, durch die eine effektive Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat gefährdet würde.15) Eine effektive Überwachung setzt insbesondere eine strikte Trennung von Geschäftsleitung und Überwachung voraus.16) Im Übrigen muss sichergestellt sein, dass dem Aufsichtsratsmitglied ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um seiner Überwachungstätigkeit nachzukommen.17) Vor diesem Hintergrund können Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 105 Abs. 1 13 Fall 1 AktG insbesondere nicht gleichzeitig Mitglied des Vorstands derselben Gesellschaft sein. Eine Ausnahme sieht § 105 Abs. 2 AktG nur für einen begrenzten Zeitraum von höchstens einem Jahr für den Ersatz verhinderter oder fehlender Vorstandsmitglieder vor; während der Dauer einer solchen (Not)Vertretung ruht das Amt als Aufsichtsratsmitglied, sodass auch in diesem Ausnahmefall eine Trennung von Geschäftsleitung und Überwachung gewährleistet bleibt. Zudem können gemäß § 105 Abs. 1 Fall 2 und Fall 3 AktG auch ___________ 13) Vgl. hierzu etwa U.H. Schneider/S.H. Schneider, NZG 2016, 41 (43 ff.); Leuschner/ Wolfgarten, WPg 2015, 375; Merkblatt zu den Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB der BaFin, abrufbar unter https://www.bafin.de/ SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Merkblatt/mb_verwaltungs-aufsichtsorgane_ KWG_KAGB.html. 14) Vgl. zum Ganzen Winkler, S. 345 ff. sowie Merkblatt zur fachlichen Eignung und Zuverlässigkeit von Mitgliedern von Verwaltungs- oder Aufsichtsorganen gemäß VAG der BaFin, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Merkblatt/VA/ mb_161123_ar_va.html. 15) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 12; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 1; MünchKommAktG/ Habersack, § 100 Rz. 1; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 2; zur Mitgliedschaft im Aufsichtsrat eines Konkurrenzunternehmens KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 100 Rz. 14 m. w. N.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 21 ff. m. w. N. 16) Großkomm-AktG/Drygala, § 105 Rz. 1; Hüffer/Koch, § 105 Rz. 1; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 105 Rz. 2; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 13; MünchKommAktG/ Habersack, § 106 Rz. 1; Schmidt/Lutter/Drygala, § 105 Rz. 1. 17) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Wilsing/Winkler, § 2 Rz. 26; siehe auch Grundsatz 12 DCGK 2022; dazu Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Kremer, G12 Rz. 1.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Prokuristen und zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigte Handlungsbevollmächtigte derselben Gesellschaft nicht zugleich Aufsichtsratsmitglied sein. Für Arbeitnehmervertreter eines nach dem MitbestG paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrats gilt gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG insoweit eine Lockerung dieses Verbots, als diese auch Prokuristen der Gesellschaft sein dürfen, soweit sie nicht unmittelbar dem Vorstand unterstellt sind (sog. direct reports18)) und deren Prokura nicht für den gesamten Geschäftsbereich des Vorstands erteilt wurde. Für Arbeitnehmervertreter, die auf Basis des DrittelbG in den Aufsichtsrat gewählt werden, gilt diese Ausnahme nicht.19) 14 Weitere Bestellungshindernisse stellt § 100 Abs. 2 AktG auf. Gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG darf ein Aufsichtsratsmitglied nur in maximal neun weiteren obligatorischen Aufsichtsräten von Handelsgesellschaften vertreten sein. Lockerungen gelten für gesetzliche Vertreter von Konzernmuttergesellschaften gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 AktG, die zusätzlich in den Aufsichtsräten von fünf weiteren Konzernhandelsgesellschaften vertreten sein dürfen („Konzernprivileg“). Umgekehrt gelten gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3 AktG Vorsitzendenmandate für die Berechnung nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG doppelt. Zweck dieser Vorschrift ist sicherzustellen, dass dem Aufsichtsratsmitglied ausreichend Zeit zur Ausübung seines Amts zur Verfügung steht.20) Dieser Zweck wird nur unvollkommen erreicht, da Mitgliedschaften in fakultativen Aufsichtsräten, aufsichtsratsähnlichen Gremien und Aufsichtsräten von Körperschaften, die keine Handelsgesellschaften sind, von § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG nicht erfasst sind.21) Diese Lücke ist jedoch zur Gewährleistung der Rechtssicherheit und -klarheit hinzunehmen, da für Aktionäre die Bestellungsvoraussetzungen und -hindernisse von Aufsichtsratsmitgliedern bewertbar bleiben müssen.22) Aus demselben Grund ist auch der wohl herrschenden

___________ 18) Hölters/Weber/Simons, § 105 Rz. 5; Hüffer/Koch, § 105 Rz. 3. 19) So auch Hüffer/Koch, § 105 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 105 Rz. 12; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 105 Rz. 17; BeckOGK-AktG/Spindler, § 105 Rz. 12. 20) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 66; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 8; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 100 Rz. 31; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 28; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 8; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 27. 21) Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 202; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 51 ff.; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 29; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 5 f.; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 100 Rz. 26 f.; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 14; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 18, 29; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 18 f. 22) Siehe hierzu etwa auch Wollburg, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 1425 (1434 f.).

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Meinung23) zu folgen, wonach Mandate in Aufsichtsorganen ausländischer Gesellschaften im Rahmen des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG ebenfalls nicht zu berücksichtigen sind. Gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG dürfen Aufsichtsratsmitglieder zudem 15 nicht gleichzeitig gesetzliche Vertreter eines abhängigen Unternehmens sein. Durch dieses Verbot soll sichergestellt werden, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat der Gesellschaft nicht gegenseitig zu überwachen haben und somit das „natürliche Organisationsgefälle“ im Konzern erhalten bleibt.24) Die Bestimmung der Abhängigkeit des Unternehmens richtet sich nach den allgemeinen Regeln des Aktienrechts (§ 17 AktG).25) Anders als bei § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG sind in diesem Zusammenhang auch die gesetzlichen Vertreter ausländischer Gesellschaften umfasst.26) Dies widerspricht nicht dem Gebot der Rechtsicherheit und -klarheit, weil die vertretungsberechtigten Organe auch in Auslandsgesellschaften in aller Regel ohne weiteres identifizierbar sein werden. Eine ähnliche Zielsetzung hat das in § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG geregelte Verbot der Überkreuzverflechtung. Hiernach kann nicht Mitglied des Aufsichtsrats werden, wer bereits gesetzlicher Vertreter in einer anderen Kapitalgesellschaft ist, in deren Aufsichtsrat ein Mitglied des Vorstands der Gesellschaft des prospektiven Aufsichtsratsmitglieds vertreten ist. In dieser Konstellation ergäbe sich eine Art „Pattsituation“, weil der Überwacher der einen Gesellschaft in der jeweils anderen Gesellschaft selbst von der von ihm überwachten Person überwacht werden würde. Auch bei der Überkreuzverflechtung sind gesetzliche Vertreter ausländischer Gesellschaften zu berücksichtigen.27) Anders als bei § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG sieht der Wortlaut des § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG ___________ 23) Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 202; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 30; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 6; Jaspers, AG 2011, 154 (155 f.); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 29; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 14; a. A. Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 100 Rz. 56 ff.; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 23; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 6; jedenfalls für eine Berücksichtigung europäischer Gesellschaften BeckOGKAktG/Spindler, § 100 Rz. 20.; allein für dualistische SE auch Hüffer/Koch, § 100 Rz. 6. 24) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Wilsing/Winkler, § 2 Rz. 28; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 100 Rz. 78; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 33; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 9; KKAktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 33; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 20; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 31; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 9; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 28; siehe auch Ausschussbericht zu § 100 AktG 1965, zitiert bei Kropff, Aktiengesetz, S. 136. 25) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 78; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 33; KKAktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 33; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 31. 26) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 81; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 33; Hüffer/ Koch, § 100 Rz. 9; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 33; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 30 Rz. 20; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 32; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 100 Rz. 9; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 29. 27) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 22; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 35; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 33; a. A. Hüffer/Koch, § 100 Rz. 10 m. w. N.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

keine Einschränkung auf obligatorische Aufsichtsräte vor. Gleichwohl ist nach streitiger, aber zutreffender Auffassung auch § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG auf obligatorische Aufsichtsräte zu begrenzen.28) Da – wie etwa im praktisch vor allem relevanten Fall der GmbH – fakultative Gesellschaftsorgane durch den Gesellschaftsvertrag weitgehend frei ausgestaltet werden können, müssten die Aktionäre bei der Wahl des Aufsichtsrats anderenfalls die im Einzelfall schwierige Beurteilung vornehmen, ob das fakultative Gesellschaftsorgan aufgrund der ihm zugewiesenen Aufgaben als Aufsichtsrat anzusehen ist.29) Schließlich sieht § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG für börsennotierte Gesellschaften eine Karenzzeit von zwei Jahren für ehemalige Vorstandsmitglieder derselben Gesellschaft vor, bevor diese in den Aufsichtsrat wechseln können (sog. Cool-Off-Periode), die allerdings entfällt, wenn das ehemalige Vorstandsmitglied auf Vorschlag von mindestens 25 Prozent des stimmberechtigten Aktienkapitals der Gesellschaft gewählt werden soll. Durch diese Norm wird ein Kompromiss zwischen dem möglichen Interessenkonflikt, dem ein ehemaliges Vorstandsmitglied unterliegen könnte, weil es als Aufsichtsratsmitglied Umstände zu beaufsichtigen hat, die noch in seine Amtszeit als Vorstandsmitglied zurückreichen oder weil ehemalige Vorstandskollegen noch im Amt sind, einerseits und der besonderen Expertise, die ein ehemaliges Vorstandsmitglied für den Aufsichtsrat bieten kann, andererseits, erreicht. Maßgeblich für die Berechnung der Karenzzeit ist der Tag des Ausscheidens aus dem Vorstandsamt und der Tag des Amtsantritts als Aufsichtsratsmitglied – die Wahl kann also bereits innerhalb der Karenzzeit erfolgen, sofern sie eine entsprechende aufschiebende Befristung aufweist.30) 16 Die gesetzlichen persönlichen Voraussetzungen und Bestellungshindernisse sind gemäß § 23 Abs. 5 Satz 1 AktG zwingend und können nicht durch Satzungsregelung abbedungen werden. Die Satzung der Gesellschaft kann gemäß §§ 100 Abs. 4, 23 Abs. 5 Satz 2 AktG jedoch grundsätzlich weitere Vorgaben aufstellen. Dies gilt allerdings nur für solche Aufsichtsratsmitglieder, die von der Hauptversammlung ohne Bindung an Wahlvorschläge gewählt oder aufgrund der Satzung in den Aufsichtsrat entsandt werden. Demnach kann die Satzung insbesondere keine zusätzlichen Vorgaben für Arbeitnehmervertreter aufstellen.31) ___________ 28) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 100 Rz. 6; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 90; a. A. Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 202; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 35; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 11; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 36; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 22; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 38; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 32. 29) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 100 Rz. 6; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 90. 30) Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 46; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 13 m. w. N.; siehe auch MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 44; ausführlich Ihrig in: Festschrift HoffmannBecking, S. 617 (625 ff.). 31) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 100 Rz. 211; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 21; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 24; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 56; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 51.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

3.

Vom Aufsichtsrat als Ganzes zu erfüllende Zusammensetzungskriterien

Neben den persönlichen Voraussetzungen, die jedes Aufsichtsratsmitglied zu 17 erfüllen hat, muss der Aufsichtsrat – in bestimmten Konstellationen – als Ganzes weitere Voraussetzungen hinsichtlich seiner Zusammensetzung erfüllen. Gemäß dem im Rahmen des FISG32) abgeänderten § 100 Abs. 5 AktG n. F. 18 müssen Aktiengesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse gemäß § 316a Satz 2 HGB sind,33) nunmehr über zumindest ein Aufsichtsratsmitglied mit Sachverstand auf dem Gebiet der Rechnungslegung sowie über ein weiteres (also personenverschiedenes)34) Mitglied mit Sachverstand auf dem Gebiet der Abschlussprüfung („Finanzexperten“) verfügen. Beide Finanzexperten müssen gemäß § 107 Abs. 4 Satz 3 AktG Mitglieder des zu bildenden Prüfungsausschusses (Æ Rz. 92) sein. Das früher für Finanzexperten erforderliche Unabhängigkeitskriterium ist durch das AReG 201635) aufgehoben worden.36) Deswegen kann nach heutiger Rechtslage etwa auch ein Arbeitnehmervertreter37) oder der Vertreter eines Mehrheitsaktionärs38) diese Funktion übernehmen. In der Praxis börsennotierter Unternehmen wird zumindest einer der Finanzexperten in aller Regel weiterhin ein unabhängiges Aufsichtsratsmitglied sein, da nach der Empfehlung von C.10 i. V. m. Empfehlung D.4 DCGK 2022 ein unabhängiger Finanzexperte mit Expertise zumindest auf einem der beiden vorgenannten Gebiete den Vorsitz des Prüfungsausschusses übernehmen soll.39) Die Expertise muss nicht zwingend mit einer entsprechenden Berufsausbildung einhergehen, sondern kann etwa auch durch Weiterbildung oder berufliche Er-

___________ 32) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl I 2021, 1534. 33) Unternehmen von öffentlichem Interesse sind gemäß § 316a Satz 2 HGB (i) börsennotierte Gesellschaften, deren Aktien zum Handel am regulierten Markt in einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat zugelassen sind (sog. kapitalmarktorientierte Unternehmen, vgl. §§ 264d HGB, 2 Abs. 11 WpHG), (b) CRR-Kreditinstitute gemäß § 1 (3d) KGW und (c) Versicherungsinstitute gemäß Artikel 2 Abs. 1 der VersBilR (91/674/EWG). 34) Johannsen-Roth/Kießling/Raapke, DB Beilage 2021, Nr. 03, 15 f.; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 24 35) Gesetz zur Umsetzung der prüfungsbezogenen Regelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüfungsreformgesetz – AReG) v. 10.5.2016 mit Wirkung v. 17.6.2016, BGBl I 2016, 1142. 36) Hüffer/Koch, § 100 Rz. 25. 37) RegBegr. zum AReG, BT-Drucks. 18/7219, S. 56; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 100 Rz. 11b; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 25; ausführlich Schilha, ZIP 2016, 1316 (1317 f.). 38) Dazu Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 26 Rz. 16b. 39) Hüffer/Koch, § 100 Rz. 25; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 14; Johannsen-Roth/Illert/ Ghassemi-Tabar/Simons, DCGK D.4 Rz. 25 f.; Schilha, ZIP 2016, 1316 (1319 f.).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

fahrung nachgewiesen werden.40) In aller Regel wird ein Finanzexperte mit Expertise auf dem Gebiet der Abschlussprüfung auch Expertise auf dem Gebiet der Rechnungslegung aufweisen.41) Umgekehrt gilt dies nicht in gleichem Maße. 19 Gemäß § 100 Abs. 5 Halbs. 2 AktG muss der Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit mit dem Sektor, in dem die Gesellschaft tätig ist, vertraut sein („Sektorkompetenz“). Trotz seines insoweit unklaren Wortlauts gilt § 100 Abs. 5 Halbs. 2 AktG – nach seiner systematischen Stellung und weil auch die AbschlussprüferRL, deren Umsetzung § 100 Abs. 5 Halbs. 2 AktG dient, hierauf beschränkt ist – nur für die in § 100 Abs. 5 Halbs. 1 AktG genannten Unternehmen von öffentlichem Interesse.42) Der Begriff des Sektors ist bislang noch nicht abschließend geklärt.43) Um die Voraussetzungen an das Aufsichtsratsamt nicht übermäßig zu überspannen, darf der Begriff des Sektors nicht zu eng verstanden werden.44) Deswegen spricht viel dafür, dass eine Vertrautheit mit der übergeordneten Branche (also etwa der Energiebranche), in der das Unternehmen tätig ist, für die Sektorkompetenz ausreicht und darüber hinaus keine spezifischen Kenntnisse mit dem konkreten Geschäftsfeld der Gesellschaft (also etwa der Energieerzeugung, dem Netzbetrieb oder dem Stromvertrieb) erforderlich sind.45) Die Vertrautheit mit dem jeweiligen Sektor setzt mehr als nur allgemeine Kenntnisse voraus. Vielmehr müssen die Sektorenkenntnisse den Charakter von Berufswissen aufweisen. Die Sektorenkompetenz muss jedoch nicht durch eine entsprechende Berufsausbildung nachgewiesen werden; ausreichend sind insoweit etwa auch intensive Weiterbildungen oder tiefgehende Einblicke durch eine langjährige berufliche Befassung mit dem jeweiligen Sektor (etwa als Berater oder im Beteiligungsmanagement).46) 20 Aufsichtsräte börsennotierter Aktiengesellschaften, die der Mitbestimmung nach dem MitbestG, dem MontanMitbestG oder dem MontanMitbestErgG unterfallen (§ 96 Abs. 2 AktG) oder die aus einer grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgegangen sind und bei denen nach dem MgVG ein paritätisch besetztes Aufsichts- oder Verwaltungsorgan einzurichten ist (§ 96 Abs. 3 AktG), ___________ 40) OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2013 – I-27 W 35/13, ZIP 2013, 2008 (2009); OLG München, Beschl. v. 28.4.2010 – 23 U 5517/09, AG 2010, 639 f.; LG München I, Urt. v. 5.11.2009 – 5 HK O 15312/09, AG 2010, 339; RegBegr. BT-Drucks. 16/10067, S. 102; Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, § 100 Rz. 14; Henssler/Strohn/Henssler, § 100 AktG Rz. 15; Hölters/ Weber/Simons, § 100 Rz. 13; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 24; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 76; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 71; Schmidt/Lutter/Drygala, § 100 Rz. 55 f.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 59. 41) Ähnlich: Hüffer/Koch, § 100 Rz. 24. 42) Hüffer/Koch, § 100 Rz. 26; Nodoushani, AG 2016, 381 (385). 43) Vgl. hierzu etwa Hüffer/Koch, § 100 Rz. 26; Behme/Zickgraf, AG 2016, R132 (R133); Nodoushani, AG 2016, 381 (385); Schilha, ZIP 2016, 1316 (1320). 44) Hüffer/Koch, § 100 Rz. 26; Nodoushani, AG 2016, 381 (385). 45) So etwa auch Behme/Zickgraf, AG 2016, R132 (R133); Nodoushani, AG 2016, 381 (385). 46) RegBegr. BT-Drucks. 18/7219, S. 56.

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müssen zudem eine dreißig-prozentige Geschlechterquote erfüllen. Demnach muss der Aufsichtsrat bzw. das Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan mindestens zu jeweils dreißig Prozent aus Männern und Frauen bestehen. Die Geschlechterquote ist gemäß § 96 Abs. 2 Satz 2 AktG grundsätzlich durch den Aufsichtsrat als Ganzes zu erfüllen („Gesamterfüllung“). Die Arbeitnehmer- oder die Anteilseignerbank im Aufsichtsrat kann jedoch gemäß § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG jeweils durch Mehrheitsbeschluss der Gesamterfüllung widersprechen. Dies hat zur Folge, dass anstelle der Gesamterfüllung jede Bank für sich die Quote zu erfüllen hat („Getrennterfüllung“). Ergeben sich bei der Berechnung der konkreten Zahl der Mindestbesetzung rechnerische Brüche, so ist gemäß § 96 Abs. 2 Satz 4 AktG nach mathematischen Regeln zu runden.47) Durch die Rundungsregeln können sich in Einzelfällen unterschiedliche Ergebnisse ergeben, je nachdem, ob zur Gesamt- oder Getrennterfüllung optiert wird. So muss etwa ein gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG aus 16 Personen bestehender Aufsichtsrat bei Gesamterfüllung eine Mindestquote aufgrund der nach mathematischen Regeln gebotenen Aufrundung von fünf männlichen bzw. weiblichen Aufsichtsratsmitgliedern einhalten (16 x 0,3 = 4,8). Optiert der Aufsichtsrat hingegen zur Getrennterfüllung, muss jede Bank – wegen der dann gebotenen Abrundung – jeweils nur eine Quote von zwei Personen beachten (8 x 0,3 = 2,4); für den Gesamtaufsichtsrat wäre bei Getrennterfüllung damit nur eine Quote von insgesamt vier Personen einzuhalten. Diese Ungleichbehandlung wurde im Zuge des politischen Kompromisses bewusst in Kauf genommen.48) Aktiengesellschaften, die entweder börsennotiert oder mitbestimmt sind, müssen zwar keine strikte Geschlechterquote einhalten; deren Aufsichtsrat muss gemäß § 111 Abs. 5 AktG jedoch eine Zielgröße für den Frauenanteil im Aufsichtsrat sowie Fristen für deren Erreichen festlegen. Die Zielgröße wird üblicherweise in Pro___________ 47) Demnach ist die erste Nachkommastelle abzurunden, wenn sie kleiner als fünf ist, und aufzurunden, wenn sie größer als fünf ist. Beträgt die erste Nachkommastelle exakt fünf und folgen weitere Nachkommastellen, die größer als Null sind, so ist aufzurunden; folgen hingegen ausschließlich Nullen, wird die Zahl auf die nächste gerade Zahl gerundet (vgl. hierzu etwa Hohenstatt/Seibt/Seibt/Kraack, Rz. 96 mit Verweis auf den Standard IEEE 754-2008; Schulz/Ruf, BB 2015, 1155 f.). Diese Rundungsregelungen unterscheiden sich von den in der Regierungsbegründung (RegBegr. BT-Drucks. 18/3784, S. 120) angegebenen – aber nicht im Gesetz verankerten – kaufmännischen Rundungsregeln, bei denen eine erste Nachkommastelle von fünf immer aufgerundet wird (vgl. hierzu etwa Hohenstatt/Seibt/Seibt/Kraack, Rz. 96 mit Verweis auf DIN 1333: 1992-02 (D), S. 8). Die Wahl der mathematischen Rundungsregel im Gegensatz zur kaufmännischen Rundungsregel hat bei dem nach dem MontanmitbestG oder dem MontanmitbestErgG zu bildenden fünfzehnköpfigen Aufsichtsrat eine Auswirkung: 30 Prozent von Fünfzehn ergibt (exakt) 4,5 Mitglieder – nach den maßgeblichen mathematischen Regeln wäre auf die nächste gerade Zahl, mithin auf 4 abzurunden; nach den nicht anwendbaren kaufmännischen Regeln wäre auf 5 Mitglieder aufzurunden. Vgl. zur Diskussion auch Hüffer/Koch, § 96 Rz. 18. 48) Die RegBegr. geht auf diese Ungleichbehandlung ausdrücklich ein, BT-Drucks. 18/3784, S. 120.

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zentpunkten angegeben; seit Inkrafttreten des FüPoG II49) muss die Zielgröße zusätzlich auch auf volle Personenzahlen lauten (§ 111 Abs. 5 Satz 2 AktG). Liegt der Frauenanteil unter 30 Prozent, so darf die Zielgröße den bereits erreichten Frauenanteil im bestehenden Aufsichtsrat nicht mehr unterschreiten (§ 111 Abs. 5 Satz 5 AktG). Durch das Verbot, den bestehenden Frauenanteil im Aufsichtsrat zu unterschreiten, wurde der mit § 111 Abs. 5 AktG verbundene Normzweck in der Praxis teilweise in sein Gegenteil verkehrt, da eine Reihe von Aktiengesellschaften mit Blick auf das Unterschreitungsverbot eine Zielgröße von null Prozent festgelegt haben, um sich in der Zukunft Flexibilität bei Aufsichtsratswahlen zu erhalten. Hierauf hat der Gesetzgeber im Rahmen des FüPoG II reagiert und sieht jetzt ein besonderes Begründungserfordernis vor, wenn eine Zielquote von null Prozent festgelegt wird (§ 111 Abs. 5 Satz 3, Satz 4 AktG). Bei Festlegung der flexiblen Quote muss der Aufsichtsrat auch eine Frist zur Erreichung der flexiblen Quote festlegen, die sich auf maximal fünf Jahre belaufen darf. Wird die vom Aufsichtsrat festgelegte Zielgröße nicht innerhalb der Frist erreicht, bleibt dies – jedenfalls formaljuristisch – sanktionslos.50) Die festgelegte Quote, die maßgebliche Frist und – bei Festlegung der Quote auf null Prozent – auch die besondere Begründung müssen bei börsennotierten Aktiengesellschaften gemäß § 289f Abs. 2 Nr. 4 HGB in die Erklärung zur Unternehmensführung aufgenommen werden. 21 Weitere, vom Aufsichtsrat als Ganzes zu erfüllende Zusammensetzungskriterien ergeben sich aus mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften. Gemäß § 7 Abs. 2 MitbestG müssen die Arbeitnehmervertreter in nach dem Mitbestimmungsgesetz mitbestimmten Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften etwa zu einem Teil Arbeitnehmer des Unternehmens der Gesellschaft und zu einem Teil Gewerkschaftsmitglieder sein. Die konkrete Anzahl richtet sich nach der Größe des zu besetzenden Aufsichtsrats. Gemäß § 4 DrittelbG sind die Arbeitnehmervertreter einer nach dem Drittelbeteiligungsgesetz mitbestimmten Aktiengesellschaft in einem mit drei oder sechs Personen besetzten Aufsichtsrat vollständig aus den Reihen der Arbeitnehmer des Unternehmens der Gesellschaft zu bestimmen. Ist der Aufsichtsrat größer, so müssen lediglich zwei der von den Arbeitnehmern zu bestimmenden Aufsichtsratsmitglieder unternehmenszugehörig sein. 22 Praxishinweis: Für eine mögliche Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern werden die Zusammensetzungskriterien insbesondere im Rahmen des Vorschlags der zu wählenden Aufsichtsratsmitglieder gegenüber der Hauptversammlung gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG relevant. Der Aufsichtsrat darf der Hauptversammlung nur ___________ 49) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst v. 7.8.2021, BGBl I 2021, 3311. 50) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 76 Rz. 45; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 82; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 105 mit Verweis auf BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 178; siehe auch BT-Drucks. 18/3784, S. 119 f.

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solche Mitglieder zur Wahl vorschlagen, die auch wählbar sind und bei denen auch eine Erfüllung der durch den Aufsichtsrat insgesamt zu erfüllenden Zusammensetzungskriterien gewährleistet ist.51) So macht sich der Aufsichtsrat etwa haftbar, wenn er ein Vorstandsmitglied zur Wahl in den Aufsichtsrat vorschlägt oder wenn er einen Mann zur Wahl vorschlägt, obwohl die nach § 96 Abs. 2 AktG erforderliche Geschlechterquote nicht erfüllt ist. Wird ein inhabiler Kandidat zur Wahl in den Aufsichtsrat vorgeschlagen, kann dies in der Praxis auch zu ganz erheblichen Schadensposten führen, da die Wahl eines inhabilen Kandidaten in den Aufsichtsrat nichtig ist und in der Folge auch sämtliche Beschlüsse, an denen dieser mitgewirkt hat, ebenfalls nichtig werden können.52) In Bezug auf die vom gesamten Aufsichtsrat einzuhaltenden Zusammensetzungskriterien ist der Eintritt ganz erheblicher Schäden weniger wahrscheinlich, weil durch die Nichteinhaltung dieser Kriterien – anders als bei der Wahl inhabiler Kandidaten – nicht die Wahl einzelner Aufsichtsratsmitglieder nichtig wird53); jedoch können auch hier etwa die Kosten einer Anfechtungsklage gegen den Wahlbeschluss oder sonstige Verfahren über die Einhaltung dieser Kriterien (etwa im Rahmen der gerichtlichen Nachbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern gemäß § 104 AktG, Æ Rz. 28) prinzipiell ersatzfähige Schadenspositionen darstellen.54) Schließlich soll der Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft nach Empfeh- 23 lung C.1 DCGK 2022 für seine Zusammensetzung konkrete Ziele benennen und ein Kompetenzprofil für das Gesamtgremium erarbeiten. Dabei soll er auf Diversität achten. Zudem empfiehlt der DCGK, dass der Aufsichtsrat auch Expertise zu den für das betreffende Unternehmen bedeutsamen Themen mit Nachhaltigkeitsbezug aufweist.55) Der Begriff der „Expertise“ in Nachhaltigkeitsthemen dürfte dabei – mit Blick auf die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats (Æ Rz. 106) und den sehr breit gefächerten Begriff der Nachhaltigkeit – sinngemäß als Kenntnisse in unternehmensrelevanten Nachhaltigkeitsfragen zu verstehen sein.

___________ 51) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Wilsing/Winkler, § 2 Rz. 51; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 77; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 82. 52) Großkomm-AktG/K. Schmidt, § 250 Rz. 31; MünchHdb. GesR IV/Austmann, § 42 Rz. 182 f.; Schmidt/Lutter/Schwab, § 250 Rz. 7; BeckOGK-AktG/Stilz/Schumann, § 250 Rz. 22, 26. 53) So etwa LG München I, Urt. v. 26.2.2010 – 5 HK O 14083/09, ZIP 2010, 2098 (2101); Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 100 Rz. 12a; Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 74; Hüffer/Koch, § 100 Rz. 31; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 79 m. w. N.; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 75; BeckOGK-AktG/Spindler, § 100 Rz. 93, 95. 54) Vgl. Hölters/Weber/Simons, § 100 Rz. 77; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 100 Rz. 82; Lutter, ZIP 2003, 417 (419). 55) Gemäß Empfehlung C.1 Satz 5 DCGK 2022 soll eine „Qualifikationsmatrix“ als neuer Bestandteil der Erklärung zur Unternehmensführung über den Stand der Umsetzung des Kompetenzprofils für den Aufsichtsrat Auskunft geben.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

III.

Rechtsstellung von Aufsichtsratsmitgliedern

1. Bestellung und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern 24 Die Art und Weise der Bestellung und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern hängt maßgeblich vom Mitbestimmungsstatut sowie von den Satzungsregelungen der Gesellschaft ab. Grundsätzlich werden Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AktG ohne Bindung an einen Wahlvorschlag durch die Hauptversammlung mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 133 Abs. 1 AktG) gewählt. Eine Abberufung derartig bestellter Aufsichtsratsmitglieder kann jederzeit ohne wichtigen Grund durch Beschluss der Hauptversammlung erfolgen. Dieser Beschluss bedarf jedoch vorbehaltlich abweichender Satzungsregelungen (§ 103 Abs. 1 Satz 3 AktG) einer Mehrheit von mindestens drei Vierteln der abgegebenen Stimmen (§ 103 Abs. 1 Satz 2 AktG). Qua Satzung können jedoch insbesondere die erforderlichen Mehrheiten herauf- oder herabgesetzt werden56) oder besondere Verfahrensvoraussetzungen, wie etwa eine vorherige Anhörung des Aufsichtsratsmitglieds, zur Voraussetzung für eine Abberufung gemacht werden.57) Die Abberufung kann aber nach h. M. nicht an das Vorliegen eines wichtigen Grundes gebunden werden58). 25 Praxishinweis: In der Praxis üblich ist eine Herabsetzung der erforderlichen Dreiviertel-Stimmmehrheit auf eine einfache Stimmmehrheit. Eine solche Herabsetzung kann auch in einer allgemein gehaltenen Klausel erfolgen („Beschlüsse der Hauptversammlung bedürfen einer einfachen Kapital- und Stimmmehrheit, soweit nicht gesetzlich zwingend etwas Anderes vorgeschrieben ist“). Bei der Formulierung einer solchen Klausel ist darauf zu achten, dass die Herabsetzung der Stimmmehrheit ausdrücklich bezeichnet wird, da der BGH im Rahmen der Auslegung von Satzungsregelungen zwischen der Herabsetzung von Kapital- und Stimmmehrheit differenziert.59) Ob eine Herabsetzung der Dreiviertel-Stimmmehrheit im Interesse der Gesellschaft oder ihrer Aktionäre liegt, kann nicht abstrakt, sondern nur im Einzelfall beantwortet werden und sollte sorgsam abgewogen werden. Dies gilt insbesondere für Gesellschaften mit breit gestreuter Aktionärsbasis und niedrigen Hauptversammlungspräsenzen, da die Herabsetzung der erforderlichen Mehrheiten etwa auch von aktivistischen Aktionären für eine außerordentliche Umbesetzung des ___________ 56) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/W. Doralt, § 15 Rz. 39; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 32; Hölters/Weber/Simons, § 103 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 103 Rz. 4; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 103 Rz. 14; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 15; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 103 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Spindler, § 103 Rz. 12. 57) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 103 Rz. 5; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 36; Henssler/Strohn/Henssler, § 103 AktG Rz. 4; Hölters/Weber/Simons, § 103 Rz. 9; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 103 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 18; Semler/ v. Schenck/Gasteyer, § 103 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Spindler, § 103 Rz. 12. 58) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 36; Hölters/Weber/Simons, § 103 Rz. 9; KKAktG/Mertens/Cahn, § 103 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 18; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 103 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Spindler, § 103 Rz. 15; a. A. U.H. Schneider/ Nietsch, in: Festschrift Westermann, S. 1447 (1453 f.). 59) BGH, Urt. v. 28.11.1974 – II ZR 176/72, NJW 1975, 212.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Aufsichtsrats genutzt werden kann (vgl. dazu § 103 Abs. 3 Satz 3 AktG). Vor diesem Hintergrund gehen die großen deutschen Aktiengesellschaften mehr und mehr dazu über, von einer pauschalen Herabsetzung sämtlicher Stimm- und Kapitalmehrheitserfordernisse auf das rechtlich zulässige Mindestmaß Abstand zu nehmen.60) Die Satzung kann gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AktG auch vorsehen, dass bis zu 26 einem Drittel der von den Anteilseignern zu bestimmenden Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden sind. Entsendungsrechte können gemäß § 101 Abs. 2 Satz 1 AktG bestimmten Aktionären oder Aktionärsgruppen61) eingeräumt werden („persönliches Entsendungsrecht“) oder an die Inhaberschaft von vinkulierten Namensaktien geknüpft werden („inhabergebundenes Entsendungsrecht“). Das persönliche Entsendungsrecht ist nicht übertragbar und – soweit dies in der Satzung nicht anders geregelt ist – nicht vererblich.62) Es erlischt, sobald die Aktionärseigenschaft des bzw. der Begünstigten wegfällt.63) Scheidet ein Aktionär einer begünstigten Aktionärsgruppe durch Veräußerung seiner Aktien oder durch Tod aus, richtet sich das Schicksal des Entsendungsrechts der übrigen Aktionäre der begünstigten Aktionärsgruppe nach der konkreten Satzungsregelung. Im Zweifel wird ein Fortbestehen des Entsendungsrechts der übrigen an der begünstigten Aktionärsgruppe beteiligten Aktionäre anzunehmen sein.64) Die Übertragung eines inhabergebundenen Entsendungsrechts ist demgegenüber möglich, setzt aber die Zustimmung der Gesellschaft voraus (§ 101 Abs. 2 Satz 2 AktG). Die Satzung kann zudem weitere Voraussetzungen, wie eine bestimmte Familienzugehörigkeit oder das Erfordernis einer Hauptversammlungszustimmung, für die Übertragung aufstellen.65) Stirbt der Inhaber der vinkulierten Namensaktie, geht diese und damit das Entsendungsrecht auf den oder die Gesamtrechtsnachfolger über, ohne dass es einer Zustimmung der Gesellschaft i. S. d. § 68 Abs. 2 AktG bedarf.66) In jedem Fall unzulässig ist eine Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern durch nicht ___________ 60) Vgl. etwa § 21 der Satzung der E.ON SE, die eine sehr differenzierte Regelung trifft und es insbesondere im Rahmen der Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern bei der erforderlichen Dreiviertel-Stimmmehrheit belässt. Weitere Beispiele finden sich in § 21 der Satzung der Uniper SE oder § 9 der Satzung der LEG Immobilien SE. 61) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 138 ff.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 101 Rz. 57; MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 34 f.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 19; BeckOGK-AktG/Spindler, § 101 Rz. 58. 62) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 101 Rz. 53; MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 37; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 17. 63) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 101 Rz. 53; MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 36; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 17. 64) Siehe dazu auch: Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 140; KK-AktG/Mertens-Cahn, § 101 Rz. 57; MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 35. 65) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 135 f.; Hüffer/Koch, § 101 Rz. 10; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 61; MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 39. 66) MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 41; BeckOGK-AktG/Spindler, § 101 Rz. 62 m. w. N.

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am Aktienkapital der Gesellschaft beteiligte Dritte.67) Entsendungsrechte sind Sonderrechte gemäß § 35 BGB und können dementsprechend nicht ohne Zustimmung des bzw. der Begünstigten aufgehoben werden.68) Die entsandten Aufsichtsratsmitglieder können durch die Hauptversammlung nicht abberufen werden, es sei denn, das Entsendungsrecht des Berechtigten ist weggefallen oder die Satzung sieht in bestimmten Fällen ein Abberufungsrecht der Hauptversammlung vor.69) Allerdings kann der Entsendungsberechtigte die von ihm entsandten Aufsichtsratsmitglieder jederzeit ohne wichtigen Grund abberufen (§ 103 Abs. 2 AktG). 27 In mitbestimmten Aktiengesellschaften werden nur die Anteilseignervertreter durch die Hauptversammlung gewählt oder auf Basis von Entsendungsrechten in den Aufsichtsrat entsandt. Der Bestellungs- und Abberufungsvorgang der Arbeitnehmervertreter richtet sich im Wesentlichen nach dem jeweils anwendbaren Mitbestimmungsstatut. Der Kreis der Wahlberechtigten, die Modalitäten der Wahl und die Mehrheitserfordernisse der verschiedenen Mitbestimmungsstatuten sind sehr unterschiedlich (vgl. hierzu §§ 5 ff. DrittelbG, §§ 10 ff. MitbestG, § 6 MontanmitbestG, §§ 7 ff. MontanmitbestErgG, §§ 22 ff. MgVG). Eine Abberufung von Arbeitnehmervertretern kommt in sämtlichen Mitbestimmungsstatuten jedenfalls nur auf Antrag und durch Beschluss der jeweils im Aufsichtsrat vertretenen Interessengruppen (Arbeitnehmer, leitende Angestellte, Gewerkschafter) in Betracht und bedarf in aller Regel einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen (vgl. etwa § 12 DrittelbG, § 23 MitbestG, § 10n MontanmitbestErgG und §§ 22, 26 MgVG). Eine Abberufung von Arbeitnehmervertretern durch Beschluss der Hauptversammlung kommt nach sämtlichen Mitbestimmungsstatuten, mit Ausnahme des MontanmitbestG (§§ 11 Abs. 2 MontanmitbestG, 103 Abs. 1 AktG), nicht in Betracht. 28 Schließlich können Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 104 AktG gerichtlich bestellt werden, wenn der Aufsichtsrat unterbesetzt ist. Antragsberechtigt sind der Vorstand, jedes Aufsichtsratsmitglied und jeder Aktionär. Bei mitbestimmten Gesellschaften sind zusätzlich bestimmte Arbeitnehmergremien und Arbeitnehmergruppen (vgl. § 104 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 – 7 und Satz 4 AktG) antragsberechtigt. Eine gerichtliche Bestellung setzt zunächst eine Vakanz im Aufsichtsrat voraus. Eine dauerhafte Amtsverhinderung eines Aufsichtsratsmitglieds steht

___________ 67) MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 30. 68) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 128; Hüffer/Koch, § 101 Rz. 10; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 61; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 14; BeckOGKAktG/Spindler, § 101 Rz. 51. 69) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 49 ff.; Hüffer/Koch, § 103 Rz. 8; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 103 Rz. 25 ff.; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 29; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 103 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Spindler, § 103 Rz. 25.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

nach herrschender Meinung einer Vakanz im Aufsichtsrat gleich.70) Nicht ausreichend für die Annahme einer Vakanz ist hingegen das Bestehen einfacher Beschlusshindernisse (wie etwa Stimmverbote)71) oder der Unwille eines Aufsichtsratsmitglieds, seinen Pflichten nachzukommen.72) Besteht eine Vakanz und führt diese zur Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats, ist der Vorstand verpflichtet, unverzüglich einen Antrag auf gerichtliche Bestellung zu stellen (§ 104 Abs. 1 Satz 2 AktG). Die übrigen Antragsberechtigten trifft eine solche Pflicht nicht; ihr Antragsrecht bleibt aber bestehen. Auch wenn die Vakanz nicht zu einer Beschlussunfähigkeit führt, kann grundsätzlich ein Antrag auf gerichtliche Bestellung gestellt werden. Ein entsprechender Antrag setzt aber voraus, dass die Vakanz bereits für mindestens drei Monate besteht oder dass ein dringender Fall vorliegt, der eine unverzügliche Wiederbestellung notwendig macht (§ 104 Abs. 2 AktG). Ein dringender Grund liegt beispielsweise vor, wenn besonders wichtige Entscheidungen des Aufsichtsrats anstehen, wie etwa die Zustimmung zu wesentlichen Strukturmaßnahmen.73) Bei mitbestimmten Gesellschaften besteht bei einer Vakanz wegen der damit verbundenen Beeinträchtigung des gesetzlichen Kräftegleichgewichts zwischen den Bänken gemäß § 104 Abs. 3 AktG grundsätzlich immer ein dringender Grund. Ausnahmen sieht § 104 Abs. 3 AktG nur für nach dem DrittelbG mitbestimmte Gesellschaften und für das „weitere Mitglied“ im Sinne des MontanMitbestG und dem MontanMitbestErgG vor, da in diesen Fällen in aller Regel keine Beeinträchtigung des Kräftegleichgewichts zu befürchten steht. Unabhängig hiervon kommt bei nach dem DrittelbG mitbestimmten Gesellschaften jedoch ein dringender Fall nach der allgemeinen Regel des § 104 Abs. 2 AktG in Betracht, wenn auf Anteilseignerseite gleichzeitig so viele Vakanzen bestehen, dass die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat die Mehrheit stellen.74) Über den Antrag auf gerichtliche Bestellung entscheidet das Gericht nach den Regeln der freiwilligen Gerichtsbarkeit.75) ___________ 70) BayObLG, Beschl. v. 28.3.2003 – 3Z BR 199/02, NZG 2003, 691 (693); Hüffer/Koch, § 104 Rz. 2; Hölters/Weber/Simons, § 104 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 104 Rz. 25; MünchKommAktG/Habersack, § 104 Rz. 12 f.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 104 Rz. 12; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 104 Rz. 5; Henssler/Strohn/Henssler, § 104 AktG Rz. 5. 71) BeckOGK-AktG/Spindler, § 104 Rz. 12; Hüffer/Koch, § 104 Rz. 2; MünchKommAktG/ Habersack, § 104 Rz. 13; Henssler/Strohn/Henssler, § 104 AktG Rz. 5. 72) Hüffer/Koch, § 104 Rz. 2; Henssler/Strohn/Henssler, § 104 AktG Rz. 5. 73) OLG Hamm, Beschl. v. 14.12.2010 – 15 W 538/10, AG 2011, 384 (386); Hüffer/Koch, § 104 Rz. 10; MünchKommAktG/Habersack, § 104 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 104 Rz. 17. 74) So wohl auch Niewiarra/Servatius, in: Festschrift Semler, S. 217 (225). 75) MünchKommAktG/Habersack, § 104 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Spindler, § 104 Rz. 26; Hüffer/Koch, § 104 Rz. 5; Hölters/Weber/Simons, § 104 Rz. 40; im Einzelnen auch Fett/ Theusinger, AG 2010, 425 (431 ff.).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

29 Sämtliche Aufsichtsratsmitglieder – unabhängig davon, auf welche Weise und durch wen sie bestellt wurden – können durch Gerichtsbeschluss aus wichtigem Grund abberufen werden.76) Ein wichtiger Grund für die Abberufung liegt vor, wenn die Fortsetzung des Organverhältnisses unter Berücksichtigung aller Umstände wegen eines in der Person des Aufsichtsratsmitglieds liegenden Grundes der Gesellschaft nicht mehr zugemutet werden kann.77) Die Anforderungen an das Vorliegen eines wichtigen Grundes entsprechen nach zutreffender herrschender Meinung den (vergleichsweise niedrigen) Anforderungen, die an die Abberufung von Vorstandsmitgliedern aus wichtigem Grund gemäß § 84 Abs. 4 AktG gestellt werden (Æ Rz. 186 ff.), da keine schützenswerten Belange von Aufsichtsmitgliedern bestehen, die eine Privilegierung bei der Abberufung aus wichtigem Grund gegenüber Vorstandsmitgliedern rechtfertigen könnten.78) Antragsberechtigt ist grundsätzlich der Aufsichtsrat, der über die Antragstellung mit einfacher Mehrheit beschließt (§ 103 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 AktG). In Bezug auf entsandte Aufsichtsratsmitglieder können auch Aktionäre, deren Aktienkapital zehn Prozent des Grundkapitals oder einen anteiligen Betrag von einer Million Euro des Grundkapitals erreichen, einen Antrag auf Abberufung stellen (§ 103 Abs. 3 Satz 3 AktG). 30 Aufsichtsratsmitglieder können gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AktG maximal bis zur Beendigung der Hauptversammlung bestellt werden, die über die Entlastung für das vierte Geschäftsjahr nach dem Beginn der Amtszeit beschließt. Damit ergibt sich eine maximale Amtsdauer pro Bestellungsperiode von ungefähr fünf Jahren. Die Höchstgrenze ist gesetzlich zwingend, eine (ggf. auch wiederholte) Wiederbestellung derselben Aufsichtsratsmitglieder ist aber möglich. Die Höchstgrenze einer Amtsdauer dient vornehmlich dem Aktionärsinteresse, da sich der Mitgliederbestand der Hauptversammlung aufgrund der Prägung der Aktiengesellschaft als – häufig zudem börsennotierte – Publikumsgesellschaft stetig wandelt und auch den neu eintretenden Aktionären die Möglichkeit gegeben werden muss, Einfluss auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zu nehmen. Die Höchstgrenze gilt gleichwohl nicht nur für die von der Hauptversammlung gewählten, sondern für alle Aufsichtsratsmitglieder, einschließlich entsandter Mitglieder und Arbeitnehmervertreter. Soweit die Höchstgrenze für die Amtsdauer eingehalten wird, kann die Amtsdauer der Aufsichtsratsmitglieder weitgehend frei durch die Satzung geregelt werden. Entspre___________ 76) Vgl. etwa MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 33; Hölters/Weber/Simons, § 103 Rz. 27; Hüffer/Koch, § 103 Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 99. 77) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 1.10.2007 – 20 W 141/07, AG 2008, 456 f.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.11.2006 – 8 W 388/06, AG 2007, 218; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 63 f.; Heidel/Breuer/Fraune, § 103 Rz. 14; Hüffer/Koch, § 103 Rz. 10; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 103 Rz. 34; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 103 Rz. 33; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 100. 78) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 100; Heidel/Breuer/Fraune, § 103 Rz. 14; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 39; Hüffer/Koch, § 103 Rz. 10.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

chende Satzungsregelungen gelten auch für Arbeitnehmervertreter.79) Eine Satzungsregelung ist aber aufgrund des Benachteiligungsverbots (Æ Rz. 48) unzulässig, wenn sie zwischen Anteilseignervertretern und Arbeitnehmervertretern differenziert.80) Die Amtsdauer kann auch flexibel ausgestaltet werden, sodass die jeweils bestellungsberechtigte Gruppe für jedes von ihr zu bestellende Aufsichtsratsmitglied unterschiedliche Amtsperioden festlegen kann.81) Praxishinweis: Eine Regelung über eine flexible Amtsdauer kann etwa genutzt wer- 31 den, um ein sog. staggered board (oder auch „classified board“) zu schaffen. Ein staggered board ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht in einer Hauptversammlung über die Neuwahl sämtlicher Anteilseignervertreter entschieden wird, sondern dass in jeder ordentlichen Hauptversammlung jeweils nur über die Neuwahl eines oder einiger Mitglieder entschieden wird. Hierdurch kann im Ergebnis eine höhere Kontinuität im Aufsichtsrat erreicht werden, sodass strukturell sichergestellt ist, dass bestehendes Wissen durch die jeweils verbleibenden Aufsichtsratsmitglieder an die neu hinzukommenden Aufsichtsratsmitglieder weitergereicht werden kann. Außerdem erschwert ein staggered board feindliche Übernahmen, da ein Erwerber grundsätzlich nicht auf einmal alle Aufsichtsratsmitglieder ersetzen kann (außer er erreicht die Dreiviertel-Mehrheit für die Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern, sofern die Abberufungsmehrheit nicht auf die einfache Mehrheit herabgesetzt worden ist). Staggered boards sind andererseits mit einem höheren Aufwand verbunden, da häufiger Aufsichtsratswahlen anstehen, sodass insbesondere auch ein höheres bzw. regelmäßigeres Anfechtungsrisiko besteht. Einige institutionelle Stimmrechtsvertreter wie ISS82) und Glass Lewis83) sehen vor diesem Hintergrund staggered boards kritisch. Das Aufsichtsratsmitglied kann sein Amt auch von sich aus freiwillig nieder- 32 legen.84) Hierzu bedarf es keines wichtigen Grundes; allerdings darf die Nie-

___________ 79) Siehe bereits die Regelungen der § 5 Abs. 1 DrittelbG, § 15 Abs. 1 MitbestG, § 10c Abs. 1 MitbestErgG. Vgl. insoweit etwa Schmidt/Lutter/Drygala, § 102 Rz. 11; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 102 Rz. 8; MünchKommAktG/Habersack, § 102 Rz. 13; Hüffer/Koch, § 102 Rz. 5. 80) BeckOGK-AktG/Spindler, § 102 Rz. 14; Hüffer/Koch, § 102 Rz. 4; Henssler/Strohn/ Henssler, § 102 AktG Rz. 8; Hölters/Weber/Simons, § 102 Rz. 9; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 102 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 102 Rz. 8. 81) BGH, Urt. v. 15.12.1986 – II ZR 18/86, NJW 1987, 902 (903); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.11.1985 – 5 U 30/85, AG 1987, 159 (160); Hölters/Weber/Simons, § 102 Rz. 9; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 102 Rz. 29; Hüffer/Koch, § 102 Rz. 4; MünchKommAktG/ Habersack, § 102 Rz. 9. 82) Institutional Shareholder Services Continental Europe Proxy Voting Guidelines-Benchmark Policy Recommendations 2022, Seite 16, abrufbar unter https://www.issgovernance.com/ policy-gateway/voting-policies/. 83) Glass Lewis 2022 Policy Guidelines – ESG Initiatives, Seite 12, abrufbar unter https:// www.glasslewis.com/voting-policies-current/. 84) Hüffer/Koch, § 103 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 59 f.; BeckOGKAktG/Spindler, § 103 Rz. 65; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 97; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 103 Rz. 56; Hölters/Weber/Simons, § 103 Rz. 55; Wachter/Schick, § 103 Rz. 17. Vgl. auch Bayer/Hoffmann, AG 2014, R144 ff. mit empirischen Daten aus der Praxis.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

derlegung nicht zur Unzeit erfolgen.85) Eine Niederlegung zur Unzeit ist gleichwohl wirksam, verpflichtet aber zum Schadensersatz.86) Nicht möglich ist ein bloßes Ruhenlassen des Amtes durch das Aufsichtsratsmitglied.87) 2.

Anstellungsverhältnis, Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern, Auslagenersatz, Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern

33 Anders als bei Vorstandsmitgliedern (Æ Rz. 195) besteht zwischen Aufsichtsratsmitglied und Gesellschaft grundsätzlich kein Anstellungsverhältnis. Stattdessen entsteht durch Wahl und Annahme der Wahl ein gesetzliches bzw. korporationsrechtliches88) Schuldverhältnis zwischen Aufsichtsratsmitglied und Gesellschaft, das die Rechte und Pflichten des Aufsichtsratsmitglieds abschließend regelt.89) Nach überwiegender Auffassung kann auch der Vorstand kein Anstellungsverhältnis für die Gesellschaft mit den Aufsichtsratsmitgliedern schaffen.90) Diese Auffassung ist zutreffend, weil der Aufsichtsrat als Überwacher des Vorstands von diesem unabhängig bleiben muss. Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern in mitbestimmten Aufsichtsräten bleiben jedoch unverändert bestehen91), wobei im Falle von Kollisionen zwischen der Ausübung des Aufsichtsratsamts und des Arbeitsverhältnisses dem Aufsichtsratsmandat der Vorrang einzuräumen ist.92) ___________ 85) MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 60; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 113 Wachter/Schick, § 103 Rz. 17; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 103 Rz. 57; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 103 Rz. 27; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 103 Rz. 22; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 35. 86) MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 60; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 103 Rz. 113; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 103 Rz. 57; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 103 Rz. 22; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 35; Singhof, AG 1998, 318 (328). 87) Vgl. auch Großkomm-AktG/Oetker, § 26 MitbestG Rz. 22. 88) Ob ein korporationsrechtliches oder gesetzliches Schuldverhältnis oder beide entstehen, ist im Einzelnen umstritten, in der Praxis jedoch ohne Relevanz, vgl. zum Streitstand etwa MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 67 Fn. 246. 89) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 11; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 2. MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 67; Henssler/Strohn/Henssler, § 101 AktG Rz. 1; BeckOGK-AktG/Spindler, § 101 Rz. 8; Hölters/Weber/Simons, § 101 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 110; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 2; KKAktG/Mertens/Cahn, § 101 Rz. 5. Wohl auch Hüffer/Koch, § 101 Rz. 2 (korporationsund schuldrechtliche Doppelnatur). 90) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 111, 114; Hölters/Weber/Simons, § 101 Rz. 7; Hüffer/Koch, § 101 Rz. 2; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 101 Rz. 5; MünchKommAktG/ Habersack, § 101 Rz. 67; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Spindler, § 101 Rz. 9. A. A. etwa: Geßler/Käpplinger, § 101 Rz. 5. 91) ErfK-ArbR/Oetker, § 26 MitbestG Rz. 3; Großkomm-AktG/Oetker, § 26 MitbestG Rz. 5; Schönhöft/Oelze, NZA 2016, 145. 92) ErfK-ArbR/Oetker, § 26 MitbestG Rz. 4; Großkomm-AktG/Oetker, § 26 MitbestG Rz. 6; Habersack/Henssler/Henssler, § 26 MitbestG Rz. 5; Wißmann/Kleinsorge/Schubert/ Wißmann, MitbestR, § 26 MitbestG Rz. 8; Schönhöft/Oelze, NZA 2016, 145 f.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Das Aufsichtsratsamt ist nach der gesetzlichen Konzeption ein Ehrenamt, für 34 das keine Vergütung geschuldet wird.93) Gemäß § 113 Abs. 1 AktG kann Aufsichtsratsmitgliedern jedoch für ihre Tätigkeit eine Vergütung durch Festsetzung in der Satzung oder Bewilligung durch die Hauptversammlung gewährt werden. Nach § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG soll die festgesetzte Vergütung in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und der Lage der Gesellschaft stehen. Diese Regelung ist nach ihrem klaren Wortlaut („soll“) nicht bindend, sondern stellt lediglich eine Empfehlung dar.94) Ein Beschluss über die Gewährung einer unangemessen hohen Vergütung ist deshalb – außer in Fällen der Sittenwidrigkeit und des Wuchers (§ 138 Abs. 1, Abs. 2 BGB, § 241 Nr. 4 AktG)95) – entgegen der herrschenden Meinung in der Literatur nicht aus diesem Grund anfechtbar und eine entsprechende Satzungsregelung darf auch vom Registergericht eingetragen werden.96) Vergütung sind sämtliche Sach- und Geldleistungen, einschließlich Nebenleistungen, die als Kompensation für die Ausübung des Aufsichtsratsamts geleistet werden.97) Mit Blick auf die Beschränkung der Zulässigkeit der Schaffung von Aktienbezugsrechten für Vorstandsmitglieder und Arbeitnehmer in § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG und die hierauf mittelbar bezugnehmende Norm für den Erwerb und die Ausgabe eigener Aktien in § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5 AktG können Aufsichtsratsmitgliedern nach der Rechtsprechung des BGH keine Aktienoptionen als Vergütung gewährt werden98); ob dies auch für Vergütungsbestandteile gilt, die Aktienoptionen schuldrechtlich nachbilden („phantom stock options“), ist höchstrichterlich bislang nicht entschieden und in der Literatur ___________ 93) Vgl. Lutter, NJW 1995, 1133. 94) BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 41; Kort, in: Festschrift Hüffer, S. 483 (485); MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 45; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 30; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 79. 95) MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 46; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 50; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 85; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 113 Rz. 3. 96) Ähnlich BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 41, der nur bei erheblichen Abweichungen von der Angemessenheit ohne gewichtige sachliche Gründe im Einzelfall eine Anfechtbarkeit im Sinne des Gläubigerschutzes annimmt; a. A. Henssler/Strohn/Henssler, § 113 AktG Rz. 12; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 46; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 49 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 85; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers/Fischer, § 113 Rz. 3; eine gemessen an der Aufgabe des Mitglieds und der Lage der Gesellschaft unangemessen niedrige Vergütung ist schon deshalb unproblematisch möglich und daher keinesfalls anfechtbar, weil Aufsichtsratsmitglieder auch mit einer niedrigen Vergütung besser als nach dem gesetzlichen Leitbild einer unentgeltlichen Tätigkeit stehen. 97) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 113 Rz. 12, 16; Hüffer/Koch, § 113 Rz. 3; Henssler/ Strohn/Henssler, § 113 AktG Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 11; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 49. 98) BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, AG 2004, 265 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 52, 57 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 26 f.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

umstritten.99) Zulässig ist hingegen eine Beteiligung am Jahresergebnis der Gesellschaft („Tantieme“).100) 35 § 113 Abs. 3 AktG enthält Sonderregeln für die Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften. Danach hat die Hauptversammlung einer börsennotierten Gesellschaft mindestens alle vier Jahre über die Aufsichtsratsvergütung Beschluss zu fassen. Dabei kann sich der Beschluss in der Bestätigung der bisher gewährten Vergütung erschöpfen. Er muss allerdings gemäß § 113 Abs. 3 Satz 3 AktG die zum Vergütungssystem der Vorstandsmitglieder nach § 87a Abs. 1 Satz 2 AktG erforderlichen Angaben (Æ Rz. 221) sinngemäß enthalten oder in Bezug nehmen und damit neben der Festsetzung der Vergütung zugleich eine Entscheidung über das für den Aufsichtsrat geltende Vergütungssystem umfassen (sog. Einheitslösung).101) Vorbereitung und Vorlage des Beschlussvorschlags obliegen nach § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG Vorstand und Aufsichtsrat. Im Hinblick auf die ausschließliche Zuständigkeit des Aufsichtsrats für die Vergütung des Vorstands und das die Vorstandsvergütung betreffende Vergütungssystem (Æ Rz. 180) ist es jedoch zweckmäßig, dass auch die Erstellung der Beschlussvorlage für die Aufsichtsratsvergütung durch den Aufsichtsrat erfolgt.102) Eine Anfechtung des Beschlusses wegen fehlender oder unzureichender Angaben ist nach § 113 Abs. 3 Satz 5 AktG ausdrücklich ausgeschlossen. 36 Mitbestimmungsrechtlich ergeben sich keine Besonderheiten. Arbeitnehmervertreter sind Anteilseignervertretern in jeder Hinsicht gleichgestellt (Æ Rz. 48) und erhalten dementsprechend dieselbe satzungsmäßige oder durch ___________ 99) Insoweit uneindeutig i. R. e. obiter dictum BGH, Urt. v. 16.2.2004 – II ZR 316/02, AG 2004, 265; vgl. dazu Hüffer/Koch, § 113 Rz. 15; Spindler/Gerdemann, in: Festschrift Stilz, S. 629, (638); gegen die Zulässigkeit J. Meyer/Ludwig, ZIP 2004, 940 (944 f.); Habersack, ZGR 2004, 721 (731 f.); Lenenbach, EWiR 2004, 413 (414); Peltzer, NZG 2004, 509; Paefgen, WM 2004, 1169 (1173); für die Zulässigkeit Spindler/Gerdemann, in: Festschrift Stilz, S. 629, (638 ff.); E. Vetter, AG 2004, 234 (237); Richter, BB 2004, 949 (956); Fuchs, WM 2004, 2233 (2235 ff.); in diese Richtung auch Marsch-Barner, in: Festschrift Röhricht, S. 401, (416 ff.); BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 64; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 64, die dennoch von einer solchen Option praktisch abraten; Marsch-Barner/ Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 43; Martinius/Zimmer, BB 2011, 3014 (3016). 100) Grigoleit/Tomasic/Kochendörfer, § 113 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Drygala, § 113 Rz. 34; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 40; Spindler, in: Festschrift Krieger, S. 951 (959). 101) Hüffer/Koch, § 113 Rz. 28. Es ist nicht abschließend geklärt, ob daneben eine getrennte Beschlussfassung über Vergütungssystem und konkrete Vergütung gleichwohl zulässig ist. Dafür: MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 113 Rz. 8; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1 (9); demgegenüber spricht sich die wohl überwiegende Ansicht – auch aus Vorsicht – gegen die Möglichkeit einer getrennten Beschlussfassung aus: Grigoleit/Tomasic/ Kochendörfer, § 113 Rz. 13; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 113 Rz. 49; Hüffer/ Koch, § 113 Rz. 29; Henssler/Strohn/Henssler, § 113 AktG Rz. 14; Reichert/Reichert, § 40 Rz. 10; J. Schmidt, NZG 2018, 1201 (1205). 102) Vgl. RegE. BT-Drucks. 19/9739, S. 90; Goette/Arnold/Wasmann/Gärtner, § 6 Rz. 61; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 113 Rz. 15.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Hauptversammlungsbeschluss bewilligte Vergütung wie Anteilseignervertreter.103) Bestimmungen in der Satzung oder in Hauptversammlungsbeschlüssen, die bei der Vergütung zwischen Vertretern der verschiedenen Bänke differenzieren, sind nichtig.104) In den Aufsichtsrat bestellte Gewerkschaftsfunktionäre sind jedoch – ungeachtet einer entsprechenden aktienrechtlichen Verpflichtung – typischerweise durch Vereinbarung mit oder gemäß der Satzung ihrer Gewerkschaft zur Abführung zumindest eines Teils ihrer Aufsichtsratsvergütung (etwa an die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung) verpflichtet. Für börsennotierte Aktiengesellschaften empfiehlt der DCGK 2022 in G.17 37 und G.18, dass bei der Festsetzung der Höhe der Vergütung besondere Ämter und Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder – namentlich der (stellvertretende) Aufsichtsratsvorsitz sowie der (stellvertretende) Vorsitz bzw. die Mitgliedschaft in Ausschüssen – berücksichtigt werden sollen und dass erfolgsorientierte Vergütungen – sofern solche vorgesehen sind – auf die nachhaltige Unternehmensentwicklung ausgerichtet sein sollen. Die Hauptversammlung kann eine einmal festgesetzte Vergütung als actus 38 contrarius auch wieder aufheben oder abändern.105) Dies setzt einen Beschluss mit grundsätzlich einfacher Mehrheit voraus; ist die Vergütung jedoch in der Satzung geregelt, bedarf es seit der Aufhebung des § 113 Abs. 1 Satz 4 AktG a. F. durch das ARUG II 2019106) einer nach § 179 Abs. 2 AktG für Satzungsänderungen erforderlichen Mehrheit. Die Abänderung oder Aufhebung der Vergütungsregelung wirkt jedoch nur für die Zukunft und nur soweit noch keine Ansprüche des Aufsichtsratsmitglieds auf Basis der bestehenden Regelung entstanden sind; die Einzelheiten der Anspruchsentstehung sind umstritten.107) Praxishinweis: In der Praxis sind Vergütungsregeln für Aufsichtsratsmitglieder 39 sehr weit verbreitet und werden üblicherweise in der Satzung verankert. Die erhöhten Anforderungen, die in jüngerer Zeit an den Professionalisierungsgrad von Aufsichtsratsmitgliedern gestellt werden, haben in den letzten Jahren auch zu einem erheblichen Anstieg der Aufsichtsratsvergütungen geführt. Unabhängig davon, ob den Aufsichtsratsmitgliedern eine Vergütung zusteht 40 oder nicht, haben sie in jedem Fall einen Anspruch auf Auslagenersatz. Dieser

___________ 103) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 13, 92; Hüffer/Koch, § 113 Rz. 4; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 821; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 42. 104) v. Frankenberg und Ludwigsdorf, S. 186 ff. 105) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 113 Rz. 35, 39; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 33 Rz. 32; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 37, 40. 106) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl I 2019, 2637. 107) Siehe zum Streitstand: Hüffer/Koch, § 113 Rz. 24; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 52; Maser/Göttle, NZG 2013, 201 (202).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

ergibt sich unbeschadet abweichender Satzungsregelungen108) aus § 670 BGB, der mangels Auftragsverhältnis zwischen Aufsichtsrat und Gesellschaft analog anzuwenden ist.109) Demnach sind diejenigen Auslagen zu ersetzen, die die Aufsichtsratsmitglieder im Zusammenhang mit ihrer Amtsführung für erforderlich halten durften. Ein Anspruch auf Auslagenersatz kann bei individuellen Aufwendungen dem einzelnen Mitglied entstehen; möglich ist aber auch ein Aufwendungsersatzanspruch des Aufsichtsrats als Gesamtorgan oder einzelner seiner Ausschüsse (etwa bei Hinzuziehung von Sachverständigen zu bestimmten Beschluss- oder Beratungsgegenständen).110) Welche Auslagen im Einzelfall für die Amtsführung erforderlich sind, richtet sich nach der Lage und Größe der Gesellschaft und den Aufgaben des konkreten Aufsichtsratsmitglieds.111) Die Auslagen müssen jedenfalls im unmittelbaren Zusammenhang mit der Amtsausführung stehen. Demnach sind etwa Auslagen für die Teilnahme an Sitzungen des Aufsichtsrats und seiner Ausschüsse – auch wenn die Teilnahme auf Basis von § 109 Abs. 2 AktG erfolgt112) – sowie für Vorbereitungssitzungen erstattungsfähig.113) Die Auslagen betreffen in diesem Fall insbesondere Reiseund Übernachtungskosten.114) Kosten für (dauerhafte) Büroräumlichkeiten sind nur im Ausnahmefall für die Amtsausführung erforderlich, weil die Aufsichtsratsmitgliedschaft im Nebenamt auszuüben ist und dementsprechend grundsätzlich kein Büro dauerhaft vorgehalten werden muss.115) Etwas Anderes kann sich im Einzelfall für besondere Ämter oder Funktionen, insbesondere dem Aufsichtsratsvorsitz, ergeben. Außerdem können Bürokosten auch dann ___________ 108) Hierzu etwa Fonk NZG 2009, 761; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 29; Hüffer/ Koch, § 113 Rz. 7. 109) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 13 Rz. 105; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/ Fischer, § 113 Rz. 14; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 29; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 113 Rz. 25; Hüffer/Koch, § 113 Rz. 7; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 845; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 15; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Drygala, § 113 Rz. 14; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 11. a. A. Fonk, NZG 2009, 761 (762), der von einer Analogie zu § 104 Abs. 7 Satz 1 AktG (§ 104 Abs. 6 Satz 1 AktG a. F.) ausgeht. 110) In diesem Sinne auch: Henssler/Strohn/Henssler, § 113 AktG Rz. 20; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 658. 111) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 845. 112) MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 25; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 13. 113) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 13 Rz. 114; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 19; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 12; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 25; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 13. 114) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 13 Rz. 121 ff.; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers/Fischer, § 113 Rz. 14; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 31; Hüffer/Koch, § 113 Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 15; MünchKommAktG/ Habersack, § 113 Rz. 25; Schmidt/Lutter/Drygala, § 113 Rz. 14; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 13. 115) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 36; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 12; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 26; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 14.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

erforderliche Aufwendungen sein, wenn Räumlichkeiten anlassbezogen angemietet werden (wie etwa für eine Besprechung). Nach h. M. grundsätzlich nicht vom Auslagenersatz umfasst sind Kosten für die Fort- und Weiterbildung.116) Diese Auffassung ist zutreffend, weil Aufsichtsratsmitglieder die von ihnen verlangten Fähigkeiten nach der Konzeption des Gesetzes selbst aufweisen müssen und daher auch für ihre Fort- und Weiterbildung selbst verantwortlich sind.117) Repräsentationskosten sind nur ausnahmsweise im Einzelfall erstattungspflichtig und zwar nur, soweit dem Aufsichtsrat – oder einzelnen seiner Mitglieder – eine Repräsentationsfunktion für die Gesellschaft zukommt (Æ Rz. 251 f.). Kosten für Sicherheitsmaßnahmen können im Einzelfall ersatzfähige Aufwendungen sein.118) Dies setzt aber zum einen voraus, dass eine tatsächliche konkrete Gefährdung vorliegt und zum anderen, dass diese Gefährdung gerade auf der Amtsausübung als Aufsichtsratsmitglied beruht.119) Gerade letztere Voraussetzung wird bei Aufsichtsratsmitgliedern in der Praxis eher die Ausnahme als die Regel sein. Kosten für Berater des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds sind ebenfalls nur ausnahmsweise erstattungsfähig.120) Weniger strikte Anforderungen gelten bei der Hinzuziehung von Hilfskräften, die vorbereitende oder unterstützende Tätigkeiten für das Aufsichtsratsmitglied übernehmen. Hilfskräfte können in angemessenem Umfang hinzugezogen werden.121) In der Literatur umstritten ist die Frage, ob auch die Einbeziehung von Aufsichtsratsmitgliedern in eine D&O-Versicherung der Gesellschaft unter den Auslagenersatz fällt. Richtigerweise ist dies zu bejahen, weil die D&O-Versicherung vornehmlich im Interesse der Gesellschaft abgeschlossen wird, die in der Praxis bei einer Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen mittelbar oder im Wege eines Haftungs- und Deckungsvergleichs (Æ § 26 Rz. 187) auf die Haftungssumme der D&O-Versicherung zugreifen kann.122) Sämtliche Auslagen sind nur dann als für die Amtsführung erforderlich anzusehen, wenn sie in einem ___________ 116) H. M. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 33; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 12; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 27; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 13; a. A. zumindest für den Erwerb von Spezialkenntnissen: Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/ Fischer, § 113 Rz. 14; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 113 Rz. 27; Hüffer/Koch, § 113 Rz. 10; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 846; Schmidt/Lutter/Drygala, § 113 Rz. 14; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 16. 117) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, NJW 1983, 991; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 33; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 12; MünchKommAktG/Habersack, § 113 Rz. 27. 118) Dreher, ZHR 165 (2001), 293 (307); Fonk, NZG 2009, 761 (770). 119) Fonk, NZG 2009, 761 (770). 120) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 31; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 845; MünchKommAktG/ Habersack, § 113 Rz. 27; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 13. 121) Fonk, NZG 2009, 761 (770); siehe auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 803. 122) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 113 Rz. 73; Hüffer/Koch, § 113 Rz. 5 m. w. N.; KKAktG/Mertens/Cahn, § 113 Rz. 16; MünchKomm-AktG/Habersack, § 113 Rz. 13; Seitz/ Finkel/Klimke/Klimke, Einf. Rz. 453.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

angemessenen Umfang erfolgen. Auch die Bestimmung der Angemessenheit richtet sich im Wesentlichen nach der Größe und Lage der Gesellschaft sowie den konkreten Aufgaben des jeweiligen Aufsichtsratsmitglieds. Nicht zu berücksichtigen sind hingegen die persönliche Lebensführung des Aufsichtsratsmitglieds oder die Gepflogenheiten des Vorstands123), da das Angemessenheitskriterium als unbestimmter Rechtsbegriff nach allgemeinen Regeln normativ und nicht anhand eines Praxisvergleichs auszulegen ist.124) Soweit Auslagen analog § 670 BGB zu erstatten sind, steuerlich aber als geldwerter Vorteil i. S. v. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG angesehen werden, umfasst der Auslagenersatzanspruch auch die Erstattung der mit dem geldwerten Vorteil verbundenen Steuerlast.125) In der Literatur umstritten ist die Frage, wer letztendlich über die Erstattung von Auslagen zu entscheiden hat. Diskutiert wird insbesondere, ob der Vorstand, der Aufsichtsrat oder der Vorstand unter Rücksprache mit dem Aufsichtsrat über den Auslagenersatz zu entscheiden hat. Richtigerweise ist zu differenzieren: Allein der Vorstand ist als Vertretungsorgan der Gesellschaft gemäß § 78 AktG für die Auszahlung des Erstattungsbetrags zuständig. Trotz seiner Entscheidungsbefugnis über die Auszahlung kommt ihm allerdings keine Befugnis zur Entscheidung über die Entstehung des Aufwendungserstattungsanspruchs zu. Vielmehr entsteht der Anspruch mit Tätigung der Aufwendung unmittelbar aus dem Gesetz bzw. einer entsprechenden Satzungsregelung. In diesem Zusammenhang kommt – sofern es sich um eine persönliche Aufwendung eines Aufsichtsratsmitglieds handelt – dem individuellen Aufsichtsratsmitglied oder – sofern es sich um eine Aufwendung des Aufsichtsrats oder eines Ausschusses handelt – dem Aufsichtsrat bzw. dem Ausschuss eine grundsätzliche Entscheidungsbefugnis zu, da dem Mitglied bzw. dem Aufsichtsrat ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht, was es bzw. er „nach den Umständen für erforderlich halten darf“.126) 41 Praxishinweis: Zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten im Zusammenhang mit dem Auslagenersatzanspruch empfiehlt es sich, klare Regelungen in einer Auslagenersatzrichtlinie niederzulegen. Der Aufsichtsrat kann diese im Sinne einer Selbstbindung aufstellen, solange die gesetzlichen bzw. durch die Satzung aufgestellten Grenzen für den Erstattungsanspruch lediglich konkretisiert und nicht überschritten werden. 42 Durch die Übernahme des Aufsichtsratsmandats wird das Aufsichtsratsmitglied nicht daran gehindert, weitere Verträge mit der Gesellschaft abzuschlie___________ 123) So aber: Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 13 Rz. 136; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 113 Rz. 35; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 16. 124) Genau genommen erfolgt die Auslegung nach der zutreffenden gemischt objektiv-subjektiven Theorie normativ unter Berücksichtigung des historischen Willens des Gesetzgebers, vgl. im Einzelnen hierzu Larenz, S. 316 ff. 125) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 195. 126) Grüneberg/Sprau, BGB, § 670 Rz. 4.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

ßen.127) Zuständig für den Abschluss von Verträgen mit Aufsichtsratsmitgliedern ist grundsätzlich der Vorstand gemäß § 78 Abs. 1 AktG, allerdings bedürfen Dienst- und Werkverträge über die Erbringung von Tätigkeiten höherer Art außerhalb von Arbeitsverhältnissen – dies sind in der Praxis in aller Regel Beraterverträge – gemäß § 114 Abs. 1 AktG und Verträge über eine Kreditgewährung an Aufsichtsratsmitglieder gemäß § 115 Abs. 1 Satz 1 AktG der Zustimmung des Aufsichtsrats. Erfolgt eine Kreditgewährung an ein Aufsichtsratsmitglied durch eine Gesellschaft, die die Gesellschaft, in deren Aufsichtsrat das Mitglied vertreten ist, beherrscht oder abhängig von dieser ist, ist zusätzlich die Zustimmung des Aufsichtsrats dieser herrschenden Gesellschaft erforderlich (§ 115 Abs. 1 Satz 2 AktG). Im Rahmen der Kreditgewährung sind außerdem auch inhaltliche Besonderheiten zu beachten (§ 115 Abs. 1 Satz 3, Satz 4 AktG). Im Übrigen können Verträge mit Aufsichtsratsmitgliedern im Rahmen der Gesetze grundsätzlich frei abgeschlossen und ausgestaltet werden. Verboten und gemäß § 134 BGB nichtig sind dagegen Verträge, die dem Aufsichtsratsmitglied Leistungen ohne gleichwertige Kompensation zur Aufbesserung seiner Aufsichtsratsbezüge gewähren sollen.128) 3.

Eigenverantwortlichkeit und Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung

Aufsichtsratsmitglieder üben ihr Amt in eigener Verantwortung und ohne 43 Bindung an Weisungen129) aus und sind ausschließlich dem Unternehmensinteresse (Æ § 1 Rz. 23) verpflichtet130). Dies gilt auch für entsandte oder durch die Arbeitnehmer bzw. Gewerkschaften bestellte Aufsichtsratsmitglieder.131) Diese können insbesondere nicht für sich in Anspruch nehmen, als Vertreter des Entsendungsberechtigten bzw. der Arbeitnehmer oder Gewerkschaften ___________ 127) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 44. 128) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653 (654); OLG Köln, Urt. v. 27.5.1994 – 19 U 289/93, ZIP 1994, 1773 (1774); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 114 Rz. 23; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 114 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 859; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 45; MünchKommAktG/Habersack, § 114 Rz. 26; siehe auch BGH, Urt. v. 10.7.2012 – II ZR 48/11, ZIP 2012, 1807, Rz. 13. 129) BGH, Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/05, ZIP 2006, 2077, Rz. 18; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 111 Rz. 111; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 84; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 117; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 7; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 160; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 82; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 110. 130) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 101 Rz. 168; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 84; KK-AktG/ Mertens/Cahn, Vorb. § 95 Rz. 12; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 80; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 160. 131) BGH, Urt. v. 18.9.2006 – II ZR 137/05, ZIP 2006, 2077, Rz. 18; KK-AktG/Mertens/ Cahn, Vorb. § 95 Rz. 18, § 111 Rz. 117; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 7; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 160; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 110.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

(vornehmlich) deren Interesse verpflichtet zu sein.132) Selbst bei Bestehen eines Unternehmensvertrags gemäß §§ 291 f. AktG mit der Gesellschaft als abhängigem Unternehmen üben die Aufsichtsratsmitglieder ihr Amt eigenverantwortlich und weisungsfrei aus.133) Selbstverständlich möglich ist allerdings, die Interessen bestimmter Stakeholder-Gruppen bei Entscheidungen zu berücksichtigen, sofern das Unternehmensinteresse dem nicht entgegensteht.134) 44 Gemäß § 111 Abs. 6 AktG müssen Aufsichtsratsmitglieder ihr Amt außerdem selbst wahrnehmen und können sich bei der Amtsausübung nicht vertreten lassen (Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung). Dies gilt insbesondere für die Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen und Beschlussfassungen des Aufsichtsrats, die das Aufsichtsratsmitglied persönlich wahrnehmen muss. Stimmbotschaften sind jedoch nach allgemeiner Meinung zulässig.135) Der Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung hat in der Praxis – insbesondere im Zusammenspiel mit dem Umstand, dass die Willensbildung im Aufsichtsrat durch Beschluss erfolgt (Æ Rz. 67 ff.) – weitreichende rechtliche und praktische Folgen. Dies gilt zunächst für die Vertretungsbefugnis gegenüber Vorstandsmitgliedern gemäß § 112 AktG: Über sämtliche Geschäfte mit dem Vorstand muss der Aufsichtsrat durch Beschluss des Plenums oder eines seiner hierzu ermächtigten Ausschüsse entscheiden.136) Lediglich die Erklärung eines durch Beschluss gefassten Willens des Aufsichtsrats (bzw. Ausschusses des Aufsichtsrats) kann einem Dritten als sog. Erklärungsvertreter übertragen werden (Æ Rz. 240).137) 45 Praxishinweis: Da das Gesetz keine ausdrückliche Ausnahme von dem Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung vorsieht, würde der Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung bei strenger Lesart dazu führen, dass auch Bagatellgeschäfte und Geschäfte mit Vorstandsmitgliedern, die durch die Aktiengesellschaft üblicherweise mit Jedermann ohne Ansehung der Person wahrgenommen würden, eines Beschlusses des Aufsichtsrats bedürften.138) Bei einem als Aktiengesellschaft organisierten Automobilhersteller würde dies etwa bedeuten, dass ein Vorstandsmitglied ein Fahrzeug vom Unternehmen nur erwerben dürfte, wenn der Aufsichtsrat ___________ 132) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 792; MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 80 ff., § 111 Rz. 160. 133) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 163; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 607. 134) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 822. 135) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 791; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 111; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 116; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 4; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 156; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 83; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 109. 136) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 76, 78, 96; Hölters/Weber/Groß-Bölting/ Rabe, § 112 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 31; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 21; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 37. 137) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 456; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 29. 138) Hüffer/Koch, § 112 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 42 f.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

per Beschluss über den Erwerb entscheidet. In der Literatur besteht bislang keine Einigkeit darüber, ob und in welcher Form vor diesem Hintergrund Lockerungen des Grundsatzes der persönlichen Amtswahrnehmung vorzunehmen sind.139) Es bietet sich daher an, durch den Aufsichtsrat einen allgemeinen Beschluss zu fassen, der Vorstandsmitgliedern etwa den Erwerb von Waren und Dienstleistungen, die die Gesellschaft am Markt erbringt, oder bestimmter Waren und Dienstleistungen, die auch an Mitarbeiter erbracht werden (wie etwa durch unternehmenseigene Kantinen oder Lebensmittelautomaten) zu den üblichen Konditionen erlaubt und die Willensausübung in diesem Zusammenhang auf die jeweiligen dafür zuständigen Mitarbeiter überträgt. Der Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung hat auch Folgen für die 46 Zulässigkeit der Hinzuziehung von Beratern und Hilfskräften. Der Aufsichtsrat und einzelne seiner Mitglieder dürfen zwar selbstverständlich, soweit dies für die Amtsausübung erforderlich ist, Berater und Hilfskräfte hinzuziehen.140) Dies darf aber nicht dazu führen, dass die dem Aufsichtsratsmitglied zustehenden Entscheidungsbefugnisse rechtlich oder faktisch durch die Berater und/oder Hilfskräfte ausgeübt werden.141) Genauso wenig darf die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats als solche rechtlich oder faktisch auf Berater oder Hilfspersonen übertragen werden.142) Hieraus folgt, dass insbesondere keine umfassende, dauerhafte und nicht anlassbezogene Beratung durch Berater des Aufsichtsrats oder einzelner Aufsichtsratsmitglieder vorgenommen werden darf.143) Zulässig – und zur Erfüllung der immer komplexer werdenden Pflichten des Aufsichtsrats auch notwendig – ist die Hinzuziehung von Beratern für komplexe Einzelfragen, deren Beantwortung nicht von einem Aufsichtsratsmitglied verlangt werden kann.144) Für Hilfspersonen gilt, dass diese Vorbereitungshandlungen wie Schreib- und Büroarbeiten, die Versendung von Sitzungsunterlagen, Terminabstimmungen, aber auch die Koordination mit Beratern und

___________ 139) Siehe Darstellungen bei Hüffer/Koch, § 112 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 40. 140) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 114 f.; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 158 f. 141) Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 82. 142) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 29; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 5. 143) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 29; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 121; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 159; BeckOGKAktG/Spindler, § 111 Rz. 111. 144) Dies ergibt sich bereits aus § 109 Abs. 1 Satz 2 AktG und § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG: vgl. auch BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, ZIP 1983, 55; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 29; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 796; Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 115; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 5; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 159; BeckOGKAktG/Spindler, § 111 Rz. 111.

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anderen Mitarbeitern des Unternehmens vornehmen dürfen.145) Bei größeren Unternehmen und entsprechendem Bedarf kann auch ein eigenständiges Aufsichtsratsbüro zu diesem Zweck eingerichtet und unterhalten werden.146) In jedem Fall müssen sich die Aufsichtsratsmitglieder jedoch trotz Hinzuziehung von Hilfspersonal mit allen wesentlichen Umständen selbst befassen und wesentliche Entscheidungen selbst treffen.147) Hieraus folgt – auch unter Berücksichtigung der insoweit verallgemeinerungsfähigen ISION-Rechtsprechung des BGH148) – sowohl bei der Hinzuziehung von Beratern als auch von Hilfspersonen, dass die Aufsichtsratsmitglieder etwaige Arbeitsprodukte, Ratschläge und Hinweise der hinzugezogenen Personen kritisch hinterfragen und eigenständig plausibilisieren müssen.149) 47 Schließlich folgt aus dem Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung in Verbindung mit der Verpflichtung allein auf das Unternehmensinteresse, dass das Aufsichtsratsmitglied sich nicht zu der Art und Weise der Wahrnehmung seines Amtes verpflichten kann. Deshalb sind auch Verträge, nach denen sich das Aufsichtsratsmitglied verpflichtet, bei der Amtsausübung – und insbesondere bei der Stimmabgabe – nach Weisung eines Anderen zu handeln, nichtig.150) 4.

Gleichbehandlungsgrundsatz

48 Aufsichtsratsmitglieder sind unabhängig davon, von wem oder in welcher Weise sie bestellt wurden, nach einhelliger Meinung in Literatur und Rechtsprechung in jeder Hinsicht gleichberechtigt und den gleichen Pflichten unterworfen.151) Jedes Aufsichtsratsmitglied hat dieselben Teilnahme-, Informations- und Rederechte und – vorbehaltlich eines etwaigen Stichentscheidsrechts des Aufsichtsratsvorsitzenden – auch dieselben Stimmrechte. Eine Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Mitglieder oder Bänke ist unzulässig; entsprechende Regelungen in der Satzung, der Geschäftsordnung oder in Auf___________ 145) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 29; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 794; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 120; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 6; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 158; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 111. 146) Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 337 (351); Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 127. 147) In diese Richtung auch Lutter/Krieger, DB 1995, 257 (259). 148) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097. 149) Vgl. insoweit zur Beratung in Rechtsfragen BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 52; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 47. 150) Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 244; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 117; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 822; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 7; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 161. 151) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 123/81, ZIP 1982, 434 (436 f.); Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 241; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 821 m. w. N.; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 1; Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 111.

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sichtsrats- oder Ausschussbeschlüssen sind unwirksam.152) Aus dem Gebot der Gleichbehandlung der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder folgt jedoch nicht eine (absolute) Gleichbehandlung der Anteilseigner- und der Arbeitnehmerbank.153) Vielmehr müssen insoweit die nach den verschiedenen Mitbestimmungsstatuten bestehenden Kräfteverhältnisse und Besonderheiten angemessen berücksichtigt werden.154) Der Unterschied zeigt sich etwa an der Besetzung von Aufsichtsratsausschüssen: Während kein Aufsichtsratsmitglied per se von der Mitgliedschaft an Aufsichtsratsausschüssen ausgeschlossen werden darf, kann der Aufsichtsrat grundsätzlich entscheiden, dass in bestimmten Ausschüssen vornehmlich oder ausschließlich Anteilseignervertreter vertreten sind, soweit entsprechend der jeweils anwendbaren Mitbestimmungsvorschriften jede Bank angemessen berücksichtigt ist (zu den Einzelheiten: Æ Rz. 90). IV.

Innere Organisation des Aufsichtsrats

1.

Selbstorganisationsrecht, Delegation von Aufgaben

Das Aktienrecht regelt die innere Ordnung des Aufsichtsrats nur in wesentli- 49 chen Grundsatzfragen und beschränkt sich im Übrigen auf Zweifelsregelungen, die dann Geltung beanspruchen, wenn Satzung oder Aufsichtsrat keine anderweitigen Regelungen treffen. Dementsprechend kommt dem Aufsichtsrat – soweit die Satzung keine weiteren Regelungen oder Einschränkungen zulässigerweise vorsieht – ein weitgehendes Selbstorganisationsrecht bei Fragen der inneren Ordnung zu. Dies betrifft insbesondere die Aufgabenzuweisung innerhalb des Organs, die Sitzungsfrequenz, die Einberufungsmodalitäten, die Sitzungssprache, die Art und Weise der Beschlussfassung sowie die Hinzuziehung von Hilfspersonen, Sachverständigen und Beratern. Mit dem Selbstorganisationsrecht geht auch die Pflicht des Aufsichtsrats einher, für eine funktionierende Organisation Sorge zu tragen, die es dem Aufsichtsrat ermöglicht, seine Aufgaben ordnungsgemäß wahrzunehmen.155) Der Aufsichtsrat ist ein Kollegialorgan, das seine Aufgaben gemeinschaftlich 50 durch seine Mitglieder ausübt. Dementsprechend kann der Aufsichtsrat bindende Entscheidungen über seine innere Ordnung nur als Gesamtorgan durch Beschluss treffen (§ 108 Abs. 1 AktG). Der Aufsichtsrat kann in diesem Zusammenhang Organisationsregelungen jeweils per Einzelentscheidung treffen

___________ 152) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 145/80, ZIP 1982, 442; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 821; MünchKommAktG/Habersack, Vorb. §§ 95 ff. Rz. 14. 153) MünchKommAktG/Habersack, Vorb. §§ 95 ff. Rz. 14. 154) Vgl. v. Frankenberg und Ludwigsdorf, S. 160 f. 155) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 654; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 12; Hommelhoff/ Mattheus, AG 1998, 249 (254).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

oder eine Geschäftsordnung (Æ Rz. 3) erlassen, die die Grundsätze der inneren Organisation allgemein regelt.156) 51 Im Rahmen seiner Organisationsautonomie kann der Aufsichtsrat – im Rahmen von Gesetz und Satzung – entscheiden, bestimmte Aufgaben auf Ausschüsse oder einzelne seiner Mitglieder zu delegieren. Aufgrund des Grundsatzes der persönlichen Amtswahrnehmung (Æ Rz. 267) gilt dies grundsätzlich jedoch nur für vorbereitende und ausführende Tätigkeiten wie etwa die Vor- und Aufbereitung einzelner Beschlussgegenstände, die Korrespondenz und Abstimmung mit dem Vorstand, Mitarbeitern der Gesellschaft und Beratern des Aufsichtsrats oder die Überwachung der Umsetzung von Aufsichtsratsbeschlüssen.157) Eine Delegation von Aufgaben an ein einzelnes Mitglied ist außerdem nur im Einzelfall und nicht allgemein für eine bestimmte Art von Aufgaben möglich.158) Ausnahmen bestehen für die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen des Aufsichtsrats auf entscheidende Ausschüsse in den Grenzen von § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG (Æ Rz. 85) und der Einsichts- und Prüfungsrechte gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG auf Ausschüsse oder einzelne Aufsichtsratsmitglieder (Æ Rz. 125). Zur Hinzuziehung von Beratern, Æ Rz. 63. 52 Bei jeder Form der zulässigen Delegation ist der Aufsichtsrat zur fortlaufenden Überwachung der Delegationsempfänger verpflichtet (Æ Rz. 291). 2.

Aufsichtsratssitzungen

53 Nach der Grundkonzeption des Aktiengesetzes nimmt der Aufsichtsrat seine Aufgaben im Rahmen von Sitzungen wahr. In diesen Sitzungen informiert er sich, berät und entscheidet über Beschlussgegenstände. Eine Sitzung ist demnach mehr als eine bloße Beschlussfassung, sie ist vielmehr Ausdruck der Wahrnehmung der Aufgaben des Aufsichtsrats als Kollegialorgan und mithin von einem gegenseitigen Austausch und einer Diskussion im Gremium gekennzeichnet.159) Eine Sitzung muss nicht zwingend physisch stattfinden; vielmehr ist nicht ausgeschlossen, dass Sitzungen auch per Telefon- oder Videokonferenz oder in Mischformen (etwa als physische Sitzung unter Teilnahme einzelner Mitglieder per Videokonferenz) abgehalten werden.160) Zur Durchführung von Sitzungen sind jedoch grundsätzlich keine asynchronen Kommunikations___________ 156) Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 (254); BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 12; zur Gleichrangigkeit von Geschäftsordnung und Aufsichtsratsbeschluss: MünchKommAktG/ Habersack, § 107 Rz. 181. 157) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 155 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 614; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 181; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 99, 201. 158) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 614. 159) Vgl. zu diesem Thema eingehend auch S. H. Schmidt, S. 195 ff. 160) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 690.

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formen wie E-Mail, Fax oder Brief möglich, da diese Kommunikationsformen keine Diskussionen und Beratungen ermöglichen, die mit einer Diskussion unter Anwesenden vergleichbar sind.161) Die physische Sitzung ist gesetzliches Leitbild.162) Eine Abweichung hiervon bedarf deswegen einer entsprechenden Satzungs- oder Geschäftsordnungsregelung bzw. eines entsprechenden Aufsichtsratsbeschlusses.163) Gemäß § 110 Abs. 3 Satz 1 AktG muss der Aufsichtsrat einer börsennotierten 54 Gesellschaft mindestens zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten. In nicht börsennotierten Gesellschaften kann der Aufsichtsrat durch Beschluss entscheiden, lediglich eine Sitzung im Kalenderhalbjahr durchzuführen (§ 110 Abs. 3 Satz 2 AktG). Trifft der Aufsichtsrat der nicht börsennotierten Gesellschaft keine Regelung und sieht auch die Satzung keine Regelung vor, muss auch dieser mindestens zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten.164) Umstritten ist, ob diese Pflichtsitzungen physische Sitzungen sein müssen oder ob auch Sitzungen in Form von Telefon- oder Videokonferenzen ausreichend sind.165) Nach dem nunmehr geltenden Wortlaut des § 110 Abs. 3 AktG muss der Aufsichtsrat nicht mehr zu Sitzungen „zusammentreten“, sondern diese nur noch „abhalten“.166) Dementsprechend ist nach richtiger Auffassung davon auszugehen, dass auch Videokonferenzen, telefonische Sitzungen oder Mischformen von Sitzungen auf die Mindestsitzungen nach § 110 Abs. 3 AktG anzurechnen sind.167) Praxishinweis: Der Aufsichtsrat muss jedoch unabhängig hiervon jederzeit gewähr- 55 leisten, dass seine Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt werden. Hieraus kann sich ergeben, dass auch unabhängig von den gemäß § 110 Abs. 3 AktG gesetzlich geforderten Mindestsitzungen eine angemessene Zahl an physischen Sitzungen stattfinden muss, da eine Beratung und ein Austausch im Rahmen eines physischen Zusammen___________ 161) Diese Kommunikationsformen können aber selbstverständlich für eine Beschlussfassung außerhalb von Sitzungen verwendet werden (sog. Umlaufbeschluss), vgl. § 108 Abs. 4 AktG. 162) RegBegr. BT-Drucks. 14/8769, S. 17; Heidel/Breuer/Fraune, § 110 Rz. 11; Hüffer/Koch, § 110 Rz. 11; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 690. 163) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 136; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 21. 164) Vgl. etwa Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 69. 165) Physische Sitzungen und Videokonferenzen, nicht aber telefonische Sitzungen: KKAktG/Mertens/Cahn, § 110 Rz. 33; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 79 ff.; Wasse, AG 2011, 685 (689); Wagner, NZG 2002, 57 (61 ff.); Sitzungen, unabhängig von ihrer Form: MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 45; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/ Fischer, § 110 Rz. 10; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 36; Grigoleit/ Tomasic, § 110 Rz. 8; Götz, NZG 2002, 599 (602); Wachter/Schick, § 110 Rz. 12; Heidel/ Breuer/Fraune, § 110 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Spindler, § 110 Rz. 51. 166) RegBegr. BT-Drucks. 14/8769, S. 17. 167) MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 45; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 36; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 110 Rz. 10; Grigoleit/Tomasic, § 110 Rz. 8; Götz, NZG 2002, 599 (602); Wachter/Schick, § 110 Rz. 12; Heidel/Breuer/Fraune, § 110 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Spindler, § 110 Rz. 51.

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tretens in aller Regel deutlich besser gewährleistet werden können, als im Wege fernmündlicher Kommunikation. Es empfiehlt sich daher, zumindest für wesentliche Aufsichtsratssitzungen – wie der Bilanzsitzung (Æ Rz. 57) oder bei besonderen Beschlussgegenständen – physisch zusammenzutreten.168) Ausreichend ist insoweit, wenn der Aufsichtsrat in beschlussfähiger Zahl physisch zusammentritt und einzelne weitere Aufsichtsratsmitglieder bei Bedarf fernmündlich oder per Videokonferenz teilnehmen. 56 Für börsennotierte Unternehmen empfiehlt D.7 DCGK 2022, im Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung (§ 171 Abs. 2 AktG) anzugeben, wie viele Sitzungen des Aufsichtsrats und der Ausschüsse in Präsenz oder als Videooder Telefonkonferenzen durchgeführt wurden und an wie vielen Sitzungen des Aufsichtsrats und der Ausschüsse die einzelnen Mitglieder jeweils teilgenommen haben. 57 In einer der regulären Sitzungen pro Geschäftsjahr muss gemäß § 171 Abs. 1 AktG zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat der Jahresabschluss verhandelt werden (sog. Bilanzsitzung). Da der Aufsichtsrat gemäß § 172 Satz 1 AktG in dieser Sitzung über die Billigung und damit die Feststellung des Jahresabschlusses entscheidet, sollte diese Sitzung – mit Blick auf die Pflicht gemäß § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG, den Jahresabschluss der ordentlichen Hauptversammlung innerhalb der ersten acht Monate des Geschäftsjahres vorzulegen, die Einberufungsfrist für die Hauptversammlung (§ 123 AktG) und die Zeit, die der Aufsichtsrat für die Erstellung des Berichts über seine Prüfung des Jahresabschlusses benötigt (§ 171 Abs. 2 AktG) – im ersten Halbjahr des Geschäftsjahres stattfinden. In der Praxis finden die Bilanzsitzungen in der Regel ca. zwei Monate vor der ordentlichen Hauptversammlung statt. 58 Neben den regelmäßigen Sitzungen müssen Sitzungen einberufen werden, soweit dies im Interesse der Gesellschaft erforderlich ist.169) 59 Grundsätzlich beruft der Aufsichtsratsvorsitzende die Sitzungen des Aufsichtsrats ein.170) Nähere Regelungen in Bezug auf die Einberufungsmodalitäten sieht das Gesetz nicht vor, können – und werden in der Praxis – aber durch Satzung oder Geschäftsordnung (Æ Rz. 3) geregelt werden.171) Die Einberufung ___________ 168) Vgl. dazu auch Hüffer/Koch, § 110 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 45; Henssler/Strohn/Henssler, § 110 AktG Rz. 18; in diese Richtung auch Grigoleit/Tomasic, § 110 Rz. 8. 169) LG München I, Urt. v. 31.5.2007 – 5 HK O 11977/06, AG 2007, 827 (828); MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 42; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 110 Rz. 32; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 691. 170) Hüffer/Koch, § 110 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 7; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 110 Rz. 29; Henssler/Strohn/Henssler, § 110 AktG Rz. 3; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 110 Rz. 2. 171) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 110 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Spindler, § 110 Rz. 18; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 15; Hüffer/Koch, § 110 Rz. 3; Heller, AG 2008, 160.

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muss auch ohne entsprechende Bestimmung in Satzung oder Geschäftsordnung jedenfalls so rechtzeitig erfolgen, dass den Aufsichtsratsmitgliedern ausreichend Zeit zur Vorbereitung verbleibt.172) Sie ist grundsätzlich formfrei möglich173) und muss in aller Regel an alle Aufsichtsratsmitglieder gerichtet werden174). Die Einberufung muss als Minimalangaben den Ort, die Zeit, die Person des Einberufenden und die Firma der Gesellschaft angeben.175) Soweit nicht zwingende Gründe entgegenstehen, müssen auch die Tagesordnung und die Beschlussgegenstände zumindest so konkret bezeichnet werden, dass eine hinreichende Vorbereitung auf die Sitzung und Beschlussfassung möglich ist.176) Die Einberufungsmodalitäten dienen dem Schutz der Aufsichtsratsmitglieder.177) Deshalb können nach dem Rechtsgedanken des § 121 Abs. 6 AktG auch ohne die Einhaltung der Einberufungsmodalitäten Beschlüsse gefasst werden, wenn sämtliche Aufsichtsratsmitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen und kein Mitglied der Beschlussfassung widerspricht.178) Praxishinweis: Üblich sind Geschäftsordnungsregelungen, nach denen eine feste 60 Einberufungsfrist (beispielsweise zwei Wochen) gilt, die in Eilfällen abgekürzt werden kann. Als Form wird regelmäßig „Textform unter Angabe der Tagesordnung“ vorgesehen. Schließlich wird häufig geregelt, dass auf die Einhaltung von Form und Frist der Einberufung (auch außerhalb einer Vollversammlung) verzichtet werden kann, wenn dem kein Aufsichtsratsmitglied in angemessener Frist widerspricht.

___________ 172) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 692; Heller, AG 2008, 160; Hüffer/Koch, § 110 Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 16; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 23; BeckOGK-AktG/Spindler, § 110 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Drygala, § 110 Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 39. 173) Hüffer/Koch, § 110 Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 15; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 110 Rz. 17 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 692; Wachter/Schick, § 110 Rz. 4; Heller, AG 2008, 160; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 38. 174) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 21; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 17; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 110 Rz. 4; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 692; Ausnahmen sind im Einzelfall für einzelne Aufsichtsratsmitglieder nur bei konkret belegbarer Befürchtung für die Gefährdung wesentlicher Gesellschaftsbelange möglich, vgl. Hüffer/Koch, § 109 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 10; BeckOGK-AktG/Spindler, § 109 Rz. 8 ff.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 109 Rz. 4. 175) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 693; BeckOGK-AktG/Spindler, § 110 Rz. 19; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 110, Rz. 15; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 21. 176) Vgl. hierzu auch Hüffer/Koch, § 110 Rz. 4; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 42; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 110 Rz. 16 ff.; MünchKommAktG/ Habersack, § 110 Rz. 18 ff.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 26; zum Verein auch: BGH, Urt. v. 17.11.1986 – II ZR 304/85, NJW 1987, 1811 (1812). 177) Vgl. Grigoleit/Tomasic, § 110 Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 692; Schmidt/Lutter/Drygala, § 110 Rz. 9. 178) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 30; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 21; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 110 Rz. 28.

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61 Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AktG kann darüber hinaus jedes Aufsichtsratsmitglied und der Vorstand, der hierüber nach h. M. als Gesamtorgan Beschluss fassen muss,179) unter Angabe des Zwecks und der Gründe die Einberufung des Aufsichtsrats durch den Aufsichtsratsvorsitzenden verlangen. Der Aufsichtsratsvorsitzende muss auf ein entsprechendes Verlangen unverzüglich180) eine Aufsichtsratssitzung einberufen, die binnen zwei Wochen nach Einberufung abzuhalten ist. Kommt der Aufsichtsratsvorsitzende dem Einberufungsverlangen nicht unverzüglich nach, so kann das entsprechende Aufsichtsratsmitglied bzw. der Vorstand unter Angabe des Sachverhalts und der Angabe der Tagesordnung selbst eine Aufsichtsratssitzung einberufen (§ 110 Abs. 2 AktG). 62 Teilnahmeberechtigt und -verpflichtet in Bezug auf Aufsichtsratssitzungen sind sämtliche Aufsichtsratsmitglieder.181) Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kann das Teilnahmerecht für den Einzelfall entzogen werden.182) Ein solcher Ausnahmefall besteht zum Einen dann, wenn konkrete Hinweise belegen, dass eine Teilnahme eines bestimmten Aufsichtsratsmitglieds zu einer Gefährdung wesentlicher Belange der Gesellschaft führen würde.183) Ein weiterer Ausnahmetatbestand ist gegeben, wenn ein Aufsichtsratsmitglied die Sitzung in grobem Maße stört und die Sitzungsordnung nicht anderweitig hergestellt werden kann.184) Neben den Aufsichtsratsmitgliedern hat grundsätzlich keine weitere Person ein Teilnahmerecht, auch nicht Vorstandsmitglieder.185) Eine Ausnahme gilt gemäß § 109 Abs. 3 AktG für Beauftragte verhinderter Aufsichtsratsmitglieder, wenn die Satzung dies zulässt. Entsprechenden Beauftragten kommt aber nur ein Teilnahmerecht zu; ein Rede- oder Stimmrecht kann ihnen durch ___________ 179) BeckOGK-AktG/Spindler, § 110 Rz. 9; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 110 Rz. 8; MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 23; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 31; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 39; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 110 Rz. 29; Henssler/Strohn/Henssler, § 110 AktG Rz. 7. 180) MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 30; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 110 Rz. 11; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 31; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 695. 181) MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 109 Rz. 17, 20; Hüffer/Koch, § 109 Rz. 2; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 109 Rz. 3; BeckOGKAktG/Spindler, § 109 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 10; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 700. 182) MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 9 f.; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 109 Rz. 2; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 109 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 12 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 109 Rz. 8 ff. 183) Hüffer/Koch, § 109 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 10; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 109 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Drygala, § 109 Rz. 4. 184) MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 9; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 109 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Spindler, § 109 Rz. 8; Schmidt/Lutter/Drygala, § 109 Rz. 4; MarschBarner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 42. 185) MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 11, 21; Hüffer/Koch, § 109 Rz. 3 f.; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 109 Rz. 16; Grigoleit/Tomasic, § 109 Rz. 7, 10; eingehend zu der Teilnahme des Vorstandes E. Vetter, VersR 2002, 951.

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die Satzung nicht eingeräumt werden.186) Beauftragte können aber als Stimmoder Erklärungsbote für das verhinderte Aufsichtsratsmitglied auftreten.187) Satzungsregelungen i. S. v. § 109 Abs. 3 AktG sind in der Praxis unüblich.188) Eine andere Frage ist, ob der Aufsichtsrat Dritten eine Teilnahme an seinen 63 Sitzungen erlauben darf. Gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 AktG sollen Dritte, die weder dem Vorstand noch dem Aufsichtsrat der Gesellschaft angehören, nicht an Aufsichtsratssitzungen teilnehmen. Durch diese Regelung soll eine nicht anlassbezogene bzw. regelmäßige Teilnahme von Dritten vermieden werden. Eine anlassbezogene Hinzuziehung Dritter im Rahmen bestimmter Gegenstände der Tagesordnung ist hingegen zulässig. Dies gilt gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 AktG ausdrücklich für Auskunftspersonen und Sachverständige. Aber auch andere Dritte (etwa Dolmetscher oder Protokollführer) können – zumindest, wenn dem kein Aufsichtsratsmitglied widerspricht – bei einem entsprechenden Anlass hinzugezogen werden.189) Eine regelmäßige Teilnahme des Vorstands oder von Vorstandsmitgliedern an Aufsichtsratssitzungen entspricht dem gesetzlichen Leitbild, weil der Vorstand dem Aufsichtsrat im Rahmen der Sitzungen gemäß § 90 AktG über Angelegenheiten der Gesellschaft zu berichten hat (Æ Rz. 112 ff.).190) Nach dem im Rahmen des FISG191) neu geregelten § 109 Abs. 1 Satz 3 AktG darf der Vorstand an Sitzungen des Aufsichtsrats, an denen der Abschlussprüfer der Gesellschaft als Experte teilnimmt, allerdings nur dann teilnehmen, wenn der Aufsichtsrat seine Teilnahme als erforderlich ansieht. Über die Teilnahme Dritter – einschließlich Vorstandsmitglieder – entscheidet der Sitzungsleiter oder der Aufsichtsrat mit Mehrheitsbeschluss.192) Der Sitzungsleiter ist dabei an einen eventuellen Beschluss des Aufsichtsrats gebunden.193) Abweichend hiervon entscheidet nach der hier vertretenen Auffassung über die Teilnahme des Vorstands bei Sitzungen gemäß § 109 Abs. 1 Satz 3 AktG nach dem eindeutigem Wortlaut der Vorschrift („der Aufsichtsrat oder der Ausschuss er___________ 186) Hüffer/Koch, § 109 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 37; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 701. 187) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 701; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 41; MünchKommAktG/ Habersack, § 109 Rz. 38; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 109 Rz. 104; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 109 Rz. 48 f.; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 109 Rz. 7. 188) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 701. 189) Hüffer/Koch, § 109 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 703; Wasse, AG 2011, 685 (688); eingehend zu sog. Sprachmittlern Dreher, in: Festschrift Lutter, S. 357 (367 ff.). 190) So wohl auch U.H. Schneider, ZIP 2002, 873 (875); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 702 („übliche Praxis“). 191) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl I 2021, 1534. 192) MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 13, 20; BeckOGK-AktG/Spindler, § 109 Rz. 19; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 702. 193) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 702, 707; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 120; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 109 Rz. 46.

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achtet“) nur der Aufsichtsrat bzw. bei Ausschusssitzungen der jeweilige Ausschuss, nicht aber der Sitzungsleiter. Fordert der Aufsichtsrat den Vorstand oder einzelne seiner Mitglieder zur Teilnahme auf, sind diese zur Teilnahme verpflichtet.194) Zur Teilnahme eines Ehrenvorsitzenden an den Sitzungen des Aufsichtsrats Æ Rz. 83. 64 Die Sitzungsleitung übernimmt – unbeschadet anderer Satzungsregeln – der Aufsichtsratsvorsitzende, bei seiner Verhinderung dessen Stellvertreter.195) Der Sitzungsleiter bestimmt die Reihenfolge der Abhandlung der Tagesordnung, erteilt und entzieht das Wort und entscheidet über die Modalitäten der Abstimmung196). Er kann die Sitzung kurzfristig unterbrechen, aber nicht vertagen, auch nicht in Bezug auf einzelne Beschluss- oder Beratungsgegenstände.197) 65 Über die Sitzung muss gemäß § 107 Abs. 2 Satz 1 AktG eine Sitzungsniederschrift erstellt werden, die vom Vorsitzenden zu unterzeichnen ist. Die Niederschrift muss gemäß § 107 Abs. 2 Satz 2 AktG Ort und Tag der Sitzung, die Teilnehmer, die Gegenstände der Tagesordnung, den wesentlichen Inhalt der Verhandlungen und die Beschlüsse des Aufsichtsrats angeben. Außer in Bezug auf die Beschlusstexte, die vollständig wiederzugeben sind, ist kein Wortprotokoll zu erstellen.198) Es ist ausreichend, die wesentlichen Gesichtspunkte zusammengefasst wiederzugeben.199) Aufsichtsratsmitglieder können auch nicht verlangen, bestimmte Umstände wörtlich in das Protokoll aufzunehmen.200) Sie können gegen Beschlussfassungen, die sie für rechts- oder pflichtwidrig halten oder gegen die sie sonst rechtliche Bedenken haben, Widerspruch erheben, der auch zu protokollieren ist.201) Das Protokoll muss nicht vom Aufsichtsratsvor___________ 194) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 702; Hüffer/Koch, § 109 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 20; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 52. 195) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 706; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 53; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Henning, § 4 Rz. 111, 113; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 31 Rz. 48. 196) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Henning, § 4 Rz. 118; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 706; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 46 ff. 197) Zur Unterbrechungsbefugnis vgl. MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 56; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 706; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 126. Zur fehlenden Vertagungsbefugnis des Sitzungsleiters vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 706, 725; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 86; Habersack/Henssler/Habersack, § 25 MitbestG Rz. 34; a. A. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 126. 198) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 709; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 75. 199) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 73; Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 18; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 80; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 78; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 709. 200) Habersack/Henssler/Habersack, § 25 MitbestG Rz. 23; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 710; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 107; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 32; a. A. BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 76; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 248. 201) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 248; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 107; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 710; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 79.

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sitzenden erstellt, sondern nur unterschrieben werden. Mit der Erstellung des Protokolls kann der Aufsichtsratsvorsitzende jedes Aufsichtsratsmitglied oder – sofern dem kein Aufsichtsratsmitglied widerspricht – auch einen Dritter betrauen. Ist der Aufsichtsratsvorsitzende nicht bei der Sitzung anwesend, unterschreibt und verantwortet der Sitzungsleiter das Protokoll an seiner Stelle.202) Der Niederschrift kommt Beweisfunktion im Rechtsverkehr zu.203) Fehler bei der Protokollierung führen aber nicht zur Unwirksamkeit gefasster Beschlüsse (§ 107 Abs. 2 Satz 3 AktG). Gemäß § 107 Abs. 2 Satz 4 AktG hat jedes Aufsichtsratsmitglied Anspruch auf Überlassung einer Abschrift der Sitzungsniederschrift. Praxishinweis: Die Niederschrift sollte abweichend von den Minimalkriterien des 66 Gesetzes ausführlich gestaltet werden, wenn der Aufsichtsrat wesentliche – möglicherweise haftungsrelevante – Entscheidungen trifft, um die von ihm zu beweisende Pflichtgemäßheit seines Handelns (vgl. §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 2 AktG) ausreichend zu dokumentieren. Dies gilt insbesondere für unternehmerische Entscheidungen des Aufsichtsrats (insbesondere Zustimmungsbeschlüsse zu Maßnahmen der Geschäftsführung und Rechtsgeschäfte mit Vorstandsmitgliedern), bei denen der Aufsichtsrat die Einhaltung der Business Judgement Rule (Æ Rz. 284) nachweisen muss. 3.

Beschlussfassung des Aufsichtsrats

Der Aufsichtsrat trifft seine Entscheidungen gemäß § 108 Abs. 1 AktG durch 67 Beschluss. Ein Beschluss ist ein formeller Willensbildungsakt mit rechtgeschäftlichem 68 Charakter, der durch die Stimmabgabe der Mitglieder des Beschlussgremiums zustande kommt.204) Ohne einen formellen Abstimmungsvorgang kann ein Beschluss nicht zustande kommen, weshalb eine konkludente Beschlussfassung nicht möglich ist.205) Möglich ist allerdings, einen gefassten Beschluss inhaltlich auszulegen und einen konkludenten Willen der an der (ausdrücklichen) Beschlussfassung teilnehmenden Mitglieder zu ermitteln.206) Im Verhältnis zwischen den Aufsichtsratsmitgliedern kommt dem Beschluss rechtsgeschäftlicher Charakter zu207), weshalb für die Auslegung des Willens der teilnehmenden Auf___________ 202) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 240; Brinkschmidt, S. 93 f. 203) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 85; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 15; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 80; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 253. 204) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 3; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 3. 205) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 14; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 65; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 715; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 4. 206) BGH, Urt. v. 17.12.2001 – II ZR 288/99, ZIP 2002, 216; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 29; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 65; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 4. 207) Hüffer/Koch, § 108 Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 11; Henssler/Strohn/ Henssler, § 108 AktG Rz. 2; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 3.

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sichtsratsmitglieder die allgemeinen Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB gelten.208) Der Beschluss kann jede Form der Willensbildung des Aufsichtsrats erfassen, sei es eine Willenserklärung (etwa der Abschluss eines Vertrags), ein korporationsrechtlicher Akt (etwa die Zustimmung im Rahmen eines Zustimmungsvorbehalts gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) oder eine schlichte Kundgabe oder Feststellung ohne rechtliche Bindungswirkung.209) 69 Der Aufsichtsrat kann einen Beschluss nur über einen konkreten Beschlussgegenstand fassen.210) Der Beschlussgegenstand wird üblicherweise vom Aufsichtsratsvorsitzenden in der Tagesordnung in Form eines Beschlussvorschlags niedergelegt.211) Es steht aber auch jedem Aufsichtsratsmitglied frei, Beschlussanträge unter Bezeichnung des konkreten Beschlussgegenstands zu stellen.212) Der Aufsichtsrat ist in diesem Fall verpflichtet, über den gestellten Antrag Beschluss zu fassen, sofern dieser zulässig ist.213) 70 Der Aufsichtsrat ist grundsätzlich beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte der Mitglieder, aus denen er nach Gesetz oder Satzung zu bestehen hat, an der Beschlussfassung teilnimmt (§ 108 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 28 MitbestG, § 10 MontanMitbestG, § 11 MontanMitbestErgG). Eine Teilnahme an der Beschlussfassung setzt eine Stimmabgabe voraus; diese kann in Form einer Zustimmung, Ablehnung oder Enthaltung in Bezug auf den Beschlussgegenstand erfolgen.214) Für nach dem MontanMitbestG oder dem MontanMitbestErgG mitbestimmte Gesellschaften sind die Beschlussfähigkeitserfordernisse zwingend215), für nach dem MitbestG mitbestimmte Gesellschaften kann das Mindesterfordernis für

___________ 208) Zur Rechtslage bei der GmbH: MünchKomm-GmbHG/Drescher, § 47 Rz. 10a m. w. N. 209) Vgl. etwa KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 9 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 8 m. w. N. 210) Henssler/Strohn/Henssler, § 108 AktG Rz. 4; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 17. 211) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 51. 212) Henssler/Strohn/Henssler, § 108 AktG Rz. 4; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 17; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 18; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 19. 213) BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 19; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 17; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 12; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 18. 214) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 36; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 74; Schmidt/Lutter/Drygala, § 108 Rz. 12; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 45; Deilmann, BB 2012, 2191 (2192). 215) Allg. M.: Großkomm-AktG/Oetker, § 10 MontanMitbestG Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 719; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 40; Wißmann/Kleinsorge/Schubert/ Wißmann, MitbestR, § 10 MontanMitbestG Rz. 4.

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die Beschlussfähigkeit jedenfalls nicht herabgesetzt werden216). Im Übrigen kann die Satzung die Mindesterfordernisse für die Beschlussfähigkeit grundsätzlich herauf- oder herabsetzen (§ 108 Abs. 2 Satz 1 AktG). In jedem Fall müssen aber mindestens drei Mitglieder an der Beschlussfassung teilnehmen (§ 108 Abs. 2 Satz 3 AktG). Außerdem kann die Satzung keine Bestimmungen treffen, die einzelne Mitglieder oder Gruppen bevorzugen oder benachteiligen. Dementsprechend kann die Beschlussfähigkeit insbesondere nicht an die Beteiligung des Aufsichtsratsvorsitzenden oder einer Mindestanzahl an Anteilseigneroder Arbeitnehmervertretern geknüpft werden.217) Der Beschlussfassung steht nicht entgegen, wenn der Aufsichtsrat nicht voll besetzt ist, selbst wenn das Sitzverhältnis von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter nicht gewahrt ist (§ 108 Abs. 2 Satz 4 AktG). Von dieser Regel kann die Satzung nicht abweichen.218) Beschlussfassungen des Aufsichtsrats bedürfen in aller Regel analog § 32 Abs. 1 71 Satz 3 BGB der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen.219) Enthaltungen zählen zwar für die Ermittlung der Beschlussfähigkeit, nicht aber bei der Ermittlung der Mehrheit mit.220) Bei mitbestimmten Gesellschaften gelten teilweise abweichende, vornehmlich gruppenbezogene Voraussetzungen, etwa bei dem Vorschlag neuer Aufsichtsratsmitglieder gegenüber der Hauptversammlung (§ 124 Abs. 3 Satz 5 AktG), der Wahl und Abberufung von Vorstandsmitgliedern (§ 31 MitbestG), der Ausübung von Beteiligungsrechten (§ 32 MitbestG) ___________ 216) Großkomm-AktG/Oetker, § 28 MitbestG Rz. 7; Habersack/Henssler/Habersack, § 28 MitbestG Rz. 4a; Wißmann/Kleinsorge/Schubert/Schubert, MitbestR, § 28 MitbestG Rz. 9; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 40. Streitig ist hingegen, ob die Mindestanforderungen verschärft werden können. Offengelassen in BGH Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 145/80, ZIP 1982, 442. Für eine entsprechende Möglichkeit: OLG Hamburg, Beschl. v. 4.4.1984 – 2 W 25/80, BB 1984, 1763; LG Frankfurt/M., Beschl. v. 3.10.1978 – 3/11 T 32/78, NJW 1978, 2398; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 719; KK-AktG/Mertens/Cahn, Anh. § 117 B, § 28 MitbestG Rz. 2. Gegen eine entsprechende Möglichkeit: OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.6.1980 – 15 U 171/79, NJW 1980 2137 (2139); Großkomm-AktG/Oetker, § 28 MitbestG Rz. 8; Raiser, NJW 1980, 209 (210); Habersack/Henssler/Habersack, § 28 MitbestG Rz. 4a; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 40; Wißmann/Kleinsorge/ Schubert/Schubert, MitbestR, § 28 MitbestG Rz. 9. 217) Großkomm-AktG/Oetker, § 28 MitbestG Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 64; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 721; Habersack/Henssler/Habersack, § 28 MitbestG Rz. 4; KK-AktG/Mertens/Cahn, Anh. § 117 B, § 28 MitbestG Rz. 2. 218) OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.6.1980 – 15 U 171/79, NJW 1980, 2137 (2139); MünchKommAktG/ Habersack, § 108 Rz. 46; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 75, 82; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 720; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 60. 219) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 20; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 57; Schmidt/Lutter/Drygala, § 108 Rz. 31; Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 24; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 66. 220) LG Berlin, Beschl. v. 30.10.1990 – 98 T 39/90, AG 1991, 244 (245); MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 66; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 20; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 108 Rz. 59; Schmidt/Lutter/Drygala, § 108 Rz. 31; Säcker/Theisen, AG 1980, 29 (37).

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sowie der Bestellung und Abberufung des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters (§ 27 Abs. 2 MitbestG), der Mitglieder des Vermittlungsausschusses (§ 27 Abs. 3 MitbestG), des Arbeitsdirektors (§ 13 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 MontanMitbestG) sowie des „weiteren Mitglieds“ i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 2 lit. c) MontanMitbestG (§ 8 Abs. 1 MontanMitbestG). Die geltenden Mehrheitserfordernisse sind weitgehend zwingend.221) 72 Jedem Aufsichtsratsmitglied kommt gleiches Stimmgewicht zu.222) Von dieser Regel kann in der Satzung grundsätzlich nicht abgewichen werden,223) auch nicht in Form eines Vetorechts eines Aufsichtsratsmitglieds.224) Die einzige Ausnahme von diesem Grundsatz ist die Möglichkeit, dem Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. seinem Stellvertreter bei Verhinderung des Vorsitzenden in Pattsituationen ein Zweitstimmrecht einzuräumen.225) Ein gesetzliches Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden (nicht aber seines Stellvertreters) gilt gemäß § 29 Abs. 2 MitbestG bei nach dem MitbestG mitbestimmten Gesellschaften in einem zweiten Wahlgang, wenn sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang eine Pattsituation eingetreten ist (für die Bestellung und den Widerruf der Bestellung von Vorstandsmitgliedern gilt das Zweitstimmrecht abweichend hiervon erst in einem dritten Wahlgang, vgl. § 31 Abs. 4 MitbestG). 73 Stimmverbote für Aufsichtsratsmitglieder kennt das Aktienrecht grundsätzlich nicht. Es gilt lediglich das allgemeingültige Stimmverbot im Rahmen der Vornahme eines Rechtsgeschäfts mit dem betroffenen Aufsichtsratsmitglied oder die Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits zwischen ihm und der Gesellschaft (Verbot des Richtens in eigener Sache, § 34 BGB).226) Als Folge ___________ 221) Ausnahmen werden bei nicht oder nach dem DrittelbG mitbestimmten Gesellschaften für Aufgaben, die dem Aufsichtsrat durch die Satzung neben seinen gesetzlichen Aufgaben zugewiesen werden, diskutiert; vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 24; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 69; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 62; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 108 Rz. 31; BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 26; Marsch-Barner/ Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 58; Jürgenmeyer, ZGR 2007, 112 (118 ff.). 222) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 735; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 9; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 58; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 64; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 28; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 61; Schmidt/Lutter/Drygala, § 108 Rz. 31. 223) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 61; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 64; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 28; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 735. 224) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 735; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 58; MünchKommAktG/ Habersack, § 108 Rz. 28; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 61. 225) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 68; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 25; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 8; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 41, 62; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 61; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 108 Rz. 10. 226) Hüffer/Koch, § 108 Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 70; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 65; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 63 ff.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 34 f.

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eines Stimmverbots darf das betroffene Aufsichtsratsmitglied an der entsprechenden Abstimmung nicht durch Ja- oder Nein-Stimme teilnehmen; eine Teilnahme im Wege der Enthaltung ist hingegen möglich und – sofern die Beschlussfähigkeit nicht anders herbeigeführt werden kann – auch Pflicht des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds.227) Über das Verbot des Richtens in eigener Sache hinaus hindert eine Interessenkollision ein Aufsichtsratsmitglied nicht, an einer Abstimmung teilzunehmen.228) Das teilnehmende Aufsichtsratsmitglied muss den Interessenkonflikt jedoch auf Basis seiner Treuepflichten (bzw. gemäß Grundsatz 20 DCGK 2022 und Empfehlung E.1 DCGK 2022) dem Aufsichtsrat gegenüber offenlegen und zu Gunsten der Gesellschaft auflösen229) oder freiwillig auf eine Teilnahme an der Beschlussfassung verzichten. Für börsennotierte Unternehmen empfiehlt E.1 DCGK 2022 eine Veröffentlichung von Interessenskollisionen von Aufsichtsratsmitgliedern und deren Behandlung durch den Aufsichtsrat im Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung (§ 171 Abs. 2 Satz 1 AktG). Beschlussfassungen können innerhalb oder außerhalb von Sitzungen gefasst 74 werden. In der Regel sollen Beschlüsse in Sitzungen gefasst werden. Eine ordnungsgemäße Beschlussfassung setzt – vorbehaltlich anderslautender Regelungen in Satzung oder Geschäftsordnung – die Einhaltung der Form- und Fristvorschriften für die Einberufung voraus, sofern nicht sämtliche Aufsichtsratsmitglieder auf die Einhaltung dieser Vorschriften verzichten. Dies gilt auch für Beschlussanträge einzelner Aufsichtsratsmitglieder; Beschlussanträge können jedoch ad-hoc in der Sitzung gestellt und darüber Beschluss gefasst werden, wenn es sich um einen Gegenantrag zu einem in der Tagesordnung enthaltenen Beschlussgegenstand handelt.230) Beschlussfassungen außerhalb von Sitzungen (Umlaufbeschlüsse) oder in Sitzungen, an denen einzelne231) oder sämtliche der Aufsichtsratsmitglieder fernmündlich oder mit anderen synchronen Kommunikationsmitteln teilnehmen, sind – wiederum vorbehaltlich einer abweichenden Regelung in Satzung oder Geschäftsordnung – nur dann zulässig, wenn ___________ 227) So insbesondere BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, AG 2007, 484 (485); zustimmend: BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 38; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 42; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 66; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 78 f.; v. Schenck, DStR 2007, 395 (401); Stadler/Berner, NZG 2003, 49 (51 f.); a. A. BayObLG, Beschl. v. 28.3.2003 – 3Z BR 199/02, NZG 2003, 691 (693); MünchKommAktG/ Habersack, § 108 Rz. 33; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 62; Keusch/ Rotter, NZG 2003, 671 (673). 228) Hüffer/Koch, § 108 Rz. 10; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 70; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 731; Koch, ZGR 2014, 697 (710). 229) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 733; Heidel/Breuer/Fraune, § 108 Rz. 10; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 108 Rz. 15. 230) BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 19; so im Ergebnis auch: MünchKommAktG/ Habersack, § 108 Rz. 17; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 12. 231) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 16; Henssler/Strohn/Henssler, § 108 AktG Rz. 16.

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dem kein Aufsichtsratsmitglied widerspricht (§ 108 Abs. 4 AktG). Unabhängig davon, ob zu einer Beschlussfassung innerhalb oder außerhalb einer Sitzung eingeladen wird, kann jedes Aufsichtsratsmitglied entscheiden, seine Stimme zur Beschlussfassung schriftlich (§ 126 BGB) oder in elektronischer Form mit Namen und qualifiziert elektronischer Signatur (§ 126a BGB)232) über einen Stimmboten überreichen zu lassen (§ 108 Abs. 3 AktG). Stimmbote kann jedes Aufsichtsratsmitglied (§ 108 Abs. 3 Satz 2 AktG) oder – sofern die entsprechende Person an der Sitzung teilnehmen darf (Æ Rz. 62 f.) – auch ein Dritter sein (§ 108 Abs. 3 Satz 3 AktG). In der Regel wird die Stimmbotschaft an den Aufsichtsratsvorsitzenden übermittelt. 75 Der Wirksamkeitszeitpunkt des Beschlusses hängt von der Art der Beschlussfassung ab. Innerhalb einer Sitzung wird der Beschluss in der Regel mit der Abgabe der Stimmen der anwesenden Aufsichtsratsmitglieder wirksam. Im Rahmen eines Umlaufbeschlusses ist zu differenzieren: Ist für die Stimmabgabe eine Frist gesetzt worden, wird der Beschluss mit Ablauf der gesetzten Frist wirksam (sofern zu diesem Zeitpunkt eine zur Beschlussfähigkeit führende Anzahl an Stimmen abgegeben wurde). Anderenfalls tritt die Wirksamkeit jedenfalls dann ein, wenn eine die Beschlussfähigkeit herstellende Anzahl an Stimmen abgegeben wurde und bezogen auf sämtliche amtierende Aufsichtsratsmitglieder die erforderliche Mehrheit für bzw. gegen den Beschluss gestimmt hat. Lässt sich der Wirksamkeitszeitpunkt nicht in dieser Weise bestimmen, tritt sie ein, wenn nach den Umständen mit keinen weiteren Stimmabgaben mehr gerechnet werden kann. Ein Beschluss kann je nach konkretem Beschlussgegenstand auch unter aufschiebende oder auflösende Bedingungen oder Befristungen gestellt werden. Sinnvoll und in der Praxis üblich ist eine Feststellung des Zustandekommens des Beschlusses durch den Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. den Abstimmungsleiter.233) 76 Praxishinweis: In der Praxis üblich und empfehlenswert ist es, das Verfahren für eine Beschlussfassung außerhalb einer Sitzung bzw. eine Teilnahme an einer Sitzung über synchrone Kommunikationsmittel in der Geschäftsordnung detailliert zu regeln. Für das schriftliche Umlaufverfahren sollte insbesondere das Erfordernis einer (angemessenen) Fristsetzung für die Rücksendung der Stimmzettel vorgesehen werden, um die oben dargestellten Unsicherheiten in Bezug auf den Wirksamkeitszeitpunkt zu vermeiden.

___________ 232) BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 63; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 25; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 127 f.; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 70; Hüffer/ Koch, § 108 Rz. 20. 233) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 26; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 53; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 53; Wachter/Schick, § 108 Rz. 9; Semler/v. Schenk/ Schütz, § 108 Rz. 112.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

Fehlerhafte Beschlüsse sind grundsätzlich nichtig.234) Ausgenommen hiervon 77 sind Verstöße gegen bloße Ordnungsvorschriften – insbesondere die Protokollpflicht gemäß § 107 Abs. 2 AktG – oder gegen die (vom Aufsichtsrat erlassene) Geschäftsordnung des Aufsichtsrats.235) Außerdem sind Verfahrensmängel unbeachtlich, wenn sie keine Relevanz für das Beschlussergebnis hatten (etwa die Teilnahme eines nicht berechtigten Dritten an einer Sitzung).236) Alle übrigen Verfahrensfehler oder inhaltlichen Fehler (Verstöße gegen Gesetz oder Satzung) führen zur Nichtigkeit des Beschlusses237), wobei die Regeln der Teilnichtigkeit gemäß § 139 BGB Anwendung finden238). Im Rahmen der Frage, durch wen und bis wann ein zur Nichtigkeit führender Fehler der Beschlussfassung geltend gemacht werden kann, wird nach Art und Schwere des Verstoßes differenziert.239) Handelt es sich um einen Verstoß gegen nicht verzichtbare Verfahrensvorschriften (etwa Mängel bei der ordnungsgemäßen Einladung sämtlicher Mitglieder, der Beschlussfähigkeit oder dem Erreichen der Mehrheitserfordernisse) oder gegen inhaltliche Mängel, so kann die Nichtigkeit von jedem Betroffenen zeitlich unbegrenzt geltend gemacht werden.240) Bezieht sich der Fehler ausschließlich auf die Missachtung eines individuellen und verzichtbaren Rechts eines Aufsichtsratsmitglieds auf Teilnahme und Mitwirkung an dem Beschluss, kann die Nichtigkeit nur von dem betroffenen Aufsichtsratsmitglied und nur in angemessener Frist gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden gerügt werden.241) In der Regel wird die Rüge bis spätestens in der nächsten Aufsichtsratssitzung zu erheben sein.242) Wird der Mangel nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Rüge behoben, muss das rügende Aufsichtsratsmitglied in angemessener Frist Klage erheben, wenn es weiterhin ___________ 234) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342 (346 ff., insb. 351); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 154 ff.; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 73; BeckOGKAktG/Spindler, § 108 Rz. 75; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 26; Henssler/Strohn/Henssler, § 108 AktG Rz. 23; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 739. 235) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 73 sowie § 107, Rz. 176; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 27; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 73. 236) Dazu im Einzelnen etwa Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 166; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 71; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 93. 237) Hüffer/Koch, § 108 Rz. 27, 29; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 81 ff.; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 168 ff.; Fleischer, DB 2013, 217 (218 f.). 238) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 84; BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 91; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 107; Henssler/Strohn/Henssler, § 108 AktG Rz. 23. 239) Vgl. BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342 (351 f.) = ZIP 1993, 1079; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 27, 29; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 81 ff.; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 168 ff.; Fleischer, DB 2013, 217 (218 f.). 240) Vgl. etwa Hüffer/Koch, § 108 Rz. 26; Fleischer, DB 2013, 217 (218). 241) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, BGHZ 122, 342, 352; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 744; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 199; MünchKommAktG//Habersack, § 108 Rz. 82; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 117. 242) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 82; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 202.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

die Nichtigkeit des Beschlusses begehrt.243) Für die Klageerhebung ist in der Regel eine Frist von einem Monat ab Beschlussfassung als angemessen anzusehen (Rechtsgedanken des § 246 Abs. 1 AktG).244) Die Rüge- sowie Klagefrist kann auch in der Satzung bestimmt werden, sofern die Fristen nicht unangemessen verkürzt werden.245) Ist zwar der Beschluss an sich nicht fehlerhaft, allerdings ein Teil der abgegebenen Stimmen, ist der Beschluss nur nichtig, wenn die fehlerhaft abgegebenen Stimmen für das Zustandekommen des Beschlusses ausschlaggebend gewesen sind.246) 4.

Vorsitzender, Stellvertreter, Ehrenvorsitzender

78 Gemäß § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG muss der Aufsichtsrat aus seiner Mitte zwingend einen Aufsichtsratsvorsitzenden und zumindest einen Stellvertreter wählen. Die Satzung oder die Geschäftsordnung kann vorsehen, dass weitere Stellvertreter zu wählen sind,247) oder eine Höchstgrenze für die Anzahl von Stellvertretern festlegen.248) Der Aufsichtsrat wählt den Vorsitzenden und den oder die Stellvertreter nach den allgemeinen Regeln (Æ Rz. 71) per Beschluss mit einfacher Mehrheit. Sonderregeln für die Wahl des Vorsitzenden und des (ersten) Stellvertreters stellt § 27 MitbestG für nach dem Mitbestimmungsgesetz mitbestimmte Gesellschaften auf. Demnach ist für die Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters gemäß § 27 Abs. 1 MitbestG in einem ersten Wahlgang eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich. Kommt in dem ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit nicht zustande, bestimmen gemäß § 27 Abs. 2 MitbestG die Anteilseignervertreter den Aufsichtsratsvorsitzenden und die Arbeitnehmervertreter dessen Stellvertreter jeweils mit einfacher Mehrheit. Sollen mehr als ein Stellvertreter bestellt werden, gelten diese Sonderregeln nur für den ersten Stellvertreter.249) Für die übrigen Stellvertreter gelten die allgemeinen Regeln, sodass der gesamte Aufsichtsrat diese mit einfacher Mehrheit bestimmt.250) Zum Vorsitzenden oder ___________ 243) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 82; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 190; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 744; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 117. 244) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 82. 245) Zur Zulässigkeit der statutarischen Regelung der Klagefrist BayObLG, Beschl. v. 28.3.2003 – 3Z BR 199/02, ZIP 2003, 1194 (1197); zur Angemessenheit: Fleischer, DB 2013, 217 (222) m. w. N. 246) MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 75; BeckOGK-AktG/Spindler, § 108 Rz. 76; Hüffer/ Koch, § 108 Rz. 25; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 108 Rz. 76. 247) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 222; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 28; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 59; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 661. 248) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 28; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 59; Hüffer/ Koch, § 107 Rz. 10; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 661. 249) ErfK-ArbR/Oetker, § 27 MitbestG Rz. 7; Großkomm-AktG/Oetker, § 27 MitbestG Rz. 19 f.; Wißmann/Kleinsorge/Schubert/Schubert, MitbestR, § 27 MitbestG Rz. 18. 250) Großkomm-AktG/Oetker, § 27 MitbestG Rz. 20; Wißmann/Kleinsorge/Schubert/Schubert, MitbestR, § 27 MitbestG Rz. 18.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

zum Stellvertreter des Vorsitzenden sind sämtliche Aufsichtsratsmitglieder wählbar; insbesondere muss der Vorsitzende nicht Anteilseignervertreter und der Stellvertreter nicht Arbeitnehmervertreter sein.251) Kommt der Aufsichtsrat seiner Pflicht zur Wahl eines Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. Stellvertreters nicht nach, gelten die Regeln für eine gerichtliche Ersatzbestellung von Aufsichtsratsmitgliedern gemäß § 104 Abs. 2 AktG nach herrschender Meinung analog.252) Die Amtsdauer kann der Aufsichtsrat im Wahlbeschluss festlegen. Die Amts- 79 zeit des Vorsitzenden und seiner Stellvertreter kann grundsätzlich nicht länger als deren jeweiliges Aufsichtsratsmandat andauern.253) Legt der Aufsichtsrat keine Amtszeit fest, ist im Zweifel davon auszugehen, dass die Bestellung zum Vorsitzenden oder Stellvertreter bis zum Ende der laufenden Bestellungsperiode als Aufsichtsratsmitglied andauert.254) Der Aufsichtsrat kann unabhängig von der Bestellungsdauer den Vorsitzenden oder Stellvertreter per Beschluss – auch ohne dass ein wichtiger Grund für die Abberufung vorliegt – abberufen.255) Es gelten dieselben Beschlusserfordernisse wie für die Bestellung.256) Der Aufsichtsratsvorsitzende bzw. seine Stellvertreter können auch von sich aus ihr Amt niederlegen.257) Dies darf nicht zur Unzeit erfolgen, setzt aber nicht

___________ 251) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 20, 27; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 4; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 107 Rz. 21, 60; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 9, 23; Henssler/ Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 3, 12. 252) BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 33; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 26; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 21; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 13; KKAktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 23; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 8. 253) Allerdings wird vertreten, dass die Amtsdauer auch unter die aufschiebende Bedingung der Wiederwahl als AR-Mitglied gestellt werden kann, so etwa: Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers/Fischer, § 107 Rz. 6; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 64; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 29; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 665. 254) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 15; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 29; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 15; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 7; Habersack/Henssler/Habersack, § 27 MitbestG Rz. 10. 255) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 31; Habersack/Henssler/Habersack, § 27 MitbestG Rz. 13; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 39; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 666; Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 9. 256) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 31; Habersack/Henssler/Habersack, § 27 MitbestG Rz. 13; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 16; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 39; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 666; ob im Falle eines nach dem MitbestG mitbestimmten Aufsichtsrats auch § 27 Abs. 2 MitbestG analog anwendbar ist, wenn im ersten Wahlgang die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Abberufung nicht erreicht wird, ist umstritten, vgl. im Einzelnen Hüffer/Koch, § 107 Rz. 7. 257) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 35; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 44; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 37; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 16; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 22.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

zugleich die Niederlegung des Aufsichtsratsmandats voraus.258) Das Amt endet schließlich automatisch, wenn das Aufsichtsratsmandat endet.259) 80 Dem Aufsichtsratsvorsitzenden kommen grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten zu wie allen übrigen Aufsichtsratsmitgliedern.260) Ihm steht jedoch ein Zweitstimmrecht in Pattsituationen zu, wenn die Satzung dies vorsieht oder bei Abstimmungen nach Maßgabe von §§ 29 Abs. 2, 31 Abs. 4 MitbestG (Æ Rz. 72). 81 Dem Aufsichtsratsvorsitzenden ist eine Reihe von Aufgaben zugewiesen. Hierzu gehören die Einberufung, Vorbereitung und Leitung der Aufsichtsratssitzungen sowie die Kommunikation mit den Ausschüssen des Aufsichtsrats.261) Daneben kommt dem Vorsitzenden auch eine Repräsentationsfunktion für den Aufsichtsrat, insbesondere gegenüber dem Vorstand, aber etwa auch gegenüber Investoren (Æ Rz. 251), zu.262) Viele Satzungen bzw. Geschäftsordnungen sehen – auch mit Blick auf Empfehlung D.5 DCGK 2022 – zudem vor, dass der Vorsitzende im ständigen Austausch mit dem Vorstand stehen und diesen fortlaufend beraten soll.263) Schließlich wirkt der Aufsichtsratsvorsitzende bei der Anmeldung von Beschlüssen der Hauptversammlung zum Handelsregister mit (vgl. §§ 184 Abs. 1 Satz 1, 188 Abs. 1, 195 Abs. 1 Satz 1, 203 Abs. 1 Satz 1, 207 Abs. 2 Satz 1, 223, 229 Abs. 3, 237 Abs. 4 Satz 5 AktG). Nahezu sämtliche großen börsennotierten Unternehmen sehen in ihren Satzungen vor, dass der Aufsichtsratsvorsitzende zudem die Versammlungsleitung der Hauptversammlung übernimmt.264) 82 Bei Verhinderung des Vorsitzenden nimmt dessen Aufgaben der Stellvertreter wahr. Gibt es mehrere Stellvertreter, bestimmt die Satzung bzw. der Aufsichts___________ 258) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 35; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 7; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 20; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 9; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 66 f.; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 16. 259) BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 36; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 7; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 665; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 16; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 28 Rz. 22. 260) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 85; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 677; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 21. 261) Semler/v. Schenk/Mutter, § 107 Rz. 107 ff.; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 8; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 107 Rz. 29 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 47; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 19 f.; ErfK-ArbR/Oetker, § 107 AktG Rz. 5. 262) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 95, 97; Peus, S. 211 f.; Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 10; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 12; ErfK-ArbR/Oetker, § 107 AktG Rz. 5. 263) § 1 der GO-AR der RWE AG; § 1 Abs. 3 der GO-AR der Deutschen Telekom AG; § 15 Abs. 3 der GO-AR der E.ON SE; Ziff. VIII.13. der GO-AR der Daimler AG; § 8 Abs. 5 der GO-AR der Commerzbank AG; § 1 Abs. 2 der GO-AR der Infineon Technologies AG. 264) Vgl. etwa § 21 Nr. 1 der Satzung der AUDI AG; § 19 Abs. 1 der Satzung der Continental AG; § 19 Abs. 1 der Satzung der Evonik Industries AG; § 16 Abs. 1 der Satzung der Bayer AG; § 22 Abs. 1 der Satzung der Volkswagen AG; § 17 Abs. 1 der Satzung der Deutsche Börse AG; § 13 Abs. 1 der Satzung der Allianz SE; § 22 Abs. 1 der Satzung der Adidas AG.

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rat, welcher Stellvertreter die Aufgaben zunächst übernimmt.265) In einem nach dem MitbestG mitbestimmten Aufsichtsrat muss der den Arbeitnehmervertretern zuzurechnende Stellvertreter bei Verhinderung des Vorsitzenden als Erstes an dessen Stelle rücken.266) Vertritt der stellvertretende Vorsitzende den Vorsitzenden, kommen ihm für die Dauer der Vertretung dieselben Rechte wie dem Vorsitzenden mit Ausnahme des Zweitstimmrechts gemäß §§ 29 Abs. 2, 31 Abs. 4 MitbestG zu.267) Ob dem Stellvertreter auch ein satzungsmäßiges Zweitstimmrecht zukommt, richtet sich nach dem konkreten Mitbestimmungsstatut: In einer nach dem MitbestG mitbestimmten AG kann aufgrund des zwingenden Charakters der §§ 29 Abs. 2 Satz 3, 31 Abs. 4 Satz 3 MitbestG dem ersten Stellvertreter ein statutarisches Zweitstimmrecht nicht eingeräumt werden.268) Außerhalb des Anwendungsbereichs des MitbestG kann die Satzung jedoch auch für den Stellvertreter ein Recht zum Stichentscheid vorsehen.269) Der Aufsichtsrat kann einen oder mehrere Ehrenvorsitzende ernennen.270) Der 83 Ehrenvorsitzende ist im rechtlichen Sinne aber weder Aufsichtsratsmitglied noch bekleidet er eine sonstige Funktion im Aufsichtsrat oder in der Gesellschaft.271) Ihm kommen daher keine Rechte – insbesondere kein Teilnahmerecht an Sitzungen oder Beschlussfassungen und erst recht kein Stimmrecht – zu und ihm können auch keine solchen Rechte durch die Satzung eingeräumt werden.272) Recht___________ 265) Hüffer/Koch, § 107 Rz. 10; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 28; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 17; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 64. 266) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 28; Habersack/Henssler/Habersack, § 27 MitbestG Rz. 20; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 64; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 74. 267) Habersack/Henssler/Habersack, § 27 MitbestG Rz. 20; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 10; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 684; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 25. 268) Für ersten Stellvertreter allg. Meinung: MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 43; MünchKommAktG/Annuß, § 27 MitbestG Rz. 20; Habersack/Henssler Habersack, § 27 MitbestG Rz. 20; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 66; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 27 MitbestG Rz. 15; Paefgen, S. 299. Str. für den weiteren Stellvertreter: Dagegen Habersack/ Henssler/Habersack, § 27 MitbestG Rz. 20; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 27 MitbestG Rz. 15; Martens, DB 1980, 1381 (1386); Schaub, ZGR 1977, 293, (296); Dafür: Paefgen, S. 298 ff.; H.P. Westermann, in: Festschrift Fischer, S. 835 (842, 848 f.); Canaris, DB 1981, Beil. Nr. 14, 12 f. 269) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 68; MünchKommAktG/Habersack, § 108 Rz. 25; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 108 Rz. 41, 62; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 108 Rz. 61; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 108 Rz. 10. 270) Hüffer/Koch, § 107 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 69; MünchKommAktG/ Habersack, § 107 Rz. 72; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 29; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 107 Rz. 229; Johannsen-Roth/Kießling, NZG 2013, 972; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 685. 271) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 229, 231; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 76; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 29; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 71; Hüffer/ Koch, § 107 Rz. 12; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 28; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 686. 272) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 72; Hennerkes/Schiffer, DB 1992, 875 (876); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 76; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 70; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 686.

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lich gesehen ist der Ehrenvorsitzende vielmehr wie jeder Dritte zu behandeln.273) Eine Teilnahme an Aufsichtsratssitzungen kommt deswegen nur als Gast nach Maßgabe des § 109 Abs. 1 AktG in Betracht.274) Sollen dem Ehrenvorsitzenden bestimmte Rechte zukommen, müssen demenentsprechend Gestaltungen gefunden werden, wie sie auch für andere Dritte – etwa Berater – gewählt werden können.275) Da der Ehrenvorsitzende kein Organ oder Organmitglied der Gesellschaft ist, gibt es auch keine feste Zuständigkeit für dessen „Bestellung“.276) In der Praxis üblich ist, dass der Aufsichtsrat den Ehrenvorsitzenden ernennt.277) Denkbar ist aber auch, den Ehrenvorsitzenden in der Satzung aufzuführen.278) Ob, durch wen und in welchem Umfang dem Ehrenvorsitzenden Leistungen der Gesellschaft (etwa ein Ehrensold, Dienstwagen, Büro oder Auslagenersatz) zugewandt werden können, ist in der Literatur sehr streitig.279) 5.

Aufsichtsratsausschüsse

84 Gemäß § 107 Abs. 3 AktG kann der Aufsichtsrat aus seiner Mitte Ausschüsse bilden. Aufsichtsratsausschüsse dienen einer arbeitsteiligen Aufgabenerledigung im Aufsichtsrat und damit sowohl der Sicherung seiner Effizienz als auch seiner Arbeitsfähigkeit.280) Aufsichtsratsausschüssen können grundsätzlich sämtliche Aufgaben des Aufsichtsrats übertragen werden. Dabei können dem Ausschuss lediglich beratende oder vorbereitende Tätigkeiten (sog. nicht be-

___________ 273) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 72; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 69; Hüffer/ Koch, § 107 Rz. 12; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 28; Heidel/Breuer/ Fraune, § 107 Rz. 17. 274) MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 72; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 26; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 70; Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 28; Heidel/Breuer/Fraune, § 107 Rz. 17. 275) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 687; siehe auch Johannsen-Roth/Kießling, NZG 2013, 972 (974). 276) Vgl. etwa die Darstellung des Meinungsspektrums bei Siebel, in: Festschrift Peltzer, S. 519 (527 f.). 277) Vgl. zum entsprechenden empirischen Befund auch Siebel, in: Festschrift Peltzer, S. 519 (528). 278) Johannsen-Roth/Kießling, NZG 2013, 972 (973). 279) Vgl. zu den insoweit relevanten Themen etwa Johannsen-Roth/Kießling, NZG 2013, 972 (974); MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 73; Semler/v. Schenk/Mutter, § 107 Rz. 94 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 686 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 231; BeckOGKAktG/Spindler, § 107 Rz. 69; Semler/v. Schenk/Mutter, § 107 Rz. 95. Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 107 Rz. 11; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 1 Rz. 211 ff. 280) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 1; Beck’sches Handbuch der AG/ Kolb, § 7 Rz. 171; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 18; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 745; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 1; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 93; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 90.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

schließende Ausschüsse) oder Beschlusskompetenzen (sog. beschließende Ausschüsse) des Aufsichtsrats übertragen werden.281) Nicht übertragbar sind die in § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG aufgezählten Beschluss- 85 kompetenzen des Aufsichtsrats. Im Einzelnen sind dies die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters (§ 107 Abs. 1 Satz 1 AktG), die Zustimmung zu Abschlagszahlungen auf den Bilanzgewinn (§ 59 Abs. 3 AktG), der Erlass einer Geschäftsordnung für den Vorstand (§ 77 Abs. 2 Satz 1 AktG), die Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern und die Ernennung des Vorstandsvorsitzenden (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 3, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1, Satz 2, Abs. 4 Satz 1 AktG), Regelungen über die Festsetzung und Herabsetzung der Vorstandsvergütung (§ 87 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 2 AktG), die Einberufung einer Hauptversammlung zum Wohl der Gesellschaft (§ 111 Abs. 3 AktG), die Prüfung und Feststellung bzw. Billigung von Jahres- und Konzernabschluss (§§ 171, 314 Abs. 2, Abs. 3 AktG) sowie die Schaffung – wohl aber die Ausübung282) – eines Zustimmungsvorbehalts (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG). Möglich ist allerdings eine Übertragung der Vorbereitung von Entscheidungen des Gesamtaufsichtsrats in Bezug auf die genannten Kompetenzen.283) Außerdem darf der Aufsichtsrat nicht seine Überwachungskompetenz als Ganzes auf einen Ausschuss übertragen.284) Möglich ist allerdings, einen bestimmten Sachverhalt, einen konkreten Entscheidungsvorgang oder eine abgrenzbare Kategorie von Entscheidungen oder Sachverhalten durch einen Ausschuss überwachen zu lassen.285) Schließlich besteht ein ungeschriebenes Delegationsverbot in Bezug auf Entscheidungen der inneren Organisation des Aufsichtsrats oder anderer Ausschüsse286); soweit der Aufsichtsrat oder die Satzung jedoch ___________ 281) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 303; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 80; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 746 f.; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 103; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 38; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 99. 282) Allg. M., BGH, Urt. v. 27.5.1991 – II ZR 87/90, ZIP 1991, 869; Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 172; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 423; Hölters/HamblochGesinn/Gesinn, § 107 Rz. 166; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 167; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 158. 283) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 166; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 27; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 107 Rz. 176; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 159; BeckOGKAktG/Spindler, § 107 Rz. 91. 284) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 396; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 156; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 145; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 147; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 42; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 99. 285) Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 173; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 396; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 145; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 32 Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 147; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 42; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 99. 286) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 427; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 162; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 168; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 5; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 41.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

keine Organisationsregeln für den Ausschuss selbst vorsehen, kann der Ausschuss Regelungen bezüglich seiner eigenen Organisation treffen.287) 86 Der Aufsichtsrat hat in Bezug auf sämtliche übertragene Aufgaben eine uneingeschränkte Rückhol- und Durchbrechungsbefugnis. Er kann demnach übertragene Aufgaben jederzeit wieder an sich ziehen oder eine Aufgabe trotz (fort)bestehender Kompetenzzuweisung selbst ausüben.288) Dies setzt jeweils einen Aufsichtsratsbeschluss voraus.289) 87 Über die Bildung von Ausschüssen entscheidet nach dem klaren Wortlaut des § 107 Abs. 3 AktG allein der Aufsichtsrat, soweit das Gesetz keine zwingenden Ausschüsse voraussetzt (Æ Rz. 92); die Satzung kann vor diesem Hintergrund gemäß § 23 Abs. 5 AktG nicht vorschreiben, ob und welche Ausschüsse des Aufsichtsrats zu bilden und wie diese zu besetzen sind.290) Die Satzung kann jedoch in demselben Rahmen wie für den Aufsichtsrat Verfahrensvorschriften für Aufsichtsratsausschüsse aufstellen.291) Der Aufsichtsrat kann einen Ausschuss durch Beschluss oder – in der Praxis ist dies die Regel – im Rahmen einer Geschäftsordnung einsetzen. Es gelten die allgemeinen Bestimmungen für Beschlussfähigkeit und Mehrheiten (Æ Rz. 70 f.). 88 Ein Ausschuss ist definitionsgemäß ein Kollegialorgan und muss folglich zumindest aus zwei Mitgliedern bestehen.292) Beschließende Ausschüsse müssen abweichend hiervon zumindest aus drei Mitgliedern bestehen, da diese anderenfalls ___________ 287) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 60; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 443; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 183; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 32 Rz. 6; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 163; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 107 Rz. 125. 288) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 318, 377; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 153; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 177; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 749; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 7; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 95; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 104. 289) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 153; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 19; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 95. 290) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 123/81, ZIP 1982, 434; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/ Gittermann, § 5 Rz. 55; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 316; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 18; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 765; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 41 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 96 f.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 44; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 95. 291) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 55; Beck’sches Handbuch der AG/ Kolb, § 7 Rz. 180; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 316; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 52; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 98; BeckOGKAktG/Spindler, § 107 Rz. 123. 292) Beck’sches Handbuch der AG/Schiedermair/Kolb, § 7 Rz. 177; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers/Fischer, § 107 Rz. 23; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 343; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 134; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 116; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 768; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 43; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 136; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 46; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 107.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

gemäß § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG nicht beschlussfähig sind.293) Als Untergremium des Aufsichtsrats muss der Ausschuss notwendigerweise mit weniger Personen besetzt sein als der Gesamtaufsichtsrat.294) Überdies darf ein Ausschuss nicht dazu verwendet werden, um einzelne Mitglieder von einer Teilnahme an der Aufsichtsratsarbeit auszuschließen. Vor diesem Hintergrund dürfte sich – außer bei sehr kleinen Aufsichtsräten von drei bis vier Mitgliedern – in der Regel eine maximale Größe des Ausschusses ergeben, die um zwei Mitglieder geringer ist als das Plenum.295) In der Unternehmenspraxis der DAX40-Gesellschaften sind Ausschüsse mit einer Größe von drei bis sechs Mitgliedern die Regel, vereinzelt finden sich aber auch Ausschüsse mit einer kleineren oder größeren Mitgliederzahl.296) Über die Wahl der Mitglieder eines Ausschusses entscheidet der Aufsichtsrat 89 durch Beschluss.297) Weder die Satzung noch der Aufsichtsrat können die Besetzungsbefugnis anderen Personen oder Personengruppen zuweisen.298) Insbesondere kann die Besetzungsbefugnis nicht ausschließlich den Anteilseigneroder Arbeitnehmervertreter zugewiesen werden. Genauso wenig kann dem Ausschuss selbst die Möglichkeit zugewiesen werden, im Wege der Kooptation einzelne seiner eigenen Mitglieder zu bestimmen.299) Der Aufsichtsrat bestimmt über die Mitglieder des Ausschusses im pflichtgemäßen Ermessen.300) Wählbar ist jedes Aufsichtsratsmitglied, unabhängig von der Art seiner Bestel- 90 lung.301) Da der Ausschuss ein Unterorgan des Aufsichtsrats ist, kommt eine Mitgliedschaft eines Dritten nicht in Betracht.302) Kein Aufsichtsratsmitglied – ___________ 293) Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 177; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 107 Rz. 23; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 344, 346; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 107 Rz. 134; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 117; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 768; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 42; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 136; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 46; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 107. 294) Implizit Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 29 Rz. 1; a. A. wohl Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 107 Rz. 343. 295) A. A. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 343. 296) Etwa der Technologie- und Strategieausschuss der SAP SE (zehn Mitglieder) oder der Innovations- und Finanzausschuss der Siemens AG (acht Mitglieder). 297) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 341; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 128; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 19; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 115; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 765; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 45. 298) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 315; Habersack/Henssler/Habersack, § 25 MitbestG Rz. 124, 128. 299) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 341; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 114. 300) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 135; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 121; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 137; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 108. 301) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 135; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 121; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 44. 302) Siehe bereits § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG: „aus seiner Mitte“. Vgl. außerdem Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 40; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 118; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 769.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

auch nicht der Vorsitzende – hat Anspruch darauf, in einen bestimmten Ausschuss gewählt zu werden.303) Allerdings hat jedes Aufsichtsratsmitglied und bei mitbestimmten Gesellschaften auch jede Bank Anspruch auf eine angemessene Partizipation an den Aufgaben des Aufsichtsrats.304) Dies bedingt, dass die Besetzung im Rahmen des vom Aufsichtsrat auszuübenden Ermessens nach nachvollziehbaren Kriterien – insbesondere unter Berücksichtigung der Aufgaben des jeweiligen Ausschusses und der Fähigkeiten der jeweiligen Aufsichtsratsmitglieder – erfolgt und kein Aufsichtsratsmitglied willkürlich von der Mitgliedschaft in einem Ausschuss ausgeschlossen wird.305) Für mitbestimmte Gesellschaften folgt hieraus nicht, dass die Ausschüsse entsprechend der Kräfteverhältnisse der Bänke besetzt werden müssen.306) Vielmehr ist in einer Gesamtschau sämtlicher Ausschüsse zu prüfen, ob unter Berücksichtigung des jeweiligen Mitbestimmungsstatuts307) eine angemessene Partizipation beider Bänke an den Ausschüssen gewährleistet ist.308) Dabei dürfen durchaus auch einzelne Ausschüsse ausschließlich mit Anteilseignervertretern besetzt sein, soweit dies auf sachgerechten Kriterien beruht.309) Im Übrigen muss der Aufsichtsrat bei der Zusammensetzung des Ausschusses darauf achten, dass dieser die ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen kann. Dabei müssen zwar nicht alle Ausschussmitglieder alle für die Ausschussarbeit notwendigen fachlichen Qualifikationen aufweisen, jedoch muss der Ausschuss insgesamt über die notwen___________ 303) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 350; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 45. 304) Zum Gebot angemessener Beteiligung der Bänke siehe Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 136; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 121; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 140. 305) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 350; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 137, 140; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 108. 306) BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, ZIP 1993, 1079 (1083 ff.); Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 46; Beck’sches Handbuch der AG/Kolb, § 7 Rz. 178; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 355 ff.; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 31; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 46 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 140; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 108. 307) Eine Differenzierung erfolgt insbesondere zwischen paritätisch mitbestimmten Gesellschaften und Gesellschaften, die nach dem DrittelbG mitbestimmt sind. Vgl. Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 107 Rz. 359; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 126; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 767; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 140, 143; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 109 f. 308) OLG Hamburg, Urt. v. 23.7.1982 – 11 U 179/80, ZIP 1982, 1081 (1085); Bürgers/ Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 107 Rz. 24; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 362; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 136; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 121; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 140, 143. 309) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 107 Rz. 24; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 355, 360; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 137; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 31; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 126; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 32 Rz. 47; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 140 ff.; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 107 Rz. 49 f. Vgl. dazu auch Empfehlung D.4 DCGK 2022, der die Möglichkeit, einen Ausschuss ausschließlich mit Anteilseignervertretern zu besetzen, voraussetzt.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

dige Fachkunde verfügen. Dies entspricht auch der Empfehlung D.2 DCGK 2022, wonach „fachlich qualifizierte Ausschüsse“ zu bilden sind. Ausschussmitglieder können maximal für die Dauer ihrer Bestellung als Auf- 91 sichtsratsmitglied in den Ausschuss bestellt werden.310) Bei einer Wiederbestellung in den Aufsichtsrat muss auch die Bestellung in den Ausschuss erneuert werden.311) Der Aufsichtsrat kann Ausschussmitglieder auch für eine kürzere Amtsperiode in den Ausschuss bestellen312). Enthält der Bestellungsbeschluss keine Angaben zur Bestellungsdauer und lässt sich der Beschlussfassung die Amtsdauer nicht durch Auslegung entnehmen, ist im Zweifel anzunehmen, dass die Bestellung bis zum Ende der Amtsperiode als Aufsichtsratsmitglied erfolgen soll.313) In der Praxis haben sich eine Reihe von Ausschüssen herausgebildet, die regel- 92 mäßig eingerichtet werden. Hierzu gehört der Präsidialausschuss (oder auch Präsidium314)), dem regelmäßig die Kommunikation mit dem Vorstand, die Vorbereitung der Aufsichtsratssitzungen sowie die Koordination der Arbeit der übrigen Ausschüsse übertragen werden. Weiterhin besteht regelmäßig ein Personalausschuss, der mit der Vorbereitung der Be- und Anstellung von Vorstandsmitgliedern betraut wird. Sehr üblich – und für börsennotierte Unternehmen in Grundsatz 14 DCGK 2022 vorgesehen – ist die Bildung eines Prüfungsausschusses, der den Rechnungslegungsprozess, die Kontroll-, Risikomanagement- und internen Revisionssysteme sowie die Abschlussprüfung, einschließlich der Auswahl und der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers, der Qualität der Abschlussprüfung und der vom Abschlussprüfer zusätzlich erbrachten Leistungen überwacht (vgl. zu den Aufgaben auch § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG). Nach den Empfehlungen des D.3 Satz 1 DCGK 2022 soll der Vorsitzende des Prüfungsausschusses über besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Rechnungslegung – insbesondere in der Anwendung von Rechnungslegungsgrundsätzen und internen Kontroll- und Risikomanagementsystemen – oder dem Gebiet der Abschlussprüfung verfügen. Gemäß Empfehlung D.3 Satz 2 DCGK 2022 gehören auch die Nachhaltigkeitsberichterstattung und deren ___________ 310) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 61; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 118. 311) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 61; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 369; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 171; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 107 Rz. 118; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 773; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 133; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 16, 47. 312) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 63. 313) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 369; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 171; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 773; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 133; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 16, 47. 314) Teilweise wird in der Praxis auch zwischen Präsidium und Präsidialausschuss unterschieden und diesen jeweils unterschiedliche Aufgaben zugewiesen, so etwa bei der Adidas AG, vgl. Geschäftsbericht der Adidas AG für das Geschäftsjahr 2021, S. 21, 27.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Prüfung zur Rechnungslegung und Abschlussprüfung. Zudem soll der Vorsitzende des Prüfungsausschusses nach Empfehlung C.7 und C. 10 DCGK 2022 unabhängig und in den letzten zwei Jahren vor seiner Bestellung in den Ausschuss nicht Mitglied des Vorstands gewesen sein. Dem Prüfungsausschuss kommt seit Einführung des FISG315) eine hervorgehobene Bedeutung zu. Demnach sind Aktiengesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse gemäß § 316a Satz 2 HGB (Æ Fn. 33) sind, nunmehr gesetzlich verpflichtet, einen Prüfungsausschuss einzurichten (§ 107 Abs. 4 Satz 1 AktG n. F.), sofern sie über einen Aufsichtsrat mit mehr als drei Mitgliedern verfügen. Einem solchen obligatorischen Prüfungsausschuss müssen beide Finanzexperten des Aufsichtsrats (Æ Rz. 18) angehören; zudem müssen die Mitglieder dieses Ausschusses insgesamt über Sektorkompetenz verfügen (Æ Rz. 19) (vgl. § 107 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 100 Abs. 5 AktG). Die Mitglieder des Prüfungsausschusses sind gemäß § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG berechtigt, über den Ausschussvorsitzenden Auskünfte unmittelbar von den Leitern derjenigen Zentralbereiche der Gesellschaft zu verlangen, die in der Gesellschaft für die Aufgaben zuständig sind, die den Prüfungsausschuss nach Abs. 3 Satz 2 betreffen. Mit „Leitern“ meint das Gesetz die erste Führungsebene unter dem Vorstand.316) Ein direkter Zugriff auf andere Mitarbeiter oder externe Berater der Gesellschaft erlaubt § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG hingegen nicht. Der Ausschussvorsitzende, der die Informationen gebündelt entgegennimmt317), hat entsprechende Informationen sämtlichen Ausschussmitgliedern zur Verfügung zu stellen (§ 107 Abs. 4 Satz 5 AktG). Der Vorstand ist über etwaig nach dieser Vorschrift eingeholte Auskünfte zu unterrichten (§ 107 Abs. 4 Satz 6 AktG). Unklar ist, ob das Auskunftsrecht des § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG nur für Prüfungsausschüsse von Unternehmen öffentlichen Interesses oder allgemein für alle Prüfungsausschüsse Anwendung finden soll.318) Der offene Wortlaut der Norm spricht für die letztgenannte Auffassung. Die systematische Einordnung in Abs. 4 des § 107 AktG und der Ausnahmecharakter der Vorschrift sprechen hingegen für die zuerst genannte Auslegung.319) Empfehlung D.4 DCGK 2022 empfiehlt außerdem die Bildung eines nur mit Anteilseignervertretern besetzten Nominierungsausschusses, der dem Aufsichtsrat geeignete Kandidaten für die Wahlvorschläge für neue, von der Hauptversammlung zu wählende Aufsichtsratsmitglieder empfiehlt. Je nach Branche ist ___________ 315) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl I 2021, 1534. 316) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 108; Johannsen-Roth/Kießling/Raapke, DB Beilage 2021, Nr. 03, 15 (16). 317) BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 131; Johannsen-Roth/Kießling/Raapke, DB Beilage 2021, Nr. 03, 15 (16). 318) Simons, NZG 2021, 1429 (1434). 319) Simons, NZG 2021, 1429 (1434); in diese Richtung auch: Hopt/Kumpan, AG 2021, 129 (136); Pütz, AR 2021, 164; Werner, AnwZert HaGesR 17/2021 Anm. 1; vgl. auch RegE. BT-Drucks. 19/26966, S. 116.

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A. Ordnungsrahmen, Zusammensetzung, Rechtsstellung und innere Organisation

auch die Bildung von Investitionsausschüssen oder technischen Ausschüssen üblich. In jüngerer Vergangenheit werden in der Praxis nunmehr auch Technologie- und Innovationsausschüsse zur Begleitung der digitalen Transformation der Unternehmen gebildet. Nach Maßgabe des MitbestG mitbestimmte Gesellschaften sind schließlich gemäß § 27 Abs. 3 MitbestG verpflichtet, einen Vermittlungsausschuss zu bilden, dem der Aufsichtsratsvorsitzende, der von der Arbeitnehmerseite benannte stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende sowie je ein Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter angehören müssen und der im Falle einer gescheiterten Vorstandswahl im ersten Wahlgang einen geeigneten Kandidaten zur Wahl im zweiten Wahlgang vorschlägt (§ 31 Abs. 3 Satz 1 MitbestG). Neben diesen üblichen Ausschüssen werden in der Praxis zunehmend auch Sonderausschüsse gebildet, denen die Überwachung oder Entscheidungen im Zusammenhang mit bestimmten aktuellen Sonderthemen übertragen werden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa der „Sonderausschuss Dieselmotoren“ der Volkswagen Aktiengesellschaft320) und der „Integritätsausschuss“ der Deutsche Bank AG.321) Mit dem ARUG II322) wurde in § 111b Abs. 1 AktG für börsennotierte Gesell- 93 schaften bei bestimmten Geschäften mit nahestehenden Personen (sog. Related Party Transactions (Æ Rz. 151) ein zwingender Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten des Aufsichtsrats eingeführt. Die Ausübung dieses Zustimmungsvorbehalts kann der Aufsichtsrat nach § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG auf einen speziellen „Related Party Transactions“-Ausschuss (RPT-Ausschuss) delegieren. Der RPTAusschuss kann gesondert eingerichtet werden oder es kann ein bestehender Ausschuss genutzt werden, dem entsprechende Kompetenzen zugewiesen werden.323) Voraussetzung ist jeweils, dass dem RPT-Ausschuss kein Aufsichtsratsmitglied angehört, das zugleich nahestehende Person in Bezug auf das konkrete Geschäft ist. Zudem muss der Ausschuss mehrheitlich aus Aufsichtsratsmitgliedern zusammengesetzt sein, bei denen keine Besorgnis eines Interessenkonflikts durch eine private, finanzielle oder geschäftliche Beziehung zu einer nahestehenden Person besteht.324) Der RPT-Ausschuss kann als dauerhafter Ausschuss oder ad hoc für ein bestimmtes Geschäft eingerichtet werden. In beiden Fällen entscheidet der Aufsichtsrat, ohne dass bei dem Delegationsbeschluss ___________ 320) Geschäftsbericht der Volkswagen Aktiengesellschaft für das Geschäftsjahr 2020, S. 13. 321) Geschäftsbericht der Deutsche Bank AG für das Geschäftsjahr 2020, S. 10, 15. 322) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl I 2019, 2637. 323) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 186; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 188; Paschos/Goslar, AG 2019, 365 (371). Aufgrund der Sachnähe bietet sich hierfür der Ausschuss an, der bereits mit der reguläre Zustimmung nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG betraut ist: Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 485. 324) RegE. BT-Drucks. 19/9739, S. 78; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 190 f.; Schmidt, EuZW 2019, 261 (263).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

das Stimmrechtsverbot des § 111b Abs. 2 AktG Anwendung findet.325) Der RPTAusschuss kann allgemein oder für Geschäfte mit spezifisch festgelegten nahestehenden Personen eingerichtet werden.326) Wird der RPT-Ausschuss allgemein für Geschäfte mit nahestehenden Personen eingerichtet, gelten dessen Befugnisse nur so weit, wie die Voraussetzungen für dessen Einrichtung gegeben sind.327) Dementsprechend ist der allgemeine RPT-Ausschuss nicht beschlussfähig, soweit Geschäfte betroffen sind, in deren Rahmen bei mindestens der Hälfte der Mitglieder die Besorgnis eines Interessenkonflikts i. S. v. § 111b Abs. 2 Var. 2 AktG besteht.328) Umgekehrt macht die theoretische Möglichkeit, dass auch Geschäfte auftreten könnten, die nicht vom allgemeinen RPT-Ausschuss behandelt werden dürfen, die Einrichtung eines solchen allgemeinen RPT-Ausschusses nicht unwirksam. 94 Praxishinweis: Der Related-Party Transaction-Ausschuss hat den maßgeblichen Vorteil, dass das Stimmverbot von Aufsichtsratsmitgliedern, bei denen die Besorgnis eines Interessenkonflikts i. S. v. § 111b Abs. 2 Var. 2 AktG besteht, bei der Beschlussfassung im Ausschuss nicht gilt. In der Praxis wird daher von der Möglichkeit, die Zustimmungserfordernisse hinsichtlich von Related-Party Transaktionen auf einen RPT-Ausschuss zu delegieren, breitflächig Gebrauch gemacht. 95 Für die innere Ordnung von Aufsichtsratsausschüssen gelten im Wesentlichen dieselben Regelungen wie für den Aufsichtsrat.329) In § 108 Abs. 3 AktG und § 109 Abs. 1 AktG ist ein entsprechender Gleichlauf ausdrücklich geregelt. Ausschüsse können einen Ausschussvorsitzenden haben; dies ist aber nicht zwingend.330) Über die innere Ordnung entscheidet der Ausschuss selbst, sofern nicht der Aufsichtsrat oder die Satzung anderweitige Regeln treffen.331) ___________ 325) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 53; Löbbe, in: Festschrift Grunewald, S. 689 (697); vgl. zur Entscheidungsdelegation auf einen Ausschuss als Reaktion auf Interessenkonflikte im Sinne der Business Judgement Rule auch Reichert, in: Festschrift E. Vetter, S. 597 (608 f.). 326) So insbesondere für Geschäfte mit der Konzernmutter im faktischen Konzern, vgl. BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b Rz. 17; Bungert/Berger, DB 2018, 2860 (2865). 327) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 55; vgl. zu etwaig notwendigen Nachjustierungen schon RegEntw., BT-Drucks. 19/9739, S. 76; ferner BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b Rz. 17; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 488; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 26b. 328) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b Rz. 24 f.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111b Rz. 10; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 190. 329) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 328; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 29; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 52; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 162; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 116. 330) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 64; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 330, 370; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 131; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 107 Rz. 120; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 775; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 32 Rz. 53; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 119. 331) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 60; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 107 Rz. 428; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 151; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 774; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 52; MünchKommAktG/ Habersack, § 107 Rz. 163; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 125.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Dies umfasst auch die Möglichkeit, Unterausschüsse zu bilden und diese mit dem Ausschuss zugewiesenen Aufgaben zu betrauen, soweit diese nicht in der Wahrnehmung von Beschlussrechten bestehen.332) B.

Aufgaben des Aufsichtsrats

Zenner

Die Aufgaben des Aufsichtsrats sind im Wesentlichen, aber nicht abschließend, 96 in § 111 AktG geregelt. Weitere Kompetenzregelungen finden sich an zahlreichen Stellen des Aktiengesetzes, etwa in den §§ 33, 58, 59, 84, 87, 88, 89, 90, 112, 114, 115, 161, 170, 171, 172 AktG sowie in Spezialgesetzen wie § 32 MitbestG, § 15 MontanMitbestErgG, §§ 25a, 25d, 25f, 44 KWG, § 14 ZAG, §§ 116, 159 f. UmwG, §§ 27, 33 WpÜG. Der gesetzlich festgelegte Aufgabenkreis des Aufsichtsrats kann durch die Satzung nicht begrenzt werden.333) Eine Erweiterung der Kompetenzen ist zwar grundsätzlich möglich; allerdings darf durch eine solche Erweiterung nicht in das zwingende Kompetenzgefüge der Aktiengesellschaft eingegriffen werden. Dementsprechend können dem Aufsichtsrat keine Kompetenzen des Vorstands oder der Hauptversammlung übertragen, sondern lediglich neue – bislang nicht bestehende – Kompetenzen geschaffen werden.334) Letztlich verbleiben deswegen in der Praxis allenfalls beratende oder konsultative Befugnisse (soweit diese nicht bereits ohnehin durch die gesetzliche Aufgabe zur Beratung des Vorstands abgedeckt sind), die dem Aufsichtsrat zusätzlich zu seinen gesetzlichen Kompetenzen übertragen werden können. I.

Überwachung der Geschäftsführung

Gemäß § 111 Abs. 1 AktG hat der Aufsichtsrat die Geschäftsführung zu über- 97 wachen. Die Überwachungsaufgabe stellt die zentrale und – als Ganzes – auch nicht delegierbare Aufgabe des Aufsichtsrats dar. Die Überwachungsaufgabe ist eine Daueraufgabe, besteht also zu jeder Zeit und in jeder Lage der Gesellschaft.335) 1.

Gegenstand der Überwachung

Gegenstand der Überwachung des Aufsichtsrats ist ausweislich des Wortlauts 98 des § 111 Abs. 1 AktG „die Geschäftsführung“. Der Begriff der Geschäftsfüh___________ 332) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Gittermann, § 5 Rz. 12; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 338, 428; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 152; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 107 Rz. 171; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 163; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 107 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 126. 333) MünchKommAktG/Pentz, § 23 Rz. 160, 163 f.; Hüffer/Koch, § 23 Rz. 36; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 23 Rz. 55; Grigoleit/Vedder, § 23 Rz. 41; Hölters/Weber/Solveen, § 23 Rz. 30; Timm, DB 1980, 1201, 1204. 334) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 6. 335) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 18.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

rung ist sowohl hinsichtlich seines inhaltlichen als auch seines personellen Geltungsbereichs auslegungsbedürftig. a)

Personeller Überwachungsgegenstand

99 Der Wortlaut des § 111 Abs. 1 AktG enthält zunächst keinen Hinweis darauf, wen der Aufsichtsrat zu überwachen hat. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur kontrovers diskutiert, ob sich die Überwachungsaufgabe nur auf den Vorstand als Ganzes, auch auf einzelne seiner Mitglieder oder sogar auf (leitende) Angestellte bezieht.336) 100 Die aufgeworfene Frage lässt sich durch eine systematische Auslegung des Aktiengesetzes klären: Nach dem aktienrechtlichen Gefüge obliegt die Geschäftsführung gemäß § 77 AktG dem Vorstand als Gesamtorgan. Es ist zwar anerkannt, dass der Vorstand einzelne Geschäftsführungsmaßnahmen horizontal oder vertikal delegieren kann (Æ § 1 Rz. 92 f.; speziell zur Delegation von Compliance-Pflichten des Vorstands Æ § 16 Rz. 82 ff.), allerdings verbleibt auch in diesem Fall die Geschäftsführungsaufgabe als solche sowie die Letztverantwortung für sämtliche Geschäftsführungsmaßnahmen beim Vorstand (Æ § 1 Rz. 102 f. und 111 ff.). Auch zeigt § 90 AktG („Der Vorstand hat dem Aufsichtsrat zu berichten […]“), dass der Vorstand als Ganzes gegenüber dem Aufsichtsrat zur Rechenschaft verpflichtet ist. Aus der Konzeption des Aktiengesetzes ergibt sich folglich, dass sich die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats in erster Linie auf den Vorstand als Gesamtorgan, bzw. genauer auf sämtliche Vorstandsmitglieder, die in dieser Funktion tätig werden,337) bezieht.338) 101 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Geschäftsführungsmaßnahmen einzelner Vorstandsmitglieder oder von damit betrauten Mitarbeitern (oder Beratern) einer Kontrolle des Aufsichtsrats gänzlich entzogen wären.339) Vielmehr muss der Aufsichtsrat die Geschäftsführung in der Weise überwachen, wie sie die Ge___________ 336) Für eine Überwachung nur gegenüber dem Vorstand: Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/ v. Schenck § 6 Rz. 42 ff., der sich jedoch unter bestimmten Umständen für eine Überwachung auch einzelner Organmitglieder ausspricht; in diese Richtung auch Semler, Rz. 112 ff.; für eine Überwachung gegenüber jedem einzelnen Vorstandsmitglied: Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 24; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 10; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 234; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 6; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 24; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 24; für eine Überwachung auch gegenüber leitenden Angestellten: Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 238 ff.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 13 – bei Delegation wesentlicher Leitungsaufgaben; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 36 – sofern seine Tätigkeit zur Leitungsaufgabe zu zählen ist; Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 193, der ebenso auf die Qualität der Aufgabe abstellt; Roth, AG 2004, 1 (6); U.H. Schneider, BB 1981, 249, 252. 337) So zutreffend: MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 23; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 69. 338) So auch: Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 188 f.; Semler, Rz. 113 f.; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 69; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 23. 339) Semler, Rz. 114.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

samtheit aller Vorstandsmitglieder ohne Ansehung spezifischer Ressortzuständigkeiten zu erfüllen hat. Der Aufsichtsrat hat bei der Überwachung delegierter Aufgaben also stets aus der Perspektive des Gesamtvorstands zu agieren. Der Aufsichtsrat muss deshalb bei delegierten Aufgaben überwachen, ob der Vorstand diese ordnungsgemäß delegiert hat und ob er die Delegationsempfänger pflichtgemäß überwacht.340) Für horizontal auf einzelne Vorstandsmitglieder delegierte Aufgaben bedeu- 102 tet dies, dass sich der Überwachungsgegenstand des Aufsichtsrats darauf bezieht, ob das ressortzuständige Vorstandsmitglied grundsätzlich in der Lage ist, die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen, ob eine regelmäßige Berichterstattung des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds sichergestellt ist und ob der Gesamtvorstand das ressortzuständige Vorstandsmitglied – nach den hierfür anwendbaren Regeln (Æ § 1 Rz. 102 f.) – fortlaufend und ordnungsgemäß überwacht. Je nach der inhaltlichen Reichweite der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats (Æ Rz. 104), kann auch der Inhalt der Ressortberichte Gegenstand der Überwachung des Aufsichtsrats sein. Bei Anhaltspunkten für Fehlverhalten in dem entsprechenden Vorstandsressort muss der Aufsichtsrat eingreifen, wenn auch ein nicht ressortzuständiges Vorstandsmitglied eingreifen müsste. Im Rahmen der vertikalen Delegation (Æ § 1 Rz. 109 f.; speziell zur vertikalen 103 Delegation von Compliance-Pflichten Æ § 16 Rz. 88 ff.) richtet sich der Gegenstand der Überwachung des Aufsichtsrats vor allem auf die Ordnungsmäßigkeit der unmittelbaren Delegation von Aufgaben auf die erste Führungsebene.341) Die Überwachung des Aufsichtsrats umfasst insoweit insbesondere die ordnungsgemäße Auswahl und Überwachung des Delegationsempfängers des Vorstands sowie die Delegationsfähigkeit der übertragenen Aufgaben.342) Im Übrigen muss der Aufsichtsrat überwachen, ob die Mitarbeiter der ersten Führungsebene die im Rahmen der mehrstufigen Delegation weiterdelegierten Teile ihrer Aufgaben ebenfalls ordnungsgemäß delegiert haben.343) Hieraus folgt letztlich, dass die Überwachungsintensität des Aufsichtsrats mit jeder vertikalen Delegationsstufe geringer wird. ___________ 340) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 25; Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/v. Weder, G6 Rz. 8; Henze, BB 2000, 209 (214); in diese Richtung auch Semler/v. Schenk/ Schütz, § 111 Rz. 189, 193. 341) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenk, § 6 Rz. 43; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 243; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 25; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 26; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 25; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 10. 342) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenk, § 6 Rz. 43; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 243; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 25; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 26; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 25; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 13; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 10. 343) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 238; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 13.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

b)

Inhaltlicher Überwachungsgegenstand

104 Mit „Geschäftsführung“ ist grundsätzlich jedwede tatsächliche oder rechtsgeschäftliche Tätigkeit für die Gesellschaft gemeint.344) Es besteht allerdings Einigkeit, dass mit dieser weitgehenden Definition des Begriffs kein entsprechend weitgehender Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats einhergeht.345) Dies zeigt bereits die Gesetzesgeschichte. Nach der vor Einführung des Aktiengesetzes 1937 geltenden Regelung (§ 246 HGB a. F.) war der Aufsichtsrat verpflichtet, die Geschäftsführung „in allen Zweigen der Verwaltung“ zu überwachen. Dieser Zusatz wurde – vor allem vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass eine so weitgehende Überwachung durch den Aufsichtsrat faktisch nicht zu leisten ist – mit Einführung des Aktiengesetzes 1937 aus dem Gesetz gestrichen.346) Dementsprechend sind nach allgemeiner Auffassung nur besonders wesentliche Geschäftsführungsmaßnahmen vom Überwachungsgegenstand des Aufsichtsrats umfasst.347) 105 Eine breite Strömung in der Literatur schließt hieraus, dass der Überwachungsgegenstand des Aufsichtsrats grundsätzlich auf Leitungsentscheidungen des Vorstands und damit auf den unentziehbaren und insbesondere undelegierbaren Kern der Geschäftsführungsverantwortung des Vorstands, die dieser zwingend als Gesamtorgan vorzunehmen hat (dazu Æ § 1 Rz. 16 ff.), beschränkt sei.348) Der Aufsichtsrat hat nach dieser Auffassung neben geschäftlichen Entscheidungen mit ganz herausgehobener Bedeutung insbesondere auch die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsorganisation und der Compliance- und Risikosysteme zu überwachen349) (zur Compliance-Überwachung durch den Aufsichtsrat Æ § 16 Rz. 375 ff.). ___________ 344) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 77 Rz. 2; Grigoleit/Grigoleit, § 77 Rz. 2; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 77 Rz. 3; Hölters/Weber/Weber, § 77 Rz. 3; Hüffer/Koch, § 77 Rz. 3; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 22 Rz. 1; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 6; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 3. 345) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 2 f.; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 112; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 8 f.; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 16; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 11 f.; Henssler/Strohn/ Henssler, § 111 AktG Rz. 8; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 29; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 65. 346) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 19; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 3; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 65. 347) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 3; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 19; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 29; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 112 f. 348) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 20; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 29; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 35; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 11; Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 65. 349) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 20; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 20 ff.; Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 168; Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 5; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 3.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Nach der hier vertretenen Auffassung bilden die Leitungsentscheidungen des 106 Vorstands zwar einen wesentlichen Teil der Überwachungsaufgabe sowie den Ausgangspunkt für die Bestimmung des Überwachungsgegenstands; die Überwachung des Aufsichtsrats kann aber nicht auf diese Entscheidungen begrenzt sein.350) Dies resultiert bereits aus dem Wortlaut der Norm, da in den § 76 AktG und § 77 AktG zwischen Leitung und Geschäftsführung differenziert wird351) und der Gesetzgeber trotz dieser bestehenden Differenzierung bei der Überwachungsaufgabe gemäß § 111 Abs. 1 AktG gerade nicht auf die Leitung, sondern auf die Geschäftsführung abgestellt hat. Aus der Systematik des Aktiengesetzes ergibt sich außerdem, dass neben reinen Leitungsmaßnahmen zumindest auch solche Geschäftsführungsmaßnahmen zu überwachen sind, die von erheblicher Bedeutung für die Rentabilität oder Liquidität des Unternehmens oder die Lage der Gesellschaft sind. Dies ergibt sich zum einen aus den Berichtspflichten des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Satz 3 sowie Abs. 3 AktG, die genau auf eben diese Geschäftsführungsmaßnahmen gerichtet sind.352) Zum anderen ergibt sich dies aus der Kompetenz des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, Zustimmungsvorbehalte für wesentliche Geschäftsführungsentscheidungen zu schaffen (Æ Rz. 142 ff.). Diese Zustimmungsvorbehalte sind nicht auf Leitungsentscheidungen beschränkt353) und werden in der Praxis auch vielfach für Entscheidungen geschaffen, die nicht dem unentziehbaren Kern der Geschäftsführungstätigkeit zuzuordnen sind. Auch wenn Zustimmungsvorbehalte prinzipiell eine eigene Geschäftsführungstätigkeit des Aufsichtsrats begründen354), stellen sie auch ein Mittel der präventiven Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands dar355) und setzen somit ebenfalls einen entsprechend weiten ___________ 350) So auch: BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 9; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 113; letztlich wird dies auch von den meisten Vertretern, die die Überwachungspflicht grundsätzlich auf Leitungsentscheidungen beschränken wollen, so gesehen, vgl. Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 174; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 35; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 111 Rz. 11 f.; Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 5; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 3. 351) Zur gesonderten Behandlung von Leitung und Geschäftsführung auch: HdB Vorstandsrecht/ Fleischer, § 1 Rz. 11. 352) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 9; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 3; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 22; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 114; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 111 Rz. 12; Semler, Rz. 103; Huthmacher, S. 30 f. 353) Vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 120; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 66; Wachter/ Schick, § 111 Rz. 14. 354) Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 496 Fn. 678; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 634; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 114; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 78. 355) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), NJW 1997, 1926 (1928); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 634; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 84; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 114; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 52.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Überwachungsgegenstand voraus. Im Übrigen stellt Grundsatz 6 des DCGK 2022 nunmehr fest, dass der Überwachungsgegenstand des Aufsichtsrats insbesondere auch Nachhaltigkeitsfragen umfasst. 107 Schließlich ist bei der Bestimmung des Überwachungsgegenstands die Aufgabe des Aufsichtsrats zur Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder und die dazu ergangene Rechtsprechung des BGH in der sog. ARAG/ Garmenbeck-Entscheidung zu berücksichtigen. Nach der ARAG/GarmenbeckRechtsprechung ergibt sich aus der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 1 AktG, dass er auch zur Prüfung und Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber Vorstandsmitgliedern verpflichtet ist.356) Dies bedingt, dass möglicherweise pflichtwidrige Geschäftsführungshandlungen des Vorstands unabhängig von ihrer unternehmerischen Tragweite stets in den Überwachungsgegenstand des Aufsichtsrats einzubeziehen sind. Dies bedeutet indes nicht, dass der Aufsichtsrat über diesen Umweg – da jede Geschäftsführungshandlung potentiell pflichtwidrig sein kann – die gesamte Geschäftsführung des Vorstands i. S. d. § 77 AktG zu überwachen hätte. Vielmehr folgt hieraus nur, dass sich der Aufsichtsrat der näheren Prüfung einer ihm bekannt gewordenen möglicherweise pflichtwidrigen Handlung eines Vorstandsmitglieds nicht mit dem Argument entziehen kann, die entsprechende Handlung sei nicht von wesentlicher Bedeutung und damit nicht von seiner Überwachungsaufgabe umfasst. Die Frage, ab welchem Kenntnisgrad der Aufsichtsrat konkreten Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen nachgehen und den entsprechenden Sachverhalt näher prüfen muss, ist keine Frage des Überwachungsgegenstands, sondern des Überwachungsumfangs (Æ Rz. 169 ff.). 2.

Maßstab der Überwachung

108 Die Überwachung des Aufsichtsrats richtet sich zunächst auf die Rechtmäßigkeit des Verhaltens des Vorstands. Der Aufsichtsrat muss in diesem Zusammenhang insbesondere darauf achten, dass der Vorstand die gesetzlichen Vorschriften sowie die satzungsmäßigen Vorgaben der Gesellschaft einhält. Zu den gesetzlichen Vorschriften zählen auch ausländische Rechtsnormen, soweit sie auf die Gesellschaft Anwendung finden357); bei den Satzungsregeln kommt insbesondere der Einhaltung des Unternehmensgegenstands, der weder unter- noch überschritten werden darf, eine besondere Bedeutung zu.358) Im Rahmen der Überwachung der Rechtsmäßigkeit hat der Aufsichtsrat auch zu überwachen, ob der Vorstand die ihm zukommenden Ermessensspielräume bei unternehmerischen Entscheidungen und die ihm zukommenden Beurteilungsspielräume ___________ 356) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), NJW 1997, 1926 (1927). 357) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 16. 358) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 16; in diese Richtung auch Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 291.

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bei der Bewertung rechtlicher Fragen einhält.359) Besondere Bedeutung kommt auch der Überwachung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsorganisation sowie der Risikokontroll- und Compliance-Systeme zu.360) Der Aufsichtsrat hat sich insoweit fortlaufend davon zu überzeugen, dass die entsprechenden Systeme vorhanden sind und der Vorstand die Wirksamkeit der Systeme hinreichend überwacht.361) Dies bedingt, dass sich der Aufsichtsrat regelmäßig über die entsprechenden Systeme, mögliche aufgetretene Defizite sowie etwaige Anpassungen unterrichten lässt.362) Da dem Vorstand bei der konkreten Ausgestaltung der Geschäftsorganisation und der Risikokontroll- und ComplianceSysteme ein breiter Ermessensspielraum zukommt (Æ § 16 Rz. 73, 76), muss der Aufsichtsrat die Berichte des Vorstands – außer bei dem Bestehen von Anhaltspunkten für konkrete Defizite oder Fehler – grundsätzlich lediglich plausibilisieren.363) Neben der Überwachung der Rechtmäßigkeit hat der Aufsichtsrat sich aber auch 109 ein Bild von der Zweckmäßigkeit der unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands zu machen.364) Eine Überwachung der Zweckmäßigkeit des Vorstandshandelns ist bereits deshalb notwendig, damit sich der Aufsichtsrat mit Blick auf seine Bestellungskompetenz ein Bild davon machen kann, ob er die Mitglieder des gegenwärtigen Vorstands auch in zukünftigen Amtsperioden wiederbestellen möchte.365) Der Aufsichtsrat kann und soll den Vorstand aber auch im Sinne einer präventiven Kontrolle des Vorstandshandelns an seinen eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen teilhaben lassen.366) Der Aufsichtsrat muss allerdings grundsätzlich auch die Zweckmäßigkeitserwägungen des Vorstands beachten.367) Der Aufsichtsrat darf daher zwar, wenn er in wesentlichen Einzelfällen dezidiert anderer Auffassung als der Vorstand ist, ausnahmsweise auch aus Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen verhindern.368) Allerdings reicht der Maßstab der Überwachung nicht so weit, dass der Aufsichtsrat seine ___________ 359) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 17. 360) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 22; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 10; Pahlke, NJW 2002, 1680 (1685); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 75, 79, 85 ff.; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 5, 29; Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1108 f.). 361) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 133, 135, 137; Arnold, ZGR 2014, 76 (85 f.); Blassl, WM 2017, 992 (994); Gernoth, DStR 2001, 299 (301). 362) Arnold, ZGR 2014, 76 (86 ff.); Blassl, WM 2017, 992 (994); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 75. 363) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 98; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 13. 364) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, NJW 1991, 1830 (1831); BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 15; Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 167; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 29; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 53; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 9; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 73. 365) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 17. 366) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 29; in dieselbe Richtung Semler, NZG 2007, 881 (882); MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 33. 367) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 14; Dreher, ZHR 158 (1994), 614 (622). 368) Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 286.

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Vorstellungen von der Ausrichtung und Führung der Gesellschaft stets an die Stelle derjenigen des Vorstands zu stellen oder durchzusetzen hätte, dass alle wesentlichen geschäftlichen Entscheidungen nur im Einvernehmen mit ihm vorgenommen werden.369) Ein solches Vorgehen wäre im Gegenteil ein Verstoß gegen die aktienrechtliche Kompetenzordnung, die ausschließlich dem Vorstand die Leitung und Geschäftsführung zuweist (§§ 76, 77 AktG) und den Aufsichtsrat explizit hiervon ausschließt (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG).370) 110 Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats ist sowohl vergangenheits- als auch zukunftsbezogen.371) Im Rahmen der vergangenheitsbezogenen Überwachung hat der Aufsichtsrat bereits abgeschlossene Geschäftsvorgänge und Maßnahmen des Vorstands zu prüfen und zu bewerten.372) Zu der vergangenheitsbezogenen Überwachungsaufgabe zählt nach der ARAG/GarmenbeckRechtsprechung insbesondere auch die Pflicht, Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern nachzugehen und eventuell festgestellte und voraussichtlich durchsetzbare Schadensersatzersatzansprüche zu verfolgen (Æ Rz. 276).373) Die zukunftsbezogene Überwachung umfasst sowohl die Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat (Æ Rz. 133) und die Abstimmung zwischen Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzendem als auch eine präventive Kontrolle der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns des Vorstands.374) Insbesondere wenn wichtige Entscheidungen bevorstehen, in die der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Überwachungsaufgabe einzubinden ist, muss auch der Aufsichtsrat die Recht- und Zweckmäßigkeit der vom Vorstand beabsichtigten Maßnahme prüfen. Kommt der Aufsichtsrat auf Basis der eigenen Bewertung zu dem Ergebnis, dass die Maßnahme rechtswidrig ist oder nicht im Einklang mit den Vorgaben der Satzung der Gesellschaft steht, muss er sie – notfalls durch Schaffung eines Ad-hoc-Zustimmungsvorbehalts (Æ Rz. 142) – stoppen.375) Kommt er zu dem Ergebnis, dass die Maßnahme zwar rechtskon___________ 369) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 29. 370) OLG Köln, Urt. v. 28.7.2011 – 18 U 213/10, ZIP 2011, 2102 (2104); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 583; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 110. 371) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 29, 50; Hölters/Weber/, § 111 Rz. 11; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 47; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 1. 372) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 29; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 4. 373) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95 (ARAG/Garmenbeck), NJW 1997, 1926 (1927); Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 5; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 333; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 7; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 37 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 34; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 17; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 30. 374) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653 (654); Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 4; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 28; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 103; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 50 f.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 18 f. 375) BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 175/95, NJW 1994, 520 (524); Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 111 Rz. 648; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 33, 37; Semler, Leitung und Überwachung, Rz. 199, 217.

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form ist, er sie aber nicht für zweckmäßig bzw. eine andere Entscheidung für zweckmäßiger hält, kann der Aufsichtsrat den Vorstand über seine Erwägungen in Kenntnis setzen; eine Verhinderung der aus Sicht des Aufsichtsrats lediglich unzweckmäßigen Entscheidung kommt nach den zuvor dargestellten Grundsätzen (Æ Rz. 109) jedoch nur in Ausnahmefällen in Betracht.376) 3.

Überwachungsmittel und Einwirkungsmöglichkeiten

Dem Aufsichtsrat stehen verschiedene Überwachungsmittel und Einwirkungs- 111 möglichkeiten auf den Vorstand zur Verfügung. Über die Wahl der im Einzelfall gebotenen Überwachungsmittel entscheidet der Aufsichtsrat nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei ihm ein weiter Ermessensspielraum zukommt. a)

Regel-, Anlass- und Anforderungsberichte gemäß § 90 AktG

Kern der Überwachungsmittel stellt die Berichterstattung des Vorstands ge- 112 genüber dem Aufsichtsrat gemäß § 90 AktG dar.377) Gemäß § 90 Abs. 1 AktG hat der Vorstand den Aufsichtsrat unaufgefordert regel- und anlassbezogen über wesentliche Angelegenheiten der Gesellschaft zu berichten. Zudem kann der Aufsichtsrat gemäß § 90 Abs. 3 AktG auch von sich aus Berichte des Vorstands anfordern (sog. Anforderungsberichte). aa)

Gegenstand und Turnus der Berichtspflichten

Der Gegenstand der Regelberichterstattung wird in den § 90 Abs. 1 Satz 1 113 Nr. 1 bis Nr. 3 AktG enumerativ und abschließend aufgezählt. Gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG umfasst die Regelberichterstattung zu- 114 nächst die beabsichtigte Geschäftspolitik und andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung. Unter beabsichtigter Geschäftspolitik ist nach herrschender Meinung die strategische Ausrichtung des Unternehmens einschließlich der Geschäftsfelder und Kompetenzen, erwarteter Ertragspotentiale sowie der Bewertung des Wettbewerbs und der eigenen Stellung im Wettbewerb zu verstehen.378) Andere grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung umfassen nach dem Wortlaut des § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG insbesondere die Finanz-, Investitions- und Personalplanung der Gesellschaft und betreffen somit die wesentlichen Maßnahmen, die der Vorstand zur Umset___________ 376) Semler, Leitung und Überwachung, Rz. 202. 377) Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 28; Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 53; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 66; MünchHbd. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 39; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 7; Seyfarth, § 1 Rz. 167. 378) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 8; Heidel/Oltmanns, AktG § 90 Rz. 2; BeckOGKAktG/Fleischer, § 90 Rz. 17.

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zung der Geschäftspolitik trifft.379) Neben den beispielhaft aufgeführten Finanz-, Investitions- und Personalplanungen, die für sämtliche Unternehmen relevant sind, muss auch über weitere für das jeweilige Unternehmen im Einzelfall relevante Planungen berichtet werden.380) Bei einem Automobilhersteller etwa muss auch über die Produktionsplanung, bei einem Handelsunternehmen etwa auch über Einkaufs- und Vertriebsplanung berichtet werden. In welcher Detailtiefe der Vorstand an den Aufsichtsrat über die Planungen berichten muss, hängt von der jeweiligen Situation des Unternehmens im Einzelfall ab.381) Der Wortlaut der Norm („grundsätzliche Fragen“) zeigt jedoch, dass jedenfalls nicht über die gesamte Unternehmensplanung, sondern nur über die groben Linien und Kernzahlen berichtet werden muss.382) Im Rahmen der Berichterstattung muss der Vorstand gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Halbs. 2 AktG auch auf Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung von früher berichteten Zielen unter Angabe von Gründen eingehen. Diese sogenannte „Follow-UpBerichterstattung“383) soll den Aufsichtsrat in die Lage versetzen, die Erreichung der vom Vorstand gesetzten Ziele nachvollziehen zu können und ihn auf etwaige Änderungen der Geschäftspolitik und der Unternehmensplanung explizit hinzuweisen.384) Dementsprechend sind unter „Abweichungen“ nicht nur die Nicht-, Teil- oder Übererfüllung der gesetzten Ziele, sondern auch etwaige Änderungen an gesetzten Zielen zu verstehen. Berichte nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG muss der Vorstand gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 1 AktG grundsätzlich mindestens einmal im Jahr erstatten. Ändert der Vorstand die Geschäftspolitik oder ergeben sich maßgebliche Änderungen der Lage der Gesellschaft, die wesentliche Auswirkungen auf das Erreichen der mit der Unternehmensplanung verbundenen Ziele nach sich ziehen, muss der Vorstand den Aufsichtsrat abweichend hiervon unverzüglich – entsprechend § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB also ohne schuldhaftes Zögern385) – unterrichten. ___________ 379) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 53; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 4; BeckOGKAktG/Fleischer, § 90 Rz. 19. 380) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 4; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 4b; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 18; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 8; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 19; siehe auch RegBegr. zum KonTraG, BT-Drucks. 13/ 9712, S. 15. 381) Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 26; Ihrig/Schäfer, Rz. 892. 382) Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 26; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 19; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 21; differenzierend Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 13. 383) RegEntw. zum TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 13; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 6; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 6; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 4c; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 35; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 67; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 20; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 14; zum Umfang der Follow-Up-Berichterstattung Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 46 ff. 384) Götz, NZG 2002, 599 (600). 385) Vgl. etwa MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 31.

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Weiterhin umfasst die Regelberichterstattung gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 115 AktG einen Bericht über die Rentabilität der Gesellschaft. Die Rentabilität der Gesellschaft ist eine Kennzahl des wirtschaftlichen Erfolgs des Unternehmens der Gesellschaft, die sich aus dem Verhältnis einer Bezugs- und einer Erfolgsgröße ergibt.386) Als besonders wichtige Kennzahlrelation zur Bestimmung der Rentabilität nennt das Gesetz die Eigenkapitalrentabilität, also den Wert des Ertrags (Zielgröße) im Verhältnis zum eingesetzten Eigenkapital (Bezugsgröße).387) Die Eigenkapitalrendite wird im Gesetz jedoch nur beispielhaft aufgezählt („insbesondere“) und lässt auch nur einen bedingten Schluss auf die Rentabilität der Gesellschaft zu. Der Bericht des Vorstands muss daher auch weitere Kennwertrelationen zur Bestimmung der Rentabilität des Unternehmens umfassen. Je nach Art und Größe des Unternehmens können etwa auch Umsatz388), getätigte Investitionen389) oder eingesetzte Berufsträger Aufschluss über die Rentabilität des Unternehmens geben. Der Bericht über die Rentabilität kann sich nicht auf die reine Darstellung der Kennwertrelationen beschränken, sondern muss diese erläutern.390) Zusätzlich sind auch weitere Informationen, die für die Rentabilität des Unternehmens von Relevanz sind, darzustellen. Hierzu zählt nach allgemeiner Meinung stets eine Kapitalflussrechnung.391) Bei börsennotierten Unternehmen ist auch der Gewinn pro Aktie eine maßgebliche Größe, über die der Vorstand zu berichten hat.392) Den Bericht über die Rentabilität hat der Vorstand gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 2 AktG einmal jährlich und zwar in der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats (Æ Rz. 56) zu erstatten. Schließlich hat der Vorstand dem Aufsichtsrat gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 116 AktG regelmäßig über den Gang der Geschäfte, insbesondere den Umsatz und die Lage der Gesellschaft, zu berichten. Der entsprechende Bericht muss den Aufsichtsrat in die Lage versetzen, einen hinreichend umfangreichen Über___________ 386) Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 49; Seyfarth, § 1 Rz. 169; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 26. 387) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 90 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 26. 388) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 68; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 90 Rz. 18; Henssler/Strohn/ Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 204; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 26; Seyfarth, § 1 Rz. 169; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 26. 389) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 68; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 90 Rz. 18; Großkomm-AktG/ Kort, § 90 Rz. 49; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 26; Seyfarth, § 1 Rz. 169. 390) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 69; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 51; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 90 Rz. 18. 391) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 26; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 10; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 50; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 9; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 26; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 17; Seyfarth, § 1 Rz. 169; Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 68. 392) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 68; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 48; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 204; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 26; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 17; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 26.

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blick über den Gang der Gesellschaft zu erlangen, um seinen Überwachungspflichten nachkommen zu können.393) Der Gang der Geschäfte muss in dem Bericht folglich entsprechend detailliert beschrieben werden. Nicht ausreichend ist die bloße Übermittlung der Bilanz oder wesentlicher Kennzahlen der Gesellschaft.394) Vielmehr bedarf es einer klaren und sachgerechten Aufgliederung des Zahlenwerks der Gesellschaft (etwa nach Sparten, Märkten oder Regionen), die insbesondere Aufschluss über die Finanz-, Liquiditäts- und Ertragslage gibt, sowie einer Erläuterung dieses Zahlenwerks.395) Zusätzlich muss der Bericht die gegenwärtige Situation, die erwartete Entwicklung, Abweichungen von bisherigen Zahlenwerken und Prognosen (positiv und negativ) sowie die allgemeine Marktlage, außergewöhnliche Risiken und Chancen und sonstige Besonderheiten des Geschäftsverlaufs darstellen.396) Gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 3 AktG müssen die Berichte über den Gang der Geschäfte regelmäßig, zumindest aber vierteljährlich erstattet werden. 117 Neben den Regelberichten hat der Vorstand gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG bei entsprechendem Anlass auch Sonderberichte über Geschäfte, die für die Rentabilität oder Liquidität der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sein können, zu erstatten. Welche Geschäfte hierunter fallen, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung von Art und Größe des Unternehmens der Gesellschaft.397) Der Wortlaut („können“) zeigt, dass bereits über solche Geschäfte zu berichten ist, bei denen ungewiss ist, ob sie von erheblicher Bedeutung sind, dies aber nach vernünftiger kaufmännischer Prognose erwartet werden kann.398) Geschäfte von erheblicher Bedeutung können – je nach deren Umfang und Tragweite – insbesondere M&A-Transaktionen, die Gründung von Zweigniederlassungen oder die Übernahme eines größeren Auftrags sein.399) Die Berichtspflicht ist aber nicht schematisch auf derartige Geschäfte be___________ 393) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 71; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 17; Seyfarth, § 1 Rz. 170. 394) Ihrig/Schäfer, Rz. 896; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 28. 395) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 11; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 55; Hölters/ Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 6; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 37; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 28; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 22. 396) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 11; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 58; Henssler/ Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 12; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 28; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 23; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 28. 397) RegEntw. zum Aktiengesetz 1965, BT-Drucks. IV/171, S. 129; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 61; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 14; Hölters/Weber/MüllerMichaels, § 90 Rz. 9; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 29; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 90 Rz. 26; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 29. 398) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 29; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 7; Ihrig/Schäfer, Rz. 899; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 26; Seyfarth, § 1 Rz. 174. 399) RegEntw. zum Aktiengesetz 1965, BT-Drucks. IV/171, S. 129; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers, § 90 Rz. 12; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 60; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 14; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 7; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 26; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 29.

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schränkt, sondern kann grundsätzlich jede Art von Geschäft betreffen.400) Sie ist auch nicht etwa auf die gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG der Zustimmung des Aufsichtsrats unterliegenden Geschäfte beschränkt.401) Dieser Berichtspflicht hat der Vorstand gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 4 AktG möglichst so rechtzeitig nachzukommen, dass der Aufsichtsrat vor Vornahme des Geschäfts Gelegenheit zur Stellungnahme hat. Dies heißt jedoch nicht, dass der Vorstand verpflichtet wäre, den Aufsichtsrat zum frühestmöglichen Zeitpunkt über die Entscheidung zu informieren. Es können vielfältige Gründe des Unternehmenswohls dafür sprechen, zunächst mit einer Einbindung des Aufsichtsrats in einen Entscheidungsprozess zuzuwarten. Eine eher späte Einbindung des Aufsichtsrats bietet sich etwa dann an, wenn der Prozess der Entscheidungsfindung oder die Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen noch andauern und dem Aufsichtsrat somit zunächst nur sehr vorläufige Informationen gegeben werden können. Auch können kapitalmarktrechtliche Offenlegungs- oder Geheimhaltungspflichten – insbesondere, wenn der Vorstand einen Aufschubbeschluss in Bezug auf die Veröffentlichung einer Insiderinformation gemäß Art. 17 Abs. 4 MAR gefasst hat (dazu Æ § 10 Rz. 20 ff.) – bei der Bestimmung des Zeitpunkts der Berichterstattung eine maßgebliche Rolle spielen. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass die Berichterstattung von zentraler Bedeutung für die zukunftsgerichtete Überwachung des Aufsichtsrats ist, weil der Aufsichtsrat nur so in die Lage versetzt wird, anstehende Entscheidungen des Vorstands vor deren Umsetzung prüfen und bewerten sowie erforderlichenfalls rechtzeitig unterbinden zu können.402) Vor diesem Hintergrund ist eine Berichterstattung erst nach der Entscheidung des Vorstands oder unmittelbar vor der Entscheidung – trotz der entsprechenden Öffnungsklausel im § 90 Abs. 2 Nr. 4 AktG („möglichst“) – nur in begründeten Ausnahmefällen zulässig.403) Im Wesentlichen ist ein solcher Ausnahmefall bei einer besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung gegeben.404) Eine besondere Eilbedürftigkeit liegt in diesem Zusammenhang nicht bereits dann vor, wenn vor dem spätesten Entscheidungszeitpunkt keine ordentliche Aufsichtsratssitzung mehr stattfindet. Anstatt erst nach der Entscheidung gegenüber dem Aufsichtsrat Bericht zu erstatten, muss der Vorstand dem Aufsichtsrat in diesem Fall die Gelegenheit geben, vor der Entscheidung eine außerordentliche Sitzung einzuberufen oder sich sonst mit dem Entscheidungsgegenstand zu befassen. Ein Eilfall ___________ 400) Seyfarth, § 1 Rz. 173; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 29. 401) Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 9; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 25 Rz. 71; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 26; Seyfarth, § 1 Rz. 174. 402) Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 28. 403) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 15; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 30; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 29. 404) Vgl. Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 15; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 30; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 29.

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liegt demnach erst dann vor, wenn die Entscheidungsfrist für den Vorstand so kurz bemessen ist, dass er nach vernünftiger Prognose nicht mehr erwarten kann, dass sich der Aufsichtsrat in dem gebotenen Umfang mit den Entscheidungsgrundlagen vor der Entscheidung befassen kann. Kann aufgrund eines Eilfalls der Aufsichtsrat nicht als Ganzes von der Entscheidung unterrichtet werden, sollte – soweit möglich – zumindest der Aufsichtsratsvorsitzende vorab von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt werden.405) 118 Praxishinweis: Bei der Frage, ob eine Entscheidung eilbedürftig ist, ist auch zu berücksichtigen, dass das Aufsichtsratsamt ein Nebenamt ist und die meisten Aufsichtsratsmitglieder üblicherweise in anderweitigen Erwerbs- oder Organverhältnissen stehen, die einen Großteil ihrer Arbeitskraft und zeitlichen Verfügbarkeit binden. Gerade bei Entscheidungen von der hier relevanten Tragweite dürfte deshalb regelmäßig von einer Eilbedürftigkeit der Entscheidung auszugehen sein, wenn nicht zumindest noch ein Wochenende mit der Entscheidung zugewartet werden kann. 119 Schließlich hat der Vorstand den Vorsitzenden des Aufsichtsrats – bei dessen Verhinderung seinen Stellvertreter406) – aus sonstigen wichtigen Anlässen zu unterrichten, § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG. Die Frage, wann ein sonstiger wichtiger Anlass besteht, kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Art und Größe des Unternehmens bestimmt werden.407) Wichtige Anlässe können sowohl abgeschlossene Sachverhalte als auch anstehende Entscheidungen sein. In der Regel werden jedenfalls erhebliche Betriebsstörungen wie Arbeitskämpfe, wesentliche Verluste und die Gefährdung erheblicher Außenstände wichtige Anlässe sein, die den Vorstand zu einer Information des Aufsichtsratsvorsitzenden verpflichten.408) Der Vorstand muss den Vorsitzenden des Aufsichtsrats in diesem Zusammenhang – anders als teilweise in der Literatur vertreten409) – nicht „unverzüglich“ i. S. d. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB, sondern in Anlehnung an die Formulierungen in § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG nur so rechtzeitig unterrichten, wie dies der Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats erfordert. Eine möglichst rechtzeitige Unterrichtung kann zwar im Einzelfall auch eine sofortige Information des Aufsichtsratsvorsitzenden gebieten, dies ist aber nicht immer ___________ 405) Hüffer/Koch, § 90 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 38. 406) RegEntw. zum Aktiengesetz 1965, BT-Drucks. IV/171, S. 130; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers, § 90 Rz. 14; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 68; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 45; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 32; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 34; Seyfarth, § 1 Rz. 177. 407) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 17. 408) RegEntw. zum Aktiengesetz 1965, BT-Drucks. IV/171, S. 130; Bürgers/Körber/Lieder/ Bürgers, § 90 Rz. 14; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 67; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 17; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 11; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 31; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 33. 409) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 14; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 32; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 67; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 17; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 11; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 90 Rz. 45; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 31; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 90 Rz. 35.

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der Fall. Insbesondere ergäben sich Wertungswidersprüche, wenn der Vorstand den Aufsichtsratsvorsitzenden über anstehende wichtige Entscheidungen sofort, den Aufsichtsrat bei den deutlich weitreichenderen Entscheidungen von erheblicher Bedeutung für die Rentabilität oder Liquidität i. S. d. § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AktG hingegen nur „möglichst so rechtzeitig, dass der Aufsichtsrat vor Vornahme des Geschäfts Gelegenheit hat, Stellung zu nehmen“ (§ 90 Abs. 2 Nr. 4 AktG), unterrichten müsste. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass sich eine Information an den Aufsichtsratsvorsitzenden einerseits und den Aufsichtsrat andererseits qualitativ unterscheidet und daher eine Differenzierung hinsichtlich des Zeitpunkts der Information möglich ist, da der Aufsichtsratsvorsitzende gemäß § 90 Abs. 5 Satz 3 AktG seinerseits verpflichtet ist, den Aufsichtsrat spätestens in der nächsten Aufsichtsratssitzung über den Bericht des Vorstands zu unterrichten. Der Aufsichtsrat ist nicht auf die Regel- und anlassbezogenen Berichte des 120 Vorstands beschränkt. Gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG hat er vielmehr auch das Recht, jederzeit grundsätzlich über alle Angelegenheiten der Gesellschaft einen Bericht des Vorstands anzufordern (sog. Anforderungsberichte). Das Anforderungsrecht findet nur dort eine inhaltliche Grenze, wo ersichtlich kein Zusammenhang mit der Gesellschaft (einschließlich ihrer Tochtergesellschaften und anderer Gesellschaften, an denen die Gesellschaft maßgeblich beteiligt ist) mehr besteht.410) Dieses Recht kann nicht nur der Aufsichtsrat, der hierüber nach den allgemeinen Regelungen durch Beschluss mit einfacher Mehrheit entscheidet411), sondern auch jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied geltend machen, allerdings ist der Bericht auch in diesem Fall nur gegenüber dem gesamten Aufsichtsrat zu erstatten (§ 90 Abs. 3 Satz 2 AktG). Der Vorstand muss dem Verlangen des Aufsichtsrats bzw. des Aufsichtsratsmitglieds gemäß § 90 Abs. 4 Satz 2 AktG möglichst rechtzeitig nachkommen, also so rechtzeitig, wie dies die jeweilige Lage unter Berücksichtigung des Aufwands für die Informationsbeschaffung und die Wichtig- und Dringlichkeit des Berichts erfordern.412) Der Aufsichtsrat bzw. das einzelne Aufsichtsratsmitglied entscheidet über die Anforderung des Berichts nach pflichtgemäßem Ermessen. Dieses Ermessen findet nach den allgemeinen Regeln seine Grenzen, wenn das Verlangen missbräuchlich ist oder wenn die Anforderung derart umfassend ist, dass dies auf eine unzumutbare Behinderung des Vorstands oder eine faktische „CoGeschäftsleitung“ durch den Aufsichtsrat hinausläuft.413) Die Schwellen sind ___________ 410) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 75; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 41. 411) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 71; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 48; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 37. 412) MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 36; Seyfarth, § 1 Rz. 181; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 90 Rz. 37; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 43. 413) Lutter, Rz. 121; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 34; ferner BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 43.

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mit Blick auf das Überwachungsmandat des Aufsichtsrats jedoch entsprechend hoch.414) Der Anspruch auf Berichterstattung gemäß § 90 AktG besteht grundsätzlich nur gegenüber dem Vorstand und ist auch nur an diesen zu richten. Gegenüber Mitarbeitern besteht ein solcher Anspruch – ohne Zustimmung des Vorstands – grundsätzlich nicht.415) Eine Befragung von Mitarbeitern ohne Zustimmung des Vorstands ist nach der hier vertretenen Auffassung – abweichend von der Vorauflage – auf Grundlage des eigenen Einsichts- und Prüfungsrechts des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 2 AktG regelmäßig nicht möglich (Æ Rz. 125 ff.).416) bb)

Umfang und Art der Berichterstattung (§ 90 Abs. 4 AktG)

121 Sämtliche nach § 90 AktG zu erstattende Berichte müssen gemäß § 90 Abs. 4 Satz 1 AktG den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft entsprechen. Dies ist der Fall, wenn die Berichte eine hinreichende Informationsgrundlage darstellen, damit der Aufsichtsrat seine Überwachungspflichten ordnungsgemäß ausüben kann.417) Dies setzt zunächst voraus, dass der Bericht vollständig, richtig, übersichtlich und nachvollziehbar ist.418) Zwischen Sachverhalt und Bewertungen muss der Bericht erkennbar trennen. Besteht über vorgenommene Bewertungen im Vorstand Dissens, ist dieser offenzulegen.419) Eine gewissenhafte und getreue Rechenschaft bedingt zudem, dass der Vorstand auch solche relevanten Informationen beschafft, über die er bislang noch nicht verfügt, soweit dies rechtlich möglich und ihm zumutbar ist.420) § 90 Abs. 1 Satz 2 AktG und § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG stellen schließlich klar, dass ___________ 414) MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 34. 415) Hüffer/Koch, § 90 Rz. 11; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 52; MünchKommAktG/ Spindler, § 90 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 44 m. w. N. 416) Dafür: Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 54; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 495 ff.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 80; Roth, AG 2004, 1 (8 f.); Schmidt/ Lutter/Drygala, § 111 Rz. 43; demgegenüber nur für Ausnahmefälle befürwortend GhassemiTabar Æ § 16 Rz. 416; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 36; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 243; Pauthner/ Ghassemi-Tabar Rz. 876 f.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 42. Zum Meinungsstand siehe auch Schmidt/Lutter/Drygala, § 109 Rz. 11 f. 417) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 63; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 121; Hölters/Weber/MüllerMichaels, § 90 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 13; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 25 Rz. 79; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 50; Schmidt/Lutter/SailerCoceani, § 90 Rz. 52; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 51. 418) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 4; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 122; Henssler/ Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 22; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 13; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 50; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 90 Rz. 52; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 51. 419) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 90 Rz. 4; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 122; Henssler/ Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 22; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 13; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 50; Schmidt/Lutter/ Sailer-Coceani, § 90 Rz. 53; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 51. 420) Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 122a; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 51.

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sämtliche Berichte auch relevante Umstände von Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen (§ 290 Abs. 1, 2 HGB bzw. § 310 Abs. 1 HGB) bzw. verbundenen Unternehmen (§ 15 AktG) umfassen müssen. Mit Ausnahme der Berichterstattung aus wichtigem Anlass an den Aufsichts- 122 ratsvorsitzenden (§ 90 Abs. 1 Satz 3 AktG) sind die Berichte gemäß § 90 AktG in der Regel in Textform zu erstatten. Eine nur mündliche Berichterstattung oder eine Berichterstattung in Form einer Tischvorlage ist aber insbesondere bei besonders geheimhaltungsbedürftigen Informationen möglich.421) Gemäß § 90 Abs. 5 Satz 1 AktG hat jedes Aufsichtsratsmitglied Anspruch auf 123 Kenntnisnahme von dem Bericht. Wird der Bericht in Textform erstattet, hat jedes Aufsichtsratsmitglied gemäß § 90 Abs. 5 Satz 2 AktG auch Anspruch auf Überlassung eines Exemplars des Berichts. Dies gilt aber nur, soweit der Bericht auch tatsächlich erstattet wurde. Liegt dem Vorstand ein Bericht in Textform vor, hat er diesen – etwa aus Vertraulichkeitsgesichtspunkten – aber nur mündlich oder in Form einer Tischvorlage erstattet, besteht auch kein Anspruch auf Überlassung des Berichtstextes. cc)

Abänderung der Berichtspflichten durch Satzung oder Aufsichtsrat

Die in § 90 Abs. 1 AktG festgelegten Berichtspflichten sind ein zwingender 124 Mindeststandard und können weder durch die Satzung noch durch den Aufsichtsrat abgesenkt werden.422) Die Satzung oder der Aufsichtsrat können jedoch strengere Berichtserfordernisse aufstellen.423) In diesem Zusammenhang können etwa der Turnus der Berichterstattung erhöht oder die Berichtsgegenstände erweitert werden.424) Der Aufsichtsrat kann auf dieselbe Weise auch eine Informationsordnung schaffen, die die Berichterstattung und den Informationsaustausch zwischen Vorstand und Aufsichtsrat detailliert regelt.425) Dabei können insbesondere auch (regelmäßige) Berichtspflichten des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden oder gegenüber eingesetzten Ausschüssen des Aufsichtsrats geregelt werden.426) Bei der Intensivierung der Berichtspflichten ___________ 421) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 90 AktG Rz. 23; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 13; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 58; BeckOGKAktG/Fleischer, § 90 Rz. 52. 422) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 53; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 53; MünchKommAktG/ Spindler, § 90 Rz. 8; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 12. 423) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 53; Lutter, Rz. 93 ff.; Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 53; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 8; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 5. 424) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 53; Lutter, Rz. 93, 95; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 8; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 12. 425) Wachter/Eckert, § 90 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 13; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 1a; Großkomm-AktG/Kort, § 90 Rz. 33; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 3; Hdb. Corporate Governance/Seibt, S. 409; Lutter, ZGR 2001, 224 (232). 426) Hdb. Corporate Governance/Seibt, S. 409 f.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 13; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 140.

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und der Schaffung einer Informationsordnung kommt dem Aufsichtsrat ein Ermessensspielraum zu, der allerdings seine Grenze findet, wenn die Berichtspflichten den Vorstand unangemessen in seiner Arbeit behindern oder wenn sie zu einer faktischen Co-Geschäftsleitung durch den Aufsichtsrat führen würden. Die Informationsordnung wird üblicherweise im Rahmen einer Geschäftsordnung für den Vorstand (dazu Æ § 1 Rz. 11 ff.) niedergelegt.427) b)

Einsichts- und Prüfungsrecht (§ 111 Abs. 2 AktG)

125 Der Aufsichtsrat ist bei seiner Informationsbeschaffung nicht auf die Vorstandsberichte beschränkt, sondern ihm steht gemäß § 111 Abs. 2 AktG auch ein eigenes Einsichts- und Prüfungsrecht zu. 126 Das Einsichts- und Prüfungsrecht bezieht sich nach dem Wortlaut der Vorschrift auf die Bücher und Schriften der Gesellschaft sowie die Vermögensgegenstände der Gesellschaft. Mit Büchern und Schriften der Gesellschaft ist im Grundsatz die gesamte bei der Gesellschaft vorhandene Dokumentation, einschließlich elektronisch gespeicherter Dateien, gemeint.428) Eine Ausnahme besteht für Vorstandsprotokolle, da Vorstandssitzungen unter anderem dem möglichst offenen Austausch zwischen den Vorstandsmitgliedern dienen und dieser Zweck durch eine bedingungslose Einsichtnahmemöglichkeit des Aufsichtsrats in die Vorstandsprotokolle beeinträchtigt würde.429) Der Aufsichtsrat darf – ohne Zustimmung des Vorstands – deswegen nur mit gutem Grund und nur soweit dies notwendig ist in Vorstandsprotokolle Einsicht nehmen.430) 127 Die in § 111 Abs. 2 AktG namentlich aufgeführten Vermögensgegenstände (Gesellschaftskasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren) sind als nicht abschließend anzusehen.431) Der Aufsichtsrat darf im Grundsatz vielmehr alle Vermögensgegenstände der Gesellschaft einsehen und sämtliche Geschäftsräume und Betriebsstätten der Gesellschaft betreten.432) 128 Streitig ist, ob der Aufsichtsrat auf Basis von § 111 Abs. 2 AktG auch Mitarbeiter der Gesellschaft befragen darf. In Abweichung zur Vorauflage ist eine ___________ 427) Hüffer/Koch, § 90 Rz. 1a; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 317; Hüffer, NZG 2007, 47 (51). 428) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 34; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 47; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 12; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 74; Hüffer, NZG 2007, 47 (53); Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136 (149). 429) Lutter, Rz. 297; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136 (149); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 74. 430) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 241; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 53; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 74; Lutter, Rz. 297; HoffmannBecking, ZGR 2011, 136 (149). 431) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 74; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 386; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 32; Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136 (149). 432) OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.3.1984 – 6 U 75/83, ZIP 1984, 825 (830); MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 74; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 386.

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Befragung von Mitarbeitern auf Basis von § 111 Abs. 2 AktG nach der hier vertretenen Auffassung nicht (mehr) ohne Zustimmung des Vorstands zulässig.433) Zwar wird eine sachgerechte Prüfung von Dokumenten und Vermögensgegenständen der Gesellschaft in vielen Fällen ohne eine entsprechende Hilfe durch die Mitarbeiter der Gesellschaft nicht möglich sein, sodass eine Hinzuziehung von Mitarbeitern häufig notwendige Voraussetzung für eine effektive Umsetzung des Einsichts- und Prüfungsrechts ist.434) Allerdings hat der Gesetzgeber durch die Einfügung von § 107 Abs. 4 Satz 4 – 6 AktG im Zuge des FISG435) einen direkten Anspruch der Mitglieder des Prüfungsausschusses gegen die Leiter der Zentralbereiche der Gesellschaft, die für die Aufgaben des Prüfungsausschusses auf Vorstandsseite zuständig sind, geregelt. Dementsprechend setzt das Gesetz in seiner Neufassung nunmehr voraus, dass außerhalb des geregelten Ausnahmefalls des § 107 Abs. 4 Satz 4 – 6 AktG kein direkter Auskunftsanspruch des Aufsichtsrats gegen Mitarbeiter der Gesellschaft besteht.436) Die Geltendmachung des Einsichts- und Prüfungsrechts setzt keinen besonderen 129 Anlass voraus. Es kann insbesondere nicht nur zur Klärung von Verdachtsmomenten für Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern, sondern darf etwa auch zu einer nicht anlassbezogenen Stichprobe verwendet werden.437) Das Einsichts- und Prüfungsrecht ist aber nach den allgemeinen Regeln durch den Überwachungsauftrag des Aufsichtsrats begrenzt (Æ Rz. 98 ff.). Der Aufsichtsrat darf das Einsichts- und Prüfungsrecht deshalb nicht willkürlich oder zu dem Zweck ausüben, um die Geschäftsleitung in allen Belangen des Tagesgeschäfts engmaschig zu kontrollieren.438) Der Vorstand ist verpflichtet, den Aufsichtsrat bei der Einsichtnahme und 130 Prüfung zu unterstützen.439) Dies bedingt, dass er etwa Mitarbeiter anweist, mit dem Aufsichtsrat zusammenzuarbeiten, Dokumente und Unterlagen – so___________ 433) Dafür: Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 54; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 495 ff.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 80; Roth, AG 2004, 1 (8 f.); Schmidt/ Lutter/Drygala, § 111 Rz. 43; demgegenüber nur für Ausnahmefälle befürwortend GhassemiTabar Æ § 16 Rz. 416; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 36; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 243; Pauthner/ Ghassemi-Tabar Rz. 876 f.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 42. Zum Meinungsstand siehe auch Schmidt/Lutter/Drygala, § 109 Rz. 11 f. 434) Vgl. Dreher, in: Festschrift Ulmer, S. 87 (92 ff.); Großkomm/Hopt/Roth, § 111 Rz. 514; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 80. 435) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) v. 3.6.2021, BGBl I 2021, 1534. 436) Vgl. RegEntw. BT-Drucks. 19/26966, S. 116; Simons, NZG 2021, 1429 (1434). 437) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 397; Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 11; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 48; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 34; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 52; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 244. 438) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 48; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 77. 439) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 389; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 76; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 55; Lutter, Rz. 288.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

weit rechtlich möglich und unter Berücksichtigung der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats zumutbar – von Tochter- und Beteiligungsunternehmen zu beschaffen und dem Aufsichtsrat für Stellungnahmen zur Verfügung zu stehen.440) Umgekehrt darf der Vorstand den Aufsichtsrat bei seiner Einsichtnahme und Prüfung auch nicht behindern. Vorbehaltlich anderslautender expliziter Vorschriften darf der Vorstand deswegen eine Einsichtnahme oder Prüfung etwa auch nicht unter Hinweis auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit verweigern, da der Aufsichtsrat ebenfalls ein zur Verschwiegenheit verpflichtetes Organ der Gesellschaft ist.441) 131 Das Recht zur Einsichtnahme und Prüfung gemäß § 111 Abs. 2 AktG steht dem Aufsichtsrat als Gesamtorgan und nicht jedem einzelnen Mitglied zu.442) Der Aufsichtsrat kann die Befugnis zur Entscheidung über die Einsichtnahme und Prüfung jedoch für bestimmte Sachverhalte oder in Bezug auf dessen Aufgaben auch auf einen Ausschuss übertragen.443) 132 Mit der Durchführung der Einsichtnahme und Prüfung im Einzelfall kann der Aufsichtsrat neben einem Ausschuss444) gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG auch einzelne Aufsichtsratsmitglieder oder Sachverständige beauftragen. Dem Aufsichtsrat kommt im Hinblick auf die Bestellung des Sachverständigen eine eigene Vertretungsbefugnis zu; er ist dementsprechend nicht auf die Zustimmung des Vorstands angewiesen.445) Der Aufsichtsrat entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob er die Einsichtnahme und Prüfung selbst, durch einen Ausschuss, durch eines seiner Mitglieder oder durch einen Sachverständigen durchführt. Die Auswahl orientiert sich allein an seinem Überwachungsauftrag und dem Wohl der Gesellschaft. Ein prinzipieller Grundsatz, dass Sachverständige nur in Ausnahmefällen oder als ultima ratio beauftragt werden dürften, besteht nicht.446) ___________ 440) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 76; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 390; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 55; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 20. 441) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 399; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 52; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 79. Vgl. zu diesem Aspekt auch KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 90 Rz. 14; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 42; Hüffer/Koch, § 90 Rz. 3; Lutter, Rz. 130. 442) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 73; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 56; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 33; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 48; Hüffer/ Koch, § 111 Rz. 20; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 54. 443) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 405; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 56; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 83 f. 444) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 83; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 48; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 55. 445) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 86; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 39; HoffmannBecking, ZGR 2011, 136 (140 f.). 446) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 88; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 56; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 409.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

c)

Beratung und Beanstandungen

Ein wesentliches Überwachungsmittel der präventiven Überwachung ist die 133 Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat.447) Der Aufsichtsrat kann und soll dem Vorstand als Instrument „vorbeugender Überwachung“ bei wesentlichen Fragen als kompetenter Ansprechpartner zur Verfügung stehen und wesentliche Entscheidungen, die Geschäftspolitik und die Unternehmensplanung mit diesem erörtern.448) Die Beratungen beschränken sich nicht auf eine Erörterung der Rechtmäßigkeit, sondern beziehen sich in besonderem Maße auch auf die Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahmen, Strategien und Planungen.449) Bei der Beratung durch den Aufsichtsrat handelt es sich nicht um ein „unverbindliches Angebot“; der Vorstand ist vielmehr verpflichtet, sich durch den Aufsichtsrat beraten zu lassen.450) Im Rahmen seines Beratungsrechts kann der Aufsichtsrat zu den vom Vorstand entwickelten Ideen, Strategien und Planungen Stellung nehmen und Vor- und Nachteile mit diesem erörtern.451) Er kann dem Vorstand auch prüfenswerte Alternativen aufzeigen; dies kann allerdings nicht dazu führen, dass der Aufsichtsrat dem Vorstand ausgearbeitete Gegenmodelle zu dessen Ideen, Strategien oder Planungen vorlegt, da die Entwicklung entsprechender Konzepte als Geschäftsführungsmaßnahme allein dem Vorstand obliegt.452) Der Aufsichtsrat bzw. die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder entscheiden über den Umfang und den konkreten Gegenstand ihrer Beratungen mit dem Vorstand nach eigenem Ermessen unter Berücksichtigung ihres Überwachungsauftrags, der Notwendigkeit einer Beratung und der eigenen Möglichkeiten, zu dem Beratungsgegenstand etwas beizutragen. Neben den Beratungen kann der Aufsichtsrat – insbesondere, wenn er Anhalts- 134 punkte für drohendes Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern hat – eine beabsichtigte Maßnahme auch beanstanden oder eine Stellungnahme hierzu abgeben. Beanstandungen und Stellungnahmen sind zwar nicht rechtlich verbindlich, allerdings muss sich der Vorstand im Rahmen der ihm obliegenden Sorgfalts-

___________ 447) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653 Leitsatz 1; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 11; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 50; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 12; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 28; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 40; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 103; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 51. 448) Im Einzelnen vgl. Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 29 ff.; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 12; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 343 ff.; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 50; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 103. 449) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 103. 450) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 12; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 104. 451) Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 344, 349; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 11. 452) Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 344; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 30; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 103.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

pflichten mit den Beanstandungen und Stellungnahmen des Aufsichtsrats sorgfältig auseinandersetzen, bevor er eine entsprechende Maßnahme trifft.453) d)

Geschäftsordnung für den Vorstand (§ 77 Abs. 2 AktG)

135 Zur Sicherstellung ordnungsgemäßer Abläufe im Vorstand kann der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung für den Vorstand erlassen, die für diesen verbindlich ist. In der Geschäftsordnung kann insbesondere auch eine Informationsordnung für den Vorstand (Æ Rz. 124) geregelt werden.454) e)

Zustimmungsvorbehalte (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG)

136 Gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG hat die Satzung oder der Aufsichtsrat zu bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vorgenommen werden dürfen. Diese Norm verpflichtet den Satzungsgeber und den Aufsichtsrat einerseits, Zustimmungsvorbehalte zu schaffen und weist dem Aufsichtsrat andererseits die Befugnis zur Ausübung dieser Rechte zu. aa)

Gegenstand von Zustimmungsvorbehalten

137 Mit den in § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG genannten „Geschäften“ sind solche gemeint, über die der Vorstand der Gesellschaft zu entscheiden hat;455) Zustimmungsvorbehalte über Maßnahmen, die der Hauptversammlung obliegen, können hingegen nicht angeordnet werden. Inhaltlich sind „Geschäfte“ i. S. d. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG nicht auf Rechtsgeschäfte beschränkt; auch gesellschaftsinterne Maßnahmen wie die Jahresplanung und Budgetzuweisung können tauglicher Gegenstand eines Zustimmungsvorbehalts sein.456) Aus der Formulierung „bestimmte Arten von Geschäften“ folgt, dass generalklauselartige Zustimmungsvorbehalte, die ohne jede Eingrenzung „alle wichtigen Geschäfte“ oder „alle Geschäfte, bei denen der Vorstand mit einem Willen des Aufsichtsrats zur Mitsprache rechnen muss“ der Zustimmung des Aufsichtsrats unterwerfen sollen, unzulässig sind.457) Andererseits folgt hieraus kein Verbot, einen (Ad-hoc-)Zustimmungsvorbehalt für ein spezifisches Geschäft zu schaffen.458) ___________ 453) Vgl. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 38 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 110; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 50. 454) Hüffer, NZG 2007, 47 (51); Hüffer/Koch, § 90 Rz. 1a; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 317. 455) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 677; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 79; Lutter, AG 1991, 249 (254); Hofschroer, S. 108 f. 456) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 677; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 79; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 120; Lutter, AG 1991, 249 (254). 457) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 64; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 28; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 120; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 678; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 83; Hofschroer, S. 111; Habersack, in: Festschrift Hüffer, S. 259 (264). 458) BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, NJW 1994, 520 (524); MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 120; 115; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 62; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 90; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 82.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Aus der Funktionentrennung von Geschäftsführung und Überwachung und 138 dem Grundsatz, dass dem Aufsichtsrat Maßnahmen der Geschäftsführung nicht übertragen werden können (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG), folgt außerdem, dass die Geschäfte, die der Zustimmung des Aufsichtsrats unterworfen werden sollen, von wesentlicher Bedeutung für die Gesellschaft sein müssen.459) Üblich und zulässig ist es in diesem Zusammenhang, bestimmte Schwellenwerte für zustimmungspflichtige Maßnahmen aufzustellen (etwa „Darlehensverträge mit einer Valuta von zumindest EUR 1 Mio.“).460) Auch der Katalog an zustimmungspflichtigen Maßnahmen insgesamt darf keinen Umfang annehmen, der zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands führen würde.461) Die Grenzen der Unzumutbarkeit sind zur Sicherstellung einer effektiven Kontrolle durch den Aufsichtsrat jedoch relativ hoch. Zustimmungsvorbehalte sollen lediglich Vetorechte für den Aufsichtsrat be- 139 gründen, die ihm die Möglichkeit verschaffen, Geschäfte des Vorstands zu verhindern.462) Sie geben dem Aufsichtsrat jedoch kein Initiativrecht in Bezug auf die Vornahme von Geschäftsführungsmaßnahmen.463) Vor diesem Hintergrund können Zustimmungsvorbehalte nicht für ein Unterlassen des Vorstands angeordnet werden.464) bb)

Schaffung von Zustimmungsvorbehalten

Das Aktiengesetz sieht die Schaffung von Zustimmungsvorbehalten zwingend 140 vor, legt aber den konkreten Gegenstand der Zustimmungsvorbehalte in das Ermessen des jeweils zuständigen Entscheidungskörpers.465) Für die Schaffung von Zustimmungsvorbehalten besteht eine konkurrierende Zuständigkeit des ___________ 459) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 65; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 84; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 120, 109; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 680; BeckOGKAktG/Spindler, § 111 Rz. 81; Habersack, in: Festschrift Hüffer, S. 259 (264). 460) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 85, 89; Brouwer, S. 124; Fleischer, BB 2013, 835 (842); vgl. auch Wilsing/Johannsen-Roth, Ziff. 3.3 Rz. 14. 461) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 84; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 123; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 678; Habersack, in: Festschrift Hüffer, S. 259 (264). 462) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 78; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 114; Habersack, in: Festschrift Hüffer, S. 259; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 634; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 52. 463) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 114; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 634; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 58; Hölters/Weber/Groß-Bölting/ Rabe, § 111 Rz. 86. 464) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 86; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 60; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 687; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 91; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 115; Dietrich, DStR 2003, 1577 (1578); Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 60. 465) RegBegr. BT-Drucks. 14/8769 S. 17; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 79; Hüffer/ Koch, § 111 Rz. 58 f.; ErfK-ArbR/Oetker, § 111 AktG Rz. 8; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 55.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Satzungsgebers (Gründer und Hauptversammlung) sowie des Aufsichtsrats.466) Der Aufsichtsrat ist an die in der Satzung festgelegten Zustimmungsvorbehalte über seine Legalitätspflicht gebunden.467) Umgekehrt sind die in der Satzung aufgenommenen Zustimmungsvorbehalte nicht abschließend und können die Kompetenz des Aufsichtsrats, weitere Zustimmungsvorbehalte zu schaffen, nicht ausschließen (§ 23 Abs. 5 Satz 1 AktG).468) Sowohl der Satzungsgeber als auch der Aufsichtsrat können aber die vom jeweils anderen Entscheidungskörper geschaffenen Zustimmungsvorbehalte erweitern, indem der Gegenstand des Zustimmungsvorbehalts ergänzt wird oder die maßgeblichen Schwellenwerte abgesenkt werden.469) 141 Praxishinweis: Auf Basis dieses Systems ergibt sich ein Prinzip der Meistanwendung, dass bei Auslegungsschwierigkeiten im Falle von sich überschneidenden oder widersprechenden Zustimmungsvorbehalten herangezogen werden kann: Besteht etwa ein Zustimmungsvorbehalt in der Satzung über „den Erwerb oder die Veräußerung von Wandelschuldverschreibungen ab einem Wert von EUR 1.000.000,-“ und legt der Aufsichtsrat einen – inhaltlich weitergehenden, aber dafür mit einem höheren Schwellenwert versehenen – Zustimmungsvorbehalt für „den Erwerb und die Veräußerung von Wertpapieren ab einem Wert von EUR 1.500.000,-“ fest, sind der Erwerb und die Veräußerung sämtlicher Wertpapiere mit Ausnahme von Wandelschuldverschreibungen ab einem Schwellenwert von EUR 1,5 Mio., der Erwerb und die Veräußerung von Wandelschuldverschreibungen jedoch bereits ab einem Schwellenwert von EUR 1 Mio. zustimmungspflichtig. 142 Die Hauptversammlung entscheidet über die Schaffung von Zustimmungsvorbehalten in der Satzung gemäß § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG grundsätzlich mit einer Dreiviertelmehrheit des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals (qualifizierte Kapitalmehrheit). Diese Mehrheit kann in der Satzung jedoch gemäß § 179 Abs. 2 AktG herauf- oder herabgesetzt werden. Der Aufsichtsrat entscheidet über die Schaffung von Zustimmungsvorbehalten nach den allgemeinen Regeln (Æ Rz. 67 ff.) mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Gemäß § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG ist die Entscheidung zur Schaffung von Zustimmungsvorbehalten – anders als deren Ausübung (Æ Rz. 145) – zwingend dem Plenum des Aufsichtsrats vorbehalten und kann nicht auf einen Ausschuss delegiert werden. Der Aufsichtsrat kann die Zustimmungsvorbehalte ___________ 466) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 88; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 54; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 641; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 114; Grooterhorst, NZG 2011, 921 (922). 467) Brouwer, S. 169; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 642; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 80; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 114; MünchKomm/Habersack, § 111 Rz. 117; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 88; siehe auch Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 531. 468) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 22; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 61; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 117; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 114; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 59. 469) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 117; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 88.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

im Rahmen einer Geschäftsordnung für den Vorstand und/oder für den Aufsichtsrat oder durch Beschluss regeln.470) In jedem Fall sind sämtliche vom Aufsichtsrat geschaffenen Zustimmungsvorbehalte zu beachten, unabhängig davon, ob sie in einer oder mehreren Geschäftsordnungen und/oder durch Beschluss geregelt sind. Der Aufsichtsrat kann schließlich auch einen einmaligen Zustimmungsvorbehalt schaffen, um ein spezifisches Geschäft des Vorstands vor dessen Abschluss zu verhindern (sog. Ad-hoc-Zustimmungsvorbehalt).471) cc)

Umgang des Vorstands mit Zustimmungsvorbehalten, insb. Zeitpunkt der Einholung der Zustimmung

Der Vorstand ist über seine Sorgfaltspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) ver- 143 pflichtet, die bestehenden Zustimmungsvorbehalte zu beachten.472) Vor diesem Hintergrund muss er eigenverantwortlich prüfen, ob das von ihm beabsichtigte Geschäft einem Zustimmungsvorbehalt unterfällt. In Zweifelsfällen empfiehlt es sich in der Praxis, den Aufsichtsratsvorsitzenden einzubinden. Der Vorstand ist in aller Regel verpflichtet, vor einer Entscheidung die Zu- 144 stimmung des Aufsichtsrats einzuholen, um diesen nicht durch eine bereits getroffene Entscheidung zu präjudizieren.473) Etwas Anderes gilt dann, wenn der Vorstand Vorkehrungen trifft, die eine entsprechende Präjudizwirkung ausschließen. In der Praxis wird dies üblicherweise erreicht, indem der Vorstand die Wirksamkeit des bereits vor der Zustimmungsentscheidung abgeschlossenen Geschäfts unter die aufschiebende Bedingung einer zustimmenden Entscheidung des Aufsichtsrats stellt.474) Eine weitere Ausnahme von der Notwendigkeit, eine vorherige Zustimmung einzuholen, kann nach richtiger Auf___________ 470) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 119; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 89; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 115 f.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 85; Hüffer/ Koch, § 111 Rz. 61; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 78; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/RodewigIRothley, § 9 Rz. 25 f. 471) BGH, Urt. v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, ZIP 1993, 1862 (1867); Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 310; Fonk, ZGR 2006, 841 (851 f.); Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 111 Rz. 690; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 90; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 62; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 83; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 119; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 62; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 130; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 58; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 83. 472) Brouwer, S. 94; Ihrig/Schäfer, Rz. 561; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 79; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 86. 473) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 25; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 727; Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 22; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 69; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 106; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 124; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 65; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 140; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 111 Rz. 61; Seebach, AG 2012, 70 (71); BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 94. 474) Vgl. insoweit etwa Beck’sches M&A-Hdb/Meyer-Sparenberg, § 46 Rz. 29; Picot/Picot, § 4 Rz. 503.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

fassung in besonders eilbedürftigen Fällen bestehen.475) Die von der Gegenauffassung hiergegen geäußerten Bedenken, dass durch eine nur nachträgliche Genehmigung die mit der Zustimmungsentscheidung bezweckte präventive Überwachung nicht erreicht werden kann476), sind zwar im Grundsatz zutreffend; allerdings ist auch die präventive Überwachung durch den Aufsichtsrat kein Selbstzweck, sondern kann und muss mit anderen wichtigen Belangen des Gesellschaftswohls abgewogen werden.477) Drohen der Gesellschaft etwa empfindliche Nachteile, wenn der Vorstand mit einer Entscheidung bis zur Zustimmung des Aufsichtsrats zuwartet, oder entgehen der Gesellschaft ganz herausgehobene Geschäftschancen, kann das Gesellschaftsinteresse an einer effektiven Überwachung im Einzelfall hinter dem Interesse an der Durchführung des Geschäfts zurückstehen. Mit Blick auf die sehr hohe Bedeutung einer effektiven Überwachung für die Gesellschaft muss der Vorstand aber auch in Eilfällen zunächst alle zumutbaren Möglichkeiten ergreifen, um eine vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats zu erlangen bzw. eine Präjudizwirkung zu vermeiden.478) Sofern dies möglich ist, muss der Vorstand deshalb auch in Eilfällen eine aufschiebende Bedingung vereinbaren oder auf eine kurzfristige Befassung des Aufsichtsrats (etwa im Wege eines Umlaufbeschlusses unter Verzicht auf die Einhaltung von Formen und Fristen) hinwirken.479) Kann dies alles nicht rechtzeitig erreicht werden, sollte zumindest der Aufsichtsratsvorsitzende in die Entscheidung eingebunden werden.480) dd)

Ausübung von Zustimmungsvorbehalten

145 Über die Ausübung von Zustimmungsvorbehalten entscheidet der Aufsichtsrat nach den allgemeinen Regeln (Æ Rz. 67 ff.) mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Die Ausübung von Zustimmungsvorbehalten kann auch auf einen Ausschuss übertragen werden.481) Eine Übertragung der Zustimmungskompe___________ 475) Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 22; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 70; siehe auch Ihrig/ Schäfer, Rz. 561. Zulässigkeit offengelassen in BGH Urt. v. 10.7.2018 – II ZR 24/17, NZG 2018, 1189. 476) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 141; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 61; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 99. 477) Vgl. hierzu etwa auch Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 95. 478) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 70. 479) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 95. 480) Vgl. Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 25; Fonk, ZGR 2006, 841 (870 f.); Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 95; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 142. 481) Brouwer, S. 193; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 22; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 707; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 69; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 110; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 142; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 61; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 90.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

tenz auf einzelne Mitglieder oder gar Dritte ist mit Blick auf das Beschlusserfordernis sowie den Grundsatz der persönlichen Amtsführung nicht möglich.482) Die Entscheidung über die Ausübung eines Zustimmungsvorbehalts muss sich 146 in aller Regel auf ein konkretes Geschäft beziehen.483) Die Zustimmungsentscheidung kann insoweit jedoch auch in Form eines Konzeptbeschlusses erfolgen, bei dem der Aufsichtsrat einer bestimmten Bandbreite an Geschäften des Vorstands die Zustimmung erteilt.484) So kann der Aufsichtsrat dem Vorstand die Zustimmung etwa dazu erteilen, ein bestimmtes Unternehmen für einen Kaufpreis in einer festgelegten Preisspanne oder zu einer Bandbreite unterschiedlicher Vertragsbedingungen zu erwerben. Notwendig ist aber in jedem Fall, dass die verschiedenen Handlungsalternativen des Vorstands im Konzeptbeschluss hinreichend konkret bezeichnet sind. Eine Generalzustimmung, die sich abstrakt und im Vorhinein auf sämtliche Geschäfte einer bestimmten Art bezieht, ist unzulässig. Praxishinweis: Eine Generalzustimmung kann jedoch im Einzelfall als eine Ab- 147 bedingung bestehender Zustimmungsvorbehalte ausgelegt oder als solche umgedeutet werden. Da eine Abbedingung bestehender Zustimmungsvorbehalte anderenfalls unzulässig wäre, ist dies aber nur möglich, wenn sich die Generalzustimmung ausschließlich auf vom Aufsichtsrat selbst geschaffene Zustimmungsvorbehalte bezieht und vom Aufsichtsratsplenum beschlossen wird.485) ee)

Wirkung der Zustimmung und ihrer Versagung

Die Zustimmungsentscheidung ist ein gesellschaftsrechtlicher Akt, der ledig- 148 lich Wirkung im Innenverhältnis entfaltet.486) Ein Rechtsgeschäft, das der Vorstand trotz einer nicht eingeholten Zustimmung oder entgegen einer ausdrücklichen Versagung der Zustimmung vornimmt, ist daher wirksam.487) Nimmt der Vorstand trotz der fehlenden Zustimmung ein zustimmungspflichtiges ___________ 482) Vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 142; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 90. 483) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 25; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 710; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 127; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 66; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 143. 484) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 143; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 109; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 711; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 66; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 36; Brouwer, S. 203 f. 485) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 26; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 109; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 127; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 66; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 143. 486) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 753; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 72; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 112; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 123; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 64; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 94 f. 487) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 753; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 91; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 72; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 112; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 123; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 147; Seyfarth, § 1 Rz. 198; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 95.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Rechtsgeschäft vor, verletzt er allerdings in aller Regel seine Sorgfaltspflichten gemäß § 93 Abs. 1 AktG.488) 149 Durch die Versagung der Zustimmung ist der Vorstand gemäß § 93 Abs. 1 AktG im Innenverhältnis zur Gesellschaft verpflichtet, das Geschäft nicht durchzuführen.489) Eine erneute Vorlage an den Aufsichtsrat ist aber – vorbehaltlich eines Rechtsmissbrauchs – grundsätzlich möglich. Versagt der Aufsichtsrat in Eilfällen erst nach Durchführung des Geschäfts seine Zustimmung, muss der Vorstand auf eine Rückabwicklung des Geschäfts hinwirken. 150 Im Falle einer Versagung der Zustimmung durch den Aufsichtsrat kann der Vorstand das Geschäft zudem gemäß § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG der Hauptversammlung zur Zustimmung vorlegen. Erteilt die Hauptversammlung die Zustimmung, darf der Vorstand das Geschäft trotz der durch den Aufsichtsrat versagten Zustimmung vornehmen490). Die Entscheidung der Hauptversammlung über die Zustimmung bedarf gemäß § 111 Abs. 4 Satz 4, Satz 5 AktG zwingend einer Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen (qualifizierte Stimmmehrheit). f)

Zustimmungsvorbehalte bei Related-Party Transactions (§ 111b Abs. 1 AktG)

151 Das ARUG II491) hat für börsennotierte Gesellschaften in den §§ 111a ff. AktG ein neues Regime für Geschäfte mit nahestehenden Personen („RelatedParty Transactions“) eingeführt. Im Wesentlichen sehen die Neuregelungen einen zwingenden Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten des Aufsichtsrats für Geschäfte mit nahestehenden Personen ab einer gewissen Größenordnung (§§ 111a, 111b Abs. 1 AktG) sowie eine Pflicht zur Veröffentlichung dieser Geschäfte (§ 111c AktG) vor. Zweck der §§ 111a ff. AktG ist es, die Gesellschaft davor zu schützen, dass Führungskräfte oder kontrollierende Aktionäre ihren Einfluss auf die Gesellschaft nutzen, um sich zu Lasten der Gesellschaft zu bereichern.492) ___________ 488) Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 22; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 91, 98; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 72; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 123; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 147; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 64; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 94. 489) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 72; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 147; BeckOGKAktG/Spindler, § 111 Rz. 94. 490) Brouwer, S. 213; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 67; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 111 Rz. 62. 491) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl I 2019, 2637. 492) Richtlinie (EU) 2017/828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.5.2017 zur Änderung der Richtlinie 2007/36/EG im Hinblick auf die Förderung der langfristigen Mitwirkung der Aktionäre (ABl L 132 vom 20.05.2017, S. 8); Grigoleit/Grigoleit, § 111a Rz. 6; Reichert/Ott, § 38 Rz. 52; MünchHdb. GesR IV/Bungert, § 36 Rz. 52.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

aa)

Erfasste Geschäfte mit nahestehenden Personen

Der Begriff des Geschäfts in § 111a Abs. 1 AktG ist weit zu verstehen.493) Er 152 umfasst sämtliche Rechtsgeschäfte und (nicht-rechtsgeschäftliche) Maßnahmen – mit Ausnahme von bloßen Unterlassungen –, die potentiell nachteilig für die Gesellschaft sein können.494) Hierzu zählen neben Übertragungsvorgängen, Nutzungsüberlassungen, Dienstleistungen, Sicherungsgeschäften oder Produktions- und Investitionsabsprachen auch einseitige Rechtsgeschäfte wie etwa die Aufrechnung und die Ausübung von Optionen.495) Der Geschäftsbegriff umfasst sowohl das schuldrechtliche als auch das dingliche Rechtsgeschäft; aus Gründen der Praktikabilität genügt es allerdings, wenn der Aufsichtsrat seine Zustimmung zum schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäft und dessen Vollzug durch das dingliche Verfügungsgeschäft einheitlich erteilt.496) Das Gleiche gilt für den Abschluss eines Dauerschuldverhältnisses und den darauf bezogenen Vollzugsakt.497) Wesentliche Änderungen eines bereits abgeschlossenen Geschäfts, die eine spezifische Gefahr einer Vermögensverlagerung begründen, sind als neues Geschäft i. S. d. §§ 111a ff. AktG zu qualifizieren und bedürfen einer erneuten Zustimmung durch den Aufsichtsrat.498) § 111a Abs. 1 AktG definiert den Begriff der nahestehenden Personen nicht, 153 sondern verweist dynamisch auf die jeweils geltenden internationalen Rechnungslegungsstandards.499) Erfasst sind sowohl Unternehmen als auch natürliche Personen, wie sie derzeit in IAS 24, aber auch in den davon in Bezug genommenen Standards IFRS 10 und IFRS 11 sowie IAS 28 definiert sind.500) ___________ 493) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 7; Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 22; Hüffer/Koch, § 111a AktG Rz. 2; Florstedt, ZIP 2021, 53 (54). 494) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 7; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 437; Hirte/Heidel/Heidel/Illner, § 111a Rz. 8 ff.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 4 ff.; Hüffer/Koch, § 111a AktG Rz. 2 ff. 495) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 79; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 8; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 2; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 10; den Begriff des Geschäfts auf gesellschaftsinterne Vorgänge – namentlich Beschlussfassungen – erstrecken: Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 437; J. Vetter, AG 2019, 853 (854 f.). 496) Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 28; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 10; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 5. 497) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 79; Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 28; Goette/ Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 438; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 5. 498) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 12; MünchKommAktG-ARUG II/ Habersack, § 111a Rz. 10; Grigoleit, ZGR 2019, 412 (420). 499) Verweis auf die Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission vom 3.11.2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl L 320 vom 29.11.2008, S. 1); zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/237 der Kommission vom 08.02.2019 (ABl L 39 vom 11.02.2019, S. 1); RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 79 f. 500) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 14, 16; Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 5; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 8; MünchKommAktGARUG II/Habersack, § 111a Rz. 14.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Maßgeblich ist ein wirtschaftliches und kein formal-juristisches Verständnis, sodass ein Näheverhältnis nicht nur durch gesellschaftsrechtliche oder vertragliche Verbindungen begründet werden kann, sondern auch durch Schlüsselfunktionen im Management oder persönliche Verbindungen.501) Gesellschaftsrechtliche Verhältnisse begründen ein Nahestehen im Falle einer Beherrschung, gemeinschaftlichen Führung, eines maßgeblichen Einflusses sowie bei einer Zugehörigkeit zu derselben Unternehmensgruppe. Ab einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung von 20 Prozent der Stimmrechte wird gemäß IAS 28.5 ein maßgeblicher Einfluss – anders als nach §§ 15 ff. AktG – widerleglich vermutet.502) Spiegelbildlich wird bei einer Beteiligung unter 20 Prozent widerleglich vermutet, dass kein maßgeblicher Einfluss besteht.503) Dienstvertragliche oder organschaftliche Verbindungen, die sich als das Bekleiden einer Schlüsselposition im Unternehmen, ihrer Muttergesellschaft oder einem anderen von ihr abhängigen Unternehmen darstellen, begründen ebenfalls ein Näheverhältnis.504) Dies betrifft insbesondere Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder und im Einzelfall auch Personen im Management unterhalb des Vorstands, wenn ihnen eine vorstandsähnliche Funktion zukommt.505) Zu den nahestehenden Personen zählen auch die nahen Familienangehörigen der Personen, die eines der vorstehenden Näheverhältnisse aufweisen.506) Nahe Familienangehörige sind neben Ehegatten, Lebenspartnern und Kindern – einschließlich deren Ehegatten oder Lebenspartnern – auch unterhaltsberechtigte oder haushaltszugehörige Verwandte.507) 154 In zeitlicher Hinsicht muss das Näheverhältnis nicht bei Abschluss des Geschäfts bestehen, um ein Zustimmungserfordernis nach § 111b Abs. 1 AktG auszulösen. Weil das Vorliegen eines Nahestehens anhand einer wirtschaftlichen Betrachtung zu bestimmen ist, kommt eine „Vor- oder Nachwirkung des Näheverhältnisses“ in Betracht, wenn im Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses faktisch schon oder noch ein dem Nahestehen entsprechendes Beeinflussungspotential ___________ 501) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 80; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 8; Marsch-Barner/Schäfer/ E. Vetter, § 32 Rz. 5; Florstedt, ZIP 2021, 53 f. 502) Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 6; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 5; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 9; Grigoleit, ZGR 2019, 412 (430). 503) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 80; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 17; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 440; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 20. 504) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 80; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 6; Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 58; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 32 Rz. 8. 505) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 18; Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 59; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 21. 506) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 18; Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 60; Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 7; MünchKommAktG-ARUG II/ Habersack, § 111a Rz. 20 f. 507) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 80; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 11; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 442; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 6.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

besteht.508) Dies wird widerleglich vermutet, wenn die Möglichkeit der Einflussnahme in einem kurzen Zeitraum, etwa bis zu sechs Monate, vor oder nach Abschluss des Geschäfts bestand oder aufgrund begründeter Erwartungen bestehen wird.509) bb)

Überschreitung des relevanten Schwellenwerts

Gemäß § 111b Abs. 1, Abs. 3 AktG fallen nicht sämtliche Geschäfte mit nahe- 155 stehenden Personen unter den Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats, sondern nur dann, wenn der wirtschaftliche Wert des Geschäfts bzw. der Geschäfte 1,5 Prozent der Summe des im letzten festgestellten Jahresabschluss bilanzierten Anlage- und Umlaufvermögens der Gesellschaft bzw. des Konzerns übersteigt.510) Für Unternehmen, die nach einem internationalen Bewertungsstandard (etwa IFRS) bilanzieren, gelten stattdessen die dem Anlage- und Umlaufvermögen entsprechenden Kennziffern.511) Eine Überschreitung ist durch das einzelne Geschäft oder durch das Geschäft zusammen mit weiteren innerhalb eines Geschäftsjahres zuvor getätigten Geschäften mit derselben Person möglich (sog. Aggregation). Aggregiert werden nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 111b Abs. 1 AktG nur die Geschäfte mit derselben nahestehenden Person; werden Geschäfte mit verschiedenen nahestehenden Personen geschlossen, ist die Schwellenüberschreitung – mit Ausnahme unzulässiger Umgehungsgestaltungen512) – getrennt zu ermitteln.513) Geschäfte einer Tochtergesellschaft mit nahestehenden Personen der börsennotierten Muttergesellschaft514) bleiben für die Berechnung des Schwellenwerts ebenso außer Betracht, wie Geschäfte, die aufgrund der Ausnahmetatbestände in § 111a Abs. 2 und 3 AktG für sich genommen keinem Zustimmungsvorbehalt unterfallen.515) Wird der Schwellen___________ 508) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 80; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 182; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 21; Goette/Arnold/ M. Arnold, § 4 Rz. 445; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 9; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 32 Rz. 10; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 70; MünchKommAktGARUG II/Habersack, § 111a Rz. 17; kritisch: Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 90; Kleinert/Mayer, EuZW 2019, 103 (104). 509) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 80; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 21; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 17; kritisch Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111a Rz. 69. 510) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 8; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 29 Rz. 73; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 185. 511) Vgl. RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 85; Hüffer/Koch, § 111b Rz. 8; Grigoleit/Grigoleit, § 111b Rz. 8; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111b Rz. 14 f. 512) Müller, ZGR 2019, 97 (114). 513) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111b Rz. 8; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111b Rz. 13; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111b Rz. 73. A. A. Grigoleit/Grigoleit, § 111b AktG Rz. 22. 514) Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 479; Hüffer/Koch, § 111b Rz. 6; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111b Rz. 73. 515) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 10; Henssler/Strohn/Paschos, § 111b AktG Rz. 10; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111b Rz. 9.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

wert durch eine Aggregation überschritten, unterfällt nur das letzte Geschäft, das zu einer Überschreitung des Schwellenwerts führt, der Zustimmungsbedürftigkeit durch den Aufsichtsrat. Sämtliche zuvor getätigte Geschäfte mit derselben nahestehenden Person sind dagegen nicht zustimmungsbedürftig.516) Umstritten ist, ob im Falle der Erteilung der Zustimmung zu einem schwellenüberschreitenden Geschäft nach § 111b Abs. 1 AktG die Aggregation neu beginnt und somit nicht sämtliche Geschäfte in einem Geschäftsjahr, die nach einem einmaligen Überschreiten der relevanten Schwelle eingegangen werden, jeweils einem separaten Zustimmungsvorbehalt unterfallen.517) Nach der hier vertretenen Auffassung muss dies der Fall sein, da anderenfalls der Zweck des Schwellenwerts, die vom Aufsichtsrat zu behandelnden Fälle auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen, nicht erreicht wird und vom Aufsichtsrat ggf. ein Befassungsumfang gefordert wird, der nur schwer mit dem Nebenamtscharakter des Aufsichtsrats zu vereinbaren ist.518) 156 Bei der Berechnung des wirtschaftlichen Werts eines Geschäfts ist auf den allgemeinen Verkehrswert der von der Gesellschaft erbrachten Leistung auf Grundlage einer steuerlichen Nettobetrachtung abzustellen.519) Die Feststellung der Schwellenwertüberschreitung obliegt dem Aufsichtsrat.520) Dieser kann nach den allgemeinen Regeln (Æ Rz. 170) dabei grundsätzlich auf die Wertermittlung des Vorstands vertrauen und ist im Übrigen berechtigt, den Schwellenwert auf Basis einer realistischen Schätzung zu ermitteln.521) cc)

Ausnahmetatbestände

157 § 111a Abs. 2 und Abs. 3 AktG regeln Ausnahmen vom Zustimmungsvorbehalt für Geschäfte mit nahestehenden Personen. Gemäß § 111a Abs. 2 Satz 1 AktG sind Geschäfte, die im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktübli___________ 516) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 185; Hüffer/Koch, § 111b Rz. 6; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111b Rz. 11. 517) So ausdrücklich RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 84; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 185; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 480; Henssler/Strohn/Paschos, § 111b AktG Rz. 10; Hüffer/Koch, § 111b Rz. 6; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111b Rz. 12. Gegen einen Neubeginn: Hirte/Heidel/Heidel/Illner, § 111b Rz. 16 f.; Eisele/ Oser, DB 2019, 1517 (1522). 518) So auch: Hüffer/Koch, § 111b Rz. 1; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111b Rz. 1; a. A. Hirte/Heidel/Heidel/Illner, § 111b Rz. 16 f.; Eisele/Oser, DB 2019, 1517 (1522). 519) RegE. BT-Drucks. 19/9739, S. 83; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 5; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111b Rz. 8; Henssler/Strohn/Paschos, § 111b AktG Rz. 6; J. Vetter, AG 2019, 853 (857). Eine Übersicht praxisrelevanter und problematischer Einzelfälle bei Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111b Rz. 43 ff. 520) MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111b Rz. 10. 521) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 83; Henssler/Strohn/Paschos, § 111b AktG Rz. 6; Hüffer/ Koch, § 111b Rz. 5; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 73; kritisch Grigoleit, ZGR 2019, 412 (432).

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chen Bedingungen geschlossen wurden, von der Regelung ausgenommen. Mit Geschäften im ordentlichen Geschäftsgang sind solche Geschäfte gemeint, die sich nach Inhalt, Umfang und Häufigkeit als typische Alltagsgeschäfte des konkreten Unternehmens darstellen.522) Zu marktüblichen Bedingungen ist das Geschäft abgeschlossen, wenn es einem Drittvergleich standhält und in seinen Konditionen grundsätzlich als inhaltlich angemessen angesehen werden kann.523) Das Vorstehende gilt auch für konzerninterne Geschäfte.524) Nicht zustimmungsbedürftig sind in Konzernsachverhalten demnach etwa die Festlegung von Verrechnungspreisen, Veräußerungen von Beteiligungen, Nutzungsüberlassungen oder Konzernumlagen, sofern sie zu üblichen Bedingungen erfolgen.525) In der Literatur wird teilweise angenommen, dass ein Geschäft im ordentlichen Geschäftsgang wohl jedenfalls dann nicht vorläge, wenn das relevante Geschäft für sich allein genommen – und nicht erst durch Aggregation – die maßgebliche Mindestschwelle von 1,5 Prozent der Summe aus dem Anlage- und Umlaufvermögen der Gesellschaft überschreite.526) Diese Meinung ist in dieser Pauschalität nach der hier vertretenen Auffassung nicht zutreffend: Die Relation der üblichen Geschäfte im Vergleich zur Summe aus Anlage- und Umlaufvermögen ist eine sehr individuelle Kennziffer, die sehr stark von der Größe und dem Unternehmensgegenstand der Gesellschaft abhängt, und ist daher kein tauglicher allgemeingültiger Indikator für das Bestehen eines Geschäfts im ordnungsgemäßen Geschäftsgang. Insbesondere bei jungen oder sehr regionalen Gesellschaften, deren Geschäftsgegenstand auf die Verwertung relativ großer Vermögensgegenstände gerichtet ist (etwa ein regionaler Großmaschinen___________ 522) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 81; Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 104; Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 15; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 28. 523) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 81; Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 14; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 26; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 448. 524) Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 452; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 17; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 29. 525) Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 14; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 17. Umstritten ist, ob auch die erstmalige Einrichtung eines Cash-PoolingSystems zum ordentlichen Geschäftsgang gerechnet werden kann. Dafür: RegEntw. BTDrucks. 19/9739, S. 81; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 26; Hüffer/ Koch, § 111a Rz. 11; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111a Rz. 149. Dagegen: Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 110; Hirte/Heidel/Heidel/Illner, § 111a Rz. 30; MünchKommAktGARUG II/Habersack, § 111a Rz. 29. Differenzierend: Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 17. 526) So dezidiert Heidel/Illner, Das neue Aktienrecht, § 111a Rz. 29; Backhaus, NZG 2020, 695 (698); Florstedt, Related Party Transactions, Rz. 340; prinzipiell wohl auch MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 27; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a Rz. 27; Henssler/Strohn/Paschos, § 111a Rz. 14; Grigoleit/Grigoleit, § 111a Rz. 105; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 451; H.-F. Müller, ZIP 2019, 2429 (2431); implizit Hüffer/Koch, § 111a Rz. 10; für Ausnahmen offen: Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/ Fischer, § 111a Rz. 23; wohl auch Veil, NZG 2017, 52 (528).

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hersteller oder ein Start-Up im Anlagebau) werden auch Geschäfte, die über der relevanten Schwelle liegen, nicht selten den Charakter von Geschäften im ordentlichen Geschäftsgang haben. 158 Zur laufenden Kontrolle, ob die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands nach § 111a Abs. 2 Satz 1 AktG vorliegen, hat die Gesellschaft gemäß Satz 2 der Vorschrift ein internes Kontrollverfahren einzurichten. Nahestehende Personen, die an dem konkreten Geschäft beteiligt sind, sind von dem Verfahren auszuschließen.527) Im Falle eines Geschäfts mit einem nahestehenden Unternehmen sind sämtliche Unternehmensangehörige – also nicht nur Organmitglieder oder andere Leitungspersonen – auszuschließen.528) Für die Einrichtung des Kontrollverfahrens ist allein der Aufsichtsrat zuständig.529) Bei der näheren Ausgestaltung des Verfahrens verfügt er über ein weitreichendes Ermessen und den Schutz der Business Judgement Rule.530) Dabei steht es dem Aufsichtsrat frei, die initiale Entwicklung und Einrichtung des Kontrollverfahrens dem Vorstand zu überlassen531). In jedem Fall muss der Aufsichtsrat aber die Wirksamkeit des Verfahrens und dessen grundsätzliche Eignung zur Erfassung relevanter Geschäfte durch eine eigene und kontinuierliche Überprüfung sicherstellen.532) Was die Kontrolldichte angeht, darf sich der Aufsichtsrat grundsätzlich auf eine stichprobenartige Überprüfung einzelner Geschäfte – ggf. unter Hinzuziehung externer Berater533) – beschränken.534) Zudem steht es dem Aufsichtsrat frei, die Einrichtung und/oder das Betreiben des internen Kontrollverfahrens an einen Ausschuss zu delegieren. Die Besetzungsvorgabe des § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG (Æ Rz. 93) ist in diesem Zusammenhang nicht anwendbar, weil die Prüfung des Bestehens der Ausnahme keine Entscheidung in der Sache über das Geschäft mit der nahestehenden Person ist.535) In seinem ___________ 527) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 81; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 31; Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 15; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 18; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 13. 528) Grigoleit/Grigoleit, § 111a AktG Rz. 111; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 33. 529) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 32; Henssler/Strohn/Paschos, § 111a AktG Rz. 15; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 18; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 13; Redeke/Schäfer/Troidl, AG 2020, 159 (161). A. A. Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 454 ff., 458; Markworth, AG 2020, 166 (174). 530) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 20; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 32; Redeke/Schäfer/Troidl, AG 2020, 159 (163). 531) Vgl. Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 20; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 13. 532) Vgl. Hüffer/Koch, § 111a Rz. 13; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111a Rz. 177 ff.; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 32. 533) Redeke/Schäfer/Troidl, AG 2020, 159 (164). 534) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 20; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111a Rz. 172; MünchKommAktG-ARUG II/Habersack, § 111a Rz. 32; Redeke/Schäfer/Troidl, AG 2020, 159 (161 f.). 535) So auch: Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 20; Redeke/Schäfer/Troidl, AG 2020, 159 (163).

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Bericht an die Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 Satz 2 AktG hat der Aufsichtsrat kurze Ausführungen zu seiner Prüfungstätigkeit im internen Kontrollverfahren zu machen.536) Nicht erforderlich ist, dass er sämtliche marktüblichen und gewöhnlichen Geschäfte auflistet, die in dem jeweiligen Geschäftsjahr abgeschlossen wurden.537) Ein internes Kontrollverfahren ist nicht einzuführen, wenn der Satzungsgeber nach § 111a Abs. 2 Satz 3 AktG auf eine Anwendung der Ausnahme des § 111a Abs. 2 Satz 1 AktG verzichtet. Ein solcher Satzungsdispens hat zur Folge, dass alle Geschäfte, die im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen abgeschlossen werden, Geschäfte mit einer nahestehenden Person sein können und bei Überschreiten des Schwellenwerts – ggf. nach Aggregation (Æ Rz. 155) – den Zustimmungsvorbehalt auslösen. In der Praxis wird die Nutzung des Satzungsdispenses regelmäßig nur dann Sinn machen, wenn die Gesellschaft damit rechnet, dass keine oder nur in seltenen Ausnahmefällen Geschäfte mit nahestehenden Personen in den erforderlichen Größenordnungen auftreten werden. Denn anderenfalls führt eine solche Satzungsbestimmung dazu, dass der Aufsichtsrat sich häufiger mit Geschäften befassen muss, die isoliert betrachtet unproblematisch sind.538) § 111a Abs. 3 AktG enthält eine abschließende Aufzählung von weiteren Aus- 159 nahmen für bestimmte Arten von Geschäften. Besonders hervorzuheben sind die in Konzernverhältnissen geltenden Ausnahmen: Vom Zustimmungsvorbehalt ausgenommen sind nach § 111a Abs. 3 Nr. 1 AktG Geschäfte mit Tochterunternehmen, die unmittelbar oder mittelbar im hundertprozentigen Anteilsbesitz der Gesellschaft stehen oder an denen keine andere der Gesellschaft nahestehende Person beteiligt ist oder die ihren Sitz in der Europäischen Union haben und deren Aktien dort zum geregelten Handel zugelassen sind. Der Begriff des Tochterunternehmens wird auch hier nicht nach deutschem Konzernrecht, sondern nach Maßgabe der internationalen Rechnungslegungsstandards bestimmt. Tochterunternehmen sind danach solche Unternehmen, die durch ein anderes Unternehmen beherrscht werden, was jedenfalls bei einer Beteiligung von mehr als 50 Prozent anzunehmen ist.539) Eine korrespondierende Ausnahme für die Muttergesellschaft existiert allerdings nicht, sodass ein Geschäft zwischen (börsennotierter) Konzernmutter und (börsennotierter) Konzerntochter zwar nicht bei der Muttergesellschaft, wohl aber bei der Tochter___________ 536) Vgl. Florstedt, ZIP 2020, 1 (8). 537) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111a Rz. 20; Redeke/Schäfer/Troidl, AG 2020, 159 (164). 538) Hüffer/Koch, § 111a Rz. 14; Bungert/Berger, DB 2018, 2860 (2862); DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2019, 12 (17, Punkt 57). 539) Maßgeblich ist derzeit IFRS 10 (Anhang A Konzernabschlüsse): BeckOGK-AktG/Spindler/ Seidel, § 111a AktG Rz. 35; Hirte/Heidel/Heidel/Illner, § 111a Rz. 36; MünchKommAktGARUG II/Habersack, § 111a Rz. 35; Müller, ZIP 2019, 2429 (2432).

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gesellschaft einen Zustimmungsvorbehalt nach § 111b Abs. 1 AktG auslöst.540) Von besonderer praktischer Bedeutung ist zudem die in § 111a Abs. 3 Nr. 3 lit. a) Var. 2 und 3 AktG getroffene umfassende Ausnahme für Vertragskonzerne. Danach stellen der Abschluss eines Unternehmensvertrags sowie sämtliche Geschäfte auf dessen Grundlage keine Geschäfte mit nahestehenden Personen i. S. d. §§ 111a ff. AktG dar. Bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags sind somit alle konzerninternen Geschäfte ohne Weiteres nicht zustimmungsbedürftig, selbst wenn sie nicht auf einer Weisung der Konzernmutter nach § 308 Abs. 1 Satz 1 AktG beruhen.541) Im Übrigen sind folgende weitere Geschäfte ausgenommen: Geschäfte, die einer Zustimmung oder Ermächtigung der Hauptversammlung bedürfen (§ 111a Abs. 3 Nr. 2 AktG) oder die zur Umsetzung des betreffenden Hauptversammlungsbeschlusses vorgenommen werden (§ 111a Abs. 3 Nr. 3 lit. a) bis lit. f) AktG); Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung (§ 111a Abs. 3 Nr. 4 AktG); durch die Bankenaufsicht angeordnete Geschäfte von Kreditinstituten (§ 111a Abs. 3 Nr. 4 AktG); Geschäfte, die allen Aktionären unter den gleichen Bedingungen angeboten werden (§ 111a Abs. 3 Nr. 6 AktG). dd)

Ausübung des Zustimmungsvorbehalts

160 Ist der Schwellenwert des § 111b Abs. 1 AktG überschritten, verlangt das Gesetz die „vorherige Zustimmung“ des Aufsichtsrats.542) Wie beim regulären Zustimmungsvorbehalt ist es zulässig, dass der Vorstand das Geschäft mit dem Nahestehenden unter der aufschiebenden Bedingung der Zustimmung des Aufsichtsrats abschließt und der Aufsichtsrat erst nach der Abgabe der Willenserklärung durch den Vorstand entscheidet.543) 161 Stimmt der Aufsichtsrat im Plenum über die Zustimmung ab, sind gemäß § 111b Abs. 2 AktG diejenigen Aufsichtsratsmitglieder vom Stimmrecht ausgeschlossen, die an dem Geschäft als nahestehende Personen beteiligt sind oder bei denen die Besorgnis eines Interessenkonflikts aufgrund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person besteht. Ob die Besorgnis eines Interessenkonflikts besteht, ist rein objektiv zu bestimmen.544) Eine begründete Besorgnis besteht, wenn nicht auszuschließen ist, dass das Aufsichtsratsmitglied sein Stimmrecht ___________ 540) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a Rz. 35; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 17; Grigoleit/ Grigoleit, § 111a Rz. 125, 129; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 468; Lieder/Wernert, ZIP 2018, 2441. 541) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 82; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a AktG Rz. 38; Hüffer/Koch, § 111a Rz. 22; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 72; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111a Rz. 233 ff. 542) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 21; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 29 Rz. 74. 543) Grigoleit/Grigoleit, § 111b Rz. 28; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 74. 544) Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 482; Hirte/Heidel/Heidel/Illner, § 111b Rz. 101 f.

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unbefangen, unparteiisch und unbeeinflusst von seiner Beziehung zum Nahestehenden ausüben wird.545) Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn finanzielle Beziehungen aus mitgliedschaftlichen Beteiligungen eines Aufsichtsratsmitglieds an einer nahestehenden Person bestehen.546) Allerdings steht es dem Aufsichtsrat frei, die einen Interessenkonflikt indizierenden Kriterien selbst zu präzisieren.547) Die Beurteilung, ob die Besorgnis eines Interessenkonflikts besteht, ist jedenfalls keine unternehmerische Entscheidung und damit gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar.548) Den Aufsichtsrat trifft zwar grundsätzlich nicht die Pflicht, Beziehungen seiner Mitglieder zu nahestehenden Personen aktiv zu erforschen; offensichtlichen Anzeichen eines Interessenkonflikts muss er allerdings nachgehen.549) Das konfliktbefangene Aufsichtsratsmitglied ist im Übrigen aufgrund seiner Treuepflicht von sich aus verpflichtet, die Gründe für einen potenziellen Interessenkonflikt gegenüber dem Aufsichtsrat bzw. dessen Vorsitzenden offenzulegen.550) Der Aufsichtsrat kann gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG die Entscheidung über 162 die Zustimmung auf einen speziell hierfür bestellten „Related Party Transactions“-Ausschuss delegieren, der besonderen Regeln und Erleichterungen unterfällt (Æ Rz. 93). ee)

Veröffentlichungspflicht

Für Geschäfte, die dem Zustimmungserfordernis nach § 111b Abs. 1 AktG un- 163 terliegen, sieht § 111c AktG eine Veröffentlichungspflicht vor. Danach sind das Geschäft bzw. sämtliche Geschäfte, die aggregiert zur Überschreitung der Wesentlichkeitsschwelle führen, unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern, nach Abschluss des zustimmungspflichtigen Geschäfts bekanntzumachen. Als Geschäftsführungsangelegenheit obliegt die Veröffentlichung allein dem Vorstand.551) Handelt es sich bei dem Geschäft mit einer nahestehenden Person zugleich um eine publizitätspflichtige Insiderinformation nach Art. 17 i. V. m. ___________ 545) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 191; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111b Rz. 121. 546) Siehe RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 77 f. für eine Aufzählung weiterer praxisrelevanter Einzelfälle. 547) Dazu eignet sich etwa die Empfehlung der Kommission vom 15.02.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern/börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats (ABl L 52 vom 25.2.2005, S. 51); BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 28. 548) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 76, 85; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 186; BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 23; Henssler/Strohn/Paschos, § 111b AktG Rz. 15. 549) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 191; Goette/Arnold/M. Arnold, § 4 Rz. 484. 550) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111b AktG Rz. 23; Hüffer/Koch, § 111b Rz. 7. 551) Hüffer/Koch, § 111c Rz. 2; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 111c Rz. 45.

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Art. 7 MAR, ist eine separate Veröffentlichung nach § 111c AktG entbehrlich; gemäß § 111c Abs. 3 AktG sind jedoch in diesem Fall die nach § 111c Abs. 2 AktG erforderlichen Angaben in der Ad hoc Mitteilung gemäß Art. 17 MAR zu machen. Besonderheiten gelten gemäß § 111c Abs. 4 AktG außerdem für den Fall, dass ein Tochterunternehmen ein Geschäft mit einer Person abschließt, die dem Mutterunternehmen nahesteht. Um Umgehungsgestaltungen zu vermeiden, trifft das Mutterunternehmen auch in diesem Fall eine Veröffentlichungspflicht, sofern das Geschäft, wenn es vom Mutterunternehmen vorgenommen worden wäre, der Zustimmung des Aufsichtsrats bedurft hätte. g)

Widerruf der Bestellung und Kündigung

164 Als ultima ratio der Überwachungsmittel kann der Aufsichtsrat bei dem Vorliegen eines wichtigen Grundes die Bestellung des betreffenden Vorstandsmitglieds widerrufen und ggf. zusätzlich dessen Anstellungsvertrag kündigen (Æ Rz. 186 ff., 228 ff.). h)

Einberufung einer Hauptversammlung (§ 111 Abs. 3 AktG)

165 Gemäß § 111 Abs. 3 AktG ist der Aufsichtsrat berechtigt und verpflichtet („hat…einzuberufen“), eine Hauptversammlung einzuberufen, wenn das Wohl der Gesellschaft dies erfordert. Eine Einberufung der Hauptversammlung aus anderen Gründen durch den Aufsichtsrat ist nur dann möglich, wenn die Satzung dies gemäß § 121 Abs. 2 Satz 3 AktG bestimmt. Die Kompetenz des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 3 AktG besteht neben der allgemeinen Kompetenz des Vorstands zur Einberufung einer Hauptversammlung gemäß § 121 Abs. 1 Satz 1 AktG.552) Auch wenn er dies in der Praxis in aller Regel tun wird, ist der Aufsichtsrat deshalb nicht verpflichtet, vor einer eigenen Einberufung der Hauptversammlung den Vorstand zur Einberufung aufzufordern. 166 Eine Einberufung der Hauptversammlung durch den Aufsichtsrat kann nur dann zum Wohle der Gesellschaft erforderlich sein, wenn der maßgebliche Sachverhalt in die Kompetenz der Hauptversammlung fällt.553) Dazu zählt insbesondere die Einberufung der Hauptversammlung, um Vorstandsmitgliedern das Vertrauen zu entziehen und hierdurch einen wichtigen Grund für deren Abberufung gemäß § 84 Abs. 4 Satz 2 AktG zu schaffen (Æ Rz. 187)554), um eine er___________ 552) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 533; Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 16; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 73; MünchHdb. GesR IV/Bungert, § 36 Rz. 11. 553) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 18; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 78; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 48; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 74; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 104; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 45; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 71. 554) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 18; Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 16; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 30; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 137; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 105; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 71; zurückhaltender Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 534; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 74.

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forderliche Zustimmung der Hauptversammlung – etwa nach den Holzmüller/ Gelatine-Grundsätzen des BGH (Æ § 1 Rz. 169 ff.) – einzuholen555), bei einer drohenden Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft gemäß § 92 AktG556) oder wenn anderenfalls die ordentliche Hauptversammlung nicht in den ersten acht Monaten des Geschäftsjahres (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AktG) stattfinden würde. Zusätzlich muss die Ausübung der Einberufungskompetenz zur Vermeidung 167 einer Beeinträchtigung der Interessen der Gesellschaft erforderlich sein.557) Dies ist grundsätzlich nur der Fall, wenn der Vorstand eine notwendige Einberufung der Hauptversammlung unterlässt bzw. erkennen lässt, dass er die Hauptversammlung trotz einer entsprechenden rechtlichen Notwendigkeit nicht einberufen wird.558) Im Falle einer vom Aufsichtsrat beabsichtigten Entscheidung über einen Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung ist eine Einberufung durch den Aufsichtsrat nur dann notwendig, wenn mit einer Abberufung des jeweiligen Vorstandsmitglieds auf Basis eines Vertrauensentzugs zumutbarerweise nicht mehr bis zur nächsten ordentlichen Hauptversammlung zugewartet werden kann. Die Entscheidung über die Einberufung der Hauptversammlung obliegt dem 168 Aufsichtsratsplenum, das hierüber gemäß § 111 Abs. 3 Satz 2 AktG zwingend mit einfacher Mehrheit entscheidet. Eine Delegation der Entscheidung über die Einberufung auf einen Ausschuss ist gemäß § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG unzulässig. Die Durchführung der Einberufung kann hingegen auf einen Ausschuss oder auf eine einzelne Person – etwa den Aufsichtsratsvorsitzenden – übertragen werden.559) 4.

Überwachungsumfang

Der Umfang der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats wird maßgeblich durch 169 die Ziele einer möglichst effektiven Überwachung einerseits und das Verbot, dem Aufsichtsrat Maßnahmen der Geschäftsführung zu übertragen (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG), den Nebenamtscharakter des Aufsichtsratsamts (Æ Rz. 265) und den Grundsatz der kollegialen und vertrauensvollen Zusammenarbeit von Vorstand und Aufsichtsrat (Æ Rz. 266) andererseits bestimmt und geprägt. Aus diesen widerstreitenden Grundsätzen und Zielen ergibt sich ein flexibles System der Überwachungsintensität, welches generell von der Lage der Gesell___________ 555) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 18; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 534; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 79; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 49; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 105. 556) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 534; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 91. 557) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 105. 558) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 541; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 103. 559) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 546; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 107.

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schaft und im Speziellen von der Wichtigkeit des entsprechenden Überwachungsgegenstands abhängig ist.560) a)

Generelle Überwachungsintensität

170 Besteht keine besondere Gefährdungslage für die Gesellschaft, kommt der Aufsichtsrat seiner allgemeinen Überwachungspflicht durch sorgfältige Prüfung von Jahres- und Konzernabschluss einschließlich der Lageberichte, der Regelberichterstattung des Vorstands gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 AktG (Æ Rz. 113 ff.) sowie der ihm vom Vorstand bzw. vom Aufsichtsratsvorsitzenden vorgelegten Sonderberichte gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Abs. 1 Satz 3 AktG nach.561) Vorbehaltlich anderer Anhaltspunkte darf der Aufsichtsrat in diesem Zusammenhang auf die Richtigkeit der vom Vorstand gemachten Angaben vertrauen, sofern eine eigene Schlüssigkeitsprüfung ergibt, dass die vom Vorstand zur Verfügung gestellten Informationen einen angemessenen Umfang aufweisen sowie in sich konsistent und frei von Widersprüchen sind.562) Soweit der Vorstand Wertungen vornimmt oder geschäftliche Entscheidungen trifft und hierüber den Aufsichtsrat unterrichtet, muss der Aufsichtsrat außerdem darauf achten, dass die Begründung des Vorstands nachvollziehbar ist und der Tragweite der Wertung oder Entscheidung in Umfang und Detailtiefe gerecht wird.563) In Zweifelsfällen muss der Aufsichtsrat Nachfragen stellen, zusätzliche Informationen vom Vorstand verlangen oder selbst Dokumente der Gesellschaft einsehen.564) 171 Im Rahmen dieser allgemeinen Überwachungspflicht ist der Aufsichtsrat in der Regel nur dann gehalten, gegen Maßnahmen des Vorstands einzuschreiten, wenn er diese für rechtlich unvertretbar hält.565) Hält er bestimmte Maßnahmen des Vorstands für lediglich unzweckmäßig, kann und muss der Aufsichtsrat dies dem Vorstand selbstverständlich unter Darlegung der Gründe mitteilen.566) Er darf die Entscheidung des Vorstands jedoch in aller Regel nicht verhindern, da dies einen Eingriff in die ausschließliche Geschäftsführungskompetenz des Vorstands darstellen würde.567) Genauso wenig darf er seine Überwachungs___________ 560) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 299 f.; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 30. 561) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 45; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 250; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 72; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 55; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 28. 562) Cahn, WM 2013, 1293 (1298); Götz, AG 1995, 337 (350); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 20; Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1121 f.). 563) Vgl. Götz, AG 1995, 337 (350); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 21. 564) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 128 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 55; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 15. 565) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 45; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 93. 566) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 318 f.; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 50. 567) Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 45.

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pflicht willkürlich ganz erheblich verdichten, um den Vorstand in allen Fragen der Geschäftsführung zu kontrollieren oder ihm seinen Rat „aufzudrängen“.568) Die allgemeine Überwachungspflicht intensiviert sich jedoch insgesamt, wenn 172 sich die Gesellschaft in einer besonderen Gefährdungslage befindet oder sich eine erhebliche Verschlechterung der Lage der Gesellschaft abzeichnet.569) In diesem Fall muss der Aufsichtsrat seine Überwachungsintensität durch eine erhöhte Sitzungsfrequenz, eine intensivere Auseinandersetzung mit den Berichten des Vorstands und ggf. durch die Anforderung weiterer Berichte oder einer eigenen Einsichtnahme an die jeweilige besondere Gefährdungslage anpassen. Insbesondere wenn sich die besondere Gefährdungslage zu einer existenzbedrohenden Krise verdichtet, muss der Aufsichtsrat die Intensität ganz erheblich erweitern. Auch im Falle einer Krise darf der Aufsichtsrat zwar grundsätzlich nicht die Geschäfte der Gesellschaft führen, allerdings muss er – wenn er die Geschäftsführung des Vorstands für (lediglich) unzweckmäßig hält, um die Krise zu bewältigen – im Zweifel auch kurzfristig personelle Maßnahmen im Vorstand, sei es durch eine Abberufung und Neubestellung oder durch Änderung der Geschäftsverteilung, ergreifen. Außerdem hat er ein besonderes Augenmerk auf die Einhaltung der insolvenzrechtlichen Vorschriften zu legen und – sofern notwendig – insbesondere eine rechtzeitige Insolvenzanmeldung sicherzustellen. Nur im äußersten Notfall, insbesondere wenn eine rechtzeitige Umbesetzung des Vorstands nicht mehr möglich ist, kann er von seinem Recht zur zeitweiligen Entsendung eines Aufsichtsratsmitglieds in den Vorstand (§ 105 Abs. 2 AktG) Gebrauch machen. b)

Anpassung der Überwachungsintensität bei speziellen Überwachungsgegenständen

Auch wenn sich die Lage der Gesellschaft nicht zu einer besonderen Gefähr- 173 dungssituation verschärft, ist der Aufsichtsrat zu einer punktuellen Verdichtung seiner Überwachungspflichten verpflichtet, wenn dies ein bestimmtes Geschäft, eine bestimmte Maßnahme des Vorstands oder ein besonderer Sachverhalt gebietet. Generell gilt, dass sich der Aufsichtsrat mit einer bestimmten Maßnahme oder 174 einem bestimmten Geschäft umso intensiver beschäftigen muss, desto wesentlicher die Maßnahme oder das Geschäft für die Gesellschaft ist. Besonders wichtige Entscheidungen und Maßnahmen sowie Sachverhalte mit besonde___________ 568) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 319. 569) BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, ZIP 2007, 1056 (1060); OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11, AG 2012, 298 (300); OLG Hamburg, Urt. v. 12.1.2001 – 11 U 162/00, AG 2001, 359 (362); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 303; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 30; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 25; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 56; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 24; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 29; Wachter/Schick, § 111 Rz. 5.

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rer Risikoexposition für die Gesellschaft muss der Aufsichtsrat durch eine häufigere und intensivere Befassung eng begleiten.570) Dies bedingt, in einer häufigeren Frequenz Berichte des Vorstands über den entsprechenden Überwachungsgegenstand zu verlangen und diese Berichte nicht nur zu plausibilisieren, sondern einer intensiveren, eigenen Prüfung zu unterziehen.571) Im Zweifel sind Nachfragen zu stellen, weitere Berichte anzufordern oder eine eigene Einsicht in Bücher und Schriften der Gesellschaft vorzunehmen.572) In der Praxis wird der Aufsichtsrat diese Pflicht zur „engen Verfahrensbegleitung“ regelmäßig auf einen damit beauftragten Ausschuss übertragen. 175 Eine punktuelle Verdichtung der Überwachungspflichten ergibt sich zudem nach der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern ergeben (Æ Rz. 276 ff.). 176 Schließlich ändert sich der Überwachungsumfang punktuell bei der Ausübung von Zustimmungsvorbehalten.573) Geschäfte, über deren Zustimmung der Aufsichtsrat entscheidet, sind als eigene unternehmerische Entscheidungen des Aufsichtsrats anzusehen.574) Daher muss der Aufsichtsrat gemäß §§ 116, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Entscheidung auf einer Informationsgrundlage treffen, von deren Angemessenheit er ausgehen darf.575) Die Angemessenheit der Informationsgrundlage hängt vom Einzelfall ab und muss vom Aufsichtsrat im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung bewertet werden.576) Dabei sind allerdings auch der Nebenamtscharakter des Aufsichtsratsamts und die Tatsache, dass der Vorstand erstverantwortlich für die unternehmerische Entscheidung ist, zu berücksichtigen.577) Deshalb darf der Aufsichtsrat die Zustimmungsentscheidung regelmäßig auf Basis der Berichte des Vorstands über den Entscheidungsgegenstand treffen, soweit keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die zur Verfügung gestellten Informationen unvollständig oder unrichtig sind.578) Bei Entscheidungen von besonderer Tragweite für die Gesellschaft ___________ 570) OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11, AG 2012, 298 (300 f.); BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 29. 571) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 21; vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 136. 572) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 136. 573) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 21; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 101; Marsch-Barner/ Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 14, 26. 574) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 113; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 111 Rz. 276; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 101. 575) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 115; Brouwer, S. 256; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 667; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 97; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 48; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 144. 576) Brouwer, S. 257. 577) Brouwer, S. 256 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 144; siehe ferner GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 713. 578) Brouwer, S. 258; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 97; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 111 Rz. 111; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 27 Rz. 39; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 144.

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wird insoweit regelmäßig eine intensivere Befassung mit den zur Verfügung gestellten Berichten sowie deutlich eher eine Pflicht zur weiteren Beschaffung von Informationen bestehen als bei weniger wichtigen Entscheidungen. Soweit erforderlich sind auch Rechtsberater hinzuzuziehen.579) Eine weitere Folge der Qualifikation der Ausübung von Zustimmungsvorbehalten als unternehmerische Entscheidung ist, dass der Aufsichtsrat – anders als bei der regulären Überwachung des Vorstands – grundsätzlich auch seinen eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen gegenüber dem Vorstand Raum geben darf.580) Etwas Anderes gilt aber in Bezug auf Ad-hoc Zustimmungsvorbehalte, da es der Aufsichtsrat ansonsten in der Hand hätte, jede wichtige Entscheidung des Vorstands aus Zweckmäßigkeitserwägungen zu verhindern. Dies würde wiederum einen unzulässigen Eingriff des Aufsichtsrats in die unabhängige Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands darstellen. II.

Vertretungs- und Geschäftsführungsaufgaben

Grundsätzlich trennt das Aktiengesetz streng zwischen der allein dem Vorstand 177 zugewiesenen Geschäftsführung und deren Überwachung, die dem Aufsichtsrat in eigener Verantwortung obliegt. § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG stellt in diesem Sinne klar, dass dem Aufsichtsrat keine Maßnahmen der Geschäftsführung übertragen werden können. Nur in wenigen Ausnahmefällen sieht das Gesetz abweichend hiervon originäre Geschäftsführungszuständigkeiten des Aufsichtsrats vor. Für Geschäftsführungsmaßnahmen kommt dem Aufsichtsrat ein unternehmerischer Ermessenspielraum unter dem Haftungsfreiraum der Business Judgement Rule (Æ Rz. 284 ff.) zu.581) 1.

Personalkompetenz in Bezug auf den Vorstand

Wesentliche Geschäftsführungsaufgabe des Aufsichtsrats ist die Personalkom- 178 petenz in Bezug auf den Vorstand. Die Personalkompetenz des Aufsichtsrats umfasst sowohl das korporationsrechtliche Verhältnis (Bestellung und Widerruf der Bestellung) als auch das schuldrechtliche Verhältnis (Anstellung und Beendigung des Anstellungsverhältnisses) zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied. Zudem ist der Aufsichtsrat für sämtliche Entscheidungen über die Vergütung der Vorstandsmitglieder zuständig (§§ 87, 87a AktG).

___________ 579) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 125. 580) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 101. 581) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, ZIP 2006, 72 (74); BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (885 f.); Hüffer/Koch, § 116 Rz. 5; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 68; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 45; Wollburg, ZIP 2004, 646 (651).

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a)

Bestellung

179 Der Aufsichtsrat entscheidet gemäß § 84 Abs. 1 AktG über die Bestellung von Vorstandsmitgliedern. Durch die Bestellung tritt das bestellte Vorstandsmitglied in die Stellung als Organmitglied der Gesellschaft ein.582) Hierdurch werden ihm sämtliche organschaftlichen Rechte eingeräumt (insbesondere Leitungs-, Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis gemäß §§ 76 ff. AktG) und sämtliche organschaftlichen Pflichten (insbesondere die Sorgfalts-, Treueund Vertraulichkeitspflichten gemäß § 93 Abs. 1 AktG) auferlegt.583) Schuldrechtliche Ansprüche oder Rechte, insbesondere ein Anspruch auf Vergütung, erwachsen dem Vorstandsmitglied nicht aus dem Bestellungsverhältnis.584) Dies ist Gegenstand des Anstellungsverhältnisses (Æ Rz. 195). Das Vorstandsmitglied hat jedoch für die Dauer des Bestellungsverhältnisses grundsätzlich Anspruch auf den Abschluss eines Anstellungsvertrags zu angemessenen Bedingungen.585) 180 Für die Bestellung ist der Aufsichtsrat gemäß § 84 Abs. 1 AktG ausschließlich und höchstpersönlich zuständig.586) Er kann diese Kompetenz nicht auf einen Ausschuss delegieren (§ 107 Abs. 3 Satz 7 AktG), sondern muss als Plenum über die Bestellung entscheiden. Möglich und in der Praxis üblich587) ist es allerdings, einen (Personal-)Ausschuss mit der Vorbereitung von Bestellungsentscheidungen – insbesondere der Suche nach geeigneten Kandidaten – zu betrauen.588) Weder der Aufsichtsrat noch ein damit betrauter Ausschuss dürfen sich in Bezug auf die (Aus-)Wahl von Vorstandsmitgliedern gegenüber Dritten rechtlich binden.589) Eine faktische Einflussnahme auf den Aufsichts___________ 582) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 2; Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 7; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 17; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 3; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 3, 9; Ihrig/Schäfer, Rz. 80; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 14; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 6; Seyfarth, § 3 Rz. 1; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 5. 583) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 2; Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 39; Großkomm-AktG/ Kort, § 84 Rz. 17; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 3; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 3, 9 f.; Ihrig/ Schäfer, Rz. 80; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 14; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 6; Seyfarth, § 3 Rz. 85; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 5. 584) Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 53; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 19; Ihrig/Schäfer, Rz. 160; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 15; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 10; Seyfarth, § 3 Rz. 85. 585) Seyfarth, § 4 Rz. 2; siehe auch MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 17. 586) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 332, 334; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 9; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 7; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 12; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 27; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 5; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 19 f. 587) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 337. 588) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 32 f.; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 19; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 337; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 8; Fonk, in: Festschrift HoffmannBecking, S. 347 f. 589) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 15; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 9 f.; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 9; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 36; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 5; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 3.

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rat oder Ausschuss590) sowie Abreden zwischen Dritten – etwa Aktionären – ohne Beteiligung des Aufsichtsrats mit dem Ziel, sich für die Wahl bestimmter Vorstandskandidaten einzusetzen591), begegnen nach zutreffender Auffassung hingegen keinen rechtlichen Bedenken. In beiden Varianten bleibt der Aufsichtsrat rechtlich frei, über die Auswahl der aus seiner Sicht besten Kandidaten zu entscheiden; wegen seiner Sorgfalts- und Treuepflichten (Æ Rz. 263 ff., 292 ff.) ist er zudem verpflichtet, sachwidrigen Einflussnahmeversuchen Dritter nicht nachzugeben und über die (Aus-)Wahl der Vorstandsmitglieder im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund bedarf es keines weitergehenden Verbots von faktischen Einflussnahmen bzw. Verabredungen hierzu. Ebenfalls zulässig – und von B.2 DCGK 2022 empfohlen – ist eine (nicht bindende) Abstimmung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat (bzw. Personalausschuss) über mögliche Kandidaten und die für das Vorstandsamt erforderlichen Kompetenzen und Erfahrungen.592) Eine solche Abstimmung führt aber zu keinerlei Einschränkung der Entscheidungsbefugnis des Aufsichtsrats.593) Ob sich der Aufsichtsrat mit dem Vorstand abstimmen will oder ob und in welchem Maße er dessen Empfehlungen folgen möchte, steht vielmehr allein in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Aus diesem Grund kann den Vorstand – anders als teilweise behauptet594) – auch keine Mitverantwortlichkeit für die Auswahl und Bestellung von Vorstandsmitgliedern treffen. Über die Auswahl und Bestellung von Vorstandsmitgliedern entscheidet der 181 Aufsichtsrat im pflichtgemäßen Ermessen. Insoweit ist der Aufsichtsrat verpflichtet, sich ein Bild über in Frage kommende Kandidaten zu verschaffen und unter diesen den bzw. die am besten geeigneten Kandidaten auszuwählen. Maßgebliches Kriterium für die Bestellung eines Vorstandsmitglieds ist folglich dessen Kompetenz unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Ziele und Erfordernisse der jeweiligen Gesellschaft. Empfehlung B.1 DCGK 2022 sieht zudem vor, dass der Aufsichtsrat bei der Besetzung des Vorstands auf Diversität achten soll. Diese Vorgabe dürfte bei einer strikten Ausrichtung an der Kompetenz der zur Verfügung stehenden Kandidaten bereits erreicht werden. Die mit Empfehlung B.1 DCGK 2022 verbundene Appellfunktion kann aber dabei helfen, das Bewusstsein des Aufsichtsrats zu schärfen, bei der Suche nach geeigneten Kandidaten auch über den „Tellerrand“ hinauszusehen und Kandidaten in Betracht zu ziehen, die anderenfalls möglicherweise unberücksichtigt ___________ 590) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 17; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 335. 591) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 17. 592) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 36; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 10; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 84 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 13; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 10; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 336. 593) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 3; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 10; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 16, 18; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 336. 594) So aber: Lutter/Krieger/Verse, Rz. 336 m. w. N.

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geblieben wären. Das Ermessen des Aufsichtsrats findet seine Grenze in den allgemeinen Eignungsvoraussetzungen und Ausschlussgründen für die Mitgliedschaft im Vorstand (Æ § 1 Rz. 38 ff.) sowie in den allgemeinen Gesetzen, insbesondere dem – gemäß § 6 Abs. 3 AGG auch für Vorstandsmitglieder anwendbaren595) – AGG. 182 Jedes Aufsichtsratsmitglied ist berechtigt, Kandidaten für die Wahl in den Vorstand vorzuschlagen.596) Der Aufsichtsrat ist verpflichtet, über diese Vorschläge abzustimmen. Über die Bestellung von Vorstandsmitgliedern entscheidet der Aufsichtsrat grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln (zwingend597)) mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen.598) Anderes gilt in der nach dem Mitbestimmungsgesetz mitbestimmten Gesellschaft. Gemäß § 31 MitbestG erfolgt die Wahl von Vorstandsmitgliedern in diesem Fall in einem ggf. mehrstufigen Prozess. In einem ersten Wahlgang wählt der Aufsichtsrat die Vorstandsmitglieder gemäß § 31 Abs. 2 MitbestG mit einer Mehrheit von zwei Dritteln sämtlicher – also nicht nur der an der Beschlussfassung teilnehmenden – Mitglieder. Finden sämtliche zur Wahl gestellte Kandidaten – einschließlich von Wahlvorschlägen einzelner Aufsichtsratsmitglieder – nicht die erforderliche Mehrheit, muss der Vermittlungsausschuss (§ 27 Abs. 3 MitbestG) dem Aufsichtsrat binnen eines Monates einen Vorschlag für einen Kandidaten unterbreiten. Sobald dieser Vorschlag vorliegt oder wenn die Monatsfrist ergebnislos abgelaufen ist, entscheidet der Aufsichtsrat in einem zweiten Wahlgang über die Bestellung mit einfacher Mehrheit sämtlicher Mitglieder.599) In diesem Fall muss nicht zwingend ausschließlich über den vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Kandidaten entschieden werden. Vielmehr stellt § 31 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 MitbestG ausdrücklich klar, dass in diesem zweiten Wahlgang auch über andere Kandidaten abgestimmt werden kann. Auch für deren Wahl gilt das Quorum der einfachen Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Aufsichtsrats.600) Kommt auch im zweiten Wahlgang die erforderliche Mehrheit ___________ 595) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 343; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 12; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 17 ff. 596) MünchKommAktG/Annuß, § 31 MitbestG Rz. 7; Großkomm-AktG/Oetker, § 31 MitbestG Rz. 6; Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 31 Rz. 13. 597) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 11; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 13; Grigoleit/ Grigoleit, § 84 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 11 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 12; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 33; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 21. 598) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 348; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 22; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 11; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 13; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 12; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 33; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 21. 599) Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 31 Rz. 16; Habersack/Henssler/Habersack, § 31 MitbestG Rz. 21; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 352; Großkomm-AktG/Oetker, § 31 MitbestG Rz. 9. 600) Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 31 Rz. 16; Habersack/Henssler/Habersack, § 31 MitbestG Rz. 21; Großkomm-AktG/Oetker, § 31 MitbestG Rz. 11.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

nicht zustande, entscheidet der Aufsichtsrat erneut in einem dritten Wahlgang (§ 31 Abs. 4 MitbestG). Auch in diesem Wahlgang wird mit der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Aufsichtsrats entschieden, jedoch kommt dem Aufsichtsratsvorsitzenden bei dieser Beschlussfassung ein Zweitstimmrecht zu (§ 31 Abs. 4 Satz 1 MitbestG). Der dritte Wahlgang kann in derselben Sitzung wie der zweite Wahlgang erfolgen; eine zusätzliche Befassung des Vermittlungsausschusses ist nicht notwendig.601) Unabhängig von den Wahlmodalitäten setzt die Bestellung die Kundgabe des Bestellungsbeschlusses gegenüber dem Kandidaten sowie dessen Annahmeerklärung voraus.602) Die Wahl von Vorstandsmitgliedern kann gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG 183 höchstens für eine Amtszeit von fünf Jahren – ab Beginn der Amtszeit603) – erfolgen. Eine Wiederbestellung oder vorzeitige Verlängerung für maximal jeweils weitere fünf Jahre ist gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 AktG möglich und setzt gemäß § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG einen erneuten Aufsichtsratsbeschluss voraus, der frühestens ein Jahr vor Ablauf der laufenden Amtsperiode des jeweiligen Vorstandsmitglieds gefasst werden darf. Abweichend hiervon kann eine Verlängerung der Amtszeit auf insgesamt fünf Jahre auch ohne neuen Aufsichtsratsbeschluss vorgesehen werden, wenn das Vorstandsmitglied in der laufenden Amtsperiode auf weniger als fünf Jahre bestellt worden ist. Möglich ist dies etwa durch eine Regelung im ursprünglichen Bestellungsbeschluss, der eine automatische Verlängerung vorsieht, sofern der Aufsichtsrat nichts Anderes beschließt (sog. Widerspruchslösung).604) Praxishinweis: Soll ein Vorstandsmitglied bereits mehr als ein Jahr vor dem Ende 184 seiner gegenwärtigen Amtsperiode wiederbestellt werden, kann dies durch eine Amtsniederlegung des Vorstandsmitglieds verbunden mit einer Neubestellung durch den Aufsichtsrat erreicht werden. Die Zulässigkeit dieses Vorgehens war in Literatur und Rechtsprechung umstritten605), wurde zwischenzeitlich aber durch den BGH bestätigt.606) ___________ 601) Raiser/Veil/Jacobs, MitbestG, § 31 Rz. 16; Krieger, S. 108 f. 602) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 28; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 4; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 31; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 3; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 8; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 5. 603) Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 9; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 59; Henssler/Strohn/ Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 9; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 7; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 36; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 42; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 15; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 15. 604) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 55; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 19; Bürgers/ Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 10; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 109; Hölters/ Weber/Weber, § 84 Rz. 25; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 6; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 15. 605) Dafür etwa Bauer/Arnold, DB 2006, 260 (261); Bauer/Krets, DB 2003, 811 (817); Hölters/ Weber, AG 2005, 629 (631 ff.); Krieger, S. 125 ff. Dagegen etwa: Götz, AG 2002, 305 (306 f.); Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 43. Vermittelnd etwa Fleischer, DB 2011, 861 (862 ff.). 606) BGH, Urt. v. 17.7.2012 – II ZR 55/11, ZIP 2012, 1750 (1752 f.). Vgl. dazu ausführlich Wedemann, ZGR 2013, 316 ff.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

185 Bei einer fehlerhaften Bestellung ist zu unterscheiden: Ist die Entscheidung des Aufsichtsrats lediglich ermessensfehlerhaft, verstößt aber nicht gegen die Mindestvoraussetzungen für die Bestellung, gegen Bestellungshindernisse oder sonstige zwingend zu beachtende gesetzliche Regelungen, ist der Bestellungsbeschluss wirksam; die Bestellung kann in diesem Fall jedoch – sofern nicht der Haftungsfreiraum der Business Judgement Rule greift – zu einer Pflichtverletzung der Aufsichtsratsmitglieder führen. Verstößt der Beschluss hingegen gegen gesetzliche Regelungen oder erfüllt das gewählte Vorstandsmitglied die gesetzlichen Wählbarkeitsvoraussetzungen nicht bzw. liegen Bestellungshindernisse vor, ist der Beschluss nichtig.607) Gleiches gilt, wenn und sobald die Bestellungsvoraussetzungen nachträglich wegfallen bzw. nachträglich Bestellungshindernisse eintreten.608) Im Falle der Nichtigkeit des Bestellungsbeschlusses gelten die Regeln der fehlerhaften Organstellung.609) Demnach sind Beschlüsse und Maßnahmen unter Beteiligung eines fehlerhaft bestellten Vorstandsmitglieds in der Regel wirksam, die vor der Geltendmachung der Nichtigkeit erfolgt sind.610) b)

Beendigung der Bestellung

186 Der Aufsichtsrat kann die Bestellung eines Vorstandsmitglieds gemäß § 84 Abs. 4 Satz 1 AktG widerrufen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. § 84 Abs. 4 Satz 1 AktG ist zwingend; die Satzung kann daher weder die Anforderungen an den wichtigen Grund verschärfen noch den Widerruf der Bestellung ohne bzw. mit weniger gewichtigem Grund zulassen.611) Gleiches gilt für vertragliche Abreden mit dem Vorstandsmitglied.612) Für die Entscheidung über den Widerruf gelten dieselben Verfahrensregeln wie für die Bestellung.613) Demnach ist der Auf___________ 607) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 16; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 22; vgl. zu Gesetzes- oder Satzungsverstößen sowie Verstößen gegen wesentliche Verfahrensnormen Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 79. 608) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 265; Heidel/Oltmanns, § 76 Rz. 25; Hölters/Weber/ Weber, § 76 Rz. 79; Ihrig/Schäfer, Rz. 109; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 139; Seyfarth, § 3 Rz. 10; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 135; Wachter/Eckert, § 76 Rz. 35. 609) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 16; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 12 f.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 22; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 30; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 79 ff. 610) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 16; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 96 f.; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 84 Rz. 31 f.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 25; vgl. auch BGH, Urt. v. 6.4.1964 – II ZR 75/62, BGHZ 41, 282 (287). 611) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 129; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 40; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 52; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 68; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 120; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 45, 49. 612) Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 52; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 68; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 40; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 120; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 49. 613) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 38; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 50 f.; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 127 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 123 ff.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

sichtsrat als Gesamtorgan zuständig und kann die Entscheidung nicht delegieren (Æ Rz. 180). Im nach dem Mitbestimmungsgesetz mitbestimmten Aufsichtsrat ist gemäß § 31 Abs. 5 MitbestG das für die Bestellung geregelte Verfahren (Æ Rz. 182) in entsprechender Weise anzuwenden. Der Widerruf der Bestellung muss gegenüber dem Vorstandsmitglied erklärt werden und wird mit Zugang der Erklärung wirksam.614) Ein wichtiger Grund für die Abberufung liegt vor, wenn der Gesellschaft die 187 Amtsführung durch das Vorstandsmitglied bis zum regulären Ende des Bestellungszeitraums nicht mehr zugemutet werden kann.615) Als mögliche wichtige Gründe zählt § 84 Abs. 4 Satz 2 AktG beispielhaft – also nicht abschließend – eine grobe Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds, die Unfähigkeit des Vorstandsmitglieds zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung (diese kann auf mangelnder Kompetenz oder auf anderen Gründen, wie etwa einer langfristigen Krankheit oder Verhinderung, beruhen616)) und den Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung, sofern dieser nicht aus offensichtlich unsachlichen Gründen beschlossen wurde, auf. Zudem können etwa auch unüberbrückbare Differenzen zwischen dem Vorstandsmitglied, seinen Vorstandskollegen und/ oder dem Aufsichtsrat im Hinblick auf die strategische Ausrichtung der Gesellschaft oder wesentliche Fragen der Geschäftsführung,617) der Wunsch nach einer Verkleinerung des Vorstands (etwa um bei gleichzeitigen Massenentlastungen ein Zeichen zu setzen),618) eine Neuausrichtung der Strategie des Unternehmens, die den Geschäftsbereich des Vorstandsmitglieds obsolet macht,619) oder wiederholte Pflichtverletzungen, die für sich genommen nicht als grob anzusehen wären, als wichtige Gründe in Betracht kommen. In jedem Fall muss aber unter Berücksichtigung aller für und gegen die Abberufung sprechenden Gründe sorgfältig abgewogen werden, ob ein wichtiger Grund im konkreten ___________ 614) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 38; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 51; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 33; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 129; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 120, 126. 615) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211 (212); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 132; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 34; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 121. 616) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 138; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 135; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 49a; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 22; vgl. auch KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 84 Rz. 126; Seyfarth, § 19 Rz. 26. 617) Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 54; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 46; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 24; Krieger, S. 133; Seyfarth, § 19 Rz. 28; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 366. 618) Vgl. dazu OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.2.2015 – 5 U 111/14, NZG 2015, 514; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 365; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 121; die Beabsichtigung der Verkleinerung des Vorstands allein stellt allerdings keinen wichtigen Grund dar, siehe LG Frankfurt/M., Urt. v. 22.4.2014 – 3-05 O 8/14, ZIP 2014, 921 ff. („Commerzbank“); Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 174a; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 137. 619) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 366; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 121.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Einzelfall vorliegt.620) In diesem Zusammenhang ist auch die Dauer der verbleibenden Amtszeit zu berücksichtigen.621) Die Anforderungen an den wichtigen Grund für den Widerruf der Bestellung dürfen jedoch nicht überspannt werden, da die Bestellung nahezu ausschließlich die Rechtssphäre der Gesellschaft betrifft und insbesondere Vergütungs- und sonstige Gegenleistungsansprüche, die das Vorstandsmitglied für die Amtsführung erhält, nicht Gegenstand des Bestellungs-, sondern des Anstellungsverhältnisses sind.622) Die Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt, stellt eine rechtliche Beurteilung dar, sodass sie grundsätzlich gerichtlich voll überprüfbar ist.623) Allerdings können einige Elemente der Entscheidung auch prognostischen und damit unternehmerischen Charakter haben. Hierzu zählen etwa die Auswahl des vom Widerruf betroffenen Vorstandsmitglieds bei einer Verkleinerung des Vorstands oder die künftige Notwendigkeit eines bestimmten Geschäftsbereichs bei der Neuausrichtung der Unternehmensstrategie624). Soweit diese Elemente der Entscheidung betroffen sind, kommt dem Aufsichtsrat ein gerichtlich nur im Hinblick auf die Business Judgement Rule (Æ § 2 Rz. 25 ff.) überprüfbarer Ermessensspielraum zu. Zudem kommt dem Aufsichtsrat grundsätzlich ein Ermessensspielraum bei der Frage zu, ob er bei Vorliegen eines wichtigen Grundes eine Abberufung beschließen möchte oder nicht.625) 188 Praxishinweis: In der Praxis führt ein Widerruf der Bestellung regelmäßig faktisch zu einer dauerhaften Beendigung des Vorstandsamts. Dies beruht zum einen darauf, dass die Widerrufsentscheidung des Aufsichtsrats gemäß § 84 Abs. 4 Satz 4 AktG bis zur rechtskräftigen Feststellung der Unwirksamkeit als wirksam gilt und ___________ 620) Vgl. allgemein Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 53; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 36; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 131; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 108; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 365; ausdrücklich für betriebsbedingte Gründe Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 10. 621) Vgl. BGH, Urt. v. 7.6.1962 – II ZR 131/61, WM 1962, 811; OLG Stuttgart, Urt. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599 (603); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 132; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 131; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 69; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 365. 622) Ähnlich Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 9; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 39; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 52; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 131; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 53. 623) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.2.2015 – 5 U 111/14, ZIP 2015, 519 (521); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 84 Rz. 122; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 130; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 49; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 52; wohl a. A. Krieger, S. 138 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 374; zu berücksichtigen ist aber, dass eine ex ante ordnungsgemäß erfolgte Beurteilungsentscheidung im Hinblick auf die Frage, ob ein wichtiger Grund für die Abberufung vorliegt, zu einem Wegfall einer Schadensersatzpflicht führt, auch wenn ein Gericht ex post zu der Einschätzung gelangt, dass ein wichtiger Grund nicht vorlag und deswegen die Unwirksamkeit des Widerrufs der Bestellung feststellt. 624) Vgl. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 174a. 625) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 146; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 130; Seyfarth, § 19 Rz. 44; Krieger, S. 140 f.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

die maximal fünfjährige Amtszeit während der Dauer des Gerichtsverfahrens über die Wirksamkeit in vielen Fällen abläuft. Zum anderen ist auch eine einstweilige Verfügung gegen den Widerruf bzw. den drohenden Widerruf durch den Aufsichtsrat nicht zulässig, um den Aufsichtsrat vor einer Einflussnahme des Vorstands zu schützen.626) Zu beachten ist allerdings, dass die Schutzwirkung des § 84 Abs. 4 Satz 4 AktG regelmäßig nur auf die mit dem Begriff des wichtigen Grunds verbundenen Unsicherheiten gerichtet ist. In Fällen, in denen es schon nicht zu einer wirksamen Beschlussfassung an sich kam (insbesondere bei Formfehlern) gilt § 84 Abs. 4 Satz 4 AktG daher regelmäßig nicht; in diesen Fällen kann dem Vorstandsmitglied also etwa auch durch eine einstweilige Verfügung vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens wieder ins Amt verholfen werden.627) Neben einem Widerruf der Bestellung kann das Vorstandsamt nach allgemeiner 189 Meinung auch durch eine Niederlegungserklärung durch das Vorstandsmitglied selbst enden.628) Eine solche Erklärung ist gegenüber dem Aufsichtsrat zu erklären und kann formlos erfolgen.629) Empfangsvertretungsberechtigt ist jedes Aufsichtsratsmitglied.630) Das Vorstandsmitglied kann sein Amt nach umstrittener, aber zutreffender Auffassung auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grunds niederlegen.631) Die Gesellschaft ist bereits hinreichend dadurch geschützt, dass eine grundlose Amtsniederlegung in aller Regel einen Verstoß gegen die anstellungsvertraglichen Hauptleistungspflichten des Vorstandsmitglieds darstellen wird, der die Gesellschaft zur Kündigung aus wichtigem Grund (§ 626 BGB) und/oder zum Schadensersatz (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB) berechtigt.632) Unzulässig ist jedoch eine Amtsniederlegung zur Unzeit.633) ___________ 626) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 206; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 40, 42; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 54; vgl. zum Antrag gegen Einzelmitglied OLG München, Urt. v. 16.10.2013 – 7 U 3018/13, ZIP 2013, 2200. 627) OLG Köln, Urt. v. 28.2.2008 – 18 U 3/08, NZG 2008, 635; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 74. 628) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 54; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 62; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 222 ff.; Seyfarth, § 19 Rz. 70; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 175; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 377; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 67 f. 629) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 54; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 62; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 175; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 86; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 160; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 340. 630) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 54; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 175; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 44; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 86; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 160 Fn. 659, welcher den Zugang beim Aufsichtsratsvorsitzenden voraussetzt. 631) H. M. BGH Urt. v. 26.6.1995 – II ZR 109/94, ZIP 1995, 1334 (1335) – zur GmbH; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 54; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 199; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 62; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 160; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 68; a. A. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 224; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 35. 632) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 55; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 62. 633) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 55; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 62; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 160; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 45.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

190 Vorstandsmitglied und Aufsichtsrat können sich auch einvernehmlich auf die Beendigung der Bestellung einigen. Für die einvernehmliche Beendigung der Bestellung gelten die Verfahrensvorschriften für den Widerruf der Bestellung entsprechend, sodass zwingend ein Beschluss des Aufsichtsratsplenums erforderlich ist und bei nach dem MitbestG mitbestimmten Gesellschaften die Verfahrensvorgaben des § 31 MitbestG einzuhalten sind.634) Das Vorstandsmitglied kann sich nicht bereits im Anstellungsvertrag zu einer späteren einvernehmlichen Beendigung verpflichten, da dies faktisch zu einer (unzulässigen) Abbedingung des „wichtigen Grundes“ für den Widerruf der Bestellung führen würde. 191 Nach herrschender Meinung kann der Aufsichtsrat – als milderes Mittel gegenüber dem Widerruf der Bestellung – das Vorstandsmitglied auch für eine begrenzte Dauer635) suspendieren.636) Die Suspendierung kann einvernehmlich oder einseitig durch Beschluss des Aufsichtsrats erfolgen.637) Auch hier gelten die Verfahrensvorschriften für den Widerruf analog.638) Durch die Suspendierung wird dem Vorstand vorübergehend im Innenverhältnis die Befugnis zur Geschäftsführung, Leitung und (Aktiv-)Vertretung der Gesellschaft untersagt.639) Gleichzeitig wird das Vorstandsmitglied für die Dauer seiner Suspendierung von den korrespondierenden Sorgfaltspflichten befreit. Treue- und Verschwiegenheitspflichten bleiben aber bestehen. Da das Amtsverhältnis bestehen bleibt und die Suspendierung demnach nicht in das Handelsregister einzutragen ist640), hat die Suspendierung zum Schutz des Rechtsverkehrs im Außenverhältnis keine Wirkung.641) Insbesondere bleibt das Vorstandsmitglied ___________ 634) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 56; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 63; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 178; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 377; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 39; Krieger, S. 148. 635) Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 65; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 171; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 243 f.; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 57; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 89; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 75; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 381. 636) H. M. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 189; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 170 ff.; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 65; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 322; Heidel/Oltmanns, § 84 Rz. 29; Seyfarth, § 19 Rz. 80; a. A. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 157; kritisch i. E. auch Hüffer/Koch, § 84 Rz. 43. 637) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 194, 196; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 170 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 378, 382; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 76 f. 638) Vgl. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 194; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 240 f. 639) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 379; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 192; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 173; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 65; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 323; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 46; Seyfarth, § 19 Rz. 79. 640) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 192; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 255; BeckOGKAktG/Fleischer, § 84 Rz. 173; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 75; Fleischer/ Thüsing, § 5 Rz. 46; Seyfarth, § 19 Rz. 85; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 379. 641) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 192; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 323; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 57; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 90; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 65; Dörrwächter, NZG 2018, 54 (58).

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

empfangsvertretungsberechtigt und muss im Rahmen eines Rechtsstreits gegen die Gesellschaft als Vertreter der Gesellschaft ausgewiesen werden.642) Die Suspendierung setzt in der Regel einen wichtigen Grund, der auch zum Widerruf der Bestellung ausreichen würde, voraus.643) Allerdings ist eine Suspendierung abweichend hiervon auch dann zulässig, wenn ein konkreter Verdacht einer zum Widerruf der Bestellung berechtigenden Pflichtverletzung vorliegt und die Suspendierung der Aufklärung der Verdachtsmomente dient.644) Nicht möglich ist ein einseitiges Ruhenlassen des Amtes durch das Vorstands- 192 mitglied selbst. In dem Fall, dass es sich nicht in der Lage sieht, sein Amt ordnungsgemäß auszuüben, hat das Vorstandsmitglied sein Amt niederzulegen oder mit dem Aufsichtsrat eine einvernehmliche Suspendierung seiner Bestellung zu verabreden. Etwas anderes gilt allein in den von § 84 Abs. 3 AktG n. F. erfassten Lebenssachverhalten. c)

Ernennung eines Vorstandsvorsitzenden

Gemäß § 84 Abs. 2 AktG kann der Aufsichtsrat bei einem mehrköpfigen Vor- 193 stand einen Vorstandsvorsitzenden (Æ § 1 Rz. 42 ff.) ernennen. Der Aufsichtsrat ist nicht verpflichtet, einen Vorsitzenden zu ernennen, sondern dies steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen.645) Der DCGK 2022 geht in seinem Grundsatz 1 jedoch davon aus, dass börsennotierte Gesellschaften einen Vorstandsvorsitzenden oder Vorstandssprecher ernennen. Für die Ernennung und den Widerruf der Ernennung von Vorstandsvorsitzenden gelten im Wesentlichen die gleichen Regeln wie für die Bestellung und den Widerruf der Bestellung von Vorstandsmitgliedern.646) Praxishinweis: Trotz des insoweit missverständlichen Wortlauts des § 84 Abs. 2 194 AktG wird es nach herrschender Meinung zu Recht auch als möglich angesehen, ___________ 642) Vgl. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 253 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 379; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 84 Rz. 59; Seyfarth, § 19 Rz. 85. 643) So auch: OLG München I, Beschl. v. 17.9.1985 – 7 W 1933/85, AG 1986, 234 (235); MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 158; Krieger, S. 154; a. A. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 238. 644) Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 65; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 57; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 235; Krieger, S. 154; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 189; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 170 f.; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 20 Rz. 74; Ihrig/Schäfer, Rz. 150. 645) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 21; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 30; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 120; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 25; Hölters/ Weber/Weber, § 84 Rz. 57; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 24 Rz. 1; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 115; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 43; Seyfarth, § 3 Rz. 44; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 33. 646) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 118; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 56; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 44; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 96 f.; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 33.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

mehrere Co-Vorsitzende zu ernennen.647) Eine Ernennung mehrerer Vorsitzender kann etwa bei besonders großen Unternehmen, bei einer gesteigerten Notwendigkeit zur gegenseitigen Kontrolle, bei Joint Venture-Unternehmen gleichberechtigter Partner oder für eine Übergangszeit bei der Einführung eines Nachfolgers des bestehenden Vorsitzenden in der Praxis sinnvoll sein. In der Praxis hatte etwa die Deutsche Bank AG mit Herrn Fitschen und Herrn Jain in der Vergangenheit CoVorsitzende ernannt. d)

Anstellung

195 Das Anstellungsverhältnis regelt die schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Vorstandsmitglied und Gesellschaft und kommt durch Vertrag zustande. In der Regel handelt es sich dabei um einen Dienstvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat (§§ 611, 675 Abs. 1 BGB).648) Der Anstellungsvertrag begründet kein Arbeitsverhältnis, jedoch können im Einzelfall bestimmte Wertungen des Arbeitsrechts auf das Anstellungsverhältnis übertragen werden.649) Auch vor diesem Hintergrund bietet es sich in der Praxis an, die anstellungsvertraglichen Rechte des Vorstandsmitglieds möglichst umfassend im Anstellungsvertrag zu regeln.650) Typischerweise enthalten Vorstandsanstellungsverträge insbesondere Regelungen über Vergütung und Aufwendungsersatz, über Urlaub und sonstige Abwesenheitszeiten, über Alters-, Risiko- und Krankheitsvorsorge sowie D&O-Versicherung und Kostenerstattung in Rechtsfällen (zu den anstellungsvertraglichen Rechten und Pflichten der Vorstandsmitglieder Æ § 1 Rz. 446 ff.). Die anstellungsvertraglichen Pflichten des Vorstandsmitglieds sind bereits weitgehend durch das Organschaftsverhältnis determiniert: Das Vorstandsmitglied schuldet als anstellungsvertragliche Hauptleistungspflicht die ordnungsgemäße Ausübung des Vorstandsamts und muss daher auch auf Grundlage des Anstellungsvertrags sämtliche organschaftliche Sorgfalts, Treue- und Verschwiegenheitspflichten einhalten.651) Im Anstellungsvertrag können daneben jedoch noch weitere, nicht unmittelbar mit der Amtsausübung ___________ 647) H. M. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 116; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 28; Seyfarth, § 3 Rz. 44; Schmidt/Lutter/Seibt, § 77 Rz. 20a; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 96; a. A. Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 464; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 115. 648) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 13; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 18; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 271a; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 15; Hölters/ Weber/Weber, § 84 Rz. 33; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 14; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 386; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 1; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 59; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 26; Seyfarth, § 4 Rz. 3; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 26; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 17. 649) Zum Ganzen ausführlich Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 54 ff. 650) Vgl. Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 296 ff.; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 24. 651) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 430; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 23; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 52, 53; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 115; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 107; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 79; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 31.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

verbundene Pflichten geregelt werden, wie etwa nachvertragliche Wettbewerbsverbote652) oder die Pflicht zur Wahrnehmung weiterer Organmitgliedschaften (etwa in Tochter- oder Beteiligungsunternehmen)653). Praxishinweis: Die anstellungsvertragliche Bindung des Vorstandsmitglieds an die 196 organschaftlichen Pflichten ist von Bedeutung, wenn die Bestellung des Vorstandsmitglieds endet, der Anstellungsvertrag jedoch fortbesteht. In diesem Fall gelten sämtliche organschaftlichen Pflichten über den Anstellungsvertrag fort. Dies ist insbesondere für die Treue- und Verschwiegenheitspflichten relevant, die bei fortbestehendem Anstellungsvertrag nicht nur in abgeschwächter Form als nachwirkende Treue- und Verschwiegenheitspflichten, sondern vollumfänglich fortgelten. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das organschaftlich ausgeschiedene, aber weiterhin angestellte Vorstandsmitglied seinen Vergütungsanspruch gegen die Gesellschaft behält, muss das Gleiche auch für das organschaftliche Wettbewerbsverbot gemäß § 88 AktG gelten. Für den Abschluss des Anstellungsvertrags ist gemäß §§ 112, 84 Abs. 1 Satz 1, 197 Satz 5 AktG grundsätzlich der Aufsichtsrat der Gesellschaft zuständig. Der Aufsichtsrat entscheidet hierüber nach den allgemeinen Regeln durch Beschluss mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dies gilt auch in nach dem MitbestG mitbestimmten Gesellschaften; § 31 MitbestG ist auf das Anstellungsverhältnis nicht anwendbar.654) Die Entscheidung über den Abschluss und die Änderung des Anstellungsver- 198 trags kann zwar grundsätzlich auf einen Ausschuss des Aufsichtsrats übertragen werden, weil die in § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG aufgeführten Delegationsverbote weder § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG noch § 112 AktG erfassen.655) Allerdings sind sämtliche Vergütungsentscheidungen gemäß §§ 107 Abs. 3 Satz 7, 87 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 2 AktG nicht delegierbar, sodass jedenfalls die Kompetenz zum erstmaligen Abschluss eines Anstellungsvertrags faktisch nicht einem Ausschuss zur Entscheidung übertragen werden kann.656) Grundsätzlich möglich ist jedoch die Übertragung der Entscheidungsbefugnis über nicht vergütungsbezogene Änderungen des Anstellungsvertrags.657) Doch auch ein insoweit zur Entscheidung befugter Ausschuss darf in Ausübung dieser Kompetenz nicht mittelbar in die – gemäß §§ 107 Abs. 3 Satz 7, 84 Abs. 1 Satz 1 AktG ebenfalls nicht delegierbare – Bestellungskompetenz des Aufsichtsrats eingreifen. Der Aus___________ 652) Hierzu ausführlich etwa: Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 108 ff.; Großkomm-AktG/Kort, § 88 Rz. 136 ff.; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 122 f.; MünchKommAktG/Spindler, § 88 Rz. 49 ff. 653) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 432; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 53; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 40; Seyfarth, § 4 Rz. 57 f. 654) KK-AktG/Mertens/Cahn, MitbestG § 31 Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 387; Seyfarth, § 4 Rz. 25; Habersack/Henssler/Habersack, § 31 Rz. 37, 41. 655) So im Ergebnis auch Lutter/Krieger/Verse, Rz. 389. 656) Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 36; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 22; BeckOGKAktG/Fleischer, § 84 Rz. 37; vgl. auch Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 289a. 657) Hüffer/Koch, § 84 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 390; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 28; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 21.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

schuss darf deswegen insbesondere keine Regelungen zur (Ressort-)Zuständigkeit des Vorstandsmitglieds oder Möglichkeiten zur Beendigung des Anstellungsvertrags vor Ende des Bestellungsverhältnisses vereinbaren.658) Möglich und in der Praxis üblich ist daneben die Übertragung der Kompetenz zur Vorbereitung und Verhandlung des Anstellungsvertrags auf einen Ausschuss.659) 199 Nach umstrittener, aber zutreffender Auffassung kann das Vorstandsmitglied anstatt mit der Gesellschaft auch mit einem Anderen – etwa dem herrschenden Unternehmen in einem Konzern oder einer Agentur für Interim-Manager – einen Anstellungsvertrag vereinbaren (sog. Drittanstellungsvertrag).660) Die Argumentation der Gegenauffassung, ein Drittanstellungsvertrag sei mit der in §§ 112, 84 Abs. 1 Satz 5 AktG geregelten Kompetenzzuweisung an den Aufsichtsrat unvereinbar und gefährde die Unabhängigkeit des Vorstandsmitglieds, kann im Ergebnis nicht überzeugen. Die Kompetenzzuweisung in §§ 112, 84 Abs. 1 Satz 5 AktG betrifft nur das Innenverhältnis der Gesellschaft und kann die Vertragsautonomie des Vorstandsmitglieds und des Dritten als solche nicht beschränken. Eine rechtliche Gefährdung der Unabhängigkeit ist mit dem Drittanstellungsvertrag nicht verbunden, da die organschaftliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit des Vorstandsmitglieds gemäß § 76 AktG nicht abbedungen werden kann und entgegenstehende Regelungen nichtig sind. Mit Blick auf die faktische Gefahr einer Beeinflussung des Vorstandsmitglieds durch den Dritten und die Pflicht des Aufsichtsrats, für die Angemessenheit der Vorstandsvergütung Sorge zu tragen (Æ Rz. 205 ff.), bedarf der Drittanstellungsvertrag jedoch der Zustimmung des Aufsichtsrats der Gesellschaft.661) Das Vorstandsmitglied ist vor diesem Hintergrund verpflichtet, den Aufsichtsrat über einen von ihm abgeschlossenen Drittanstellungsvertrag zu informieren.662) ___________ 658) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 391; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 291 f.; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 49; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 72. 659) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 392; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 15; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 75; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 22; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 37; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 50. 660) Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 29; Ihrig/Schäfer, Rz. 180; Krieger, S. 186 f.; ders., in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 711 (714 f.); Marsch-Barner/Schäfer/M. Arnold/C. Arnold, § 21 Rz. 179; Jooß, NZG 2011, 1130 (1131); Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 20; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 437 ff. In diesem Sinne auch KG, Urt. v. 28.6.2011 – 19 U 11/11, NZG 2011, 2059; OLG Celle, Urt. v. 10.2.2010 – 4 U 68/09, AG 2012, 41 (41 f.); a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 56; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 79; Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 68. 661) Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 40; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 450; Krieger, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 711 (718 f.); MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 5; Austmann, ZGR 2009, 277 (288 f.). 662) Vgl. auch Lutter/Krieger/Verse, Rz. 450: „Desweiteren lässt die Verantwortung des Aufsichtsrats für die Bestellung der Vorstandsmitglieder und für die Vergütungsstruktur des Vorstands einen Drittanstellungsvertrag nur zu, wenn der Aufsichtsrat den Vertragsinhalt kennt und seinem Abschluss zustimmt.“.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Gleiches gilt für Änderungen bestehender Drittanstellungsverträge663) und für Abreden mit Dritten in Bezug auf die Ausübung des Vorstandsamts, die neben einen Anstellungsvertrag mit der Gesellschaft treten. Der Anstellungsvertrag kann gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 5 Halbs. 1 AktG 200 maximal für die Dauer von fünf Jahren abgeschlossen werden. Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 5 Halbs. 2 AktG kann jedoch vorgesehen werden, dass der Anstellungsvertrag im Falle einer Wiederbestellung für die Dauer der Verlängerung der Amtszeit fort gilt (sog. Verlängerungsklausel). Umgekehrt ist es auch möglich, eine sog. Kopplungsklausel zu vereinbaren. Durch die Kopplungsklausel wird das Schicksal des Anstellungsvertrags an die Bestellung des Vorstandsmitglieds geknüpft; endet somit die Bestellung (etwa durch Widerruf oder Niederlegung), endet automatisch auch die Anstellung.664) Möglich ist es auch, modifizierte Kopplungsklauseln zu vereinbaren, die entweder nur unter besonders festgelegten Umständen der Beendigung des Bestellungsverhältnisses – etwa dann, wenn ein dem Vorstandsmitglied vorwerfbares Verhalten zur Beendigung des Vorstandsamts geführt hat – auch zur Beendigung des Anstellungsvertrags führen oder die mit der vorzeitigen Beendigung des Vertrags aufgrund der Kopplungsklausel eine Abfindungszahlung verbinden665). Letzteres wird in der Praxis zu dem Zweck vorgesehen, eine durchsetzbare Regelung zur Umsetzung des Abfindungs-Caps der Empfehlung G.13 DCGK 2022 zu schaffen.666) Bei der Vertragsgestaltung ist zu berücksichtigen, dass die Vereinbarung einer unbedingten Kopplungsklausel aus AGB-rechtlicher Sicht teilweise als problematisch angesehen wird.667) Teilweise wird schließlich vertreten, es könne vereinbart werden, dass sich ein Anstellungsverhältnis bei Beendigung des Bestellungsverhältnisses in ein reguläres Arbeitsverhältnis umwandle.668) Ob eine solche Umwandlung möglich ist, erscheint – jedenfalls wenn dieser Klausel nicht zusätzlich der Vorstand der Gesellschaft zustimmt – indes zweifelhaft, da der Aufsichtsrat nicht für den Abschluss von Arbeitsverhältnissen mit der Gesellschaft zuständig ist. Der Anstellungsvertrag bedarf keiner besonderen Form.669) In der Praxis werden 201 Anstellungsverträge in aller Regel schriftlich geschlossen. Allerdings sind auch ___________ 663) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 450; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 5; Krieger, S. 186 f.; ders., in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 711 (720). 664) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 46; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 42; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 336, 572; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 83; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 77; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 29. 665) Lutter, BB 2009, 1874 (185). 666) Vgl. hierzu: Lutter, BB 2009, 1874 (185). 667) Vgl. zum Ganzen etwa Werner, NZA 2015, 1234 (1237 ff.) und jüngst Tödtmann/v. Erdmann, NZG 2022, 3. 668) Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 61; im Einzelnen kritischer MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 30. 669) Fleischer/Thüsing, § 4 Rz. 72.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

mündliche Nebenabreden, die lediglich in einem Beschluss des Aufsichtsrats zum Ausdruck kommen und von den Vorstandsmitgliedern stillschweigend akzeptiert werden, nicht unüblich. 202 Ist der Anstellungsvertrag nichtig, wird aber gleichwohl vollzogen, gelten nach der Rechtsprechung des BGH regelmäßig die Grundsätze des fehlerhaften Arbeitsverhältnisses.670) Demnach wird ein nichtiger, aber vollzogener Anstellungsvertrag für die Vergangenheit grundsätzlich als wirksam betrachtet; für die Zukunft kann jede Vertragspartei den fehlerhaften Anstellungsvertrag durch einfache Erklärung beenden.671) e)

Vergütung

203 Der Aufsichtsrat entscheidet gemäß § 87 Abs. 1 AktG auch über die Festsetzung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern. Auch wenn § 87 Abs. 1 AktG insoweit von „Festsetzung“ spricht und dem Aufsichtsrat damit grundsätzlich (auch) die Kompetenz zur einseitigen Bestimmung der Vergütung von Vorstandsmitgliedern zuweist, wird die Vergütung in aller Regel – auch mit Blick auf die Mannesmann-Rechtsprechung des BGH (Æ Rz. 214 ff.) – im Rahmen des Anstellungsvertrags mit dem Vorstandsmitglied ausgehandelt. aa)

Zuständigkeit des Plenums; Delegation; Vergütungsberater

204 Über die Festsetzung der Vergütung entscheidet gemäß § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG zwingend das Plenum des Aufsichtsrats. Möglich ist es hingegen, die Vorbereitung der Vergütungsentscheidung auf einen Ausschuss zu übertragen.672) Zieht der Aufsichtsrat für die Entwicklung des Vergütungssystems einen Vergütungsberater hinzu, empfiehlt G.5 DCGK 2022, dass dieser unabhängig von Vorstand und Unternehmen ist. bb)

Angemessenheits- und Üblichkeitsgebot

205 Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG hat der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Gesamtbezüge dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den ___________ 670) BGH, Urt. v 3.7.2000 – II ZR 282/98, AG 2001, 44 (für die GmbH); OLG Schleswig, Urt. v. 16.11.2000 – 5 U 66/99, AG 2001, 651 (653); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 93; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 250; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 84 Rz. 57; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 55; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 27; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 33 f. 671) ErfK-ArbR/Preis, § 611a BGB, Rz. 147; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 252; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 316 f. 672) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 27; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 99; Hüffer/Koch, § 107 Rz. 28; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 101; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 10; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 107; Semler/v. Schenck/Mutter, § 107 Rz. 340; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 99 f.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen (Angemessenheitsgebot) und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen (Üblichkeitsgebot). § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG ist auf den Schutz der Gläubiger und Aktionäre der Gesellschaft gerichtet und daher als Obergrenze zu verstehen; eine Abweichung nach unten ist ohne Weiteres zulässig.673) Zu berücksichtigen ist die Gesamtvergütung des Vorstandsmitglieds, also alle Leistungen, die er mit Rücksicht auf sein Vorstandsamt als Vergütung erhält. Dies umfasst auch solche Vergütungsbestandteile, die das Vorstandsmitglied für die Ausübung von Leitungspositionen in Beteiligungsunternehmen der Gesellschaft erhält.674) Eine Ausdehnung des Angemessenheits- und des Üblichkeitsgebots auch auf Leistungen von Konzernmutterunternehmen, Großaktionären oder sonstigen Dritten ist nach richtiger Auffassung hingegen mit Blick auf den dargestellten Schutzzweck nicht geboten.675) Die im Rahmen des Angemessenheitsgebots zu berücksichtigenden Umstände 206 (Aufgaben, Leistungen, Lage der Gesellschaft) sind in Form einer Gesamtschau des Einzelfalls zu bewerten. Mit Aufgaben meint § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG die dem individuellen Vorstandsmitglied zugewiesenen Tätigkeitsgebiete. Hiermit sind insbesondere die jeweiligen Ressorts, die das Vorstandsmitglied verantwortet, sowie etwaige Sonderaufgaben, wie der Vorsitz im Vorstand, angesprochen.676) Im Rahmen der Bestimmung der Angemessenheit sind insoweit Art und Umfang der zugewiesenen Tätigkeit sowie die damit verbundene Verantwortung zu berücksichtigen.677) Unter Leistungen des Vorstandsmitglieds sind zunächst besondere Erfolge, die das Vorstandsmitglied für die Gesellschaft erzielt hat, zu verstehen.678) Daneben können aber auch Leistungen, die das Vor___________ 673) OLG Stuttgart, Urt. v. 13.3.2002 – 20 U 59/01, AG 2003, 211 (213); Raapke, S. 122; Fleischer, DStR 2005, 1279; Grigoleit/Schwennicke, § 87 Rz. 3; Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 7; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 1; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 1; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 4; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 40; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 1; Thüsing, ZGR 2003, 457 (459). 674) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 99; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 87 Rz. 3; Ihrig/Wandt/Wittgens, Beilage ZIP 40/2012, 1 (7); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 402; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 54; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 10; Schwark, in: Festschrift Raiser, S. 377 (380). 675) Str., so auch: Hohaus/Weber, DStR 2008, 104 (105); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 402, 427; Traugott/Grün, AG 2007, 761 (768 f.); a. A. Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 10; Selzner, AG 2013, 818 (822). 676) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 12; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 45; Seyfarth, § 5 Rz. 55; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 16; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 14. 677) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 12; E. Meyer, S. 183; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 42; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 45; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 16. 678) Grigoleit/Schwennicke, § 87 Rz. 9; Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 56, 58; Hölters/ Weber/Weber, § 87 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 13; MünchKommAktG/ Spindler, § 87 Rz. 49; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 19; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 16; a. A. MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 43.

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standsmitglied in vorangegangenen Tätigkeiten (in anderer Funktion oder für eine andere Gesellschaft) erbracht hat,679) sowie sonstige besondere Qualifikationen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die Einfluss auf den „Marktwert“ des individuellen Vorstandsmitglieds haben, für die Bestimmung der Angemessenheit herangezogen werden.680) Die Vergütung muss sich außerdem nicht zwingend an in der Vergangenheit liegenden besonderen Leistungen des Vorstandsmitglieds orientieren, sondern besondere Leistungen können – wie dies auch in der Praxis üblich ist – durch entsprechende Zielparameter im Rahmen variabler Vergütungsbestandteile zukunftsgerichtet in der Gesamtvergütung berücksichtigt werden.681) Die Lage der Gesellschaft meint die wirtschaftliche Gesamtsituation des Unternehmens, also nicht nur dessen absolute Größe, sondern auch die gegenwärtige und erwartete Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage der Gesellschaft.682) Die Lage abhängiger Unternehmen kann ebenfalls berücksichtigt werden, sofern das Vorstandsmitglied auch konzernleitende Aufgaben wahrnimmt.683) Auf die Lage der Muttergesellschaft kommt es für die Beurteilung der Angemessenheit nicht an, da der Zweck des Angemessenheitsgebots, wie dargestellt, allein auf den Schutz der Gläubiger und Aktionäre der Gesellschaft gerichtet ist.684) Dies verbietet es aber gleichwohl nicht per se, Vergütungsparameter am Erfolg des Mutterunternehmens auszurichten, sofern die Vergütung unter Berücksichtigung der Lage der (abhängigen) Gesellschaft angemessen ist und die ansonsten hierfür bestehenden Voraussetzungen gegeben sind.685) Befindet sich die Gesellschaft in der Krise, bedeutet dies nicht zwingend, dass die Vorstandsvergütung sinken muss; vielmehr wachsen in der Krisensituation die Verantwortung und regelmäßig auch die Arbeitsbelastung der Vorstandsmitglieder, sodass unter Berücksichtigung der dann bestehenden gewich___________ 679) Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 21; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 13; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 50; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 19; Wachter/ Eckert, § 87 Rz. 16. 680) So im Ergebnis auch: Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 59; Henssler/Strohn/DaunerLieb, AktG § 87 AktG Rz. 17; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 27; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 87 Rz. 14; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 43; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 48; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 25. 681) Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 57; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 10, KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 87 Rz. 13; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 49; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 19; a. A. Seyfarth, § 5 Rz. 56; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 16. 682) Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 65; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 15; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 25; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 11; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 44; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 53; Seyfarth, § 5 Rz. 57; BeckOGKAktG/Fleischer, § 87 Rz. 20; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 17. 683) Hüffer/Koch, § 87 Rz. 11; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 44; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 87 Rz. 20; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 17. 684) Vgl. MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 44. 685) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 412 m. w. N.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

tigeren Aufgaben trotz der schlechteren Lage der Gesellschaft durchaus auch eine höhere Vergütung als in der Normalsituation angemessen sein kann.686) Nach dem Üblichkeitsgebot muss der Aufsichtsrat bei der Vergütung zusätz- 207 lich darauf achten, dass die Vergütung im Branchen-, Größen- und Landesvergleich nicht unüblich hoch ist (horizontaler Vergleich).687) Zusätzlich zu diesem Kriterium soll die Vergütung ausweislich der Gesetzesmaterialien auch nicht außerhalb jeden Verhältnisses zum Lohn- und Gehaltsgefüge innerhalb der Gesellschaft stehen (vertikaler Vergleich).688) Dabei kann nicht jede Abweichung zum Marktvergleich zu einer Unüblichkeit der Vergütung führen, da anderenfalls das Unternehmen, das am Markt die höchsten Vergütungen zahlt, immer gegen das Üblichkeitsgebot verstoßen würde. Deswegen ist nur dann von einer Überschreitung des Üblichkeitsgebots auszugehen, wenn die Vergütung evident und erheblich höher ist als der Marktvergleich bzw. völlig außerhalb jeden Verhältnisses zu den sonst im Unternehmen geleisteten Lohn- und Gehaltszahlungen liegt.689) Eine Überschreitung der Üblichkeit ist zulässig, sofern besondere Gründe vorliegen. Ein besonderer Grund kann darin liegen, dass der Aufsichtsrat die begründete Erwartung hat, dass das konkrete Vorstandsmitglied nicht zu einer üblichen Vergütung gewonnen werden kann.690) Ebenso rechtfertigt ein insgesamt besonders hohes Lohn- und Gehaltsgefüge im Unternehmen, auch für die Vorstandsmitglieder eine über der Üblichkeit liegende Vergütung zu leisten. Schließlich können auch Sondersituationen der Gesellschaft (etwa eine Krise oder eine Übernahmesituation) oder im Marktvergleich besonders umfangreiche und/oder verantwortungsvolle Aufgaben sowie im Marktvergleich besonders herausgehobene Leistungen des Vorstands___________ 686) So im Ergebnis auch: Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 77; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 26; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 9; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 403; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 44; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 55; BeckOGKAktG/Fleischer, § 87 Rz. 20; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 17. 687) Begr. RegEntw. zum VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 5; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 119 f.; Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 82; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 19; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 22; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 12; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 404; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 45; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 57; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 17; Seyfarth, § 5 Rz. 61; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 22; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 20. 688) Begr. RegEntw. zum VorstAG, BT-Drucks. 16/12278, S. 5; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; GroßkommAktG/Kort, § 87 Rz. 90; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 20; Hölters/ Weber/Weber, § 87 Rz. 23; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 12; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 404; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 45; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 60; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 17; Seyfarth, § 5 Rz. 62; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 23; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 21. 689) In diesem Sinne auch Raapke, S. 144. 690) Vgl. Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 95; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 59; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 22.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

mitglieds eine Abweichung vom Üblichen rechtfertigen.691) In jedem Fall muss aber das Angemessenheitsgebot gewahrt bleiben.692) cc)

Zusätzliche Anforderungen für börsennotierte Gesellschaften

208 Bei börsennotierten Gesellschaften muss sich die Vergütung zusätzlich an einer nachhaltigen und langfristigen Entwicklung der Gesellschaft ausrichten, § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG. Variable Vergütungsbestandteile müssen deshalb gemäß § 87 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 AktG eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Die variable Vergütung muss dabei so ausgestaltet werden, dass im Bemessungszeitraum sowohl positive als auch negative Entwicklungen der Gesellschaft berücksichtigt werden. Welche konkreten Geschäftszahlen (etwa Jahresergebnis, EBIT, EBITDA, Eigenkapitalverzinsung) oder sonstigen Parameter (Kundenzufriedenheit, Marktanteile etc.) für die Bestimmung der Höhe der variablen Vergütung herangezogen werden, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats.693) Im Hinblick auf die Dauer werden in der Literatur Bemessungszeiträume zwischen zwei und fünf Jahren als maßgeblich angesehen.694) Zur Ausrichtung an der nachhaltigen Unternehmensentwicklung erscheint nach der hier vertretenen Auffassung ein Bemessungszeitraum von unter drei Jahren als in der Regel unangemessen kurz.695) § 87 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 AktG verbietet nicht, zusätzlich zu den langfristigen Erfolgsparametern auch kurzfristige Ziele bei der Höhe der variablen Vergütung zu berücksichtigen; allerdings muss gewährleistet bleiben, dass die Vorstandsmitglieder trotz der kurzfristigen Ziele auch zur Erfüllung der langfristigen Ziele incentiviert bleiben.696) In der Regel sollte daher die langfristige variable Vergütungskomponente betragsmäßig rund der Hälfte der gesamten variablen Vergütung entsprechen, um dem Kriterium der Nachhaltigkeit zu genügen.697) Zulässig ist es auch, anstelle von konkreten ___________ 691) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 18; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 24. 692) MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 56. 693) Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 36; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 409 f.; MünchKommAktG/ Spindler, § 87 Rz. 82; vgl. auch MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 51. 694) Grigoleit/Schwennicke, § 87 Rz. 22; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 37; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 30; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 51; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 93; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 24; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 39; Wachter/ Eckert, § 87 Rz. 26. 695) So auch: Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 37; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 51; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 93; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 24; Seyfarth, § 5 Rz. 68; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 39. 696) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 139; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 29; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 408; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 51; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 25; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 41; Wachter/ Eckert, § 87 Rz. 25. 697) Vgl. hierzu etwa Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (722).

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Zielen eine variable Vergütung zu vereinbaren, deren Höhe im Ermessen des Aufsichtsrats liegt (sog. Ermessenstantieme).698) Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 AktG muss der Aufsichtsrat zusätzlich auch gewährleisten, dass die Vergütung für den Fall außerordentlicher Entwicklungen eine Begrenzungsmöglichkeit enthält (Cap). Die Art und Weise der Begrenzung liegt im Ermessen des Aufsichtsrats.699) Eine im Vorhinein feststehende betragsmäßige Obergrenze der Vergütung ist ebenso denkbar wie eine von bestimmten Bedingungen abhängige oder im Ermessen des Aufsichtsrats stehende Begrenzungsmöglichkeit.700) Nach Empfehlung G.13 DCGK 2022 soll überdies darauf geachtet werden, dass Zahlungen an ausscheidende Vorstandsmitglieder bei vorzeitiger Beendigung des Vorstandsanstellungsvertrags auf den Wert von zwei Jahresvergütungen begrenzt werden (Abfindungs-Cap) und nicht mehr als die Restlaufzeit des Anstellungsvertrags vergüten. Ein nach dieser Maßgabe vereinbartes Abfindungs-Cap wird im Rahmen einvernehmlicher Beendigungen von Vorstandsanstellungsverträgen in der Praxis keine Rolle spielen, da das Vorstandsmitglied bei einer länger als zwei Jahre fortdauernden Vertragslaufzeit einer vorzeitigen Beendigung nicht zustimmen wird, wenn weniger als die volle Restlaufzeit des Vertrags vergütet werden soll.701) Relevant wird das Abfindungs-Cap hingegen bei Sonderkündigungsrechten des Vorstandsmitglieds oder der Gesellschaft, die eine Abfindungsleistung vorsehen.702) Zudem kann eine modifizierte Kopplungsklausel (Æ Rz. 200) eine Durchsetzbarkeit des Abfindungs-Cap sicherstellen.703) dd)

Folgen eines Verstoßes gegen § 87 Abs. 1 AktG

Die Formulierung des § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG („Der Aufsichtsrat hat … dafür 209 zu sorgen“) zeigt, dass es sich bei § 87 Abs. 1 AktG um eine Ausgestaltung der Pflichten des Aufsichtsrats und nicht um eine Wirksamkeitsvoraussetzung ___________ 698) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Kubis, § 3 Rz. 77; Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 127; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 28; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 69; MünchKommAktG/ Spindler, § 87 Rz. 118; Wollburg, ZIP 2004, 646 (652 f.). 699) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum VorstAG, BT-Drucks. 16/13433, S. 10; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 23; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 39; Seyfarth, § 5 Rz. 71; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 45; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 27. 700) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 162; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 87 Rz. 9b; Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 147, 258a; Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 39; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 406; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 97; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 87 Rz. 26; Seyfarth, § 5 Rz. 71. 701) Vgl. Dörrwächter/Trafkowski, NZG 2007, 846 (848); Hoffmann-Becking, ZIP 2007, 2101 (2105 f.); Hüffer/Koch, § 87 Rz. 22; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 420; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 33; Seyfarth, § 21 Rz. 44. 702) Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 33. 703) Lutter, BB 2009, 1874 (1875).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

für Vergütungsabreden handelt. Ein Verstoß gegen § 87 Abs. 1 AktG führt deshalb in der Regel nicht zu einer Unwirksamkeit der entsprechenden Vergütungsvereinbarung.704) Etwas Anderes gilt, wenn die Vergütung derart hoch bemessen ist, dass die Schwelle der Sittenwidrigkeit erreicht ist.705) Eine unangemessen hohe oder unübliche Vergütung kann jedoch zu einer Haftung der Aufsichtsratsmitglieder führen.706) 210 Praxishinweis: Im Rahmen der Prüfung möglicher Schadensersatzansprüche ist zu berücksichtigen, dass dem Aufsichtsrat bei der Ausgestaltung der Vergütung ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum zukommt, der nur in den Grenzen der Business Judgement Rule (Æ Rz. 284 ff.) überprüft werden kann.707) Dieser Beurteilungs- und Ermessenspielraum gilt auch im Rahmen der Angemessenheitsund der Üblichkeitsprüfung, weil es sich sowohl bei der Angemessenheit als auch bei der Üblichkeit der Vergütung um Wertungsgesichtspunkte handelt, die weitgehend einer subjektiven Interpretation zugänglich sind. Der Aufsichtsrat kann daher bei der Festlegung der Vergütung eine Haftung vermeiden, wenn er eine angemessene Informationsgrundlage insbesondere in Bezug auf die in § 87 Abs. 1 AktG genannten Kriterien schafft, diese bei seiner Entscheidung berücksichtigt und die Entscheidung einschließlich der ermessens- und beurteilungsleitenden Erwägungen schriftlich dokumentiert. Bei börsennotierten Gesellschaften kann er für die Ermittlung der Üblichkeit insbesondere auch die auf den Internetseiten der Unternehmen öffentlich zugänglichen Vergütungsberichte gemäß § 162 AktG vergleichbarer Unternehmen heranziehen.708) ee)

Herabsetzung der Vergütung gemäß § 87 Abs. 2 AktG

211 Gemäß § 87 Abs. 2 AktG kann und „soll“ der Aufsichtsrat die Vergütung der Vorstandsmitglieder herabsetzen, wenn sich die Lage der Gesellschaft nach der Festsetzung der Vergütung so verändert, dass die Weitergewährung der Bezüge unbillig für die Gesellschaft wäre. Ausweislich der Gesetzesmaterialen liegt eine Verschlechterung der Lage der Gesellschaft in diesem Sinne vor, wenn die ___________ 704) Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 46; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 142; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 87 Rz. 5; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 36; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 64; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797 (798). 705) Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 46; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 142; Hüffer/ Koch, § 87 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 36; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 64; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797 (798); U.H. Schneider, ZIP 1996, 1769 (1770). 706) Hölters/Weber/Weber, § 87 Rz. 46; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 47; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 5; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 37; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 64; Hoffmann-Becking, NZG 1999, 797 (798); Reichert/Ullrich, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 1017 (1020 ff.). 707) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 (216); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 46; Schmidt/Lutter/Seibt, § 87 Rz. 16; Grigoleit/Schwennicke § 87 Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 406; Fleischer, BB 2010, 67 (70); Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127 (128); ders, ZHR 169 (2005), 155 (157 f.). 708) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 403 f.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Gesellschaft in die Insolvenz oder Krise gerät oder wenn – kumulativ – Entlassungen oder Lohnkürzungen vorgenommen werden müssen und keine Gewinne mehr ausgeschüttet werden können.709) Unbillig ist die Weitergewährung der vollen Bezüge in diesem Fall, wenn das fragliche Vorstandsmitglied die Verschlechterung der Lage der Gesellschaft zu verantworten hat, entweder weil dieses sie verursacht hat oder sie jedenfalls in seine Amtszeit fiel.710) § 87 Abs. 2 AktG gibt dem Aufsichtsrat ein einseitiges Gestaltungsrecht zur 212 Abänderung des Anstellungsvertrags, ohne dass dies im Wortlaut des Anstellungsvertrags umgesetzt werden müsste. Dem Vorstand steht im Falle der Reduktion seiner Vergütung aber gemäß § 87 Abs. 2 Satz 4 AktG ein Sonderkündigungsrecht zu, das dieser mit einer Frist von sechs Wochen zum nächsten Kalendervierteljahr ausüben kann. Die Herabsetzung der Bezüge wirkt nur für die Zukunft, bereits erdiente Vergütungsansprüche können nicht reduziert werden.711) Besondere Regelungen ergeben sich gemäß § 87 Abs. 2 Satz 2 AktG für Ruhegehalt, Hinterbliebenenversorgung und Leistungen verwandter Art, die nur in den ersten drei Jahren nach dem Ausscheiden aus dem Vorstand herabgesetzt werden können. Ob der Aufsichtsrat die Vergütung herabsetzt, steht in seinem pflichtgemäßen 213 Ermessen. Dabei darf der Aufsichtsrat insbesondere dann von einer Reduktion der Vergütung absehen, wenn er auf die weitere Amtsführung des Vorstandsmitglieds angewiesen ist und er mit einer Ausübung des Sonderkündigungsrechts gemäß § 87 Abs. 2 Satz 4 AktG rechnen muss.712) ff)

Verbot kompensationsloser Anerkennungsprämien (Mannesmann-Rechtsprechung)

Nach der sogenannten Mannesmann-Rechtsprechung des BGH darf der Auf- 214 sichtsrat – unter Strafandrohung nach Maßgabe von § 266 StGB – den Vorstandsmitgliedern im Nachhinein keine Leistungen zuwenden, die dienstvertraglich nicht geschuldet sind, die ausschließlich belohnenden Charakter haben und dem Unternehmen keinen zukunftsbezogenen Nutzen bringen (sog. kompensationslose Anerkennungsprämien).713) Diese Rechtsprechung wird ___________ 709) BT-Drucks. 16/12278, S. 6; vgl. auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 72. 710) BT-Drucks. 16/12278, S. 6; Grigoleit/Schwennicke, § 87 Rz. 37; Seibert, WM 2009, 1489 (1491). 711) Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 431; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 207; BeckOGKAktG/Fleischer, § 87 Rz. 72; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87 AktG Rz. 39; Bauer/ Arnold, AG 2009, 717 (728); Koch, WM 2010, 49 (56); Diller, NZG 2009, 1006 (1008). 712) Bauer/Arnold, AG 2009, 717 (727); Ihrig/Wandt/Wittgens, Beilage ZIP 40/2012, 1 (22); Waldenberger/Kaufmann, BB 2010, 2257 (2261); DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2009, 612 (614, Punkt 18). 713) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 Leitsatz 1.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

in der aktienrechtlichen Literatur richtigerweise weitgehend als zu streng angesehen714), sollte in der Praxis mit Blick auf die mit einer Nichteinhaltung verbundenen, möglichen strafrechtlichen Folgen aber gleichwohl beachtet werden. 215 Auch nach der Rechtsprechung des BGH ist eine nachträgliche, dienstvertraglich nicht geschuldete Prämie jedoch zulässig, wenn sie einen zukunftsbezogenen Nutzen für die Gesellschaft hat, der in einem angemessenen Verhältnis zu den gewährten Leistungen steht.715) Ein solcher kann insbesondere in einer Anreizwirkung für das bedachte Vorstandsmitglied oder für andere gegenwärtige oder potentielle Führungskräfte oder auch in einer positiven Außenwirkung der Sonderzahlung liegen.716) Einer besonderen Rechtfertigung bedürfen vor diesem Hintergrund Zahlungen an kurzfristig ausscheidende Vorstandsmitglieder, da die Anerkennungsprämie für diese Vorstandsmitglieder nach der Mannesmann-Rechtsprechung keine (wesentliche) Anreizwirkung mehr entfalten kann717). Die dienstvertraglich nicht geschuldete Anerkennungsprämie ist in diesem Zusammenhang folglich nur zulässig, wenn eine Anreizwirkung für andere Führungskräfte entsteht oder sonstige Vorteile der Gesellschaft damit verbunden sind, die in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe der geleisteten Prämie stehen. 216 Praxishinweis: Die Mannesmann-Rechtsprechung verbietet keine Anerkennungsprämien, die im Vorstandsanstellungsvertrag angelegt sind.718) Vor diesem Hintergrund bietet es sich im Rahmen der Vertragsgestaltung an, den expliziten Hinweis aufzunehmen, dass der Aufsichtsrat zur Leistung nachträglicher Anerkennungsprämien berechtigt ist. Eine entsprechende Klausel könnte etwa wie folgt lauten: „Der Aufsichtsrat kann dem Vorstandsmitglied zur Würdigung außergewöhnlicher Leistungen eine Sonderprämie zuwenden. Über die Sonderprämie und dessen Höhe entscheidet der Aufsichtsrat unter Beachtung von § 87 Abs. 1 AktG im freien Ermessen.“

___________ 714) Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127 (131); ders., ZHR 169 (2005), 155 (161 ff.); MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 121; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 35 f.; Fonk, NZG 2005, 248 (249 ff.); Baums, in: Festschrift Huber, S. 656 (659 ff.); Kort, NJW 2005, 333 f.; vgl. zur Zulässigkeit nachträglicher Anerkennungsprämien auch Wollburg, ZIP 2004, 646, passim. 715) BGH, Urt. v. 21.12.2005 –3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 (216), Rz. 7. 716) BGH, Urt. v. 21.12.2005 –3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 (216), Rz. 10; MünchKommAktG/Spindler, § 87 Rz. 122; Hüffer/Koch, § 87 Rz. 19; vgl. auch Poguntke, ZIP 2011, 893 (896 f.); kritisch Martens, in: Festschrift Westermann, S. 1191 (1194). 717) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 (216), Rz. 1. 718) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 (216), Rz. 6.

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gg)

Festlegung eines Vergütungssystems durch den Aufsichtsrat; Beschlussfassung der Hauptversammlung über das Vergütungssystem (Say-on-Pay)

Seit Einführung des ARUG II719) sind Aufsichtsräte von börsennotierten Un- 217 ternehmen gemäß § 87a AktG verpflichtet, ein klares und verständliches System zur Vergütung der Vorstandsmitglieder zu beschließen. § 87a Abs. 1 Satz 2 AktG stellt dabei einen Katalog an Elementen auf, die das Vergütungssystem enthalten muss. Hierzu zählen insbesondere die Festlegung einer Maximalvergütung, der Beitrag der Vergütung zur Geschäftsstrategie, alle festen und variablen Vergütungsbestandteile und ihr jeweiliger relativer Anteil an der Vergütung, die finanziellen und nichtfinanziellen Leistungskriterien, Aufschubzeiten für die Auszahlung von Vergütungsbestandteilen sowie Möglichkeiten der Gesellschaft, variable Vergütungsbestandteile zurückzufordern (sog. Claw-Back Regelungen720)). Gemäß § 120a Abs. 1 AktG muss das Vergütungssystem für Vorstandsmitglieder 218 in börsennotierten Gesellschaften der Hauptversammlung bei jeder wesentlichen Änderung, mindestens jedoch alle vier Geschäftsjahre,721) zur Billigung vorgelegt werden (sog. Say-on-Pay). Als wesentliche Änderung werden insbesondere Änderungen der Festvergütung,722) der Höchstgrenzen für die Fixvergütung oder die variable Vergütung723) oder der Wartefristen für aktienbezogene Vergütungsbestandteile724) genannt. Bei nicht börsennotierten Gesellschaften kann eine § 120a AktG nachbildende Kompetenz der Hauptversammlung in der Satzung vorgesehen werden.725) Vorlageberechtigt und -verpflichtet ist allein der Aufsichtsrat.726) Diesem ob- 219 liegt gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG die alleinige Zuständigkeit und Verpflichtung zur Unterbreitung eines Beschlussvorschlags.727) Aktionäre können ___________ 719) Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrichtlinie (ARUG II) v. 12.12.2019, BGBl I 2019, 2637. 720) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87a Rz. 23; Hirte/Heidel/Lochner/Beneke, § 87a Rz. 16; Goette/Arnold/C. Arnold, § 4 Rz. 1511 ff. 721) Grigoleit/Herrler § 120a Rz. 16; Hüffer/Koch, § 120a Rz. 4; Heldt, AG 2018, 905 (908). 722) Schmidt/Lutter/Spindler, § 120a Rz. 7; Goette/Arnold/C. Arnold, § 4 Rz. 1830. 723) MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 5; Anzinger, ZGR 2019, 39 (78 f.); Spindler, AG 2020, 61 (73); a. A. Hüffer/Koch, § 120a Rz. 4. 724) Hölters/Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 3; Schmidt/Lutter/Spindler, § 120a Rz. 7. 725) So auch Schmidt/Lutter/Spindler, § 120a Rz. 5; Grigoleit/Herrler § 120a Rz. 36; Hüffer/ Koch, § 120a Rz. 1; MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 27. 726) Goette/Arnold/C. Arnold, § 4 Rz. 1824; Hölters/Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 4; Hüffer/ Koch, § 120a Rz. 4; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 58; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373 (378). 727) BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 120a Rz. 22; Goette/Arnold/Gärtner, § 4 Rz. 1826; Grigoleit/ Herrler § 124 Rz. 16.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

aus eigener Initiative keine Beschlussfassung herbeiführen. Ein Minderheitsverlangen nach § 122 Abs. 1 und 2 AktG ist nicht zulässig.728) 220 Die Beschlusskompetenz der Hauptversammlung beschränkt sich auf die Billigung oder Nichtbilligung des vom Aufsichtsrat vorgelegten Vergütungssystems.729) Gemäß § 120a Abs. 1 Satz 2 AktG ist der Beschluss der Hauptversammlung rein deklaratorisch und hat keine rechtliche Bindungswirkung.730) Die Billigung des Vergütungssystems führt deshalb nicht zu einer Haftungsentlastung des Aufsichtsrats gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 1 AktG.731) Der Beschluss der Hauptversammlung ist überdies nicht anfechtbar.732) 221 Billigt die Hauptversammlung das Vergütungssystem nicht, ist der Aufsichtsrat nicht gehindert, das Vergütungssystem dennoch anzuwenden. § 87a Abs. 2 Satz 1 AktG verlangt insoweit nur, dass das angewandte Vergütungssystem der Hauptversammlung einmal vorgelegen hat. Es ist nicht erforderlich, dass das Vergütungssystem auch gebilligt wurde.733) Rechtsfolge einer Nichtbilligung ist gemäß § 120a Abs. 3 AktG, dass der Aufsichtsrat spätestens in der nächsten ordentlichen Hauptversammlung ein überprüftes System vorzulegen hat. Überprüft bedeutet zwar nicht zwingend überarbeitet.734) In der Praxis wird der Aufsichtsrat allerdings bei einer Nichtbilligung durch die Hauptversammlung das Vergütungssystem regelmäßig inhaltlich überarbeiten.735) Das überprüfte Vergütungssystem muss bei Vorlage gemäß § 87a Abs. 1 Nr. 11 lit. a AktG alle wesentlichen Änderungen gegenüber dem abgelehnten System erläutern. Nach § 87a Abs. 1 Nr. 11 lit. b AktG muss es ferner eine Übersicht enthalten, inwieweit die Abstimmung und Äußerungen der Aktionäre berücksichtigt wurden. ___________ 728) Goette/Arnold/Gärtner, § 4 Rz. 1824; MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 8. 729) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 92; Hüffer/Koch, § 120a Rz. 5; Hölters/Weber/ Drinhausen, § 120a Rz. 4; Herrler, ZHR 184 (2020), 408 (427 f.). 730) MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 12 ff.; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 120a Rz. 24; Hölters/Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 5; Hüffer/Koch, § 120a Rz. 5; Henssler/Strohn/ Liebscher, § 120a AktG Rz. 5; Grigoleit/Herrler § 120a Rz. 24; Schmidt/Lutter/Spindler, § 120a Rz. 13. 731) Schmidt/Lutter/Spindler, § 120a Rz. 16; Grigoleit/Herrler § 120a Rz. 24; Henssler/Strohn/ Liebscher, § 120a AktG Rz. 5; MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 12; Hüffer/Koch, § 120a Rz. 5. 732) MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 17; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 120a Rz. 26; Grigoleit/Herrler § 120a Rz. 31; Hölters/Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 5; Hüffer/Koch, § 120a Rz. 6. 733) BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 120a Rz. 40; Hölters/Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 7; Herrler, ZHR 184 (2020), 408 (435). 734) Vgl. RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 93 f.; Hirte/Heidel/Krenek, § 120a Rz. 16; Hölters/ Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 7; Hüffer/Koch, § 120a Rz. 9; Schmidt/Lutter/Spindler, § 120a Rz. 8. A. A. MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 21. 735) MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 59; Florstedt, ZIP 2020, 1 (2); Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373 (379).

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Bei der konkreten Vergütungsfestsetzung muss der Aufsichtsrat gemäß § 87a 222 Abs. 2 Satz 1 AktG nicht notwendig das letzte der Hauptversammlung vorgelegte Vergütungssystem zugrunde legen. Lagen der Hauptversammlung bereits mehrere Vergütungssysteme zur Billigung vor, entscheidet der Aufsichtsrat vielmehr im Einzelfall im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens, welches Vergütungssystem er anwendet.736) Der Aufsichtsrat darf von einem Vergütungssystem gemäß § 87a Abs. 2 Satz 2 223 AktG in Ausnahmefällen vorübergehend abweichen, wenn das Vergütungssystem ein Abweichungsverfahren vorsieht und die Bestandteile des Vergütungssystems benennt, von denen abgewichen werden kann. Dabei muss das Vergütungssystem etwa durch eine Aufzählung von Fällen jedenfalls „umreißen“,737) wann eine Abweichung im Interesse des langfristigen Wohlergehens der Gesellschaft notwendig ist.738) Dies ist nach der Gesetzesbegründung nur in Ausnahmesituationen der Fall, insbesondere wenn die Rentabilität und Tragfähigkeit der Gesellschaft auf lange Sicht durch eine Finanz- oder Unternehmenskrise bedroht wird.739) Unter diesen Voraussetzungen besteht die Möglichkeit der Abweichung auch für eine von der Hauptversammlung nach §§ 87 Abs. 4, 122 Abs. 2 Satz 1 AktG herabgesetzte Maximalvergütung.740) Praxishinweis: Weil die Gesetzesbegründung eine sehr restriktive Interpretation 224 der materiellen Voraussetzungen für eine Abweichungsmöglichkeit nach § 87a Abs. 2 Satz 2 AktG nahelegt,741) bietet es sich in der Praxis an, das Vergütungssystem flexibel auszugestalten, um einen Rückgriff auf § 87a Abs. 2 Satz 2 AktG soweit wie möglich entbehrlich zu machen.742) So könnte ein Vergütungssystem etwa eine Öffnungsklausel743) oder andere Gestaltungsmöglichkeiten vorsehen, die den Aufsichtsrat berechtigen, von einzelnen Vergütungskomponenten – ohne Vorliegen eines Ausnahmezustands – abzuweichen. f)

Beendigung des Anstellungsverhältnisses

Das Anstellungsverhältnis endet nicht automatisch mit dem Wegfall der Bestel- 225 lung. Dessen Schicksal richtet sich vielmehr ausschließlich nach den schuld___________ 736) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87a Rz. 30; Hirte/Heidel/Lochner/Beneke, § 87a Rz. 27; Goette/Arnold/C. Arnold, § 4 Rz. 1367; Diekmann, BB 2018, 3010 (3011); Spindler, AG 2020, 61 (68); kritisch Grigoleit/Grigoleit/Kochendörfer, § 87a Rz. 87; Bachmann/Pauschinger, ZIP 2019, 1 (6); Herrler, ZHR 184 (2020), 408 (436). 737) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 75. 738) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 87a AktG Rz. 12; Hirte/Heidel/Lochner/Beneke, § 87a Rz. 28; MünchKommAktG-ARUG II/Spindler, § 87a Rz. 39; v. Zehmen, BB 2021, 628 (636). 739) RegEntw. BT-Drucks. 19/9739, S. 75. 740) MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 61. 741) Zur Kritik am restriktiven Verständnis der Gesetzesbegründung: Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2020, 313 (321). 742) Goette/Arnold/C. Arnold, § 4 Rz. 1373; Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373 (380). 743) Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373 (380); kritisch zur Zulässigkeit solcher Klauseln Grigoleit/ Grigoleit/Kochendörfer, § 87a Rz. 116.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

rechtlichen Abreden zwischen den Parteien. Möglich ist allerdings die Vereinbarung einer sog. Kopplungsklausel im Anstellungsvertrag, nach der mit Beendigung der Bestellung – ggf. unter zusätzlichen Bedingungen – auch der Anstellungsvertrag automatisch erlischt (Æ Rz. 200).744) Im Übrigen endet der Anstellungsvertrag regelmäßig mit dem Ablauf der Vertragsdauer. Eine vorzeitige Beendigung des Anstellungsverhältnisses kann einseitig durch Kündigung oder im gegenseitigen Einvernehmen durch Aufhebungsvertrag erfolgen. aa)

Kündigung des Anstellungsvertrags durch die Gesellschaft

226 Zuständig für die Kündigung des Anstellungsverhältnisses durch die Gesellschaft ist der Aufsichtsrat.745) Eine Delegation dieser Zuständigkeit auf einen Ausschuss ist prinzipiell möglich, darf aber nicht zu einer Präjudizierung der Entscheidung über den Widerruf der Bestellung führen, da hierüber der Aufsichtsrat gemäß § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG zwingend als Plenum entscheiden muss. Eine Kündigung kann daher erst dann durch einen Ausschuss ausgesprochen werden, wenn das Plenum zuvor den Widerruf der Bestellung beschlossen hat.746) 227 Eine ordentliche Kündigung des Vorstandsanstellungsvertrags ist aufgrund dessen zwingender Befristung (Æ Rz. 200) gemäß § 620 Abs. 1 BGB grundsätzlich nicht vorgesehen, kann aber vertraglich vereinbart werden.747) Spricht der Aufsichtsrat die ordentliche Kündigung aus, ohne dass auch das Bestellungsverhältnis endet, lebt der Anspruch des Vorstandsmitglieds auf Abschluss eines angemessenen Anstellungsvertrags (Æ Rz. 179) wieder auf.748) Deshalb ergibt eine ordentliche Kündigung in aller Regel nur dann Sinn, wenn auch das Bestellungsverhältnis endet.749)

___________ 744) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 46; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 42; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 336, 572; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 83; Schmidt/Lutter/ Seibt, § 84 Rz. 77; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 29. 745) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 180; 146; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 48; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 166; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 59; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 68; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 92; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 438. 746) MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 167; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 128; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 48; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 534; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 93; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 68; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 438. 747) MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 142; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 110; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 173; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 202; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 55; Krieger, S. 181. 748) Nach anderer Auffassung ist die ordentliche Kündigung bereits unzulässig, sofern nicht auch das Bestellungsverhältnis beendet werden kann: BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 202; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 74; Steinbeck/Menke, DStR 2003, 940 (941); Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 444; Krieger, S. 181. 749) In diese Richtung Krieger, S. 181 f.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Eine außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrags ist auch ohne ge- 228 sonderte Vereinbarung möglich. Die Kündigung richtet sich nach § 626 BGB750); eine Anwendung von § 627 BGB kommt nicht in Betracht.751) Die außerordentliche Kündigung setzt einen wichtigen Grund voraus. Ein 229 wichtiger Grund liegt vor, wenn unter Abwägung der Interessen der Gesellschaft an einer vorzeitigen Beendigung und derjenigen des Vorstandsmitglieds am Fortbestand des Vertrags der Gesellschaft ein Festhalten am Vertrag bis zu dessen regulärem Ende nicht zugemutet werden kann. Die Anforderungen an den wichtigen Grund für die außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrags sind erheblich strenger als die Anforderungen an den wichtigen Grund für den Widerruf der Bestellung. Insbesondere reichen ein bloßes Zerwürfnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, ein mangelndes Vertrauen in die Unternehmensführung des Vorstandsmitglieds oder der Vertrauensentzug der Hauptversammlung nicht aus, um eine außerordentliche Kündigung auszusprechen. Stattdessen wird in aller Regel nur ein erhebliches oder wiederholtes pflichtwidriges Verhalten des Vorstandsmitglieds – oder zumindest ein entsprechender konkreter Verdacht – den wichtigen Grund für die Kündigung darstellen. Daneben kommt auch eine dauerhafte Verhinderung, etwa bei einer lang andauernden Krankheit, als wichtiger Grund in Frage. Die Kündigung muss gemäß § 626 Abs. 2 BGB innerhalb einer Kündigungs- 230 frist von zwei Wochen ab Kenntniserlangung von dem wichtigen Grund erklärt werden.752) Kenntniserlangung meint positive Kenntnis von dem wichtigen Grund; ein bloßer Verdacht oder Anhaltspunkte für das Vorliegen eines wichtigen Grundes führen nicht zu einem Beginn der Kündigungsfrist, sofern die Verdachtsmomente oder Anhaltspunkte mit der gebotenen Eile aufgeklärt werden.753) Bei der Kenntniserlangung kommt es auf die Kenntnis des entscheidungsbefugten und entscheidungsbereiten Gremiums, also des Aufsichtsrats, an.754) Der Auf___________ 750) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 184; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 48; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 84 Rz. 150; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 169; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 95; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 75; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 38; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 130; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 440. 751) Dauner-Lieb/Friedrich, NZG 2010, 688 (691); Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 56; MünchKommBGB/Henssler, § 627 Rz. 19; Seyfarth, § 20 Rz. 18. 752) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 194; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 175; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 102; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 82; Henssler/Strohn/ Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 38; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 48; Heidel/Oltmanns, AktG § 84 Rz. 36 f. 753) Heidel/Oltmanns, AktG § 84 Rz. 37; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 176; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 139; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 196; Fleischer/ Thüsing, § 5 Rz. 66. 754) BGH, Urt. v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, NZG 2014, 615 (616) – für GmbH; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 84 Rz. 176; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 175; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 194; Heidel/Oltmanns, AktG § 84 Rz. 37; MünchHdb. GesR IV/Wiesner, § 21 Rz. 116; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 442.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

sichtsrat ist nur im Rahmen von Sitzungen bzw. Beschlussfassungen entscheidungsfähig.755) Deswegen reicht die Kenntnis nur eines oder einiger Aufsichtsratsmitglieder – auch des Vorsitzenden – nicht aus, um die Kündigungsfrist in Gang zu setzen.756) Allerdings wird die Kenntnis des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds der Gesellschaft abweichend hiervon zugerechnet, wenn das Aufsichtsratsmitglied nicht in angemessener Zeit für die Einberufung einer Sitzung Sorge trägt und den Aufsichtsrat in diesem Rahmen über den wichtigen Grund informiert. Angemessen ist diejenige Zeit, die für eine Einberufung des Aufsichtsrats erforderlich ist, zuzüglich einer kurzen Überlegungsfrist. Üblicherweise werden dies ca. zwei bis vier Wochen sein. Ist die Entscheidung über die außerordentliche Kündigung auf einen Ausschuss delegiert, ist grundsätzlich die Kenntnis des Ausschusses im Rahmen einer Sitzung maßgeblich. Allerdings beginnt die Frist in diesem Fall nicht, wenn das Vorstandsmitglied noch nicht abberufen worden ist, weil der Ausschuss das hierfür ausschließlich zuständige Plenum (§ 107 Abs. 3 AktG), wie dargestellt (Æ Rz. 226), nicht präjudizieren darf. In diesem Fall muss der Ausschuss das Plenum allerdings in angemessener Zeit über den wichtigen Grund informieren. Die Beweislast für das Vorliegen des wichtigen Grunds liegt bei der Gesellschaft, auch wenn der wichtige Grund in einer Pflichtverletzung gemäß § 93 Abs. 1 AktG begründet liegen sollte; § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG gilt insoweit nicht.757) 231 Die Kündigung setzt einen Beschluss des Aufsichtsrats bzw. Ausschusses voraus (§ 108 Abs. 1 AktG) und muss gegenüber dem Vorstandsmitglied erklärt werden.758) Sie wird grundsätzlich mit Zugang beim Vorstandsmitglied (§§ 130 ff. BGB) wirksam.759) Dem Vorstandsmitglied muss der wichtige Grund nicht mitgeteilt werden, um wirksam die außerordentliche Kündigung zu erklären.760) Allerdings ist dem Vorstandsmitglied der wichtige Grund unverzüglich schriftlich mitzuteilen, wenn er dies verlangt (§ 626 Abs. 2 Satz 3 BGB). Wichtige Gründe können auch nach der Entscheidung des Aufsichtsrats über die Kündi___________ 755) BGH, Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, ZIP 1998, 1269 (1270); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 176; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 71; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 194. 756) BGH, Urt. v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, NJW 1998, 3274 = ZIP 1998, 1269 – für GmbH; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 175; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 194; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 430; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 139; Heidel/Oltmanns, AktG § 84 Rz. 37. 757) Vgl. etwa Marsch-Barner/Schäfer/M. Arnold/C. Arnold, § 22 Rz. 43. 758) Wachter/Eckert, § 84 Rz. 59 f.; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 48; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 182 f.; Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 92 ff.; Heidel/Oltmanns, AktG § 84 Rz. 33; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 540; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 68. 759) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 39; Hüffer/Koch, § 84 Rz. 48; Heidel/ Oltmanns, AktG § 84 Rz. 33; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 72; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 540. 760) BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, AG 2004, 142 (143); BGH, Urt. v. 16.1.1995 – II ZR 26/94, ZIP 1995, 310 (311); Wachter/Eckert, § 84 Rz. 60; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 198; Beck’sches MandatsHdb Vorstand/Lücke § 2 Rz. 259.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

gung nachgeschoben werden, wenn sie zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Kündigung bereits vorlagen.761) bb)

Kündigung des Anstellungsvertrags durch das Vorstandsmitglied

Das Vorstandsmitglied kann den Anstellungsvertrag ordentlich kündigen, 232 wenn ein ordentliches Kündigungsrecht vereinbart ist.762) Eine außerordentliche Kündigung kann das Vorstandsmitglied gemäß § 626 Abs. 1 BGB erklären, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Einen wichtigen Grund stellt insoweit auch ein grundloser Widerruf der Bestellung des Vorstandsmitglieds durch die Gesellschaft dar.763) Daneben kommt eine Kündigung durch das Vorstandsmitglied bei schwerwiegenden Vertragsverletzungen der Gesellschaft in Betracht (etwa wenn die Gesellschaft die geschuldete Vergütung nicht erbringt).764) In der Praxis finden sich regelmäßig Change-of-Control-Klauseln in den Vorstandsanstellungsverträgen, die den Vorstandsmitgliedern auch für den Fall eines Kontrollwechsels ein außerordentliches Kündigungsrecht sowie einen Abfindungsanspruch einräumen.765) Diese Klauseln sind regelmäßig zulässig.766) Ziffer G.14 des DCGK 2022 enthält jedoch die Anregung, derartige Zusagen für den Fall des Kontrollwechsels nicht zu vereinbaren. cc)

Aufhebungsvereinbarung

Vorstandsmitglied und Aufsichtsrat können schließlich im gegenseitigen Ein- 233 vernehmen das Anstellungsverhältnis durch eine Aufhebungsvereinbarung vor___________ 761) BGH, Urt. v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, AG 2004, 142 (143); BGH, Urt. v. 11.7.1978 – II ZR 266/77, WM 1978, 1123; BGH, Urt. v. 16.1.1995 – II ZR 26/94, ZIP 1995, 310 (311); MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 140; Wachter/Eckert, § 84 Rz. 68. 762) Hölters/Weber/Weber, § 84 Rz. 110; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 447; MünchKommAktG/ Spindler, § 84 Rz. 201; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 79; Seyfarth, § 20 Rz. 51. 763) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 357; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 40; Fleischer/Thüsing, § 5 Rz. 77; Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 547; Henssler/ Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 42; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 84 Rz. 198; MünchHbd. GesR IV/Wiesner, § 21 Rz. 125; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 202; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 84 Rz. 72; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 205. 764) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 84 Rz. 40; Grigoleit/Grigoleit, § 84 Rz. 77; GroßkommAktG/Kort, § 84 Rz. 547; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 84 AktG Rz. 42; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 84 Rz. 198; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 446; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 202; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 79; Seyfarth, § 20 Rz. 53; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 84 Rz. 205. 765) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 420a; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 85; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 413, 434; Marsch-Barner/Schäfer/M. Arnold/C. Arnold, § 21 Rz. 149 MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 79; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 60; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 73; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 84 Rz. 181; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 29. 766) Großkomm-AktG/Kort, § 87 Rz. 313; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 85; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 413; Marsch-Barner/Schäfer/M. Arnold/C. Arnold, § 21 Rz. 151; Seyfarth, § 20 Rz. 63; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 60; Wachter/Eckert, § 87 Rz. 29.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

zeitig beenden. Wird darin – wie in aller Regel – eine Abfindung vereinbart, kann die Entscheidung über den Abschluss der Aufhebungsvereinbarung nur durch das Aufsichtsratsplenum getroffen werden, da die Abfindung vergütungsrechtlichen Charakter hat und dementsprechend dem Delegationsverbot des § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG unterfällt.767) 2.

Zustimmungsvorbehalte

234 Auch die Schaffung und Ausübung von Zustimmungsvorbehalten gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG (Æ Rz. 136 ff.) zählt zu den Geschäftsführungsbefugnissen des Aufsichtsrats.768) Dementsprechend kommen dem Aufsichtsrat auch in diesem Rahmen ein breiter Ermessensspielraum sowie die Haftungsprivilegierung der Business Judgement Rule zu.769) 3.

Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand

235 Gemäß § 112 AktG vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern. Über seinen Wortlaut hinaus weist § 112 AktG auch die Geschäftsführungsbefugnis für Geschäfte der Gesellschaft mit Vorstandsmitgliedern dem Aufsichtsrat zu.770) Zweck der Vorschrift ist die Vermeidung einer abstrakten Gefährdung des Gesellschaftswohls durch Interessenkonflikte.771) § 112 AktG ist gesetzlich zwingend.772) ___________ 767) Großkomm-AktG/Kort, § 84 Rz. 573; MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 209; Seyfarth, § 21 Rz. 10; siehe auch Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 11 Rz. 374. 768) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 43, 113; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 634; Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 18; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 51; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 114; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 78 f. 769) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 43, 113; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 15; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 67; Hüffer/ Koch, § 116 Rz. 5; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 68; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 112; MünchHbd. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 86; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 45; für Haftungsprivilegierung nur hinsichtlich der Zustimmungsentscheidung Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 86; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 122. 770) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 2; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 3; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 112 Rz. 2. 771) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 1; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 1; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 2; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 1; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 1; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 1; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 112 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 1; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 112 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 2 f.; Wachter/Schick, § 112 Rz. 1. 772) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 1; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 2; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 6; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 1; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 1; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 9; MünchKommAktG/ Habersack, § 112 Rz. 3; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 3; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 4.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Die Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats gilt uneingeschränkt gegenüber am- 236 tierenden Vorstandsmitgliedern.773) Gegenüber künftigen Vorstandsmitgliedern ist der Aufsichtsrat ebenfalls gemäß §§ 112, 84, 87 AktG zuständig, soweit Rechtsgeschäfte zur Begründung oder im Zusammenhang mit der Begründung des Bestellungs- oder Anstellungsverhältnisses betroffen sind.774) In Bezug auf ausgeschiedene Vorstandsmitglieder ist § 112 AktG analog für solche Rechtsgeschäfte anwendbar, die in innerem Zusammenhang mit der Vorstandstätigkeit stehen.775) Hierunter fallen insbesondere Rechtsgeschäfte über das oder im Zusammenhang mit dem Ausscheiden aus dem Vorstandsamt776), aber etwa auch Beraterverträge mit ehemaligen Vorstandsmitgliedern777). Soweit reguläre Umsatzgeschäfte der Gesellschaft betroffen sind, besteht in der Regel nur dann ein innerer Zusammenhang zur Vorstandstätigkeit, wenn dem ehemaligen Vorstandsmitglied bessere Konditionen angeboten werden als anderen Kunden des Unternehmens.778) Außerdem gilt die Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstandsmitglied nahestehenden Personen, soweit Leistungen, die mit Rücksicht auf die Vorstandstätigkeit gewährt werden (etwa Hin-

___________ 773) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 2; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 4; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 19; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 3; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 2; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 112 Rz. 14; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 454; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 23 Rz. 8; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 10; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 20; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 9. 774) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 20; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 454; MünchKommAktG/ Habersack, § 112 Rz. 11; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 7; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 21 f. 775) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 24, 27; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 5 f.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 2; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 112 Rz. 16; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 454; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 23 Rz. 8; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 12 ff.; Semler/v. Schenck/ v. Schenck, § 112 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 8; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 17. 776) Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 3; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 8; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 454; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 13; Semler/ v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 25 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 17 ff. Schmidt/ Lutter/Drygala, § 112 Rz. 8. 777) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Rodewig/Rothley, § 9 Rz. 203; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 112 Rz. 14; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 454; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 15; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 14, 34; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 8; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 20. 778) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 28; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 16; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 15.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

terbliebenenversorgung), betroffen sind.779) Schließlich gilt § 112 AktG unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Identität auch gegenüber Gesellschaften, deren alleiniger Gesellschafter ein Vorstandsmitglied ist.780) Gleiches dürfte für Gesellschaften gelten, die (ausschließlich) von mehreren Vorstandsmitgliedern gehalten werden. Nicht ausreichend ist eine (Mehrheits-)Beteiligung eines Vorstandsmitglieds an einer Gesellschaft; in diesem Fall bleibt der Vorstand nach allgemeinen Regeln (§§ 76, 77, 78 AktG) vertretungs- und geschäftsführungsbefugt.781) Bei mehrseitigen Verträgen der Gesellschaft mit Vorstandsmitgliedern und Nicht-Vorstandsmitgliedern muss die Gesellschaft sowohl durch den Vorstand als auch den Aufsichtsrat vertreten werden.782) 237 Die Vertretungsberechtigung des Aufsichtsrats gilt nur für die Gesellschaft.783) Dementsprechend ist für Rechtsgeschäfte des Vorstandsmitglieds mit Tochtergesellschaften das Geschäftsführungsorgan der Tochtergesellschaft und nicht der Aufsichtsrat zuständig.784) Zulässig und in der Praxis üblich ist es aber, Geschäfte von Vorstandsmitgliedern mit Tochtergesellschaften einem Zustimmungsvorbehalt gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zu unterwerfen. 238 Inhaltlich betrifft § 112 AktG alle Geschäfte der Gesellschaft, deren Rechtsfolgen unmittelbar das Vorstandmitglied treffen.785) Dementsprechend ist für die Anwendbarkeit des § 112 AktG unerheblich, ob das Vorstandsmitglied selbst handelt oder sich durch einen Dritten vertreten lässt.786) Bei Verträgen ___________ 779) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 2; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 33 f.; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 3; Hölters/Weber/Groß-Bölting/ Rabe, § 112 Rz. 9; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 17; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 454; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 23 Rz. 8; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 16; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 35; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 13; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 24; Wachter/ Schick, § 112 Rz. 2. 780) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 3; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 8; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 10; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 4; KKAktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 18; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 455; MünchKommAktG/ Habersack, § 112 Rz. 9; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 40; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 112 Rz. 14; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 11; Wachter/Schick, § 112 Rz. 2. 781) Hüffer/Koch, § 112 Rz. 4; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 18; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 455; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 17; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 9; a. A. im Fall maßgeblicher Beteiligungen: OLG München, Urt. v. 7.6.2018 – 23 U 3018/17, AG 2018, 758; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 11; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 42. 782) Krieger, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 712, 717. 783) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 4; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 7; Semler/ v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 25. 784) MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 7; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 25. 785) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 5; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 8. 786) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 45; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 5; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 19; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 8; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 9; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 37.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

zwischen der Gesellschaft und Dritten, die gemäß § 328 BGB zu Gunsten eines Vorstandsmitglieds abgeschlossen werden787) oder bei denen sich die Gesellschaft gegenüber dem Dritten zur Erstattung von Leistungen des Dritten an das Vorstandsmitglied verpflichtet788), gilt § 112 AktG ebenfalls. Dabei gelten die Grundsätze für mehrseitige Verträge (Æ Rz. 236), sofern der zu Gunsten des Vorstandsmitglieds abgeschlossene Vertrag auch materielle Rechtswirkungen gegenüber dem Dritten entfaltet.789) Nicht anwendbar ist § 112 AktG auf Verträge mit Dritten, die lediglich Schutzwirkung zu Gunsten des Vorstandsmitglieds entfalten, da in diesen Fällen keine abstrakte Gefährdung des Gesellschaftswohls zu befürchten steht. § 112 AktG kennt weder einen Bagatellvorbehalt noch eine Ausnahme für Geschäfte des täglichen Lebens.790) Sämtliche dieser Geschäfte mit Vorstandsmitgliedern fallen deswegen in die Vertretungs- und Geschäftsführungskompetenz des Aufsichtsrats. Die Vertretungsberechtigung gemäß § 112 AktG erfasst nicht nur die Aktiv- 239 vertretung, sondern auch die Passivvertretung der Gesellschaft.791) Gemäß §§ 112 Satz 2, 78 Abs. 2 Satz 2 AktG reicht für den Zugang einer Willenserklärung gegenüber der Gesellschaft insoweit der Zugang bei einem einzelnen Aufsichtsratsmitglied. Daneben erfasst § 112 AktG auch die Prozessvertretungsbefugnis.792) Für die Ausübung der Aktivvertretung ist gemäß § 108 Abs. 1 AktG zwingend 240 ein Beschluss des Aufsichtsrats erforderlich; bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen muss der vom Aufsichtsrat gefasste Wille zusätzlich gegenüber dem Erklärungsempfänger erklärt werden.793) Der Aufsichtsrat kann sich bei der Willensbildung wegen des Grundsatzes der persönlichen Amtsausübung (Æ Rz. 267) nicht vertreten lassen (sog. Willensvertretung). Eine Delegation der Willensbildung auf ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied oder einen sonstigen ___________ Bayer/Scholz, ZIP 2015, 1853 (1859). Krieger, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 712 (716). Krieger, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 712 (717). H. M. Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 2; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 9; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 17; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 6; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 16; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 5; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 441; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 19; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 112 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 33; Wachter/Schick, § 112 Rz. 3; a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 22. 791) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 84 ff.; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 6; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 23 Rz. 10; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 65; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 112 Rz. 44. 792) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 9; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 15; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 5; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 13; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 23 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 17; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 15; Wachter/Schick, § 112 Rz. 3. 793) MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 21. 787) 788) 789) 790)

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Dritten ist deshalb nicht zulässig.794) Möglich ist aber, die Erklärung eines durch Beschluss gefassten Willens auf ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied oder einen Dritten zu delegieren (sog. Erklärungsvertretung).795) Sowohl die Willensbildung als auch deren Ausübung in Bezug auf klar festgelegte Geschäfte oder Arten von Geschäften können abweichend hiervon auf einen Ausschuss delegiert werden.796) Im Rahmen der Prozessvertretung darf ein vom Aufsichtsrat mandatierter Rechtsanwalt grundsätzlich Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie sonstige Prozesshandlungen auch ohne gesonderten Beschluss des Aufsichtsrats vornehmen. 241 Praxishinweis: Das Verbot der Willensvertretung führt in der Praxis insbesondere bei (Massen-)Geschäften des täglichen Lebens zu Problemen. Im Falle eines als Aktiengesellschaft organisierten Supermarktbetreibers können Vorstandsmitglieder beispielsweise nicht ohne Beteiligung des Aufsichtsrats in einem Supermarkt der Aktiengesellschaft einkaufen. Dem kann der Aufsichtsrat nach h. M. entgegenwirken, indem er einen allgemeinen Beschluss fasst, der den Vorstandsmitgliedern erlaubt, Massengeschäfte des täglichen Lebens, die die Gesellschaft auch mit jedem anderen Dritten zu denselben Konditionen abschließt, ebenfalls abzuschließen, und die Handlungsbevollmächtigten der Gesellschaft durch Erklärung gegenüber den Vorstandsmitgliedern (Außenvollmacht, § 167 Abs. 1 Alt. 2 BGB) zum Vollzug der entsprechenden Geschäfte bevollmächtigt.797) 242 Ein Verstoß gegen § 112 AktG führt nach umstrittener, aber zutreffender Auffassung nicht zur Nichtigkeit des abgeschlossenen Rechtsgeschäfts gemäß § 134 BGB; stattdessen finden die Regeln der Vertretung ohne Vertretungsmacht (§§ 177 ff. BGB) Anwendung.798) Das Argument der Gegenauffassung, der ___________ 794) BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – II ZB 1/11, ZIP 2013, 1274 (1276 f.); Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 112 Rz. 14; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 76; Henssler/Strohn/ Henssler, § 112 AktG Rz. 8 f.; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 8; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 24; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 55; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 38, 41; Wachter/Schick, § 112 Rz. 5. 795) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 5 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 97 ff.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 19; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 40; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 22; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 56; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 38, 42; Wachter/Schick, § 112 Rz. 4. 796) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 96; Henssler/Strohn/Henssler, § 112 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 36; MünchKommAktG/ Habersack, § 112 Rz. 23; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 21; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 54; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 40; Wachter/Schick, § 112 Rz. 5. 797) Cahn, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 247 (256); Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 14; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 101; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 112 Rz. 17; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 40; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 444; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 20. 798) So auch: Heidel/Breuer/Fraune, § 112 Rz. 15; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 12; MünchKommAktG/ Habersack, § 112 Rz. 34; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 19; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 457; a. A. Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 27; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 112 Rz. 119.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

Vorstand könne bei einer Anwendung der Regeln über die Vertretung ohne Vertretungsmacht in die Kompetenz des Aufsichtsrats eingreifen und diesen zu einem bloßen Zustimmungsorgan herabstufen799), greift nicht durch, weil ein Eingriff in die Kompetenz des Aufsichtsrats gemäß § 93 Abs. 2 AktG sowie gemäß § 179 BGB hinreichend sanktioniert ist und damit kein wesentliches Missbrauchspotential besteht.800) 4.

Weitere Vertretungskompetenzen des Aufsichtsrats

Die Vertretungskompetenz des Aufsichtsrats gemäß § 112 AktG ist nicht ab- 243 schließend.801) Daneben bestehen verschiedene weitere Vertretungskompetenzen. Hierzu zählen die gemeinsame Vertretungsbefugnis von Vorstand und Aufsichtsrat im Rahmen von Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen (§§ 246 Abs. 2 Satz 2, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG), die Befugnis zur Wahrnehmung bestimmter Beteiligungsrechte bei nach dem MitbestG bzw. dem MontanmitbestErgG mitbestimmten Gesellschaften (§ 32 MitbestG, § 15 MontanmitbestErgG) sowie die Annexkompetenz des Aufsichtsrats zur Vertretung der Gesellschaft, etwa bei der Hinzuziehung von Rechtsberatern durch den Aufsichtsrat802). III.

Sonstige Aufgaben

1.

Jahres- und Konzernabschluss

Gemäß § 170 Abs. 1 AktG legt der Vorstand dem Aufsichtsrat unverzüglich 244 nach deren Aufstellung Jahres- und Konzernabschluss einschließlich Lage- und Konzernlagebericht zur Prüfung vor. Der Aufsichtsrat ist sodann gemäß § 171 Abs. 1 AktG verpflichtet, die ihm vorgelegten Dokumente auf deren Rechtmäßigkeit und – in Bezug auf bilanzielle Bewertungsspielräume – auf deren Zweckmäßigkeit zu prüfen und über deren Billigung zu entscheiden.803) Mit Blick auf die herausgehobene Funktion des Jahres- und Konzernabschlusses ist jedes Aufsichtsratsmitglied verpflichtet, sich selbst ein eigenes Urteil über de___________ 799) Vgl. die Darstellungen in MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 34, und Semler/ v. Schenck/v. Schenck, § 112 Rz. 92. 800) MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 34; siehe auch Hüffer/Koch, § 112 Rz. 12. 801) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 1; MünchKommAktG/Habersack, § 112 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 5; Hüffer/Koch, § 112 Rz. 1; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 112 Rz. 2; Schmidt/Lutter/Drygala, § 112 Rz. 3. 802) BeckOGK-AktG/Spindler, § 112 Rz. 5; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 112 Rz. 2; Hüffer/ Koch, § 112 Rz. 1; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 112 Rz. 1; MünchKommAktG/ Habersack, § 112 Rz. 4. 803) Hüffer/Koch, § 171 Rz. 3 ff.; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 45 Rz. 14; MünchKommAktG/Hennrichs/Pöschke, § 171 Rz. 32 f., 36 ff.; Hölters/Weber/Waclawik, § 171 Rz. 6 ff.; Henssler/Strohn/E. Vetter, § 171 AktG Rz. 3 ff.; Großkomm-AktG/Vetter, § 171 Rz. 19; Bürgers/Körber/Lieder/Schulz, § 171 Rz. 3.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

ren Recht- und Zweckmäßigkeit zu bilden.804) Der Aufsichtsrat wird bei seiner Prüfung durch den Abschlussprüfer und den Konzernabschlussprüfer unterstützt, die dem Aufsichtsrat gemäß § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG über die wesentlichen Ergebnisse ihrer Prüfung berichten müssen. Mit Umsetzung der CSRRichtlinie805) muss der Vorstand dem Aufsichtsrat gemäß § 171 Abs. 1 Satz 4 AktG nunmehr auch den gesonderten nichtfinanziellen Bericht gemäß § 289b HGB und den nichtfinanziellen Konzernbericht gemäß § 315b HGB zur Prüfung vorlegen. 245 Praxishinweis: Da der nichtfinanzielle Bericht und der nichtfinanzielle Konzernbericht gemäß § 315b HGB nur in Bezug auf deren Vorliegen, nicht aber inhaltlich der (Konzern-)Abschlussprüfung unterliegen (§ 317 Abs. 2 Satz 4 HGB), muss der Aufsichtsrat diese grundsätzlich ohne Hilfe eines Abschlussprüfers prüfen.806) Dies führt in der Praxis zu erheblichen Problemen, weil die Berichtsgegenstände (insbesondere Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelange, Achtung der Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung) nur mit erheblichem Aufwand durch umfassende Nachforschungen in allen Abteilungen der Gesellschaft abschließend beurteilt werden können.807) Dies hat auch der Gesetzgeber erkannt und deshalb in § 111 Abs. 2 Satz 4 AktG explizit klargestellt, dass der Aufsichtsrat eine externe inhaltliche Überprüfung des nichtfinanziellen Berichts und des nichtfinanziellen Konzernberichts beauftragen darf. Macht der Aufsichtsrat von dieser Möglichkeit Gebrauch, kann er seine Prüfung nach der ISION-Rechtsprechung des BGH auf eine Schlüssigkeitsprüfung der vom externen Experten gefundenen Ergebnisse beschränken, sofern er einen (i) fachlich qualifizierten Experten mit einer (ii) unabhängigen (d. h. ergebnisoffenen und unbeeinflussten808)) Prüfung der Berichte beauftragt hat.809) 246 Mit der Billigung durch den Aufsichtsrat übernimmt dieser die unternehmerische Mitverantwortung für die inhaltliche Richtigkeit der aufgestellten Abschlüsse.810) Der Jahresabschluss ist durch die Billigung des Aufsichtsrats außerdem zugleich festgestellt, sofern nicht Vorstand und Aufsichtsrat gemäß §§ 172 Satz 1, 173 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AktG entscheiden, den Jahresabschluss der Hauptversammlung zur Feststellung vorzulegen. Der Konzernabschluss ___________ 804) MünchKommAktG/Hennrichs/Pöschke, § 171 Rz. 35; Hüffer/Koch, § 171 Rz. 5, 9; Grigoleit/ Grigoleit/Zellner, § 171 Rz. 5; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 45 Rz. 16. Vgl. auch Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165 f. 805) Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen (ABl L 330 vom 15.11.2014, S. 1; L 369 vom 24.12.2014, S. 79). 806) Johannsen-Roth/Horcher/Kießling, DB-Beilage 3/2017, S. 17 (18) m. w. N. 807) Johannsen-Roth/Horcher/Kießling, DB-Beilage 3/2017, S. 17 (18) m. w. N. 808) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220 (1223); BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2099). 809) Vgl. BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097. 810) MünchKommAktG/Hennrichs/Pöschke, § 171 Rz. 6 ff.; vgl. Hennrichs, NZG 2017, 841 (847).

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

muss nicht formal festgestellt werden, sodass die Billigung des Konzernabschlusses keine entsprechende Wirkung entfaltet. Billigt der Aufsichtsrat den Jahres- oder Konzernabschluss nicht, so entscheidet gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, Satz 2 AktG die Hauptversammlung über die Feststellung des Jahresabschlusses bzw. die Billigung des Konzernabschlusses. Der Aufsichtsrat hat der Hauptversammlung schriftlich über die Ergebnisse 247 seiner Prüfung zu berichten und auch zu den Ergebnissen der Abschlussprüfung und der Konzernabschlussprüfung Stellung zu nehmen (§ 171 Abs. 2 Satz 1 AktG). Die Prüfung der gemäß § 170 Abs. 1 AktG vorgelegten Dokumente sowie die 248 Entscheidung über die Billigung von Jahres- und Konzernabschluss können gemäß § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG nicht auf einen Ausschuss delegiert werden. Die Beschlüsse über die Billigung von Jahres- und Konzernabschluss sind in den Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung gemäß § 172 Satz 2 AktG aufzunehmen. 2.

Abgabe der Entsprechenserklärung

Gemäß § 161 AktG ist der Aufsichtsrat einer börsennotierten Aktiengesell- 249 schaft neben dem Vorstand verpflichtet, eine Entsprechenserklärung zur Einhaltung der Vorgaben des DCGK (Æ § 1 Rz. 417 ff.) abzugeben. Die Entsprechenserklärung kann gemeinsam mit dem Vorstand oder separat abgegeben werden. Umstritten ist, ob separate Erklärungen von Vorstand und Aufsichtsrat inhaltlich voneinander abweichen dürfen811) oder ob bei einem Dissens zwischen Vorstand und Aufsichtsrat über die Einhaltung einer Empfehlung des DCGK stets von beiden Organen eine Abweichung zu erklären ist812). Da kein Organ zur Abgabe einer nach eigener Prüfung für unrichtig gehaltenen Erklärung verpflichtet werden kann, kann nur die erstgenannte Auffassung überzeugen. Die Entscheidung über die Abgabe der Entsprechenserklärung kann nach all- 250 gemeiner Auffassung nicht auf einen Ausschuss delegiert werden, da der DCGK auch Empfehlungen enthält, die gemäß § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG nicht delegationsfähige Gegenstände betreffen.813)

___________ 811) Hüffer/Koch, § 161 Rz. 11, 19; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 161 Rz. 20; Schmidt/ Lutter/Spindler, § 161 Rz. 23. 812) BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 161 Rz. 70; MünchKommAktG/Goette, § 161 Rz. 47; Grigoleit/Grigoleit/Zellner, § 161 Rz. 15; Großkomm-AktG/Leyens, § 161 Rz. 234 f.; KK-AktG/Lutter, § 161 Rz. 73; Heidel/Wittmann/Kirschbaum, AktG, § 161 Rz. 27. 813) Hüffer/Koch, § 161 Rz. 13; KK-AktG/Lutter, § 161 Rz. 20; Schmidt/Lutter/Spindler, § 161 Rz. 26; BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 161 Rz. 68; MünchKommAktG/Goette, § 161 Rz. 67; Heidel/Wittmann/Kirschbaum, AktG, § 161 Rz. 18.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

3.

Repräsentationsfunktionen; öffentliche Stellungnahmen von Aufsichtsratsmitgliedern

251 Der Aufsichtsrat ist im Wesentlichen ein Innenorgan, dem grundsätzlich keine außenwirksame Repräsentationsfunktion für die Gesellschaft zukommt.814) Vielmehr ist grundsätzlich ausschließlich der Vorstand für die Repräsentation der Gesellschaft in der Öffentlichkeit zuständig und verantwortlich.815) Eine Repräsentation der Gesellschaft durch Aufsichtsratsmitglieder ist deshalb in aller Regel nur möglich, wenn die Repräsentation der Gesellschaft durch ein Aufsichtsratsmitglied auf Veranlassung des Vorstands erfolgt.816) Etwas Anderes kann im Einzelfall für den Aufsichtsratsvorsitzenden gelten.817) Dieser ist in der Praxis regelmäßig satzungsmäßiger Versammlungsleiter der Hauptversammlung und wird in der öffentlichen Wahrnehmung deshalb als herausgehobener Vertreter der Gesellschaft wahrgenommen.818) Zudem regt auch A.6 DCGK 2022 an, dass der Aufsichtsratsvorsitzende Gespräche mit Investoren über aufsichtsratsspezifische Themen der Gesellschaft führt. 252 Wichtig ist die Frage der Repräsentationsfunktion vor allem für die Frage des Aufwendungsersatzes: Ein Aufsichtsratsmitglied kann mangels Repräsentationsfunktion keinen Ersatz von Aufwendungen verlangen, die er für die Repräsentation der Gesellschaft getätigt hat (etwa für die Übernachtung im Rahmen der Teilnahme an einer Repräsentationsveranstaltung), denn diese durfte er nicht für erforderlich halten.819) Die mangelnde Repräsentationsfunktion führt darüber hinaus aber nicht dazu, dass sich ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied zu Vorgängen und Ereignissen der Gesellschaft – auch unter Hervorhebung seiner Amtstätigkeit – nicht öffentlich äußern dürfte. Hierfür bedarf es keiner Rechtsgrundlage; ein Recht, öffentlich zu seiner Amtstätigkeit Stellung zu nehmen, kommt dem Aufsichtsratsmitglied bereits aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG zu. Selbstverständlich muss jedes Aufsichtsratsmitglied bei öffentlichen Stellungnahmen seine aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten (Æ Rz. 296 ff.) beachten. ___________ 814) OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11, AG 2012, 298 (303); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 284; Lutter, Rz. 401; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 152; E. Vetter, AG 2014, 387 (389). 815) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 152; Lutter, Rz. 401; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 284; E. Vetter, AG 2014, 387 (389). 816) So im Ergebnis wohl auch Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Grau, § 13 Rz. 117; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 77. 817) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 677, 679; Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 22; BeckOGKAktG/Spindler, § 107 Rz. 46. 818) Semler, in: Festschrift Claussen, S. 381 (393); Fonk, NZG 2009, 761 (769). 819) Nimmt das Aufsichtsratsmitglied hingegen Repräsentationsaufgaben auf Veranlassung des Vorstands wahr, sind die Kosten erstattungsfähig, siehe Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/ Grau, § 13 Rz. 117; BeckOGK-AktG/Spindler, § 113 Rz. 13. Siehe auch Fonk, NZG 2009, 761 (769), der eine Kostenerstattung bei Einladungen zu Veranstaltungen grundsätzlich für zulässig hält, aber zur Zurückhaltung rät.

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B. Aufgaben des Aufsichtsrats

4.

Ad-hoc Mitteilungen und Aufschubbeschluss

Gemäß Art. 17 Abs. 1 MAR müssen börsennotierte Gesellschaften sie betref- 253 fende Insiderinformationen unverzüglich bekanntgeben oder – sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen – gemäß Art. 17 Abs. 4 MAR einen Beschluss über den Aufschub der Bekanntgabe der Insiderinformation fassen (Æ § 10 Rz. 4 ff.).820) Grundsätzlich obliegt die Pflicht zur Bekanntgabe von Insiderinformationen bzw. deren Aufschub gemäß §§ 76, 77 AktG dem Vorstand der Gesellschaft. Allerdings können auch Insiderinformationen in der Sphäre des Aufsichtsrats – etwa in Bezug auf die Bestellung oder den Widerruf der Bestellung von Vorstandsmitgliedern821) – entstehen.822) Von solchen Insiderinformationen hat der Vorstand der Gesellschaft nicht zwingend Kenntnis.823) Vor diesem Hintergrund ist umstritten, ob für die Bekanntgabe und den Aufschub der Bekanntgabe solcher Insiderinformationen ebenfalls der Vorstand oder aber der Aufsichtsrat zuständig ist.824) Nach richtiger Auffassung ist der Aufsichtsrat für die Bekanntgabe gemäß Art. 17 Abs. 1 MAR und den Aufschub der Bekanntgabe gemäß Art. 17 Abs. 4 MAR für in seinen Zuständigkeitsbereich fallende Insiderinformationen als Annexkompetenz zu seinen Zuständigkeiten im Hinblick auf den der Insiderinformation zu Grunde liegenden Sachverhalt zuständig.825) Dies muss schon deshalb gelten, weil vom Aufsichtsrat nicht verlangt werden kann, Informationen aus seinem Zuständigkeitsbereich – die in aller Regel der Vertraulichkeit unterliegen – dem Vorstand zur Entscheidung über die Veröffentlichung vorzulegen.826) Dies wäre mit der Kompetenzordnung des Aktiengesetzes nicht zu vereinbaren. Außerdem besteht besonders im Zusammenhang mit Fragen der Bestellung und des Widerrufs der Bestellung von Vorstandsmitgliedern ein Geheimhaltungsinteresse des Aufsichtsrats gerade auch gegenüber dem Vorstand.827)

___________ 820) BankrechtsHdb/Hopt/Kumpan, § 107, Rz. 151; Kumpman, DB 2016, 2039 (2039, 2043); Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593 (600). 821) Vgl. insoweit zur alten Rechtslage: BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NZG 2013, 708. 822) Vgl. dazu etwa Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 194 ff. 823) Vgl. Groß, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 385 (392); Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607 (1611). 824) Zuständigkeit des Vorstands: Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rz. 50; Zuständigkeit des Aufsichtsrats: Mülbert, in: Festschrift Stilz, S. 411 (421); Ihrig/Kranz BB 2013, 451 (456); Zuständigkeit abhängig von der Kenntnis des Vorstands: Groß, in: Festschrift U.H. Schneider, S. 385 (392); vgl. auch Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607 (1611). 825) Vgl. Mülbert, in: Festschrift Stilz, S. 411 (421); Ihrig/Kranz BB 2013, 451 (456). 826) Siehe Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607 (1611). 827) Vgl. in diese Richtung auch Kocher/Schneider, ZIP 2013, 1607 (1611).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

5.

Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder, Prokuristen und Handlungsbevollmächtigte

254 Gemäß § 89 Abs. 1 Satz 1 AktG ist eine Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder nur aufgrund eines Beschlusses des Aufsichtsrats zulässig. Die Delegation der Beschlussfassung auf einen Ausschuss ist gleichwohl möglich, weil eine Entscheidung des Ausschusses letztlich auch „aufgrund“ eines Aufsichtsratsbeschlusses – nämlich des Delegationsbeschlusses – gefasst werden kann und § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG die Delegation von Entscheidungen nach § 89 AktG nicht verbietet.828) Der Aufsichtsrat kann die Kreditgewährung auch in Form eines Konzeptbeschlusses für bestimmte Arten von Krediten zulassen, allerdings maximal für eine Dauer von drei Monaten (§ 89 Abs. 1 Satz 2 AktG). Unter Kredite sind nicht nur Darlehensverträge zu fassen, sondern alle Rechtsgeschäfte, die wie eine zeitweise Überlassung von Vermögen der Gesellschaft wirken.829) Hierzu zählen insbesondere Stundungen, die Bereitstellung von Sicherheiten für Drittkredite oder – wie § 89 Abs. 1 Satz 4 AktG ausdrücklich hervorhebt – Entnahmen des Vorstandsmitglieds als Vorschuss für seine Vergütung.830) Kreditverträge mit Vorstandsmitgliedern müssen die Verzinsung und die Rückzahlung regeln, § 89 Abs. 3 AktG. Für Kleinkredite, die ein Monatsgehalt der Vorstandsvergütung nicht übersteigen, gelten gemäß § 89 Abs. 1 Satz 5 AktG die Restriktionen des § 89 Abs. 1 AktG nicht. Allerdings bleibt der Aufsichtsrat auch für den Abschluss dieser Kreditverträge gemäß § 112 AktG zuständig.831) 255 Für die Kreditgewährung an Prokuristen und zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigte Handlungsbevollmächtigte ist zwar der Vorstand und nicht der Aufsichtsrat zuständig; allerdings muss der Aufsichtsrat diesen Verträgen gemäß § 89 Abs. 2 Satz 1 AktG im Vorhinein zustimmen (Einwilligung). Gleiches gilt gemäß § 89 Abs. 2 Satz 2 AktG für Kreditgewährungen an gesetzliche Vertreter, Prokuristen und zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigte Handlungsbevollmächtigte von abhängigen Gesellschaften (§ 17 AktG) und gemäß § 89 Abs. 3 AktG für Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder von Vorstandsmitgliedern sowie der in § 89 Abs. 2 AktG genannten Personen. ___________ 828) Im Ergebnis auch: Hüffer/Koch, § 89 Rz. 4; MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 36; Wachter/Eckert, § 89 Rz. 15; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 89 Rz. 11; MünchHdb. GesR IV/ Wentrup, § 21 Rz. 154. 829) MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 9; Hüffer/Koch, § 89 Rz. 2; Wachter/Eckert, § 89 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 89 Rz. 6 f.; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 89 AktG Rz. 2; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 153. 830) MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 10 ff.; Hüffer/Koch, § 89 Rz. 2; Wachter/Eckert, § 89 Rz. 4 f.; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 89 Rz. 6 f.; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 89 AktG Rz. 2; Hölters/Weber/Weber, § 89 Rz. 4; MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 153. 831) MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 20; Grigoleit/Schwennicke, § 89 Rz. 8; Hölters/ Weber/Weber, § 89 Rz. 7; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 89 Rz. 10; Heidel/Oltmanns, § 89 Rz. 5; Schmidt/Lutter/Seibt, § 89 Rz. 7.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

Schließlich bedürfen auch Kredite an Gesellschaften, in denen ein Vorstandsmitglied, Prokurist oder zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter ein Geschäftsführungs- oder Aufsichtsratsamt ausübt oder – im Falle von Personengesellschaften – Gesellschafter ist, grundsätzlich der Einwilligung des Aufsichtsrats (§ 89 Abs. 4 AktG). Wird gegen die Zuständigkeit des Aufsichtsrats für den Abschluss von Kredi- 256 ten mit Vorstandsmitgliedern gemäß § 89 Abs. 1 AktG bzw. die Zustimmungsrechte des Aufsichtsrats gemäß § 89 Abs. 2 – 4 AktG verstoßen, hängt die Wirksamkeit der Kreditgewährung gemäß § 89 Abs. 5 AktG nach richtiger Auffassung von der Zustimmung des Aufsichtsrats ab.832) Die nachträgliche Zustimmung durch den Aufsichtsrat heilt nicht ein mit einem Verstoß gegen § 89 Abs. 1–4 AktG eventuell verbundenes, pflichtwidriges Verhalten.833) Sonderregeln für die Kreditgewährung ergeben sich für Kredit- und Finanz- 257 dienstleistungsinstitute gemäß § 89 Abs. 6 AktG nach Maßgabe des KWG. C.

Pflichten des Aufsichtsrats

Johannsen-Roth/Zenner

Gemäß § 116 Satz 1 AktG gelten für die Pflichten des Aufsichtsrats die Rege- 258 lungen für den Vorstand (§ 93 AktG) entsprechend. Dementsprechend ist der Aufsichtsrat verpflichtet, die Sorgfalt eines ordentlich und gewissenhaft handelnden Kontrolleurs der Geschäftsführung einzuhalten.834) Vor diesem Hintergrund ist auch der Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft zur Sorgfalt, Treue und Verschwiegenheit verpflichtet. Trotz der entsprechenden Anwendung des § 93 AktG sind Pflichtenkreis und -maßstab des Aufsichtsrats nicht deckungsgleich mit denen des Vorstands, sondern unterscheiden sich durch die dem Aufsichtsrat obliegenden Aufgaben und der Arbeitsweise des Gremiums teilweise erheblich von den Vorstandspflichten. Der für den Aufsichtsrat geltende Pflichtenkreis und Pflichtenmaßstab ist für 259 sämtliche Aufsichtsratsmitglieder gleich, unabhängig davon, durch wen (An___________ 832) Für einen Verstoß gegen § 89 Abs. 1 AktG ist dies mit Blick auf die Folgen eines Verstoßes gegen § 112 AktG (Æ Rz. 242) umstritten. Wie hier: Hüffer/Koch, § 89 Rz. 8; Hölters/ Weber, § 89 Rz. 18; Wachter/Eckert, § 89 Rz. 19; Heidel/Oltmanns, § 89 Rz. 10. Für Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts beim Handeln eines Vorstandes oder Dritten: BeckOGKAktG/Fleischer, § 89 Rz. 22; MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 50; Schmidt/Lutter/Seibt, § 89 Rz. 15 f.; Fleischer, WM 2004, 1057 (1066). 833) Hüffer/Koch, § 89 Rz. 8; Hölters/Weber/Weber, § 89 Rz. 17; MünchKommAktG/Spindler, § 89 Rz. 57; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, § 89 Rz. 9; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 89 Rz. 25; Heidel/Oltmanns, § 89 Rz. 10; Schmidt/Lutter/Seibt, § 89 Rz. 16; wohl auch MünchHdb. GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 156. 834) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 19; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 9; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 16; Wachter/Schick, § 116 Rz. 2; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 116 Rz. 3; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 74.

Johannsen-Roth/Zenner

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

teilseigner, Arbeitnehmer, Gericht) oder in welcher Weise (gewählt, entsandt, gerichtliche Entscheidung) sie in den Aufsichtsrat bestellt wurden.835) I.

Sorgfaltspflichten

260 Wie beim Vorstand (Æ § 1 Rz. 226 ff.) lassen sich die Sorgfaltspflichten des Aufsichtsrats grundsätzlich in Legalitätspflicht, Sorgfaltspflicht im engeren Sinne und Überwachungspflicht unterscheiden. Die Sorgfaltspflichten treffen die Aufsichtsratsmitglieder nur im Rahmen ihrer Amtsausübung.836) Hieraus folgt zum einen, dass die Sorgfaltspflichten gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nur amtierende, nicht aber ausgeschiedene Aufsichtsratsmitglieder treffen können.837) Zum anderen folgt hieraus, dass das (amtierende) Aufsichtsratsmitglied der Gesellschaft gegenüber nicht gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG zu ordnungsgemäßem Handeln – insbesondere zum Handeln im Unternehmensinteresse (Æ Rz. 263) – verpflichtet ist, wenn es Aufgaben in anderer Funktion für die Gesellschaft wahrnimmt oder wenn es Leistungen für sich selbst oder Dritte erbringt.838) Erlangt das Aufsichtsratsmitglied jedoch außerhalb seiner Amtstätigkeit Kenntnis von für die Gesellschaft relevanten Vorgängen – etwa Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern – ist das Aufsichtsratsmitglied abweichend hiervon aufgrund seiner Sorgfaltspflicht grundsätzlich verpflichtet, seine Amtstätigkeit in der im Einzelfall gebotenen Eile aufzunehmen.839) 1.

Legalitätspflicht

261 Der Aufsichtsrat ist verpflichtet, im Rahmen der ihm obliegenden Aufgaben sämtliche gesetzliche und in der Satzung enthaltene Regelungen einzuhalten. Der Aufsichtsrat muss daher weisungsfrei und ordnungsgemäß die ihm obliegenden Überwachungs- (Æ Rz. 97 ff.) und Geschäftsführungsaufgaben (Æ Rz. 177 ff.) wahrnehmen, die aktienrechtliche Kompetenzordnung einhalten und alle relevanten externen Ver- und Gebotsnormen beachten. Insgesamt ergeben sich keine wesentlichen inhaltlichen Abweichungen zur Legalitätspflicht des Vorstands (Æ § 1 Rz. 229 ff.). ___________ 835) Hüffer/Koch, § 116 Rz. 3; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 10; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 116 Rz. 48; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 76; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 10, 23; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 2; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 984. 836) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 5. Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 25. 837) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 262 f. 838) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 5. 839) Siehe etwa zur Einberufungspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern, die Kenntnis von einem „wichtigen Grund“ zur außerordentlichen Kündigung eines Vorstandsmitglieds erlangen: Schumacher-Mohr, ZIP 2002, 2245 (2247).

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

Die Legalitätspflicht des Aufsichtsrats umfasst neben der eigenen Einhaltung 262 von Gesetz und Satzung auch die Pflicht, Gesetzesverstöße des Vorstands zu vermeiden. Deswegen hat der Aufsichtsrat kein Ermessen, sondern muss einschreiten, wenn er hinreichend gesicherte Anhaltspunkte für drohende Legalitätspflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern oder Mitarbeitern erlangt. Im Hinblick auf die Wahl der Überwachungsmittel zur Vermeidung von Legalitätspflichtverstößen des Vorstands entscheidet der Aufsichtsrat hingegen im pflichtgemäßen Ermessen.840) 2.

Sorgfaltspflicht im engeren Sinne

a)

Allgemeiner Maßstab

Die Leitlinie eines jeden Handelns des Aufsichtsrats stellt – wie auch Grund- 263 satz 20 DCGK 2022 betont – das Unternehmensinteresse (Æ § 1 Rz. 23) dar. Sämtliche Aufsichtsratsmitglieder sind an das Unternehmensinteresse gebunden und dürfen sich bei ihrer Amtsausübung nicht von Partikularinteressen leiten lassen, soweit diese im Widerspruch zum Unternehmensinteresse stehen.841) Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon, von welcher Bank (Anteilseigner- oder Arbeitnehmerseite) oder in welcher Weise die Aufsichtsratsmitglieder bestellt worden sind. Es gilt strikte Sphärentrennung.842) Deswegen dürfen Aufsichtsratsmitglieder eines besonders einflussreichen oder entsendungsberechtigten Aktionärs nicht dessen Interessen und Arbeitnehmervertreter nicht den Interessen der Mitarbeiter oder von Gewerkschaften den Vorrang vor den Interessen der Gesellschaft einräumen.843) Praxishinweis: Dies bedeutet nicht, dass die Interessen der im Aufsichtsrat vertre- 264 tenen Gruppen überhaupt nicht berücksichtigt werden können. Vielmehr dürfen Aufsichtsratsmitglieder die Interessen ihrer jeweils vertretenen Gruppe in dem Maße berücksichtigen, wie dies dem Unternehmenswohl nicht entgegensteht.844) Da das Unternehmensinteresse nicht nur die Interessen der Aktionäre, sondern auch die Interessen der Mitarbeiter und der Allgemeinheit umfasst, sind die Individualinteressen einzelner Gruppen von Aufsichtsratsmitgliedern in vielen prakti___________ 840) Vgl. Fuhrmann, AG 2015, R328 (R329). 841) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 49; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 13 f.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 12; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 166 ff.; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 8. 842) Vgl. MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 1; MünchKommAktG/Habersack, Vor § 95 Rz. 14. 843) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 94, 128; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 149; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 8; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 1; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 49. 844) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 128; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 101 Rz. 69; MünchKommAktG/Habersack, Vor § 95 Rz. 13; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 186; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 91.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

schen Fällen sogar zumindest teilidentisch mit dem Unternehmensinteresse. Vor diesem Hintergrund können Arbeitnehmervertreter im Rahmen der Diskussionen und Verhandlungen im Aufsichtsrat etwa auch auf bessere Arbeitsbedingungen und Vertreter von Mehrheitsgesellschaftern auf die Hebung von Konzernsynergien drängen.845) Allerdings muss im Rahmen der letztlich getroffenen Entscheidung des Aufsichtsrats(-mitglieds) gewährleistet bleiben, dass die das Unternehmensinteresse bildenden Einzelinteressen untereinander angemessen abgewogen werden und das Ziel der langfristigen Ertragsstärkung des Unternehmens weiterhin erreicht werden kann. Dies setzt von allen Aufsichtsratsmitgliedern eine gewisse Kompromissbereitschaft voraus und verbietet insgesamt eine allgemeine „Blockadehaltung“ einzelner Gruppen im Aufsichtsrat in Bezug auf vom Unternehmensinteresse erfasste Maßnahmen, die den eigenen Partikularinteressen entgegenstehen. 265 Der Sorgfaltspflichtenmaßstab des Aufsichtsrats wird weiterhin ganz maßgeblich durch den Nebenamtscharakter des Aufsichtsratsmandats bestimmt.846) Aus § 110 Abs. 3 AktG folgt die gesetzliche Leitlinie, dass der Aufsichtsrat einer typischen Aktiengesellschaft seine Aufgaben regelmäßig im Rahmen von vier Aufsichtsratssitzungen pro Jahr auszuüben hat.847) Dieser Grundsatz ist zwar selbstverständlich unter Berücksichtigung der Größe und Lage der Gesellschaft sowie der Art und Komplexität ihrer Geschäftstätigkeit anzupassen, sodass je nach Einzelfall auch deutlich höhere Sitzungsfrequenzen bzw. die Notwendigkeit, in erheblichem Umfang außerhalb von Sitzungen Zeit für die Amtsausübung aufzuwenden, erforderlich sein können.848) Allerdings zeigt die dargestellte gesetzliche Leitlinie, dass die zeitliche Intensität der Befassung des Aufsichtsrats mit der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft im Vergleich zum hauptamtlich tätigen Vorstand deutlich herabgesenkt ist. 266 Weiterhin ist bei der Bestimmung der Sorgfaltspflichten des Aufsichtsrats maßgeblich der Vertrauens- und Kollegialitätsgrundsatz zu berücksichtigen.849) Danach sind Vorstand und Aufsichtsrat verpflichtet, vertrauensvoll und kollegial miteinander zusammenzuarbeiten. Dies bedingt auch, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich auf eine ordnungsgemäße Amtsausübung durch den Vorstand vertrauen darf und deshalb grundsätzlich nicht gehalten ist, sämtliche Maß___________ 845) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 128; KK-AktG/Mertens/Cahn, MitbestG § 25 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 100. 846) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 58; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 1; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 2; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 11; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 1; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 116 Rz. 5; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 2; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 116 Rz. 23; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 40. 847) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 71; Hüffer/Koch, § 110 Rz. 10; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 36. 848) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 110 Rz. 71 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 691; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 36; Wachter/Schick, § 110 Rz. 11. 849) Fleischer, ZIP 2009, 1397 ff.; siehe ferner Harbarth, ZGR 2017, 211 (221 ff.); Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 1010.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

nahmen des Vorstands mitzuverfolgen und zu hinterfragen.850) Etwas Anderes gilt selbstverständlich dann, wenn das Vertrauen in die Arbeit des Vorstands – etwa wegen Anhaltspunkten für Fehlverhalten851) oder weil eine nachhaltig schlechte Unternehmensentwicklung auf eine mangelnde „glückliche Hand“ des Vorstands bei der Leitung der Gesellschaft hindeutet852) – erschüttert wird oder wenn sich die Gesellschaft in einer besonderen Lage (etwa in der Krise, Insolvenz oder Übernahmesituation) befindet, die eine höhere Überwachungsintensität erfordert.853) Schließlich ist für den Pflichtenmaßstab zu berücksichtigen, dass der Aufsichtsrat 267 ausschließlich als Organ tätig wird.854) Deshalb muss auch nur das Organ Aufsichtsrat – bzw. im Falle einer zulässigen Delegation der jeweils zuständige Ausschuss – insgesamt in der Lage sein, die ihm zugewiesenen Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen.855) Folglich muss nicht jedes Aufsichtsratsmitglied in der Lage sein, die Geschäftsführung allein zu überwachen und jede Entscheidung des Aufsichtsrats alleine zu fällen.856) Diese Erkenntnis steht allerdings im Spannungsverhältnis zu dem Gebot der persönlichen Amtswahrnehmung gemäß § 111 Abs. 6 AktG, nach dem jedes Aufsichtsratsmitglied seine Amtstätigkeit selbst wahrnehmen muss und sich nicht vertreten lassen kann.857) Dies setzt zumindest eine angemessene eigene Befassung mit den Tätigkeiten des Aufsichtsrats,858) einen entsprechenden Beitrag der eigenen Fähigkeiten859) sowie die Fähigkeit, die Entscheidungen des Aufsichtsrats wenigstens nachvollziehen und verstehen zu können,860) voraus.

___________ 850) OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, GWR 2012, 491; Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 23; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 36. 851) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 119; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 19, 22; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 22; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 206. 852) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 135; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 19; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 23; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 24. 853) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 95; Semler, Rz. 231 ff.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 25; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 49; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 304 f.; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 30. 854) Vgl. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 5; Semler/v. Schenk/v. Schenk., § 116 Rz. 117. 855) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 5; Hommelhoff, in: Festschrift Werner, S. 315 (322). 856) In diese Richtung bereits BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, NJW 1983, 991 (Hertie); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 5. 857) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 156; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 109 ff.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 111; Henssler/Strohn/Henssler, § 111 AktG Rz. 28; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 116; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 83. 858) Huthmacher, S. 124; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 890; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 605. 859) Huthmacher, S. 123; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 118; siehe auch Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 886. 860) Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 605; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 111.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

b)

Einzelpflichten

aa)

Pflicht zur Mitarbeit und eigenen Urteilsbildung

268 Aus dem Grundsatz der persönlichen Amtswahrnehmung folgt zunächst die Pflicht eines jeden Aufsichtsratsmitglieds, in angemessenem Umfang an den Aufgaben des Aufsichtsrats mitzuwirken.861) Dies gebietet, sowohl regelmäßig an den Beschlussfassungen des Aufsichtsrats teilzunehmen und sich angemessen auf diese vorzubereiten862) als auch grundsätzlich bereit dafür zu sein, im Rahmen von Ausschüssen oder in sonstiger Weise besondere Aufgaben des Aufsichtsrats wahrzunehmen.863) Eng mit der Mitwirkungspflicht verbunden ist die Pflicht zur eigenen Urteilsbildung. Jedes Aufsichtsratsmitglied ist danach gehalten, die Beschlussgegenstände des Plenums oder der Ausschüsse, dessen Mitglied es ist, inhaltlich nachzuvollziehen und über das eigene Abstimmungsverhalten unabhängig zu entscheiden.864) Zudem setzt die eigene Urteilsbildung voraus, die Berichte über die Arbeit der Ausschüsse, an denen das jeweilige Aufsichtsratsmitglied nicht beteiligt ist, im Wege einer Schlüssigkeitsprüfung nachzuvollziehen und auf dieser Basis zu beurteilen, ob die delegierten Aufgaben ordnungsgemäß durch den Ausschuss wahrgenommen werden. Die Pflichten zur Mitwirkung und eigenen Urteilsbildung verbieten es demnach, sich unreflektiert in sämtlichen Entscheidungen der Mehrheit anzuschließen und die eigene Aufsichtsratstätigkeit auf die physische Präsenz in den Sitzungen zu begrenzen. bb)

Pflicht zur angemessenen Organisation

269 Jedes Aufsichtsratsmitglied ist dazu verpflichtet, zu einer angemessenen Organisation der Aufsichtsratsarbeit beizutragen.865) Dies setzt voraus, funktionierende Abläufe einzurichten, die eine effiziente Überwachung der Geschäftsführung ermöglichen.866) Mindestvoraussetzung hierfür ist es, Regeln für die Vorbereitung, Einberufung und Durchführung von Sitzungen und Beschlussfas___________ 861) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 5; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 31; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 11; Semler/v. Schenk/v. Schenk., § 116 Rz. 118 ff. 862) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 31; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 86; Semler/v. Schenk/Schütz, § 111 Rz. 605; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 17; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 7. 863) Vgl. etwa Semler/v. Schenk/v. Schenk, § 116 Rz. 128; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 20. 864) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 32; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 7. 865) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 4; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 75; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 10; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 654; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 17; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 150. 866) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 1 Rz. 39; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 116 Rz. 75; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 654; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 17; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 132.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

sungen zu schaffen. Ab einer gewissen Größe der Gesellschaft wird außerdem eine Arbeitsteilung durch die Bildung von Ausschüssen erforderlich sein.867) In diesem Fall müssen auch Verfahrensregeln für die Vorbereitung, Einberufung und Durchführungen von Sitzungen und Beschlussfassungen der Ausschüsse aufgestellt werden. Sind für die Arbeit im Aufsichtsratsausschuss keine gesonderten Regelungen festgelegt worden, ist in der Regel davon auszugehen, dass die Verfahrensregeln für das Plenum entsprechende Anwendung finden.868) Im Falle einer Ausschussbildung und bei Betrauung einzelner Aufsichtsratsmit- 270 glieder oder des Vorsitzenden mit bestimmten Aufgaben muss eine klare Kompetenzzuweisung bestehen. Soweit Kompetenzüberschneidungen bestehen, müssen klare Regeln zum Umgang mit Vorfällen, die in den Verantwortungsbereich von mehreren Ausschüssen oder Aufsichtsratsmitgliedern fallen, geschaffen werden. Schließlich muss ein funktionierender Informationsfluss zwischen den Aus- 271 schüssen und dem Plenum, dem Aufsichtsratsvorsitzenden und dem Plenum sowie zwischen den Ausschüssen untereinander gewährleistet werden.869) Dabei ist auch sicherzustellen, dass das Plenum über besonders wichtige Entscheidungen unverzüglich – möglichst im Vorfeld – unterrichtet wird. Dies schließt Entscheidungen ein, die zwar eigentlich in die Kompetenz eines Ausschusses fallen, bei denen der Ausschuss aber nach Treu und Glauben davon ausgehen muss, dass das Plenum von seiner Rückholkompetenz (Æ Rz. 86) Gebrauch machen wird.870) Dem Aufsichtsrat kommt in Bezug auf Form und konkreten Inhalt der Orga- 272 nisationsregeln mit Blick auf sein Selbstorganisationsrecht ein weiter Ermessensspielraum zu, der gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüft werden kann.871) Der Aufsichtsrat ist deshalb insbesondere frei, ob und in welchem Umfang er die organisatorischen Abläufe in Form einer Geschäftsordnung oder durch Beschluss regeln möchte. Daneben ist er grundsätzlich frei zu entscheiden, welche konkreten Regelungen und in welchem Detailgrad er solche schaffen möchte. Die Grenze des Ermessens ist jedoch dann erreicht, wenn die Regelungen er___________ 867) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 336; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 96; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 743; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 93; Semler/v. Schenck/ v. Schenck, § 116 Rz. 153. 868) Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 33; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 774; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 32 Rz. 52; BeckOGK-AktG/Spindler, § 107 Rz. 116; siehe ferner den Vorschlag für eine GO-Bestimmung in Beck’sches Formularbuch AktR/ Messerschmidt, H.III.1 § 10 Abs. 3. 869) Huthmacher, S. 124 f.; zu § 107 Abs. 3 Satz 5 AktG siehe Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 107 Rz. 35; Henssler/Strohn/Henssler, § 107 AktG Rz. 34; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 142; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 788; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 170 ff. 870) In diesem Sinne auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 107 Rz. 401; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 107 Rz. 141. 871) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 38 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 16, 43; Thümmel, AG 2004, 83 (89 f.).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

kennbar die Anforderungen an eine angemessene Organisation nicht erfüllen. Zudem ist jedes Aufsichtsratsmitglied verpflichtet, auf eine Anpassung der bestehenden Organisationsregeln hinzuwirken, wenn es eindeutige Schwachstellen identifiziert.872) cc)

Informierungspflicht

273 Grundbedingung einer effektiven Überwachung der Geschäftsführung ist eine angemessene Informationsbasis.873) Die Aufsichtsratsmitglieder müssen daher sicherstellen, über die von ihnen zu überwachenden Leitungs- und Geschäftsführungsmaßnahmen sowie die Lage der Gesellschaft hinreichend informiert zu sein.874) Der Umfang der Informierungspflicht der Aufsichtsratsmitglieder wird maßgeblich durch den Nebenamtscharakter des Aufsichtsratsamts und den Vertrauensgrundsatz (Æ Rz. 265 f.) bestimmt. Das Aufsichtsratsmitglied kommt deshalb seiner Informierungspflicht regelmäßig nach, wenn es sämtliche Berichte des Vorstands liest und inhaltlich nachvollzieht. Das Aufsichtsratsmitglied darf insoweit grundsätzlich auf die Richtigkeit und die Angemessenheit des Detailgrads der vom Vorstand überlassenen Berichte vertrauen.875) Deswegen muss der Aufsichtsrat im Regelfall nicht jede vom Vorstand übermittelte Information hinterfragen und ist auch nicht zwingend gehalten, zu allen ihm zugetragenen Sachverhalten weitere Informationen nachzufordern, sofern die Berichte schlüssig, angemessen detailliert und widerspruchsfrei erscheinen; etwas anderes gilt dann, wenn der Bericht erkennbar unschlüssig, unvollständig oder widersprüchlich ist oder wenn andere Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Vorstand nicht ordnungsgemäß berichtet haben könnte.876) In diesem Fall muss der Aufsichtsrat weitere Informationen – etwa durch Nachfragen beim Vorstand oder die Geltendmachung des Einsichts- und Prüfungsrechts gemäß § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG – beschaffen. Die Informationsanforderungen intensivieren sich außerdem, wenn sich die Gesellschaft in einer besonderen Lage befindet (etwa in einer Krise, Insolvenz oder Übernahmesituation). ___________ 872) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 81; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 18; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 35. 873) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 7; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 40; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 192; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 7. 874) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 98; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 13; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 55. 875) OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.6.2008 – I-9 U 22/08, ZIP 2008, 1922 (1923); Cahn, WM 2013, 1293 (1298); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 126; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 13; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 47; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 116 Rz. 43. 876) Cahn, WM 2013, 1293 (1298); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 99; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 111 Rz. 20; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 79; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 43.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

Soweit der Aufsichtsrat unternehmerisch tätig wird, gelten schließlich eben- 274 falls erhöhte Anforderungen an die Informierungspflicht der Aufsichtsratsmitglieder. Wie beim Vorstand gilt grundsätzlich, dass sich der Aufsichtsrat alle Informationen beschaffen muss, die er unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nach vernünftiger Beurteilung – auch unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Zeit und der Signifikanz und der Art der zu treffenden Entscheidung – benötigt, um die unternehmerische Entscheidung zu fällen.877) Praxishinweis: Für den konkreten Umfang der Informierungspflicht gelten Be- 275 sonderheiten für solche Entscheidungen, die der Vorstand dem Aufsichtsrat zur Entscheidung vorlegt (wie etwa die Ausübung von Zustimmungsvorbehalten). Bei diesen Entscheidungen gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Aufsichtsrat darf daher grundsätzlich auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der vom Vorstand im Zusammenhang mit der Entscheidung gegebenen Informationen vertrauen. Allerdings muss er auf dieser Basis die Entscheidung nicht nur nachvollziehen, sondern selbst treffen können, weshalb in der Regel zumindest die Essentialia der Entscheidung (im Falle von Rechtsgeschäften etwa der komplette Vertragstext), der unternehmerische Grund für die Entscheidung sowie wesentliche Informationen zu den Chancen und Risiken der Entscheidung dem Aufsichtsrat vorliegen müssen. dd)

Insbesondere: Pflichten bei Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern (ARAG/Garmenbeck)

Besondere Pflichten treffen den Aufsichtsrat bei Anhaltspunkten für Pflicht- 276 verletzungen von Vorstandsmitgliedern. Nach der insoweit maßgeblichen ARAG/ Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH ist der Aufsichtsrat aufgrund seiner reaktiven Überwachungspflicht gemäß § 111 Abs. 1 AktG gegenüber dem Vorstand verpflichtet, Anhaltspunkten für Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern nachzugehen und durchsetzbare Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder grundsätzlich geltend zu machen.878) Der Aufsichtsrat muss hiernach zunächst in einer ersten Stufe eigenverantwortlich prüfen, ob Schadensersatzansprüche gegenüber Vorstandsmitgliedern bestehen und ob sie – auf Grundlage einer sorgfältig durchgeführten Prozessrisiko- und Beitreibbarkeitsanalyse – mit Erfolg gerichtlich durchgesetzt sowie beigetrieben werden können.879) Festgestellte und beitreibbare Schadensatzansprüche muss der Aufsichtsrat grundsätzlich verfolgen, es sei denn, er stellt im Rahmen einer zweiten Prüfungsstufe fest, dass gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls gegen die ___________ 877) Begr. RegEntw zum UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 12; siehe auch Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 47; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 17; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 55, 91; Böttcher, NZG 2007, 481 (483); Ihrig, WM 2004, 2098 (2105 f.); Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (722); Spindler, AG 2006, 677 (681); Ulmer, DB 2004, 859 (860); ähnlich Lutter, ZIP 2007, 841 (844). 878) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 Leitsatz 2 (ARAG/Garmenbeck). 879) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 Leitsätze 2 und 3 (ARAG/ Garmenbeck).

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

Verfolgung der Ansprüche sprechen und diese Gründe die Umstände, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind.880) 277 Hinreichende Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen, die zu einer Prüfungspflicht führen, bestehen, wenn aufgrund einer glaubhaften Information eine Pflichtverletzung von Vorstandsmitgliedern möglich erscheint.881) Nicht ausreichend sind bloße Behauptungen, die ersichtlich „ins Blaue hinein“ getätigt werden oder auf ersichtlich nicht nachvollziehbaren Begründungen beruhen.882) Abseits hiervon ist die Schwelle für das Bestehen einer Prüfungspflicht durch den Aufsichtsrat niedrig. Dabei ist auch die Quelle der Information grundsätzlich unerheblich, sofern sie nicht ersichtlich unglaubwürdig ist. Die Information kann daher aus dem Unternehmen selbst (etwa vom Vorstand, von Mitarbeitern, Whistleblowern oder einem Sonderprüfer) oder von außerhalb (etwa von Behörden oder der Presse) kommen.883) 278 Werden hinreichende Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen im oben genannten Sinne festgestellt, muss der Aufsichtsrat die gebotenen Maßnahmen ergreifen, um die Anhaltspunkte sachverhaltlich aufzuklären und rechtlich zu bewerten.884) Für den Umfang der gebotenen Aufklärungsmaßnahmen gelten die allgemeinen Anforderungen für die Schaffung angemessener Informationsgrundlagen (Æ Rz. 286).885) Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen müssen daher nicht zwingend bis zur Beseitigung jedes Zweifels aufgeklärt werden, sondern – insbesondere unter Berücksichtigung der Schwere und Tragweite der im Raum stehenden Pflichtverletzungen, der zur Verfügung stehenden Zeit, dem Umfang der möglicherweise betreibbaren Schadensersatzansprüche und den Kosten der Aufarbeitung – nur in einem sachgerechten Umfang.886) Verbleiben nach einer ordnungsgemäßen Aufarbeitung der Anhaltspunkte tatsächliche oder rechtliche Zweifel an dem Bestehen möglicher Schadensersatzansprüche, ist dies im Rahmen der nachfolgend anzustellenden Prozessrisiko- und Beitreibbarkeitsanalyse zu berücksichtigen. 279 Im Rahmen der Prozessrisiko- und Beitreibbarkeitsanalyse muss der Aufsichtsrat abschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welcher Höhe durch___________ 880) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 Leitsatz 4 (ARAG/Garmenbeck). 881) Eichner/Höller, AG 2011, 885 (886), mit Verweis auf Brandi, ZIP 2000, 173 (175); Haßler, BB 2017, 1603. 882) Eichner/Höller, AG 2011, 885 (886 f.); Haßler, S. 109; Hüffer/Koch, § 111 Rz. 9. 883) Eichner/Höller, AG 2011, 885 (887 f.); MünchHdb. GesR VII/Koch, § 30 Rz. 37; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 36 f. 884) Eichner/Höller, AG 2011, 885 (889); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 334; Haßler, S. 81 f. 885) Reichert, ZIP 2016, 1189 (1190 f.). 886) Reichert, ZIP 2016, 1189 (1191); siehe auch Arnold, ZGR 2014, 76 (84); MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 91.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

setzbare Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder bestehen.887) Dabei sind rechtliche Umstände – wie die Beweislastverteilung und Beweisbarkeit bestimmter Tatsachen – sowie tatsächliche Umstände – insbesondere die finanzielle Leistungsfähigkeit des betroffenen Vorstandsmitglieds – zu berücksichtigen.888) Eine grundsätzliche Pflicht zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen besteht nach Maßgabe der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung, wenn der Aufsichtsrat im Rahmen der Prozessrisikoanalyse zu dem Ergebnis kommt, dass Schadensersatzansprüche gegen die jeweils betroffenen Vorstandsmitglieder „voraussichtlich“ bestehen, wobei „Gewissheit […] nach Lage der Dinge insoweit nicht verlangt werden“ kann.889) Wann ein Anspruch „voraussichtlich“ durchsetzbar und beitreibbar ist, kann nicht mit mathematischer Genauigkeit prognostiziert werden.890) Dem Aufsichtsrat muss daher bei der Bewertung der Prozessaussichten ein gewisser Beurteilungsspielraum zukommen.891) Demnach muss der Aufsichtsrat jedenfalls dann regelmäßig Schadensersatzansprüche geltend machen, wenn deren Durchsetzung aus der maßgeblichen exante Perspektive deutlich überwiegend wahrscheinlich ist und von einer Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen absehen, wenn deren Durchsetzungswahrscheinlichkeit deutlich unterhalb von 50 Prozent liegt.892) Bestehen leicht überwiegende oder leicht unter 50 Prozent liegende prozessuale Erfolgsaussichten, steht die Beurteilung, ob die Schadensersatzansprüche „voraussichtlich“ erfolgreich durchgesetzt und beigetrieben werden können, in pflichtgemäßer Beurteilung des Aufsichtsrats, die nur eingeschränkt gerichtlich überprüft werden kann. Praxishinweis: Die Prüfung möglicher Pflichtverletzungen und die Prozessrisiko- 280 analyse sind in der Praxis sowohl mit Blick auf die sachverhaltliche Aufarbeitung als auch mit Blick auf die rechtliche Bewertung regelmäßig sehr komplex. Zudem besteht im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von Pflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern auch regelmäßig das Potential für Interessenkonflikte von Aufsichtsratsmitgliedern, weil ein Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern auch immer die Frage eines Überwachungsverschuldens von Aufsichtsratsmitgliedern auf___________ 887) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 335; Haßler, S. 115; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 44; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 459; Reichert, ZIP 2016, 1189 (1194 f.); BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 62. 888) Haßler, S. 115 ff. 889) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 (1928) = ZIP 1997, 883. 890) Götz, NJW 1997, 3275 (3276); Mertens, in: Festschrift K. Schmidt, S. 1183 (1188); BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 62. 891) In der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung wird insoweit von „abschätzen“ gesprochen, vgl. BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926, Leitsatz 3; siehe auch: BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, ZIP 2014, 1728 (1730); Götz, NJW 1997, 3275 (3277); Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 335; Haßler, S. 140 f. 892) Reichert, ZIP 2016, 1189 (1193 f.).; wohl auch Hauschka/Moosmayer/Lösler/Liese, § 7 Rz. 90.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

wirft.893) Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich in der Regel, zur Aufarbeitung und Bewertung von Pflichtverletzungen unabhängige Berater hinzuzuziehen. Auf eine solche Aufarbeitung und Bewertung darf der Aufsichtsrat – mit haftungsbefreiender Wirkung – vertrauen, sofern die Grundsätze der ISION-Rechtsprechung (Æ § 2 Rz. 58 ff.) gewahrt sind. 281 Kommt der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis, dass voraussichtlich durchsetzbare und beitreibbare Ersatzansprüche bestehen, kann er von einer Geltendmachung nur absehen, wenn zumindest gleichwertige Gründe des Unternehmenswohls dem entgegenstehen.894) Hierzu muss der Aufsichtsrat möglichst alle für und gegen die Anspruchsgeltendmachung sprechenden Umstände ermitteln und gegeneinander abwägen.895) In Bezug auf den Umfang der Aufarbeitung der für und gegen die Geltendmachung sprechenden Gründe gelten die Grundsätze der Business Judgement Rule (Æ Rz. 284 ff.). Die Abwägungsentscheidung des Aufsichtsrats unterfällt zwar nach der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung nicht der Business Judgement Rule, allerdings erkennt der BGH auch insoweit ein begrenztes Ermessen des Aufsichtsrats an.896) Bei Ausübung dieser Ermessensentscheidung hat der Aufsichtsrat zu berücksichtigen, dass die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen Organpflichtverletzungen von Vorstandsmitgliedern die Regel und ein Absehen hiervon die Ausnahme sein soll. Die Gründe für ein Absehen von der Geltendmachung von Ansprüchen müssen sich zudem strikt am Unternehmensinteresse orientieren. Sofern diese beiden Grundsätze vom Aufsichtsrat eingehalten werden, ist die von ihm getroffene Entscheidung nach richtiger Auffassung gerichtlich nicht überprüfbar.897) 282 Als Gründe, die für ein Absehen von der Geltendmachung von Ansprüchen in Betracht kommen können, zählt der BGH beispielhaft „negative Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, Behinderung der Vorstandsarbeit und Beeinträchtigung des Betriebsklimas“ auf; die Schonung eines verdienten Vorstandsmitglieds oder die sozialen Folgen der Geltendmachung für das Vorstandsmitglied und seine Familie seien hingegen nur ausnahmsweise gewichtige Gründe, die ein Absehen von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen rechtfertigen könnten.898) In der Praxis sind sehr häufig die negativen Auswirkungen einer (öffentlichkeitswirksamen) gerichtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen auf laufende oder potentielle ___________ Habersack, NZG 2016, 321 (322). BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 = ZIP 1997, 883, Leitsatz 4. Habersack, NZG 2016, 321 (323). BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 (1928) = ZIP 1997, 883. Goette, Liber Amoricum Winter (2011), S. 153 (159 ff.); Habersack, NZG 2016, 321 (323); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 461; Paefgen, AG 2014 554 (571 f.); Reichert, ZIP 2016, 1189 (1194 f.); BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 63; a. A. Koch, NZG 2014, 934 ff.; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 10 f. 898) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/995 (ARAG/Garmenbeck), NJW 1997, 1926 (1928) = ZIP 1997, 883.

893) 894) 895) 896) 897)

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

Klagen Dritter oder behördliche Maßnahmen gegen die Gesellschaft – insbesondere in Kartellsachverhalten und bei börsennotierten Gesellschaften im Hinblick auf eine etwaige kapitalmarktrechtliche Ad-hoc-Plicht – ausschlaggebend, um von einer Geltendmachung von Ansprüchen abzusehen.899) Praxishinweis: Aus der Kombination von Beurteilungsspielraum in Bezug auf die 283 Durchsetzungswahrscheinlichkeit möglicher Ansprüche und dem begrenzten Ermessen in Bezug auf mögliche Gründe, die einer Geltendmachung entgegenstehen, ergibt sich letztlich ein bewegliches System: Je unwahrscheinlicher die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen aus der maßgeblichen ex ante Perspektive des Aufsichtsrats ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Beweggründe, die auf zweiter Stufe ein Absehen von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen rechtfertigen können. c)

Anwendung der Business Judgement Rule

Über § 116 Satz 1 AktG finden auch auf den Aufsichtsrat die Grundsätze der 284 Business Judgement Rule gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (Æ § 2 Rz. 25 ff.) entsprechende Anwendung. Auch der Aufsichtsrat handelt daher nicht pflichtwidrig, wenn er bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise auf der Grundlage angemessener Informationen und zum Wohle der Gesellschaft handelt. Wie beim Vorstand ist die Anwendung der Business Judgement Rule auf 285 Zweckmäßigkeitsentscheidungen begrenzt;900) die über § 116 Satz 1 AktG angeordnete „sinngemäße“ Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG führt nicht zu einer Ausweitung der Business Judgement Rule etwa auf die gesamte Überwachungstätigkeit. Allerdings liegen die Intensität der Überwachung sowie die Wahl der Überwachungsmittel im pflichtgemäßen Ermessen des Aufsichtsrats und sind daher der Business Judgement Rule zugänglich.901) Die Business Judgement Rule ist aber vor diesem Hintergrund darüber hinaus insbesondere im Rahmen seiner Personalkompetenz gemäß §§ 84, 87 AktG902) (Æ Rz. 178 ff.), bei der Schaffung und Ausübung von Zustimmungsvorbehalten gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG903) (Æ Rz. 136 ff, 234), der Geschäftsführung und Vertre___________ Habersack, NZG 2016, 321 (323). Lutter/Krieger/Verse, Rz. 987; MünchAnwHdb. AktR/Ritter, § 24 Rz. 120. Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 70. Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 14; Cahn, WM 2013, 1293; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 66; Huthmacher, S. 137; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 68; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 88; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 43; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 45. 903) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 15; Cahn, WM 2013, 1293; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 66; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 5; Huthmacher, S. 137; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 116 Rz. 68; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 112; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 33 Rz. 88; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 43; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 116 Rz. 45. 899) 900) 901) 902)

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tung gegenüber Vorstandsmitgliedern gemäß § 112 AktG (Æ Rz. 235 ff.) sowie bei den weiteren Geschäftsführungskompetenzen des Aufsichtsrats904) (Æ Rz. 244 ff.) anwendbar. Daneben ist auch die Beurteilung der Angemessenheit der Informationsgrundlagen, die der Aufsichtsrat seinen Entscheidungen zu Grunde legt, eine der Business Judgement Rule unterfallende Zweckmäßigkeitsentscheidung.905) Schließlich entscheidet der Aufsichtsrat auch über die Organisation der Abläufe seiner Amtstätigkeit (Æ Rz. 49 ff.) im pflichtgemäßen Ermessen und kann sich insoweit auf die Business Judgement Rule berufen.906) 286 Bei der Bestimmung der Angemessenheit der Informationsgrundlage sind grundsätzlich der Nebenamtcharakter des Aufsichtsratsamts (Æ Rz. 265) sowie der Vertrauensgrundsatz (Æ Rz. 266) zu beachten. Demnach muss der Aufsichtsrat nicht zwingend selbst eine Informationsgrundlage schaffen, sondern kann bei seinen Entscheidungen grundsätzlich auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der ihm vom Vorstand erstatteten Berichte vertrauen.907) Richtigerweise kann dies uneingeschränkt aber nur für solche Entscheidungen gelten, an denen Vorstand und Aufsichtsrat auf Seiten der Gesellschaft beteiligt sind (insbesondere bei der Ausübung von Zustimmungsvorbehalten, der Prozessvertretung bei Beschlussmängelklagen sowie der Kreditgewährung an Prokuristen und Handlungsbevollmächtigte). Bei Entscheidungen, die der Aufsichtsrat allein zu treffen hat (wie etwa die Festlegung von Zustimmungsvorbehalten, die Beauftragung von Beratern oder die Entscheidung über den Aufschub der Veröffentlichung von aus der Sphäre des Aufsichtsrats stammender Insiderinformationen) oder bei Sachverhalten, bei denen Vorstandsmitglieder gar auf der anderen Seite beteiligt sind (wie etwa bei Personal- und Vergütungsentscheidungen des Aufsichtsrats gemäß §§ 84, 87 AktG, bei Geschäften mit Vorstandsmitgliedern gemäß § 112 AktG und bei der Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder gemäß § 89 Abs. 1 AktG), kann der Aufsichtsrat hingegen naturgemäß nicht allein auf der Basis von Vorstandsberichten entscheiden. Je nach Art der vom Aufsichtsrat allein zu treffenden Entscheidungen kann eine ergänzende Hinzuziehung des Vorstands aber zulässig und ggf. sogar geboten sein. Dies gilt etwa ___________ 904) So allgemein Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 70; Göppert, S. 126; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 66; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 5; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 499; siehe auch Aufzählungen in Cahn, WM 2013, 1293 f.; KKAktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 68; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 43. 905) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 71; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 989; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 116 Rz. 13; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 47. 906) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 73 Fn. 122; Cahn, WM 2013, 1293 (1294); Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 38 f.; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 43. 907) OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.6.2008 – I-9 U 22/08, ZIP 2008, 1922 (1923); Cahn, WM 2013, 1293 (1298); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 126; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 116 Rz. 13; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 989; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 47; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 43.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

für die Festlegung der Vergütung der Vorstandsmitglieder, da der Aufsichtsrat zur Beurteilung der Angemessenheit der Vergütung gemäß § 87 Abs. 1 AktG (Æ Rz. 205 ff.) auch das Vergütungssystem der Mitarbeiter kennen muss. Mögliche Interessenkonflikte können bei Aufsichtsratsmitgliedern vermehrt 287 auftreten, da die Aufsichtsratsmitglieder typischerweise noch anderen Tätigkeiten nachgehen, die möglicherweise auch im Widerspruch zum Interesse der Gesellschaft stehen können.908) Dies gilt nicht nur für Vertreter von Großaktionären, Arbeitnehmern oder der öffentlichen Hand, die naturgemäß auch im Interesse ihrer jeweiligen Share- und Stakeholdergruppen in den Aufsichtsrat bestellt wurden, sondern auch für unabhängige Aufsichtsratsmitglieder, die hauptberuflich etwa in einem anderen Unternehmen oder als Berater von Unternehmen tätig sind.909) Deswegen sollte der Aufsichtsrat ein besonderes Augenmerk auf das Auftreten von Interessenkonflikten legen; im Zweifelsfall sollte das einem Interessenkonflikt unterliegende Aufsichtsratsmitglied nicht an der Beschlussfassung über die entsprechende Entscheidung teilnehmen.910) Umgekehrt ist zu berücksichtigen, dass der Aufsichtsrat nach der konzernund mitbestimmungsrechtlichen Konzeption gerade auch der Repräsentanz von Aktionärs- und Mitarbeiterinteressen dient.911) Deswegen werden lediglich auf deren Nähe zu bestimmten Aktionären oder den Arbeitnehmern beruhende, allgemeine Zielkonflikte von Aufsichtsratsmitgliedern aktienrechtlich toleriert und führen nicht zu einem Interessenkonflikt im Sinne der Business Judgement Rule; erforderlich ist vielmehr ein in der Person des Aufsichtsratsmitglieds konkret bestehender Interessenkonflikt.912) Selbstverständlich kann sich auch der Aufsichtsrat nur dann auf die Business 288 Judgement Rule berufen, wenn die Entscheidung nicht gegen Gesetz oder Satzung verstößt und er die Entscheidung am Wohl der Gesellschaft ausrichtet. Insoweit gelten gegenüber der rechtlichen Situation beim Vorstand keine wesentlichen Besonderheiten (zum Handeln des Vorstands zum Wohl der Gesellschaft Æ § 2 Rz. 44). ___________ 908) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 8; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 142; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 83; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 894; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 80; MünchKomm-AktG/Habersack, § 116 Rz. 47; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 178; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 90. 909) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 83; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 80; MünchKomm-AktG/Habersack, § 116 Rz. 47; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 90. 910) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 8; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 145; Hüffer/Koch, § 108 Rz. 13; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1007; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 39. 911) Hüffer/Koch, § 116 Rz. 6; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 42; Koch, ZGR 2014, 697 (707 f.). 912) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 42.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

3.

Überwachungspflicht

289 Schließlich trifft auch die Aufsichtsratsmitglieder als Ausprägung ihrer Sorgfaltspflicht eine Überwachungspflicht. Damit ist nicht die Pflicht zur ordnungsgemäßen Überwachung des Vorstands – dies ist eine Ausprägung der Sorgfaltspflicht im engeren Sinne –, sondern zur ordnungsgemäßen Überwachung der Erfüllung von Aufgaben des Aufsichtsrats, die dieser auf Ausschüsse, einzelne Mitglieder oder den Vorsitzenden delegiert hat, gemeint. Die konkreten Anforderungen an die Pflichten des Aufsichtsrats hängen insoweit davon ab, ob die entsprechenden Aufgaben zur Vorbereitung oder zur Entscheidung delegiert worden sind.913) 290 Bei Entscheidungen, die lediglich zur Vorbereitung delegiert worden sind und über die das Aufsichtsratsplenum entscheidet, muss sich jedes Aufsichtsratsmitglied mit Blick auf das Gebot der persönlichen Amtswahrnehmung (Æ Rz. 267) selbst von der Richtigkeit der Entscheidung überzeugen und – soweit Ermessen besteht – die für und gegen die Entscheidung sprechenden Umstände selbst beurteilen.914) Allerdings können sich die Aufsichtsratsmitglieder, die nicht an der Vorbereitung der Entscheidung beteiligt waren, grundsätzlich auf die von dem mit der Vorbereitung betrauten Ausschuss bzw. den hiermit betrauten Mitgliedern des Aufsichtsrats mitgeteilten Entscheidungsgrundlagen verlassen, sofern eine sorgfältige Plausibilitätskontrolle ergibt, dass diese angemessen, konsistent und frei von Widersprüchen sind.915) 291 Bei Aufgaben, die zur Entscheidung delegiert worden sind, darf sich der Aufsichtsrat grundsätzlich auf die ordnungsgemäße Wahrnehmung dieser Aufgaben durch den damit betrauten Ausschuss bzw. das damit betraute Aufsichtsratsmitglied verlassen.916) Allerdings muss er den jeweiligen Delegationsempfänger sorgfältig auswählen und sicherstellen, dass dieser in der Lage ist, die delegierte Aufgabe ordnungsgemäß wahrzunehmen.917) Zudem haben das Plenum bzw. ___________ 913) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 134; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 1002; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 61. 914) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 134; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 84; Henssler/ Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1003; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 62; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 59. 915) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 134; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 7; Cahn, WM 2013, 1293 (1300 f.); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 116 Rz. 84; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1003; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 174; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 6; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 63 f.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 59. 916) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1004. 917) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 7; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 83; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 11; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 174; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 65.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

die nicht mit der Aufgabe betrauten Mitglieder des Aufsichtsrats den Delegationsempfänger laufend zu überwachen.918) Dies bedingt, dass in den Sitzungen des Aufsichtsrats regelmäßig über die Ausschusstätigkeit bzw. die von einem einzelnen Mitglied oder dem Aufsichtsratsvorsitzenden wahrgenommenen Aufgaben berichtet wird.919) Treten in diesem Rahmen – oder in sonstiger Weise – Anhaltspunkte dafür auf, dass der Delegationsempfänger die ihm übertragenen Aufgaben nicht ordnungsgemäß erfüllt, muss der Aufsichtsrat bzw. das jeweilige Aufsichtsratsmitglied, das von diesen Umständen Kenntnis erlangt, diesen nachgehen.920) Bestätigen sich die Verdachtsmomente, muss der Aufsichtsrat einschreiten, notfalls indem er von seiner Rückhol- oder Durchbrechungsbefugnis Gebrauch macht (Æ Rz. 86).921) II.

Treuepflichten

Neben den Sorgfaltspflichten treffen Aufsichtsratsmitglieder auch Treuepflichten. 292 Jedes Aufsichtsratsmitglied hat sich grundsätzlich gegenüber der Gesellschaft loyal zu verhalten und das Unternehmensinteresse zu wahren.922) Mit Blick auf den Nebenamtscharakter des Aufsichtsratsamts gilt die uneingeschränkte Treuepflicht der Aufsichtsratsmitglieder nur im Rahmen ihrer Amtsausübung.923) Außerhalb der Amtswahrnehmung ist das Aufsichtsratsmitglied grundsätzlich frei und nur eingeschränkten Bindungen unterworfen.924) Im Einzelnen gilt Folgendes: In Wahrnehmung seiner Amtstätigkeit darf das Aufsichtsratsmitglied insbe- 293 sondere keine eigenen Interessen auf Kosten der Gesellschaft verfolgen und muss sein Handeln strikt am Unternehmensinteresse ausrichten.925) Bei Interessenkonflikten muss das Aufsichtsratsmitglied den Interessen der Gesellschaft im Rahmen seiner Aufsichtsratstätigkeit den unbedingten Vorrang einräumen926); kann es dies – etwa wegen entgegenstehender Pflichten in einem ___________ 918) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1004; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 6. 919) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 11; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1004; MünchKommAktG/ Habersack, § 107 Rz. 174; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 6. 920) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 83; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1004; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 6; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 66. 921) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1004; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 6. 922) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 8; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 11; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 144; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 29. 923) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 144; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 59; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 7; MünchKomm-AktG/Habersack, § 116 Rz. 47; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 25; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 178; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 116 Rz. 81. 924) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 149. 925) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 12; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 166; MünchKomm-AktG/Habersack, § 116 Rz. 47. 926) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 145; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 59; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 25; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 47; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 27; Semler/v. Schenck/ v. Schenck, § 116 Rz. 179.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

anderen Amtsverhältnis – nicht, muss es sich bei der maßgeblichen Abstimmung im Aufsichtsrat der Stimme enthalten und darf auch sonst keinen Einfluss nehmen, um dem mit dem Gesellschaftsinteresse konfligierenden Interesse den Vorrang einzuräumen.927) Eine Berücksichtigung von Partikularinteressen – etwa von Großaktionären, Mitarbeitern oder Entsendungsberechtigten – ist jedoch möglich, soweit dies nicht in Widerspruch zum Unternehmensinteresse steht.928) Bei einem andauernden, nicht anders lösbaren Interessenkonflikt ist das Aufsichtsratsmitglied im Zweifel verpflichtet, sein Amt niederzulegen.929) Auch ein Eingriff in die Kompetenz oder die Rechte anderer Organe oder Organmitglieder im Rahmen der Amtsausübung stellt eine Treuepflichtverletzung dar. So stellen etwa der bewusste Ausschluss der Arbeitnehmervertreter von Aufsichtsratssitzungen oder Sitzungen von Ausschüssen, an denen Arbeitnehmervertreter beteiligt sind, einen Treuepflichtverstoß dar. Zulässig und üblich sind aber Vorbesprechungen der einzelnen Bänke ohne Beteiligung der jeweils anderen Bank.930) Diese sind bereits notwendig, um ein einheitliches Abstimmungsverhalten bei den Beschlussfassungen sicherzustellen.931) Schließlich ist das Aufsichtsratsmitglied gegenüber dem Plenum über seine Amtstätigkeit auskunftspflichtig, soweit die Auskunft im Interesse der Gesellschaft geboten ist.932) Dies kann etwa im Zusammenhang mit internen Untersuchungen der Fall sein. 294 Außerhalb der Amtstätigkeit ist die Verfolgung eigener Interessen durch ein Aufsichtsratsmitglied – auch wenn diesen das Gesellschaftsinteresse entgegensteht – grundsätzlich zulässig, sofern es nicht seinen Einfluss als Aufsichtsratsmitglied oder die im Zuge der Aufsichtsratstätigkeit gewonnenen Erkenntnisse nutzt.933) Aufsichtsratsmitglieder unterliegen insbesondere grundsätzlich keinem Wettbewerbsverbot und dürfen deshalb grundsätzlich auch für Konkurrenzunternehmen tätig werden.934) Etwas anderes gilt, wenn die Konkur___________ 927) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 12; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 145; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 25; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 49; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 27. 928) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 29; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 186. 929) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 8; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 27. 930) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 699; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 37; ausführlich E. Vetter, in: Festschrift Hüffer, S. 1017 (1022 f.); Wittgens/Vollertsen, AG 2015, 261 ff. 931) E. Vetter, in: Festschrift Hüffer, S. 1017 (1018). 932) So wohl auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 170. 933) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 147; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 27; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 50; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 179. 934) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 11; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 150 f.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 59; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 31; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 51; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 28.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

renzsituation so stark ist, dass das Aufsichtsratsmitglied nicht mehr in der Lage ist, sein Amt konfliktfrei auszuüben; in diesem Fall hat das Aufsichtsratsmitglied entweder sein Amt niederzulegen oder die Konkurrenztätigkeit aufzugeben.935) Geschäftschancen der Gesellschaft, von denen das Aufsichtsratsmitglied im Rahmen seiner Amtstätigkeit Kenntnis erlangt hat, darf es weder für sich selbst nutzen noch einem Unternehmen, für das es tätig ist, andienen.936) Treuwidrig können auch negative öffentliche Äußerungen von Aufsichtsratsmitgliedern sein, wobei insoweit allerdings eine Abwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG) der Aufsichtsratsmitglieder und dem Interesse der Gesellschaft geboten ist.937) Bereits wegen der damit verbundenen negativen Außenwirkung sind auch Verstöße gegen Insiderhandelsverbote (Art. 8 Abs. 4 lit. a), Art. 14 lit. a) MAR) mit Bezug zur Gesellschaft zugleich Treuepflichtverstöße.938) Schließlich darf sich das Aufsichtsratsmitglied selbstverständlich auch nicht ungerechtfertigt Gesellschaftsressourcen aneignen, sei es durch den „Griff in die Kasse“ oder die Entgegennahme von Vorteilen oder Dienstleistungen auf Kosten der Gesellschaft.939) Grundsätzlich endet die Treubindung des Aufsichtsratsmitglieds mit dessen 295 Ausscheiden aus dem Aufsichtsratsamt. Allerdings gelten gewisse nachwirkende Treuepflichten auch nach Beendigung des Organverhältnisses fort. Insbesondere darf das Aufsichtsratsmitglied auch nach dem Ausscheiden keine im Amt erlangten Informationen oder bekannt gewordenen Geschäftschancen der Gesellschaft nutzen. Es ist auch weiterhin zur Auskunft über seine Organtätigkeit verpflichtet, soweit dies im Interesse der Gesellschaft geboten ist.940) Schließlich können negative Äußerungen über die Gesellschaft auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt treuwidrig sein, wobei im Rahmen der hierbei gebotenen Abwägungsentscheidung der Meinungsfreiheit des ehemaligen Aufsichtsratsmitglieds ein deutlich höherer Stellenwert zugemessen werden muss als bei amtierenden Aufsichtsratsmitgliedern. ___________ 935) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 34. 936) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 8; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 14; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 61; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 50; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 28; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 192; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 84. 937) Vgl. Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 26; zur Treuwidrigkeit siehe auch OLG Stuttgart, Urt. v. 29.2.2012 – 20 U 3/11, ZIP 2012, 625 (630). 938) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 165; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 60; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 31; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 50; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 28; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 200 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 85. 939) Näher dazu Fleischer, WM 2003, 1045 (1056) m. w. N. 940) Großkomm-AktG/Hopt/Roth § 116 Rz. 170.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

III.

Verschwiegenheitspflichten

296 Gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG sind Aufsichtsratsmitglieder im gleichen Maße wie Vorstandsmitglieder zur Verschwiegenheit verpflichtet.941) Auch Aufsichtsratsmitglieder müssen deshalb über Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Gesellschaft (Æ § 1 Rz. 331 ff.) absolutes Stillschweigen bewahren. 297 § 116 Satz 2 AktG stellt klar, dass sich die Verschwiegenheitspflicht auch auf die dem Aufsichtsrat zur Verfügung gestellten Berichte sowie die Beratungen des Aufsichtsrats bezieht.942) Die Pflicht zur Verschwiegenheit über die Beratungen umfasst auch die Beratungsergebnisse und das Stimmverhalten der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder.943) Ein Verstoß gegen die Vertraulichkeit liegt in diesem Zusammenhang nach h. M. bereits vor, wenn das eigene Abstimmungsverhalten offengelegt wird, weil hierdurch zumindest der Rückschluss möglich ist, dass der entsprechende Beschluss nicht einstimmig gefasst worden ist, und weil hierdurch faktischer Rechtfertigungsdruck auf die anderen Aufsichtsratsmitglieder ausgeübt wird.944) 298 Die Vertraulichkeitspflicht ist für das konstruktive Zusammenwirken der Gesellschaftsorgane unverzichtbar und muss daher von allen Aufsichtsratsmitgliedern strikt beachtet werden.945) Die Verschwiegenheitspflicht gilt grundsätzlich gegenüber allen Dritten946) und – soweit Informationen aus der Sphäre des Aufsichtsrats einschließlich seiner Beratungen betroffen sind – auch gegenüber dem Vorstand.947) Es besteht auch keine „Rechenschaftspflicht“ der jeweiligen Gruppen im Aufsichtsrat gegenüber den Personenkreisen, die sie be___________ 941) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 193; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 29; KKAktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 37; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 22; vgl. Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 496. 942) Zur lediglich klarstellenden Funktion: Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 496; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 1, 16; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 121; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 9. 943) RegBegr zum TransPuG, BT-Drucks. 14/8769, S. 18; BGH, Urt. v 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (330) (Bayer). 944) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 57; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 54; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 222 f.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 35; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 120. a. A. Säcker, NJW 1986, 803 (807 f.); Keilich/ Brummer, BB 2012, 897 (898). 945) Vgl. statt aller BGH, Urt. v 5.6.1975 – II ZR 156/73, BGHZ 64, 325 (330) (Bayer); Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 9; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 106; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 9; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 52; Marsch-Barner/ Schäfer/ E. Vetter, § 30 Rz. 13; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 265. 946) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 53; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 201 f.; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 483 ff.; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 15. 947) Vgl. dazu Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 237 f.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/ Rabe, § 116 Rz. 72; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 114; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 58.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

stellt haben.948) Deswegen besteht die Verschwiegenheitspflicht auch gegenüber Großaktionären, entsendungsberechtigen Aktionären, den Arbeitnehmern und Gewerkschaften.949) Grundsätzlich gilt die Verschwiegenheitspflicht auch gegenüber herrschenden Unternehmen (§ 17 AktG)950); hierbei sind jedoch die konzernrechtlichen Besonderheiten zu beachten (Æ § 7 Rz. 205). Ausnahmen von der Verschwiegenheitspflicht bestehen insbesondere bei ge- 299 setzlich angeordneten Auskunftsrechten, etwa gegenüber der Prüfstelle für Rechnungslegung (§ 342b HGB) oder dem Abschlussprüfer (§ 320 Abs. 2 HGB).951) Daneben ist eine Weitergabe von vertraulichen Informationen in engen Grenzen auch an Hilfskräfte und Berater möglich.952) Voraussetzung ist jeweils, dass die Hilfskräfte und Berater in Unterstützung des Aufsichtsrats oder eines Aufsichtsratsmitglieds tätig werden, diese nur solche vertraulichen Informationen erhalten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigen („need-to-know-Prinzip“), und sie aufgrund Vereinbarung oder berufsrechtlicher Regelungen zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.953) Eine Offenlegung vertraulicher Informationen ist auch in extremen Konfliktsituationen möglich, etwa wenn durch die Geheimhaltung der Information der Gesellschaft ein Schaden droht, der einen möglichen Schaden durch die Offenlegung der Information evident in ganz erheblichem Umfang überwiegt, oder im Rahmen der Rechtsverteidigung des Aufsichtsratsmitglieds gegen eine Inanspruchnahme durch die Gesellschaft.954) Eine Offenlegung der vertraulichen Informationen durch ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied ist aber auch in Konfliktsituationen unzulässig, soweit es zumutbar ist, dass das zur Offenlegung der Information berufene Organ (Vorstand oder Aufsichtsrat) über die Offenlegung entscheidet. Schließlich gilt gemäß §§ 394, 395 AktG eine Ausnahme für Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat bestellt worden sind. Diese dürfen unter engen Voraussetzungen ___________ 948) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 201; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 56; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 58, 63; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 111 f. 949) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 201; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 56; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 111 f. 950) BGH, Urt. v. 26.4.2016 – XI ZR 108/15, Leitsatz 1, BB 2016, 1421; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 462; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 70; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 60; vgl. auch BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 129; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 37. 951) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 61; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 202; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 58. 952) Vgl. Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 47; Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 116 Rz. 252 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 59; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 41. 953) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 47; Lutter, Rz. 564; Bürgers/Körber/ LiederBürgers/Fischer, § 116 Rz. 21; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 41; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 252; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 59. 954) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 283; vgl. auch Lutter, Rz. 437.

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§ 3 Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats

vertrauliche Informationen an die dazu berufenen Vertreter der Gebietskörperschaft weitergeben, wenn und soweit dies zur Erfüllung einer Berichterstattungspflicht gegenüber der Gebietskörperschaft von Bedeutung ist. Zweck dieser Regelung ist die Sicherstellung einer effektiven Beteiligungsverwaltung durch die Gebietskörperschaft. Die vertraulichen Informationen dürfen die Gebietskörperschaft deshalb nur zu diesem Zweck anfordern oder verwenden; eine Verwendung der Informationen für politische Zwecke oder gar zur Offenlegung ist daher ausgeschlossen. Die zur Einschränkung der Vertraulichkeit führende Berichterstattungspflicht bedarf außerdem einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage.955) Eine solche kann gemäß § 394 Abs. 1 Satz 3 AktG ein Gesetz, eine Satzung oder ein dem Aufsichtsrat in Textform mitgeteiltes Rechtsgeschäft sein. Mit Gesetzen sind in diesem Zusammenhang sowohl formelle als auch materielle Gesetze956), mit Satzungen ist die Satzung der Gesellschaft gemeint957). Entgegen der wohl herrschenden Auffassung958) können Rechtsgeschäfte nur solche mit der Gesellschaft sein; anderenfalls – etwa bei Verträgen zwischen dem Aufsichtsratsmitglied und „seiner“ Gebietskörperschaft – läge ein unzulässiger Vertrag zu Lasten Dritter vor, bei dem der notwendige Interessenausgleich zwischen den Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft und den Offenlegungsinteressen der Gebietskörperschaft nicht gewahrt wäre.959) Die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Weitergabe von Informationen an Gebietskörperschaften steht auch nicht im freien Belieben der entsprechenden politischen Entscheidungsträger, da mit der über die Berichtspflicht entstehenden Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht ein Grundrechtseingriff in das Eigentumsrecht der Gesellschaft gemäß Art. 14 GG verbunden ist. Während ein solcher Eingriff bei Mehrheits- und vor allem bei Alleinbeteiligungen der Gebietskörperschaft an der Gesellschaft in der Regel verfassungsrechtlich unproblematisch sein dürfte, wird eine Berichtspflicht bei Minderheitsbeteiligungen der Gebietskörperschaft nur ausnahmsweise und nur bei einem sehr eingeschränkten Umfang der Berichtspflichten und des Empfängerkreises verfassungsrechtlich zulässig sein.960) In jedem Fall sind die Empfänger der ver___________ 955) Bürgers/Körber/Lieder/Pelz, § 394 Rz. 4; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 394 Rz. 23 ff.; Semler/v. Schenck/Gasteyer, § 394 Rz. 21; Hüffer/Koch, § 394 Rz. 36 ff.; Wachter/ Früchtl, § 394 Rz. 7; BeckOGK-AktG/Schall, § 394 Rz. 10; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1432. 956) Koch, BOARD 2016, 251 (253); Schmidt/Lutter/Oetker, § 394 Rz. 18; KK-AktG/ Kersting, § 394, 395 Rz. 125; BT-Drucks. 18/4349, S. 33. 957) BT-Drucks. 18/4349, S. 33; KK-AktG/Kersting, § 394, 395 Rz. 125, 129; Koch, BOARD 2016, 251 (254). 958) KK-AktG/Kersting, § 394, 395 Koch, BOARD 2016, 251 (254); MünchKommAktG/ Schürnbrand, § 394 Rz. 26. 959) Diesen Aspekt erkennt auch KK-AktG/Kersting, § 394, 395 Rz. 134, der sich aber gleichwohl für die Zulässigkeit eines solchen Vertrages ausspricht, vgl. Rz. 136. 960) Siehe auch zum vergleichbaren Fall der Abwägung zwischen Frage- und Informationsrechten des Deutschen Bundestages einerseits und Grundrechten des betroffenen Unternehmens andererseits: BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11, juris Rz. 245.

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C. Pflichten des Aufsichtsrats

traulichen Informationen gemäß § 395 Abs. 1 AktG selbst zur Verschwiegenheit verpflichtet.961) Aus dem Rechtsgedanken des § 395 Abs. 1 AktG ist abzuleiten, dass der Empfänger der Informationen kein öffentlich tagendes Gremium sein kann und dass die Zahl der Empfänger gering sein muss.962) Der Aufsichtsrat ist grundsätzlich nicht befugt, über die Offenlegung vertrau- 300 licher Informationen zu entscheiden, da er als reines Innenorgan nicht zur Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft berufen ist; die Informationshoheit kommt vielmehr allein dem Vorstand zu (zur Befreiung von der Verschwiegenheitspflicht Æ § 1 Rz. 340).963) Etwas Anderes gilt aber für solche vertraulichen Informationen, die im Herrschaftsbereich des Aufsichtsrats entstanden sind, wie etwa die Inhalte der Beratungen und die Abstimmungsergebnisse der Aufsichtsratssitzungen. Über deren Offenlegung entscheidet der Aufsichtsrat als Gesamtorgan.964) Soweit die Sphären beider Organe betroffen sind, kommt es darauf an, wem die Entscheidung originär zuzuordnen ist.965) Im Zweifel ist eine Entscheidung beider Gremien einzuholen.966) Geschäftliche Maßnahmen des Vorstands, die einem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats unterfallen, verbleiben etwa Entscheidungen des Vorstands, sodass eine Offenlegung der in diesem Zusammenhang bestehenden vertraulichen Informationen nur durch den Vorstand erfolgen kann.967) Soweit die Abstimmungsergebnisse des Aufsichtsrats über die Ausübung des entsprechenden Zustimmungsvorbehalts betroffen sind, sind die vertraulichen Informationen hierüber evident dem Aufsichtsrat zuzuordnen; der Aufsichtsrat kann aber die Abstimmungsergebnisse nicht öffentlich machen, ohne mittelbar über die ggf. vertrauliche Geschäftsführungsmaßnahme zu berichten. Deswegen kann der Aufsichtsrat seine Abstimmungsergebnisse in diesem Zusammenhang nur nach Offenlegung der Geschäftsführungsmaßnahme durch den Vorstand oder mit Zustimmung des Vorstands offenlegen. ___________ 961) Großkomm-AktG/Huber/Fröhlich, § 395 Rz. 4; MünchKommAktG/Schürnbrand, § 395 Rz. 1; Heidel/Stehlin, § 395 Rz. 1; Schmidt/Lutter/Oetker, § 395 Rz. 1; vgl. auch Land/ Hallermayer, AG 2011, 114 (118). 962) Vgl. Schmidt/Lutter/Oetker, § 394 Rz. 31 f.; Hüffer/Koch, § 394 Rz. 42; Semler/v. Schenck/ Gasteyer, § 394 Rz. 28; Heidel/Stehlin, § 394 Rz. 8; Schwintowski, NJW 1990, 1009 (1014 f.). 963) Vgl. auch BGH, Urt. v. 5.6.1975 – II ZR 156/73, NJW 1975, 1412 (1413); Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 76; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 207; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 284; Lutter, Rz. 401; E. Vetter, AG 2014, 387 (389). 964) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 110; vgl. auch Leyendecker-Langner, NZG 2015, 44 (47); Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 14 Rz. 15; Linker/Zinger, NZG 2002, 497(502). 965) Vgl. auch Leyendecker-Langner, NZG 2015, 44 (47). 966) Vgl. zu einem entsprechenden Beispiel etwa Lutter, Rz. 693 f. 967) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 110; Lutter, Rz. 431; Hirt/Hopt/Mattheus, AG 2016, 725 (737).

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

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Übersicht A. Innenhaftung..................................... 1 I. Haftungsvoraussetzungen, §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG................ 2 1. Organstellung als Aufsichtsratsmitglied......................... 2 2. Pflichtverletzung ......................... 3 a) Persönliche Vorwerfbarkeit, Pflichtverletzung überstimmter oder abwesender Aufsichtsratsmitglieder............... 4 b) Zeitpunkt der Überschreitung der Schwelle zur Pflichtwidrigkeit.......................... 9 c) Sondertatbestände ..................... 11 d) Darlegungs- und Beweislast...... 14 3. Verschulden ............................... 15 4. Schaden und Kausalität ............. 22 II. Haftungshöhe ................................... 25 III. Verjährung ....................................... 27

IV. Billigung durch die Hauptversammlung..................................... 28 V. Verzicht, Vergleich und Freistellung ....................................... 31 VI. Gesamtschuld und Innenausgleich ................................................. 34 VII. Weitere Haftungsgrundlagen ......... 36 VIII. Anspruchsverfolgung .................... 38 B. Außenhaftung ................................. 40 I. Haftung gegenüber Aktionären ...... 42 II. Haftung gegenüber sonstigen Dritten .............................................. 46 C. Haftung der Gesellschaft für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern ...................... 51 D. Haftung Dritter für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern ................................ 52

Schrifttum: Buck-Heeb/Diekmann, Informationsdeliktshaftung von Vorstandsmitgliedern und Emittenten, AG 2008, 681; Cahn, Aufsichtsrat und Business Judgment Rule, WM 2013, 1293; Cahn, Vorstandsvergütung als Gegenstand rechtlicher Regelung, in: Festschrift Hopt (Bd. I), 2010, S. 431; Diekmann/Wurst, Die Organisation der Aufsichtsratsarbeit, NZG 2014, 121; Dietz-Vellmer, Hauptversammlungsbeschlüsse nach § 119 II AktG – geeignetes Mittel zur Haftungsvermeidung für Organe?, NZG 2014, 721; Dreher, Die Qualifikation der Aufsichtsratsmitglieder, in: Festschrift Boujong, 1996, S. 71; Edenfeld/ Neufang, Die Haftung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, AG 1999, 49; Fischbach, Hauptversammlungsvorlagen des Aufsichtsrats, ZIP 2013, 1153; Fleischer, Haftungsfreistellung, Prozesskostenersatz und Versicherung für Vorstandsmitglieder – eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme zur Enthaftung des Managements, WM 2005, 909; Fleischer, Verjährung von Organhaftungsansprüchen: Rechtspraxis – Rechtsvergleichung – Rechtspolitik, AG 2014, 457; Goette, Organisationspflichten in Kapitalgesellschaften zwischen Rechtspflicht und Opportunität, ZHR 175 (2011), 388; Habersack, Die Freistellung des Organwalters von seiner Haftung, in: Festschrift Ulmer, 2003, S. 151; Harbarth/ Höfer, Beginn der Dreijahresfrist des § 93 IV 3 AktG bei nicht abgeschlossener Schadensentstehung, NZG 2016, 686; Hoffmann/Preu, Der Aufsichtsrat, 5. Aufl., 2002; Hoffmann-Becking, Das Recht des Aufsichtsrats zur Prüfung durch Sachverständige nach § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG, ZGR 2011, 136; Hoffmann-Becking, Unabhängigkeit im Aufsichtsrat, NZG 2014, 801; Hüffer, Unangemessenheit der Vorstandsvergütung als Haftungsrisiko von Aufsichtsratsmitgliedern, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 589; Huthmacher, Pflichten und Haftung der Aufsichtsratsmitglieder – Zugleich eine Untersuchung zur kollegialorganschaftlichen Innenhaftung des Aufsichtsrats, Diss. 2014; Ihrig/ Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands; Kau/Kukat, Haftung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern bei Pflichtverletzung nach dem Aktiengesetz, BB 2000, 1045; Kiethe, Falsche Erklärung nach § 161 AktG – Haftungsverschärfung für Vorstand und Aufsichtsrat?, NZG 2003, 559; Koch, Beschränkung der Regressfolgen im Kapitalgesell-

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats schaftsrecht, AG 2012, 429; Lutter, Bankenvertreter im Aufsichtsrat, ZHR 145 (1981), 224; Mertens, Die Geschäftsführungshaftung in der GmbH, in: Festschrift Fischer, 1979, S. 461; Noack, Haftungsfragen bei Vorstandsdoppelmandaten im Konzern, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 847; Reichard, Gerichtliche Aufsichtsratsergänzung bei Beschlussboykott, AG 2012, 359; Reichert/Ullrich, Haftung von Aufsichtsrat und Vorstand nach dem VorstAG, in: Festschrift U. H. Schneider, 2011, S. 1017; Rubner/Fischer, Erneut: Professionalisierung des Aufsichtsrats. Zu den Änderungen des DCGK 2015, NZG 2015, 782; Rubner/Granrath, Zeitlicher Einsatz von Aufsichtsratsmitgliedern, NJWSpezial 2014, 719; v. Schenck, Handlungsbedarf bei der D&O-Versicherung, NZG 2015, 494; Scholderer/v. Werder, Dissens im Aufsichtsrat – Beurteilung alternativer Verhaltensoptionen aus Sicht guter Corporate Governance, ZGR 2017, 865; Schwark, Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Kreditausschusses einer Bank, in: Festschrift Canaris (Bd. II), 2007, S. 389; Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern. Bürgerlichrechtliche, gesellschaftsrechtliche und versicherungsrechtliche Grundlagen der Freistellung und der Versicherung von organschaftlichen Haftungsrisiken im Kapitalgesellschaftsrecht, habil. 2010; Thümmel, Aufsichtsräte in der Pflicht? – Die Aufsichtsratshaftung gewinnt Konturen, DB 1999, 885; Ulmer, Der Deutsche Corporate Governance Kodex – ein neues Regulierungsinstrument für börsennotierte Aktiengesellschaften, ZHR 166 (2002), 150; Ulmer, Zur Haftung der abordnenden Körperschaft nach § 31 BGB für Sorgfaltsverstöße des von ihr benannten Aufsichtsratsmitglieds, in: Festschrift Stimpel, 1985, S. 705; E. Vetter, Die Verantwortung und Haftung des überstimmten Aufsichtsratsmitglieds, DB 2004, 2623; Voß, Gesamtschuldnerische Organhaftung. Die gesamtschuldnerische Haftung von Geschäftsleitern und Aufsichtsratsmitgliedern für Pflichtverletzungen und deren interne Haftungsanteile, Diss. 2008.

A.

Innenhaftung

1 Verletzen Aufsichtsratsmitglieder ihre Pflichten, sind sie der Gesellschaft gegenüber zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Über die Verweisungsnorm des § 116 Satz 1 AktG gelten insoweit die Haftungsregeln für den Vorstand sinngemäß für den Aufsichtsrat. Die Verweisung umfasst dabei – mit Ausnahme der Selbstbehaltsregelung für D&O-Versicherungen des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG – sämtliche Haftungsvoraussetzungen (§ 93 Abs. 2 AktG) und Sondertatbestände (§ 93 Abs. 3 AktG) sowie die Regelungen über eine Enthaftung durch Hauptversammlungsbeschluss (§ 93 Abs. 4 Satz 1 AktG), über den Verzicht und Vergleich in Bezug auf Schadensersatzansprüche (§ 93 Abs. 4 Satz 3, Satz 4 AktG), die Möglichkeit der Anspruchsverfolgung durch Gläubiger der Gesellschaft (§ 93 Abs. 5 AktG) sowie die Verjährung von Ansprüchen (§ 93 Abs. 6 AktG). Neben der Verweisung auf § 93 AktG stellt § 116 Satz 3 AktG zudem einen eigenen Sondertatbestand für Pflichtverletzungen wegen der Festsetzung unangemessen hoher Bezüge für Vorstandsmitglieder auf. Insgesamt entspricht die Innenhaftung des Aufsichtsrats im Wesentlichen der Haftung des Vorstands (Æ § 2 Rz. 2 ff.). Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf die für den Aufsichtsrat geltenden Besonderheiten. I.

Haftungsvoraussetzungen, §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG

1.

Organstellung als Aufsichtsratsmitglied

2 Die Haftung gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG setzt zunächst die organschaftliche Stellung als Aufsichtsratsmitglied voraus. Dementsprechend kann eine Scha476

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A. Innenhaftung

densersatzpflicht nur entstehen, wenn ein Aufsichtsratsmitglied eine Pflichtverletzung während der Dauer seiner Amtszeit begeht.1) Die Amtszeit beginnt mit der Annahme des Wahlbeschlusses bzw. der Annahme der Entsendungsentscheidung durch das Aufsichtsratsmitglied.2) Sie endet grundsätzlich mit Ablauf der Amtszeit; bei einer vorzeitigen Beendigung endet das Amt mit dem Wirksamwerden der jeweiligen Beendigungsmaßnahme. Auch das fehlerhaft bestellte Aufsichtsratsmitglied muss gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG haften, sofern es das Amt tatsächlich aufnimmt.3) Bei einer Amtsniederlegung zur Unzeit – die selbst eine Pflichtverletzung darstellt4) – muss das Aufsichtsratsmitglied bis zu dem Zeitpunkt weiter forthaften, bis zu dem eine Niederlegung zulässig gewesen wäre.5) 2.

Pflichtverletzung

Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern setzt weiterhin eine Pflichtverletzung 3 des Aufsichtsratsmitglieds gegen seine Sorgfalts- (Æ § 3 Rz. 260 ff.), Treue(Æ § 3 Rz. 292 ff.) oder Verschwiegenheitspflicht (Æ § 3 Rz. 296 ff.) voraus. Mit Blick auf den deutlich reduzierten Pflichtenmaßstab im Rahmen der Sorgfaltspflichten (Æ § 3 Rz. 265 f.) und die eingeschränkte Treubindung (Æ § 3 Rz. 294 f.) von Aufsichtsratsmitgliedern gegenüber der Gesellschaft gelten für die Annahme einer Pflichtverletzung – trotz der sinngemäßen Anwendung des § 93 Abs. 1 AktG auf Aufsichtsratsmitglieder – deutlich strengere Anforderungen, als dies beim Vorstand der Fall ist.6) a)

Persönliche Vorwerfbarkeit, Pflichtverletzung überstimmter oder abwesender Aufsichtsratsmitglieder

Das Aufsichtsratsmitglied kann nur für individuelle Pflichtverletzungen ver- 4 antwortlich gemacht werden; allein der Umstand, dass eine Entscheidung oder ___________ 1) 2)

3)

4) 5) 6)

Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 199; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 14; Semler/ v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 39, 41. LG München I, Urt. v. 26.2.2010 – 5 HK O 14083/09, ZIP 2010, 2098 (2099); GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 102 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 102 Rz. 15; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 14; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 39; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 116 Rz. 11. Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 200; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 116 Rz. 8; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 4; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 14; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 47; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 116 Rz. 13. MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 15. In diesem Sinne auch (zur GmbH) OLG Koblenz, Urt. v. 26.5.1994 – 6 U 455/91, NJWRR 1995, 556 (557). Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 54 ff.; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 1; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 1; Hüffer/ Koch, § 116 Rz. 1; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 2, 72; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 116 Rz. 1; Schwark, in: Festschrift Canaris, S. 389 (390 f.); Semler/v. Schenck/ v. Schenck, § 116 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 1 f.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

Maßnahme des Aufsichtsrats fehlerhaft ist, reicht für die Annahme einer Pflichtverletzung des Aufsichtsratsmitglieds nicht aus.7) Vielmehr ist ein persönlich vorwerfbares Verhalten Voraussetzung für eine Haftung gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG.8) Deswegen muss für jedes Aufsichtsratsmitglied separat geprüft werden, ob es im Zusammenhang mit einer Maßnahme des Aufsichtsrats pflichtwidrig gehandelt hat.9) 5 Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine individuelle Pflichtverletzung des Aufsichtsratsmitglieds bereits dann ausscheidet, wenn es im Rahmen einer fehlerhaften Beschlussfassung des Aufsichtsrats mit Nein stimmt oder sich der Stimme enthält.10) Denn auch das überstimmte Aufsichtsratsmitglied wird nicht von seiner Gesamtverantwortung für den gefassten Beschluss befreit.11) Das überstimmte Aufsichtsratsmitglied muss deshalb weiterhin dafür Sorge tragen, dass der Aufsichtsrat nur rechtmäßige Aufsichtsratsbeschlüsse fasst.12) Deswegen muss das überstimmte Aufsichtsratsmitglied zumindest seine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Beschlusses gegenüber dem Aufsichtsrat zum Ausdruck bringen und versuchen, den Aufsichtsrat vom eigenen Rechtsstandpunkt zu überzeugen.13) Ob das Aufsichtsratsmitglied, wenn es die übrigen Mitglieder nicht von der Beschlussfassung abbringen kann, den Aufsichtsratsbeschluss notfalls gerichtlich verhindern muss, ist eine Frage des Einzelfalls.14) Das Aufsichtsratsmitglied hat bei dieser Entscheidung die Folgen der rechtswidrigen Beschlussfassung für die Gesellschaft mit den Folgen der zu ergreifenden Maßnahme abzuwägen.15) Dabei ist insbesondere der Schaden für die Gesellschaft ___________ 7) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 997; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 146; Huthmacher, S. 192; vgl. auch Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 42; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 542 f.; Heidel/Breuer/Fraune, § 116 Rz. 26. 8) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 997; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 146; Huthmacher, S. 192; ErfK-ArbR/Oetker, § 116 AktG Rz. 7; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 542 f. 9) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 146. 10) Vgl. auch BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, AG 2006, 110 (114); Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 116 Rz. 267; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 116 Rz. 64; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 11; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 998. 11) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; vgl. auch BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 55. 12) Vgl. BGH, Urt. v. 29.1.2013 – II ZB 1/11, ZIP 2013, 483 (484); in diesem Sinne auch Huthmacher, S. 202; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 55. 13) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 267; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 64; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 55; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 11; Huthmacher, S. 203. 14) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 64; Huthmacher, S. 211 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1000. 15) Huthmacher, S. 213.

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A. Innenhaftung

und die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat zu berücksichtigen, der mit einer öffentlichen Klageerhebung gegen die Beschlussfassung verbunden wäre.16) Deswegen wird eine Klageerhebung nur in wenigen Ausnahmefällen – insbesondere wenn mit dem Beschluss oder seiner Ausführung ein Verstoß gegen Strafgesetze verbunden ist17) – geboten sein.18) Das Aufsichtsratsmitglied ist in keinem Fall verpflichtet, durch einen Boykott der (rechtswidrigen) Beschlussfassung die Beschlussfähigkeit des Aufsichtsrats zu verhindern.19) Die absichtliche Verhinderung der Beschlussfähigkeit stellt selbst einen Verstoß gegen die eigene Amtswahrnehmungspflicht dar und kann daher von keinem Aufsichtsratsmitglied gefordert werden.20) Anders als teilweise behauptet, ist auch kein Aufsichtsratsmitglied – auch nicht in Extremsituationen – verpflichtet, sein Amt niederzulegen, wenn es einen rechtswidrigen Beschluss nicht verhindern kann.21) Denn zum einen ist die Amtsniederlegung – vorbehaltlich einer hierdurch eintretenden Beschlussunfähigkeit – in keiner Weise geeignet, Rechtsverstöße zu verhindern; zum anderen liegt es nicht im Interesse der Gesellschaft, wenn gerade die rechtskonform handelnden Aufsichtsratsmitglieder aus dem Aufsichtsrat ausscheiden, wenn deren Amtskollegen rechtswidrig handeln.22) Eine hiervon zu unterscheidende Frage ist, ob das überstimmte Aufsichtsratsmitglied sein Amt niederlegen darf und hierdurch eine Haftungsfolge vermeiden kann, wenn der Aufsichtsrat trotz der vom überstimmten Aufsichtsratsmitglied geäußerten Bedenken an der Beschlussfassung festhält. Beides ist zu bejahen. Praxishinweis: Kann das überstimmte Aufsichtsratsmitglied den Aufsichtsrat nicht 6 von der Richtigkeit des eigenen Rechtsstandpunkts überzeugen, so sollte es auf eine ___________ 16) Huthmacher, S. 212. 17) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 270; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 22; Huthmacher, S. 213; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 55; E. Vetter, DB 2004, 2623 (2626). 18) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 270; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 64; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 22; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; Huthmacher, S. 213. 19) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 998; Scholderer/v. Werder, ZGR 2017, 865 (893); E. Vetter, DB 2004, 2623 (2625); siehe auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 269, die „extrem gelagerte Ausnahmefälle“ anerkennen. 20) Reichard, AG 2012, 359; siehe auch E. Vetter, DB 2004, 2623 (2625 f.); allgemein zur Mitwirkungspflicht bei Beschlussfassungen KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 31; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 9. 21) Wie hier: Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 139; Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 22; Huthmacher, S. 213 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1001; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 58; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 55; E. Vetter, DB 2004, 2623 (2627); a. A. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 271; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 38; Scholderer/v. Werder, ZGR 2017 865 (900) „Eine Amtsniederlegung kann allenfalls […] im Unternehmensinteresse geboten sein“. 22) Huthmacher, S. 214; siehe ferner Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 139; E. Vetter, DB 2004, 2623 (2627).

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

Protokollierung seiner Bedenken hinwirken.23) Dies ist bereits zu Beweissicherungszwecken erforderlich, da das überstimmte Aufsichtsratsmitglied in einem möglichen Haftungsprozess im Hinblick auf die Pflichtenkonformität des eigenen Handelns gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 2 AktG die Beweislast trägt (Æ § 2 Rz. 196 ff.). Daneben werden die übrigen Aufsichtsratsmitglieder bei einer drohenden Protokollierung der geäußerten Bedenken erfahrungsgemäß nochmals sehr genau prüfen, ob der Beschluss tatsächlich rechtskonform getroffen werden kann, da anderenfalls die Rechtswidrigkeit ihres eigenen Tuns deutlich sichtbar dokumentiert würde. Dem Antrag auf Protokollierung kommt daher ein zusätzlicher disziplinierender Effekt zu. 7 Grundsätzlich die gleichen Regeln wie für das überstimmte Aufsichtsratsmitglied gelten für bei der Beschlussfassung nicht anwesende Aufsichtsratsmitglieder. Eine Pflichtverletzung kommt in diesem Zusammenhang aber frühestens dann in Betracht, wenn das nicht anwesende Aufsichtsratsmitglied Kenntnis von der rechtswidrigen Beschlussfassung erlangt oder bei Einhaltung seiner Informationspflichten hätte erlangen müssen. Hieraus folgt, dass ein nicht an der Beschlussfassung teilnehmendes, aber ordnungsgemäß geladenes Aufsichtsratsmitglied regelmäßig für rechtswidrig gefasste Beschlüsse haften muss, da es auch bei – entschuldigter oder nicht entschuldigter – Nichtteilnahme an der Beschlussfassung die Pflicht trifft, sich über das Beschlussergebnis zu informieren.24) Wird das Aufsichtsratsmitglied hingegen nicht ordnungsgemäß geladen und nimmt es deswegen keine Kenntnis von der Beschlussfassung, scheidet eine Haftung mangels persönlicher Vorwerfbarkeit in der Regel aus. Etwas anderes gilt, wenn das nicht ordnungsgemäß geladene Aufsichtsratsmitglied (zufällig) von der Beschlussfassung Kenntnis nimmt; in diesem Fall gelten ebenfalls die üblichen Verhinderungspflichten, da es auch durch eine nicht ordnungsgemäße Ladung nicht von der Gesamtverantwortung für die Beschlussfassung entbunden wird. 8 Neu bestellte Aufsichtsratsmitglieder, die ihr Amt erst nach einer pflichtwidrigen Beschlussfassung des Aufsichtsrats antreten, handeln nur dann selbst pflichtwidrig, wenn sie von der pflichtwidrigen Beschlussfassung Kenntnis nehmen und die Wirkungen der Beschlussfassung nach ihrem Amtsantritt noch rechtzeitig beseitigen können, bevor ein Schaden der Gesellschaft eintritt oder sich ein solcher vertieft. Insoweit ist anzumerken, dass ein neu bestelltes Aufsichtsratsmitglied nicht gehalten ist, sich zu Beginn seiner Tätigkeit über sämtliche Beschlussfassungen des Aufsichtsrats der Vergangenheit zu informieren; vielmehr ist lediglich eine angemessene Einarbeitung unter Berücksichtigung ___________ 23) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 269; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 22; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 15; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 999; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 31 Rz. 107; Scholderer/v. Werder, ZGR 2017 865 (893); Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 54; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 55; Huthmacher, S. 215. 24) Vgl. in diese Richtung auch BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 56; MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 191.

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A. Innenhaftung

des Nebenamtscharakters und der im Aufsichtsrat bestehenden Arbeitsteilung geschuldet. Allerdings kann das Gebot einer angemessenen Einarbeitung im Einzelfall erfordern, dass zumindest anfänglich ein erhöhter Zeitaufwand (etwa durch Fortbildungsmaßnahmen) geleistet wird.25) b)

Zeitpunkt der Überschreitung der Schwelle zur Pflichtwidrigkeit

In der Praxis regelmäßig von maßgeblicher Bedeutung ist auch der konkrete 9 Zeitpunkt, ab dem ein Handeln oder Unterlassen eines Aufsichtsratsmitglieds als pflichtwidrig anzusehen ist. Dies ist nicht nur für die Frage, ob sich das Aufsichtsratsmitglied (bereits) pflichtwidrig verhalten hat, sondern insbesondere auch für die Folgefragen des Ablaufs der Dreijahresperiode für den Abschluss eines Vergleichs gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (Æ Rz. 31) und des Verjährungsbeginns gemäß § 93 Abs. 6 AktG (Æ § 2 Rz. 101) relevant. Während eine Pflichtverletzung durch Tun regelmäßig mit Vornahme der unzulässigen Maßnahme vollendet ist, ist die Bestimmung des Beginns der Pflichtverletzung durch Unterlassen in der Praxis mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Maßgeblich ist dies insbesondere im Rahmen von Pflichtverletzungen bei der Überwachung des Vorstands. Nach Auffassung des Landgerichts München I in der Siemens/Neubürger-Entscheidung ist die Pflichtwidrigkeit nicht schon dann beendet, wenn die Verhinderungshandlung spätestens hätte erfolgen müssen („erste Rettungsmöglichkeit“), sondern erst dann, wenn die Nachholbarkeit endet („letzte Rettungsmöglichkeit“).26) Dieser Auffassung ist im Grundsatz beizutreten, da sie dem Aufsichtsratsmitglied – im Interesse der Gesellschaft – die Möglichkeit gibt, sanktionslos zu normgerechtem Verhalten zurückzukehren und einen potentiellen Schaden für die Gesellschaft zu vermeiden, solange dies noch möglich ist. Allerdings bedarf die dargestellte Auffassung in Bezug auf die Frage, wann eine Eingriffspflicht nicht mehr nachholbar ist, der Präzisierung. Im Grundsatz muss die Nachholbarkeit einer Eingriffspflicht enden, sobald ein kausaler Schaden der Gesellschaft dem Grunde nach eintritt. Ab diesem Zeitpunkt hat sich die Gefahr, vor der die Handlungspflicht des Aufsichtsratsmitglieds schützen soll, realisiert und muss daher zu der Möglichkeit einer Sanktion gegen das Aufsichtsratsmitglied führen. Dementsprechend ist ab diesem Zeitpunkt die Pflichtverletzung abgeschlossen, sodass mit Blick auf den insoweit kausal entstandenen Schaden die Fristen für Vergleich, ___________ 25) Rubner/Granrath, NJW-Spezial 2014, 719. 26) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (578); so auch: LG Essen, Urt. v. 25.4.2012 – 41 O 45/10, juris Rz. 191; Fleischer, AG 2014, 457 (462); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 592 f.; Harbarth/Höfer, NZG 2016, 686 (689); Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 325; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 77a; zur a. A., der zufolge das pflichtwidrige Unterlassen zu Zeitpunkten endet, die für die Verwaltungsmitglieder oder die Gesellschaft von rechtlicher Bedeutung sind, siehe KKAktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 203; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 729 ff.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

Verzicht und Verjährung zu laufen beginnen. Allerdings endet durch den Eintritt des ersten Schadens die Eingriffspflicht des Aufsichtsratsmitglieds nicht zwangsläufig. Vielmehr bleibt sie bestehen, wenn weiterhin ein rechtswidriger Zustand besteht, den das Aufsichtsratsmitglied aufgrund seiner Überwachungspflicht beenden muss.27) Sofern sich durch den fortlaufend rechtswidrigen Zustand der Schaden vertieft und die Vertiefung durch ein späteres Eingreifen des Aufsichtsratsmitglieds hätte verhindert werden können, begeht das Aufsichtsratsmitglied deshalb – mit Blick auf den zusätzlich entstandenen Schaden – eine neue zum Schadenersatz führende Pflichtverletzung, beginnend mit dem Ende der Nachholbarkeit der Eingriffshandlung zur Vermeidung der Schadensvertiefung.28) Hierdurch kann in der Praxis – insbesondere bei Organisationsdefiziten, die zu fortlaufenden Rechtsverletzungen einer großen Zahl von Mitarbeitern führen – letztlich ein fließender Beginn der Pflichtverletzungen in Bezug auf die verschiedenen Schadensposten entstehen. Trotz der damit verbundenen teilweisen Abkehr von dem Grundsatz der Schadenseinheit (§ 2 Rz. 101) und der hieraus folgenden praktischen Probleme für den Abschluss von Vergleichsvereinbarungen nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, ist dieses Ergebnis hinzunehmen, da anderenfalls ab dem Eintritt der Verjährung des ersten aufgrund der fortlaufenden Überwachungspflichtverletzung eintretenden Schadens eine weiterhin andauernde Pflichtverletzung schadenersatzrechtlich sanktionslos bliebe. 10 Scheidet das Aufsichtsratsmitglied zwischen erster und letzter „Rettungsmöglichkeit“ aus dem Aufsichtsrat aus, ist eine Pflichtverletzung nach den oben aufgestellten Grundsätzen prinzipiell ausgeschlossen, da das Aufsichtsratsmitglied nach der ersten Rettungsmöglichkeit noch keine Pflichtverletzung begangen hat und vor der letzten Rettungsmöglichkeit die Eingriffspflicht des Aufsichtsratsmitglieds endet. Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn das Aufsichtsratsmitglied die allein von ihm erkannte Eingriffspflicht bewusst vor den anderen Aufsichtsratsmitgliedern verschweigt und somit deren Eingriffsmöglichkeit vereitelt. Denn das Aufsichtsratsmitglied ist aufgrund seiner Kollegialitäts-, Organisations- und Treuepflichten zu einer ordnungsgemäßen Übergabe seines Amtes verpflichtet. c)

Sondertatbestände

11 Für Aufsichtsratsmitglieder gelten gemäß § 116 Satz 1 AktG auch die Sonderhaftungstatbestände des § 93 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 9 AktG und die hiermit ___________ 27) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 591; Harbarth/Höfer, NZG 2016, 686 (689); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 203. 28) Vgl. Harbarth/Höfer, NZG 2016, 686 (689); Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 732; a. A. wohl Fleischer, AG 2014, 457 (462); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 593; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 325; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 77a; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 197.

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A. Innenhaftung

verbundenen reduzierten Haftungsvoraussetzungen (Æ § 2 Rz. 186 ff.). Insoweit ergeben sich im Prinzip keine Besonderheiten für den Aufsichtsrat. Eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern kommt in diesem Zusammenhang nicht nur in Betracht, wenn diese in § 93 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 9 AktG aufgeführte rechtswidrige Leistungen veranlassen; vielmehr gelten die Sondertatbestände des § 93 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 9 AktG auch im Falle einer mangelhaften Überwachung des Vorstands, wenn dieser an gemäß § 93 Abs. 3 AktG verbotenen Maßnahmen beteiligt ist oder diese duldet.29) Zudem erfasst § 116 Satz 1 AktG seit dem SanInsFoG30) nunmehr auch explizit die Verantwortlichkeit von Aufsichtsratsmitgliedern für verbotene Zahlungen bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung (§ 15b InsO). Aufsichtsratsmitglieder können daher wegen eines Verstoßes gegen ihre Überwachungspflicht in eine Haftung für verbotene insolvenznahe Zahlungen gelangen.31) Für den Aufsichtsrat gilt seit Einführung des VorstAG32) zudem der Sonder- 12 tatbestand des § 116 Satz 3 AktG. Demnach sind Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet, wenn sie entgegen § 87 Abs. 1 AktG eine unangemessene Vergütung für Vorstandsmitglieder festsetzen. Anders als § 93 Abs. 3 AktG (Æ § 2 Rz. 188) hat § 116 Satz 3 AktG keine Erleichterung der Beweislast zur Folge.33) Für die Frage des Bestehens eines Schadensersatzanspruchs ist § 116 Satz 3 AktG deshalb rein deklaratorisch.34) Allerdings ist § 116 Satz 3 AktG nicht lediglich ein „Ausdruck überflüssiger Symbolpolitik“.35) Denn der in § 116 Satz 3 AktG zum Ausdruck kommende besondere Appell des Gesetzgebers ist zumindest bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens eines wichtigen Grunds im Rahmen einer gerichtlichen Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern gemäß § 103 Abs. 3 AktG (erschwerend) zu berücksichtigen. ___________ 29) Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 564, 576; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 11; Hoffmann/Preu, Rz. 512.1; vgl. auch BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 153 f.; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 101. 30) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts vom 22.12.2020 (BGBl I 2020, 3256). 31) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 153; Kübler/Prütting/Bork/Bork/Kebekus, InsO, § 15b Rz. 12. 32) Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG) v. 31.7.2009, BGBl I 2009, 2509. 33) Vgl. insoweit zu der Darlegungs- und Beweispflicht der AG Hüffer, in: Festschrift HoffmannBecking, S. 589 (598). 34) Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 523; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 76; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 60; Wachter/Schick, § 116 Rz. 11; Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 18; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 6; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 61; Hüffer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 589 (595). 35) So aber MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 45; vgl. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 76.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

13 Praxishinweis: Eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen Festsetzung einer unangemessen hohen Vergütung unterliegt in der Praxis hohen Hürden. Denn bei der Frage der Festsetzung der Vergütung handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung, für die der Haftungsfreiraum der Business Judgement Rule gilt.36) Zudem ist die rechtlich zu beachtende Grenze der Unangemessenheit ein nur sehr schwer subsumierbarer unbestimmter Rechtsbegriff, der wiederum zu einem erheblichen Beurteilungsspielraum des Aufsichtsrats führt.37) Schließlich ist auch die – von der Gesellschaft darzulegende und zu beweisende – Schadenshöhe einer unangemessen hohen Vergütung nur sehr schwer zu ermitteln.38) Der aus einem Verstoß gegen das Angemessenheits- und Üblichkeitsgebot resultierende Schaden liegt in der Differenz der geleisteten zur gerade noch zulässigen Höhe der Vergütung.39) Diese Höhe lässt sich nicht exakt bestimmen, sondern allenfalls schätzen.40) Eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen einer unangemessen hohen Vergütung kommt vor diesem Hintergrund in der Praxis wohl nur bei exzessiv überhöhten Vergütungen, die evident außerhalb des Beurteilungs- und Ermessensspielraums des Aufsichtsrats liegen, und unter Zuhilfenahme einer richterlichen Schätzung der Schadenshöhe gemäß § 287 ZPO in Betracht.41) d)

Darlegungs- und Beweislast

14 Für die Darlegungs- und Beweislast gilt über die Verweisnorm des § 116 Satz 1 AktG auch für den Aufsichtsrat die Sonderregelung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG (Æ § 2 Rz. 196 ff.). Demnach muss die Gesellschaft im Falle eines Rechtsstreits über das Vorliegen eines Schadensersatzanspruchs gegen ein Aufsichtsratsmitglied ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Aufsichtsratsmitglieds, den eingetretenen Schaden und die Kausalität des möglicherweise pflichtwidrigen Verhaltens für den eingetretenen Schaden darlegen und beweisen.42) Das Aufsichtsratsmitglied muss gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 2 AktG ___________ 36) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (Mannesmann/Vodafone), NStZ 2006, 214 (216); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 87 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87 Rz. 46; Schmidt/ Lutter/Seibt, § 87 Rz. 16, 35; Grigoleit/Schwennicke, § 87 Rz. 6; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 406; Fleischer, BB 2010, 67 (70); Hoffmann-Becking, NZG 2006, 127 (128); ders., ZHR 169 (2005), 155 (157 f.). 37) Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 63; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 73. 38) Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 63; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 73; vgl. in diesem Zusammenhang auch Hüffer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 589 (597 f.). 39) Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 63; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 73; Hüffer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 589 (597 f.); Reichert/Ullrich, in: Festschrift U. H. Schneider, S. 1017 (1033). 40) Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 63; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 73; Reichert/ Ullrich, in: Festschrift U. H. Schneider, S. 1017 (1033). 41) So auch Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 63. 42) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 108; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 561; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 50; Heidel/Breuer/Fraune, § 116 Rz. 22; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 71; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 288; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1021.

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darlegen und beweisen, dass sein Verhalten nicht pflichtwidrig gewesen ist.43) Die Beweiserleichterungen für die Gesellschaft im Hinblick auf den eingetretenen Schaden im Falle eines Verstoßes gegen die in § 93 Abs. 3 AktG aufgeführten Pflichten (Æ § 2 Rz. 188) gelten auch für den Aufsichtsrat.44) Gleiches gilt wegen des Verweises auf § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO in § 116 Satz 1 AktG auch für eine Verletzung des Zahlungsverbots bei Insolvenzreife.45) 3.

Verschulden

Eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern setzt ein schuldhaftes, d. h. fahrläs- 15 siges oder vorsätzliches Verhalten (§ 276 BGB) voraus.46) Allerdings wird der Verschuldensmaßstab des Aufsichtsrats – wie beim Vorstand – durch die von jedem Aufsichtsratsmitglied zu fordernden Mindestqualifikationen objektiviert.47) Jedes Aufsichtsratsmitglied – egal von wem und auf welche Weise es bestellt wurde – muss in der Lage sein, die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds einzuhalten.48) Kann es diesen Sorgfaltsmaßstab nicht einhalten, so entlastet es dies nicht, weil dem Aufsichtsratsmitglied in diesem Fall die pflichtwidrige Übernahme eines Amtes, für das es nicht geeignet ist, vorzuwerfen ist.49) Hieraus folgt, dass das objektiv pflichtwidrige Verhalten eines Aufsichtsratsmitglieds das Verschulden indiziert.50) Praxishinweis: Der objektivierte Verschuldensmaßstab des Aufsichtsrats führt je- 16 doch nicht zu einer vergleichbar strengen Haftung wie beim Vorstand, da aufgrund ___________ 43) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 147; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 50; KKAktG/ Mertens/Cahn, § 116 Rz. 65; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1021. 44) Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 577 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 155; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 101. 45) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 155. 46) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 75; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 90; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 546; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 42; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 144; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 15; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 1009. 47) OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, AG 2015, 434 (436); MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 75; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 43; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 116 Rz. 90; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 275; Lutter/Krieger/ Verse, Rz. 1009. 48) Vgl. BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, NJW 1983, 991 (Hertie); BeckOGKAktG/Spindler, § 116 Rz. 9 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 23, 70; Hüffer/ Koch, § 116 Rz. 3; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 2; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 48; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1009; Edenfeld/Neufang, AG 1999, 49 (50). 49) Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 11; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 275; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 12; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 63; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 75; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 554; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 144. 50) Arbeitshdb. Aufsichtratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 14 Rz. 46.

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des im Vergleich zum Vorstand deutlich geringeren Pflichtenmaßstabs des Aufsichtsrats bereits deutlich höhere Hürden für die Annahme eines Pflichtenverstoßes bestehen. 17 Der vom individuellen Aufsichtsratsmitglied geschuldete Grad an Sorgfalt wird nach der Rechtsprechung zudem durch besondere Spezialkenntnisse und Fähigkeiten des jeweiligen Aufsichtsratsmitglieds erhöht.51) Deswegen kann sich ein Aufsichtsratsmitglied auch dann nicht auf ein fehlendes Verschulden berufen, wenn zwar ein durchschnittliches Aufsichtsratsmitglied einen Pflichtenverstoß nicht hätte erkennen und vermeiden können, dem individuellen Aufsichtsratsmitglied dies aber aufgrund seiner Spezialkenntnisse möglich gewesen wäre. Insoweit gilt allerdings, dass das individuelle Aufsichtsratsmitglied nur mit einem ihm – unter Berücksichtigung des Nebenamtscharakters des Aufsichtsratsmandats – zumutbaren Zeitaufwand seine Spezialkenntnisse einsetzen muss.52) Gesteigerte Anforderungen gelten in diesem Zusammenhang im Rahmen der Ausschusstätigkeit.53) Da die Ausschussbildung der intensiveren Befassung mit bestimmten Aufgaben des Aufsichtsrats dient, ist den Ausschussmitgliedern auch ein höherer zeitlicher und persönlicher Aufwand für die Vermeidung von aufgrund ihrer Spezialkenntnisse erkennbaren Pflichtverletzungen zumutbar.54) 18 Praxishinweis: Am Beispiel eines im Aufsichtsrat vertretenen Rechtsanwalts bedeutet dies etwa, dass dieser bei rechtlichen Fragestellungen im Aufsichtsrat grundsätzlich die berufstypische Sorgfalt einhalten muss.55) Aufgrund des Nebenamtscharakters kann allerdings nicht gefordert werden, dass er jede Handlung und Maßnahme des Aufsichtsrats einer juristischen Vollprüfung unterzieht.56) Vielmehr kann eine umfassende rechtliche Prüfung von ihm allenfalls im Rahmen punktueller, besonders wichtiger Entscheidungen des Aufsichtsrats oder im Rahmen seiner Ausschusstätigkeiten verlangt werden. Im Übrigen ist ihm zumutbar, bei sämtli___________ 51) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097 (2101); OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.3.1984, ZIP 1984, 825 (830); ebenso Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 116 Rz. 5; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 63; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 76; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 28; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 44; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 553; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 19; zurückhaltender: Hüffer/ Koch, § 116 Rz. 4; kritisch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 276. 52) Siehe dazu etwa: BGH, Urt. 2.4.2007 – II ZR 325/05, NZG 2007, 516, 518 m. w. N. (nicht geschuldet sind Beratungsleistungen von einer gewissen, im Einzelfall zu bestimmenden „Beratungstiefe“). 53) Hüffer/Koch, § 116 Rz. 4; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1011; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 33 Rz. 77; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 26; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 116 Rz. 44; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 16. 54) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1483; Rubner/Fischer, NZG 2015, 782 (786); Rubner/Granrath, NJW-Spezial 2014, 719. 55) RG, Urt. v. 29.5.1934 – II 9/34, RGZ 144, 348 (355 f.); Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 123; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 63; Schmidt/ Lutter/Drygala, § 116 Rz. 44. 56) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 22.

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chen der ihm vorgelegten Unterlagen des Aufsichtsrats offensichtliche Rechtsfehler aufzuzeigen und auf deren Behebung hinzuwirken. Des Weiteren gelten bei der Übernahme bestimmter Ämter im Aufsichtsrat 19 erhöhte Mindeststandards.57) Dies gilt insbesondere für den Aufsichtsratsvorsitz sowie für die Vorsitzenden und Mitglieder bestimmter Ausschüsse.58) Die Sonderkenntnisse, die diese zusätzlichen Ämter erfordern, werden von dem individuellen Aufsichtsratsmitglied auch verlangt.59) Die Übernahme eines solchen Amts ohne die dafür erforderlichen Spezialkenntnisse aufzuweisen, stellt eine schuldhafte Pflichtverletzung dar, auch wenn das entsprechende Aufsichtsratsmitglied die Anforderungen an die Mitgliedschaft im Aufsichtsrat ansonsten erfüllt.60) Trotz des objektivierten Verschuldensmaßstabs entfällt das Verschulden in be- 20 stimmten Ausnahmefällen. Zunächst kann der Aufsichtsrat für die Erledigung von Aufgaben, die er auf Basis eigener Kenntnisse und Erfahrungen nicht erfüllen kann, sachverständige Berater hinzuziehen (Æ § 3 Rz. 63).61) Das Verschulden der Aufsichtsratsmitglieder entfällt in diesem Fall nach Maßgabe der ISIONRechtsprechung des BGH auch bei einer Fehleinschätzung des hinzugezogenen Beraters (Æ § 2 Rz. 58 ff.), wenn dieser unabhängig ist, ihm die für die Beurteilung der jeweiligen Frage notwendigen Informationen zur Verfügung stehen und das Prüfungsergebnis nach einer Plausibilitätsprüfung durch das Aufsichtsratsmitglied schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar begründet ist.62) Das Verschulden kann außerdem bei einem nicht vorwerfbaren Irrtum über die Pflichtenlage in plötzlich auftretenden Drucksituationen, die sofortiges Handeln erfordern, entfallen.63) Dieser Entschuldigungsgrund kommt aber nur dann in Betracht, wenn das Aufsichtsratsmitglied davon ausgehen darf, ___________ 57) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 17; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 4; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 44; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 55; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 27; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 9; Dreher, in: Festschrift Boujong, S. 71 (83 ff.). 58) Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 44; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 55; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 27; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 9; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 278. 59) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 9 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 55; Dreher, in: Festschrift Boujong, S. 71 (87 ff.). 60) Vgl. Hüffer/Koch, § 116 Rz. 4; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1011; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 26 f. 61) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 57 ff., 58a; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 159; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 56; Diekmann/Wurst, NZG 2014, 121 (124); Hoffmann-Becking, ZGR 2011, 136 (139 ff.); Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1012. 62) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 52; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 47; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 63; Diekmann/Wurst, NZG 2014, 121 (124); Cahn, WM 2013, 1293 (1302). 63) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 403; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 137.

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dass aufgrund der Drucksituation Expertenrat nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden kann, und wenn zusätzlich im Vorhinein wirksame Mechanismen geschaffen wurden, die üblicherweise solche plötzlich auftretenden Situationen vermeiden können.64) Nach allgemeinen Grundsätzen kann das Verschulden schließlich aufgrund einer rechtfertigenden Pflichtenkollision entfallen.65) Auch hier gelten jedoch sehr hohe Hürden. Insbesondere kann sich ein Aufsichtsratsmitglied nicht auf eine Pflichtenkollision berufen, wenn seine Pflichten als Aufsichtsratsmitglied mit seinen Pflichten als Organmitglied einer anderen Gesellschaft kollidieren.66) In diesem Fall muss das Aufsichtsratsmitglied die Pflichtenkollision zu Gunsten der Gesellschaft auflösen, um eine Haftung gegenüber dieser Gesellschaft zu vermeiden.67) Kann das Aufsichtsratsmitglied die Pflichtenkollision nicht anders auflösen, ist es notfalls zur Amtsniederlegung verpflichtet.68) Denkbar ist eine rechtfertigende Pflichtenkollision aber in dem sehr seltenen Fall, dass eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft nicht ohne Verstoß gegen eine andere Pflicht gegenüber derselben Gesellschaft erfüllt werden kann. So kommt etwa eine rechtfertigende Pflichtenkollision in Betracht, wenn das Aufsichtsratsmitglied absichtlich die Beschlussfähigkeit verhindert (Æ Rz. 5), um einen gegen Strafgesetze verstoßenden Beschluss zu verhindern. 21 Auf ein Mitverschulden anderer Aufsichtsratsmitglieder oder Mitglieder des Vorstands kann sich das Aufsichtsratsmitglied gegenüber der Gesellschaft nicht – wohl aber im Rahmen des Innenregresses gegenüber anderen pflichtwidrig handelnden Organmitgliedern gemäß § 426 BGB (Æ Rz. 35) – berufen.69) 4.

Schaden und Kausalität

22 Für die Höhe des zu ersetzenden Schadens und die Kausalität gelten dieselben Regeln wie für den Vorstand (Æ § 2 Rz. 69 ff.). 23 Sonderprobleme bei der Bestimmung des Schadens treten insbesondere bei der pflichtwidrigen Festsetzung einer unangemessen hohen Vorstandsvergütung unter Verstoß gegen § 87 Abs. 1 AktG auf. Der Schaden besteht in diesem Zusammenhang zum einen aus der – nur sehr schwer bestimmbaren – Differenz zwischen der geleisteten und der zulässigen Maximalvergütung des Vorstands___________ 64) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 403; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 137. 65) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 103. 66) BGH, Urt. v. 21.12.1979 – II ZR 244/78, NJW 1980, 1629 (1630); Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Marsch-Barner, § 13 Rz. 100; Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801 (808). 67) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/Weiß, § 13 Rz. 100. 68) Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801 (808); siehe ferner Lutter/Krieger/Verse, Rz. 926. 69) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 75; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 146; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 559; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 91.

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A. Innenhaftung

mitglieds.70) Zum anderen sind nach allgemeinen Regeln etwaige Aufarbeitungsund Folgeschäden zu ersetzen.71) Theoretisch würde dies auch Schäden aufgrund einer wegen der überhöhten Vergütung eintretenden Fehlincentivierung des Vorstandsmitglieds umfassen72); allerdings dürfte die Kausalität derartiger Schäden in der Praxis nicht zu beweisen sein.73) In Bezug auf den Aufsichtsrat stellen sich in der Praxis regelmäßig Fragen der 24 Kausalität mit Blick auf die Tatsache, dass der Aufsichtsrat seine Aufgaben als Kollegialorgan wahrnimmt und Entscheidungen mit Mehrheitsbeschlüssen trifft: Fasst der Aufsichtsrat einen pflichtwidrigen Beschluss mit einer größeren als der erforderlichen Mehrheit, kann das einzelne Aufsichtsratsmitglied nicht einwenden, der pflichtwidrige Beschluss wäre auch ohne sein Zutun zustande gekommen.74) Hiergegen spricht bereits, dass das Aufsichtsratsmitglied unabhängig davon, ob es für oder gegen den Beschluss gestimmt hat, eine pflichtwidrige Beschlussfassung hätte unterbinden müssen (Æ Rz. 5). Aus demselben Grund entfällt die Kausalität des Schadens auch nicht für solche Aufsichtsratsmitglieder, die gegen einen pflichtwidrigen Beschluss gestimmt haben, ohne weitere Maßnahmen zur Verhinderung der Beschlussfassung oder seines Vollzugs zu ergreifen.75) Neu bestellte Aufsichtsratsmitglieder müssen nur für solche Schäden haften, die sie unter Einhaltung ihrer Pflichten nach ihrer Bestellung noch hätten verhindern können; für Schäden, die bereits vor ihrer Amtszeit entstanden sind und nicht mehr verhindert werden können, müssen sie auch dann nicht haften, wenn sie an dem pflichtwidrigen Verhalten vor ihrer Bestellung mitgewirkt haben (freilich kommt in diesem Fall gegebenenfalls eine Haftung in anderer Funktion in Betracht). Ausscheidende Aufsichtsratsmitglieder müssen auch dann für einen Schaden eintreten, wenn die Pflichtverletzung vor dem Ausscheiden abgeschlossen ist, unabhängig davon, ob der Schaden bereits vor oder erst nach dem Ausscheiden beziffert werden kann.

___________ 70) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 73; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 77; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 63; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 19; Cahn, in: Festschrift Hopt, S. 431 (449). 71) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 409; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 237; Ihrig/Schäfer, § 22 Rz. 602; Goette, ZHR 175 (2011), 388 (398 f.). 72) Vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 73; Cahn, in: Festschrift Hopt, S. 431 (450). 73) Vgl. Cahn, in: Festschrift Hopt, S. 431 (450). 74) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 89; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 74; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 66; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 545; insoweit für sämtliche Kollegialentscheidungen im Unternehmen MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 197. 75) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 74.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

II.

Haftungshöhe

25 Aufsichtsratsmitglieder haften auf Grundlage von §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG persönlich und unbeschränkt mit ihrem gesamten Vermögen. In der Literatur wird zwar vereinzelt vertreten, dass die Gesellschaft aufgrund ihrer Treueund Fürsorgepflicht gegenüber ihren Organmitgliedern den entstandenen Schaden nicht geltend machen dürfe, wenn dieser in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Organmitglieds stehe und lediglich aufgrund leichter oder mittlerer Fahrlässigkeit verursacht worden sei.76) Allerdings widerspricht diese Auffassung dem auf Totalreparation ausgerichteten Haftungssystem des Aktiengesetzes, das eine geschriebene Haftungsbeschränkung nicht vorsieht und grundsätzlich einen Verzicht auf Schadensersatzansprüche ohne Zustimmung der Hauptversammlung verbietet (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG).77) 26 Der Grundsatz der persönlich unbeschränkten Haftung gilt auch für Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat; mit Blick auf das Gleichbehandlungsgebot kommt insbesondere eine Haftungsbeschränkung nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs für im Aufsichtsrat vertretene Arbeitnehmer der Gesellschaft nicht in Betracht.78) III.

Verjährung

27 Schadensersatzansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG verjähren nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 6 AktG bzw. § 52a KWG bei börsennotierten Gesellschaften und Kreditinstituten in zehn und bei sonstigen, nicht börsennotierten Gesellschaften in fünf Jahren ab ihrer Entstehung. Es gelten insoweit die Ausführungen zur Verjährung von Ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder entsprechend (Æ § 2 Rz. 100 ff.). IV.

Billigung durch die Hauptversammlung

28 Grundsätzlich ist der Aufsichtsrat von einer Haftung nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG befreit, wenn seine Entscheidung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG auf einer gesetzmäßigen Entscheidung der Hauptversammlung beruht. Allerdings sind die Fälle einer solchen Haftungsbefreiung in der Praxis sehr begrenzt.79) Eine Haftungsbefreiung nach § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG setzt nach ___________ 76) Koch, AG 2012, 429 (435 ff.). 77) Im Ergebnis auch Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1024. 78) BGH, Urt. v. 27.2.1975 –II ZR 112/72, WM 1975, 467 (469); OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.6.1995 – 6 U 104/94, ZIP 1995, 1183 (1192); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 339 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1024. 79) Vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 76; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 14; GroßkommAktG/Hopt/Roth § 116 Rz. 299; Heidel/Breuer/Fraune, § 116 Rz. 22; Henssler/Strohn/ Henssler, § 116 AktG Rz. 13; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 600; Fischbach, ZIP 2013, 1153 (1154 f.).

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A. Innenhaftung

h. M. eine für den Aufsichtsrat bindende Entscheidung der Hauptversammlung voraus.80) Entsprechende Kompetenzen kommen der Hauptversammlung gegenüber dem Aufsichtsrat nur in wenigen Ausnahmefällen zu.81) Insbesondere gilt die Befolgungspflicht für im Rahmen ihrer Zuständigkeit beschlossene Maßnahmen der Hauptversammlung ausweislich des eindeutigen Wortlauts des § 83 Abs. 2 AktG nur für den Vorstand.82) Der Aufsichtsrat kann auch keine in seine Kompetenz fallende Geschäftsführungsmaßnahme gemäß § 119 Abs. 2 AktG der Hauptversammlung freiwillig zur Entscheidung vorlegen, da auch diese Vorschrift nach ihrem klaren Wortlaut nur für den Vorstand gilt.83) Eine Haftungsbefreiung kommt aber in Betracht, wenn die Hauptversammlung gemäß § 147 Abs. 1 AktG die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder beschließt, da der Aufsichtsrat in diesem Fall zur Geltendmachung der Schadensersatzansprüche verpflichtet ist.84) Eine nachträgliche Zustimmung der Hauptversammlung zu einer Maßnahme 29 führt nicht zu einer Haftungsbefreiung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, da in diesem Fall die Handlung des Aufsichtsrats nicht auf einer Entscheidung der Hauptversammlung beruht.85) Dementsprechend kann sich der Aufsichtsrat auch nicht im Rahmen solcher Maßnahmen auf eine Haftungsbefreiung berufen, die sowohl seiner Zustimmung als auch der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen (etwa Maßnahmen nach dem Umwandlungsgesetz). Schließlich führt auch die Billigung des Vergütungssystems für den Vorstand 30 durch die Hauptversammlung gemäß § 120a Abs. 1 AktG („Say-on-Pay“) nicht zu einer Haftungsbefreiung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, da der entsprechende Beschluss der Hauptversammlung gemäß § 120a Abs. 1 Satz 2 AktG keine

___________ 80) Großkomm-AktG/Hopt/Roth § 116 Rz. 299. 81) Vgl. Henssler/Strohn/Henssler, § 116 AktG Rz. 13; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 14; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 76; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 24; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 102. 82) Vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 76; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 171; Hüffer/Koch, § 116 Rz. 14; Heidel/Breuer/Fraune, § 116 Rz. 22; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 116 Rz. 102; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 600; Fischbach, ZIP 2013, 1153. 83) MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 20; Großkomm-AktG/Mülbert, § 119 Rz. 197; Hüffer/ Koch, § 119 Rz. 13; Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 (724). A. A. Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 15. 84) Hüffer/Koch, § 116 Rz. 14; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 76; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 116 Rz. 24; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 602; Henssler/Strohn/ Henssler, § 116 AktG Rz. 13; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 102. 85) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1022; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 272; Schmidt/ Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 59; MünchHdb. GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 32; Fischbach, ZIP 2013, 1153 (1156).

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

Rechte und Pflichten begründet und die Pflichten des Aufsichtsrats nach § 87 AktG somit unberührt lässt.86) V.

Verzicht, Vergleich und Freistellung

31 Gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ist ein Verzicht auf oder Vergleich über Schadensersatzansprüche gegen Aufsichtsratsmitglieder grundsätzlich nur nach Ablauf von drei Jahren und mit Zustimmung der Hauptversammlung möglich; zudem kann eine Aktionärsminderheit von zehn Prozent des Grundkapitals der Gesellschaft einen Verzicht oder Vergleich blockieren, indem sie Widerspruch zur Niederschrift gegen einen zustimmenden Hauptversammlungsbeschluss erklärt. Im Einzelnen gelten die Ausführungen zum Vorstand zu § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG entsprechend (Æ § 2 Rz. 117 ff.). Die Dreijahresfrist beginnt – wie die Verjährung – mit der Entstehung des Anspruchs (Æ § 2 Rz. 101 ff., 133). Auf eine Kenntnis des Vorstands von dem Anspruch gegen das Aufsichtsratsmitglied kommt es nicht an. Anders als die Verjährung unterliegt die Dreijahresfrist jedoch keinen Unterbrechungs- oder Hemmungsregeln. 32 Die Entlastung von Aufsichtsratsmitgliedern durch die Hauptversammlung führt nicht zu einem Verzicht auf im Entlastungszeitraum entstandene Schadenersatzansprüche (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG). Dies gilt auch dann, wenn der Hauptversammlung die Pflichtverletzung bekannt ist und diese trotzdem für die Entlastung stimmt.87) 33 Die Gesellschaft kann das Aufsichtsratsmitglied nicht – auch nicht mit Zustimmung der Hauptversammlung – im Vorhinein von (sämtlichen oder bestimmten, abstrakt beschriebenen) Schadensersatzansprüchen wegen Pflichtverletzungen freistellen, da dies faktisch einem vorweggenommenen Verzicht auf Schadensersatzansprüche entspricht und dem somit die Dreijahresfrist der §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 4 Satz 3 AktG entgegensteht.88) Eine Freistellung nach der Entstehung eines konkreten Schadensersatzanspruches ist aus demselben Grund nur unter Einhaltung der Dreijahresfrist des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG und mit Zustimmung der Hauptversammlung möglich.89) Grundsätzlich möglich ist eine Haftungsfreistellung (im Vorhinein oder nach Entstehung eines

___________ 86) MünchKommAktG/Kubis, § 120a Rz. 12; Hölters/Weber/Drinhausen, § 120a Rz. 5; Hüffer/ Koch, § 120a Rz. 5; Henssler/Strohn/Liebscher, § 120a AktG Rz. 5; Grigoleit/Herrler, § 120a Rz. 23 f.; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 120a Rz. 39. 87) Großkomm-AktG/Mülbert, § 120 Rz. 45. 88) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 79; BeckOGK-AktG/Spindler § 116 Rz. 200; Habersack, in: Festschrift Ulmer, S. 151 (156); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 680; Fleischer, WM 2005, 909 (916). 89) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 103; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 174 ff., 180; v. Schenck, NZG 2015, 494.

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A. Innenhaftung

Anspruchs) durch Dritte, wie Aktionäre oder eine D&O-Versicherung.90) Dies zeigt bereits § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG, der inzident von der Zulässigkeit des Abschlusses einer D&O-Versicherung ausgeht.91) Eine Haftungsfreistellung durch Dritte steht auch nicht in Widerspruch zum Zweck des Schadensersatzrechts, weil diese den Anspruch der Gesellschaft nicht schmälert und somit das Interesse der Gesellschaft an einer Wiederherstellung des status quo ante nicht beeinträchtigt wird.92) Die Freistellung durch Dritte darf aber nicht zu einer Beeinträchtigung der unabhängigen Amtsführung des Aufsichtsratsmitglieds führen, weshalb sie nicht von der Vornahme oder Unterlassung einer bestimmten Maßnahme des Aufsichtsratsmitglieds abhängig gemacht werden darf bzw. der Zweck der Freistellung nicht darauf gerichtet sein darf, das Aufsichtsratsmitglied zur Vornahme oder dem Unterlassen einer bestimmten Maßnahme zu motivieren.93) Zudem darf sich die Freistellung nicht auf vorsätzliche Pflichtverletzungen erstrecken.94) Schließlich darf die Freistellung nicht vor Ablauf der Dreijahresfrist des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG und Zustimmung der Hauptversammlung der Gesellschaft durch Tochterunternehmen oder sonstige, von der Gesellschaft abhängige Unternehmen vorgenommen werden, da in diesem Fall die Gesellschaft wirtschaftlich für den Schaden einstehen muss und folglich ein verdeckter Verzicht vorliegt. VI.

Gesamtschuld und Innenausgleich

Mehrere pflichtwidrig handelnde Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder haften 34 für denselben aus den jeweiligen Pflichtverletzungen entstandenen Schaden als Gesamtschuldner (§§ 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, 421 ff. BGB). Dementsprechend kann jedes pflichtwidrig handelnde Organmitglied von der Gesellschaft auf die volle Höhe des entstandenen Schadens in Anspruch genommen werden (§ 421 Satz 1 BGB). Auch hier kann auf die Ausführungen zur Haftung des Vorstands verwiesen werden (Æ § 2 Rz. 145 ff.). Im Rahmen des Gesamtschuldnerinnenausgleichs gemäß § 426 BGB richtet 35 sich die Höhe der jeweiligen Ausgleichsansprüche nach den Verursachungsbeiträgen und dem Grad des Verschuldens der an der Pflichtverletzung betei-

___________ 90) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 79; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 677; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 216; BeckOGK-AktG/ Spindler § 116 Rz. 200 f.; Habersack, in: Festschrift Ulmer, S. 151 (156). 91) In diesem Sinne auch MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 79. 92) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 453. 93) BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 183; siehe ferner Habersack, in: Festschrift Ulmer, S. 151 (164 f.); Thomas, S. 52 ff. 94) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 79; v. Schenck, NZG 2015, 494 (496).

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

ligten Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder.95) In diesem Zusammenhang werden beteiligte Vorstandsmitglieder aufgrund ihres höheren Pflichtenmaßstabs grundsätzlich einen größeren Beitrag erbringen müssen als Aufsichtsratsmitglieder.96) Dies gilt insbesondere für (bloße) Überwachungspflichtverletzungen des Aufsichtsrats, aber etwa auch bei pflichtwidrigen Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstands, denen der Aufsichtsrat auf Basis eines Zustimmungsvorbehalts gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zugestimmt hat.97) Eine vollständige Abwälzung der Haftung auf die Vorstandsmitglieder bei ebenfalls an der Pflichtverletzung beteiligten Aufsichtsratsmitgliedern kommt allerdings in aller Regel nicht in Betracht.98) VII. Weitere Haftungsgrundlagen 36 Die Haftung nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG steht in Anspruchskonkurrenz zu anderen zivil- und gesellschaftsrechtlichen Anspruchsgrundlagen.99) Eine Haftung auf vertraglicher Grundlage scheidet insoweit aus, da dem Aufsichtsratsamt kein Vertrag zu Grunde liegt.100) Dies gilt auch für Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, deren Arbeitsverhältnisse während der Dauer der Bestellung zum Aufsichtsratsmitglied ruhen und keine Rechtswirkungen zeitigen. In Betracht kommt aber eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen Beteiligung an einer vorsätzlichen schädigenden Einflussnahme auf Organmitglieder gemäß § 117 Abs. 2 AktG, deliktischer Anspruchsnormen (wie etwa §§ 823, 826 BGB) und konzernrechtlicher Anspruchsgrundlagen (Æ § 7 Rz. 256 ff.). 37 Sämtliche auf den Aufsichtsrat anwendbaren weiteren Haftungsgrundlagen richten sich nach den jeweils für diese Normen geltenden Regeln und werden nicht durch die spezifischen Besonderheiten von § 93 AktG überlagert oder modi___________ 95) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 186; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, § 93 Rz. 100; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 287; Henssler/Strohn/ Dauner-Lieb, § 93 AktG Rz. 38; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 228; Hüffer/ Koch, § 93 Rz. 57; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 78; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 599; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 320. 96) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 287; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 228 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 78; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 599; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 320. 97) Vgl. Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 229; Voß, S. 188 f.; siehe auch Schmidt/Lutter/ Drygala, § 116 Rz. 52, der ein Gesamtschuldverhältnis bei „bloßer“ Überwachungspflichtverletzung wegen der für § 421 BGB erforderlichen Gleichartigkeit und Gleichstufigkeit der Verpflichtungen jedoch ablehnt. 98) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 287; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 78; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 599; Voß, S. 182 f. 99) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 616. 100) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Spindler, § 101 Rz. 9; Schmidt/Lutter/Drygala, § 101 Rz. 2; MünchKommAktG/Habersack, § 101 Rz. 67; Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, § 101 Rz. 27; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 101 Rz. 2.

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B. Außenhaftung

fiziert. Insbesondere gelten die Beweislastverteilung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, die Objektivierung des Verschuldensmaßstabs und die besonderen Verjährungsregeln des § 93 Abs. 6 AktG nicht für andere Anspruchsgrundlagen. VIII. Anspruchsverfolgung Zuständig für die Verfolgung von Ansprüchen gegen – amtierende oder ausge- 38 schiedene – Aufsichtsratsmitglieder ist der Vorstand.101) Der Vorstand ist nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung grundsätzlich verpflichtet, mögliche Schadensersatzansprüche zu prüfen und – wenn diese mit hinreichender Sicherheit durchsetzbar sind – auch geltend zu machen, sofern nicht mindestens gleichwertige Gründe des Unternehmenswohls entgegenstehen (Æ § 2 Rz. 156, § 3 Rz. 281 ff.). Auch gegenüber dem Aufsichtsrat ist eine Anspruchsgeltendmachung durch 39 Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 5 AktG möglich (Æ § 2 Rz. 161 ff.). B.

Außenhaftung

Das Organverhältnis von Aufsichtsratsmitgliedern entfaltet keine Schutzwirkung 40 und begründet keine Garantenstellung gegenüber Aktionären oder sonstigen Dritten.102) §§ 116, 93 AktG sind auch keine Schutzgesetze i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB.103) Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen Verletzung ihrer organschaftlichen Plichten ist daher grundsätzlich auf die Gesellschaft beschränkt (Grundsatz der Haftungskonzentration).104) Eine Haftung gegenüber Aktionären oder sonstigen Dritten kommt daher nur in Ausnahmefällen in Betracht.105) ___________ 101) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 160; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 113 Rz. 72; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1025; MünchHdb. GesR IV/HoffmannBecking, § 33 Rz. 70; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 77; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 55; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 152; krit. Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 116 Rz. 308. 102) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 84; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 251; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 81. 103) Vgl. BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 211/76, AG 1979, 263; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 327; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 779; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 247; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 84; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 81; Heidel/Breuer/Fraune, § 116 Rz. 24; MarschBarner/Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 72. 104) Allg. bereits für Vorstand BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 380; Hüffer/Koch, § 93 Rz. 66; Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 1 Rz. 35; Hdb. Vorstandsrecht/Fleischer, § 11 Rz. 1; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 224; vgl. auch MünchHdb. GesR IV/Kraft/ Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 51. 105) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 84; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 327; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1035.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

41 Eine Haftung kann sich insoweit grundsätzlich nicht aus vertraglichen Anspruchsgrundlagen ergeben, da sich Aufsichtsratsmitglieder mit Rücksicht auf die Unabhängigkeit ihres Amtes nicht vertraglich gegenüber Dritten zu einer ordnungsgemäßen Amtsführung verpflichten können.106) I.

Haftung gegenüber Aktionären

42 Gegenüber Aktionären kommt insbesondere eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit einer Verletzung des Mitgliedschaftsrechts in Betracht.107) Das mit der Aktie verbundene Mitgliedschaftsrecht steht ausschließlich dem Inhaber zu und berechtigt ihn, andere von der Nutzung dieses Rechts auszuschließen; dementsprechend stellt es ein absolutes Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB dar.108) Eine Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB wegen der Verletzung des Mitgliedschaftsrechts von Aktionären setzt voraus, dass das Mitgliedschaftsrecht selbst durch eine rechtswidrige Maßnahme des Aufsichtsratsmitglieds beeinträchtigt wird.109) Nicht ausreichend ist eine bloße Vermögensbeeinträchtigung der Gesellschaft.110) Diese führt zwar wirtschaftlich zu einer Wertminderung der Aktie, allerdings bleiben die in der Aktie verbrieften Rechte von der Wertminderung unberührt.111) Eine Verletzung des Mitgliedschaftsrechts kann aber insbesondere bei Kapital- oder Strukturmaßnahmen gegeben sein, die unter Missachtung der Hauptversammlungszuständigkeit oder fehlerhafter Hauptversammlungsbeteiligung vorgenommen worden sind.112) Eine Haftung der Aufsichtsratsmitglieder kommt in diesem Fall sowohl bei einer eigenen Betei-

___________ 106) Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 780. 107) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 83; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 236 ff.; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 237; Marsch-Barner/ Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 71; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1031. 108) MünchKommBGB/Wagner, § 823 Rz. 352 m. w. N.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 337; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 237; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 83; Marsch-Barner/Schäfer/E. Vetter, § 30 Rz. 71; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1031; Mertens, in: Festschrift Fischer, S. 461 (468). 109) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 83; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 339; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1031; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 237. 110) Vgl. RG, Urt. v. 21.9.1938 – II 183/37, RGZ 158, 248 (255); MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 338; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 626; MünchKommBGB/ Wagner, § 823 Rz. 352; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1031. 111) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 338; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 626; MünchKommBGB/Wagner, § 823 Rz. 352; vgl. auch Mertens, in: Festschrift Fischer, S. 461 (468 f.). 112) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 (131 ff.) (Holzmüller); Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 1031; in diese Richtung bereits Mertens, in: Festschrift Fischer, S. 461 (468 f.).

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B. Außenhaftung

ligung an der Strukturmaßnahme (etwa durch Ausübung eines Zustimmungsvorbehalts) als auch bei einem Überwachungsverschulden in Betracht.113) Des Weiteren müssen Aufsichtsratsmitglieder gegenüber Aktionären haften, 43 wenn sie vorsätzlich unter Benutzung ihres Einflusses auf die Gesellschaft Organmitglieder, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte der Gesellschaft dazu bestimmen, Maßnahmen zum Schaden der Gesellschaft vorzunehmen (§ 117 Abs. 1 AktG) bzw. an einer solchen unzulässigen Einflussnahme eines Dritten unter Verletzung ihrer Organpflichten beteiligt sind (§ 117 Abs. 2 Satz 1 AktG).114) Die Schadensersatzpflicht gegenüber Aktionären ist in diesem Fall auf solche Schäden begrenzt, die über den Schaden der Gesellschaft durch die entsprechende Maßnahme hinausgehen (§ 117 Abs. 1 Satz 2 AktG). Außerdem kann sich eine Haftung aus konzernrechtlichen Ansprüchen ergeben (Æ § 7 Rz. 256 ff.). Teilweise wird vertreten, dass sich eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern 44 gegenüber den Aktionären auch wegen einer fehlerhaften Stellungnahme gemäß § 27 WpÜG oder der Beteiligung an unzulässigen Abwehrmaßnahmen gemäß § 33 WpÜG ergeben kann, wenn die Gesellschaft Ziel eines öffentlichen Übernahmeangebots ist.115) Da weder § 27 WpÜG noch § 33 WpÜG eigene Anspruchsgrundlagen darstellen, wäre eine derartige Haftung nur auf Basis von § 823 Abs. 2 BGB denkbar. Allerdings stellen die §§ 27, 33 WpÜG nach der zutreffenden h. M. keine Schutzgesetze i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB dar, weshalb eine Haftung gegenüber Aktionären in diesem Zusammenhang ausscheidet.116) Schließlich ist auch eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern gemäß § 823 45 Abs. 2 BGB denkbar. Dies setzt die Verletzung eines Schutzgesetzes, das dem Schutz der Aktionäre dient, voraus.117) Eine solche Haftung ist insbesondere bei falschen Angaben gemäß § 399 AktG und unrichtigen Darstellungen gemäß

___________ 113) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 83; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1031; in diese Richtung auch Thümmel, DB 1999, 885 (887). 114) Großkomm-AktG/Kort, § 117 Rz. 121; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 117 Rz. 2; Hüffer/Koch, § 117 Rz. 3; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 117 Rz. 14; MünchHdb. GesR IV/ Hoffmann-Becking, § 27 Rz. 2; MünchKommAktG/Spindler, § 117 Rz. 18; Schmidt/ Lutter/Witt, § 117 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Schall, § 117 Rz. 13; siehe auch BGH, Urt. v. 4.3.1985 – II ZR 271/83, ZIP 1985, 607. 115) Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1032. 116) Baums/Thoma/Harbarth, WpÜG, § 27 Rz. 142 ff.; Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/ Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 27 Rz. 150; Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch, WpÜG, § 33 Rz. 312; Baums/Thoma/Grunewald, WpÜG, § 33 Rz. 107; dazu insgesamt Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 1032. 117) Vgl. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 630 ff.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 80; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 758 ff.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

§ 400 AktG des Aufsichtsrats denkbar.118) Nach der Rechtsprechung des BGH soll auch der Straftatbestand der Untreue gemäß § 266 StGB ein Schutzgesetz zu Gunsten der Aktionäre darstellen.119) In der Literatur ist dies umstritten.120) Überzeugende Gründe sprechen gegen die Einordnung von § 266 StGB als Schutzgesetz gegenüber den Aktionären, da die Aufsichtsratsmitglieder ausschließlich in Bezug auf das Vermögen der Gesellschaft, nicht aber das ihrer Aktionäre eine Vermögensbetreuungspflicht trifft.121) Anders als bei einer Verletzung des Mitgliedschaftsrechts oder der Beteiligung an der Veranlassung einer schädigenden Handlung gegen die Gesellschaft gemäß § 117 AktG kann ein Aktionär auf Basis von § 823 Abs. 2 AktG auch Vermögensschäden der Gesellschaft geltend machen, sofern ihn diese wegen einer Wertminderung seiner Aktie wirtschaftlich belasten.122) Allerdings kann er den Ersatz dieser Schäden nur an die Gesellschaft und nicht an sich selbst verlangen.123) Dies ergibt sich bereits aus dem Grundsatz der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB), ist aber auch geboten, um einen ungerechtfertigten Sondervorteil eines Aktionärs gegenüber den übrigen Aktionären auszuschließen.124) II.

Haftung gegenüber sonstigen Dritten

46 Gegenüber sonstigen Dritten ist insbesondere eine deliktsrechtliche Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB oder § 826 BGB möglich, wenn das pflichtwidrig handelnde Aufsichtsratsmitglied zugleich ein Schutzgesetz gegenüber dem Drit___________ 118) Für § 399 AktG etwa BGH, Urt. v. 11.7.1988 – II ZR 243/87, BB 1988, 1983 (1984); MünchKommAktG/Wittig, § 399 Rz. 5; Großkomm-AktG/Hopt/Wiedemann, § 399 Rz. 5; KK-AktG/Altenhain, § 399 Rz. 12. Für § 400 AktG: BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, BGHZ 160, 134 (140); MünchKommAktG/Wittig, § 400 Rz. 3; GroßkommAktG/Hopt/Wiedemann, § 400 Rz. 4; KK-AktG/Altenhain, § 400 Rz. 8; Buck-Heeb/ Diekmann, AG 2008, 681 (682) (für Abs. 1 Nr. 1). Vgl. auch allgemein MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 359. 119) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, ZIP 2012, 1552 (1553), Rz. 13. 120) Für den Schutzgesetzcharakter: KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 225; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 93 Rz. 390; gegen die Einordnung als Schutzgesetz: Großkomm-AktG/Hopt/ Roth, § 93 Rz. 633; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 346; Schmidt/Lutter/Krieger/ Sailer-Coceani, § 93 Rz. 80. 121) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 633 122) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 349, 352 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 640 ff.; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 81; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 213; MünchHdb. GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 53. 123) BGH, Urt. v. 14.5.2013 – II ZR 176/10, WM 2013, 1321 (1323) m. w. N.; BGH, Urt. v. 21.10.2002 – II ZR 118/02, NZG 2003, 85 (für GmbH); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 643; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 213; Schmidt/Lutter/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 81; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 353; Hüffer/Koch, § 93 Rz. 63; MünchHdb. GesR IV/Kraft/Hoffmann-Becking, § 26 Rz. 53. 124) Siehe auch BGH, Urt. v. 14.5.2013 – II ZR 176/10, WM 2013, 1321 (1323); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 353.

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B. Außenhaftung

ten verletzt oder diesen vorsätzlich sittenwidrig schädigt.125) Eine solche Haftung kommt insoweit im Wesentlichen bei der Beteiligung des Aufsichtsrats an Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu Lasten Dritter (wie Betrug oder Insolvenzverschleppung) in Betracht.126) Praxishinweis: In aller Regel wird eine deliktische Haftung von Aufsichtsratsmit- 47 gliedern nur wegen einer Anstiftung (§ 26 StGB) oder Beihilfe (§ 27 StGB) zu einer strafbaren Maßnahme des Vorstands oder einer Beteiligung an einer Ordnungswidrigkeit in Betracht kommen, da der Aufsichtsrat als Innenorgan der Gesellschaft nur in wenigen Ausnahmefällen (wie etwa bei der Vertretung gegenüber Vorstandsmitgliedern) für die Gesellschaft im Außenverhältnis auftritt.127) Dementsprechend ist eine deliktische Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern in der Praxis in den weit überwiegenden Fällen nur bei vorsätzlichem Handeln möglich.128) Eine fehlende oder fehlerhafte Entsprechenserklärung des Aufsichtsrats ge- 48 mäß § 161 AktG führt nicht ohne Weiteres zu einer Haftung gegenüber Dritten, da der DCGK kein Gesetz und § 161 AktG kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB ist.129) Es lässt sich nach zutreffender Auffassung aus § 161 AktG auch keine Vertrauenshaftung gegenüber Kapitalanlegern herleiten.130) Eine Haftung wegen einer fehlerhaften Entsprechenserklärung ist aber denkbar, wenn hiermit eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit verbunden ist.131) Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Aufsichtsrat vorsätzlich eine fehlerhafte Entsprechenserklärung abgibt, da die Entsprechenserklärung gemäß § 289f Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 HGB in den Lagebericht der Gesellschaft aufgenommen werden muss und vorsätzlich unrichtige Angaben im Lagebericht gemäß § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB strafbar sind.132) ___________ 125) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 84; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 232; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 784; ausführlich dazu Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/P. Doralt/W. Doralt, § 16 Rz. 240 ff. sowie 244 ff. 126) Vgl. Hüffer/Koch, § 116 Rz. 14; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 60. 127) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 81; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 84; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 60. 128) Vgl. Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 60. 129) Henssler/Strohn/E. Vetter, § 161 AktG Rz. 29; Hölters/Weber/Hölters, § 161 Rz. 52; KK-AktG/Lutter, § 161 Rz. 180 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1034; MünchKommAktG/ Goette, § 161 Rz. 101; Schmidt/Lutter/Spindler, § 161 Rz. 73; BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 161 Rz. 148. 130) Grigoleit/Grigoleit/Zellner, § 161 Rz. 44; Hölters/Weber/Hölters, § 161 Rz. 54 f.; Lutter/ Krieger/Verse, Rz. 1034; MünchKommAktG/Goette, § 161 Rz. 102; Schmidt/Lutter/Spindler, § 161 Rz. 77; BeckOGK-AktG/Bayer/Scholz, § 161 Rz. 148; i. E. auch Hüffer/Koch, § 161 Rz. 30; a. A. KK-AktG/Lutter, § 161 Rz. 174; Ulmer, ZHR 166 (2002), 150 (168 f.). 131) Vgl. MünchKommAktG/Goette, § 161 Rz. 101. 132) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 161 Rz. 52; Kiethe, NZG 2003, 559 (566); KK-AktG/ Lutter, § 161 Rz. 182; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1034; Schmidt/Lutter/Spindler, § 161 Rz. 73; zurückhaltender Bürgers/Körber/Lieder/Hemeling, § 161 Rz. 48.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

49 Weiterhin ist eine Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen culpa in contrahendo gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, Abs. 3, 241 Abs. 2 BGB möglich, wenn sie – etwa bei der Aushandlung eines Vorstandsanstellungsvertrags oder bei einem Geschäftsabschluss, der einem Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats unterliegt – an Verhandlungen der Gesellschaft beteiligt sind und hierbei besonderes persönliches Vertrauen für sich in Anspruch nehmen.133) Ein solches Vertrauen kann insbesondere dann entstehen, wenn ein an der Verhandlung beteiligtes Aufsichtsratsmitglied der anderen Vertragspartei gegenüber suggeriert, der (hierzu berufene) Aufsichtsrat werde dem intendierten Vertragsabschluss sicher zustimmen, letztlich der Aufsichtsrat aber gegen den Vertragsabschluss stimmt. Hieran sind jedoch sehr hohe Hürden zu stellen.134) Die bloße Zusicherung, im Aufsichtsrat für den Geschäftsabschluss zu stimmen, kann keinesfalls ausreichen, um eine Haftung zu begründen, da die eigene Stimmabgabe allein nicht sicher zu einer zustimmenden Beschlussfassung des Gesamtgremiums führt. Auch die bloße Behauptung, der Aufsichtsratsbeschluss sei lediglich eine Formalität, reicht nicht für das Entstehen besonderen Verhandlungsvertrauens aus.135) Vielmehr müssen konkrete Umstände hinzutreten, auf deren Basis der andere Vertragsteil nach Treu und Glauben von einem sicheren Zustandekommen des Aufsichtsratsbeschlusses ausgehen durfte. Dies wäre etwa der Fall, wenn die Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder an der Verhandlung beteiligt ist und gemeinsam zusichert, für den Abschluss des Geschäfts zu stimmen. Ein besonderes Vertrauen kann sich – jedenfalls theoretisch – außerdem bei einem wirtschaftlichen Eigeninteresse des Aufsichtsratsmitglieds an dem Geschäftsabschluss ergeben.136) Ein solches Interesse ist allerdings nur anzunehmen, wenn der Verhandlungsführer als wirtschaftlicher Herr des Geschäfts oder eigentlich wirtschaftlicher Interessenträger des intendierten Geschäfts anzusehen ist.137) Die Anforderungen hieran sind sehr hoch und ergeben sich beispielsweise nicht bereits daraus, dass das Aufsichtsratsmit-

___________ 133) Vgl. BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 249. 134) BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 180/90, ZIP 1991, 1140 (1141 f.); BGH, Urt. v. 17.6.1991 – II ZR 171/90, NJW-RR 1991, 1241 (1242) m. w. N.; BeckOK-BGB/Sutschet, § 311 Rz. 117. 135) LG München I, Urt. v. 27.12.2012 – 5 HK O 20845/11, ZIP 2013, 674 (675). 136) BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 (1105); BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 180/91, ZIP 1991, 1140 (1141 f.) m. w. N.; BGH, Urt. v. 17.6.1991 – II ZR 171/90, NJWRR 1991, 1241 (1242); BGH, Urt. v. 3.4.1990 – XI ZR 206/88, ZIP 1990, 659 (661); BAG, Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 220/10, BB 2012, 520 Orientierungssatz 5. 137) Vgl. BGH, Urt. v. 17.6.1991 – II ZR 171/90, NJW-RR 1991, 1241 (1242) m. w. N.; MünchKommBGB/Herresthal, § 311 Rz. 527; BeckOK-BGB/Sutschet, § 311 Rz. 125; Grüneberg/Grüneberg, BGB, § 311 Rz. 61.

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D. Haftung Dritter für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern

glied Alleinaktionär der Gesellschaft ist138) oder Kredite der Gesellschaft persönlich besichert hat139). Schließlich können Aktionäre unter den Voraussetzungen des § 148 AktG An- 50 sprüche gemäß §§ 116, 93 AktG im eigenen Namen für und zu Gunsten der Gesellschaft geltend machen (Æ § 6 Rz. 30 ff.). C.

Haftung der Gesellschaft für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern

Die Gesellschaft muss sich Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern gemäß 51 § 31 BGB zurechnen lassen, sofern dieses gegen Haftungsgläubiger der Gesellschaft gerichtet ist und im Rahmen der Amtstätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder erfolgt.140) Nicht ausreichend sind nur im Innenverhältnis der Gesellschaft wirkende Amtstätigkeiten, wie Überwachungspflichtverletzungen oder die Zustimmung des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zu einer Maßnahme des Vorstands.141) Dementsprechend ist eine Zurechnung von Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern zur Gesellschaft gemäß § 31 BGB auf öffentliche Äußerungen des Aufsichtsrats oder einzelner seiner Mitglieder im Namen der Gesellschaft und die Vertretung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat (insbesondere gegenüber Vorstandsmitgliedern gemäß § 112 AktG) beschränkt.142) D.

Haftung Dritter für Fehlverhalten von Aufsichtsratsmitgliedern

Für eine Haftung Dritter wegen eines Fehlverhaltens von Aufsichtsratsmitglie- 52 dern besteht grundsätzlich keine gesetzliche Grundlage. Diskutiert wird allerdings eine Haftung von Körperschaften, die die Bestellung eines ihrer Repräsentanten in den Aufsichtsrat – etwa als Mehrheitsaktionärin oder Entsendungsberechtigte – veranlassen.143) Ein Teil der aktienrechtlichen Literatur möchte der veranlassenden Körperschaft ein Fehlverhalten ihrer Repräsentanten im Aufsichtsrat der Gesellschaft gemäß § 31 BGB zurechnen, wenn die Repräsentanten im Rahmen ihrer Amtstätigkeit den Interessen „ihrer“ Körper___________ 138) So zum Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH: BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 (1105); BGH, Urt. v. 1.7.1991 – II ZR 180/91, ZIP 1991, 1140 (1142) m. w. N. 139) BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103 für GmbH; BeckOGK-AktG/ Spindler, § 116 Rz. 249. 140) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 116 Rz. 99; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 83; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 331; MünchKommBGB/Leuschner, § 31 Rz. 13, 22; Kau/Kukat, BB 2000, 1045, (1049). 141) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 99; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 86; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 331. 142) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 86; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 99; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 331. 143) Vgl. Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 100; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 87 f.; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 799 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 229.

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§ 4 Haftung des Aufsichtsrats

schaft gegenüber den Interessen der Gesellschaft den Vorrang einräumen und eine Schädigung der Gesellschaft zumindest bedingt vorsätzlich in Kauf nehmen.144) Teilweise wird sogar vertreten, dass sich die bestellende Körperschaft jegliches pflichtwidriges Verhalten ihrer Repräsentanten im Aufsichtsrat zurechnen lassen müsse.145) Nach der zutreffenden Rechtsprechung des BGH ist eine Zurechnung von Fehlverhalten der Repräsentanten von Körperschaften, die die Bestellung veranlasst haben, insgesamt abzulehnen.146) Das Aufsichtsratsmitglied übt sein Amt weisungsfrei und unabhängig allein für die Gesellschaft aus.147) Es wird daher bei seiner Amtstätigkeit ausschließlich für die Gesellschaft und nicht – wie für eine Zurechnung gemäß § 31 BGB vorausgesetzt – in seiner Eigenschaft als Repräsentant der Körperschaft tätig.148)

___________ 144) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 116 Rz. 333; KK-AktG/Mertens/Cahn, Vorb. § 95 Rz. 15; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 229; siehe auch Noack, in: Festschrift HoffmannBecking, S. 847 (854 ff.). 145) Ulmer, in: Festschrift Stimpel, S. 705 (715 ff.); siehe ferner Lutter, ZHR 145 (1981), 224 (229 f.), der eine Organisationspflicht zur fachlich adäquaten Zusammensetzung des Aufsichtsrats für Großaktionäre annimmt. 146) BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, ZIP 1984, 572 (578); BGH, Urt. v. 29.1.1962 – II ZR 1/61, NJW 1962, 864 (867); ebenso LG München I, Urt. v. 31.5.2007 – 5 HK O 11977/06, AG 2007, 827 (830); Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 116 Rz. 29; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 116 Rz. 100; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 87 f.; Semler/ v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 805; offenlassend Hüffer/Koch, § 116 Rz. 14. 147) BGH, Urt. v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, ZIP 1984, 572 (578); Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 116 Rz. 97; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 87 f.; Semler/ v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 805. 148) BGH, Urt. v. 29.1.1962 – II ZR 1/61, NJW 1962, 864 (867); Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 116 Rz. 97.

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§ 5 Hauptversammlung

Schäfer

Übersicht A. Zuständigkeit der Hauptversammlung .................................... 1 I. Überblick ............................................ 1 II. Gesetzliche Zuständigkeiten ............. 3 1. Regelmäßig wiederkehrende Gegenstände ................................ 4 a) Jahresabschluss und Gewinnverwendung .................... 5 b) Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat.......................... 7 c) Bestellung des Abschlussprüfers ........................................ 11 d) Wahl der Aufsichtsratsmitglieder .................................. 12 e) Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat........................ 13 2. Struktur- und Grundlagenzuständigkeit.............................. 16 3. Sonderfälle ................................. 21 III. Satzungsmäßige Zuständigkeiten .... 23 IV. Ungeschriebene Zuständigkeiten .... 24 1. Holzmüller/Gelantine .............. 25 2. Beteiligungserwerb/-veräußerung, Zusammenschluss .... 27 3. IPO/Delisting............................ 30 B. Format und Einberufung der Hauptversammlung ................. 32 I. Format............................................... 32 II. Einberufungsgründe ........................ 36 III. Einberufungsberechtigte/-verpflichtete ........................................... 40 IV. Form und Inhalt der Einberufung .... 43 1. Einberufungsfrist....................... 43 2. Form der Einberufung .............. 44 a) Bekanntmachung und europaweite Verbreitung........... 45 b) Intermediärs- und Aktionärsinformation ............... 46 c) Veröffentlichung im Internet ..... 48 3. Inhalt der Einberufung.............. 49 C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung ........................................ 52

I.

II.

III.

D. I.

II.

III.

Schäfer

Teilnahme von Vorstand und Aufsichtsrat ...................................... 53 1. Teilnahmepflicht ....................... 53 2. Teilnahmerecht.......................... 57 Informationspflichten vor und während der Hauptversammlung .... 60 1. Berichtspflicht .......................... 61 2. Zugänglichmachen von Unterlagen ................................. 63 3. Erläuterungen in der Hauptversammlung.............................. 69 Auskunftspflicht .............................. 71 1. Gegenstand und Adressat der Auskunftspflicht ................. 71 2. Erfüllung der Auskunftspflicht... 74 3. Verweigerung und Beschränkung der Auskunft ......... 77 4. Verletzung der Auskunftspflicht......................................... 80 5. Auskunftspflicht bei der virtuellen Hauptversammlung ...... 82 Versammlungsleitung ................... 88 Position des Versammlungsleiters .... 88 1. Bestimmung des Versammlungsleiters ....................... 89 2. Abberufung des Versammlungsleiters ....................... 91 Eröffnung und Beendigung der Hauptversammlung.......................... 93 1. Ein- und Ausgangskontrolle..... 93 2. Eröffnung .................................. 94 3. Teilnehmerverzeichnis ............. 96 4. Beendigung .............................. 101 Rechte und Pflichten in der Hauptversammlung........................ 102 1. Aktionärsaussprache ............... 102 a) Leitung der Aussprache .......... 102 b) Beschränkungen ...................... 104 c) Rederecht in der virtuellen Hauptversammlung; Leitungsmaßnahmen .................... 105 2. Antragsrecht............................ 109 3. Abstimmung............................ 113

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§ 5 Hauptversammlung Schrifttum: Anzinger, Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung: Kompetenzverteilung und Offenlegung nach der zweiten Aktionärsrechterichtlinie, ZGR 2019, 39; Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, Vorschlag zur Neufassung der Vorschriften des Aktiengesetzes über Beschlussmängel, AG 2008, 617; Arbeitskreis Recht des Aufsichtsrats, Eckpunkte für eine Reform des Aufsichtsratsrechts, NZG 2021, 477; Armbrüster, Grundlagen und Reichweite von Wettbewerbsverboten im Personengesellschaftsrecht, ZIP 1997, 261; Arnold, Mitwirkungsbefugnisse der Aktionäre nach Gelantine und Macroton, ZIP 2005, 1573; Arnold/Carl/Götze, Aktuelle Fragen bei der Durchführung der Hauptversammlung, AG 2011, 349; Austmann, Verfahrensanträge in der Hauptversammlung, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 45; Bachmann, Rocket Internet – Ein Fall für den Gesetzgeber?, NZG 2021, 609; Bayer/Hoffmann, Hauptversammlungsleitung: Statutarische Regelungen, AG 2012, R339; BDI, Dauerhafter Verankerung der virtuellen Hauptversammlung im Aktiengesetz, abrufbar unter: https://bdi.eu/publikation/news/dauerhafteverankerung-der-virtuellen-hauptversammlung-im-aktiengesetz/; Blasche, Zur Erforderlichkeit eines Versammlungsleiters bei der Einpersonen-Aktiengesellschaft, AG 2017, 16; Bungert, Festschreibung der ungeschriebenen „Holzmüller“-Hauptversammlungszuständigkeiten bei der Aktiengesellschaft, BB 2004, 1345; Bungert/Leyendecker-Langner, Die Neuregelung des Delisting, ZIP 2016, 49; Bungert/Rieckers, Die virtuelle Hauptversammlung in Permanenz – RefE zur Änderung des AktG vorgelegt, DB 2022, 581; Butzke, Die virtuelle Hauptversammlung – Notfalllösung mit Zukunftsperspektive?, VGR 2020, 35; BVI, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften (RegE), 2022 (abrufbar unter: https:// www.bundestag.de/ausschuesse/a06_recht/anhoerungen/897064-897064)Danwerth, Die zweite Saison der virtuellen Hauptversammlung der Unternehmen der DAX-Indexfamilie, AG 2021, 613; Danwerth, Das Teilnehmerverzeichnis der virtuellen Hauptversammlung, NZG 2020, 586; Danwerth/Seibt, Aktionärskommunikation und (Online-)Hauptversammlung: Das Vorfeld ist das Hauptfeld!, AG 2021, 369; Dietz-Vellmer, Hauptversammlungsbeschlüsse nach § 119 II AktG – geeignetes Mittel zur Haftungsvermeidung für Organe? NZG 2014, 721; Dreher, Die Teilnahmepflicht der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder einer Konzerngesellschaft an deren Hauptversammlung, in: Festschrift Krieger, 2020, S. 201; Drinhausen/Keinath: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, BB 2022, 451; Drinhausen/ Marsch-Barner, Zur Rechtsstellung des Aufsichtsratsvorsitzenden als Leiter der Hauptversammlung einer börsennotierten Gesellschaft, AG 2014, 757; DSW, Stellungnahme der Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e. V. (DSW) zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften (RegE), 2022 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_recht/ anhoerungen/897064-897064); Fleischer, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Aktienrecht: Von „Holzmüller“ zu „Gelatine“, NJW 2004, 2335; Fleischer, Börseneinführung von Tochtergesellschaften, ZHR 165 (2001), (513); Franzmann/Brouwer, Wege zu einer verbesserten Aktionärsbeteiligung – Überlegungen und Vorschläge zur Reform der Hauptversammlung, AG 2020, 921; Geßler, Einberufung und ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten, in: Festschrift Stimpel, 1985, S. 771; Goette, Organisation und Zuständigkeit im Konzern, AG 2006, 522; Götze, „Gelatine“ statt „Holzmüller“ – Zur Reichweite ungeschriebener Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung, NZG 2004, 585; Groß/Schulz, Mehr Schatten als Licht der Regierungsentwurf zur Einführung virtueller Hauptversammlungen, BB 2022, Heft 21, Umschlagteil I; Gubitz/ Nikoleyczik, Erwerb der Dresdner Bank durch die Commerzbank: Ein „Holzmüller“Fall?, NZG 2010, 539; Habersack, Mitwirkungsrechte der Aktionäre nach Macroton und Gelkantine, AG 2005, 137; Habersack, Mitwirkungsrechte der Aktionäre nach Macrotron und Gelatine, AG 2005, 137; Halberkamp/Gierke, Das Recht der Aktionäre auf Einberufung einer Hauptversammlung, NZG 2004, 494; Herrler, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem COVID-19-Gesetz, DNotZ 2020, 468; Heun, Neue Regeln für die Vorbereitung der Hauptversammlungen Hasselbach/Alles, Die Verpflichtungserklärung gegenüber dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds – Vorstandshandeln im Grenzbereich zwischen un-

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§ 5 Hauptversammlung ternehmerischer Verantwortung und staatlicher Regulierung NZG 2020, 727; durch das ARUG II: Eine erste Bewertung aus Perspektive der Praxis, WM 2021, 1412; Hippeli, Kein ungeschriebenes Zustimmungserfordernis der Hauptversammlung zu einem Merger of Equals, NZG 2019, 535; Hirte, Bezugsrechtsausschluss und Konzernbildung, 1986; Hoffmann, Einzelentlastung, Gesamtentlastung und Stimmverbote im Aktienrecht, NZG 2010, 290; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat der AG und sein Vorsitzender in der Hauptversammlung, NZG 2017, 281; Hoffmann-Becking, „Holzmüller“, „Gelatine“ und die These von der Mediatisierung der Aktionärsrechte(ZHR 172 (2008), 231; Hofmeister, Veräußerungen und Erwerb von Beteiligungen bei der Aktiengesellschaft: Denkbare Anwendungsfälle der Gelantine-Rechtsprechung?, NZG 2008, 47; Hopt, Das Dritte Finanzmarktförderungsgesetz. Börsen- und kapitalmarktrechtliche Überlegungen, in: Festschrift Drobnig, 1998, S. 525; Hopt, Prävention und Repression von Interessenkonflikten im Aktien-, Bank- und Berufsrecht, in: Festschrift Doralt, 2004, S. 213; Kersting/Billerbeck, Auskunftsverweigerungsrecht und Auskunftsverweigerungspflicht, NZG 2019, 1326; Kiefner, Beteiligungserwerb und ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit, ZIP 2011, 545; Klein, Der Referentenentwurf des Gesetzes für virtuelle Hauptversammlungen, NZG 2022, 483; Klöhn, Passive Investoren, Aktivisten und die Reform des deutschen Hauptversammlungsrechts, ZHR 185 (2021), 182; Koch, Der Kapitalanleger als Corporate Governance-Akteur im Rahmen der neuen §§ 134a ff. AktG, BKR 2020, 1; Die Zuständigkeit der Hauptversammlung für Zusammenschlussvorhaben nach dem Linde/PraxairModell, ZGR 2019, 58; Koch, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften, 2022 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_recht/ anhoerungen/897064-897064); Kocher, Zur Bedeutung von Beschlussvorschlägen der Verwaltung für die Fassung und Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen, AG 2013, 406; Kocher/Feigen, Hilfspersonen des Versammlungsleiters, NZG 2015, 620; Kollhosser, Probleme konkurrierender aktienrechtlicher Gerichtsverfahren, AG 1977, 117; Kremer, Die Praxis der Hauptversammlung, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 697; Krieger, Abwahl des satzungsmäßigen Versammlungsleiters?, AG 2006, 355; Kropff, Aktiengesetz, 1965; Kuhnt, „Geschäftsordnungsanträge und Geschäftsordnungsmaßnahmen bei Hauptversammlungen“, in: Festschrift Lieberknecht, 1997, S. 45; Kuntz, Kommunikation mit Aktionären nach ARUG II, AG 2020, 18; Langenbach, Der Versammlungsleiter in der Aktiengesellschaft, 2018; Liebscher, Ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeiten im Lichte von Holzmüller, Macrotron und Gelatine, ZGR 2005, 1; Lieder, Auskunftsrecht und Auskunftserzwingung, NZG 2014, 601; Löbbe/Fischbach, Die Neuregelungen des ARUG II zur Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Aktiengesellschaften, AG 2019, 373; Lochner, Referentenentwurf zur virtuellen Hauptversammlung, AG 2022, 320; Lutter, Der Erwerb der Dresdner Bank durch die Commerzbank – ohne ein Votum ihrer Hauptversammlung?, ZIP 2012, 351; Lutter, Das unvollendete Konzernrecht, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, S. 1065; Lutter/Drygala, Rechtsfragen beim Gang an die Börse, in: Festschrift Raisch, 1995, S. 239; Lutter/Leinekugel, Der Ermächtigungsbeschluss der Hauptversammlung zu grundlegenden Strukturmaßnahmen – zulässige Kompetenzübertragung oder unzulässige Selbstentmachtung?, ZIP 1998, 805; Martens, Die Leitungskompetenzen auf der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, WM 1981, 1010; Martens, Die Reform der aktienrechtlichen Hauptversammlung, AG 2004, 238; Max, Die Leitung der Hauptversammlung, AG 1991, 77; Mayer/ Jenne/Miller, „Rolle rückwärts“ – der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen, NZG 2022, 1155; Meilicke/Heidel, Das Auskunftsrecht des Aktionärs in der Hauptversammlung (Teil I), DStR 1992, 72; Noack, Neue Regularien für die Hauptversammlung durch das ARUG II und den Corporate Governance Kodex 2020, DB 2019, 2785; Noack/Zetzsche, (Virtuelle) Hauptversammlung mit und nach Corona, AG 2020, 721; Ott, Die Hauptversammlung einer Einpersonen-Aktiengesellschaft, RNotZ 2014, 423; Paefgen: „Holzmüller“ und der Rechtsschutz des Aktionärs gegen das Verwaltungshandeln im Rechtsvergleich, ZHR 172 (2008), 42; Petersen/Schulze De la Cruz, Das Stimmverbot nach § 136 I AktG bei der Entlastung von Vorstandsdoppelmandats-

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§ 5 Hauptversammlung trägern, NZG 2012, 453; Poelzig, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften, 2022 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_recht/ anhoerungen/897064-897064); Polte/Haider-Giangreco, Die Vollversammlung der Aktiengesellschaft, AG 2014, 729; Priester, Aktionärsentscheid zum Unternehmenserwerb AG 2011, 654; Priester, Die klassische Ausgliederung – ein Opfer des Umwandlungsgesetzes 1994?, ZHR 163 (1999), 187; Redenius-Hövermann, Zum Anlegerschutz beim Delisting – de lege lata/de lege ferenda, ZIP 2021, 485; Redenius-Hövermann/Schmidt/ Strenger, Die Hauptversammlung der Zukunft – Was muss sich ändern?, Der Aufsichtsrat 2021, 98; Reichert, Mitwirkungsrechte und Rechtsschutz der Aktionäre nach Macrotron und Gelatine, AG 2005, 150; Rieckers, Nachlese zur Hauptversammlungssaison 2021 und Ausblick auf 2022, DB 2022, 172; Roßkopf, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften, 2022 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ ausschuesse/a06_recht/anhoerungen/897064-897064); Rubner/Pospiech, Rückzug von der Börse – Neue Regeln für Delisting und Downgrading, NJW-Spezial 2016, 207; Salfeld, Wettbewerbsverbote im Gesellschaftsrecht, S. 135 ff.; Sauerwald, Der Versammlungsleiter im Aktienrecht, 2018; Schindler/Schaffner, Virtuelle Beschlussfassung in Kapitalgesellschaften und Vereinen, 2021; H. Schmidt, Ausschluss der Anfechtung des Squeeze-outBeschlusses bei abfindungswertbezogenen Informationsmängeln, in: Festschrift Ulmer, 2003, S. 543; Schmolke, Hauptversammlungszuständigkeit für Business Combination Agreements, in: Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2018, S. 137 ff.; U.H. Schneider, Geheime Abstimmung in der Hauptsammlung einer Aktiengesellschaft, in: Festschrift Peltzer, 2001, S. 425; Seibert, Das „TransPuG“ – Gesetz zur weiteren Reform des Aktienund Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (Transparenz- und Publizitätsgesetz) – Diskussion im Gesetzgebungsverfahren und endgültige Fassung, NZG 2002, 608; Seibert, UMAG und Hauptversammlung – Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG), WM 2005, 157; Seibt/Danwerth, Referentenentwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen: Eine kritische Analyse, AG 2022, 177. Semrau, Stellungnahme – Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften, 2022 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/ ausschuesse/a06_recht/anhoerungen/897064-897064); Simons, Die Online-Abstimmung in der Hauptversammlung, NZG 2017, 567; Simons/Hauser, Die virtuelle Hauptversammlung, NZG 2020, 488; Spindler, Die Neuregelung der Vorstands- und Aufsichtsratsvergütung in ARUG II, AG 2020, 61; Strohn Zur Zuständigkeit der Hauptversammlung bei Zusammenschlussvorhaben unter Gleichen, ZHR 182 (2018), 114-156; Stützle/ Walgenbach, Leitung der Hauptversammlung und Mitspracherechte der Aktionäre in Fragen der Versammlungsleitung, ZHR 155 (1991), 516; Theusinger/Schilha, Die Leitung der Hauptversammlung – eine Aufgabe frei von Haftungsrisiken?, BB 2015, 131; Unmuth, Anwesenheitspflicht der Organmitglieder in der Hauptversammlung, NZG 2020, 448; J. Vetter, Die Beantwortung von Fragen durch den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Hauptversammlung, in: Festschrift E. Vetter, 2019, S. 833; VGR, Vorschläge der VGR zur Reform der Hauptversammlung börsennotierter Gesellschaften vom 26.4.2021, AG 2021, 380; Vollmer/Grupp, Der Schutz der Aktionäre beim Börseneintritt und Börsenaustritt, ZGR 1995, 459; von der Linden, Die Abwahl des Hauptversammlungsleiters – Irrwege, Umwege, Auswege, DB 2017, 1371; von der Linden, Gesetz zur virtuellen HV – mehr Sein (unter: https://blog.otto-schmidt.de/gesellschaftsrecht/2022/07/08/gesetzzur-virtuellen-hv-mehr-schein-als-sein/; von der Linden, Wer entscheidet über die Form der Stimmrechtsausübung in der Hauptversammlung?, NZG 2012, 930; von Holten/ Bauerfeind, Die Online-Hauptversammlung in Deutschland und Europa, AG 2018, 729; Wicke, Die Leitung der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft – Praxisrelevante Fragen und neuere Entwicklungen, NZG 2007, 771; Wieneke, Beschlussfassung der Hauptversammlung in Abweichung von den Vorschlägen der Verwaltung, in: Festschrift Schwark, 2009, S. 305; Zetzsche, Aktionärsidentifikation, Aktionärslegitimation und das

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A. Zuständigkeit der Hauptversammlung Hauptversammlungsverfahren nach ARUG II, AG 2020, 1; Wilsing/von der Linden, Hauptversammlungsleitung durch einen Unternehmensfremden, Aktienrechtliche Spielräume und Zweckmäßigkeitsüberlegungen bei der Bestimmung der Person des Versammlungsleiters, ZIP2009, 64; Wilsing/von der Linden, Debatte und Abstimmung in der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, ZIP 2010, 2321; Zetzsche, Pflichten von Asset Managern und Asset Ownern gem. §§ 134a ff. AktG, AG 2020, 637; Zimmer/von Imhoff, Die Neuregelung des Delisting in § 39 BörsG, NZG 2019, 1056; Zipperle/Lingen, Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie im Überblick, BB 2020, 131.

A.

Zuständigkeit der Hauptversammlung

I.

Überblick

Das AktG sieht neben Vorstand und Aufsichtsrat die Hauptversammlung als 1 drittes zwingendes Organ der Aktiengesellschaft vor. Die Zuordnung der Zuständigkeiten unter den drei Organen ist auf ein funktionsfähiges Macht- und Kontrollgleichgewicht ausgerichtet. Charakteristisch für das Kompetenzgefüge des AktG ist die starke Ausgestaltung des Vorstands als geschäftsführendem Leitungsgremium und zugleich die Betonung der Rolle des Aufsichtsrats. Der Hauptversammlung als dem primären Organ der Eigentümer der Gesellschaft kommt im Verhältnis dazu eine ausdrücklich beschränkte Stellung zu. Anders als die Gesellschafterversammlung der GmbH1) hat sie keine Allzuständigkeit (§ 119 AktG). Insbesondere steht die alleinige Leitungsverantwortung des Vorstands (§ 76 AktG) nicht unter dem Vorbehalt der Hauptversammlung. Die Hauptversammlung kann nur auf Verlangen des Vorstands zu Themen der Geschäftsführung entscheiden (§ 119 Abs. 2 AktG; Æ Rz. 23 f.). Die Corporate Governance Diskussion nimmt in den letzten Jahren aber auch 2 verstärkt die Rolle und Verantwortung der Eigentümer und damit der Hauptversammlung in den Blick. In diesem Zuge fanden im Rahmen von ARUG II erstmals Transparenzpflichten u. a. hinsichtlich der Ausübung des Stimmrechts Einzug in das AktG.2) ARUG II hat daneben auch zu einer punktuellen Erweiterung der Zuständigkeit der Hauptversammlung, namentlich v. a. bei der Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat (Æ Rz. 13),3) geführt. Im Übrigen ist der Gesetzesrahmen zur Zuständigkeit der Hauptversammlung seit langer Zeit im Kern unverändert, wenngleich sich die Rechtsprechung zuweilen intensiv und auch rechtsfortbildend hiermit befasste (z. B. Æ Rz. 25 ff.). II.

Gesetzliche Zuständigkeiten

Die Zuständigkeit der Hauptversammlung ist grundsätzlich auf die in Satzung 3 oder Gesetz ausdrücklich genannten Fälle beschränkt (§ 119 Abs. 1 AktG). ___________ 1) 2) 3)

Vgl. hierzu und zu der Diskussion, ob die Allzuständigkeit stattdessen bei der Gesamtheit der Gesellschafter liegt BeckOK/GmbHG/Spindler, § 46 Rz. 131, § 45 Rz. 30 ff. m. w. N. §§ 134a ff. AktG; vgl. dazu Koch, BKR 2020, 1 ff.; Zetzsche, AG 2020, 637 ff. Vgl. aber auch § 111b Abs. 4 AktG.

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§ 5 Hauptversammlung

Die wesentlichen gesetzlichen Zuständigkeiten der Hauptversammlung listet § 119 Abs. 1 AktG auf. Der Zuständigkeitskatalog ist zwingend.4) Eine Delegation dieser Zuständigkeitstatbestände an andere Gesellschaftsorgane ist nicht zulässig.5) Daneben begründet das AktG verschiedentlich weitergehende Zuständigkeiten der Hauptversammlung. Thematisch lassen sich die Zuständigkeiten in regelmäßig wiederkehrende Gegenstände (Æ Rz. 4 ff.), Struktur- und Grundlagenmaßnahmen (Æ Rz. 16 ff.) sowie Sonderthemen (Æ Rz. 21 ff.) einteilen. 1.

Regelmäßig wiederkehrende Gegenstände

4 Die regelmäßig wiederkehrenden Gegenstände bilden das Standardprogramm der ordentlichen Hauptversammlung. a)

Jahresabschluss und Gewinnverwendung

5 Die Zuständigkeit der Hauptversammlung hinsichtlich des Jahresabschlusses beschränkt sich im gesetzlichen wie im praktischen Regelfall auf die Entgegennahme des vom Vorstand aufgestellten und vom Aufsichtsrat gebilligten und damit festgestellten Jahresabschlusses. Eine Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung ist nur vorgesehen, sofern Vorstand und Aufsichtsrat dies beschließen oder der Aufsichtsrat die Billigung verweigert hat (§ 173 Abs. 1 Satz 1 AktG). Dies ist in der Praxis äußerst selten. 6 Als Beschlussgegenstand der Hauptversammlung ist demgegenüber die Verwendung des Bilanzgewinns vorgesehen (§§ 119 Abs. 1 Nr. 2, 174 AktG). Die Hauptversammlung ist dabei durch den von der Verwaltung festgestellten Jahresabschluss in ihrer Beschlussfassung limitiert (§ 174 Abs. 1 Satz 2 AktG). Allerdings ist der Handlungsspielraum der Hauptversammlung insoweit geschützt, als dass Vorstand und Aufsichtsrat, sofern die Vorgaben zu den gesetzlichen Rücklagen nach § 158 AktG gewahrt sind, gemäß § 58 Abs. 2 AktG höchstes die Hälfte des Jahresüberschusses in die Gewinnrücklagen einstellen und damit der Beschlussfassung der Hauptversammlung „entziehen“ können. Die Hauptversammlung selbst ist unter Berücksichtigung der „Mindestdividende“ (§ 254 Abs. 1 AktG) grundsätzlich frei darin, den ausgewiesenen Bilanzgewinn auszuschütten, in Gewinnrücklagen einzustellen oder als Gewinn vorzutragen.6)

___________ 4) 5)

6)

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Beck’sches Handbuch der AG/Reichert, § 5 Rz. 7; Hüffer/Koch, § 119 Rz. 1; MünchHdb. GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 10. Wenngleich dem AktG die Delegation von Entscheidungsbefugnissen der Hauptversammlung nicht per se fremd ist, wie u. a. das Konstrukt des genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG), vgl. hierzu auch Beck’sches Handbuch der AG/Reichert, § 5 Rz. 51. MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 47 Rz. 16; MünchKommAktG/Hennrichs/ Pöschke, § 174 Rz. 11; vgl. zu besonderen Beschränkungen im Einzelfall etwa nach dem Wirtschaftsstabilisierungsfondsgesetz Hasselbach/Alles, NZG 2020, 727.

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A. Zuständigkeit der Hauptversammlung

b)

Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat

Nach §§ 119 Abs. 1 Nr. 3, 120 Abs. 1 AktG beschließt die Hauptversammlung 7 jährlich (in den ersten acht Monaten) über die Entlastung der Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat. Die Beschlussfassung erfolgt im gesetzlichen Regelfall im Wege der Gesamtentlastung (§ 120 Abs. 1 AktG). Eine Einzelentlastung der Verwaltungsmitglieder hat zu erfolgen, wenn es die Hauptversammlung beschließt oder eine qualifizierte Minderheit dies verlangt (§ 120 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 und 2 AktG). Der Versammlungsleiter kann ungeachtet dessen nach seinem Ermessen auch in sonstigen Fällen die Abstimmung im Wege der Einzelentlastung vorsehen.7) Hierdurch kann in der Praxis einerseits einem entsprechenden konfliktträchtigen Verlangen zuvorgekommen werden. Andererseits kann so im Einzelfall verhindert werden, dass Sondersachverhalte, die nur einzelne Organmitglieder betreffen, das Gesamtergebnis des Entlastungsbeschlusses belasten. Das Verfahren der Beschlussfassung ist auch relevant für den Ausschluss des 8 Stimmrechts der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder nach § 136 AktG aus ihren oder von ihnen vertretenen Aktien der Gesellschaft. Im Rahmen der Gesamtentlastung bezieht sich der Stimmrechtsausschluss auf die Beschlussfassung zu dem jeweiligen Gesamtorgan. Wird einzeln über die Entlastung abgestimmt, gilt der Stimmausschluss nach zutreffender Ansicht grundsätzlich lediglich für die Beschlussfassung über die eigene Entlastung des Gremienmitglieds.8) Vor diesem Hintergrund wird in der Praxis teilweise die Einzelentlastung auch vorgesehen, um weitgehende Stimmrechtsausschlüsse zu verhindern. Anders können Sachverhalte zu behandeln sein, bei denen die konkrete Möglichkeit besteht, dass das Organmitglied an einer dem zu entlastenden Organmitglied vorgeworfenen Pflichtverletzung mitgewirkt hat.9) Praxishinweis: Die Möglichkeit eines nachträglichen Wechsels von der Gesamtent- 9 lastung zur Einzelentlastung wird in der Praxis vielfach in den Abstimmungs- und Weisungsformularen (vgl. § 124a Satz 1 Nr. 5 AktG) explizit reflektiert. Die Formulare enthalten dann einen Hinweis, dass das auf Grundlage einer vorgesehenen Gesamtentlastung angegebene Abstimm- oder Weisungsverhalten, im Fall ___________ 7)

8)

9)

BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270; Hüffer/Koch, § 120 Rz. 10; MünchKommAktG/Kubis, § 120 Rz. 12; Petersen/Schulze De la Cruz, NZG 2012, 453, 458 f.; a. A. bei vorliegendem Antrag Großkomm-AktG/Mülbert, § 120 Rz. 129. BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270, 1271 f.; OLG München, Urt. v. 17.3.1995 – 23 U 5930/94, NJW-RR 1996, 159, 159 f.; vgl. im Übrigen u. a. MünchKommAktG/Arnold, § 136 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 136 Rz. 20; Hoffmann, NZG 2010, 290, 291 f.; Petersen/Schulze De la Cruz, NZG 2012, 453, 454; a. A. Kölner Komm AktG/ Tröger, § 136 Rz. 26. BGH, Urt. v. 21.9.2009 – II ZR 174/08, NZG 2009, 1270, 1271f.; OLG München, Urt. v. 17.3.1995 – 23 U 5930/94, NJW-RR 1996, 159, 159 f.; vgl. im Übrigen u. a. MünchKommAktG/Arnold, § 136 Rz. 8; Hüffer/Koch, § 136 Rz. 20; BeckOGK-AktG/ Rieckers, § 136 Rz. 8; Petersen/Schulze De la Cruz, NZG 2012, 453, 454; a. A. Hoffmann, NZG 2010, 290, 291 f., der auch in diesem Fall Stimmrechtsausschluss ablehnt.

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§ 5 Hauptversammlung

der Umstellung auf Einzelentlastung entsprechend auf die einzelnen Beschlusspunkte übertragen wird.10) 10 Die Beschlussfassung über die Entlastung hat keine rechtliche Wirkung.11) Weder wirkt eine erteilte Entlastung enthaftend (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG) noch begründet deren Verweigerung einen wichtigen Grund für die Abberufung von Vorstandsmitgliedern.12) Davon zu unterscheiden ist der ausdrückliche Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung nach § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG. c)

Bestellung des Abschlussprüfers

11 Im Weiteren beschließt die Hauptversammlung jährlich über die Wahl des Abschlussprüfers (§ 119 Abs. 1 Nr. 5 AktG, § 318 Abs. 1 Satz 1 HGB, Art. 16 ff. EU-APVO).13) d)

Wahl der Aufsichtsratsmitglieder

12 Ein weiterer regelmäßiger Beschlussgegenstand ist die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder, sofern diese nicht gemäß Satzung entsendet werden oder durch die Arbeitnehmer zu wählen sind. Anders als bei der Entlastung sieht das Gesetz hier nicht die Gesamtbeschlussfassung als Normalfall vor. Der DCGK empfiehlt im Gegenteil gerade die Durchführung im Wege der Einzelwahl (Empf. C.15 DCGK). e)

Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat

13 ARUG II hat die Vergütung von Vorstand und Aufsichtsrat nochmal deutlich mehr in den Fokus der Hauptversammlungspraxis gerückt (§ 119 Abs. 1 Nr. 3 AktG).14) Das Vergütungssystem für den Vorstand ist danach bei jeder wesentlichen Änderung, mindestens jedoch alle vier Jahre, der Hauptversammlung zur beratenden und unverbindlichen Billigung vorzulegen (§ 120a Abs. 1 AktG). Auch wurde der Hauptversammlung die Kompetenz eingeräumt, die Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder herabzusetzen (§ 87 Abs. 4 AktG). 14 Anders als die Vorstandsvergütung steht die Aufsichtsratsvergütung per se in der Zuständigkeit der Hauptversammlung (§ 113 Abs. 1 Satz 2 AktG). Gleichwohl wurde in Umsetzung der Zweiten Aktionärsrechteänderungsrichtlinie ___________ 10) Vgl. zur Auslegung im Übrigen MünchKommAktG/Arnold, § 135 Rz. 107 f. 11) Soweit ersichtlich unstrittig; vgl. MünchHdb GesR IV/Reichert, § 5 Rz. 12; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Pöschke/Vogel, § 16 Rz. 3; Butzke, I. Rz. 2 jeweils m. w. N. 12) MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 37; Hüffer/Koch, § 120 Rz. 16; BeckOGK-AktG/ Hoffmann, AktG § 120 Rz. 35; Butzke, I. Rz. 43. 13) Sonderreglung für Versicherungsunternehmen nach § 341k Abs. 2 HGB a. F. ist im Rahmen des Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität vom 3.6.2021 (BGBl I 2021, 2708) abgeschafft worden. 14) Vgl. hierzu allgemein Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373; Spindler, AG 2020, 61.

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A. Zuständigkeit der Hauptversammlung

durch § 113 Abs. 3 AktG die zusätzliche Verpflichtung eingeführt, die Hauptversammlung mindestens alle vier Jahre über die Vergütung abstimmen zu lassen. Als vollkommen neuer Beschlusstatbestand der Hauptversammlung wurde zudem 15 die Billigung des Vergütungsberichts nach § 162 AktG vorgesehen. Damit wurde die Reihe der jährlichen Beschlusspunkte der Hauptversammlung erweitert. 2.

Struktur- und Grundlagenzuständigkeit

Das AktG weist neben den angeführten regelmäßig wiederkehrenden Themen 16 auch bestimmte Struktur- und Grundlagenentscheidungen der Zuständigkeit der Hauptversammlung zu. Als Grundweichenstellung für das Kompetenzgefüge sehen die §§ 179 Abs. 1 17 Satz 1, 119 Abs. 1 Nr. 6 AktG vor, dass jede Änderung der Satzung einer Beschlussfassung durch die Hauptversammlung bedarf. Eine Ausnahme gilt lediglich für bloße Fassungsänderungen (§ 179 Abs. 1 Satz 2 AktG). Diese können auf Grundlage einer Satzungsermächtigung für den Einzelfall oder generell15) durch den Aufsichtsrat vorgenommen werden. Ein möglicher Anwendungsfall ist etwa die Korrektur der Grundkapitalziffer nach Einziehung und Kapitalherabsetzung nach §§ 237 ff. AktG.16) Aus der Hauptversammlungsgebundenheit der Satzung folgt im Grunde be- 18 reits, dass auch Maßnahmen zur Kapitalbeschaffung oder -herabsetzung der Beschlussfassung der Hauptversammlung unterliegen (§ 119 Abs. 1 Nr. 6 AktG). Hierzu gehören u. a. Ermächtigungsbeschlüsse in Form eines genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG) ebenso wie bedingte Kapitalerhöhungen (§§ 192 ff. AktG). Schließlich nennt § 119 Abs. 1 AktG noch die Auflösung der Gesellschaft als der 19 Hauptversammlung unterliegende Grundlagenentscheidung. Auch die Fortsetzung nach beschlossener Auflösung obliegt der Zuständigkeit der Hauptversammlung (§ 274 AktG). Weitergehende Grundlagen- oder Strukturthemen, die über den Katalog des 20 § 119 Abs. 1 AktG hinaus in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, betreffen den Abschluss und die Änderung von Unternehmensverträgen (§§ 293 Abs. 1, 295 Abs. 1 AktG) sowie diverse Maßnahmen nach dem Umwandlungsgesetz.17) Gleiches gilt für die vertragliche Verpflichtung zur Übertragung des gesamten Vermögens nach § 179a AktG. ___________ 15) H. M. MünchKommAktG/Stein, § 179 Rz. 164; Hüffer/Koch, § 179 Rz. 11; MünchHdb GesR IV/Austmann, § 40 Rz. 76; a. A. Fritzsche, WM 1984, 1243 (1244). 16) Abgrenzung im Einzelfall teilweise schwierig, vgl. Hüffer/Koch, § 179 Rz. 11; MünchKommAktG/Stein, Rz. 160; BeckOGK-AktG/Holzborn, § 179 Rz. 108. 17) Dies umfasst Verschmelzungen (§§ 65 Abs. 1, 73 UmwG), Spaltungen (§§ 125, 65 Abs. 2 UmwG) sowie Rechtsformumwandlungen (§§ 226, 193 Abs. 1 UmwG).

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511

§ 5 Hauptversammlung

3.

Sonderfälle

21 Schließlich kennt das AktG noch verschiedene Sonderzuständigkeiten der Hauptversammlung. So beschließt die Hauptversammlung nach § 119 Abs. 2 AktG ausnahmsweise zu „Fragen der Geschäftsführung“, wenn der Vorstand diese der Hauptversammlung vorlegt.18) Hierunter werden zuletzt insbesondere auch die sog. „say on climate“-Beschlüsse diskutiert.19) Auch Nachhaltigkeitsfragen können nach der aktiengesetzlichen Systematik nur durch eine Entscheidung des Vorstands einer Beschlussfassung durch die Hauptversammlung zugeführt werden.20) An den auf Vorlage des Vorstands erfolgenden Beschluss der Hauptversammlung ist der Vorstand gebunden.21) 22 Weitergehend ist die Hauptversammlung für die Bestellung von Sonderprüfern (§§ 119 Abs. 1 Nr. 8, 142 AktG) sowie in diversen über das Gesetz verstreuten Sonderfällen zuständig, wie etwa der Zustimmung zu Geschäften nach verweigerter Aufsichtsratszustimmung (§ 111 Abs. 4 Satz 3 AktG) oder der Beschlussfassung über die Ermächtigung des Vorstands zu Erwerb, Veräußerung oder Einziehung eigener Aktien (vgl. insbesondere § 71 Abs. 1 Nr. 6, 7 und 8 AktG).22) III.

Satzungsmäßige Zuständigkeiten

23 Nach § 119 Abs. 1 AktG kann die Zuständigkeit der Hauptversammlung auch durch die Satzung begründet werden. Angesichts des auch insoweit geltenden Grundsatzes der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) sind Anwendungsbereich und praktische Relevanz solcher Regelungen äußerst gering. Eine entsprechende Satzungsregelung muss das Kompetenzgefüge des AktG wahren. Denkbar ist etwa die Begründung der Zuständigkeit der Hauptversammlung für die Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien sowie die Einrichtung zusätzlicher Gremien.23) ___________ 18) Ein entsprechendes Recht des Aufsichtsrats ist in § 119 Abs. 2 AktG nicht vorgesehen und entsprechend nicht anzuerkennen, vgl. nur Hüffer/Koch, § 131 Rz. 13; Dietz-Vellmer, NZG 2014, 721 (724) jeweils m. w. N.; a. A. MünchKommAktG/Habersack § 116 Rz. 76 m. w. N.; de lege ferenda Arbeitskreis Recht des Aufsichtsrats, NZG 2021, 477 (482). 19) Vgl. hierzu etwa Harnos/Holle, AG 2021, 853; die Alleinverantwortung des Vorstands für die Geschäfsleitung betonend AG Braunschweig, Beschl. v. 16.3.2023 – 118 AR 13/22, NZG 2023, 659. 20) VGR, AG 2022, 239 (242 ff.) schlägt eine entsprechende Empfehlung für den DCGK vor. 21) Vgl. § 83 Abs. 2 AktG sowie Begründung Regierungsentwurf des AktG 1965 bei Kropff, AktG, 1965, S. 165 f. 22) Vgl. umfassende Darstellung zu Sonderzuständigkeiten bei Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Ott, § 40 Rz. 1 ff. 23) Auch diese Gremien als solche dürfen keine Abweichung vom aktiengesetzlichen Kompetenzgefüge begründen, vgl. MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 54; vgl. zu weiteren Anwendungsfällen Beck’sches Handbuch der AG/Reichert, § 5 Rz. 23 f.; MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 54; Hüffer/Koch, § 119 Rz. 10; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 48; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 17.

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A. Zuständigkeit der Hauptversammlung

IV.

Ungeschriebene Zuständigkeiten

Trotz der nach dem Wortlaut des § 119 Abs. 1 AktG abschließenden Kompetenz- 24 zuweisung durch ausdrückliche Regelungen in Gesetz und Satzung, werden weitergehende ungeschriebene Zuständigkeiten der Hauptversammlung für bestimmte Grundlagenentscheidungen diskutiert und von der Rechtsprechung vereinzelt anerkannt. 1.

Holzmüller/Gelantine

Im Rahmen der sog. Holzmüller-Entscheidung,24) die später durch die sog. Ge- 25 lantine-Entscheidungen25) bestätigt und nachgeschärft wurde, erkannte der BGH zum Schutz der Aktionärsinteressen eine über die gesetzlichen und satzungsmäßigen Bestimmungen hinausgehende Zuständigkeit der Hauptversammlung an.26) So gebe es grundlegende Maßnahmen, die zwar durch die Außenvertretungsbefugnis des Vorstands gedeckt seien, die aber so tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre eingriffen, dass der Vorstand nicht annehmen könne, er dürfe sie unter ausschließlich eigener Verantwortung treffen. Die Holzmüller-/ Gelantine-Entscheidungen betreffen jeweils die Übertragung von Betrieb(steil)en im Wege der Ausgliederung bzw. Einbringung in Tochter- bzw. Enkelgesellschaften zu Grunde. Das Schutzbedürfnis sah der BGH dabei vor allem durch den Mediatisierungseffekt begründet.27) Die Maßnahmen führten zwar nicht unmittelbar zu einer vermögensmäßigen Schlechterstellung der Aktionäre, nahmen ihnen aber die unmittelbare Einflussnahmemöglichkeit auf Vermögenswerte. Die dogmatische Grundlage dieser ungeschriebenen Zuständigkeit der Haupt- 26 versammlung sieht der BGH in einer offenen Rechtsfortbildung. Diese Herleitung „erlaubt“ ihm passgenau die Elemente verschiedener methodischer Herleitungen des ungeschriebenen Zustimmungserfordernisses zu kombinieren.28) Das Zustimmungserfordernis wirkt danach einerseits nur im Innverhältnis und beschränkt nicht die Wirksamkeit der Maßnahme im Außenverhältnis, was dem Gedanken der Rechtssicherheit angesichts des ungeschriebenen Anknüpfungspunkts Rechnung trägt. Andererseits bedarf die Zustimmung ähnlich wie bei Strukturangelegenheiten der Dreiviertelmehrheit. Der BGH betont dabei, dass das ungeschriebene Zustimmungserfordernis nur seltene Ausnahmesituationen betreffe, die in sachlicher Nähe zu einer Satzungsänderung stehen. Tendenzen, über den Weg der ungeschriebenen Zuständigkeiten, die Rolle der ___________ 24) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, NJW 1982, 1703. 25) BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, NZG 2004, 571 – Gelatine I; II ZR 154/02, NZG 2004, 575 – Gelatine II. 26) Vgl. zur intensiven Diskussion nur Götze, NZG 2004, 585; Liebscher, ZGR 2005, 1; Fleischer, NJW 2004, 2335; Habersack AG 2005, 137. 27) Vgl. BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, NZG 2004, 571 (575). 28) Kritisch insoweit u. a. Fleischer, NJW 2004, 2335 (2337).

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§ 5 Hauptversammlung

Hauptversammlung auszuweiten, sind zu Recht vom BGH deutlich zurückgewiesen worden.29) Die Schwelle für die Anwendung der Holzmüller/GelantineGrundsätze ist im Bereich der Ausgangsentscheidung, d. h. bei ca. 80 % der Unternehmensaktiva,30) zu setzen. Ein solches restriktives Verständnis erscheint im Sinne eines zurückhaltenden Gebrauchs der offenen Rechtsfortbildung angemessen und mit Blick auf die Ausgestaltung der Hauptversammlung nach dem AktG praktisch geboten. Damit führen die Holzmüller/Gelantine-Grundsätze auch zu keiner wesentlichen Verschiebung des die Rolle von Vorstand und Aufsichtsrat betonenden Kompetenzgefüges des AktG. 2.

Beteiligungserwerb/-veräußerung, Zusammenschluss

27 Auch nach den Gelantine-Entscheidungen ist der Anwendungsbereich der ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit nicht abschließend geklärt. Teilweise wird hier eine allgemeinen Konzernbildungskontrolle gesehen, deren Anwendung insbesondere auch bei Beteiligungserwerben diskutiert wird.31) Gegen eine solche Interpretation wird im Grundsatz zu Recht eingewandt, dass ein Beteiligungserwerb regelmäßig nicht in gleicher Weise schwerwiegend in die Mitgliedschaftsrechte eingreift.32) Der in dem Entziehen eines (wesentlichen) Betriebsteils aus der unmittelbaren Einflusssphäre der Aktionäre liegende Mediatisierungseffekt einer Ausgliederung, tritt beim Zuerwerb einer Beteiligung nicht ein. Dies gilt v. a. beim Barkauf. Die Holzmüller/Gelantine-Grundsätze haben keine allgemeine Barmittelkontrolle eingeführt. Aber auch der Erwerb im Wege eines Tauschgeschäfts unterscheidet sich, von Sonderkonstellationen abgesehen, substantiell von den Holzmüller-/Gelantine Sachverhalten. Hier bieten u. a. die Grenzen des Unternehmensgegenstands sowie § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG den aktiengesetzlich vorgesehenen Schutz für die Aktionärsinteressen. ___________ 29) In diesem Punkt haben die Entscheidungen verbreitete Zustimmung im Schrifttum gefunden, vgl. insbesondere Bungert, BB 2004, 1345; Fleischer, NJW 2004, 2335; Liebscher, ZGR 2005, 1; Habersack, AG 2005, 137; Hoffmann-Becking, ZHR 172 (2008), 231 (der aber die grundsätzliche Bestätigung der Möglichkeit einer ungeschriebenen Zuständigkeit kritisiert). 30) Der BGH vermeidet es in den Gelantine Entscheidungen einen konkreten Schwellenwert festzulegen, zwischenzeitlich ist aber anerkannt, dass man einen Wert von mind. 70 – 80 % zu Grunde legen muss, vgl. nur MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 67; Hüffer/ Koch, § 119 Rz. 25 jeweils m. w. N. 31) Befürwortend etwa LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.12.2009 – 3-5 O 208/09, ZIP 2010, 429 (431); LG Stuttgart, Urt. v. 8.11.1991 – 2 KfH O 135/91, AG 1992, 236 (237 f.) obiter; Hüffer/Koch, § 119 Rz. 21; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 36; Emmerich/ Habersack/Habersack, Vor § 311 Rz. 42; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 34; Grigoleit/ Herrler, § 119 Rz. 23; Lutter, ZIP 2012, 351; Priester, AG 2011, 654 (656 ff.); Geßler, in: Festschrift Stimpel, S. 771 (786 f.); Hirte, S. 162 ff.; Liebscher, ZGR 2005, 1 (23 ff.); Habersack, AG 2005, 137 (144). 32) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2010 – 5 U29/10, NZG 2011, 62; MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 68; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 10; Hölters/Drinhausen, § 119 Rz. 21; BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 61; Kiefner, ZIP 2011, 545; Arnold, ZIP 2005, 1573 (1577); Gubitz/Nikoleyczik, NZG 2010, 539; Reichert, AG 2005, 150 (156 f.).

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A. Zuständigkeit der Hauptversammlung

Auch die Konstellationen der Beteiligungsveräußerung sind ungeachtet des 28 Verlustes des Zugriffs auf die betroffene Beteiligung wertungsmäßig grundsätzlich nicht mit einer Ausgliederung vergleichbar.33) Eine Mediatisierung findet regelmäßig gerade nicht statt. Die veräußerte Beteiligung wird vielmehr dem Vermögen gänzlich entzogen. Dafür rückt die Gegenleistung in den unmittelbaren Einflussbereich des Aktionärs. Auch wird zu Recht auf § 179a AktG verwiesen, der keinen Raum für eine ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit im Veräußerungskontext lässt.34) Gleichermaßen ist eine Anwendung der Holzmüller/Gelantine-Grundsätze bei 29 Unternehmenszusammenschlüssen („merger of equals“) abzulehnen, insbesondere soweit diese im Wege jeweiliger Tauschangebote an die Aktionäre der beiden Gesellschaften zur Schaffung einer gemeinsamen Holdinggesellschaft erfolgen.35) Zwar mag bei diesen Transaktionsformen im Zielbild ein ähnlicher Effekt erzielt werden wie in den Holzmüller/Gelantine-Sachverhalten. Gleichwohl liegt kein vergleichbarer Eingriff in die Mitgliedschaft vor. Zu einer Mediatisierung kommt es gerade nur für die Aktionäre, die, die das Übernahmeangebot angenommen haben. Die übrigen Aktionäre finden sich zwar in Folge der Maßnahme in einer konzernierten Gesellschaft wieder. Allerdings bietet das Aktienrecht auch gerade keinen umfassenden Konzernierungsschutz.36) Die Mitsprache der Aktionäre erfolgt hier im Rahmen der Übernahmeangebote. 3.

IPO/Delisting

Eine ungeschriebene Zuständigkeit der Hauptversammlung sehen einige Stim- 30 men auch bei einer erstmaligen Börsenzulassung (IPO) der Gesellschaft. Ange___________ 33) Emmerich/Habersack/Habersack, Vor § 311 Rz. 42; BGH, Urt. v. 24.5.2007 – IX ZR 97/06, ZIP 2007, 24; OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2007 – 8 U 216/07, NZG 2008, 155 (157); OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, AG 2005, 693 (695); OLG Köln, Urt. v. 15.1.2009 – 18 U 205/07, AG 2009, 416 (418); LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17, ZIP 2019, 266 (274); BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 61; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 34; Hölters/Drinhausen, § 119 Rz. 21; Hüffer/Koch § 119 Rz. 22; Grigoleit/Herrler, § 119 Rz. 22; Goette, AG 2006, 522 (527); Hofmeister NZG 2008, 47 (49 f.); a. A. LG München II, Urt. v. 24.8.2006 – 5 HK O 1558/06, AG 2007, 336 (337 f.); Lutter, in: Festschrift K. Schmidt, S. 1065 (1072 ff.); für Eingreifen der „Holzmüller/Gelantine“-Grundsätze auch die vor „Gelatine“ h. M., vgl. OLG München, Urt. v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93, AG 1995, 232 (233); LG Düsseldorf, Urt. v. 13.2.1997 – 31 O 133/96 – „W. Rau Neusser Öl und Fett AG“, AG 1999, 94; LG Frankfurt/M., Urt. 29.07.1997 – 3/5 O 162/95, 3-05 O 162/95, ZIP 1997, 1698 (1701 f.); Lutter, in Festschrift Stimpel, S. 825 (840, 849); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 225 (230 f.); Hirte, S. 182 ff.; Fleischer, ZHR 165 (2001), 513 (524 f.). 34) MünchHdb GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 69; Schmidt/Lutter/Seibt, § 179a Rz. 6; Paefgen, ZHR 172 (2008), 42 (70); Arnold, ZIP 2005, 1573 (1577). 35) OLG Frankfurt/M., Urt. v. 1.10.2013 – 5 U 214/12, NZG 2014, 1017 ff. (Deutsche Börse – NYSE Euronext); LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5HK O 15236/17 (Linde/ Praxair), NZG 2019, 384; Koch, ZGR 2019, 588; Schmolke, in: Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2018, S. 137 ff. (S. 157 ff.); Hippeli, NZG 2019, 535; a. A. BeckOGK-AktG/ Hoffmann, § 119 Rz. 50 ff.; Strohn, ZHR 182 (2018), 114. 36) Vgl. u. a. Hüffer/Koch, § 119 Rz. 24; a. A. Strohn, ZHR 182 (2018), 114 (144).

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§ 5 Hauptversammlung

sichts erheblicher Pflichten, die durch einen IPO bei den einzelnen Aktionären ausgelöst werden, v. a. das Insiderhandelsverbot nach Art. 14 MAR und die verpflichtenden Stimmrechtsmitteilungen nach §§ 33 ff. WpHG, wäre dieser qualitativ mit umwandlungsrechtlichen Strukturänderungen vergleichbar.37) Diese Auffassung verkennt, dass ein IPO insgesamt eher mit einer Stärkung der rechtlichen und auch faktischen Position einhergeht.38) So ist etwa das Insiderhandelsverbot lediglich eine Beschränkung der zusätzlichen Möglichkeiten hinsichtlich börsengehandelter Aktien. Für die Herleitung einer ungeschriebenen Zuständigkeit der Hauptversammlung scheint dies deutlich zu wenig. 31 Für den Fall eines Delistings hat der BGH mit seiner Frosta-Entscheidung zwischenzeitlich das Erfordernis eines Hauptversammlungsbeschlusses ebenfalls ausdrücklich verneint. Hiermit gab er das zuvor im Rahmen der MacrotonEntscheidung hergeleitete Erfordernis auf.39) Der Gesetzgeber hat hierauf mit dem kapitalmarktrechtlichen Schutzkonzept des § 39 BörsenG reagiert.40) B.

Format und Einberufung der Hauptversammlung

I.

Format

32 Nach der gesetzlichen Systematik ist die Präsenzhauptversammlung weiterhin das Standardformat. Sowohl die bereits 2009 durch ARUG I eingeführte und praktisch im Grunde irrelevante41) Online-Hauptversammlung (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) als auch die neu durch § 118a AktG eingeführte virtuelle Hauptversammlung42) erfordern eine Satzungsbestimmung oder -ermächtigung.43) Im ___________ 37) Lutter/Drygala, in: Festschrift Raisch, S. 239 (240); Lutter/Leinekugel, ZIP 1998, 805 (806); Vollmer/Grupp, ZGR 1995, 459 (466 f.); Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 38; a. A. Hopt, in: Festschrift Drobnig, S. 525 (536 f.); Reichert, AG 2005, 150 (157); MünchKommAktG/Kubis § 119 Rz. 84. 38) Gegen die Zuständigkeit der Hauptversammlung spricht auch der actus contrarius Gedanke mit Blick auf die vom BGH abgelehnte Zuständigkeit für das Delisting (Æ Rz. 31). 39) Das BVerfG hat dieser zuvor die dogmatische Grundlage entzogen, vgl. Urt. v. 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, 1569/088, NJW 2012, 3081. 40) Vgl. hierzu Zimmer/von Imhoff, NZG 2019, 1056; Bungert/Leyendecker-Langner, ZIP 2016, 49; Rubner/Pospiech, NJW 2016, 207; vgl. zu weiterem Regelungsbedarf nur RedeniusHövermann, ZIP 2021, 485 (490 ff.); Bachmann, NZG 2021, 609. 41) Von Holten/Bauerfeind, AG 2018, 729 (732 f.); Schindler/Schaffner/Schindler/Schaffner, § 2 Rz. 346; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Höreth/Pickert, § 7 Rz. 2; Hüffer/ Koch, § 118 Rz. 10. 42) Die Entscheidung für eine virtuelle Hauptversammlung bedarf allerdings keiner gesonderten Rechtfertigung, vgl. RegE Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderungen anderer Vorschriften (vHV-Gesetz), BTDrucks. 20/2246, S. 25. 43) Krit. hierzu auf Grundlage des RefE Seibt/Danwerth, AG 2022, 177 (180); a. A. Mayer/ Jenne/Miller, BB 2022, 1155 (1157); der Hauptversammlungsbeschluss zu der entsprechenden Satzungsregelung ist von den Regelungen des Freigabeverfahrens (§ 246a Abs. 1 Satz 1 AktG) erfasst; damit hat der Gesetzgeber auf Kritik am RefE reagiert, vgl. nur Groß/ Scholz, BB 2022, Heft 21, Umschlagteil I; Mayer/Jenne/Miller, BB 2022, 1155 (1157).

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B. Format und Einberufung der Hauptversammlung

Fall der virtuellen Hauptversammlung ist diese Satzungsregelung zudem zwingend auf maximal fünf Jahre zu befristen (§ 118a Abs. 3, Abs. 4, Abs. 5 Nr. 1 AktG).44) Vorbehaltlich der Einhaltung entsprechender Satzungsvorgaben steht die Wahl des Formats der Hauptversammlung allerdings im freien am Gesellschaftswohl auszurichtenden Ermessen des Vorstands.45) An die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung stellt § 118a Abs. 1 33 AktG weitergehende Anforderungen. Diese beinhalten die zuvor bereits durch das COVMG vorgesehenen Mindestanforderungen an virtuelle Hauptversammlungen, d. h. die Übertragung der Versammlung, die Möglichkeit der elektronischen Stimmrechtsausübung sowie das präsenzlose Einlegen eines Widerspruchs. An die Stelle des in § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 COVMG weiterhin vorgesehene Fragerechts tritt das umgestaltete und erweiterte Auskunftsrecht nach §§ 118a Abs. 1 Nr. 4, 131 AktG (Æ Rz. 82 ff.). Darüber hinaus bedingt die Wahl des virtuellen Formats die Gewährung eines erweiterten Antragsrechts (§ 118a Abs. 1 Nr. 3 AktG, Æ Rz. 109), eines Stellungnahmerechts (§§ 118a Abs. 1 Nr. 6, 130a Abs. 1 – 4 AktG), eines Rederechts (§§ 118a Abs. 1 Nr. 7, 130a Abs. 5 AktG, Æ Rz. 105 ff.) sowie der verpflichtende Vorabveröffentlichung des Vorstandsberichts (§§ 118a Abs. 1 Nr. 5 AktG). Letzteres gilt nur, soweit von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, die Vorabeinreichung von Fragen nach § 131 Abs. 1a Satz 1 AktG zu verlangen. Mit den qualifizierenden Anforderungen möchte der Gesetzgeber die virtuelle 34 Hauptversammlung am Maßstab der Präsenzversammlung ausrichten. Tatsächlich geht die Ausgestaltung dieses schon im Ansatz zu hinterfragenden46) Motivs sogar über die bei der Präsenzversammlung bestehenden Rechte hinaus. Praxishinweis: Unabhängig von konkreten Planungen, das virtuelle Format zu 35 nutzen, ist den Gesellschaften zu empfehlen, zumindest vorsorglich entsprechende Satzungsermächtigungen vorzusehen. Dies erscheint schon mit Blick auf eventuelle künftige Pandemiesituationen angezeigt.

___________ 44) Krit. hierzu u. a. Klein, NZG 2022, 483 (483f.); Bungert/Rieckers, DB 2022, 581 (582). 45) Der Gesetzgeber betont ausdrücklich die „Gleichwertigkeit des virtuellen Formats“ und hat hierzu auch von der noch im Regierungsentwurf zu § 118a vorgesehenen Möglichkeit, bestimmte Gegenstände in der Satzungsregelung von der Behandlung in einer virtuellen Hauptversammlung auszunehmen, Abstand genommen, vgl. Änderungsantrag vHV-Gesetz, Ausschuss-Drucks. 20(6)19, S. 30); vgl. auch Hüffer/Koch, § 118a Rz. 13 f. 46) Vgl. zur Kritik nur Groß/Scholz, BB 2022, Heft 21, Umschlagteil I; Koch, S. 6; Roßkopf, S. 4; Poelzig, S. 2; den Ansatz unterstützend unter Verweis auf den Wortlaut des Koalitionsvertrages BVI, S. 1; DSW, S. 2.

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§ 5 Hauptversammlung

II.

Einberufungsgründe

36 Die Hauptversammlung ist nach § 121 Abs. 1 AktG in den durch Gesetz oder Satzung bestimmten Fällen sowie dann einzuberufen, wenn das Wohl der Gesellschaft es fordert. Insoweit wird eine Einberufungspflicht begründet.47) 37 Unverzüglich nach Eingang des Berichts des Aufsichtsrats über die Prüfung des Jahresabschlusses und der weiteren Vorlagen nach §§ 171, 170 AktG muss die sog. ordentliche Hauptversammlung einberufen werden (§ 175 Abs. 1 AktG). Diese hat in den ersten acht Monaten des Geschäftsjahrs stattzufinden. Bei der ordentlichen Hauptversammlung ist zugleich über die Verwendung des Bilanzgewinns (§ 174 AktG) sowie die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat zu entscheiden (§ 120 Abs. 3 AktG). Die ordentliche Hauptversammlung ist im Rahmen der allgemeinen Zuständigkeit der Hauptversammlung (Æ Rz. 1 ff.) aber nicht thematisch beschränkt. 38 Soweit die Einberufung nicht auf Grundlage von § 175 Abs. 1 AktG erfolgt, handelt es sich um eine sog. außerordentliche Hauptversammlung.48) Diese ist einzuberufen, wenn eine Maßnahme ansteht, die in der Zuständigkeit der Gesellschaft liegt, wie etwa Struktur- und Grundalgenentscheidungen (Æ Rz. 16 ff.). 39 § 121 Akt spricht weiterhin davon, dass die Hauptversammlung auch in den durch die Satzung bestimmten Fällen einzuberufen ist (Æ Rz. 23). Hierfür sind angesichts der Satzungsstrenge des § 23 Abs. 5 AktG jedoch nur wenige Anwendungsfälle denkbar.49) Auch der Einberufung „zum Wohl der Gesellschaft“ (§ 121 Alt. 3 AktG) kommt kaum eigenständige Bedeutung zu. Insbesondere darf der Verweis nicht als generalklauselartige Erweiterung der Einberufungsgründe missverstanden werden, sondern setzt eine anderweitig begründete Zuständigkeit der Hauptversammlung voraus.50) III.

Einberufungsberechtigte/-verpflichtete

40 Primär werden die Hauptversammlungen gemäß § 121 Abs. 2 Satz 1 AktG durch den Vorstand einberufen. Der Gesamtvorstand beschließt mit einfacher Mehrheit über die Einberufung. Eine Delegation an einzelne Mitglieder ist unzulässig.51) Auch können die Anforderungen an den Vorstandsbeschluss nicht

___________ 47) Vgl. zu Rechtsfolgen bei Verstoß MünchKommAktG/Kubis, § 121 Rz. 13 ff. 48) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Reichert, § 5 Rz. 71. 49) So etwa die Zustimmung zur Übertragung vinkulierter Namensaktien, soweit diese der Hauptversammlung überlassen ist (§ 68 Abs. 2 Satz 3 AktG), vgl. BeckOGK-AktG/ Rieckers § 121 Rz. 9; MünchKommAktG/Kubis, § 121 Rz. 8. 50) Hüffer/Koch, § 121 Rz. 5; MünchKommAktG/Kubis, § 121 Rz. 9. 51) Vgl. auch BGH, Urt. v. 12.11.2001 – II ZR 225/99, DStR 2002, 1312.

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B. Format und Einberufung der Hauptversammlung

qualifiziert und dieser insbesondere nicht von der Zustimmung des Aufsichtsrats abhängig gemacht werden.52) Wenn es das Wohl der Gesellschaft erfordert, ist ausnahmsweise auch der Auf- 41 sichtsrat berechtigt und verpflichtet die Hauptversammlung einzuberufen (§ 111 Abs. 3 Satz 1 AktG). Die praktische Relevanz ist sehr beschränkt.53) Ein Anwendungsfall ist der angestrebte Vertrauensentzug in Vorbereitung der Abberufung eines Vorstandsmitglieds (§ 84 Abs. 3 Satz 2 AktG). Schließlich54) kann nach § 122 Abs. 1 AktG eine qualifizierte Aktionärsmin- 42 derheit die Einberufung der Hauptversammlung verlangen und diese im Falle des Nichtbefolgens nach gerichtlicher Ermächtigung auch selbst vornehmen (§ 122 Abs. 3 AktG). Das erforderliche Quorum liegt bei 5 % des Grundkapitals. Auch das Minderheitsverlangen ist inhaltlich an die gesetzliche Zuständigkeit der Hauptversammlung gebunden.55) IV.

Form und Inhalt der Einberufung

1.

Einberufungsfrist

Die Hauptversammlung ist gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 AktG mindestens drei- 43 ßig Tage vor der Versammlung einzuberufen.56) Hinzu tritt bei Publikumsgesellschaften – unabhängig davon, ob es sich um Namens- oder Inhaberaktiengesellschaften handelt – in der Regel die satzungsmäßig vorgesehene maximal sechstägige Anmeldefrist.57) 2.

Form der Einberufung

Die formellen Regeln zur Einberufung der Hauptversammlung wurden im 44 Rahmen von ARUG II in Teilen intensiv überarbeitet und ergänzt. Dies be___________ 52) BeckOGK-AktG/Rieckers, § 121 Rz. 13; MünchKommAktG/Kubis, § 121 Rz. 19; KKAktG/Noack/Zetzsche, § 121 Rz. 36; demgegenüber sieht § 1 Abs. 2 COVMG verpflichtend die Zustimmung des Aufsichtsrats vor. 53) Voraussetzung ist auch hier anderweitig begründete Beschlusszuständigkeit der Hauptversammlung, Einberufung beschlussloser Hauptversammlung ist danach unzulässig, Hüffer/Koch, § 111 Rz. 49; MünchKommAktG/Kubis, § 121 Rz. 21; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 104; BeckOGK-AktG/Rieckers, § 111 Rz. 72; a. A. MünchHdb. GesR IV/Bungert, § 36 Rz. 12 Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 46. 54) Auf Ausführungen zur Einberufungszuständigkeit des Abwicklers nach § 268 Abs. 2 AktG sowie satzungsmäßig begründete Kompetenz (vgl. nur Hüffer/Koch, § 121 Rz. 8) wird an dieser Stelle verzichtet. 55) Beck’sches Handbuch der AG/Reichert, § 5 Rz. 78 ff.; Schmidt/Lutter/Ziemons, § 122 Rz. 17; Halberkamp/Gierke NZG 2004, 494 (497). 56) Teilweise ergeben sich verkürzte Fristen aus Spezialgesetzen, vgl. § 16 Abs. 4 WpÜG, § 36 Abs. 5 SAG, § 7 Abs. 1 WStBG; auch § 1 Abs. 3 COVMG sieht die Möglichkeit der Verkürzung auf 21 Tage vor. 57) Vgl. zur Fristberechnung §§ 121 Abs. 7, 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 4 AktG.

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§ 5 Hauptversammlung

trifft in erster Linie die Information der Intermediäre und Aktionäre gemäß der Durchführungsverordnung zur zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARRL II) (EU) 2018/1212 (ARRL-VO) bzw. § 125 AktG, während der Prozess der Bekanntmachung im Bundesanzeiger nur punktuell ergänzt wurde. a)

Bekanntmachung und europaweite Verbreitung

45 Nach § 121 Abs. 4 AktG ist die Einberufung zur Hauptversammlung in den Gesellschaftsblättern, d. h. im Bundesanzeiger (§ 25 AktG), bekanntzumachen. Die alternative Möglichkeit zur Einberufung mit eingeschriebenem Brief (§ 121 Abs. 4 Satz 2 AktG) hat zumindest bei Publikumsgesellschaften keine praktische Relevanz. Börsennotierte Inhabergesellschaften müssen die Einberufung der Hauptversammlung parallel zur Bekanntmachung solchen Medien zur Veröffentlichung zuleiten, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie die Information in der gesamten Europäischen Union verbreiten (§ 121 Abs. 4a AktG). b)

Intermediärs- und Aktionärsinformation

46 Im zeitlichen Zusammenhang58) mit der Bekanntmachung der Einberufung haben börsennotierte Gesellschaften die Information über die Einberufung gemäß Art. 4 i. V. m. Tabelle 3 ARRL-VO an die Intermediäre zu geben.59) Die ARRL-VO enthält dabei detaillierte Vorgaben hinsichtlich Inhalt und Form der Mitteilung. Hierbei kann hinsichtlich wesentlicher Inhalte der Einberufung durch Ausnahme eines Links auf die Internetseite der Gesellschaft verwiesen werden. Die Mitteilung ist von den Intermediären grundsätzlich dann durch die Kette bis zum Aktionär weitergegeben werden. 47 Im Rahmen von ARUG II wurden auch die aktiengesetzlichen Regeln zur Mitteilung der Einberufung gegenüber Intermediären, Aktionären und Aktionärsvereinigungen in § 125 AktG grundlegend überarbeitet.60) Dabei wird weiterhin zwischen Inhaber- und Namensaktiengesellschaften unterschieden. Allerdings wurden die Fristen angeglichen. Bei Inhaberaktiengesellschaften hat die Mitteilung mindestens 21 Tage vor der Versammlung zu erfolgen. Bei Namensaktiengesellschaften ergibt sich die Frist aus der Maßgabe, dass die Mitteilung an die am 21. Tag vor der Hauptversammlung im Aktienregister eingetragenen Aktionäre zu erfolgen hat. Hinsichtlich Form und Inhalt der Mitteilung verweist § 125 Abs. 5 AktG auf die ARRL-VO. Insgesamt ist so ein technisch komplexes

___________ 58) Nach Art. 9 ARRL-VO hat die Mitteilung spätesten gleichen Geschäftstag zu erfolgen. 59) Eingehend hierzu Zetzsche, AG 2020, 1. 60) Den Nutzen für die Kommunikation zwischen Gesellschaft und Aktionär kritisch hinterfragend Heun, WM 2021, 1412.

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B. Format und Einberufung der Hauptversammlung

Regelungskonstrukt entstanden, bei dessen Anwendung in der Praxis noch nicht sämtliche Anwendungsfragen geklärt sind.61) c)

Veröffentlichung im Internet

„Alsbald“ nach der Einberufung haben börsennotierte Aktiengesellschaften 48 nach § 124a AktG die Einberufung sowie verschiedene weitergehende Dokumente über ihre Internetseite zugänglich zu machen. Die Funktion der Internetseite als „zentrales Medium des Informationsaustauschs zwischen Gesellschaft und Aktionär“62) wurde dabei jüngst durch ARUG II nochmal betont. Zu nennen sind etwa die Möglichkeit durch Verweis auf die Internetseite die Mitteilungspflichten nach der ARRL-VO zu erleichtern (Æ Rz. 43) oder die Veröffentlichungspflichten im Nachgang zur Hauptversammlung hinsichtlich der Beschlussfassung zur Vorstands- oder Aufsichtsratsvergütung (Æ Rz. 13 ff.). 3.

Inhalt der Einberufung

Die Einberufung muss den Einberufenden,63) Firma und Sitz der Gesellschaft, 49 Zeit und Ort der Hauptversammlung sowie die Tagesordnung enthalten (§ 121 Abs. 3 Satz 1 und 2 AktG). Weitergehende Vorgaben zur Bekanntmachung der Tagesordnung im Hinblick auf die Beschlussfassung zur Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern oder des Abschlussprüfers,64) Billigung von Vergütungssystem/-bericht, oder von zustimmungspflichtigen Verträgen sowie Satzungsänderungen enthält § 124 Abs. 2 AktG. Bei der Einberufung durch Vorstand oder Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft kommen nach § 121 Abs. 3 Satz 3 AktG noch weitergehende Angaben insbesondere zur Erläuterung der Teilnahmevoraussetzungen, des Verfahrens und der Aktionärsrechte hinzu. Zusätzliche inhaltliche Anforderungen bestehen auch bei Einberufung einer virtuellen Hauptversammlung (§ 121 Abs. 4b AktG). Vorstand und Aufsichtsrat müssen in der Bekanntmachung der Einberufung 50 grundsätzlich zu jedem Tagesordnungspunkt einen antragsmäßig ausformulierten Beschlussvorschlag vorlegen (§ 124 Abs. 3 AktG). Dies gilt u. a. auch für die Abstimmung zur Aufsichtsratsvergütung (§ 113 Abs. 3 AktG) sowie zur Billigung des Vergütungsberichts (§ 162 AktG).65) Hinsichtlich der Beschluss___________ 61) Vgl. dazu im Einzelnen u. a. Noack, DB 2019, 2785; Zetzsche, AG 2020, 1; Kuntz, AG 2020, 18; Heun, WM 2021, 1412. 62) So schon die Begründung des Regierungsentwurfs zum ARUG I v. 21.1.2009, BTDrucks. 16/11642, S. 30. 63) Nicht in § 121 Abs. 3 AktG erwähnt aber trotzdem erforderlich, vgl. Hüffer/Koch, § 121 Rz. 9; Butzke, Kap. B Rz. 69; BeckOGK-AktG/Rieckers, § 121 Rz. 42; MünchKommAktG/ Kubis, § 121 Rz. 70; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 4 Rz. 118. 64) Vgl. hierzu auch Art. 16 EU-APVO. 65) Krit. Anzinger, ZGR 2019, 39 (75).

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fassung zum Vorstandsvergütungssystem (§ 120a Abs. 1 AktG), der Wahl zum Aufsichtsrat und der Wahl des Abschlussprüfers ist demgegenüber ausschließlich vom Aufsichtsrat ein Vorschlag zu unterbreiten. Die Verwaltung kann grundsätzlich ihren Beschlussvorschlag nachträglich noch fallen lassen oder ändern. Nach zutreffender mittlerweile wohl h. M.66) ist dies ohne Weiteres möglich und erfordert keine geänderten Umstände. Ausreichendes und passendes Korrektiv ist insoweit das Missbrauchsverbot. Die Verwaltung stattdessen darauf zu verweisen, sich (instruierten) Aktionärsanträgen anzuschließen, scheint nicht interessengerecht. 51 Praxishinweis: Bevor von der rechtlichen Möglichkeit der nachträglichen Änderung des Verwaltungsvorschlags Gebrauch gemacht wird, sind die Auswirkungen auf den Weisungsspiegel ggf. auch unter Auslegung der vorliegenden Weisungen und Stimmen zu analysieren. In bestimmter Konstellation kommt als Alternative zur nachträglichen Eingrenzung eines Beschlusses eine Selbstverpflichtungserklärung der Verwaltung bei gleichbleibendem Beschlussinhalt in Betracht, bei der ggf. vorliegende Stimmen und Weisungen gültig bleiben.67) C.

Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

52 Während den Tagesordnungspunkten meist gemeinsame Beschlussvorschläge zu Grunde liegen, steht der Vorstand während der Hauptversammlung nach dem gesetzlichen Bild klar im Vordergrund. Dem Aufsichtsrat kommt dann dem hingegen eine weitgehend passive Rolle zu.68) I.

Teilnahme von Vorstand und Aufsichtsrat

1.

Teilnahmepflicht

53 § 118 Abs. 3 AktG begründet eine generelle Teilnahmepflicht der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats an der Hauptversammlung („sollen“).69) Diese betrifft sämtliche amtierenden Verwaltungsmitglieder.70)

___________ 66) OLG Hamm, Beschl. v. 28.2.3005 – 8 W 6/05, AG 2005, 361 (363); Hüffer/Koch, § 124 Rz. 17; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 4 Rz. 223; BeckOGK-AktG/ Rieckers § 124 Rz. 40; Kocher, AG 2013, 406, 410; Wieneke, FS Schwark, 2009, 305 (312 f.); neue Umstände fordernd Hölters/Drinhausen, § 124 Rz. 22; MünchKommAktG/Kubis, § 124 Rz. 49; Arnold/Carl/Götze, AG 2011, 349 (354 f.); generell ablehnend Deilmann/ Messerschmidt, AG 2004, 977 (986). 67) Vgl. Arnold/Carl/Götze, AG 2011, 349 (355). 68) Zur Sonderrolle des Aufsichtsratsvorsitzenden, der regelmäßig zugleich Versammlungsleiter ist, Æ Rz. 76 ff. 69) Vgl. nur Hüffer/Koch, § 118 Rz. 21; Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 38 f. 70) Eine Teilnahmepflicht ehemaliger Vorstandsmitglieder wird man nur unter sehr speziellen Umständen annehmen können, vgl. Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Bärwaldt, § 8 Rz. 107 m. w. N.

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C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

Sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat können nur wichtige Gründe von der 54 Teilnahmepflicht exkulpieren. Mit der h. M. wird man allerdings hieran bei den Aufsichtsratsmitgliedern einen geringeren Maßstab anlegen können.71) Dies erscheint mit Blick auf den Nebenamtscharakter und die ohnehin passive Rolle des Aufsichtsrats während der Versammlung angemessen und entspricht auch der gesetzlichen Wertung des § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG. Allgemein kommen dabei zunächst gesundheitliche sowie persönliche Gründe (z. B. familiärer Trauerfall) in Betracht.72) Gerade bei den Aufsichtsratsmitgliedern wird man auch konkurrierende berufliche Verpflichtungen anerkennen müssen, insbesondere wenn diese die Haupttätigkeit des Aufsichtsratsmitglieds betreffen.73) Auch bei den Vorstandsmitgliedern mag es im Einzelfall ausnahmsweise im Unternehmensinteresse liegen, konkurrierenden dienstlichen Pflichten für die Gesellschaft nachzukommen. Hieran sind angesichts der großen aktiengesetzlichen Bedeutung der Hauptversammlung und des erheblichen terminlichen Vorlaufs jedoch hohe Anforderungen zu stellen. Schwer vorstellbar erscheint mit Blick auf das aktiengesetzliche Grundverständnis des seine volle Arbeitskraft widmenden Vorstandsmitglieds74) ein durch eine anderweitige berufliche Tätigkeit bedingtes Fernbleiben eines Vorstandsmitglieds.75) Die Teilnahmepflicht des Vorstands bedingt zwingend seine physische Anwe- 55 senheit. § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG eröffnet nur für Aufsichtsratsmitglieder die Möglichkeit der Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung76) auf Grundlage einer konkret auszugestaltenden Satzungsermächtigung.77) ___________ 71) Hüffer/Koch, § 118 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 118 Rz. 28; MünchKommAktG/ Kubis, § 118 Rz. 101; Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 42; zu Fernbleiben im Pandemiekontext vgl. Unmuth, NZG 2020, 448. 72) Im Rahmen der virtuellen Hauptversammlungen unter dem COVMG hat in den Jahren 2020 und 2021 häufig nicht der gesamte Vorstand und aus dem Aufsichtsrat zusätzlich zum Vorsitzenden meist wenn nur vereinzelte weitere Mitglieder vor Ort teilgenommen, wobei dies mit Blick auf öffentlich-rechtliche Anordnungen sowie den Gesundheitsschutz allgemein anerkannt wurde, vgl. nur Simons/Hauser, NZG 2020, 488 (492). 73) BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 118 Rz. 28; MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rz. 101; Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 42. 74) BGH, Urt. v. 2.4.2001 – II ZR 217/99, NJW 2001, 2476; Urt. v. 17.2.1997 – II ZR 278/95, NJW 1997, 2055 (256); Hüffer/Koch, § 88 Rz. 1; MünchKommAktG/Spindler, § 88 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 88 Rz. 1; Hopt, in: Festschrift Doralt, S. 213 (218); Salfeld, Wettbewerbsverbote im Gesellschaftsrecht, S. 135 ff.; Armbrüster, ZIP 1997, 1269 (1270). 75) Wobei die vorbehaltliche Anerkennung anderweitiger beruflicher Tätigkeiten durch § 88 Abs. 1 AktG dafür spricht, dass dies zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen ist. 76) Hierbei handelt es sich um ein kumulativ zu erfüllendes Kriterium, vgl. Seibert, NZG 2002, 608 (611). 77) Zur geringen praktischen Relevanz vgl. Redenius-Hövermann/Schmidt/Strenger, Der Aufsichtsrat 2021, 98 (99); Satzungserfordernis im Rahmen von § 1 Abs. 1 COVMG abbedungen.

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§ 5 Hauptversammlung

Auch im Fall einer virtuellen Hauptversammlung gelten über § 118a Abs. 2 AktG entsprechende Teilnahmepflichten für den Vorstand und den Aufsichtsrat. Dies erscheint angesichts der passiven Rolle des Aufsichtsrats bei der virtuellen Hauptversammlung noch weniger sachgerecht als bei der Präsenzversammlung.78) 56 Ein Verstoß gegen die Teilnahmepflicht hat grundsätzlich nicht die Anfechtbarkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse zur Folge.79) Dies mag im Einzelfall ausnahmsweise anders sein, wenn durch die Nichtteilnahme (eines Vorstandsmitglieds) eine Aktionärsfrage im Rahmen von § 131 AktG nicht ordnungsgemäß beantwortet werden konnte.80) Als Folgen eines Verstoßes kommen (in diesem Fall) auch Schadenersatzansprüche in Betracht und auch die Verweigerung der Entlastung ist denkbar.81) 2.

Teilnahmerecht

57 Die Teilnahmepflicht korrespondiert mit einem Teilnahmerecht der Vorstandsund Aufsichtsratsmitglieder.82) Dieses steht ihnen grundsätzlich ausschließlich während ihrer Amtszeit zu. Die aus Corporate Governance Sicht zu begrüßende Praxis, nach der sich neue Aufsichtsratskandidaten vor ihrer Wahl der Hauptversammlung persönlich vorstellen, bedingt daher, dass diese als Gäste zugelassen werden. Dies erscheint aber auch problemlos möglich.83) 58 Das Teilnahmerecht umfasst auch das Recht, sich im Rahmen der Tagesordnung zu äußern. Die Ausübung dieses Rederechts ist allerdings durch dienstvertragliche Regelungen oder organschaftliche Treuepflichten (insbesondere Verschwiegenheitspflicht) eingeschränkt und insbesondere von normalen Aufsichtsratsmitgliedern nur zurückhaltend auszuüben.84) 59 Eine Verletzung des Teilnahmerechts der Verwaltungsmitglieder führt grundsätzlich zur Anfechtbarkeit der Beschlüsse.85) Diese erfordert dann aber u. a. noch die Relevanz der Teilnahmerechtsverletzung für die Beschlussfassung. Eine solche kann sich im Grunde nur aus einer Beeinträchtigung des Auskunfts___________ 78) Vgl. auch Seibt/Danwerth, AG 2022, 177 (185). 79) BeckOGK-AktG/Rieckers, § 118 Rz. 29. 80) Hüffer/Koch, § 118 Rz. 21; MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rz. 103; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Bärwaldt, § 8 Rz. 109. 81) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Bärwaldt, § 8 Rz. 109. 82) Hüffer/Koch, § 118 Rz. 20; Arbeitshdb. Für die Hauptversammlung/Bärwaldt, § 8 Rz. 81; BeckOGK-AktG/Rieckers, § 118 Rz. 24. 83) Butzke, C. Rz. 24; MünchKommAktG/Kubis § 118 Rz. 99. 84) MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rz. 100; Hüffer/Koch, § 118 Rz. 21; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281 (286f.); auch ist ein individuelles Sachantragsrecht wohl nicht anzuerkennen. 85) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Bärwaldt, § 8 Rz. 83; Hüffer/Koch, § 118 Rz. 21; MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rz. 102; Schmidt/Lutter/Spindler, § 118 Rz. 38 f.; Dreher, in: Festschrift Krieger, S. 201 (202 ff.); vgl. auch OLG Stuttgart, Urt. v. 17.5.1973 – 10 U 136/72, NJW 1973, 2027.

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C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

rechts (§ 131 AktG) ergeben und scheidet damit jedenfalls hinsichtlich der Aufsichtsratsmitglieder faktisch aus.86) II.

Informationspflichten vor und während der Hauptversammlung

Auch unabhängig von der durch ein konkretes Verlangen eines Aktionär nach 60 § 131 AktG ausgelösten Auskunftspflicht (Æ Rz. 66 ff.) bestehen für die Gesellschaft vor und während der Hauptversammlung umfangreiche Informationspflichten gegenüber ihren Aktionären. 1.

Berichtspflicht

Besondere aktiengesetzliche Berichtspflichten gelten neben dem Bericht des 61 Aufsichtsrats (§ 171 Abs. 2 AktG) etwa beim Ausschluss des Bezugsrechts (§ 186 Abs. 4 AktG).87) Zudem wurde im Rahmen von ARUG II der gemeinsam von Vorstand und Aufsichtsrat zu erstellende Vergütungsbericht in § 162 AktG eingeführt.88) Weiterhin muss der Vorstand bei Strukturmaßnahmen, wie z. B. dem Abschluss 62 von Unternehmensverträgen oder Maßnahmen nach dem UmwG, grundsätzlich89) vorab der Hauptversammlung einen schriftlichen Bericht zur Erläuterung und Begründung der Maßnahme vorlegen (vgl. § 293a AktG, §§ 8, 127, 192 UmwG). Darüberhinausgehend ist in der Praxis auch bei einer ungeschriebenen Hauptversammlungszuständigkeit auf Grund eines Holzmüller/GelantineSachverhalts angesichts der unklaren Rechtslage die Vorlage eines entsprechenden Berichts zumindest empfehlenswert.90) 2.

Zugänglichmachen von Unterlagen

Zur Information der Aktionäre sind zudem ab dem Zeitpunkt der Einberufung 63 verschiedene für die Hauptversammlung neben der vollständigen Einberufungsun___________ 86) MünchKommAktG/Kubis, § 118 Rz. 102; Polte/Haider-Giangreco, AG 2014, 729 (730). 87) BGH Urt. v. 19.7.22, II ZR 103/20, NZG 2022, 1441 stellt klar, dass entgegen der aus Vorsichtsgründen verbreiteten Praxis der Bericht nicht nach § 124 Abs. 2 Satz 3 Fall 5 AktG mit der Einberufung bekanntzumachen ist. 88) Dazu im Einzelnen Löbbe/Fischbach, AG 2019, 373 (383 ff.); Zipperle/Lingen, BB 2020, 131 (133f.); Goette/Arnold/Gärtner, § 4 Rz. 1910 ff. 89) Vgl. zur möglichen Entbehrlichkeit im Einzelfall § 293a Abs. 3 AktG, §§ 8 Abs. 3, 127 Satz 2, 192 Abs. 2 UmwG 90) Str. vgl. zur die Berichtspflicht bejahenden h. M. nur OLG Frankfurt/M., Urt. v. 23.3.1999 – 5 U 193/97, AG 1999, 378(379 f.); LG Karlsruhe, Beschl. v. 6.11.1997 – O 43/97 KfH I, NZG 1998, 393(395 f.); MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 55; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 44 m. w. N.; a. A. LG Hamburg, Urt. v. 21.1.1997 – 402 O 122/96, AG 1997, 238; Hüffer/Koch AktG § 119 Rz. 27; Butzke, Kap. L Rz. 81; Priester, ZHR 163 (1999), 187 (200 f.); mangels höchstrichterlicher Klärung in der Praxis übliche Berichterstellung weiter empfehlenswert.

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§ 5 Hauptversammlung

terlage wesentliche weitergehende Unterlagen zugänglich zu machen. Bei der ordentlichen Hauptversammlung betrifft dies zunächst die Vorlagen nach § 175 Abs. 2 AktG, d. h. Jahresabschluss, Lagebericht, Bericht des Aufsichtsrats, der Vorschlag des Vorstands für die Verwendung des Bilanzgewinns sowie ggf. Konzernabschluss und Konzernlagebericht. Auch die schriftlichen Berichte zu eventuellen Strukturmaßnahmen (Æ Rz. 59) sowie je nach Art der Maßnahme, der Vertrag bzw. Vertragsentwurf und ggf. Jahres- und Zwischenbilanzen und Lageberichte sind zugänglich zu machen.91) 64 Börsennotierte Gesellschaften treffen auch hier vorab weitergehende Informationspflichten. So müssen sie gemäß § 176 Abs. 2 AktG auch den erläuternden Bericht des Vorstands zu den übernahmerelevanten Angaben nach §§ 289a, 315a HGB sowie eventuelle Abstimm- und Weisungsformulare zugänglich machen. Sie müssen sämtliche genannten Unterlangen alsbald nach der Einberufung der Hauptversammlung zwingend auf der Internetseite der Gesellschaft zugänglich sein (§ 124a AktG). Da die Veröffentlichung Internetseite vom Auslegen in den Geschäftsräumen entbindet, ist Letzteres für börsennotierte Gesellschaften lediglich eine zusätzliche freiwillige Möglichkeit von zwischenzeitlich deutlich verminderter praktischer Relevanz. 65 Die durch ARUG II neu geregelten Beschlussgegenstände über Vergütungssystem und Vergütungsbericht (§§ 87a, 113 Abs. 3, 120a, 162 AktG) sind als Teil der Einberufung im Vorfeld zugänglich zu machen. Im Anschluss an die Hauptversammlung sind sie zudem gemeinsam mit der entsprechenden Beschlussfassung für mindestens zehn Jahre zugänglich zu halten (§§ 162 Abs. 4 bzw. 120a Abs. 2 AktG).92) Dies ergänzt die schon bisher bestehenden Veröffentlichungspflichten im Anschluss an die Hauptversammlung (vgl. etwa § 130 Abs. 6 AktG). 66 Praxishinweis: Das Erfordernis des Zugänglichmachens93) auf der Internetseite stellt die Unternehmen rechtlich vor keine größeren Herausforderungen und schließt faktisch im Wesentlichen missbräuchliche Gestaltungen aus. Gleichwohl sollte der nutzerfreundlichen Ausgestaltung der Informationsaufbereitung auf der Internetseite erhöhte Bedeutung werden. Gerade in der Hochphase der Hauptversammlungssaison sind die zeitlichen Ressourcen der institutionellen Investoren zur Analyse der Informationen beschränkt und es gilt aus tatsächlicher Sicht ggf. nicht mehr rechtzei___________ 91) Vgl. § 52 Abs. 2 AktG, § 179a Abs. 2 Satz 1 AktG; § 293f AktG; § 319 Abs. 3 AktG; §§ 63 Abs. 1, 125, 230, 238 UmwG. 92) Weitergehende nachlaufende Transparenzpflichten betreffen etwa die Einreichung der Niederschrift beim Handelsregister sowie die Veröffentlichung der Ergebnisse auf der Internetseite (§ 130 Abs. 5 und 6 AktG). 93) Nach RegBegr. UMAG BT–Drucks. 15/5092, S. 18 ist eine Information zugänglich gemacht, „wenn sie der interessierte Aktionär ohne Suchen entweder direkt oder durch eindeutige Verknüpfungen auf die jeweilige Folgeseite (Links) problemlos finden kann.“ Die qualifizierte Empfehlung der „leichten“ Zugänglichkeit in Ziff. 2.3.1 DCGK 2017 ist im DCGK 2020 nicht mehr enthalten.

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C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

tig korrigierbare Missverständnisse im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten zu vermeiden. Sofern der Vorstand bei einer virtuellen Hauptversammlung gemäß § 131 67 Abs. 1a Satz 1 AktG die Vorabübermittlung von Fragen vorsieht, ist den Aktionären auch der sog. Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt bis spätestens sieben Tage vor der Versammlung zugänglich zu machen (§ 118a Abs. 1 Nr. 5 AktG). Der Terminus „Vorstandsbericht“ ist in dieser offenbaren Allgemeinheit dem AktG allerdings bisher fremd. Auch die Gesetzesbegründung trägt wenig zur begrifflichen Schärfung bei. Letztlich wird man die Vorgabe des § 118a Abs. 1 Nr. 5 AktG vor dem Hintergrund der unter dem COVMG entwickelten Marktpraxis sehen und konkretisieren müssen. Hier wurde vermehrt die „Rede“ des Vorstandsvorsitzenden (und zuweilen auch des Aufsichtsratsvorsitzenden) im Hinblick auf die vorab zu stellenden Fragen einige Tage vor der Hauptversammlung veröffentlicht. Inhaltlich erfasste dies in der Regel den gesamten Umfang oder zumindest die wesentlichen Inhalte der für die Hauptversammlung vorgesehenen mündlichen Erläuterungen des Vorstands (vgl. insbesondere § 176 Abs. 1 Satz 2 AktG, Æ Rz. 69). Aktualisierende Änderungen des Berichts am HV-Tag wird man nicht nur als zulässig sondern ggf. auch geboten ansehen müssen. Hier ist dem Vorstand auch ein gewisser Spielraum in der Veranlassung und Ausgestaltung von Änderungen zum Hauptversammlungstag einzuräumen.94) Eine Grundlage für eine zwischen dem Vorabveröffentlichungsstichtag und dem Beginn der Hauptversammlung bestehende Aktualisierungspflicht ist demgegenüber nicht ersichtlich. Praxishinweis: Das Berichtserfordernis bedingt nicht zwingend die Textform. Der 68 Vorstand kann die entsprechenden Inhalte auch in einem Videoformat bereitstellen.95) Letztlich ist es aber auch eine kommunikative Frage, inwiefern durch eine Vorabveröffentlichung als Video nicht zu sehr die „Spannung“ und Wirkung aus dem Auftritt des Vorstands(vorsitzenden) bei der Hauptversammlung genommen wird. 3.

Erläuterungen in der Hauptversammlung

Die vorab zugänglich zu machenden Unterlagen werden ergänzt durch explizi- 69 te Erläuterungspflichten in der Hauptversammlung.96) Zuständig ist in der Regel der Vorstand. Lediglich der Bericht des Aufsichtsrats wird durch diesen ___________ 94) Hierfür spricht, dass Aktionäre mit Blick auf § 131 Abs. 1e AktG auch bei solchen Änderungen ein effektives Fragerecht haben. Schwierig dürften gleichwohl objektiv anlasslose umfassende Änderungen oder eine Neufassung der Rede. Angesichts der spärlichen Gesetzesmaterialien wird Rechtssicherheit in diesem Punkt (leider) erst durch die Gerichte erzielt werden. 95) RegE vHV-Gesetz, BT-Drucks. 20/2246, S. 27 f. 96) Vgl. §§ 52 Abs. 2 Satz 6, 176 Abs. 1 Satz 2, 179a Abs. 2 Satz 5, 293g Abs. 2 Satz 1, 327d Satz 2 AktG, §§ 64 Abs. 1 Satz 2, 232 Abs. 2, 239 Abs. 2 UmwG.

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selbst in Person des Aufsichtsratsvorsitzenden erläutert (§ 176 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AktG).97) Eine Besonderheit gilt auch beim aktienrechtlichen Squeezeout. Hier kann der Vorstand dem Hauptaktionär die Möglichkeit zur Erläuterung gewähren (§ 327d Satz 2 AktG). Unklar ist, ob den Vorstand eine generelle Erläuterungspflicht trifft, sofern der Hauptaktionär auf Ausführungen verzichtet.98) 70 Die Erläuterung der Unterlagen hat jeweils mündlich zu Beginn der Hauptversammlung zu erfolgen, nachdem der Versammlungsleiter die Formalia erläutert hat. Hieran schließt sich dann die Aktionärsaussprache an. „Erläutern“ erfordert den Vortrag des wesentlichen Inhalts der Vorlagen unter Einbeziehung der in der Zwischenzeit eingetretenen Entwicklungen.99) Inhalt und Umfang der Erläuterungen stehen dabei weitgehend im Ermessen des Vorstands (bzw. Aufsichtsrats).100) Sachgemäß erscheint jedenfalls, sich auch von den erwarteten Schwerpunkten der Aktionärsfragen leiten zu lassen. III.

Auskunftspflicht

1.

Gegenstand und Adressat der Auskunftspflicht

71 § 131 AktG gewährt jedem Aktionär ein Auskunftsrecht zu den Angelegenheiten der Gesellschaft, soweit dies zur „sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist“.101) Das Relevanzkriterium soll der Missbrauchsanfälligkeit des weiten Auskunftsrechts vorbeugen, ist hierzu angesichts seiner Konturenlosigkeit und des erheblichen Rechtsfolgenrisikos aber nur sehr eingeschränkt geeignet.102) Hierin liegt die Kernursache für die nicht nur von Seiten der Gesellschaften103) als „zu lange“ empfundenen deutschen Hauptversammlungen. ___________ 97) Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281 (286). 98) Bejahend MünchKommAktG/Grunewald, § 327d Rz. 3; Emmerich/Habersack, § 327d AktG Rz. 3; H. Schmidt, in: Festschrift Ulmer, S. 543 (S. 544); wohl auch OLG Hamburg, Urt. v. 11.4.2003 – 11 U 215/02, NZG 2003, 539(542); ablehnend KK-WpÜG/Hasselbach, § 327d AktG Rz. 7; Schmidt/Lutter/Schnorbus, § 327d Rz. 6; es erscheint zumindest inkonsequent, wenn die Erläuterungspflicht des Vorstands nach h. M. subsidiär zur Erläuterung des Hauptaktionärs eingreift, der Vorstand aber keine inhaltliche Verantwortung oder Korrekturpflicht bezüglich Erläuterungen des Hauptaktionärs hat. 99) Hüffer/Koch, § 176 Rz. 3; Butzke, H. Rz. 39; MünchKommAktG/Hennrichs/Pöschke § 176 Rz. 12. 100) BeckOGK-AktG/Euler/Klein, § 176 Rz. 11; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 78, vgl. aber § 176 Abs. 1 Satz 3 AktG. 101) Bei der virtuellen Hauptversammlung nach dem COVMG kann das Fragerecht der Aktionäre gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 auf vorab eingereichte Fragen beschränkt werden. 102) Vgl. Hüffer/Koch, § 131 Rz. 21. 103) Vgl. VGR, S. 9 f.; zur Investorensicht vgl. Redenius-Hövermann/Schmidt/Strenger, Der Aufsichtsrat 2021, 98 (100).

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C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

Auskunftsverpflichtet ist der Vorstand. Die Aktionäre haben kein Recht, 72 Auskunft von einem anderen Organ oder einer anderen Person zu verlangen. Dies betrifft insbesondere den Versammlungsleiter, den Aufsichtsrat104) und seine Mitglieder sowie den Abschlussprüfer (vgl. § 176 Abs. 2 Satz 3 AktG). Die Auskunftspflicht trifft den Vorstand als Gesamtorgan. Die von den ein- 73 zelnen Vorstandsmitgliedern gegebenen Antworten gelten demnach als Antworten des Vorstands, sofern es sich nicht ausnahmsweise ausdrücklich um eine persönliche Stellungnahme handelt.105) Es besteht keine höchstpersönliche Pflicht. Der Vorstand kann sich die von Mitarbeitern oder Sachverständigen oder – wie in der Praxis bei aufsichtsratsbezogenen Fragen üblich – vom Aufsichtsratsvorsitzenden verlesenen Antworten zu eigen machen.106) 2.

Erfüllung der Auskunftspflicht

Die Auskunft muss einer „gewissenhaften und getreuen Rechenschaft“ ent- 74 sprechen (§ 131 Abs. 2 Satz 1 AktG), d. h. vollständig, zutreffend und sachgemäß sein.107) Sie ist mündlich in der Hauptversammlung zu erteilen. Aktionäre haben außerhalb von § 131 Abs. 1a, 1d AktG (Æ Rz. 82) keinen Anspruch auf schriftliche Antworten.108) Der Vorstand kann von besonderen Ausnahmekonstellationen abgesehen im Gegenzug aber auch nur in den engen Grenzen des § 131 Abs. 3 Nr. 7 AktG mit einem Verweis auf schriftliche Antworten auf eine Auskunft in der Hauptversammlung verzichten.109) Durchaus möglich und häufig auch empfehlenswert ist aber, mehrere Fragen im Rahmen der General___________ 104) BVerfG, Besch. v. 20.9.1999 – 1 BvR 636/95, NJW 2000, 349, 351; OLG Stuttgart, Urt. v. 15.2.1995 – 3 U 118/94, AG 1995, 234 (235); OLG Celle, Urt. v. 24.11.2004 – 9 U 119/04, AG 2005, 438 (440); Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 113; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 7; MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz 22; Hölters/ Drinhausen, § 131 Rz. 67; BeckOGK-AktG/Poelzig, § 131 Rz. 57; a. A. Butzke, G. Rz. 27; J. Vetter, in: Festschrift E. Vetter, S. 833 (836); Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281(285). 105) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 122; MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 21. 106) Hierzu bedarf es nicht zwingend eines ausdrücklichen Hinweises; das widerspruchslose Zulassen der Verlesung von Antworten durch den Aufsichtsratsvorsitzenden ist als konkludentes Zueigenmachen zu sehen, vgl. MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 20 f.; Hölters/ Drinhausen, § 131 Rz. 6; vgl. de lege ferenda hierzu Arbeitskreis Recht des Aufsichtsrats, NZG 2021, 477 (482). 107) OLG Stuttgart, Urt. v. 11.8.2004 – 20 U 3/04, AG 2005, 94. 108) BGH, Urt. v. 5.4.1993 – II ZR 238/91, NJW 1993, 1976 (1982); Hüffer/Koch, § 131 Rz. 11, 41; BeckOGK-AktG/Poelzig, § 131 Rz. 234; KK-AktG/Kersting, § 131 Rz. 489 ff.; Meilicke/Heidel, DStR 1992, 72 (74). 109) So für den Fall, dass Informationsinteresse schneller und besser durch Einsichtnahme in schriftliche Unterlagen erfüllt werden kann vgl. BGH, Urt. v. 9.2.1987 – II ZR 119/86, NJW 1987, 3186 (3190 f.); ansonsten zur Zulässigkeit der erfüllungsersetzenden Auskunftserteilungsvereinbarungen vgl. Hüffer/Koch, § 131 Rz. 41, Schmidt/Lutter/Spindler, § 131 Rz. 62; Meilicke/Heidel, DStR 1992, 72 (75); krit. Martens, AG 2004, 238 (244); MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 88.

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§ 5 Hauptversammlung

debatte zusammengefasst zu beantworten oder auf vorherige Antworten zu verweisen.110) 75 Die Erfüllung seiner weiten Auskunftspflicht stellt den Vorstand mit Blick auf die drohenden Rechtsfolgen häufig vor komplexe Herausforderungen. Dabei ist er zu angemessenen Vorbereitungsmaßnahmen hinsichtlich der personellen und sachlichen Ausstattung verpflichtet.111) Auf Unmöglichkeit der Auskunftserteilung kann sich der Vorstand nur berufen, wenn er trotz entsprechender Vorkehrungen während der Hauptversammlung nicht in der Lage ist, eine Frage zu beantworten, weil diese z. B. umfangreiche Nachforschungen erfordert.112) 76 Das Leitbild des aktiengesetzlichen Auskunftsrechts entspricht einer Fokussierung auf die punktuelle Aussprache im Rahmen der Hauptversammlung auf Grundlage ad hoc erteilter Auskünfte, die die Grundlage einer informierten Stimmrechtsausübung bilden sollen. Gerade im Lichte der Erfahrungen und Diskussionen zu den virtuellen Hauptversammlungen nach dem COVMG113) wurde zuletzt vermehrt konstatiert, dass dieses Leitbild nicht (mehr) zur Realität der börsennotierten Gesellschaft und den sachgerechten Interessen der verschiedenen Stakeholdern passt.114) Gerade börsennotierte Gesellschaften sind umfassenden regelmäßigen wie auch anlassbezogenen Transparenzvorgaben (vgl. u. a. Art. 17 MAR) ausgesetzt, die ohnehin durchgängig für ein hohes Informationsniveau sorgen. Das Auskunftsrecht des § 131 AktG kann bei einem häufig mehrheitlich internationalen und in die Hunderttausende reichenden Aktionariat offenkundig nur eine eingeschränkte Funktion einnehmen. Gerade bei institutionellen Investoren sind die Abstimmprozesse in der Regel auch schon deutlich vor dem Hauptversammlungstag abgeschlossen (Æ Rz. 99). 3.

Verweigerung und Beschränkung der Auskunft

77 § 131 Abs. 3 AktG enthält einen explizit abschließenden Katalog115) an Tatbeständen, die dem Vorstand ausnahmsweise das Recht geben, ein nach § 131 ___________ 110) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 124; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 41; vor diesem Hintergrund ist der Regelungsgehalt von § 1 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 COVMG gering. 111) BGH, Urt. v. 7.4.1960 – II ZR 143/58, NJW 1960, 1150 (1152 f.); KK-AktG/Kersting, § 131 Rz. 418; Schmidt/Lutter/Spindler, § 131 Rz. 64; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 126. 112) BGH, Urt. v. 7.4.1960 – II ZR 143/58, NJW 1960, 1150 (1153 f.); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 1.7.1998 – 21 U 166/97, AG 1999, 231 (232); OLG Hamburg, Urt. v. 11.1.2002 – 11 U 145/01, AG 2002, 460 (462); Hüffer/Koch, § 131 Rz. 11; MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 91 ff. 113) Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zuletzt geändert durch Art. 15 AufbauhilfeG 2021 vom 10.9.2021 (BGBl I, 4147). 114) Vgl. etwa Noack/Zetzsche, AG 2020, 721, 726; Franzmann/Brouwer, AG 2020, 921, 923; Klöhn, ZHR 185 (2021), 182 (212 ff.); BeckOGK-AktG/Poelzig, § 131 Rz. 47. 115) Darüber hinausgehend zum Einwand der Unmöglichkeit Æ Rz. 69.

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C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

Abs. 1 AktG grundsätzlich berechtigtes Auskunftsverlangen zu verweigern.116) Eine Auskunft braucht insbesondere nicht gegeben zu werden, wenn die Antwort geeignet wäre, der Gesellschaft oder einem verbundenen Unternehmen einen nicht unerheblichen Nachteil zuzufügen. Dem Vorstand wird dabei kein eigener Beurteilungsspielraum eingeräumt, sondern es gilt der objektive und gerichtlich voll überprüfbare Maßstab der „vernünftigen kaufmännischen Beurteilung“.117) Die Entscheidung über die Erteilung oder Verweigerung der Auskunft liegt allein 78 in der Zuständigkeit des Vorstands. In der Praxis wird dieser regelmäßig hierüber nicht per Beschluss entscheiden. Während man bei der Auskunftserteilung grundsätzlich vom konkludenten Einverständnis der übrigen Vorstandsmitglieder ausgehen kann,118) erscheint bei einer vorgesehenen Verweigerung eine Abstimmung unter den Vorstandsmitgliedern naheliegend. Die Alleinzuständigkeit des Vorstands bedeutet auch, dass der Versammlungsleiter grundsätzlich nicht über die (Nicht-)Beantwortung einzelner Fragen entscheiden kann.119) In die originäre Kompetenz des Versammlungsleiters fallen demgegenüber, 79 jedenfalls bei entsprechender Satzungs- oder Geschäftsordnungsermächtigung,120) allgemeine Beschränkungen des Auskunftsrechts zur ordnungsgemäßen Durchführung der Hauptversammlung und zum Schutz der Teilnahmerechte der übrigen Aktionäre (§ 131 Abs. 2 Satz 2 AktG) (Æ Rz. 90 ff.).121) 4.

Verletzung der Auskunftspflicht

Eine Verletzung der Auskunftspflicht kann zu diversen Rechtsfolgen führen. 80 Wird ein nach den Voraussetzungen des § 131 AktG berechtigtes Auskunfts___________ 116) Ausnahmsweise kann das Verweigerungsrecht im Lichte von § 93 Abs. 1 AktG zu einer Pflicht werden, vgl. BGH, Urt. v. 23.11.1961 – II ZR 4/60,= NJW 1962, 104; MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 112; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 54; Kersting/Billerbeck, NZG 2019, 1326 ff. 117) Begründung Regierungsentwurf des AktG 1965 bei Kropff, AktG, 1965, S. 186; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.7.1991 – 19 W 2/91, AG 1992, 34 (35); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.6.1989 – 11 W 57/89, AG 1990, 82; Butzke, G. Rz. 68; MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 109; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 38 Rz. 44; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 56; Lieder, NZG 2014, 601 (603 f.); Überprüfung allerdings dadurch abgeschwächt, dass „Eignung“ zur Nachteilszuführung ausreicht. 118) Großkomm-AktG/Decher, § 131 Rz. 65; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 38 Rz. 6; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 116; vgl. auch BGH, Urt. v. 23.11.1961 – II ZR 4/60, WM 1961, 1324 (1325). 119) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Schlitt, § 10 Rz. 115. 120) Vgl. zur Anerkennung einer unabhängig von einer expliziten Satzungsermächtigung bestehenden Berechtigung des Versammlungsleiters MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 102 m. w. N. 121) Dies gilt insbesondere für das Fragerecht und nicht nur das nachrangige Rederecht, vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 20.9.1999 – 1 BvR 636/95, NJW 2000, 349 (351); Hüffer/Koch, § 131 Rz. 50.

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verlangen durch den Vorstand nicht oder nicht zutreffend beantwortet, steht dem Aktionär das gerichtliche Auskunftserzwingungsverfahren zur Verfügung (§ 132 AktG). Aus Gesellschaftssicht noch deutlich gravierender ist das Risiko einer alternativ oder kumulativ122) möglichen Anfechtungsklage. Für diese stellt § 243 Abs. 4 AktG ein zusätzliches Wesentlichkeitserfordernis auf, wonach ein objektiv urteilender Aktionär die Erteilung der Information als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte angesehen hätte müssen. Wenngleich das Verhältnis zum bereits auf Ebene des § 131 Abs. 1 AktG bestehenden Erforderlichkeitskriterium123) unklar ist, kann in der Dopplung zumindest eine gesetzgeberische Betonung der Filterfunktion gesehen werden.124) 81 Eine Verletzung der Auskunftspflichten führt unter den weiteren Voraussetzungen des § 93 AktG zur Schadensersatzhaftung des Vorstands gegenüber der Gesellschaft. Eine Haftung unmittelbar gegenüber dem Aktionär aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 131 AktG ist angesichts des besonderen aktienrechtlichen Rechtsfolgensystems grundsätzlich nicht anzuerkennen.125) Etwas anderes gilt, wenn der Vorstand sich durch eine vorsätzliche falsche oder verschleiernde Auskunft nach § 400 Abs. 1 AktG strafbar gemacht hat.126) Die Verweigerung einer vollständigen und inhaltlich richtigen Auskunft kann zudem als Geschäftsführungsmaßnahme des Vorstands Gegenstand einer Sonderprüfung nach § 142 Abs. 1 Satz 1 sein. 5.

Auskunftspflicht bei der virtuellen Hauptversammlung

82 Besonderheiten gelten nach § 131 Abs. 1a bis f AktG hinsichtlich des Auskunftsrechts127) der Aktionäre bei der virtuellen Hauptversammlung. Der Gesetzgeber hat sich dabei gegen eine konsequente Vorverlagerung des Frage-/Auskunftsrechts entschieden, wie diese noch unter dem COVMG möglich war und ___________ 122) Vgl. zur ganz h. M. nur BGH, Urt. v. 29.11.1982 – II ZR 88/8186, NJW 1983, 878; Hüffer/ Koch, § 132 Rz. 2; MünchKommAktG/Schäfer, § 243 Rz. 119; a. A. Kollhosser, AG 1977, 117 (118 ff.). 123) Zur beschränkten Wirksamkeit des Erforderlichkeitsfilters des § 131 AktG während der Hauptversammlung darüberhinausgehend zum Einwand der Unmöglichkeit Æ Rz. 65 ff. 124) So auch MünchKommAktG/Schäfer, § 243 Rz. 117; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 46b; Koch, ZGR 2006, 769 (794 f.); de lege ferenda für Klarstellung VGR, AG 2021, AG 2021, 380 (389). 125) MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 177; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 78; Grigoleit/Herrler, § 131 Rz. 63; a. A. Heidel/Heidel, § 131 Rz. 5b; Schmidt/Lutter/Spindler, § 131 Rz. 117. 126) MünchKommAktG/Kubis, § 131 Rz. 177; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 78; Grigoleit/Herrler, § 131 Rz. 63; generell ablehnend Hölters/Drinhausen, § 131 Rz. 44. 127) Die Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung verwenden durchgängig den Terminus „Frage“. Eine stringente materielle Abgrenzung zur im Übrigen im § 131 AktG behandelten Auskunftsverlangen ist nicht ersichtlich.

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C. Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung

die Praxis bestimmte.128) Lediglich optional kann der Vorstand nach seinem Ermessen vorgeben, dass Fragen spätestens drei Tage vor der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen sind (§ 131 Abs. 1a AktG). Sofern der Vorstand hiervon Gebrauch macht, sind nach § 131 Abs. 1a Satz 3 AktG später – insbesondere auch während der Hauptversammlung – eingehende Fragen ausgeschlossen, sofern sie bereits vor der Hauptversammlung hätten gestellt werden können.129) In der Einberufung kann der Vorstand zudem den Umfang der Einreichung von Fragen „angemessen“ beschränken (§ 131 Abs. 1b AktG). Ausweislich der Gesetzesbegründung soll von der Angemessenheit ausgegangen werden können, wenn sich die Fragenanzahl an den letzten virtuellen Hauptversammlungen der Gesellschaft orientiert, sofern die Tagesordnungspunkte sich weitgehend entsprechen.130) Auch wenn von der Möglichkeit der Vorabfragen (§ 131 Abs. 1a AktG) Ge- 83 brauch gemacht wird, bleiben allerdings Fragen zu neuen Sachverhalten während der Hauptversammlung weiterhin zulässig (§ 131 Abs. 1e AktG). Es bedarf nicht viel Phantasie, sich die Diskussionen zur Frage des Vorliegens eines solchen „neuen“ Sachverhalts in der Praxis vorzustellen. Sei es ein neuer Pressebericht zu einem bekannten Sachverhalt oder auch nur ein Redebeitrag eines anderen Aktionärs, die – vorgeblich oder tatsächlich – einen neuen Blickwinkel auf einen bekannten Sachverhalt vermittelt haben. Hier wird es auf eine strikte Interpretation durch die Gerichte ankommen, um die Wirksamkeit des gesetzlichen Filters des § 131 Abs. 1a Satz 3 AktG sicherzustellen.131) Die zumindest bis dahin bestehende Rechtsunsicherheit wird Unternehmen angesichts der gravierenden Rechtsfolgenrisiken132) im Zweifel zu einer großzügigen Interpretation veranlassen, sofern sie tatsächlich von der Möglichkeit des § 131 Abs. 1a AktG Gebrauch machen. ___________ 128) Dies kritisierend und die Vorzüge der Vorverlagerung des Frageprozesses positiv hervorhebend etwa (jeweils auf Grundlage des RegE) Koch, S. 2; Roßkopf, S. 7; Semrau, S. 7 f.; Groß/Scholz, BB 2022, Heft 21, Umschlagteil I; Mayer/Jenne/Miller, BB 2022, 1155 (1160 ff.); zur Praxis unter dem COVMG Danwerth, AG 2021, 613 (617). 129) Im Vergleich zum Regierungsentwurf wurde in der finalen Gesetzesfassung auf die Pflicht zur Zulassung „weiterer Fragen“ abgesehen, vgl. RegE vHV-Gesetz, BT-Drucks. 20/2248 zu § 131 Abs. 1e Satz 2 AktG. 130) RegE vHV-Gesetz, BT-Drucks. 20/2246, S. 38; vgl. hierzu zuvor Drinhausen/Keinath, BB 2022, 451 (455). 131) Mit Blick auf den Willen des Gesetzgebers ist festzuhalten, dass die gesetzlichen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung dem Frage-/Auskunftsrecht einen hohen Stellenwert beimessen. Allerdings betont die Gesetzesbegründung durchaus die Abgrenzungswirkung, die angesichts der Möglichkeit der Vorabfragen und der Nachfragen auch keine Einschränkung des Fragerechts bedeute, Änderungsantrag vHV-Gesetz, AusschussDrucks. 20(6)19, S. 32. 132) Vgl. zur Bedeutung der Rechtsfolgenrisiken für die Durchführung einer Hauptversammlung nur VGR, AG 2021, 380 (381).

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§ 5 Hauptversammlung

84 Ungeachtet davon, ob Fragen vorab zu übermitteln waren, können sämtliche elektronisch zu der Versammlung geschalteten Aktionäre während der Hauptversammlung Nachfragen zu sämtlichen ggf. vor oder in der Hauptversammlung durch den Vorstand gegebene Antworten stellen (§ 131 Abs. 1d AktG). Das Nachfragerecht besteht unabhängig davon, ob ein Aktionär zuvor Fragen eingereicht/gestellt hat und beschränkt sich ggf. auch nicht auf diese eigenen Fragen. Nachfragen sind nach der gesetzlichen Konzeption darauf gerichtet, Präzisierungen von als nicht ausreichend empfundenen Antworten zu erhalten.133) Dies erfordert einen „sachlichen Zusammenhang“. Auch hier wird abzuwarten sein, ob die Gerichte durch eine strenge Auslegung der gesetzgeberischen Konzeption tatsächlich zur Wirkung verhelfen. Einstweilen werden die Unternehmen im Anwendungsfall sich auch hier zu einer weiten Interpretation veranlasst sehen.134) 85 Praxishinweis: Der Versammlungsleiter hat nach § 131 Abs. 1f AktG die Möglichkeit unabhängig davon, ob Vorabfragen vorgesehen sind, Fragen und Nachfragen während der Hauptversammlung auf den Weg der Videokommunikation zu beschränken. Im Sinne einer rechtssicheren Durchführung der virtuellen Hauptversammlung scheint diese Kanalisierung der Kommunikation angeraten.135) Wenngleich die Festlegung angesichts der Zuständigkeit des Versammlungsleiters erst in der Hauptversammlung erfolgen kann, erscheint es sinnvollauf eine entsprechende Planung oder Absicht bereits in der Einberufung vorab hinzuweisen. 86 Macht der Vorstand von der Option der Vorabfragen Gebrauch, werden hierdurch erhebliche weitergehende Pflichten ausgelöst. Von weitreichender Bedeutung ist dabei das Erfordernis, Fragen und Antworten zwingend bereits einen Tag vor der Hauptversammlung auf der Internetseite136) zu veröffentlichen (§ 131 Abs. 1c AktG).137) Daneben sei auch die Pflicht zur Vorabveröffentlichung des Vorstandsberichts (Æ Rz. 67) genannt (§ 118a Abs. 1 Nr. 5 AktG). 87 Praxishinweis: Bei der Entscheidung über die Option der Vorabfragen sind neben erheblichen rechtlichen Aspekten nicht zuletzt auch kommunikative Aspekte zu berücksichtigen. Durch die Vorabveröffentlichungspflicht auf der Internetseite haben insbesondere kritische Aktionäre bereits im unmittelbaren Vorfeld der Hauptversammlung eine noch wirkungsvollere Möglichkeit, die öffentliche Berichterstattung zu der Hauptversammlung zu beeinflussen. Zudem wird man angesichts der vor___________ 133) Änderungsantrag vHV-Gesetz, Ausschuss-Drucks. 20(6)19, S. 32. 134) Vgl. Groß/Scholz, BB 2022, Heft 21, Umschlagteil I; Seibt/Danwerth, AG 2022, 177 (185); Mayer/Jenne/Miller, BB 2022, 1155 (1161). 135) Groß/Scholz, BB 2022, Heft 21, Umschlagteil I. 136) Anders als bei § 130a Abs. 3 AktG sieht das Gesetz hier keine Möglichkeit zur Beschränkungen auf den Kreis der angemeldeten Aktionäre vor. 137) Ausweislich der Gesetzesbegründung können Fragen sowohl kontinuierlich aber auch gesammelt nach Fristablauf veröffentlicht werden, RegE vHV-Gesetz, BT-Drucks. 20/2246, S. 38; die bisherigen Praxiserfahrungen zeigen, dass das eine eher theoretische Überlegung ist, da Fragen zu großen Teilen kurz vor Fristende eingereicht wurden; kritisch zu den Fristen gerade mit Blick auf die Vorabveröffentlichung u. a. Mayer/Jenne/Miller, BB 2022, 1155 (1159 f.).

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D. Versammlungsleitung

erst bestehenden Zweifel an der Wirksamkeit der gesetzlichen Filter hinsichtlich Fragen zu neuen Sachverhalten und Nachfragen (§ 131 Abs. 1e und 1d AktG) beim Vorsehen von Vorabfragen (§ 131 Abs. 1a AktG) kaum sicher darauf verlassen können, damit den Hauptteil der Fragen strukturiert im Vorfeld vorbereiten und beantworten zu können. Soweit diese erheblichen Vorbehalte Unternehmen davon abhalten sollten, Vorabfragen vorzusehen, fällt andererseits auch die erhebliche Qualitätssteigerung der Antworten, als wesentliche Errungenschaft der virtuellen Hauptversammlung unter dem COVMG wieder weg. D.

Versammlungsleitung

I.

Position des Versammlungsleiters

Die aktiengesetzlichen Regelungen zur Hauptversammlung setzen voraus, dass 88 es einen Versammlungsleiter gibt. Das Gesetz schweigt allerdings zu dessen Bestimmung und enthält auch zur Ausgestaltung der Funktion nur rudimentäre Regeln.138) Gleichwohl ist der Versammlungsleiter rechtlich – mit Ausnahme der Einmann-AG139) – unverzichtbar.140) Er hat für die sachgemäße Erledigung der Tagesordnung unter Beachtung der Aktionärsrechte Sorge zu tragen. Im Rahmen seiner Generalzuständigkeit ist er kraft seines Amtes zu allen Maßnahmen und Entscheidungen berechtigt, die für einen ordnungsmäßigen Ablauf der Hauptversammlung erforderlich sind.141) 1.

Bestimmung des Versammlungsleiters

Angesichts der nicht vorhandenen gesetzlichen Vorgaben zur Bestimmung des 89 Versammlungsleiters erscheint es bemerkenswert, dass sich in den Satzungen deutscher Aktiengesellschaften eine weitgehend einheitliche Praxis findet. Danach nimmt der Aufsichtsratsvorsitzende zugleich die Position des Versamm___________ 138) Vgl. § 118 Abs. 4 (Zulassung der Bild- und Tonübertagung), § 122 Abs. 3 Satz 2 (Bestimmung des Versammlungsleiters durch das Gericht bei Erteilung einer Einberufungsermächtigung), § 130 Abs. 2 (Angabe der Feststellung des Vorsitzenden über die Beschlussfassung in der Versammlungsniederschrift) und § 131 Abs. 2 Satz 2 (Beschränkung des Rede- und Fragerechts). 139) Butzke, D. Rz. 12; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 105; MünchHdb GesR IV/Semler, § 36 Rz. 37; Ott, RNotZ 2014, 423(435f.); sieht dies anders sofern Satzung Versammlungsleitung ausdrücklich vorsieht; Hüffer/Koch, § 129 Rz. 18; BeckOGK-AktG/Wicke, § 129 Rz. 41; Wicke, NZG 2007, 771; a. A Schmidt/Lutter/Ziemons, § 129 Rz. 48; Blasche, AG 2017, 16. 140) Butzke, D. Rz. 3; Hüffer/Koch, § 129 Rz. 18; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 105; BeckOGK-AktG/Wicke, § 129 Rz. 41; Wicke, NZG 2007, 771; Stützle/Walgenbach, ZHR 155 (1991), 516 (519). 141) BGH, Urt. v. 11.11.1965 – II ZR 122/63, NJW 1966, 43 (44 ff.); OLG Frankfurt/M., Urt. v. 20.10.2010 – 23 U 121/08, AG 2011, 36 (41); Theusinger/Schilha, BB 2015, 131 (132); Wicke, NZG 2017, 771; Happ/Groß/Zimmermann, 10.17 Rz. 12.8; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 2; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 121.

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§ 5 Hauptversammlung

lungsleiters ein.142) Beide Funktionen sind rechtlich eigenständig und getrennt zu behandeln.143) 90 Die Rückfallzuständigkeit für die Bestimmung des Versammlungsleiters liegt bei der Hauptversammlung.144) Diese greift, sofern der satzungsmäßig vorgesehene Versammlungsleiter nicht zur Verfügung steht.145) Die Hauptversammlung ist dabei in der Wahl des Versammlungsleiters frei. Nicht in Betracht kommt allerdings die Wahl eines Vorstandsmitglieds oder des beurkundenden Notars.146) 2.

Abberufung des Versammlungsleiters

91 Das Aktiengesetz trifft auch keine Regelungen zur Abberufung des Versammlungsleiters. Deren Zulässigkeit ist für satzungsmäßige Versammlungsleiter nicht abschließend geklärt. Die Instanzenrechtsprechung147) wie auch einige Literaturstimmen148) halten mit unterschiedlichen Voraussetzungen die Abwahl für möglich.149) Regelmäßig wird ein wichtiger Grund verlangt. Dieser muss substantiiert vorgetragen werden und sich auf die Rolle als Versammlungsleiter beziehen. Zudem bedürfe die punktuelle Satzungsdurchbrechung der satzungsändernden ¾-Kapitalmehrheit. Eine verbreitete Literaturmeinung hält demgegenüber die Abwahl des satzungsmäßigen Versammlungsleiters von vorneher-

___________ 142) MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 108; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 8; empirische Auswertung bei Bayer/Hoffmann, AG 2012, R 339/340; durchaus Differenzen gibt es bei den Regelungen zur Vertretung des Versammlungsleiters, vgl. zur dauerhaften oder interimsmäßigen Vertretung Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281 (282f.); Kocher/Feigen, NZG 2015, 620. 143) Vgl. KG, Beschl. v. 6.12.2010 – 23 AktG 1/10, NZG 2011, 305 (306 f.); OLG Köln, Urt. v. 31.1.2013 – 18 U 21/12, NZG 2013, 548 (551); Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281 m. w. N. 144) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 8; Hölters/Drinhausen, Anh. § 119 Rz. 2; Hoffmann-Becking, NZG 2017, 281 (282); vgl. zur ausnahmsweisen gerichtlichen Bestellung des Versammlungsleiters nach § 123 Abs. 3 Satz 2 AktG OLG Hamburg, Beschl. v. 16.12.2011 – 11 W 89/11, AG 2012, 294; OLG Köln, Beschl. v. 16.6.2015 – 18 Wx 1/15, NZG 2015, 1118 (1119). 145) Vgl. zur Zulässigkeit der Abberufung des Versammlungsleiters Æ Rz. 79 f. 146) Vgl. KG, Beschl. v. 6.12.2010 – 23 AktG 1/10, NZG 2011, 305 (306); MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 40; Wilsing/von der Linden, ZIP 2009, 641 (646 ff.); Hüffer/ Koch, § 129 Rz. 20; Wicke, NZG 2007, 771. 147) OLG Bremen, Urt. v. 13.11.2009 – 2 U 57/09, AG 2010, 256; OLG Köln, Urt. v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, NZG 2017, 1344; OLG Stuttgart, Urt. v. 8.7.2015 – 20 U 2/14, AG 2015, 163 (169); LG Frankfurt/M., Urt. v. 20.12.2011 – 3-5 O 37/11, BB, 2012, 736; LG Köln, Urt. v. 14.1.2016 – 91 O 31/15, AG 2016, 513 (515). 148) Hüffer/Koch, § 129 Rz. 21; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 112; Drinhausen/MarschBarner, AG 2014, 757 (764 f.); Langenbach, S. 93 ff.; Sauerwald, S. 176 ff. 149) Überblick zum Meinungsstand bei Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 23 ff.

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D. Versammlungsleitung

ein für unzulässig.150) Wenn die Satzung eine eindeutige Regelung zur Versammlungsleitung trifft, ohne der Hauptversammlung ein Abwahlrecht einzuräumen, das im Übrigen auch das Gesetz nicht vorsieht, kann es angesichts auch der Sensibilität der Rolle des Versammlungsleiters nicht überzeugen, ein Abwahlrecht der Hauptversammlung ohne Wortlautanknüpfung im Wege der Auslegung zu begründen. Auch ein Vorrang der Selbstverwaltungsautonomie der Hauptversammlung gegenüber der Satzungsregelung ist nicht anerkennenswert. Vielmehr ist hier auf die aktiengesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelfe151) zu verweisen, die die Aktionäre keineswegs schutzlos stellen. Praxishinweis: Sofern ein (vorsichtshalber) zugelassener Abwahlantrag Erfolg hat, 92 empfiehlt sich zur Vermeidung rechtlicher Risiken hinsichtlich der Wirksamkeit der Abwahl im Hinblick auf die Fortführung der Hauptversammlung durch den neuen Versammlungsleiter, dass der „abgewählte“ Versammlungsleiter hilfsweise die Niederlegung seines Amts erklärt. II.

Eröffnung und Beendigung der Hauptversammlung

1.

Ein- und Ausgangskontrolle

Die Ausgestaltung der Ein- und Ausgangskontrolle bei der Hauptversammlung 93 unterliegt der ausschließlichen Entscheidungskompetenz des Versammlungsleiters.152) Die konkrete Ausführung erfolgt durch das seitens des Vorstands bereitgestellten Personal, welches seine Befugnisse wiederum vom Versammlungsleiter ableitet.153) Zentrale Funktion der Ein- und Ausgangskontrolle ist die Überprüfung und Wahrung des Teilnahmerechts.154) Eine ordnungsgemäße Ausführung ist zugleich Voraussetzung für die zutreffende Erstellung und Fortschreibung des Teilnehmerverzeichnisses (§ 129 Abs. 1 Satz 2 AktG) (Æ Rz. 85 ff.). 2.

Eröffnung

Die Hauptversammlung beginnt mit ihrer Eröffnung durch den Versamm- 94 lungsleiter. Nach Eröffnung und Begrüßung geht dieser regelmäßig auf die ___________ 150) Schmidt/Lutter/Ziemons, § 124 Rz. 100; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 27 ff.; Austmann, in Festschrift Hoffmann-Becking, S. 45 (57 f.); MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 44; von der Linden, DB 2017, 1371 ff.; Krieger, AG 2006, 355 (359 ff.); Drinhausen/Marsch-Barner, AG 2014, 757 (764). 151) Insbesondere die Anfechtungsklage (§§ 243, 246 AktG); jedenfalls unzulässig ist demgegenüber eigene Anfechtung des Abwahlbeschlusses, vgl. von der Linden, DB 2017, 1371; Wicke, NZG, 2018, 161(163). 152) Vgl. nur Theusinger/Schilha, BB 2015, 131 (133); MünchKommAktG/Kubis. § 119 Rz. 129; Hölters/Drinhausen, § 129 Rz. 6; Happ/Groß/Zimmermann, 10.17 Rz. 12.10; Grigoleit/ Herrler, § 129 Rz. 46. 153) MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 129; Kocher/Feigen, NZG 2015, 620 (621). 154) Dieses darf durch Ausgestaltung der Einlasskontrollen, z. B. Sicherheitskontrollen, nicht übermäßig erschwert werden, vgl. nur OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 16.2.2007 – 5 W 43/06, NZG 2007, 310 (311) – Wella; MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 132; BeckOGK-AktG/ Hoffmann, § 118 Rz. 17; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 59.

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§ 5 Hauptversammlung

„Formalia“ der Hauptversammlung ein.155) Diese haben in Teilen erläuternden Charakter, treffen aber auch verbindliche versammlungsleitende Anordnungen etwa zum Verfahren der Wortmeldungen oder der Abstimmung. 95 Im Rahmen seines Leitungsermessens kann der Versammlungsleiter die Detailtiefe seiner mündlichen Ausführungen festlegen und sich auch auf vorliegende schriftliche Hinweise berufen. Nicht erforderlich ist z. B. das wörtliche Verlesen der Tagesordnung deren Inhalt bei ordnungsgemäßer Einberufung als bekannt vorausgesetzt werden kann. Regelmäßig folgt der Versammlungsleiter bei seinen Ausführungen einem weitgehend wortwörtlichen Sitzungsleitfaden.156) Dies reflektiert die Vielzahl an formalrechtlichen Bezugspunkten der Versammlungsleitung. 3.

Teilnehmerverzeichnis

96 In der Hauptversammlung ist ein Verzeichnis der erschienenen und der vertretenen Aktionäre oder der Aktionärsvertreter zu erstellen (§ 129 Abs. 1 Satz 2 AktG). Im Fall einer virtuellen Hauptversammlung sind alle elektronisch zugeschalteten oder vertretenen Aktionäre und die elektronisch zugeschalteten Vertreter aufzunehmen (§ 129 Abs. 1 Satz 3 AktG). 97 Die Zuständigkeit für dessen Erstellung ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt und lässt sich auch nicht pauschal zuweisen.157) Zunächst ist die grundsätzliche Verantwortung bei der Gesellschaft vertreten durch den Vorstand zu sehen. Dieser hat als in der Regel einberufendes Organ Einblick in die Anmeldeunterlagen und ggf. das Aktienregister, auf deren Grundlage das Teilnehmerverzeichnis vorbereitet wird. Allerdings wirkt der Versammlungsleiter über die in seiner Zuständigkeit liegende Ein- und Ausgangskontrolle während der Hauptversammlung (Æ Rz. 82) mittelbar auf die Führung des Teilnehmerverzeichnisses ein und ist insoweit verantwortlich. Angesichts seiner generellen Verantwortung für den ordnungsgemäßen Ablauf der Hauptversammlung hat er richtigerweise auch im Übrigen die Befugnis und die Pflicht, bei Bedenken hinsichtlich der Richtigkeit des Teilnehmerverzeichnisses geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Hieraus lässt sich allerdings keine Pflicht des Versammlungsleiters zur fortlaufenden Prüfung der Erstellung des Teilnehmerverzeichnisses ___________ 155) Vgl. zur Qualifizierung der rechtlichen einzelnen Handlungen Kocher/Feigen, NZG 2015, 620. 156) Kremer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 697 (699 f.); Happ/Groß/Zimmermann, 10.17 Rz. 12.9. Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 78, Anhang 1 und 2 (Muster Hauptleitfaden und Sonderleitfaden). 157) H. M. für (primäre) Zuständigkeit des Vorstand teilweise mit ausdrücklicher Überwachungszuständigkeit des Aufsichtsrats: Hüffer/Koch, § 129 Rz. 6f.; Bürgers/Körber/Reger, § 129 Rz. 17; BeckOGK-AktG/Wicke, § 129 Rz. 19f.; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/ Gehling, § 9 Rz. 10; vgl. auch RegBegr. NaStraG BT–Drucks. 14/4051, S. 15; a. A. (Zuständigkeit bei Versammlungsleiter) MünchKommAktG/Kubis, § 129 Rz. 16.

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D. Versammlungsleitung

herleiten, wozu er während der Hauptversammlung auch faktisch nicht in der Lage wäre. Den Inhalt des Teilnehmerverzeichnisses regelt das Gesetz vergleichsweise de- 98 tailliert. Nicht in das Teilnehmerverzeichnis aufzunehmen sind die Briefwähler.158) Anders sieht es bei den diesen angesichts der Weisungsgebundenheit faktisch (wenn auch nicht rechtsdogmatisch) nahestehenden Aktionären aus, die durch die Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft vertreten werden. Aber auch diese werden in der Regel ohne Offenlegung ihres Namens („für den, den es angeht“) vertreten und daher nicht individualisiert in dem Verzeichnis angeführt. Soweit eine echte Online-Teilnahme (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) zugelassen wird, sind auch diese Aktionäre aufzunehmen. In der Praxis üblich ist die wenig intuitive Kategorisierung der Eintragungen in 99 Eigenbesitz (E), Vollmachtsbesitz (V) und Fremdbesitz (F).159) Diese unterteilt das Verzeichnis in persönlich erschienene oder offenvertretene Aktionäre, durch Intermediäre Vertretene sowie zur Ausübung in eigenem Namen Ermächtigte Dritte. Das Verzeichnis ist vor der ersten Abstimmung allen Teilnehmern zugänglich 100 zu machen (§ 129 Abs. 4 AktG). Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um einen Sach- oder Verfahrensbeschluss handelt. Angesichts des sich im Laufe der Veranstaltung verändernden Teilnehmerkreises ist das Verzeichnis entweder elektronisch fortzuschreiben oder über Nachträge aktuell zu halten.160) Den Teilnehmern muss während der Versammlung eine angemessene Einsichtnahmemöglichkeit gewährt werden.161) Bei der virtuellen Hauptversammlung nach § 118a AktG wird den Aktionären regelmäßig im Rahmen des virtuellen Aktionärsportals Einsicht gewährt. Auch im Nachgang zur Hauptversammlung können die Aktionäre Einsicht in das Teilnehmerverzeichnis verlangen (§ 129 Abs. 4 Satz 2 AktG).

___________ 158) Hüffer/Koch, § 118 Rz. 19; kritisch de lege ferenda Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 107. 159) Vgl. Übersicht bei Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 113 ff. 160) Großkomm-AktG/Mülbert, § 129 Rz. 55; BeckOGK-AktG/Wicke, § 129 Rz. 23. 161) Nach MünchKommAktG/Kubis, § 129 Rz. 39 soll den Teilnehmern vor der ersten Abstimmung zusätzlich ausreichend Zeit zur Einsichtnahme gewährt werden; anders die h. M., vgl. Großkomm-AktG/Mülbert, § 129 Rz. 83; BeckOGK-AktG/Wicke, AktG § 129 Rz. 32; Hüffer/Koch, § 129 Rz. 13; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 120.

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§ 5 Hauptversammlung

4.

Beendigung

101 Die Beendigung der Hauptversammlung fällt wiederum in die ausschließliche Zuständigkeit des Versammlungsleiters.162) Grundsätzlich schließt dieser die Hauptversammlung nach ordnungsgemäßer Erledigung der Tagesordnung. Eine Beendigung hat im Übrigen zu erfolgen, wenn die Hauptversammlung wirksam vertagt wurde,163) der in der Einberufung festgesetzte Versammlungstag endet und eine Fortsetzung am nächsten Tag nicht in Betracht kommt oder wenn der Versammlungsleiter unheilbare Beschlussmängel (insbesondere Einberufungsfehler) feststellt.164) Nach der Beendigung der Hauptversammlung ist eine Wiedereröffnung nur im engen zeitlichen Zusammenhang durch den Versammlungsleiter zuzulassen, wenn dieser etwa Fehler in der Ergebnisfeststellung bemerkt.165) III.

Rechte und Pflichten in der Hauptversammlung

1.

Aktionärsaussprache

a)

Leitung der Aussprache

102 Beim Versammlungsleiter liegt weiterhin die Leitung der sog. – wenn auch vom Gesetz nicht erwähnten – Aktionärsaussprache. In deren Rahmen gibt der Vorstand Antworten zu den Auskunftsverlangen nach § 131 Abs. 1 AktG (Æ Rz. 66 ff.). 103 Der Versammlungsleiter hat die erforderlichen verfahrensmäßigen Anordnungen hinsichtlich der Aussprache zu treffen, um auf eine sachgemäße Erledigung der Tagesordnung hinzuwirken.166) Regelmäßig wird dabei die Aussprache als Generaldebatte zur gesamten Tagesordnung angeordnet.167) Um die Wahrung des Rede-, Antrags- und Auskunftsrechts der teilnehmenden Aktionäre sicherzustellen, sind gerade bei größeren Hauptversammlungen Maßnahmen wie die schriftliche Wortmeldung oder die Einrichtung eines Rednerpults mit Mikrophon üblich. Auch obliegt es dem Versammlungsleiter anhand der Wortmel___________ 162) Vgl. nur MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 160; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 456; Martens, WM 1981, 1010 (1014); Max, AG 1991, 77 (93 f.). 163) Vertagung ist allerdings in alleiniger Zuständigkeit der Hauptversammlung, vgl. BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14, NZG 2015, 1227 (1229 f.). 164) MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 160; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 456 f. 165) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 461; vgl. zur umstrittenen (und wenig praxisrelevanten) Wiedereröffnung durch Hauptversammlungsbeschluss MünchKommAktG/ Kubis, § 119 Rz. 160. 166) Dies umfasst auch Ordnungsmaßnahmen bei Störungen, vgl. dazu Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 240 ff.; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 76 ff. 167) Vgl. zum diesbezüglichen Ermessen des Versammlungsleiters OLG Hamburg, Urt. v. 23.12.2010 – 11 U 185/09, AG 2011, 677 (678); s. aber § 120 Abs. 3, § 175 Abs. 3 S. 2.

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D. Versammlungsleitung

dungen eine Rednerliste aufzustellen und den Rednern jeweils das Wort zu erteilen. Dies muss nicht nach Reihenfolge der Wortmeldungen erfolgen. Dem Versammlungsleiter kommt ein weites nur bei offenkundig sachwidrigen Erwägungen überprüfbares Ermessen zu.168) Aus verfahrensökonomischen Gründen ist es meist empfehlenswert, mit voraussichtlich für die Debatte besonders wichtigen Beiträgen zu beginnen. In diesem Sinne werden häufig etwa Aktionärsvereinigungen oder unter Umständen Aktionäre, die Gegenanträge gestellt haben, zu Beginn behandelt. Sachgerecht erscheint im Übrigen, Aktionäre mit größerem Aktienbesitz Priorität einzuräumen. b)

Beschränkungen

In der Regel sind die Versammlungsleiter gemäß Satz nach § 131 Abs. 2 Satz 2 104 AktG durch die Satzung169) berechtigt, das Frage- und Rederecht der Aktionäre zeitlich angemessen zu beschränken. Derartige Einschränkungen der Rechte der konkret betroffenen Aktionäre sind durch das Interesse aller Aktionäre an der Wahrung der Funktionsfähigkeit der Hauptversammlung und ihrer damit verbundener Rechte zu rechtfertigen.170) Hieran sind die Maßnahmen im Einzelfall zu messen, wobei auch dem Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 53a AktG) nach Möglichkeit Rechnung zu tragen ist.171) Konkrete Maßnahmen können generelle oder individuelle172) Redezeitbeschränkungen und, falls dies nicht ausreicht, die Schließung der Rednerliste und schließlich als ultima ratio auch die Beendigung der Generaldebatte sein.173) Entsprechende verfahrensleitende Maßnahmen können zu Beginn oder im Verlauf der Hauptversammlung getroffen werden.174) Sie sollten jeweils angemessen und frühzeitig angekündigt werden.175) c)

Rederecht in der virtuellen Hauptversammlung; Leitungsmaßnahmen

Für die virtuelle Hauptversammlung normiert § 130a Abs. 5 AktG neben dem 105 dort bestehenden Recht der Vorabeinreichung von Stellungnahmen (§ 130a ___________ 168) Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 141. 169) Vgl. zur Beschränkungsbefugnis ohne Satzungsgrundlage OLG Frankfurt/M., Urt. v. 23.12.2010 – 11 U 185/09, AG 2011, 36, 41; OLG Stuttgart, Beschl. v. 2.12.2014 – 20 AktG 1/14, AG 2015, 163, 169; MünchKomm/Kubis, § 131 Rz. 102; Hüffer/Koch, § 131 Rz. 50 ff. 170) Vgl. RegBegr. BT-Drucks. 15/5092, S. 17. 171) Kremer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 697 (705 ff.). 172) Hüffer/Koch, § 131 Rz. 53, BeckOGK-AktG/Wicke, § 129 Rz. 58; denkbar ist insbesondere der verhaltensbedingte Wortentzug oder gar Saalverweis. 173) Vgl. etwa MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 65 ff. 174) Vgl. allgemein hierzu Seibert, WM 2005, 157 (160). 175) Hüffer/Koch, § 131 Rz. 49; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 69; dazu auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.11.2018 – 6 AktG 1/18, AG 2019, 467 (473 f.).

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§ 5 Hauptversammlung

Abs. 1 bis 4 AktG)176) ein Rederecht in der Versammlung im Wege der Videokommunikation. Das Rederecht erfährt dabei eine deutlich explizitere und granularere Regelung als bei der Präsenzhauptversammlung. Nach der Regelungssystematik steht das Rederecht eigenständig neben dem Auskunftsverlangen und bedingt nicht etwa das Stellen von Fragen. 106 Der Gesetzgeber hat im Übrigen auch hier ein weitgehend der Präsenzversammlung angenähertes Setup im Blick. Hierzu gehört ein „virtueller Wortmeldetisch“, über den die Redebeiträge angemeldet werden. Die Zuschaltung erfolgt auf Anordnung des Versammlungsleiters. Dieser kann zudem die notwendigen Anordnungen zur Sicherstellung eines geordneten Ablaufs treffen (§§ 130a Abs. 5 Satz 4, 131 Abs. 2 Satz 2 AktG.). Auch hier sucht die Gesetzesbegründung Anlehnung an die Präsenzversammlung und die dort gängigen Maßnahmen (Æ Rz. 104).177) 107 Die Gesellschaft kann sich in der Einberufung vorbehalten, die Funktionsfähigkeit der Videokommunikation zwischen Aktionär und Gesellschaft in der Versammlung und vor dem Redebeitrag zu überprüfen und diesen zurückzuweisen, sofern die Funktionsfähigkeit nicht sichergestellt ist (§ 130a Abs. 6 AktG).178) Die Beurteilung der Funktionsfähigkeit steht im Ermessen der Gesellschaft.179) 108 Praxishinweis: Schon um eine klare Handlungsgrundlage zu schaffen, ist es zu empfehlen, jedenfalls einen solchen Vorbehalt in der Einberufung vorzusehen. Mit Blick auf den Stand der Technik und die unterschiedlichen anzutreffenden Begebenheiten in der Praxis auch empfehlenswert tatsächlich eine solchen Text durchzuführen. Wenngleich nicht zu leugnen ist, dass auch dies einen gewissen Zusatzaufwand generiert. 2.

Antragsrecht

109 Neben dem Rede-, Frage- und Stimmrecht, steht Aktionären auch ein Antragsrecht zu. Nach dem gesetzlichen Grundfall besteht dieses nur in der Hauptversammlung. Vorab etwa im Rahmen von §§ 126, 127 AktG angekündigte Anträge müssen in der Hauptversammlung gestellt werden. Im Fall einer virtuellen Hauptversammlung gelten gemäß §§ 126, 127 AktG übermittelte An___________ 176) Eine ähnliche Marktpraxis hatte sich auch unter dem COVMG entwickelt, wobei diese nur sehr verhaltene Resonanz auf Aktionärs-/Investorenseite fand, vgl. Danwerth, AG 2021, 613, 620 f.; Mayer/Jenne/Miller, BB 2022, 1155 (1158) weisen zurecht darauf hin, dass der Gesetzgeber an dieser Stelle auch über sein Leitbild der Präsenzversammlung hinausgeht. 177) Begründung RegE vHV-Gesetz, BT-Drucks. 20/2246, S. 36. 178) Entsprechende Tests hatten sich bei den vereinzelten Versammlungen unter dem COVMG etabliert, bei denen Live-Redebeiträgen vorgesehen wurden, vgl. jeweils die Einberufungen zu ordentlichen Hauptversammlung u. a. bei Deutscher Bank AG, Deutsche Börse AG, e.on SE und Lufthansa AG. 179) Änderungsantrag RegE vHV-Gesetz, Ausschuss-Drucks. 20(6)19, S. 31.

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D. Versammlungsleitung

träge demgegenüber als gestellt (§ 126 Abs. 4 AktG).180) Voraussetzung ist, dass der Aktionär ordnungsgemäß legitimiert und angemeldet ist. Zusätzlich ist aber auch bei der virtuellen Hauptversammlung den elektronisch zugeschalteten Aktionären das Recht einzuräumen, in der Versammlung Anträge im Wege der Videokommunikation zu stellen (§§ 118a Abs. 1 Nr. 3, 130a Abs. 5 AktG). Soweit Aktionäre auf das Verfahren der laufenden Hauptversammlung bezoge- 110 ne Anträge, sog. Geschäftsordnungsanträge, vorbringen, liegen diese häufig in der alleinigen Zuständigkeit des Versammlungsleiters, so dass dieser hierüber zu entscheiden hat, z. B. Antrag auf Unterbrechung der Versammlung, Zulassung einer Zwischendebatte, Ausschluss von Medienvertretern.181) Teilweise liegen Geschäftsordnungsthemen aber auch in der Entscheidungsgewalt der Hauptversammlung selbst, z. B. Abberufung des Versammlungsleiters (Æ Rz. 80 ff.), Absetzung oder Vertagung von Tagesordnungspunkten, Absage, Abbruch oder Vertagung der Hauptversammlung, Einzelentlastung. In der Regel sind diese Anträge nicht zeitlich vorrangig zu behandeln.182) Etwas anderes kann ausnahmsweise gelten, wenn der Antrag erkennbar und in zulässiger Weise unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf der Hauptversammlung nehmen will, wie dies beim Antrag auf Abberufung des Versammlungsleiters der Fall sein kann. Auch dort ist aber keine unmittelbare Behandlung erforderlich, sofern der Versammlungsleiter, wie etwa während des anfänglichen Pflichtteils und insbesondere während der Vorstands- oder Aufsichtsratsrede ohnehin gerade keinen gestaltenden Einfluss auf den Versammlungsverlauf nimmt. Die Entscheidung über zulässige materielle Sachanträge zu einzelnen Tages- 111 ordnungspunkten ist demgegenüber stets der Hauptversammlung vorbehalten. Der Versammlungsleiter prüft dabei die Beurteilung der Zulässigkeit des Antrags, insbesondere ob dieser zu einem ordnungsgemäß bekanntgemachten Tagesordnungspunkt gestellt wird.183) Bei bestimmten Anträgen sind weitergehende gesetzliche Anforderungen zu berücksichtigen (vgl. §§ 143, 147 AktG). Sachanträge können sich als Gegenantrag gegen einen Verwaltungsvorschlag zu einer Sachentscheidung wenden. Insbesondere als Antrag auf Bestellung eines Sonderprüfers oder eines besonderen Vertreters können Aktionäre aber auch selbstständige Sachanträge zu der (zuvor ggf. erweiterten) Tagesordnung stellen. ___________ 180) Auch durch diese Fiktionsregelung ohne zugleich die Antragsmöglichkeiten während der Hauptversammlung zu beschränken (anders als § 1 Abs. 2 Satz 3 COVMG) geht der Gesetzgeber über das Modell der Präsenzversammlung hinaus; de lege ferenda wurde das Konzept u. a. von VGR, AG 2022, 19 und Franzmann/Brouwer, AG 2020, 921 (926) aufgegriffen. 181) Vgl. Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 190 ff. 182) Kremer, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 697 (700); MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 146; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Gehling, § 9 Rz. 195; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 37 Rz. 58; Wilsing/von der Linden, ZIP 2010, 2321 (2324); vgl. zur früher verbreiteten Gegenauffassung Kuhnt, in: Festschrift Lieberknecht, S. 45 (51, 57). 183) Ausnahme in § 124 Abs. 4 Satz 2 AktG.

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§ 5 Hauptversammlung

112 Praxishinweis: Eine praktische Schwierigkeit von ad hoc während der Hauptversammlung gestellten Anträge sind die sog. Zufallsmehrheiten.184) U. a. angesichts der deutlich vorgelagerten Abstimmungsprozesse der großen institutionellen Investoren kann es dazu kommen, dass unangekündigte Beschlüsse während der Hauptversammlung mit einer sehr geringen Kapitalbeteiligung gefasst werden. Dieses Phänomen ist weder im Interesse der Gesellschaften noch der Aktionäre insgesamt und ist auch im virtuellen Format keineswegs entschärft. Gleichwohl hat der Gesetzgeber sich gegen eine Vorverlagerung des Antragsrechts entschieden.185) Unternehmen sollten sich daher im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf diese Situationen vorbereiten. Z. B. kann vorab Kontakt zu einzelnen institutionellen Investoren gesucht werden, damit diese während der Hauptversammlung abstimmungsfähig sind. Auch allgemein sollte die Sensibilität des Themas bei den Aktionären adressiert werden. 3.

Abstimmung

113 In der Regel schließt sich an die Aktionärsdebatte der Abstimmungsvorgang an. Im Rahmen seiner Leitungsfunktion bestimmt der Versammlungsleiter u. a. die Art der Abstimmung186) sowie Beginn und Ende des Abstimmungsgangs. Des Weiteren legt er die Art der Auszählung fest. Dabei sind mit der Additions- und der Subtraktionsmethode zwei unterschiedliche Grundformen anerkannt. Während bei der Additionsmethode die JA-Stimmen und NEIN-Stimmen gezählt werden, werden bei der Subtraktionsmethode die abgegebenen NEINStimmen und Enthaltungen zur Ergebnisermittlung von der Präsenz abgezogen.187) Der Versammlungsleiter hat schließlich die Art und das Ergebnis der Abstimmungen sowie die Feststellungen über die Beschlussfassungen zu verkünden. Die erforderlichen Angaben zum Ergebnis der Abstimmung ergeben sich dabei aus § 130 Abs. 2 Satz 2 AktG.

___________ 184) Vgl. dazu RefE BMJ, S. 29; VGR, AG 2021, 380; Seibt/Danwerth, AG 2022, 177 (188). Nicht überzeugen kann die Kritik am Argument der Zufallsmehrheiten bei Lochner, AG 2022, 320, 322. 185) Kritisch u. a. Poelzig, S. 8. 186) Versammlungsleiter ist dabei an meist nur allgemeine Vorgaben der Satzung und, sofern diese schweigt, nach h. L. an einen Geschäftsordnungsbeschluss der Hauptversammlung gebunden, vgl. Hüffer/Koch, § 134 Rz. 34; Hölters/Hirschmann, § 134 Rz. 63; Butzke, E Rz. 102; U.H. Schneider, in: Festschrift Peltzer, S. 425 (433); Stützle/Walgenbach, ZHR 155 (1991), 516 (534 f.); Kompetenz der Hauptversammlung ablehnend von der Linden NZG 2012, 930 und Simons, NZG 2017, 567 (568). 187) Vgl. im Einzelnen m. w. N. Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Pickert, § 9 Rz. 405 ff.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

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Übersicht A. Der besondere Vertreter................... 1 I. Allgemeines......................................... 1 II. Bestellung des besonderen Vertreters ............................................ 7 1. Beschluss der Hauptversammlung..................................... 7 2. Bestellung durch das Gericht.... 12 III. Rechtsstellung des besonderen Vertreters .......................................... 16 IV. Rechte und Pflichten des besonderen Vertreters.......................... 19 V. Geltendmachung der Ansprüche..... 24

VI. Beendigung der Rechtsstellung ....... 28 B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG.............................. 31 I. Materielle Voraussetzungen des Klagezulassungsverfahrens........ 32 II. Gerichtliches Verfahren................... 47 III. Klageverfahren – § 148 Abs. 3 und Abs. 4 AktG ................. 50 IV. Kostenregelung – § 148 Abs. 6 AktG ..................................... 55 V. Veröffentlichungspflicht – § 149 AktG ....................................... 59

Schrifttum: Bachmann, Reform der Organhaftung? Materielles Haftungsrecht und seine Durchsetzung in privaten und öffentlichen Unternehmen, NJW-Beilage 2014, 43; Bayer, Anforderungen an die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen den herrschenden Aktionär gem. § 147 AktG durch die Minderheit, AG 2016, 637; Bayer/Hoffmann, Der „Besondere Vertreter“ i. S. v. § 147 Abs. 2 AktG – eine rechtstatsächliche Bestandsaufnahme, AG 2018, 337; Bayer/Lieder, Die Lehre vom fehlerhaften Bestellungsverhältnis, Ein Beitrag zur Institutionenbildung im Gesellschaftsrecht aus Anlass des HVB/UniCreditBeschlusses des II. Zivilsenats des BGH vom 27.9.2011, NZG 2012, 1; Bayer/Hoffmann, Der „Besondere Vertreter“ i. S. v. § 147 Abs. 2 AktG – eine rechtstatsächliche Bestandsaufnahme, AG 2018, 337; Bernau, Konzernrechtliche Ersatzansprüche als Gegenstand des Klageerzwingungsrechts nach § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG, AG 2011, 894; G. Bezzenberger/ T. Bezzenberger, Aktionärskonsortien zur Wahrnehmung von Minderheitsrechten, in: Festschrift K. Schmidt 2009, S. 105; T. Bezzenberger, Die derivative Haftungsklage der Aktionäre – Deutsches und US-amerikanisches Recht, ZGR 2018, 584; Bungert/Becker, Bestellung eines besonderen Vertreters für die Geltendmachung konzernrechtlicher Ansprüche, DB 2020, 2058; Dietz-Vellmer, Prozessuale Aspekte der gerichtlichen Durchsetzung von Sonderprüfung und Ersatzansprüchen durch Minderheitsaktionäre, in: Festschrift Heidel, 2021, S. 441; Humrich, Die (vermeintlichen) Informationsrechte des besonderen Vertreters nach § 147 II AktG, NZG 2014, 441; Kling, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, ZGR 2009, 190; Kocher/Lönner, Anforderungen an Bestimmtheit und Verdachtsmomente bei Beschlüssen über die Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 147 AktG, ZIP 2016, 653; Krenek, 14 Jahre besonderer Vertreter – eine Bestandsaufnahme, in: Festschrift Heidel 2021, S. 527; Kuthe/Schäfer, Anforderung an die Bestellung des besonderen Vertreters und Berechtigung zur Geltendmachung konzernrechtlicher Haftungsansprüche, AG 2020, 741; Lochner, Die Aktionärsklage gemäß § 148 AktG, in: Festschrift Heidel 2021, S. 547; Lochner/Beneke, Die Haftung des Besonderen Vertreters, ZIP 2020, 351; Lutter, Zur Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Organmitglieder, in: Festschrift U.H. Schneider 2011, S. 763; Meilicke/Heidel, UMAG: „Modernisierung“ des Aktienrechts durch Beschränkung des Eigentumsschutzes der Aktionäre, DB 2004, 1479; Mock, Die Entdeckung des besonderen Vertreters, DB 2008, 393; Mock, Berichts-, Auskunfts- und Publizitätspflichten des besonderen Vertreters, AG 2008, 839; Mock, Inhalt und Reichweite der Ersatzansprüche in den §§ 147 f. AktG, NZG 2015, 1013; Mock, Die Gesellschafterklage (actio pro socio), JuS 2015, 590; Mock, Das Klagezulassungsverfahren nach § 148

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG AktG – Totgesagte leben länger …, AG 2019, 385; Mock, Der besondere Vertreter – eine rechtshistorische Spurensuche, in: Festschrift Heidel 2021, S. 599; Mock/Goltner, Stellung und Haftung des fehlerhaft bestellten besonderen Vertreters – die Grundsätze des fehlerhaften Bestellungsverhältnisses im Stresstest, AG 2019, 787; Mörsdorf, Der besondere Vertreter nach § 147 Abs. 2 AktG in Konzernsachverhalten, ZHR 2019, 695; Priester, Bestellung eines besonderen Vertreters (§ 147 AktG), ZIP 2021, 933; Peltzer, Das Zulassungsverfahren nach § 148 AktG wird von der Praxis nicht angenommen! Warum? Was nun?, in: Festschrift U.H. Schneider 2011, S. 953; Redenius-Hövermann/Henkel, Eine empirische Bestandsaufnahme zur Aktionärsklage nach § 148 AktG, AG 2020, 349; K. Schmidt, Verfolgungspflichten, Verfolgungsrechte und Aktionärsklagen: Ist die Quadratur des Zirkels näher gerückt? Gedanken zur Reform der §§ 147 – 149 AktG vor dem Hintergrund der Juristentagsdiskussion des Jahres 2000, NZG 2005, 796; Schmolke, Die Aktionärsklage nach § 148 AktG, ZGR 2011, 398; U.H. Schneider, Der mühsame Weg der Durchsetzung der Organhaftung durch den besonderen Vertreter nach § 147 AktG, ZIP 2013, 1985; Schröer, Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Organmitglieder nach UMAG, ZIP 2005, 2081; Spindler, Haftung und Aktionärsklage nach dem neuen UMAG, NZG 2005, 865; Verhoeven, Der besondere Vertreter nach § 147 AktG – Erwacht ein schlafender Riese?, ZIP 2008, 245; Wandt/James-Schulz, Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen im Rahmen des § 147 Abs. 1 AktG, AG 2023, 389; Westermann, Der besondere Vertreter im Aktienrecht, AG 2009, 237; Wirth, Der „besondere Vertreter“ nach § 147 Abs. 2 AktG – Ein neuer Akteur auf der Bühne?, in: Festschrift Hüffer 2010, S. 1129; Wirth/Pospiech, Der besondere Vertreter gemäß § 147 II Satz 1 AktG als Organ der Aktiengesellschaft?, DB 2008, 2471.

A.

Der besondere Vertreter

I.

Allgemeines

1 Im Regelfall müssen Ersatzansprüche der Aktiengesellschaft gegen den Vorstand oder den Aufsichtsrat von dem jeweils zur Vertretung der Gesellschaft befugten (anderen) Organ geltend gemacht. Allerdings kommt es vor, dass diese bestehende Ansprüche nicht geltend machen (wollen), weil beispielsweise der Aufsichtsrat der Auffassung ist, es gebe entsprechend der Rechtsprechung zu ARAG/Garmenbeck1) gewichtige Gründe, die gegen die Geltendmachung sprechen, oder aber weil die Mitglieder selbst eine Inanspruchnahme fürchten. Mit der Änderung des § 147 AktG durch das UMAG wollte der Gesetzgeber das System der Verfolgungsrechte der Minderheit neu regeln und dabei vor allem die Durchsetzung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Organmitglieder und Gründer erleichtern. Die Hindernisse, welche die bisherige Regelung der Durchsetzung von Ersatzansprüchen durch eine Minderheit in den Weg stellte, und die falschen Anreize, die sie vermittelte, sollen so weit wie möglich beseitigt werden.2) Im Gegensatz zur Rechtsverfolgung durch den Aufsichtsrat bei Ansprüchen gegen den Vorstand aus § 93 AktG bzw. für den Vorstand gegen den Aufsichtsrat aus §§ 116 Satz 1, 93 AktG besteht im Anwendungsbereich des § 147 Abs. 1 AktG für den besonderen Vertreter, aber auch für Vorstand oder Aufsichtsrat eine Pflicht zur Rechtsverfolgung und -durchsetzung ___________ 1) 2)

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Vgl. BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (886 f.). So BT-Drucks. 15/5092, S. 20; zum Normzweck ebenso Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 1; Koch, § 147 Rz. 1; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 16; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 148.

Krenek

A. Der besondere Vertreter

unabhängig von dessen Beurteilung hinsichtlich der Erfolgsaussichten oder der Klage entgegenstehender Gesellschaftsinteressen.3) Bezüglich der Ansprüche, die der besondere Vertreter geltend machen kann, 2 erfasst der Wortlaut Ansprüche aus der Gründung und Nachgründung gegen die nach §§ 46 bis 48, 53 AktG verpflichteten Personen sowie die sich aus der Geschäftsführung ergebenden Ansprüche gegen die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat und die auf einer unzulässigen Einflussnahme beruhenden Ansprüche aus § 117 AktG. Dabei können die Ansprüche auch gegen ausgeschiedene Organmitglieder vom besonderen Vertreter geltend gemacht werden.4) Über den Wortlaut hinaus werden indes auch weitere Ansprüche vom Anwen- 3 dungsbereich des § 147 Abs. 1 AktG erfasst. Dies gilt zunächst für Herausgabe- und Ausgleichsansprüche sowie für Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung, weil auch hier die Gefahr besteht, dass eine effektive Durchsetzung an widerstreitenden Interessen der zur Geltendmachung befugten Organe der Gesellschaft scheitern und die im Ansatz vergleichbare Vorschrift des § 46 Nr. 8 GmbHG auch diese Ansprüche umfasst.5) Bei konzernrechtlichen Ansprüchen aus §§ 310, 318 AktG, die gegen die Mit- 4 glieder von Vorstand und Aufsichtsrat der beherrschten Gesellschaft geltend gemacht werden, kann kein Zweifel bestehen, dass sie unter § 147 Abs. 1 AktG fallen, weil sich Ansprüche aus der Geschäftsführung gegen die Organmitglieder der eigenen, also der beherrschten Gesellschaft richten. Umstritten ist dagegen, wie es sich mit den Ansprüchen aus §§ 309, 317 AktG gegen die herrschende Gesellschaft und deren Verwaltungsmitglieder verhält. Von einer Mindermeinung in der Literatur6) wird dabei die Ansicht vertreten, dies könne nicht angenommen werden, weil die Regelung in §§ 309 Abs. 4, 317 Abs. 4 AktG mit einer eigenen Klagemöglichkeit für die Aktionäre an die Stelle des § 147 Abs. 1 AktG trete. Dem kann indes mit der in Rechtsprechung und Lite___________ 3)

4)

5)

6)

Vgl. Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 180; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 60; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 1; MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 1, 37 und 63 (dort auch zu Einschränkungen vom Grundsatz); Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 148. Allgemeine Meinung; vgl. nur Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 119; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 151; Koch, § 147 Rz. 2; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 149; Kling, ZGR 2009, 190 (201). So zu Recht die h. M.; vgl. Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 3; Großkomm-AktG/ T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 97; Koch, § 147 Rz. 3; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 129, die dies bereits aus dem Wortlaut ableiten wollen; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 149; Kling, ZGR 2009, 190 (201); für § 46 Nr. 8 GmbHG auch BGH NJW 1975, 977 (978); BGH, Urt. v. 21.4.1986 – II ZR 165/85, NJW 1986, 2250 (2251 f.) = ZIP 1986, 979; a. A. MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 30; Mock, NZG 2015, 1013 (1016). So Bürgers/Körber/Lieder/Fett, § 317 Rz. 16; Großkomm-AktG/Koppensteiner, § 317 Rz. 35; Kling, ZGR 2009, 190 (202 ff.)

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

ratur überwiegend vertretenen Auffassung7) nicht gefolgt werden. Hierfür spricht bereits der Wortlaut – „aus der Geschäftsführung entstandene Ansprüche“ schließt konzernrechtliche Verstöße ein, weil auch Vorgänge innerhalb eines faktischen Konzerns Maßnahmen der Geschäftsführung der beherrschten Gesellschaft sind. Zudem zeigt das in § 318 AktG angeordnete Gesamtschuldverhältnis mit dem Ersatzpflichtigen nach § 317 AktG, dass § 147 AktG auch auf die sich gegen das herrschende Unternehmen richtenden Ersatzansprüche insbesondere nach § 317 AktG angewandt werden kann; dieses Gesamtschuldverhältnis gilt über den Wortlaut hinaus für alle Geschäftsführungsverstöße von Vorstand und Aufsichtsrat unter dem Einfluss des herrschenden Unternehmens.8) Auch gesetzessystematische Überlegungen sprechen hierfür, weil § 147 AktG Ansprüche aus § 117 AktG umfasst und sich bei einer faktischen Beherrschung die Haftungstatbestände nach § 117 AktG und § 317 AktG weitgehend decken, wobei diese beiden Vorschriften nach der ganz h. M.9) nebeneinander zur Anwendung gelangen. Zudem spricht auch der Normzweck des § 147 AktG für die hier vertretene Ansicht, weil gerade im faktischen Konzern die Gefahr besonders groß ist, dass die Organe des beherrschten Unternehmens einen Anspruchs gegen das herrschende Unternehmen unter dessen Einfluss nicht von sich aus geltend machen. 5 Ansprüche wegen zu Unrecht ausgezahlter Dividenden aus § 62 Abs. 1 AktG sind dagegen vom Anwendungsbereich des § 147 Abs. 1 AktG nicht umfasst. Ansprüche der Gesellschaft gegen Aktionäre wegen Verstößen gegen das Kapitalerhaltungsgebot, insbesondere aus § 62 AktG, sind der Entscheidungsmacht der Hauptversammlung und dem besonderen Vertreter nach dem Wortlaut der Norm entzogen; eine erweiternde Auslegung kommt nicht in Betracht.10) ___________ 7) Vgl. BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (1557 f.); OLG München, Urt. v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73 (75); OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916 (1918 f.); KG, Beschl. v. 25.8.2011 – 25 W 63/11, ZIP 2012, 1029 (1030); OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627 (631); LG München I, Urt. v. 4.10.2007 – 5HK O 12615/07, ZIP 2007, 2420 (2425); OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.12.2018 – 6 U 215/16, ZIP 2019, 1112 (1120); Urt. v. 16.12.2021 – 6 U 87/20, NZG 2022, 1104 (1110); LG Frankfurt/M., Urt. v. 26.2.2013 – 3-5 O 110/12, NZG 2013, 1181 (1182 f.); Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 4; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 143 ff.; Koch, § 147 Rz. 6; MünchKommAktG/Altmeppen, § 317 Rz. 65 f.; Großkomm-AktG/ T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 109 ff.; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 4; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 44; Krenek, in: Festschrift Heidel, S. 527 (530); Westermann, AG 2009, 237 (242 f.); Bernau, AG 2011, 894 (897 ff.). 8) Vgl. nur Koch, § 318 Rz. 10. 9) Z. B. KG, Beschl. v. 25.8.2011 – 25 W 63/11, ZIP 2012, 1029 (1030); BeckOGK/H.F. Müller AktG, § 317 Rz. 26; Schmidt/Lutter/J. Vetter, § 317 Rz. 43. 10) So OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627 (631); KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 137 und 154; Westermann, AG 2009, 237, 243; Mock, NZG 2015, 1013 (1014); Mock/Goltner, AG 2019, 787 (788), die nur Anfechtbarkeit, nicht aber Nichtigkeit des Beschlusses der Hauptversammlung annehmen wollen; a. A. wohl Heidel/ Lochner, § 147 Rz. 4.

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A. Der besondere Vertreter

Ebenfalls nicht vom Anwendungsbereich des § 147 Abs. 1 AktG umfasst sind 6 Ansprüche, die auf Unterlassung eines Verhaltens gerichtet sind, das ggfs. zu einem Schaden der Gesellschaft führen kann. Hierfür spricht neben dem Wortlaut vor allem das Argument, dass anderenfalls die Hauptversammlung systemwidrig ein im Widerspruch zum Kompetenzgefüge innerhalb der Aktiengesellschaft stehende Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand erhielte.11) II.

Bestellung des besonderen Vertreters

1.

Beschluss der Hauptversammlung

Die Konstellation des § 147 AktG geht in einem ersten Schritt nach Abs. 1 da- 7 von aus, dass die Hauptversammlung die Geltendmachung der von dieser Norm erfassten Ersatzansprüche der Gesellschaft beschließt, wobei dies auch zeitgleich mit dem Beschluss über die Bestellung des besonderen Vertreters erfolgen kann.12) Zur Geltendmachung des Ersatzanspruchs kann aufgrund von § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG die Hauptversammlung besondere Vertreter bestellen, was nach allgemeinen Grundsätzen zwingend durch einen Beschluss erfolgen muss, für den eine einfache Mehrheit genügt.13) Für die Stimmabgabe gelten die allgemeinen Bestimmungen, weshalb auch das Stimmrechtsverbot aus § 136 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 BGB einschlägig ist: daher können die Aktionäre, gegen die sich der Anspruch richtet, nicht mitstimmen, was von besonderer Bedeutung ist, wenn konzernrechtliche Ansprüche gegen den faktisch beherrschenden Großaktionär geltend gemacht werden.14) In dem Beschluss der Hauptversammlung muss die Person des besonderen 8 Vertreters ebenso bezeichnet werden wie die die Ansprüche begründenden Lebenssachverhalte. Der Beschluss muss dabei erkennen lassen, in welcher Weise ein Vorgang zu Schäden der Gesellschaft geführt haben soll und welcher Art ___________ 11) So die h. M., vgl. MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 28; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 3; Koch, § 147 Rz. 4; Mock, NZG 2015, 1013 (1017); AG 2023, 389 (390 f.) im Grundsatz auch Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 102; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 131 die diese Ansprüche lediglich als Annex zulassen wollen; a. A. Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 147 Rz. 3. 12) Vgl. nur BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (1555); OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2017, 627(634); KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 16; DB 2020, 2058 (2061). 13) Vgl. nur KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 201; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 7; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 150. 14) Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.12.2021 – 6 U 87/20, NZG 2022, 1104 (1110); KKAktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 203; Koch, § 147 Rz. 7; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 67; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 7; Mörsdorf, ZHR 2019, 695 (701); insoweit unterscheidet sich die Rechtslage deutlich von der bei der Sonderprüfung, bei der der Großaktionär keinem Stimmrechtsverbot unterliegt, wenn es um die Anordnung einer Sonderprüfung geht, selbst wenn die Vorgänge der Geschäftsführung einen Bezug zu ihm haben, vgl. hierzu Schmidt/Lutter/Spindler, § 142 Rz. 30 m. w. N.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

diese Schäden sein sollen. Demgemäß müssen die anspruchsbegründenden Sachverhalte so genau beschreiben werden, dass im Falle einer späteren Klageerhebung durch den besonderen Vertreter festgestellt werden kann, ob der Gegenstand der Klage mit den von der Hauptversammlung bezeichneten und gemeinten Ansprüchen übereinstimmt.15) Dabei dürfen die Anforderungen an die Bestimmtheit und Konkretisierung des Lebenssachverhalts nicht überspannt werden, weil ungeachtet des Fragerechts in der Hauptversammlung nach § 131 Abs. 1 AktG die Aktionäre nicht über alle Informationen verfügen werden, die den besonderen Vertreter unmittelbar in die Lage versetzen, einen entsprechenden Anspruch geltend zu machen – anderenfalls würde dieses Minderheitenrecht zu stark entwertet; auch bestünde bei Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsund/oder Aufsichtsratsmitglieder die Gefahr eines Wertungswiderspruchs zu den Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast bei Ansprüchen aus § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, wo die Darlegung der Möglichkeit einer objektiven Pflichtverletzung ausreichend ist. Es wird folglich nicht verlangt werden können, dass die Beschlussfassung auf Grundlage eines Sachverhalts erfolgt, aus dem sich der geltend gemachte Anspruch schlüssig ergibt oder zumindest eine konkrete Wahrscheinlichkeit hierfür besteht.16) Auch eine substantiierte Behauptung der Pflichtverletzung wird die Anforderungen an die Bestimmtheit überspannen.17) 9 Eine Nichtigkeit des Bestellungsbeschlusses wird im Falle fehlender Bestimmtheit mit dem BGH18) nur dann anzunehmen sein, wenn die Ersatzansprüche ___________ 15) So BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (1555 f.); OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916 (1921); OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 9.10.2003 – 20 W 487/02, AG 2004, 104 (105); OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.11.2008 – 8 W 370/09, AG 2009, 169 (170); KG, Beschl. v. 25.8.2011 – 25 W 63/11, ZIP 2012, 1029 (1031); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.6.2014 – 11 Wx 49/14, ZIP 2015, 125 (128); Urt. v. 14.3.2018 – 11 U 35/17, ZIP 2018, 627 (629); OLG Köln, Urt. v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, ZIP 2017, 1211 (1215 f.); LG Duisburg, Urt. v. 16.3.2013 – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379 (1380); BeckOGK/ Mock AktG, § 147 Rz. 71 f.; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 137 ff.; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 9; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 151; Verhoeven, ZIP 2008, 245 (249); Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653 (654); in die hier vertretene Richtung wohl auch Schmidt/ Lutter/Spindler, § 147 Rz. 9, der aber die Erkennbarkeit im Sinne eines „Anfangsverdachts“ verlangt; letztlich offen gelassen in BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (1556); krit. auch Koch, § 147 Rz. 10, der zur Verhinderung einer Sachverhaltsausforschung das Bestimmtheitserfordernis über dem des § 142 Abs. 1 AktG ansiedeln will. 16) So aber LG Köln, Urt. v. 14.1.2016 – 91 = 31/15, ZIP 2016, 162 (163); Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653 (654 ff.); ähnlich auch KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 179 ff.; wie hier: BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (1555); OLG Köln, Urt. v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, ZIP 2015, 2470 (2472); OLG Köln, Urt. v. 9.3.2017 – 18 U 19/16, ZIP 2017, 1211 (1215 f.); Krenek, in: Festschrift Heidel, S. 527 (532). 17) So aber OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.12.2018 – 6 U 215/16, ZIP 2019, 1112 (1120 f.) Priester, ZIP 2021, 933 (934); Bayer, AG 2016, 637 (650 f.). 18) BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, ZIP 2020, 1554 (1555); ebenso OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916 (1917, 1919); OLG Köln, Urt. v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, ZIP 2015, 2479 (2471).

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Krenek

A. Der besondere Vertreter

nicht hinreichend individualisierbar sind. Es liegt namentlich kein Verstoß gegen das Wesen der Aktiengesellschaft vor. Obwohl die Bestellung des besonderen Vertreters das Kompetenzgefüge der AG ausschnittsweise ändert, führt ein auf unzureichenden Verdachtsmomenten beruhender Fehler bei der Bestellung nicht automatisch zu einem gemäß § 241 Nr. 3 AktG mit dem Wesen der AG nicht zu vereinbarenden Eingriff in dieses Kompetenzgefüge. Zum besonderen Vertreter kann jede natürliche Person bestellt werden, die auch 10 nicht zwingend Aktionär der betroffenen Gesellschaft sein muss. Ein Vergleich mit §§ 76, 100 AktG macht zugleich klar, dass eine juristische Person hierfür nicht geeignet sein kann, weil der besondere Vertreter die Aufgaben der Anspruchswahrnehmung an Stelle der von der Grundkonzeption des Aktiengesetzes her vorgesehenen Organe „Vorstand“ und „Aufsichtsrat“ ausübt.19) Eine besondere Qualifikation sieht das Gesetz nicht vor, wobei auch Neutralität nicht zwingend gefordert werden kann.20) Doch sollte die zum besonderen Vertreter bestellte Person persönlich und fachlich geeignet sein, Ansprüche geltend zu machen,21) weshalb in der Regel ein Rechtsanwalt bestellt werden wird. Wenn der Beschluss über die Bestellung des besonderen Vertreters infolge einer 11 Anfechtungsklage für nichtig erklärt wird, so hat dies aufgrund der auch hier anwendbaren Regelung des § 241 Nr. 5 AktG die Folge, dass der Beschluss mit Wirkung von Anfang an als nichtig anzusehen ist. Ungeachtet dessen bleiben aber Maßnahmen des besonderen Vertreters, die dieser in der Zwischenzeit getroffen hat, wirksam, weil hier die Lehre von der fehlerhaften Organbestellung Anwendung findet.22) 2.

Bestellung durch das Gericht

Aufgrund von § 147 Abs. 2 Satz 2 AktG hat das Gericht auf Antrag von Aktio- 12 nären, deren Anteil zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals oder den ___________ 19) So die ganz h. M.; vgl. nur MünchKommAktG/Schröer, 3. Aufl., § 147 Rz 43; GroßkommAktG/Bezzenberger, 4. Aufl., § 147 Rz. 43; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 24; Bürgers/Körber/ Lieder/Holzborn/Jänig, § 147 Rz. 11; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 152; a. A. wenig überzeugend KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 292; MünchKommAktG/Arnold, § 147 Rz. 76; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 331; Verhoeven, ZIP 2008, 245 (248). 20) Vgl. KG, Beschl. v. 16.12.2011 – 25 W 92/11, AG 2012, 328 f.; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 152; in diese Richtung auch MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 75, der nur bei Vorliegen eines Interessenkonflikts einen Ausschlussgrund annehmen will. 21) Vgl. Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 147 Rz. 11; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 152. 22) Vgl. BGH, Beschl. v. 27.9.2011 – II ZR 225/08, ZIP 2011, 2195 f.; OLG München, Beschl. v. 20.10.2010 – 7 W 2040/10, ZIP 2010, 2202 (2204); LG München I, Urt. v. 6.9.2007 – 5HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809 (1814 f.); KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 331; Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 147 Rz. 10a; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 115; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 153; Verhoeven, ZIP 2008, 245 (254); Bayer/ Lieder, NZG 2012, 1 (8 f.); Mock/Goltner, AG 2019, 787 (789); Lochner/Beneke, ZIP 2020, 351 (353); a. A. Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 242; krit. auch Westermann, AG 2009, 237 (245).

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

anteiligen Betrag von 1 Mio. € erreichen, als Vertreter der Gesellschaft zur Geltendmachung des Ersatzanspruchs andere als die nach §§ 78, 12 AktG oder nach § 147 Abs. 2. Satz 1 AktG zur Vertretung der Gesellschaft berufene Personen zu bestellen, wenn ihm dies für eine gehörige Geltendmachung zweckmäßig erscheint. In diesem Fall wird das Amtsgericht – Registergericht – im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit tätig. Die Zuständigkeit richtet sich dabei nach §§ 375 Nr. 3, 376 Abs. 1 FamFG, weshalb nur das beim Landgericht ansässige Amtsgericht zuständig ist; die örtliche Zuständigkeit richtet sich gemäß §§ 14 AktG, 377 FamFG nach dem Sitz der Gesellschaft. 13 Die Formerfordernisse beurteilen sich daher nach § 25 Abs. 1 FamFG, weshalb der Antrag schriftlich eingereicht oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden kann. Außer der Erreichung des Quorums setzt die Zulässigkeit des Antrags indes weiter voraus, dass die Hauptversammlung einen entsprechenden Beschluss nach § 147 Abs. 1 AktG gefasst hat, wobei dem Antrag die entsprechenden Nachweise beizufügen sind.23) 14 In § 147 Abs. 2 Satz 2 AktG wird dem Gericht inhaltlich vorgegeben, dass der besondere Vertreter bestellt wird, wenn es dem Gericht zweckmäßig erscheint. Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn das Bestehen eines Anspruchs glaubhaft gemacht ist, wobei aber die Erfolgsaussichten vom Gericht nicht überprüft werden können, weil dies einem nachfolgenden Rechtsstreit der Aktiengesellschaft gegen die in Anspruch zu nehmenden Gegner vorbehalten sein muss, und sich die Ansprüche gegen den Vorstand und den Aufsichtsrat richten.24) Ein besonderer Vertreter wird dann zu bestellen sein, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine sachgerechte Geltendmachung durch den Vorstand, den Aufsichtsrat oder den von der Hauptversammlung bestellten besonderen Vertreter nicht zu erwarten sind, weil dann deren Neutralität und Unabhängigkeit nicht gesichert erscheinen; dies ist vor allem bei einer bisherigen Untätigkeit hinsichtlich der Anspruchsverfolgung anzunehmen.25) 15 Gegen den Beschluss des Amtsgerichts – Registergerichts – ist gemäß § 147 Abs. 2 Satz 4 AktG die Beschwerde als statthaftes Rechtsmittel gegeben. Umstritten ist, inwieweit auch ein durch einen Beschluss abberufener besonderer Vertreter beschwerdeberechtigt ist. Die h. M.26) bejaht dies wohl zu Recht. ___________ 23) Vgl. Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 16. 24) So OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 9.10.2003 – 20 W 487/02, AG 2004, 104 (105); Schmidt/ Lutter/Spindler, § 147 Rz. 18; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 388; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 21; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 157. 25) Vgl. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 392; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 18. 26) So z. B. Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 20; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 146.2; Westermann, AG 2009, 237 (239); a. A. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 427 unter Hinweis darauf, der abberufene besondere Vertreter sei nicht in einem geschützten Recht verletzt.

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A. Der besondere Vertreter

III.

Rechtsstellung des besonderen Vertreters

Das Gesetz schweigt in § 147 AktG zu der Stellung, die dem besonderen Ver- 16 treter im Verhältnis zur Gesellschaft zukommt. Da er in seinem Zuständigkeitsbereich die zur Anspruchsverfolgung zuständigen Organe Vorstand und den Aufsichtsrat verdrängt, muss der besondere Vertreter insoweit als Organ der Aktiengesellschaft angesehen werden.27) Neben dieser den Bestellungsbeschluss betreffenden Ebene muss daneben auch 17 die vertragliche Beziehung zwischen dem besonderen Vertreter und der Gesellschaft beleuchtet werden. Durch den Bestellungsbeschluss und die Annahme der Bestellung durch den besonderen Vertreter kommt es zugleich zum Abschluss eines Geschäftsbesorgungsvertrages zwischen dem besonderen Vertreter und der Aktiengesellschaft, dessen Inhalt sich nach den gesetzlichen Vorgaben der §§ 675, 611 ff. BGB richtet.28) Beim Fehlen einer entsprechenden Regelung zur Vergütung gilt dann auch die 18 Vorschrift des § 612 Abs. 2 BGB, weshalb neben der auf §§ 675, 670 gestützten Auslagenerstattung vor allem eine übliche Vergütung zu bezahlen ist, die sich an der Qualifikation des besonderen Vertreters sowie dem Umfang und der Dauer seiner Aufgabe orientieren wird.29) Im Falle einer Bestellung durch das Gericht folgt die Vergütungspflicht unmittelbar aus § 142 Abs. 2 Satz 5 AktG, wonach die gerichtlich bestellten Vertreter von der Gesellschaft den Ersatz angemessener barer Auslagen und eine Vergütung ihrer Tätigkeit verlangen können. Beides wird gemäß § 147 Abs. 2 Satz 6 AktG vom Gericht festgesetzt.

___________ 27) So die heute h. M:, vgl. BGH, Beschl. v. 27.9.2011 – II ZR 225/08, ZIP 2011, 2195; BGH, Beschl. v. 28.4.2015 – II ZB 19/14, ZIP 2015, 1286; BGH, Urt. v. 21.6.2022 – II ZR 181/21, ZIP 2022, 1749 (1750); LG München I, Urt. v. 27.8.2009 – 5HK O 21656/08, ZIP 2009, 2198 (2199 f.); LG Duisburg, Urt. v. 16.3.2013 – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379 (1380); Urt. v. 9.6.2016 – 22 O 50/16, AG 2016, 795 (796); LG Heidelberg, Urt. v. 9.8.2019 – 4 O 366/18, ZIP 2020, 416; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 169; Koch, § 147 Rz. 23; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 518 ff.; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 23; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 16 und 24; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 399; Mehrbrey/ Krenek, § 6 Rz. 159; Kling, ZGR 2009, 190 (212); Mock, DB 2008, 393 (395); ders., AG 2008, 839 (840); Bayer/Lieder, NZG 2012, 1 (8); Mörsdorf, ZGR 2019, 695 (704 ff.); a. A. OLG München, Urt. v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73 (79); Wirth, in: Festschrift Hüffer, S. 1129 (1144 ff.); Wirth/Pospiech, DB 2008, 2471 (2473 f.), die jeweils allenfalls eine organähnliche Stellung bejahen wollen; ähnlich auch Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/ Jänig, § 147 Rz. 13, die eher eine Nähe zum Sonderprüfer annehmen, der kein Organ ist. 28) Vgl. nur KG, Beschl. v. 16.12.2011 – 25 W 92/11, AG 2012, 328 (329); Heidel/Lochner, § 147 Rz. 25; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 263; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/ Schmolke, § 147 Rz. 583. 29) Vgl. KG, Beschl. v. 16.12.2011 – 25 W 92/11, AG 2012, 328 (329); Schmidt/Lutter/ Spindler, § 147 Rz. 38; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 444; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 160 f.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

IV.

Rechte und Pflichten des besonderen Vertreters

19 Da die zentrale Aufgabe des besonderen Vertreters nach der Regelung in § 147 AktG in der Geltendmachung von Ersatzansprüchen besteht, muss ihm auch die Möglichkeit eröffnet sein, die hierzu erforderlichen Informationen zu erlangen. Mittlerweile besteht in Rechtsprechung und Literatur weithin Einigkeit, dass ihm auch gegen den Willen von Vorstand und Aufsichtsrat ein Auskunftsund Einsichtsrecht in diejenigen Bücher und Schriften zustehen muss, deren Einsichtnahme zur Geltendmachung von Ansprüchen notwendig ist, auch wenn es hierfür eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage nicht gibt und daher von einer Annexkompetenz auszugehen sein wird.30) Umstritten ist dabei allerdings, in welchem Umfang dem besonderen Vertreter entsprechende Informationsrechte zukommen. Dabei wird davon auszugehen sein, dass ihm nicht nur hinsichtlich der Auswahl der einzusehenden Unterlagen ein weiter Ermessensspielraum zukommt, der lediglich der Missbrauchsschranke im Sinne einer unsachgemäßen Ausübung des Ermessens unterliegt,31) sondern dass der besondere Vertreter im Rahmen diesen Ermessens auch ein Zutrittsrecht zu den Räumlichkeiten des Unternehmens hat und unter Beachtung der Vorgaben des Betriebsverfassungsrechts auch Mitarbeiter befragen kann, die mit dem anspruchsbegründenden Sachverhalt befasst waren.32) 20 Werden dem besonderen Vertreter die entsprechenden Informationen seitens der Gesellschaft nicht erteilt, so kann er dies mittels einstweiliger Verfügung nach §§ 935 ff. ZPO durchsetzen, wobei sich der Verfügungsgrund unmittelbar aus der Regelung in § 147 Abs. 1 Satz 2 AktG ergibt, wonach der Ersatzan___________ 30) Vgl. nur OLG München, Urt. v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73 (77); OLG Köln, Urt. v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, ZIP 2015, 2470 (2471); LG München I, Urt. v. 6.9.2007 – 5HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809 (1812); LG Duisburg, Urt. v. 16.3.2013 – 22 O 12/13, ZIP 2013, 1379 (1380); LG Duisburg, Urt. v. 9.6.2016 – 22 O 50/16, AG 2016, 795 (796 f.) = ZIP 2016, 1970; LG Heidelberg, Urt. v. 4.12.2015 – 11 O 37/15 (KfH), AG 2016, 182; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 28 f.; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 621 ff.; Koch, § 147 Rz. 26; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 24; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 211 ff.; Verhoeven, ZIP 2008, 245 (246 f.); Kling, ZGR 2009, 190 (218); U.H. Schneider, ZIP 2013, 1985 (1987); Wirth, in: Festschrift Hüffer, S. 1129/1141 f.); a. A. Informationsrechte rundweg ablehnend Humrich, NZG 2014, 441 (444 ff.); auch Mörsdorf, ZGR 2019, 695 (715 ff.), der die Bestellung des besonderen Vertreters auch zum Sonderprüfer anregt, um das damit verbundene Dilemma aufzulösen. 31) So OLG Köln, Urt. v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, ZIP 2015, 2470 (2471); LG Duisburg, Urt. v. 9.6.2016 – 22 O 50/16, AG 2016, 795 (796 f.) = ZIP 2016, 1970. 32) Wie hier LG München I, Urt. v. 6.9.2007 – 5HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809 (1815); Heidel/Lochner, § 147 Rz. 24; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 214.1; MünchKommAktG/ Schröer, 3. Aufl., § 147 Rz. 50 Verhoeven, ZIP 2008, 245 (247); U.H. Schneider, ZIP 2013, 1985 (1987); a. A. OLG München, Urt. v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73 (79); KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 642; MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 93; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 33a, der es aber zulässt, dass der Vorstand auf Ersuchen des besonderen Vertreters eine Befragung ermöglicht; Wirth, in: Festschrift Hüffer, S. 1129 (1139 ff.).

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A. Der besondere Vertreter

spruch binnen einer Frist von sechs Monaten seit dem Tag der Hauptversammlung geltend gemacht werden soll.33) Dagegen wird ihm ein Rede- und Teilnahmerecht jedenfalls dann nicht zuge- 21 standen werden können, wenn kein konkreter Bezug zu einem Tagesordnungspunkt besteht, weil die Hauptversammlung kein Forum zur Diskussion außerhalb ihrer Zuständigkeit liegender Aspekte ist.34) Die Befugnis zur Beantwortung von Fragen der Aktionäre auf der Hauptversammlung steht ihm selbst dann nicht zu, wenn die Geltendmachung der Ansprüche Gegenstand der Tagesordnung ist; Fragen müssen aufgrund von § 131 Abs. 1 AktG vom Vorstand beantwortet werden, auch wenn sie nicht in seinen originären Zuständigkeitsbereich fallen: weder aus den Berichtspflichten des Aktienrechts noch aus § 666 BGB analog lässt sich eine entsprechende Befugnis ableiten.35) Angesichts seiner Stellung als Organ der Gesellschaft trifft ihn in seinem Auf- 22 gabenbereich eine besondere Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft, deren Rechtsgrund in dem Vertrag mit der Gesellschaft liegt und notwendig ist, weil auch der besondere Vertreter über fremde Vermögensinteressen verfügt, sowie auch die Verschwiegenheitspflicht.36) Ebenso muss er in seinem Zuständigkeitsbereich die den Vorstand treffenden Pflichten wie insbesondere die Beachtung der Ad hoc-Publizität aus Art. 17 Abs. 1 MMVO erfüllen.37) Verletzt der besondere Vertreter seine ausschließlich der gegenüber der Gesell- 23 schaft bestehenden Pflichten bei der Anspruchsverfolgung, so ist er der Gesellschaft in analoger Anwendung von § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG zum Schadens___________ 33) Vgl. nur OLG München, Urt. v. 28.11.2007 – 7 U 4498/07, ZIP 2008, 73 (77); OLG Köln, Urt. v. 4.12.2015 – 18 U 149/15, ZIP 2015, 2470 (2472); LG Heidelberg, Urt. v. 4.12.2015 – 11 O 37/15 (KfH), AG 2016, 182 (183 f.); LG Duisburg, Urt. v. 9.6.2016 – 22 O 50/16, AG 2016, 795 (797 f.) = ZIP 2016, 1970. 34) So LG München I, Beschl. v. 28.7.2008 – 5HK O 12504/08, ZIP 2008, 1588 (1589 f.); KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 667; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 164; in dieser Richtung auch BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 224, Mock, AG 2008, 839 (843 f.), wo ein Bezug zur Tagesordnung verlangt wird; a. A. Heidel/Lochner, § 147 Rz. 24; Böbel, S. 123. 35) So LG München I, Beschl. v. 28.7.2008 – 5HK O 12504/08, ZIP 2008, 1588 (1589 f.); Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 164; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 36; Wirth, in: Festschrift Hüffer, S. 1129 (1151); Kling, ZGR 2009, 190 (219 f.); im Grundsatz auch BeckOGK/ Mock AktG, § 147 Rz. 223, der aber eine Ausnahme annimmt, wenn Ansprüche gegen den Vorstand und den Aufsichtsrat geltend gemacht werden; a. A. KK-AktG/Rieckers/ J. Vetter, § 147 Rz. 566 f.; MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 103; MünchHdb GesR IV/ Bungert, § 43 Rz. 44; Leyens, ZGR 2019, 544 (571). 36) Nahezu einhellige Auffassung; vgl. BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 188; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 583 ff.; Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 147 Rz. 13; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 572 ff.; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 166; MünchHdb GesR IV/Bungert, § 43 Rz. 44. 37) Vgl. BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 202; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 37; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 166; Mock, AG 2008, 839 (847 f.); a. A. KK-AktG/Rieckers/ J. Vetter, § 147 Rz. 574.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

ersatz verpflichtet; wenn er Organ ist und die an sich für die Geltendmachung von Ansprüchen zuständigen Organe verdrängt, so ist es nur konsequent, dass die für die Organhaftung entwickelten Grundsätze auch auf ihn Anwendung gelangen und nicht die allgemeine Haftungsnorm des § 280 Abs. 1 BGB.38) V.

Geltendmachung der Ansprüche

24 Bei der Geltendmachung der Ansprüche im Namen der Aktiengesellschaft ist der besondere Vertreter sowohl zur außergerichtlichen wie auch zur gerichtlichen Geltendmachung befugt, wobei ihm ein Ermessen hinsichtlich der zweckmäßigsten Verfolgung zusteht.39) § 147 Abs. 1 Satz 2 AktG regelt, dass die Geltendmachung innerhalb einer Frist von sechs Monaten seit dem Tag der Hauptversammlung erfolgen soll. Dabei kann er zur gerichtlichen Durchsetzung auch im Namen der Aktiengesellschaft Rechtsanwälte mandatieren, weil er seiner Aufgabe andernfalls nicht mit der gebotenen Effektivität nachkommen kann und das Aktienrecht keine Qualifikation als Rechtsanwalt vorsieht.40) 25 Im Erkenntnisverfahren über Vergütungsansprüche des vom besonderen Vertreter im Namen der Gesellschaft mit der Geltendmachung von Ersatzansprüchen beauftragten Rechtsanwalt vertritt der besondere Vertreter jedenfalls dann die Aktiengesellschaft, wenn dieses Vertreter rechtshängig wird, bevor die Vertreter der Ersatzansprüche durch den besonderen Vertreter abgeschlossen ist. Zu einer sachgerechten Wahrnehmung der Aufgaben gehört auch die Anleitung und Überwachung der im Namen der Gesellschaft eingesetzten Hilfspersonen bei ihrer Tätigkeit einschließlich der Prüfung, ob der Auftrag sachgerecht erfüllt wurde. Eine systemwidrige Verfügungsmacht über das Vermögen der Gesellschaft ist damit nicht verbunden.41) Angesichts dieser Ausgangslage ___________ 38) Vgl. Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 23; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 194.3, der aber mit Blick auf den Geschäftsbesorgungsvertrag die Anwendbarkeit von § 280 Abs. 1 BGB nicht völlig ausschließen will; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 167; Großkomm-AktG/ T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 598 ff., der unter Rz. 603 für allein aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag ableitbare Pflichten § 280 Abs. 1 BGB anwendet; Böbel, S. 114; Kling, ZGR 2009, 190 (225 f.); U.H. Schneider, ZIP 2013, 1985 (1991); Mock/Goltner, AG 2019, 787 (789); Lochner/Beneke, ZIP 2020, 351 (352); a. A. ausschließlich auf § 280 Abs. 1 BGB mit dem Geschäftsbesorgungsvertrag abstellend Koch, § 147 Rz. 37; MünchKommAktG/ M. Arnold, § 147 Rz. 107; Verhoeven, ZIP 2008, 245 (251); Mörsdorf, ZGR 2019, 695 (708 ff.). 39) Unstreitig; vgl. nur BGH, Urt. v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, NJW 1981, 1097 (1098); BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 175 und 190; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 11 und 27; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 232; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/ Schmolke, § 147 Rz. 181 und 190 f.; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 168. 40) Vgl. BGH, Urt. v. 21.6.2022 – II ZR 181/21, ZIP 2022, 1749 (1750); ebenso LG Heidelberg, Urt. v. 9.8.2019 – 4 O 366/18, ZIP 2020, 416 (417 f.) m. w. N., wobei das Gericht für ein Anerkenntnis Bezug auf Honorarforderungen der mandatierten Kanzlei zutreffend keine Zustimmung der Hauptversammlung fordert; aus der Lit. nur BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 186. 41) So überzeugend BGH, Urt. v. 21.6.2022 – II ZR 181/21, ZIP 2022, 1749 (1751); a. A. Schulze, jurisPR-HaGesR 1/2022 Anm. 6.

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A. Der besondere Vertreter

wird dies aber auch dann zu gelten haben, wenn die Geltendmachung der Ansprüche bereits abgeschlossen ist, weil die Aufgabenzuteilung an den besonderen Vertreter hinsichtlich der von ihm mandatierten Hilfskräfte zur Durchsetzung andauert, und der Normzweck, Ansprüche nach § 147 Abs. 1 AktG unabhängig von Vorstand und Aufsichtsrat zu verfolgen, fortdauert. Dem besonderen Vertreter kommt bei der Geltendmachung kein eigener Beur- 26 teilungsspielraum zu, und er kann sich dabei insbesondere auch nicht auf die Grundsätze der Business Judgment Rule berufen.42) Wenn sich im Laufe der Arbeiten des besonderen Vertreters indes herausstellt, dass die Anspruchsverfolgung ohne Aussicht auf Erfolg ist, wird er verpflichtet sein, einen revidierenden Beschluss der Hauptversammlung herbeizuführen oder sein Amt niederzulegen, es sei denn, der Ausgangsbeschluss hätte ihm bereits ein Recht zum Absehen von der Geltendmachung eingeräumt.43) Für die Beendigung eines Verfahrens zur Anspruchsdurchsetzung gelten die 27 Beschränkungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG in gleicher Weise auch für den besonderen Vertreter. Dies bedeutet, dass er einen Vergleich nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 93 Abs. 3 Satz 4 AktG mit der zeitlichen Sperre und der Notwendigkeit eines Beschlusses der Hauptversammlung abschließen darf, wenn Ansprüche gegen Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats geltend gemacht werden.44) VI.

Beendigung der Rechtsstellung

Im Falle der Bestellung des besonderen Vertreters durch die Hauptversamm- 28 lung hat diese jederzeit die Möglichkeit, ihn bis zum Abschluss seiner Tätigkeit wieder mittels neuerlicher Beschlussfassung abzuberufen, wobei auch hier die allgemeinen Grundsätze zur Beschlussfassung einer Hauptversammlung gelten. Eines wichtigen Grundes bedarf es hierzu nicht; die Entscheidung obliegt dem ___________ 42) Vgl. OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916 (1920); LG Berlin, Urt. v. 9.9.2011 – 100 O 35/11; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 231 und 531; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 24. 43) So vor allem OLG München, Urt. v. 27.8.2008 – 7 U 5678/07, ZIP 2008, 1916 (1920); LG München I, Urt. v. 6.9.2007 – 5HK O 12570/07, ZIP 2007, 1809 (1813); GroßkommAktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 191; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 541; Schmidt/Lutter/Spindler, § 147 Rz. 24 f.; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 169; Wirth, in: Festschrift Hüffer, S. 1129 (1142), BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 190; a. A. insbesondere MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 63 und 83, der dem besonderen Vertreter das Recht einräumen will, ohne Weiteres von der Verfolgung im Falle der Aussichtslosigkeit abzusehen. 44) Ganz h. M., Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 192; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 534; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 181.2; Schmidt/ Lutter/Spindler, § 147 Rz. 26; MünchKommAktG/Schröer, § 147 Rz. 66; in diese Richtung auch BGH, Urt. v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, NJW 1981, 1097 (1098); a. A. wohl Westermann, AG 2009, 237 (240 f.).

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

(freien) Ermessen der Hauptversammlung.45) Mit der Beschlussfassung über die Abberufung geht einher die Kündigung des Geschäftsbesorgungsvertrages, der dadurch gleichfalls mit Wirkung für die Zukunft beendet wird.46) 29 Erfolgte die Bestellung durch das Gericht, so endet die Bestellung des besonderen Vertreters mit der Bestellung eines neuen besonderen Vertreters durch das Gericht, wobei ein derartiger Antrag sowohl von einer qualifizierten Aktionärsminderheit gestellt werden als auch von der an dem Verfahren beteiligten Gesellschaft gestellt werden kann.47) Dagegen kann die Hauptversammlung den vom Gericht bestellten besonderen Vertreter nicht abberufen.48) 30 Unabhängig von der Art der Erlangung des Amtes wird dieses beendet durch die Beendigung seiner Tätigkeit entsprechend seiner Aufgabe, die Amtsniederlegung oder durch seinen Tod.49) Wie bei allen anderen Organen auch führt die Verschmelzung der Gesellschaft als übertragender Rechtsträger mit einem anderen Rechtsträger ebenfalls zur Beendigung der Rechtsstellung.50) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt nicht zum automatischen Erlöschen der Rechtsstellung des besonderen Vertreters; sie ruht nur, solange sie mit Rücksicht auf die Rechte des Insolvenzverwalters nicht ausgeübt werden kann.51) B.

Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

31 Durch das UMAG novellierte der Gesetzgeber auch das Klagezulassungsverfahren des § 148 AktG grundlegend. Die neu gefasste Regelung sollte ebenso wie der geänderte § 147 AktG die Durchsetzung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Organmitglieder und Gründer erleichtern sowie Hindernisse und falsche Anreize bei der Anspruchsverfolgung beseitigen, andererseits aber ___________ 45) Vgl. BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZA 4/12 2013, ZIP 2013, 1467 (1468); OLG München, Urt. v. 3.3.2010 – 7 U 4744/09, ZIP 2010, 725 (728); Spindler/Stilz/Mock, § 147 Rz. 116; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 350 und 353; BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 242; Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 147 Rz. 14b; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 461 f.; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 172; a. A. Heidel/Lochner, § 147 Rz. 30 wenig überzeugend unter Hinweis auf § 84 Abs. 4 AktG. 46) Vgl. BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 246; Heidel/Lochner, § 147 Rz. 30; Schmidt/Lutter/ Spindler, § 147 Rz. 39. 47) Vgl. Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 370 und 372; MünchKommAktG/M. Arnold, § 147 Rz. 133; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 175; a. A. KK-AktG/Rieckers/ J. Vetter, § 147 Rz. 4 in Bezug auf Vorstand und Aufsichtsrat. 48) Vgl. Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 147 Rz. 376; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 175. 49) Vgl. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 455; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 176 jeweils m. w. N. 50) BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZA 4/12, ZIP 2013, 1467 f.; BGH, Urt. v. 8.1.2019 – II ZR 94/17, AG 2019, 682; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 176. 51) Vgl. BGH, Urt. v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, NJW 1981, 1097 (1098); BeckOGK/Mock AktG, § 147 Rz. 163; Mehrbrey/Krenek, § 6 Rz. 176.

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B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

durch das vorgeschaltete Verfahren offensichtlich aussichtslose Klagen ausfiltern.52) Die Praxis hat indes gezeigt, dass dieses Verfahren nur wenig angewandt wird.53) I.

Materielle Voraussetzungen des Klagezulassungsverfahrens

Die materiellen Voraussetzungen regelt § 148 Abs. 1 AktG, wobei sich zwei 32 Voraussetzungen auf den Aktionär und dessen Verhalten beziehen und zwei Voraussetzungen in Zusammenhang mit den Ersatzansprüchen in Zusammenhang stehen, die mit denen des § 147 AktG identisch sind. Die Zulassung können aufgrund von § 148 Abs. 1 Satz 1 AktG nur Aktionäre 33 beantragen, die im Zeitpunkt der Antragstellung zusammen den einhundertsten Teil des Grundkapitals oder einen anteiligen Betrag von 100.000 € erreichen, wobei die Klage gemäß § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG nur dann zuzulassen ist, wenn die Aktionäre den Nachweis führen, dass sie die Aktien vor dem Zeitpunkt erworben haben, in dem sie oder im Falle der Gesamtrechtsnachfolge ihre Rechtsvorgänger von den behaupteten Pflichtverstößen oder dem behaupteten Schaden aufgrund einer Veröffentlichung Kenntnis erlangen mussten. Die Inhaber stimmrechtsloser Vorzugsaktien können zu dem Quorum beitragen, weil sich ihr Rechtsverlust gemäß §§ 139 ff. AktG ausschließlich auf das Stimmrecht in der Hauptversammlung bezieht; ruhen dagegen Rechte aus den Aktien beispielsweise wegen unterbliebener Mitteilungspflichten gemäß § 20 Abs. 7 AktG oder § 44 WpHG, so können diese Aktien nicht mitgerechnet werden.54) Bei der Ermittlung des Quorums ist auf das gesamte Grundkapital abzustellen, auch wenn die Aktiengesellschaft eigene Aktien hält, weil bei § 148 Abs. 1 AktG eine gesetzliche Anordnung über das Absetzen eigener Aktien vom Grundkapital fehlt.55) Es schadet nicht, dass nur mehrere Aktionäre zusammen das Quorum erreichen und sodann gemeinsam den Antrag stellen; ___________ 52) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 20, ebenso zum Normzweck Spindler/Stilz/Mock, § 148 Rz. 2; Mehrbrey/Witte/Gossen, § 9 Rz. 69; Schmolke, ZGR 2011, 398 (401). 53) Beim LG München I wurden seit dem Inkrafttreten am 1.11.2005 drei Verfahren einer Entscheidung zugeführt, vgl. LG München I, Beschl. v. 29.3.2007 – 5HK O 12931/06, AG 2007, 458; Beschl. v. 10.5.2012 – 5HK O 29689/11; Beschl. v. 20.5.2021 – 5HK O 5027/18; auch Lutter, in: Festschrift Uwe H. Schneider, S. 763 (765); Peltzer, in: Festschrift Uwe H. Schneider, S. 953 ff., insbes. 955 Fn. 7; Dietz-Vellmer, in: Festschrift Heidel, S. 441 (444); Lochner, in: Festschrift Heidel, S. 547 (548 ff.), der namentlich den fehlenden Zugang des Aktionärs zu Informationen als Ursache benennt; Bachmann, NJW-Beil. 2014, 43 (44); Mock, JuS 2015, 590 (594); ausführlich Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349 ff.; auch Schmolke, ZGR 2011, 398 (402 ff.), der auch zu Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf diesen Befund Stellung nimmt. 54) Vgl. BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 63; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 192 und 206; Koch, § 148 Rz. 4 und § 142 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 10 und § 142 Rz. 39; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 4. 55) So v. a. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 147 Rz. 204; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/ Schmolke, § 148 Rz. 9; a. A. BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 63.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

in diesem Fall bilden sie regelmäßig eine BGB-Innengesellschaft.56) Nach dem Gesetzeswortlaut muss das Quorum im Zeitpunkt der Antragstellung erfüllt sein; ein späteres Absinken unter den Schwellenwert wird mit der h. M.57) als unschädlich anzusehen sein, weil die Organmitglieder nur von einer unkontrollierten Inanspruchnahme durch eine verschwindend kleine Aktionärsminderheit geschützt werden sollen. Hierfür spricht weiterhin der gesetzessystematische Zusammenhang mit anderen Vorschriften wie § 142 Abs. 2 AktG und § 122 Abs. 1 Satz 3 AktG, wo ein Beibehalten bis zur Entscheidung – anders als bei § 148 AktG – ausdrücklich gefordert wird. 34 Dieses Quorum müssen die Aktionäre vor dem Zeitpunkt des Kennens oder Kennenmüssens durch eine Veröffentlichung halten. Dies bedeutet, dass es nicht ausreicht, dass erst nach diesem Zeitpunkt Aktien erworben werden, mit denen dann das Quorum erreicht wird. Etwas anderes gilt nur im Falle einer Kapitalerhöhung nach der Erfüllung der subjektiven Voraussetzung; wenn das Quorum erfüllt war, können neue Aktien hinzuerworben werden, mit denen dann das Quorum im Zeitpunkt der Antragstellung erreicht wird.58) 35 Als Veröffentlichung kommt jede Information in Breitenmedien in Betracht, mithin in der allgemeinen wie der Wirtschaftspresse oder auch in OnlineDiensten und Internetseiten, auf denen regelmäßig Wirtschaftsnachrichten veröffentlicht werden; ebenso müssen Ad hoc-Mitteilungen der Gesellschaft als ausreichend angesehen werden.59) Für den Zeitpunkt ist aus Gründen der Objektivität abstrakt auf die erste Veröffentlichung abzustellen, zumal diese den Verdacht auslöst.60) 36 Der eindeutige Wortlaut lässt Kennenmüssen für den Fristbeginn ausreichen. Demgemäß muss der das Klagezulassungsverfahren betreibende Aktionär nachweisen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits über die entsprechende Zahl von ___________ 56) Einhellige Meinung; Vgl. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 207 ff. und 180 ff.; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 64 ff.; Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 148 Rz. 3; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 4; MünchHdb GesR IV/Bungert, § 43 Rz. 52; ausführlich G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, in: Festschrift K. Schmidt, S. 105 (115 f.). 57) Vgl. LG München I, Urt. v. 28.8.2008 – 5HK O 12861/07; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 211; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 67; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 11; MünchHdb GesR IV/Bungert, § 43 Rz. 53; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/ Schmolke, § 148 Rz. 93; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 17; a. A. GroßkommAktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 175 f. und 228; G. Bezzenberger/ T. Bezzenberger, in: Festschrift K. Schmidt, S. 105 (112). 58) Vgl. MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 26; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 228; Mock, JuS 2015, 590 (594). 59) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 21; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 219 ff.; Heidel/ Lochner, § 148 Rz. 6; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 20. 60) So MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 21; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 71; Spindler, NZG 2005, 865 (866); a. A. Heidel/Lochner, § 148 Rz. 6, der unter Hinweis auf Medien mit geringem Verbreitungsgrad auf den durchschnittlichen, verständigen Aktionär abstellen will.

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B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

Aktien verfügte. Bei Namensaktien ist dies aufgrund von § 67 Abs. 2 AktG ausschließlich über das Aktienregister möglich; bei Inhaberaktien wird ein Depotauszug, die Vorlage von Kaufurkunden oder bei Erwerb im Zuge einer Kapitalerhöhung regelmäßig die Vorlage des Zeichnungsscheins genügen.61) Die Antragsteller müssen nach § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AktG nachweisen, 37 dass sie die Gesellschaft unter Setzung einer angemessenen Frist vergeblich aufgefordert haben, die Klage zu erheben. Dieses Erfordernis soll nach dem Willen des Gesetzgebers den subsidiären Charakter des Klagezulassungsverfahrens betonen.62) Für den Inhalt der Aufforderung ist wesentlich, dass der Gesellschaft ermöglicht werden soll, die Berechtigung der geltend gemachten Ansprüche zu überprüfen. Daher müssen namentlich die Person, gegen die sich der Anspruch richten soll, das Klageziel und der Lebenssachverhalt, auf den der Anspruch gestützt werden soll, angegeben werden, wobei die Voraussetzungen an den Inhalt der Aufforderung entsprechend dem Bestimmtheitserfordernis bei § 147 Abs. 1 AktG entsprechen werden.63) Eine Frist von zwei Monaten wird regelmäßig als angemessen anzusehen 38 sein.64) Entsprechend einem allgemeinen Rechtsgedanken, wie er in §§ 281 Abs. 2, 286 Abs. 2 Nr. 3, 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB zum Ausdruck kommt, muss die Fristsetzung indes als entbehrlich angesehen werden, wenn sich die Gesellschaft durch ihr zuständiges Organ ernsthaft und endgültig weigert, selbst Klage zu erheben.65) Als materielles Kernstück der Klagezulassungsvoraussetzungen muss § 148 39 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG angesehen werden, wonach Tatsachen vorliegen müssen, die den Verdacht rechtfertigen, dass der Gesellschaft durch Unredlichkeit oder grobe Verletzung des Gesetzes oder der Satzung ein Schaden entstanden ist. Mit dem Tatbestandsmerkmal der Unredlichkeit sollen vor allem solche Fälle 40 einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden, in denen wegen der Schwere der Verstöße, die nicht im Bereich unternehmerischer Fehlentscheidungen liegen, sondern regelmäßig im Bereich der Treuepflichtverletzung, eine Nichtver___________ 61) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 21; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 240 und 238 f.; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 9; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 28; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 78. 62) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 21 f.; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 248; BeckOGK/ Mock AktG, § 148 Rz. 81; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 21; Mock, JuS 2015, 590 (595). 63) Vgl. nur KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 254 ff.; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 10. 64) So bereits BT-Drucks. 15/5092, S. 22; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 85; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 262; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 11; z. T. krit. Koch, § 148 Rz. 7, der zwei Monate bei Zuständigkeit des Aufsichtsrats als etwas knapp bezeichnet. 65) Allgemeine Meinung; vgl. BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 86; MünchKommAktG/ M. Arnold, § 148 Rz. 36; Koch, § 148 Rz. 7; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 281; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 11.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

folgung unerträglich wäre und damit das Vertrauen in die gute Führung und Kontrolle der deutschen Unternehmen und somit auch in den deutschen Finanzplatz erschüttert würde.66) Eine Beschränkung auf solche Unredlichkeiten, die ins Kriminelle reichende Treuepflichtverletzungen bedeuten, wird nicht angenommen werden können; auch andere schwere Treuepflichtverletzungen, die insbesondere nicht vorsätzlich erfolgen, können im Einzelfall ein Klagezulassungsverfahren rechtfertigen.67) 41 Ein grober Gesetzes- oder Satzungsverstoß wird dann zu bejahen sein, wenn das handelnde Organmitglied schuldhaft gegen die Grundsätze der Unternehmensführung verstoßen hat und Ansprüche aus §§ 93 Abs. 2, 116 AktG in Betracht kommen. Leitlinie bei der Überprüfung des Verstoßes sind dabei stets die das Organ treffenden Sorgfaltspflichten im eigenen Zuständigkeitsbereich. Wesentlich für den groben Verstoß sind dabei im Rahmen einer Gesamtbetrachtung in erster Linie die Art der Pflichtverletzung, das Maß des Verschuldens sowie die Höhe des Schadens anzusehen, wobei eine Gesamtschau der einzelnen Umstände vorzunehmen ist.68) In diesem Zusammenhang wird zu fordern sein, dass die Antragsteller eine Pflichtverletzung schlüssig vortragen, wobei auch der Vortrag der Gegenseite – ähnlich § 114 ZPO – beachtet werden muss.69) Ebenso muss ein Verdacht bestehen, dass der Gesellschaft dadurch ein Schaden entstanden ist, weil das Klagezulassungsverfahren auf die Ersatzpflicht eines Schadens gerichtet ist und dieser essentielle Voraussetzung für das Bestehen eines Anspruchs vor allem aus §§ 93 Abs. 2, 116 AktG ist.70) 42 Ein Verdacht liegt dann vor, wenn es ausreichende Tatsachen gibt, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen Ersatzanspruch aufgrund eines besonders qualifizierten Pflichtverstoßes begründen; allerdings muss der Verdacht nicht dringend sein, ein hinreichender Verdacht, bei dem das Vorliegen der entsprechenden Tatsachen wahrscheinlicher ist als ihr Nichtvorliegen, muss dabei genügen.71) ___________ 66) So BT-Drucks. 15/5092, S. 22. 67) Vgl. BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 91 f.; Spindler, NZG 2005, 865 (867); in diese Richtung auch LG München I, Beschl. v. 29.3.2007 – 5HK O 12931/06, AG 2007, 458 (459); Beschl. v. 20.5.2021 – 5HK O 5027/18; a. A. für eine Begrenzung auf ins Kriminelle reichende Treuepflichtverstöße Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 25; Koch, § 148 Rz. 8; K. Schmidt, NZG 2005, 796 (800). 68) Vgl. Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 26; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 311 ff.; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 14 f.; etwas enger wohl Koch, § 148 Rz. 8. 69) So OLG Köln, Beschl. v. 19.10.2018 – 18 W 53/17, ZIP 2019, 1010 (1011); LG München I, Beschl. v. 20.5.2021 – 5HK O 5027/18; krit. hierzu Mock, AG 2019, 385 (386 f.). 70) So ausdrücklich KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 324; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 93. 71) So KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 331; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 146; ähnlich Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 28; für das Ausreichen eines einfachen Verdachts Heidel/Lochner, § 148 Rz. 12; Spindler, NZG 2005, 865 (867).

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B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

Die Frage, wer die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des Ver- 43 dachts trägt, wird nicht einheitlich beurteilt. Teilweise wird die Ansicht vertreten, die Antragsteller müssten nur die notwendige Tatsachengrundlage für den Verdacht der Unredlichkeit oder groben Pflichtverletzung beibringen; dann müsse das Gericht von Amts wegen den tatsächlichen Voraussetzungen von § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG von Amts wegen nachgehen, wobei die Antragsteller eine besondere Förderungspflicht treffe.72) Dem kann indes nicht gefolgt werden, weil es sich bei dem Verfahren nach § 148 AktG um ein solches der ZPO handelt und daher keine Gründe erkennbar sind, warum es hier eine geänderte Darlegungs- und Beweislast geben sollte und die Hinweise in § 148 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 hinsichtlich des Nachweises zum Inhalt haben, dass eine bloße Glaubhaftmachung nicht genüge; ein Rückschluss auf die Darlegungsund Beweislast lässt sich daraus nicht ziehen.73) Bei einer sich anschließenden Klage greift diese Beschränkung dagegen nicht; 44 der zugelassene Klageanspruch ist dann vom Gericht auf Basis der dem Klagezulassungsverfahren zugrundeliegenden Tatsachen zu entscheiden. Wird eine Klage zugelassen, so verliert sie nicht deshalb das Rechtschutzbedürfnis, weil sich im Hauptverfahren herausstellt, dass die behaupteten Pflichtenverstöße vorlagen, dem betreffenden Organ aber nur leichte oder mittlere Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.74) Aufgrund von § 148 Abs. 1 Nr. 4 AktG dürfen der Geltendmachung des Er- 45 satzanspruchs keine überwiegenden Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen. Entgegen den Formulierungen in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung stellt diese Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers nicht auf „gewichtige“, sondern auf „überwiegende“ Gründe ab, um stärker zum Ausdruck zu bringen, dass im Normalfall eine Haftungsklage bei Vorliegen der Voraussetzungen der Nummern 1 bis 3 zuzulassen ist und nur im Wege einer Abwägung gegen überwiegende entgegenstehende Interessen davon abgesehen werden kann; die Formulierung des Gesetzes macht den Ausnahmecharakter deutlich.75) ___________ 72) Vgl. Heidel/Lochner, § 148 Rz. 15; K. Schmidt, NZG 2005, 796 (800). 73) So überzeugend KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 333; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 28; Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 149 f.; MünchKommAktG/M Arnold, § 148 Rz. 58; Koch, § 148 Rz. 8; Dietz-Vellmer, in: Festschrift Heidel, S. 441 (445) und (453); Schröer, ZIP 2005, 2081 (2085); zur Rechtsnatur des Verfahrens als streitiges Verfahren nach der ZPO auch LG München I, Beschl. v. 20.5.2021 – 5HK O 5027/18. 74) So die Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks. 15/5092, S. 22; auch KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 339. 75) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 22; daran anschließend Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 29; Koch, § 148 Rz. 9a; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 148; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 51 f.; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 341 f.; K. Schmidt, NZG 2005, 796 (800); Spindler, NZG 2005, 865 (867).

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

46 Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, anhand derer das Gericht zu entscheiden hat, ob überwiegende Gründe des Gesellschaftswohls entgegenstehen, liegt bei den Anspruchsgegnern und der beizuladenden Gesellschaft, weil sich aus der Formulierung in § 148 Abs. 1 Nr. 4 AktG ergibt, dass es sich prozessual um eine Einrede gegen den Klagezulassungsanspruch handelt.76) II.

Gerichtliches Verfahren

47 Die Zuständigkeit ergibt sich aus § 148 Abs. 2 Satz 1 AktG, wonach über den Antrag auf Klagezulassung das Landgericht entscheidet, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat;77) sofern bei diesem Landgericht eine Kammer für Handelssachen gebildet ist, ist diese gemäß § 148 Abs. 2 Satz 2 AktG funktionell zuständig. Der in diesem Verfahren gestellte Antrag muss den Anforderungen des § 253 ZPO entsprechen und somit insbesondere dem Bestimmtheitserfordernis genügen. Er muss mithin de den erhobenen Anspruch konkret bezeichnen und dadurch den Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis im Sinne des § 308 ZPO abstecken, so dass sich Inhalt und Umfang der materiellen Rechtskraft (§ 322 ZPO) erkennen lassen.78) 48 Gegen den Beschluss des Landgerichts findet aufgrund von § 148 Abs. 2 Satz 7 AktG die sofortige Beschwerde statt; eine Rechtsbeschwerde ist aufgrund von § 148 Abs. 1 Satz 8 AktG ausgeschlossen. 49 Die Gesellschaft ist im Zulassungs- wie in einem nachfolgenden Klageverfahren aufgrund von § 148 Abs. 2 Satz 9 AktG beizuladen. Dabei ist umstritten, welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen aus der im Gesetz nicht näher ausgestalteten Beiladung zu ziehen sind. In der Literatur wird dabei vielfach die Ansicht vertreten, es müsse von einer notwendigen Beiladung im Sinne der analog anzuwendenden §§ 65, 66 VwGO ausgegangen werden, nachdem die Gesellschaft nicht zugleich Antragsgegnerin sein könne; damit könnte die Gesellschaft innerhalb der Anträge einer Partei auch selbstständig Sachanträge stellen sowie Angriffs- und Verteidigungsmittel vorbringen, ohne an den Vortrag der Hauptpartei gebunden zu sein.79) Indes bestehen erhebliche Bedenken, inwieweit dies ___________ 76) So die wohl h. M.; vgl. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 359; Großkomm-AktG/ T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 165; Heidel/Lochner, § 148 Rz. 16; in diese Richtung auch Koch, § 148 Rz. 9, der den Fokus auf die Gesellschaft legen will; a. A. Schmidt/ Lutter/Spindler, § 148 Rz. 32, der die Antragsteller als darlegungs- und beweisbelastet ansieht, aber dann die Grundsätze zum Beweis negativer Tatsachen anwenden will. 77) Zu beachten ist, dass § 148 Abs. 2 S. 3 und S. 4 AktG den Landesregierungen bzw. Landesjustizverwaltungen die Möglichkeit zur Konzentration bei einem Landgericht für mehrere Landgerichtsbezirke eröffnet haben. 78) So ausdrücklich LG München I, Beschl. v. 20.5.2021 – 5HK O 5027/18. 79) Vgl. unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 15/5092, S. 24 v. a. Schmidt/ Lutter/Spindler, § 148 Rz. 8; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 74; Schröer, ZIP 2005, 2081, (2086).

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B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

mit dem vom Beibringungsgrundsatz geprägten streitigen Verfahren nach der ZPO zu vereinbaren ist. Demgemäß sprechen sehr gute Gründe für die Ansicht, die Beiladung solle das rechtliche Gehör der Gesellschaft garantieren und ihr die Möglichkeit eröffnen, dem Rechtsstreit als streitgenössische Nebenintervenientin i. S. d. §§ 66, 69 ZPO beizutreten.80) III.

Klageverfahren – § 148 Abs. 3 und Abs. 4 AktG

Aufgrund der Regelung in § 148 Abs. 3 Satz 1 AktG ist die Gesellschaft jeder- 50 zeit berechtigt, ihren Ersatzanspruch selbst gerichtlich geltend zu machen; geschieht dies während des Zulassungs- oder des von der Aktionärsminderheit angestrengten Klageverfahrens wird das von den Aktionären angestrengte Verfahren unzulässig. Dabei hat die Gesellschaft die Wahl, ob sie selbst Klage erhebt oder das anhängige Klageverfahren über ihren Ersatzanspruch in der Lage übernimmt, in der es sich zur Zeit der Übernahme befindet; in diesem Fall findet ein gesetzlicher Parteiwechsel statt, ohne dass es der Zustimmung der Beklagten, der Aktionärsminderheit oder einer Entscheidung des Gerichts zur Sachdienlichkeit bedürfte.81) Bei der Vertretung der AG in diesem Prozess ist zu beachten, dass sie nur dann prozessfähig ist, wenn die Klage nur gegen Mitglieder eines der beiden Organe gerichtet ist; anderenfalls könnte ein besonderer Vertreter zu bestellen sein.82) Die bisherigen Antragsteller oder Kläger sind dann gemäß § 148 Abs. 3 Satz 2 AktG beizuladen. Aufgrund von § 148 Abs. 4 Satz 1 AktG können die Aktionäre im Falle einer 51 dem Zulassungsantrag stattgebenden Entscheidung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft und einer vergeblichen nochmaligen Aufforderung an die Gesellschaft unter Setzung einer angemessenen Frist selbst Klage erheben. Das Gesetz räumt den im Zulassungsverfahren erfolgreichen Aktionären damit das zeitlich begrenzte Recht ein, den Anspruch der Gesellschaft im Wege gesetzlicher Prozessstandschaft im eigenen Namen geltend zu machen (actio pro socio).83) Dabei muss sich der nach § 148 Abs. 4 Satz 2 AktG auf Leistung an die Gesellschaft gerichtete Antrag in Bezug auf Streitgegenstand, Beklagte und Höhe des Anspruchs im Rahmen des Tenors des Be___________ 80) So Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 184; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 430 ff.; Bürgers/Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 148 Rz. 11; Koch, § 148 Rz. 12. 81) Vgl. Koch, § 148 Rz. 14; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 492; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 39; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 86; Bürgers/Körber/Lieder/ Holzborn/Jänig, § 148 Rz. 13; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 276; Mock, JuS 2015, 590 (595). 82) Vgl. Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 39. 83) So BT-Drucks. 15/5092, S. 24; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 40; KK-AktG/Rieckers/ J. Vetter, § 148 Rz. 547; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 299; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 156; Koch, § 148 Rz. 15; Kumkar, ZGR 2021, 123 (150).

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

schlusses nach § 148 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AktG halten; anderenfalls müsste ein erneutes Klagezulassungsverfahren durchgeführt werden.84) 52 Das Quorum des § 148 Abs. 1 Satz 1 AktG müssen die klagenden Aktionäre, die schon auf der ersten Stufe des Zulassungsverfahrens als Antragsteller beteiligt gewesen sein müssen, nicht mehr erfüllen, nachdem dies nach zutreffender Ansicht85) schon bei Abschluss des Klagezulassungsverfahrens nicht mehr erforderlich ist und das Gesetz deutlich zwischen der ersten Stufe des Klagezulassungsverfahrens und der zweiten Stufe der dann zu erhebenden Klage unterscheidet und auch die Filterfunktion des Zulassungsverfahrens hier nicht mehr als tragendes Argumente herangezogen werden kann. 53 Nach Zulassung der Klage ist eine Nebenintervention durch Aktionäre aufgrund der ausdrücklichen Regelung in § 148 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht mehr möglich; die h. M.86) geht indes davon aus, dass Aktionäre, die bereits im Klagezulassungsverfahren beigetreten waren, auch dem anschließenden Klageverfahren als Nebenintervenienten beitreten können, so dass es insoweit zu einer teleologischen Reduktion von § 148 Abs. 4 Satz 3 AktG kommen muss. Mehrere Klagen sind zur gleichzeitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 148 Abs. 4 Satz 4 AktG zu verbinden. 54 Das Urteil wirkt aufgrund von § 148 Abs. 5 Satz 1 AktG auch im Falle der Klageabweisung für und gegen die Gesellschaft sowie die übrigen Aktionäre. Dies gilt gemäß § 148 Abs. 5 Satz 2 AktG auch für einen noch gemäß § 149 AktG bekannt zu machenden Vergleich; für und gegen die Gesellschaft wirkt der Vergleich indes nur nach Klagezulassung, wobei dies auch für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften gilt.87) Für den Vergleich gelten die materiellrechtlichen Beschränkungen insbesondere aus § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG hier in gleicher Weise, weil die in Prozessstandschaft klagenden Aktionäre nicht weitergehende Rechte haben können als die Gesellschaft selbst.88) ___________ 84) Vgl. MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 93; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 567 ff. 85) So KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 551; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 157; Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 303; Koch, § 148 Rz. 16; Bürgers/ Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 148 Rz. 15; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 17 und 94; a. A. Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 228, 238. 86) Vgl. nur Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 282; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 8; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 564; a. A. BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 170; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 95 f., die jeweils nur eine Streitverkündung an andere Personen zulassen wollen. 87) Vgl. Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 292; insoweit zweifelnd MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 98. 88) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 23; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 600; Bürgers/ Körber/Lieder/Holzborn/Jänig, § 148 Rz. 20; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 51; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 99; im Grundsatz ebenso, aber für einen Verzicht auf die Sperrfrist von drei Jahren Koch, § 148 Rz. 21; BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 178 unter Hinweis auf eine analoge Anwendung von § 148 Abs. 6 Satz 4 AktG.

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B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

IV.

Kostenregelung – § 148 Abs. 6 AktG

Die Regelung über die Kosten entspricht im Ausgangspunkt derjenigen des 55 § 91 Abs. 1 ZPO, wobei es angesichts von Besonderheiten des Verfahrens zu gewissen Modifikationen kommt. Wird der Klagezulassungsantrag zurückgewiesen, so trägt der Antragsteller vom Grundsatz her aufgrund von § 148 Abs. 6 Satz 1 AktG die Kosten des Zulassungsverfahrens. Etwas anderes gilt gemäß § 148 Abs. 6 Satz 2 AktG dann, wenn die Abweisung auf entgegenstehenden Gründen des Gesellschaftswohls, die die Gesellschaft hätte mitteilen müssen, aber nicht mitgeteilt hat – dann hat die Gesellschaft dem Antragsteller die Kosten zu erstatten. Bei mehreren Antragstellern wird die grundsätzliche Regelung des § 100 Abs. 1 ZPO mit der Aufteilung nach Köpfen zur Anwendung gelangen müssen, wobei Ausnahmen denkbar erscheinen bei einer sehr ungleichen Verteilung der Aktienanteile.89) Ist der Klagezulassungsantrag erfolgreich, so wird über die Kosten dieses Ver- 56 fahrens im anschließenden Endurteil aufgrund von § 148 Abs. 6 Satz 3 AktG in Anwendung der §§ 91 ff. ZPO entschieden. Erhebt die Gesellschaft selbst Klage, so trägt sie etwaige bis zum Zeitpunkt ihrer Klageerhebung oder Übernahme des Verfahrens entstandene Kosten des Antragstellers gemäß § 148 Abs. 6 Satz 4 AktG und kann die Klage auch nur unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 und Satz 4 AktG mit Ausnahme der Sperrfrist von drei Jahren zurücknehmen. Im Falle einer Abweisung der Klage hat die Gesellschaft den Klägern die von diesen zu tragenden Kosten im Sinne eines materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruchs90) aufgrund von § 148 Abs. 6 Satz 5 AktG zu erstatten, sofern nicht die Kläger die Zulassung durch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtigen Vortrag erwirkt haben. Dies trägt dem Gedanken Rechnung, dass die Klage aus Sicht ex ante aufgrund der Wertung des § 148 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG durchaus Erfolgsaussichten hatte und die Aktionäre Leistung an die Gesellschaft verlangen müssen.91) Gemeinsam als Antragsteller oder Streitgenossen handelnde Aktionäre erhalten 57 nach § 148 Abs. 6 Satz 6 AktG insgesamt nur die Kosten eines Bevollmächtigten erstattet, soweit nicht ein weiterer Bevollmächtigter zur Rechtsverfolgung unerlässlich war. Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass die einzelnen Organmitglieder mit hohen, ungerechtfertigten Kosten, die aufgrund des in § 148 Abs. 5 Satz 5 AktG vorgesehenen Erstattungsanspruchs auch die Gesellschaft treffen ___________ 89) So zum Grundsatz Großkomm-AktG/T. Bezzenberger/Schmolke, § 148 Rz. 351; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 637. 90) Vgl. nur Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 340 f. und 350; KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 655. 91) Vgl. BT-Drucks. 15/5092, S. 24; v. a. auch Heidel/Lochner, § 148 Rz. 36; MünchKommAktG/ M. Arnold, § 148 Rz. 107; Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 55.

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§ 6 Der besondere Vertreter und Aktionärsklage – §§ 147, 148 AktG

können, belastet werden.92) Diese Beschränkung wird indes dann nicht zum Tragen kommen, wenn mehrere Klagezulassungsverfahren gemäß § 148 Abs. 4 Satz 4 AktG miteinander verbunden werden, weil dann zwar alle Kläger Streitgenossen sind, aber nicht i. S. d. § 148 Abs. 6 Satz 6 AktG gemeinsam handeln.93) 58 Keine Regelung beinhaltet § 148 Abs. 6 AktG für die Gesellschaft, wenn sie an dem Prozess gemäß § 148 Abs. 2 Satz 9 AktG als Beigeladene teilnimmt; in dieser Situation steht ihr kein Kostenerstattungsanspruch zu.94) Dasselbe gilt, wenn die Aktionäre beigeladen werden – auch sie haben dann keinen Kostenerstattungsanspruch.95) Etwas anderes wird nur dann zu gelten haben, wenn die Gesellschaft dem Rechtsstreit als streitgenössische Nebenintervenientin beitritt; dann gelten die allgemeinen Regelungen. V.

Veröffentlichungspflicht – § 149 AktG

59 Nach rechtskräftiger Zulassung der Klage gemäß § 148 AktG sind der Antrag auf Zulassung und die Verfahrensbeendigung aufgrund von § 149 Abs. 1 AktG von einer börsennotierten Gesellschaft unverzüglich in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen. Damit soll zum einen sichergestellt werden, dass die übrigen Aktionäre Kenntnis von der Klagezulassung erhalten. Zum anderen soll der verbotenen Einlagenrückgewähr durch Vergleichsleistungen vorgebeugt werden. Schließlich sollen die übrigen Aktionäre eine Grundlage haben, um auf einer nachfolgenden Hauptversammlung sachgerecht von ihrem Informationsrecht aus § 131 Abs. 1 AktG Gebrauch machen zu können.96) Neben der Art der Verfahrensbeendigung ist aufgrund von § 149 Abs. 2 Satz 2 AktG der Wortlaut aller Vereinbarungen und sonstigen Abreden zwischen der Gesellschaft, den Klägern sowie Dritten, die im Interesse der Gesellschaft oder im Interesse der Kläger handeln, unter Namensnennung bekannt zu machen.97) ___________ 92) So BT-Drucks. 15/5092, S. 24; ebenso KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 663; Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 267; Schmolke, ZGR 2011, 398 (408 ff.); krit., aber als noch hinnehmbar eingestuft von BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 190; abl. Meilicke/Heidel, DB 2004, 1479 (1482) unter Hinweis auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit im Zivilprozess. 93) So Großkomm-AktG/G. Bezzenberger/T. Bezzenberger, 4. Aufl., § 148 Rz. 266; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 665; MünchKommAktG/M. Arnold, § 148 Rz. 109; a. A. BeckOGK/Mock AktG, § 148 Rz. 192, der entsprechend dem Prioritätsgrundsatz nur den zuerst klagenden Aktionären einen Kostenerstattungsanspruch einräumen und den anderen allenfalls einen Anspruch über die Ausnahmevorschrift der Unerlässlichkeit geben will. 94) Vgl. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 645; BeckOGK AktG/Mock, § 148 Rz. 114. 95) So schon die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats, BT-Drucks. 15/5093, S. 43; ebenso Schmidt/Lutter/Spindler, § 148 Rz. 53; KK-AktG/ Rieckers/J. Vetter, § 148 Rz. 659. 96) Vgl. BT-Drucks. 15/5092 S. 24; BeckOGK/Mock AktG, § 149 Rz. 2; MünchKommAktG/ M. Arnold, § 149 Rz. 1; Koch, § 149 Rz. 1. 97) Vgl. BT-Drucks. 15/5092 S. 24.

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B. Das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG

Darunter fallen somit alle Abreden über Prozesskosten- und Aufwandserstattungen, einvernehmliche Ansetzung eines Vergleichswerts, Schadensersatzzahlungen, Honorare für Beraterleistungen, Gutachten, wissenschaftliche Ausarbeitungen aller Art sowie sonstige Zuwendungen wie Vereinbarungen über Rechtsgeschäfte wie Beratungsaufträge mit Aktionären oder ihnen nahe stehenden Dritten, sofern diese nur in ursächlichem Zusammenhang mit der Verfahrensbeendigung abgeschlossen wurden.98) Unterbleibt die vollständige Veröffentlichung, wird die Vereinbarung aufgrund 60 von § 149 Abs. 2 Satz 3 nicht wirksam, nachdem die vollständige Bekanntmachung Wirksamkeitsvoraussetzung für alle Leistungspflichten ist. Allerdings bleibt aufgrund von § 149 Abs. 2 Satz 4 AktG die Wirksamkeit verfahrensbeendender Prozesshandlungen davon unberührt. Trotz Unwirksamkeit bewirkte Leistungen können gemäß § 149 Abs. 2 Satz 5 AktG aufgrund von § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG oder § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB zurückgefordert werden; §§ 814, 818 Abs. 3 BGB finden hier keine Anwendung.99) Diese Regelungen gelten aufgrund von § 149 Abs. 3 AktG entsprechend für 61 Vereinbarungen, die zur Vermeidung eines Prozesses geschlossen werden, weil auch hier ein ähnliches Missbrauchspotenzial wie bei Vergleichen gesehen wird und die Transparenz prozessvermeidender Vereinbarungen unabhängig vom Zeitpunkt des Abschlusses geboten ist.100) Aus dem Zusammenspiel mit § 149 Abs. 1 AktG wird allerdings die Schlussfolgerung zu ziehen sein, dass diese Vereinbarung vor der rechtskräftigen Zulassung der Klage abgeschlossen sein muss, weil dann bereits § 149 Abs. 2 AktG eingreift.101) Der Hauptanwendungsbereich wird in Vereinbarungen über die Rücknahme der Zulassungsanträge nach § 148 Abs. 1 AktG oder die Nichtverfolgung liegen.102)

___________ 98) So beispielhaft BT-Drucks. 15/5092 S. 24; auch BeckOGK/Mock AktG, § 149 Rz. 16. 99) Vgl. MünchKommAktG/M. Arnold, § 149 Rz. 22; BeckOGK/Mock AktG, § 149 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Spindler, § 149 Rz. 19; Heidel/Lochner, § 149 Rz. 7; zweifelnd in Bezug auf § 818 Abs. 3 BGB KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 149 Rz. 137 ff. 100) Vgl. Koch, § 149 Rz. 5; MünchKommAktG/M. Arnold, § 149 Rz. 23. 101) So v. a. KK-AktG/Rieckers/J. Vetter, § 149 Rz. 152 ff.; a. A. Schmidt/Lutter/Spindler, § 149 Rz. 20; MünchKommAktG/M. Arnold, § 149 Rz. 23. 102) Vgl. Koch, § 149 Rz. 5; MünchKommAktG/M. Arnold, § 149 Rz. 24; KK-AktG/Rieckers/ J. Vetter, § 149 Rz. 157.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

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Übersicht A. Konzernbegriff .................................. 1 I. Grundbegriffe des Konzernrechts....... 1 1. Unternehmensverbund ............... 2 2. Unternehmen .............................. 4 3. Herrschendes und abhängiges Unternehmen ............... 9 a) Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG ................ 10 b) Abhängigkeit gemäß § 17 Abs. 1 AktG............................... 13 4. Zurechnung................................ 16 II. Formen der Konzernierung ............. 21 1. Unterordnungskonzern und Gleichordnungskonzern ........... 22 a) Unterordnungskonzern ............ 23 b) Gleichordnungskonzern ........... 24 c) Einheitliche Leitung .................. 26 2. Faktischer Konzern und Vertragskonzern........................ 28 a) Vertragskonzerne ...................... 29 b) Faktische Konzerne................... 32 B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern .................................... 33 I. Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens .......... 33 1. Pflichten bei Abschluss des Vertrags ............................... 34 a) Sorgfaltspflicht bei Vorbereitung und Abschluss des Beherrschungsvertrags .............. 34 b) Berichtspflicht ........................... 35 c) Auskunftspflicht ....................... 39 d) Pflicht zur Handelsregisteranmeldung.................................. 40 e) Änderung des Beherrschungsvertrags ......................... 41 2. Pflichten bei Durchführung des Vertrags ............................... 42 a) Weisungsrecht aus dem Beherrschungsvertrag .................... 43 aa) Pflicht zur sorgfältigen Ausübung des Weisungsrechts........ 43

(1) Weisungsberechtigter und -empfänger ......................... 43 (2) Begriff und Form der Weisung ..................................... 46 (3) Inhalt des Weisungsrechts ........ 48 (4) Nachteilige Weisungen ............. 52 bb) Grenzen des Weisungsrechts.... 55 (1) Gesetzliche Grenzen................. 56 (2) Statutarische Grenzen............... 58 (3) Unternehmensvertragliche Grenzen ..................................... 59 (4) Grenzen aus dem Unternehmensinteresse des abhängigen Unternehmens........... 62 (5) Grenzen des Weisungsrechts in mehrstufigen Unternehmensverbindungen .............. 63 cc) Keine Weisungspflicht gegenüber dem abhängigen Unternehmen ............................ 65 dd) Keine Konzernleitungspflicht gegenüber der eigenen Gesellschaft.................. 67 ee) Haftung und Sanktionierung bei Pflichtverletzungen ............. 68 b) Sonstige Einwirkungsmöglichkeiten des Vorstands des herrschenden Unternehmens..................................... 71 3. Pflichten bei Beendigung des Beherrschungsvertrags ....... 72 a) Aufhebung des Beherrschungsvertrags gemäß § 296 AktG ................................ 75 b) Kündigung des Beherrschungsvertrags gemäß § 297 AktG ................................ 76 II. Pflichten des Vorstands des abhängigen Unternehmens.............. 78 1. Durchsetzung des Konzerninteresses.................................... 80

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§ 7 Besonderheiten im Konzern 2.

Pflichten im Zusammenhang mit Weisungen des herrschenden Unternehmens.......... 84 a) Folgepflicht ............................... 84 b) Prüfungs- und Konsultationspflicht ................................ 85 c) Ausnahme von der Folgepflicht......................................... 88 3. Informationspflichten .............. 92 III. Besondere Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens ................................. 96 1. Ausweitung der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats.................................... 96 2. Informationsbeschaffung ....... 102 3. Beratung mit dem Vorstand ... 110 4. Konzernweite Zustimmungsvorbehalte..................... 111 a) Zustimmungsvorbehalte für konzernleitende Maßnahmen .. 112 b) Allgemein gehaltene (statutarische) Zustimmungsvorbehalte..................... 115 c) Zustimmungsvorbehalt nach § 308 Abs. 3 AktG ......... 117 d) Zustimmungsvorbehalte im mitbestimmten Aufsichtsrat ................................... 118 IV. Besondere Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens.......................................... 119 1. Keine Ausweitung der Überwachungspflicht ............. 119 2. Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats..................... 122 C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern....................... 124 I. Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens ........ 124 1. Möglichkeiten der Beeinflussung.................................... 125 a) Faktische Beeinflussung durch Weisungen und Empfehlungen ................................. 126 b) Grenzen der Beeinflussung .... 130 c) Vorstandsdoppelmandate ....... 142

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d) Sonstige personelle Verflechtungen...............................159 2. Verantwortlichkeit für rechtswidrige Beeinflussungen ...........164 a) Haftungsgrundsätze ................164 b) Kündigung und Abberufung.....167 3. Keine Leitungspflicht bezüglich Tochtergesellschaft.....168 4. Konzernüberwachungspflicht .......................................169 5. Informationsrechte und Pflicht zur Informationsbeschaffung ..............................172 II. Pflichten des Vorstands des abhängigen Unternehmens ............173 1. Orientierung an Unternehmensinteresse.....................175 2. Pflichten im Zusammenhang mit Veranlassungen durch das herrschende Unternehmen .....................................179 a) Keine Veranlassungsfolgepflicht .......................................179 b) Prüfungspflichten ....................182 c) Organisationspflichten............193 d) Folgepflichten bei der Durchführung von veranlassten Maßnahmen .................195 3. Informations- und Berichtspflichten ...................................201 a) Information des herrschenden Unternehmens ..................201 b) Pflichten im Zusammenhang mit der Erstattung eines Abhängigkeitsberichts nach § 312 Abs. 1 AktG ...................211 aa) Inhalt der Berichtspflicht ........216 bb) Erkundigungspflicht ...............227 cc) Informationsbeschaffungspflicht .......................................229 dd) Sorgfaltspflichten.....................233 ee) Berichtsschuldner ....................238 ff) Berichtszeitraum......................239 gg) Information der Aktionäre der abhängigen Gesellschaft....241 III. Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens.........245

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§ 7 Besonderheiten im Konzern IV. Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens ............ 246 D. Die Haftung im Konzern ............. 247 I. Überblick ........................................ 247 II. Haftung im Vertragskonzern ........ 256 1. Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft ...... 258 a) Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft ............. 259 b) Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft ............. 261 aa) Ausübung von Leitungsmacht........................................ 262 bb) Schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung ................................ 271 cc) Kausaler Schaden ..................... 273 dd) Verzicht und Vergleich ........... 274 ee) Geltendmachung .................... 275 ff) Verjährung ............................... 277 2. Haftung des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft ........................................ 278 3. Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft.......... 279 a) Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft.............. 280 aa) Entgegennahme und Ausführung von Weisungen.......... 281 bb) Schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung ................................ 284 cc) Kausaler Schaden .................... 285 dd) Verweis auf § 309 Abs. 3 – 5 AktG........................ 286 b) Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft ............. 287

4.

Haftung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft ....................................... 288 III. Haftung im faktischen Konzern ... 289 1. Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft...... 290 a) Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft ............. 291 aa) Veranlassen .............................. 292 bb) Nachteil ................................... 295 cc) Unterbleiben des Nachteilsausgleichs ................................ 298 dd) Kausaler Schaden..................... 300 ee) Kein Verschulden .................... 301 ff) Haftungsausschluss nach § 317 Abs. 2 AktG .................. 302 gg) Verweis auf § 309 Abs. 3–5 AktG ........................................ 303 b) Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft...... 304 2. Haftung des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft........................................ 305 3. Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft.......... 306 a) Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft ............. 307 aa) Verletzung der Berichtspflicht....................................... 308 bb) Allgemeine Haftung................ 312 b) Haftung gegenüber dem herrschenden Unternehmen... 316 4. Haftung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft .. 317

Schrifttum: Altmeppen, Zum Vorstandsdoppelmandat in einer beherrschten AG & Co. KG, zugleich Besprechung OLG Hamburg v. 29.6.2007 – 11 U 141/06, ZIP 2008, 437; Altmeppen, Interessenkonflikte im Konzern, ZHR 171 (2007), 320; Aschenbeck, Personenidentität bei Vorständen in Konzerngesellschaften (Doppelmandat im Vorstand), NZG 2000, 1015; Backhaus, Das interne Verfahren zur Bewertung von Geschäften mit nahestehenden Personen (Related Party Transactions) gemäß § 111a II 2 AktG, NZG 2020, 605; Bayer, Der an der Tochter beteiligte Mehrheitsgesellschafter der Mutter: herrschendes Unternehmen? – zugleich Besprechung der Entscheidung BGHZ 148, 123 (MLP), ZGR 2002, 933; Brüggemeier, Die Einflußnahme auf die Verwaltung einer Aktiengesellschaft – Zur Struktur und zum Verhältnis der §§ 17 und 317 AktG, AG 1988, 93; Cahn, Die Holding als abhängiges Unternehmen? – zugleich Anmerkung zu BGH v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 – MLP, AG 2002, 30; Crezelius, Faktischer Konzern und steuerrechtliche Organschaft, in: Festschrift Kropff, 1997, S. 37; Döllerer, Der Abhängigkeitsbericht und

Weiß/Winter

573

§ 7 Besonderheiten im Konzern seine Prüfung bei einem Vorstandswechsel, Festschrift für Semler 1993, 441; Emmerich, Zur Organhaftung im Vertragskonzern, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, 2003, S. 651; Fabritius, Zu den Grenzen der Durchsetzung eines kapitalmarktrechlich begründeten Informationsinteresses des herrschenden Unternehmens im faktischen Konzern, in: Festschrift Huber, 2006, S. 705; Fischbach/Lüneborg, Die Organpflichten bei der Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen im Aktienkonzern, NZG 2015, 1142; Fleischer, Konzernleitung und Leitungssorgfalt der Vorstandsmitglieder im Unternehmensverbund, DB 2005, 759; Fonk, Zur Vertragsgestaltung bei Vorstandsdoppelmandaten, NZG 2010, 368; Freiherr v. Falkenhausen, Weisungen an den Aufsichtsrat der abhängigen Aktiengesellschaft?, ZIP 2014, 1205; Geißler, Der Geschäftsführer der vertraglich konzernierten GmbH im Spannungsfeld gefährdender Weisungen des herrschenden Unternehmens, GmbHR 2015, 734; Geßler, Bestandsschutz der beherrschten Gesellschaft im Vertragskonzern?, ZHR 140 (1976), 433; Götz, Leitungssorgfalt und Leitungskontrolle der Aktiengesellschaft hinsichtlich abhängiger Unternehmen, ZGR 1998, 524; Grigoleit, Regulierung von Related Party Transactions im Kontext des deutschen Konzernrechts, ZGR 2019, 412; Habersack/Verse, Zum Auskunftsrecht des Aktionärs im faktischen Konzern – zugleich Besprechung des Beschlusses des OLG Frankfurt/M. vom 6.1.2003 – 20 W 449/93, AG 2003, 300; Henze, Die Treupflicht im Aktienrecht Gedanken zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes von „Kali und Salz“ über „Linotype“ und „Kochs Adler“ bis zu „Girmes“, BB 1996, 489; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat im Konzern, ZHR 159 (1995), 325; Hoffmann-Becking, Vorstands-Doppelmandate im Konzern, ZHR 150 (1986), 570; Hoffmann-Becking, Das erweiterte Auskunftsrecht des Aktionärs nach § 131 Abs. 4 AktG, in: Festschrift Rowedder, 1994, S. 155; Hoffmann-Becking, Gibt es das Konzerninteresse?, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, S. 433; Hüffer, Informationen zwischen Tochtergesellschaft und herrschendem Unternehmen in vertragslosen Konzern, in: Festschrift Schwark, 2009, S. 185; Immenga, Bestandsschutz der beherrschten Gesellschaft im Vertragskonzern?, ZHR 140 (1976), 301; Jäger, Der Entherrschungsvertrag, DStR 1995, 1113; Krauel/Klie, Lenkungsmöglichkeiten im Konzern unter besonderer Berücksichtigung des Aufsichtsrechts für Kreditinstitute und Versicherungen, WM 2010, 1735; Kuhlmann/Ahnis, Konzern- und Umwandlungsrecht, 4. Aufl., 2016; Leuering/Keßler, Die Informationsweitergabe im faktischen Konzern, NJW-Spezial 2015, 399; Mertens, Die Haftung wegen Mißbrauchs der Leitungsmacht nach § 309 AktG aus schadensersatzrechtlicher Sicht, AcP 168 (1968), 225; Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl., 1996; Nodoushani, Das Doppelmandat-Urteil des BGH aus der konzernrechtlichen Perspektive, GWR 2009, 309; Passarge, Vorstands-Doppelmandate – ein nach wie vor aktuelles Thema!, NZG 2007, 441; Pesch, Der aktienrechtliche Entherrschungsvertrag, Diss. 2012; Scheffler, Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Konzern, DB 1994, 793; Schneider, Stimmverbote im GmbH-Konzern, ZHR 150 (1986), 609; Sina, Grenzen des Konzern-Weisungsrechts nach § 308 AktG, AG 1991, 1; Seidel, Konzerninterne Related Party Transactions nach der Aktionärsrechte-Richtlinie II, AG 2018, 423; Singhof, Zur Weitergabe von Insiderinformationen im Unterordnungskonzern, ZGR 2001, 146; Tarde, Geschäfte mit nahestehenden Personen nach dem ARUG II-Regierungsentwurf, NZG 2019, 488; Vetter, Regelungsbedarf für Related Party Transactions?, ZHR 179 (2015), 273; Wälde, Die Anwendbarkeit des § 31 BGB und der Begriff des „gesetzlichen Vertreters“ im Rahmen konzernrechtlicher Haftungsbestände des faktischen Konzerns, DB 1972, 2289; Weiß, Vorstandsdoppelmandate im faktischen Konzern: Voraussetzungen, Interessenkonflikte, Anstellungsvertrag und Haftung, CB 2014, 97; Wirth, Vorstands-Doppelmandate im faktischen Konzern, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 1147.

A. I.

Konzernbegriff Grundbegriffe des Konzernrechts

Weiß

1 Regelungen des Konzernrechts finden sich insbesondere in den §§ 15 – 18 AktG, die für alle rechtlich selbständigen Unternehmen gleich welcher Rechts-

574

Weiß

A. Konzernbegriff

form und Nationalität gelten, und in den §§ 291 – 328 AktG, die eine Beteiligung einer AG oder KGaA voraussetzen.1) 1.

Unternehmensverbund

§ 15 AktG definiert den Begriff der „verbundenen Unternehmen“ als recht- 2 lich selbständige Unternehmen, die durch Mehrheitsbeteiligung, Abhängigkeit, Konzernierung, wechselseitige Beteiligungen oder Unternehmensverträge verbunden sind. Ein Konzern ist folglich nur ein Unterfall eines Unternehmensverbundes, 3 wenngleich die meisten Unternehmensverbünde auch die weiteren Merkmale eines Konzerns aufweisen.2) 2.

Unternehmen

Mangels gesetzlicher Definition muss der konzernrechtliche Unternehmens- 4 begriff anhand des Schutzzwecks des Konzernrechts bestimmt werden. Schutzzweck des Konzernrechts ist der Schutz vor der nachteiligen Beeinflussung des abhängigen Unternehmens zugunsten der Interessen des herrschenden Unternehmens.3) Die Unternehmenseigenschaft ist jeweils für die abhängigen und herrschenden Unternehmen gesondert zu ermitteln.4) Das herrschende Unternehmen kann jede Rechtsform haben.5) Es kann sich 5 daher nicht nur um Gesellschaften, sondern beispielsweise auch um Vereine oder natürliche Personen handeln.6) Gemäß der ständigen Rechtsprechung und der Literatur liegt ein Unternehmen vor, wenn zu der Beteiligung des Gesellschafters an einer Gesellschaft wirtschaftliche Interessensbindungen außerhalb der Gesellschaft hinzutreten, die stark genug sind, um die ernste Besorgnis zu begründen, der Gesellschafter könne um ihretwillen seinen Einfluss zum Nachteil der Gesellschaft geltend machen.7) Besteht die Möglichkeit der gleichzeiti___________ 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 5; Raiser/Veil/Raiser, § 58 Rz. 17. Raiser/Veil/Raiser, § 58 Rz. 2. Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1221 (1225); Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 8 ff.; BeckOGK-AktG/Schall, § 15 Rz. 31 f. Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1225; KK-AktG/Koppensteiner, § 15 Rz. 17. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 11; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 6 ff.; Großkomm-AktG/Windbichler, § 15 Rz. 15. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 11 f.; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 7; Großkomm-AktG/Windbichler, § 15 Rz. 16. BFH, Urt. v. 23.3.2011 – X R 45/09, ZIP 2011, 1472, Rz. 55; BGH, Beschl. v. 17.3.1997 – II ZB 3/96 (VW), NJW 1997, 1856; BGH, Urt. v. 16.2.1981 – II ZR 168/79 (Süssen), NJW 1981, 1513; BGH, Beschl. v. 8.5.1979 – KVR 1/78 (WAZ), NJW 1979, 2402; BGH, Urt. v. 13.10.1977 – II ZR 123/76 (Veba/Gelsenberg), NJW 1978, 104; KK-AktG/ Koppensteiner, § 15 Rz. 20; Großkomm-AktG/Windbichler, § 15 Rz. 11; MünchKommAktG/ Bayer, § 15 Rz. 13.

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575

§ 7 Besonderheiten im Konzern

gen Einflussnahme eines Rechtsträgers auf mindestens zwei Unternehmen, ist daher die Unternehmensqualität zu bejahen.8) 6 Eine Beteiligung wird dann als maßgeblich angesehen, wenn sie die Möglichkeit begründet, sich unter Ausübung von Leitungsmacht auch in anderen Gesellschaften unternehmerisch zu betätigen. Dazu sei grundsätzlich erforderlich, dass der Aktionär mit den ihm rechtlich zu Gebote stehenden Mitteln auf das andere Unternehmen bestimmenden Einfluss nehmen kann.9) Die Meinungen zu der Frage, wann eine Beteiligung die Möglichkeit solcher Einflussnahme eröffnet, reichen von dem Erfordernis einer Beherrschung i. S. d. § 17 AktG10) über das Erfordernis der Einflussmöglichkeit auf die Gewinnverwendung11) oder die Besetzung der Leitungsorgane12) bis zu einer erheblich geringeren Beteiligung an Kapital oder Stimmrechten.13) Die Einordnung, ob eine maßgebliche Beteiligung vorliegt, ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. 7 Die öffentliche Hand hat auch bei Beherrschung nur eines Unternehmens immer Unternehmensqualität, da neben die Interessen des Unternehmens die öffentlichen Interessen treten.14) 8 Bei einem abhängigen Unternehmen muss die Unternehmensleitung ermitteln, ob ein Gesellschafter anderweitige unternehmerische Interessen außerhalb seiner Beteiligung verfolgt, die so gewichtig sind, dass das Risiko besteht, der Gesellschafter könne seine Beteiligungsrechte zugunsten dieser Interessen ausüben.15) Das abhängige Unternehmen selbst kann jeder Rechtsträger mit wirtschaftlicher Betätigung ohne Rücksicht auf die Rechtsform sein.16)

___________ 8) Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 4. 9) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), ZIP 2001, 1323 (1324); Emmerich/ Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 13, § 17 AktG Rz. 14; Bayer, ZGR 2002, 933 (945 ff.). 10) Schmidt/Lutter/Vetter, § 15 Rz. 46. 11) MünchKommAktG/Bayer, § 15 Rz. 22; KK-AktG/Koppensteiner, § 15 Rz. 48. 12) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 14. 13) BeckOGK-AktG/Schall, § 15 Rz. 71 (Beteiligung von 10 % ausreichend); GroßkommAktG/Windbichler, § 15 Rz. 36 ff. (Beteiligung von unter 10 % kann ausreichen). 14) BGH, Beschl. v. 17.3.1997 – II ZB 3/96 (VW), NJW 1997, 1856 = ZIP 1997, 887; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 9a, 34; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 8; MünchKommAktG/Bayer, § 15 Rz. 38. 15) Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1226. 16) Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 3; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 25; MünchKommAktG/Bayer, § 15 Rz. 48; a. A. Grigoleit/Grigoleit, § 15 Rz. 41; KK-AktG/ Koppensteiner, § 15 Rz. 86.

576

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A. Konzernbegriff

3.

Herrschendes und abhängiges Unternehmen

Als Anknüpfungspunkt fast aller Normen ist die „Abhängigkeit“ der zentrale 9 Begriff des Konzernrechts.17) Die Abhängigkeit bestimmt sich nach § 17 AktG. a)

Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG

Gemäß § 17 Abs. 2 AktG wird von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unter- 10 nehmen vermutet, dass es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist. Eine Mehrheitsbeteiligung ist gemäß § 16 Abs. 1 – 3 AktG sowohl bei einer Anteilsmehrheit als auch bei einer Stimmrechtsmehrheit gegeben. Die Abhängigkeitsvermutung kann durch die Darlegung, dass das mit Mehrheit 11 beteiligte Unternehmen trotz der Mehrheitsbeteiligung keinen beherrschenden Einfluss auf das andere Unternehmen ausüben kann, widerlegt werden (vgl. § 17 Abs. 1 AktG). Der freiwillige Verzicht auf Ausübung dieses Einflusses ist jedoch nicht ausreichend.18) Zur Widerlegung der Vermutung kann insbesondere geltend gemacht werden, 12 dass eine reine Kapitalmehrheit besteht (etwa durch Halten von stimmrechtslosen Vorzugsaktien),19) ein Entherrschungsvertrag abgeschlossen wurde oder der Mehrheitsaktionär aufgrund von Satzungsbestimmungen (z. B. qualifizierte Beschlussmehrheiten oder Stimmrechtsbeschränkungen) oder Vereinbarungen mit anderen Aktionären (z. B. Stimmbindungsverträge) keine Möglichkeit hat, sich bei der Beschlussfassung der Hauptversammlung mit seinen Stimmen durchzusetzen.20) b)

Abhängigkeit gemäß § 17 Abs. 1 AktG

Besteht keine Mehrheitsbeteiligung, bestimmt sich die Abhängigkeit nach § 17 13 Abs. 1 AktG. Danach liegt ein Abhängigkeitsverhältnis vor, wenn ein Unternehmen auf ein anderes beherrschenden Einfluss nehmen kann. Beherrschender Einfluss soll im Hinblick auf § 17 Abs. 2 AktG bestehen, 14 wenn der Einfluss dem Potenzial einer Mehrheitsbeteiligung entspricht. Dies sei insbesondere der Fall, wenn Einfluss auf die personelle Besetzung der Leitungs- und Aufsichtsorgane genommen werden kann, so dass die Durchsetzung unternehmensfremder Interessen durch die Organmitglieder wahrschein___________ 17) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 2; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 15; Henssler/ Strohn/Keßler, § 17 AktG Rz. 1. 18) MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 94; KK-AktG/Koppensteiner, § 17 Rz. 101; BeckOGKAktG/Schall, § 17 Rz. 53; Schmidt/Lutter/Vetter, § 17 Rz. 52. 19) KK-AktG/Koppensteiner, § 17 Rz. 105; Großkomm-AktG/Windbichler, § 17 Rz. 74. 20) Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1230; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 26, 28; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 17 AktG Rz. 37 ff.; MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 98 ff.; Schmidt/ Lutter/Vetter, § 17 Rz. 52 ff.

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577

§ 7 Besonderheiten im Konzern

lich ist.21) Die Einflussnahme muss gesellschaftsrechtlich begründet sein. Eine rein wirtschaftliche Abhängigkeit (wie etwa von einem Großkunden) genügt nicht.22) 15 Ausreichend ist, wenn die Möglichkeit der Einflussnahme besteht. Auf eine tatsächliche beherrschende Einflussnahme kommt es nicht an.23) Die Möglichkeit der Einflussnahme besteht beispielsweise bei einer sog. faktischen Hauptversammlungsmehrheit, wenn ein Aktionär mit einer Minderheitsbeteiligung angesichts der bisherigen Präsenz in den vorangegangen Hauptversammlungen über eine stabile Mehrheit der Stimmrechte verfügt und somit auch mit der Minderheitsbeteiligung maßgebliche Entscheidungen bestimmen kann. Darüber hinaus kann die Abhängigkeit auch durch Stimmbindungsverträge und Stimmkonsortien begründet werden.24) Auch ein Beherrschungsvertrag begründet ein Abhängigkeitsverhältnis (vgl. § 291 Abs. 2 AktG).25) Gewinnabführungsverträge sowie andere Unternehmensverträge können wegen des fehlenden Weisungsrechts allein noch kein Abhängigkeitsverhältnis begründen. Sie können aber mit weiteren Umständen zu einer Abhängigkeit führen.26) Auch Sperrminoritäten begründen ohne Hinzutreten weiterer Umstände (wie z. B. besondere Satzungsbestimmungen) noch keinen beherrschenden Einfluss.27) 4.

Zurechnung

16 Gemäß § 17 Abs. 1 AktG ist ein Abhängigkeitsverhältnis auch dann gegeben, wenn das herrschende Unternehmen mittelbaren Einfluss auf das abhängige Unternehmen ausüben kann. Der mittelbare Einfluss ergibt sich nach den Regelungen zur Zurechnung in § 16 Abs. 2 – 4 AktG. Insbesondere § 16 Abs. 4 AktG soll vor der Umgehung der Vorschriften zu verbunden Unternehmen schützen.28) ___________ 21) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 6 ff.; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 16; MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 26; Schmidt/Lutter/Vetter, § 17 Rz. 6; Koch, § 17, Rz. 5. 22) MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 29; Koch, § 17 Rz. 8; Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1231; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 15; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 23. 23) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 8; MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 11; Schmidt/Lutter/Vetter, § 17 Rz. 5; Koch, § 17 Rz. 6. 24) Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1231; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 15 AktG Rz. 14, § 17 AktG Rz. 19 f.; Schmidt/Lutter/Vetter, § 17 Rz. 20 ff. 25) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 14; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 25; MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 65; KK-AktG/Koppensteiner, § 17 Rz. 51; Koch, § 17 Rz. 12. 26) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 14, 22; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 25; KK-AktG/Koppensteiner, § 17 Rz. 53; Schmidt/Lutter/Vetter, § 17 Rz. 42 f. 27) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 25; MünchKommAktG/Bayer, § 17 Rz. 43; Koch, § 17 Rz. 10; BeckOGK-AktG/Schall, § 17 Rz. 29. 28) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 16 AktG Rz. 15; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 13; BeckOGK-AktG/Schall, § 17 Rz. 25; KK-AktG/Koppensteiner, § 16 Rz. 29.

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A. Konzernbegriff

Gemäß § 16 Abs. 4 AktG werden dem herrschenden Unternehmen die Anteile 17 zugerechnet, die 

einem von dem Unternehmen abhängigen Unternehmen gehören,



einem anderen für die Rechnung des Unternehmens oder eines von ihm abhängigen Unternehmens Handelnden gehören, oder



sonstiges Vermögen eines Einzelkaufmanns darstellen.

Das Unternehmen, dem die Anteile zugerechnet werden, muss nicht auch 18 selbst Anteile an dem abhängigen Unternehmen halten.29) Die Anteile werden in voller Höhe und nicht nur verhältnismäßig zugerech- 19 net.30) Es findet dabei keine Absorption der zugerechneten Anteile statt.31) Aufgrund dessen kann auch eine mehrfache Abhängigkeit von mehreren Unternehmen vorliegen.32) Durch die Zurechnung kann nur die Abhängigkeit von einem Unternehmen, 20 aber nicht die Unternehmenseigenschaft selbst begründet werden. Diese ist vielmehr Voraussetzung für die Zurechnung.33) II.

Formen der Konzernierung

Die Konzernierung ist ein Unterfall der verbundenen Unternehmen i. S. d. § 15 21 AktG. Die meisten verbundenen Unternehmen weisen aber auch die Merkmale eines Konzerns auf.34) Insbesondere stellt der Konzern keine eigene Rechtsform dar.35) Vielmehr ist im Konzern „rechtliche Vielfalt bei wirtschaftlicher Einheit“36) gegeben. Das Gesetz unterscheidet zwischen verschiedenen Formen der Konzernierung.

___________ 29) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 16 AktG Rz. 17, § 17 AktG Rz. 27; Raiser/Veil/ Raiser, § 59, Rz. 14; Schmidt/Lutter/Vetter, § 16 Rz. 23; MünchKommAktG/Bayer, § 16 Rz. 44. 30) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 16 AktG Rz. 16a; MünchKommAktG/Bayer, § 16 Rz. 46; Schmidt/Lutter/Vetter, § 16 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Schall, § 16 Rz. 26. 31) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 16 AktG Rz. 16a; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 14; MünchKommAktG/Bayer, § 16 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Vetter, § 16 Rz. 23; Koch, § 16 Rz. 13; KK-AktG/Koppensteiner, § 16 Rz. 36. 32) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 16 AktG Rz. 17; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 14; MünchKommAktG/Bayer, § 16 Rz. 45; Schmidt/Lutter/Vetter, § 16 Rz. 23. 33) BGH, Urt. v. 18.6.2001 – II ZR 212/99 (MLP), ZIP 2001, 1324; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 16 AktG Rz. 16; Schmidt/Lutter/Vetter, § 16 Rz. 25; BeckOGK-AktG/Schall, § 16 Rz. 20; Henssler/Strohn/Keßler, § 16 AktG Rz. 8; Cahn, AG 2002, 30 (33). 34) Raiser/Veil/Raiser, § 58 Rz. 2. 35) Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1220; Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 141. 36) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 3.

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579

§ 7 Besonderheiten im Konzern

1.

Unterordnungskonzern und Gleichordnungskonzern

22 Im Gesetz wird zwischen Unterordnungskonzernen (§ 18 Abs. 1 Satz 1 AktG) und Gleichordnungskonzernen (§ 18 Abs. 2 AktG) unterschieden, wobei Unterordnungskonzerne den Regelfall darstellen.37) Eine mehrfache Konzernierung kommt nur bei Gemeinschaftsunternehmen in Betracht.38) Im Übrigen gilt der Grundsatz: kein Konzern im Konzern.39) a)

Unterordnungskonzern

23 Die in § 18 Abs. 1 Satz 1 AktG geregelte Zusammenfassung eines herrschenden und eines oder mehrerer abhängiger Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens bezeichnet man als Unterordnungskonzern. Merkmale eines Unterordnungskonzerns sind daher das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses und die Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung des herrschenden Unternehmens.40) Zentrale Bedeutung kommt der einheitlichen Leitung zu.41) b)

Gleichordnungskonzern

24 Im Gleichordnungskonzern werden dagegen mehrere rechtlich selbständige Unternehmen unter einheitlicher Leitung zusammengefasst, ohne dass ein Abhängigkeitsverhältnis besteht (vgl. § 18 Abs. 2 AktG). Wichtigstes Merkmal ist auch hier die Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung.42) 25 Da kein Abhängigkeitsverhältnis vorliegen kann, sind Weisungsrechte im Gleichordnungskonzern nicht zulässig.43) Daher ist auch das Bestehen eines Beherrschungsvertrags zwischen den beiden Unternehmen ausgeschlossen (vgl. § 291 Abs. 2).

___________ 37) Raiser/Veil/Raiser, § 58 Rz. 4; Koch, § 18 Rz. 2; Großkomm-AktG/Windbichler, § 18 Rz. 28. 38) Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 41; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 18; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 43; KK-AktG/Koppensteiner, § 18 Rz. 34; Schmidt/ Lutter/Vetter, § 18 Rz. 15. 39) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 18; KK-AktG/Koppensteiner, § 18 Rz. 31; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 42; Schmidt/Lutter/Vetter, § 18 Rz. 14. 40) Schmidt/Lutter/Vetter, § 18 Rz. 6; Grigoleit/Grigoleit, § 18 Rz. 5; Henssler/Strohn/ Keßler, § 18 AktG Rz. 3; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 8 ff. 41) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 9; Schmidt/Lutter/Vetter, § 18 Rz. 6; BeckOGK-AktG/Schall, § 18 Rz. 9; Grigoleit/Grigoleit, § 18 Rz. 1; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 11. 42) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 1, 28; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 24; Grigoleit/Grigoleit, § 18 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Schall, § 18 Rz. 9. 43) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 36; Schmidt/Lutter/Vetter, § 18 Rz. 27.

580

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A. Konzernbegriff

c)

Einheitliche Leitung

Was unter dem Merkmal der „einheitlichen Leitung“ zu verstehen ist, wird un- 26 terschiedlich beurteilt. Während zum Teil eine Durchsetzung von Zielvorstellungen in allen wesentlichen Unternehmensbereichen gefordert wird (enger Konzernbegriff),44) soll es nach anderer, vorzugswürdiger Auffassung ausreichen, wenn in einem wichtigen Unternehmensbereich eine einheitliche Leitung durch Planung, Durchführung und Kontrolle gegeben ist (weiter Konzernbegriff).45) Bei einer einheitlichen Finanzplanung wird jedenfalls ein Konzern angenommen.46) Die einheitliche Leitung wird im Falle von Beherrschungsverträgen oder Ein- 27 gliederungen unwiderleglich vermutet (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 2 AktG).47) Besteht ein anderweitiges Abhängigkeitsverhältnis, greift die widerlegliche Vermutung des § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG.48) Wird die Abhängigkeit nach § 17 Abs. 2 AktG vermutet, spricht man von einer Doppelvermutung.49) Der Gegenbeweis kann in diesem Fall sowohl durch Widerlegung der Konzernvermutung des § 18 Abs. 1 AktG als auch durch Widerlegung der Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG erbracht werden.50) Eine Vermutung des Bestehens eines Gleichordnungskonzerns ist gesetzlich nicht vorgesehen.51) Eine weitgehende Personenidentität, die Verflechtung des Führungspersonals52) und eine laufende Abstimmung der Unternehmenspolitik53) können auf eine einheitliche Leitung hinweisen. Auf die Mittel, mit denen die einheitliche Leitung ausgeübt wird, kommt es nicht an.54) ___________ 44) KK-AktG/Koppensteiner, § 18 Rz. 19 ff.; Großkomm-AktG/Windbichler, § 18 Rz. 24 ff. 45) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 17 AktG Rz. 9 f.; Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1233; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 33; Koch, § 18 Rz. 10; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 15; Schmidt/Lutter/Vetter, § 18 Rz. 11. 46) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 11; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 40; BeckOGK-AktG/Schall, § 18 Rz. 13; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 14; Schmidt/Lutter/ Vetter, § 18 Rz. 9. 47) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 1, 20; Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 33; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 44; Schmidt/Lutter/Vetter, § 18 Rz. 16; Koch, § 18 Rz. 17. 48) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 20; Koch, § 18 Rz. 18; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 69 Rz. 74; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 46. 49) OLG Hamm, Urt. v. 11.4.2000 – 29 U 114/99, NJOZ 2002, 438 (441). 50) BeckOGK-AktG/Schall, § 18 Rz. 29; Koch, § 18 Rz. 19; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 48; KK-AktG/Koppensteiner, § 18 Rz. 45. 51) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 20. 52) Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 40; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 35; KK-AktG/ Koppensteiner, § 18 Rz. 29; Bürgers/Körber/Lieder/Fett, § 18 Rz. 7; BeckOGK-AktG/ Schall, § 18 Rz. 17; Koch, § 18 Rz. 12; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 16. 53) Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 40; Koch, § 18 Rz. 12; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 16. 54) Raiser/Veil/Raiser, § 59 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Schall, § 18 Rz. 17; Koch, § 18 Rz. 12; Henssler/Strohn/Keßler, § 18 AktG Rz. 4; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 16.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

2.

Faktischer Konzern und Vertragskonzern

28 Das Gesetz unterscheidet weiterhin zwischen Vertragskonzernen (§§ 291 ff. AktG) und faktischen Konzernen (§§ 311 ff. AktG). a)

Vertragskonzerne

29 Ein Vertragskonzern entsteht durch Abschluss eines Beherrschungsvertrags,55) durch den eine AG oder KGaA ihre Leitung einem anderen Unternehmen unterstellt (§ 291 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AktG). Das Bestehen eines Konzerns wird gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 AktG vermutet. Es handelt sich um einen vertraglichen Unterordnungskonzern.56) 30 Durch einen Vertrag können auch Unternehmen, die nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, unter einheitliche Leitung gestellt werden. In diesem Fall handelt es sich um einen vertraglichen Gleichordnungskonzern. Zur Abgrenzung vom Beherrschungsvertrag dient § 291 Abs. 2 AktG.57) 31 Mit Abschluss eines Gewinnabführungsvertrags verpflichtet sich eine AG oder KGaA, ihren ganzen Gewinn an ein anderes Unternehmen abzuführen (§ 291 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AktG). Durch einen isolierten Gewinnabführungsvertrag werden aber weder ein Abhängigkeitsverhältnis noch ein Konzern begründet.58) Gleiches gilt für die anderen in § 292 Abs. 1 AktG geregelten Unternehmensverträge.59) In der Praxis werden Gewinnabführungsverträge sehr häufig mit Beherrschungsverträgen kombiniert. b)

Faktische Konzerne

32 Sonderreglungen für faktische Konzerne sind in den §§ 311 – 318 AktG normiert. Der Begriff des „faktischen Konzerns“ ist nicht legal definiert. Unter einem „faktischen Konzern“ werden alle Unternehmensverbindungen verstanden, die nicht als Vertragskonzern oder als Eingliederung zu qualifizieren sind.60) Sie können also mit Ausnahme von Beherrschungsverträgen auf allen Unternehmensverträgen oder auf rein tatsächlichen Verhältnissen, wie z. B. einer Mehrheitsbeteiligung, wechselseitigen Beteiligungen oder personellen Ver___________ 55) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 1; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 3; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71, Rz. 1; MünchKommAktG/Bayer, § 18, Rz. 6. 56) Ihrig/Schäfer, § 31, Rz. 1234; MünchKommAktG/Bayer, § 18, Rz. 6; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 1; Großkomm-AktG/Mülbert, § 291 Rz. 56. 57) MünchKommAktG/Altmeppen, § 291 AktG Rz. 213; Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1235; Großkomm-AktG/Hopt/Wiedemann, § 291 Rz. 209. 58) MünchKommAktG/Altmeppen, § 291 AktG Rz. 166; Koch, § 18 Rz. 3; Hölters/Weber/ Krebs, § 18 Rz. 5; a. A. MünchKommAktG/Bayer, § 18 AktG Rz. 6. 59) Henssler/Strohn/Paschos, § 292 AktG Rz. 4; Koch, § 18 Rz. 3; Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 5; a. A. MünchKommAktG/Bayer, § 18 AktG Rz. 6. 60) Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1229; Großkomm-AktG/Windbichler, § 18 Rz. 34; Hölters/Weber/ Krebs, § 18 Rz. 5.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

flechtungen, beruhen.61) Auch im Fall eines faktischen Konzerns ist die Ausgestaltung sowohl als Unterordnungskonzern als auch als Gleichordnungskonzern möglich.62) B.

Besondere Pflichten im Vertragskonzern

I.

Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens

Die Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens im vertraglichen 33 Unterordnungskonzern resultieren aus dem zwischen den Unternehmen bestehenden Beherrschungsvertrag. Insbesondere ergeben sich Pflichten bei der Durchführung des Unternehmensvertrags. 1.

Pflichten bei Abschluss des Vertrags

a)

Sorgfaltspflicht bei Vorbereitung und Abschluss des Beherrschungsvertrags

Für die Vorbereitung und den Abschluss des Beherrschungsvertrags ist der Vor- 34 stand als Vertretungsorgan der Gesellschaft zuständig.63) Beim Abschluss des Beherrschungsvertrags ist der Vorstand zur Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verpflichtet.64) Der Vertrag wird gemäß § 293 Abs. 1 Satz 1 AktG jedoch nur mit Zustimmung der Hauptversammlungen der beiden Unternehmen wirksam. Nach einer Auffassung hafte der Vorstand aufgrund der Entscheidung der Hauptversammlung über den Abschluss des Beherrschungsvertrags seinem Unternehmen gegenüber nicht für die konkrete inhaltliche Ausgestaltung des Vertrags.65) Dem ist nicht zuzustimmen. Eine Entlastung kommt nur bei einer Anweisung zum Abschluss des Beherrschungsvertrags durch die Hauptversammlung gemäß § 83 Abs. 1 Satz 2 AktG in Betracht. Im Übrigen würde es sich um einen nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG unzulässigen Verzicht auf einen schon bestehenden Ersatzanspruch handeln.66) b)

Berichtspflicht

Gemäß § 293 AktG hat der Vorstand des herrschenden Unternehmens die 35 Pflicht, der Hauptversammlung über den Unternehmensvertrag einen ausführ___________ 61) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 18 AktG Rz. 3, 30; Raiser/Veil/Raiser, § 58 Rz. 4 f. 62) Vgl. Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1229. 63) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 17; MünchKommAktG/Altmeppen, § 293 Rz. 5; KK-AktG/ Koppensteiner, § 293 Rz. 11; Koch, § 293 Rz. 23. 64) KK-AktG/Koppensteiner, § 293 Rz. 22; Hölters/Weber/Deilmann, § 293 Rz. 28; Emmerich/ Habersack/Emmerich, § 293 AktG Rz. 14; Großkomm-AktG/Mülbert, § 293 Rz. 38. 65) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 382; MünchKommAktG/Altmeppen, § 293 Rz. 28 f.; Großkomm-AktG/Mülbert, § 293 Rz. 40 ff. 66) KK-AktG/Koppensteiner, § 293 Rz. 23; Hölters/Weber/Deilmann, § 293 Rz. 30; Emmerich/ Habersack/Emmerich, § 293 AktG Rz. 14; Koch, § 293 Rz. 23.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

lichen schriftlichen Bericht zu erstatten. Wenn es an einer besonderen Aufgabenzuweisung fehlt, ist jedes Vorstandsmitglied zur Mitwirkung an dem Bericht verpflichtet.67) Eine gemeinsame Berichterstattung mit dem Vorstand des abhängigen Unternehmens ist möglich (§ 293a Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AktG) und in der Praxis nicht unüblich. 36 Im Bericht sollen der Abschluss des Unternehmensvertrags, der Vertrag im Einzelnen und insbesondere die Höhe des Ausgleichs und der Abfindung nach §§ 304, 305 AktG rechtlich und wirtschaftlich erläutert und begründet werden. Darüber hinaus ist auch auf besondere Schwierigkeiten bei der Bewertung der vertragsschließenden Unternehmen sowie auf die Folgen für die Beteiligung der Aktionäre hinzuweisen. Der Vorstand der herrschenden Gesellschaft hat die Hauptversammlung umfassend über die sich aus dem Beherrschungsvertrag ergebenden Chancen und Risiken des herrschenden Unternehmens zu informieren. Der Bericht soll den Aktionären eine geeignete Entscheidungsgrundlage für ihr Abstimmungsverhalten geben.68) 37 Gemäß § 293 Abs. 3 AktG ist der Bericht nicht erforderlich, wenn alle Gesellschafter der beteiligten Unternehmen auf seine Erstattung in einer öffentlich beglaubigten Erklärung verzichten, was bei einem überschaubaren Gesellschafterkreis denkbar ist, bei Publikumsgesellschaften jedoch regelmäßig als Handlungsoption ausscheidet. 38 Für den Pflichtenkreis des Vorstands des herrschenden Unternehmens ist zudem bedeutsam, dass der Vertrag von einem unabhängigen Vertragsprüfer geprüft werden muss, es sei denn, das herrschende Unternehmen ist alleiniger Gesellschafter des abhängigen Unternehmens (§ 293b Abs. 1 AktG) oder alle Gesellschafter der beteiligten Unternehmen verzichten auf die Prüfung (§ 293b Abs. 2 AktG). Der Vertragsprüfer erstellt einen Prüfungsbericht. c)

Auskunftspflicht

39 Aus § 293g i. V. m. § 293f Abs. 1 AktG ergibt sich die Pflicht des Vorstands des herrschenden Unternehmens, zu Beginn der Hauptversammlung, in der über den Beherrschungsvertrag abgestimmt werden soll, den Prüfungsbericht sowie die Jahresabschlüsse und Lageberichte der vertragsschließenden Unternehmen für die letzten drei Jahre mündlich zu erläutern. § 293g Abs. 3 AktG erweitert diesen Auskunftsanspruch der Aktionäre auf alle für den Vertragsschluss wesentlichen Angelegenheiten des anderen Vertragsteils. Hieraus leitet ___________ 67) MünchKommAktG/Altmeppen, § 293a Rz. 29; KK-AktG/Koppensteiner, § 293a Rz. 17; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 293a AktG Rz. 16; Bürgers/Körber/Lieder/Schenk, § 293a Rz. 10. 68) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 20; MünchKommAktG/Altmeppen, § 293a Rz. 38; KK-AktG/ Koppensteiner, § 293a Rz. 22; Bürgers/Körber/Lieder/Schenk, § 293a Rz. 2.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

sich die Pflicht des Vorstands ab, sich über die vom Auskunftsanspruch der Aktionäre gedeckten Informationen kundig zu machen.69) d)

Pflicht zur Handelsregisteranmeldung

§ 294 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AktG normiert die Pflicht des Vorstands, das Be- 40 stehen und die Art des Unternehmensvertrags sowie den Namen des anderen Vertragsteils zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. e)

Änderung des Beherrschungsvertrags

Bei einer Änderung des Beherrschungsvertrags sind gemäß § 295 Abs. 1 AktG 41 dieselben Zustimmungs- und Formvorschriften einzuhalten wie beim Vertragsschluss. 2.

Pflichten bei Durchführung des Vertrags

Im vertraglichen Unterordnungskonzern überträgt das abhängige Unterneh- 42 men mit dem Beherrschungsvertrag seine Leitung auf die herrschende Gesellschaft. Die übertragene Leitung muss sich entsprechend dem weiten Konzernbegriff nicht auf alle Leitungsbereiche des abhängigen Unternehmens beziehen.70) Dem herrschenden Unternehmen wird durch den Beherrschungsvertrag ein Weisungsrecht gewährt. Dieses Weisungsrecht stellt die wichtigste Einflussmöglichkeit des Vorstands des herrschenden Unternehmens auf das abhängige Unternehmen dar. Bei der Ausübung des Weisungsrechts hat der Vorstand der herrschenden Gesellschaft besondere Pflichten zu beachten. a)

Weisungsrecht aus dem Beherrschungsvertrag

aa)

Pflicht zur sorgfältigen Ausübung des Weisungsrechts

(1)

Weisungsberechtigter und -empfänger

Das Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens ergibt sich aus § 308 43 Abs. 1 AktG. Zwar ist grundsätzlich das herrschende Unternehmen der Weisungsberechtigte. Die Ausübung des Weisungsrechts erfolgt jedoch gemäß § 309 Abs. 1 AktG durch den gesetzlichen Vertreter des herrschenden Unternehmens, mithin durch den Vorstand der herrschenden AG. Bei der Ausübung hat der Vorstand die Pflicht zur Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters. ___________ 69) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 21; MünchKommAktG/Altmeppen, § 293g Rz. 17; BeckOGKAktG/Veil/Walla, § 293g Rz. 11; Koch, § 293g Rz. 3; Henssler/Strohn/Paschos, § 293g AktG Rz. 4. 70) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 2; Koch, § 291 Rz. 10; GroßKomm-AktG/Mülbert, § 291 Rz. 68 f.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

44 Eine Bevollmächtigung einzelner Vorstandsmitglieder, leitender Angestellter oder Dritter zur Ausübung des Weisungsrechts ist zulässig.71) Der Gesamtvorstand muss aber das Letztentscheidungsrecht behalten. Neben dem Vertretungsrecht besteht daher ein Geschäftsbesorgungs- oder ein Auftragsverhältnis mit dem Bevollmächtigten.72) Eine vollständige Übertragung des Weisungsrechts ist nur im Wege der Vertragsübernahme mit Zustimmung der abhängigen Gesellschaft zulässig.73) Daher ist eine zeitliche und sachliche Beschränkung der Delegation des Weisungsrechts erforderlich.74) Durch die Unzulässigkeit der Übertragung des Weisungsrechts wird sichergestellt, dass die abhängige Gesellschaft die Identität der weisungsberechtigten Personen nachvollziehen kann.75) 45 Weisungsempfänger ist grundsätzlich der Vorstand der beherrschten AG. Soweit diesem die Prüfung der Weisung uneingeschränkt möglich bleibt, ist in Ausnahmefällen mit Zustimmung des Vorstands des abhängigen Unternehmens die Weisungserteilung auch direkt gegenüber nachgeordneten Mitarbeitern zulässig.76) (2)

Begriff und Form der Weisung

46 Weisungen sind Maßnahmen der herrschenden Gesellschaft, die darauf abzielen, die abhängige Gesellschaft mit verbindlicher Wirkung zu beeinflussen.77) Es kommt darauf an, dass nach dem objektiven Empfängerhorizont die Erwartung der Befolgung zum Ausdruck gebracht wird.78) Der Begriff der Weisung ist daher weit auszulegen. Es kommt nicht auf die Bezeichnung als Weisung an. Vielmehr kann die Einflussnahme auch im Wege von Anordnungen, Direktiven oder verbindlichen Empfehlungen und Ratschlägen erfolgen.79) ___________ 71) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 42; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1309; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 13; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 34, 41. 72) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 15; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1309; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 25; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 43. 73) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 16; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1309; Koch, § 308 Rz. 6; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 15. 74) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 15; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 14 f.; Koch, § 308 Rz. 6. 75) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1310. 76) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1310; Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 43; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 19 f.; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 18. 77) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1307; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 22d; Schmidt/Lutter/ Langenbucher, § 308 Rz. 3; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 6. 78) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1307; Bürgers/Körber/Lieder/Fett, § 308 Rz. 11; GroßkommAktG/Hirte, § 308 Rz. 17 f. 79) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 35; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 24; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 9; Bürgers/Körber/Lieder/Fett, § 308 Rz. 11; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 4; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 18.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

Gesetzlich ist keine bestimmte Form für die Weisungen vorgesehen. Besondere 47 Formerfordernisse können aber im Beherrschungsvertrag vereinbart werden.80) Im Übrigen handelt es sich bei Weisungen um rechtsgeschäftsähnliche Handlungen, für die die allgemeinen Vorschriften über die Abgabe und den Zugang von Willenserklärungen zumindest entsprechend anwendbar sind.81) (3)

Inhalt des Weisungsrechts

Die Weisungen können sich gemäß § 308 Abs. 1 AktG auf die Leitung der ab- 48 hängigen Gesellschaft beziehen. Aus § 76 Abs. 1 AktG ergibt sich, dass unter der Leitung der Gesellschaft die Befugnisse des Vorstands zu verstehen sind. Die Weisungen können sich daher auf die Leitungs- und Geschäftsführungsbefugnisse des Vorstands des abhängigen Unternehmens beziehen.82) Gegenstände, die in der zwingenden Kompetenz des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung liegen, sind vom Weisungsrecht ausgenommen.83) Verweigert der Aufsichtsrat die Zustimmung bei Bestehen eines Zustimmungs- 49 vorbehalts, kann das herrschende Unternehmen die Weisung wiederholen und damit gemäß § 308 Abs. 3 AktG den Widerstand des Aufsichtsrats überwinden. Die Weisungen können sich auf die operative Tätigkeit des abhängigen Un- 50 ternehmens, wie beispielsweise die Planung, Organisation und Zielsetzung der Gesellschaft beziehen, wobei auch konkrete Weisungen in Bezug auf einzelne Geschäfte des Tagesgeschäfts möglich sind.84) Außerdem sind auch Weisungen hinsichtlich des korporativen Innenverhältnisses (z. B. bezüglich Einberufung der Hauptversammlung, Ausgabe neuer Aktien, Aufstellung des Jahresabschlusses) zulässig.85) ___________ 80) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 26; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1311; Koch, § 308 Rz. 13; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 136; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 57. 81) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1311; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 26; Koch, § 308 Rz. 11; vgl. auch: MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 9. 82) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1312; Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 35; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 38; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 87; KK-AktG/ Koppensteiner, § 308 Rz. 27. 83) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 3; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1312; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 42; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 86; Koch, § 308 Rz. 12. 84) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 39; Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 35; Ihrig/ Schäfer, § 32 Rz. 1313; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 31; Hölters/Weber/Leuering/ Goertz, § 308 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 21. 85) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 35; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1313; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 40; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 21 f.; Großkomm-AktG/ Hirte, § 308 Rz. 32; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 24; BeckOGK-AktG/ Veil/Walla, § 308 Rz. 22.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

51 Allerdings sind die Rechte des Vorstands der abhängigen Gesellschaft zur Einberufung der Hauptversammlung zur Überwindung des Widerstands des Aufsichtsrats bei einem Zustimmungsvorbehalt (§ 111 Abs. 4 Satz 3 AktG) und zur Vorlage von Geschäftsführungsmaßnahmen zur Entscheidung durch die Hauptversammlung (§ 119 Abs. 2 AktG) nicht vom Weisungsrecht umfasst. Hiermit soll verhindert werden, dass die Haftung des herrschenden Unternehmens nach § 309 AktG durch eine Entscheidung der Hauptversammlung des abhängigen Unternehmens umgangen wird.86) (4)

Nachteilige Weisungen

52 Auch nachteilige Weisungen sind gemäß § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG grundsätzlich erlaubt. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass einerseits die Erteilung nachteiliger Weisungen nicht im Beherrschungsvertrag ausgeschlossen wurde und dass andererseits die negative Weisung den Interessen des herrschenden Unternehmens oder der mit diesem und der abhängigen Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen (Konzerninteressen) dient. 53 Nachteilig sind Weisungen, die ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft nicht vorgenommen hätte,87) so zum Beispiel die Vorgabe nicht marktadäquater, die abhängige Gesellschaft benachteiligender Konzernverrechnungspreise,88) die Abführung von Gegenständen des Anlage- und Umlaufvermögens an ein anderes Konzernunternehmen,89) die Gewährung von Darlehen an andere Konzernunternehmen,90)die Verlagerung von Geschäftschancen auf andere Konzernunternehmen91) oder der vom herrschenden Unternehmen verlangte Erwerb von Lizenzen an wertlosen Schutzrechten.92) ,

54 Der Vorstand des herrschenden Unternehmens hat die Auswirkungen der nachteiligen Weisungen für alle Unternehmen des Konzernverbundes zu berücksichtigen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist zu beachten: die Nach___________ 86) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1313; MünchKomm/Altmeppen, § 308 Rz. 91; Großkomm-AktG/ Hirte, § 308 Rz. 32; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 34; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 23; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 24; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 22; a. A. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 41 (mit Hinweis auf die Möglichkeit einer entsprechenden Anwendung des § 309 AktG). 87) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 45; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 25; Koch, § 308 Rz. 15; Hölters/Weber/ Leuering/Goertz, § 308 Rz. 28. 88) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 37; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 45; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 96; Grigoleit/Servatius, § 308 Rz. 19; Koch, § 308 Rz. 17; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 50. 89) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 37; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 45; Großkomm-AktG/Hopt/Wiedemann, § 308 Rz. 50. 90) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 37; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 45. 91) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 45. 92) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 45.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

teile dürfen nicht außer Verhältnis zu den Vorteilen für den Konzern stehen.93) Etwaige Vorteile eines Unternehmens können anderweitige Nachteile dabei ausgleichen. Meist ist aufgrund der Beteiligungen des herrschenden Unternehmens an den anderen Konzernunternehmen das Konzerninteresse mit dem Interesse des herrschenden Unternehmens deckungsgleich.94) Maßstab hierfür ist die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters.95) bb)

Grenzen des Weisungsrechts

Inhaltliche Grenzen des Weisungsrechts können sich insbesondere aus dem 55 Gesetz, der Satzung oder dem Beherrschungsvertrag ergeben.96) (1)

Gesetzliche Grenzen

Die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Weisungsrechts ist Teil der Legali- 56 tätspflicht des Vorstands des herrschenden Unternehmens.97) § 299 AktG erklärt Weisungen, durch die ein Unternehmensvertrag geändert, aufrechterhalten oder beendigt werden soll, für unzulässig. Darüber hinaus müssen alle sonstigen zwingenden Regelungen des Aktienrechts beachtet werden.98) Da das Gesetz strikt zwischen Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträgen trennt, sind auch Weisungen nach denen das abhängige Unternehmen seinen Gewinn abführen soll, unzulässig, soweit nur ein isolierter Beherrschungsvertrag besteht.99) Auch die Weisung, den Verlustausgleich nach § 302 AktG nicht geltend zu machen, ist unzulässig.100) Weitere zwingende gesetzliche Grenzen können sich insbesondere aus dem Wettbewerbs-, Steuer-, Umwelt- und Aufsichtsrecht ergeben.101) ___________ 93) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 39; Koch, § 308 Rz. 17; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 49; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 51; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 27. 94) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1316; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 103; HoffmannBecking, in: Festschrift Hommelhoff, S. 433 (442). 95) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 48. 96) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1314; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 37; Koch, § 308 Rz. 13. 97) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 58. 98) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 40; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1315; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 58; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 95; BeckOGK-AktG/Veil/ Walla, § 308 Rz. 29; Koch, § 308 Rz. 14. 99) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 35; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1315; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 43; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 99; Schmidt/Lutter/ Langenbucher, § 308 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 22. 100) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 40; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 58; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 37. 101) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1315; Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 40; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 58 f.; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 29; Koch, § 308 Rz. 14; Grigoleit/Servatius, § 308 Rz. 23.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

57 Verletzt der Vorstand bei Erteilung der Weisungen die Sorgfaltspflicht des § 309 Abs. 1 AktG, können auch Weisungen, die im Übrigen nicht gegen Gesetz, Satzung oder Beherrschungsvertrag verstoßen unzulässig sein.102) (2)

Statutarische Grenzen

58 Statutarische Grenzen ergeben sich insbesondere aus dem Unternehmensgegenstand der abhängigen Gesellschaft. So sind Weisungen, die sich auf Maßnahmen beziehen, die vom statutarischen Unternehmensgegenstand des abhängigen Unternehmens nicht gedeckt sind, unzulässig.103) Auch Weisungen, nach denen die von der Satzung umfasste Tätigkeit oder ein Tätigkeitsbereich einzustellen sind, sind nicht vom Weisungsrecht gedeckt.104) (3)

Unternehmensvertragliche Grenzen

59 Im Beherrschungsvertrag selbst kann gemäß § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG die Erteilung nachteiliger Weisungen für unzulässig erklärt werden. Auch können im Beherrschungsvertrag einzelne Maßnahmen oder Aufgaben von der Weisungsbefugnis ausgenommen oder ein Zustimmungsvorbehalt anderer Aktionäre vereinbart werden.105) 60 Des Weiteren ist ein sog. Teilbeherrschungsvertrag zulässig, durch den das Weisungsrecht auf bestimmte unternehmerische Funktionen (z. B. Finanzierung oder Personalpolitik) beschränkt wird.106) 61 Nach zutreffender Auffassung kann das Weisungsrecht durch eine Vereinbarung im Beherrschungsvertrag aber nicht ganz ausgeschlossen werden, da die Weisungsbefugnis ein essentielles Element des Beherrschungsvertrags darstellt und anderenfalls keine klare Abgrenzung zu anderen Verträgen, wie beispielsweise dem Beratervertrag, vorgenommen werden könne.107)

___________ 102) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1317; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 29; Hölters/ Weber/Leuering/Goertz, § 309 Rz. 32. 103) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1318; Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 40; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 57; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 32; Koch, § 308 Rz. 13; Hölters/ Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 34. 104) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 40; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 57; Hölters/ Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 34. 105) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1319; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 56. 106) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 41; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 56; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 137. 107) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 41; Koch, § 291 Rz. 11; a. A. MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 139.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

(4)

Grenzen aus dem Unternehmensinteresse des abhängigen Unternehmens

Nach vorzugswürdiger Auffassung sind auch dem Unternehmensinteresse der 62 abhängigen Gesellschaft zuwiderlaufende existenzgefährdende oder sogar existenzvernichtende Weisungen unzulässig. Eine solche unzulässige Weisung liegt vor, wenn auch die Verlustausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens aus § 302 AktG den Existenzerhalt des abhängigen Unternehmens nicht mehr gewährleisten kann.108) Dies folgt aus den beiderseitigen Treue- und Rücksichtspflichten, die sich aus dem Beherrschungsvertrag ergeben.109) Nach anderer Auffassung sollen existenzgefährdende Weisungen bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags gerade erlaubt sein, weil das herrschende Unternehmen gemäß § 302 Abs. 1 AktG die Risiken der geschäftlichen Tätigkeit des abhängigen Unternehmens übernehme.110) (5)

Grenzen des Weisungsrechts in mehrstufigen Unternehmensverbindungen

In mehrstufigen Unternehmensverbindungen besteht selbst bei einer ununter- 63 brochenen Kette von Beherrschungsverträgen kein direkter Weisungsdurchgriff auf von der abhängigen Gesellschaft abhängige Unternehmen.111) Der Vorstand des herrschenden Unternehmens kann nur jeweils den Vorstand des von seinem Unternehmen abhängigen Unternehmens anweisen, dem untergeordneten Unternehmen eine Weisung zu erteilen. Auf diese Weise bleibt das Prüfungsrecht der Vorstände der abhängigen Unternehmen bezüglich der Zulässigkeit der Weisungen gewahrt. Eine Delegation der Ausübung des Weisungsrechts auf das Mutterunterneh- 64 men ist hingegen zulässig.112) Die Verlustausgleichspflicht verbleibt dann aber bei dem delegierenden abhängigen Unternehmen, das selbst wiederum durch die Verlustausgleichspflicht der Muttergesellschaft abgesichert ist.113) Die herrschende Gesellschaft kann aber auch direkt mit der Enkelgesellschaft einen Beherrschungsvertrag abschließen. Bestehen sowohl zwischen der Mutter- und der Enkelgesellschaft als auch zwischen der Tochter- und der Enkelgesellschaft ___________ 108) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1321; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 60 ff.; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 31 ff.; Koch, § 308 Rz. 19. 109) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 61. 110) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 34; KK-AktG/ Koppensteiner, § 308 Rz. 50. 111) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 6; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1322; Schmidt/ Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 16; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 9. 112) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 6, 15; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1323; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 15; Bürgers/Körber/Lieder/Fett, § 308 Rz. 6. 113) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1323.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Beherrschungsverträge, bietet es sich an, widersprüchliche Weisungen vertraglich auszuschließen.114) cc)

Keine Weisungspflicht gegenüber dem abhängigen Unternehmen

65 Der Beherrschungsvertrag gewährt dem herrschenden Unternehmen grundsätzlich ein Weisungsrecht und legt dem Vorstand des herrschenden Unternehmens gegenüber der abhängigen Gesellschaft keine Weisungspflicht auf: Das herrschende Unternehmen ist frei, ob und welche Weisungen der abhängigen Gesellschaft erteilt werden.115) 66 In Ausnahmefällen kann sich das Recht aber zu einer Pflicht verdichten. Zur Vermeidung einer Haftung nach § 309 AktG, kann der Vorstand des herrschenden Unternehmens dazu verpflichtet sein, dem abhängigen Unternehmen eine bestimmte Weisung zu erteilen, um eine vorher erteilte Weisung, die sich im Nachhinein als übermäßig nachteilig erweist und daher unzulässig wird, auszuräumen. Das abhängige Unternehmen hat in diesem Sonderfall einen Anspruch auf Widerruf der Weisung durch erneute Weisung.116) dd)

Keine Konzernleitungspflicht gegenüber der eigenen Gesellschaft

67 Auch eine Konzernleitungspflicht in dem Sinne, dass die Vorstandsmitglieder der herrschenden Gesellschaft ihrer eigenen Gesellschaft gegenüber zur Ausübung des Weisungsrechts verpflichtet sind,117) ist nach vorzugswürdiger Auffassung abzulehnen.118) Der Vorstand haftet seiner Gesellschaft nur für Pflichtverletzungen nach § 93 AktG, unter die aber auch eine Haftung für die Unterlassung von Konzerngeschäftsleitung fallen kann, soweit der Vorstand die nach § 93 AktG erforderliche Sorgfalt bei der Weisungserteilung nicht anwendet.119) ee)

Haftung und Sanktionierung bei Pflichtverletzungen

68 Als Rechtsfolge rechtswidriger Beeinflussung kann sich der Vorstand des herrschenden Unternehmens gegenüber dem abhängigen Unternehmen nach § 309 Abs. 2 Satz 1 AktG haftbar machen. Ein vertraglicher Ausschluss der Haftung ___________ 114) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 15. 115) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 34; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 47; vgl. auch Koch, § 309 Rz. 10; einschränkend KK-AktG/Koppensteiner, § 309 Rz. 6. 116) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 34; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 47; Koch, § 309 Rz. 10; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 309 Rz. 17. 117) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 35; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 48. 118) Fleischer, DB 2005, 759 (760). 119) Allg. Großkomm-AktG/Hirte, § 309 Rz. 11; MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 57; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 8.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

nach § 309 Abs. 2 AktG ist unzulässig.120) Die abhängige Gesellschaft kann gemäß § 309 Abs. 3 AktG nur mit einen Sonderbeschluss der außenstehenden Aktionäre und erst drei Jahre nach Entstehung des Anspruchs auf die Geltendmachung des Ersatzanspruchs verzichten.121) Neben die Haftung nach § 309 Abs. 2 AktG tritt eine Haftung nach § 117 69 AktG bei vorsätzlich nachteiligem Einfluss auf die abhängige Gesellschaft, sowie die Haftung nach den Normen des Deliktsrechts (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 StGB, § 826 BGB).122) Darüber hinaus kommen bei hinreichend schwerwiegender, rechtswidriger Ein- 70 flussnahme auch eine Abberufung des Vorstands sowie die Kündigung des Dienstvertrags als Sanktion durch das herrschende Unternehmen in Betracht. Beispiele für eine hinreichend schwerwiegende, rechtswidrige Einflussnahme sind ein dauerhafter Ermessensfehlgebrauch oder die Entstehung eines erheblichen Schadens für das herrschende Unternehmen. Ein Schaden des abhängigen Unternehmens kann isoliert betrachtet keine Pflichtverletzung des Vorstands des herrschenden Unternehmens im Verhältnis zu seiner Gesellschaft begründen.123) Der Schaden des herrschenden Unternehmens ist nicht deckungsgleich mit dem Schaden des abhängigen Unternehmens. Gegenüber der herrschenden Gesellschaft kommt nur eine Haftung aus § 93 AktG in Betracht.124) b)

Sonstige Einwirkungsmöglichkeiten des Vorstands des herrschenden Unternehmens

Neben dem Weisungsrecht kann der Vorstand des herrschenden Unterneh- 71 mens alle auch im faktischen Konzern zur Verfügung stehenden Mittel der Beeinflussung nutzen.125) Hier kommen beispielsweise personelle Verflechtungen sowie eine Einflussnahme über die Hauptversammlung oder den Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens in Betracht.126) Eine Bevollmächtigung des herrschenden Unternehmens, umfassend Rechtsgeschäfte im Namen des abhängigen Unternehmens vornehmen zu können ist – ebenso wie eine dahingehende ___________ 120) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1326; KK-AktG/Koppensteiner, § 309 Rz. 1; MünchKommAktG/ Altmeppen, § 309 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 6; Schmidt/Lutter/ Langenbucher, § 309 Rz. 2. 121) Siehe ausführlich Æ Rz. 262 ff. 122) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 75; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1332; Hölters/ Weber/Leuering/Goertz, § 309 Rz. 7; Grigoleit/Servatius, § 309 Rz. 15; MünchKommAktG/ Altmeppen, § 309 Rz. 77; Großkomm-AktG/Hirte, § 309 Rz. 7. 123) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1333. 124) Großkomm-AktG/Hirte, § 309 Rz. 11; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 8; MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 57. 125) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1324; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 28. 126) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 28 ff.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Weisung – unzulässig.127) Bei der Ausübung dieser sonstigen Einwirkungsmöglichkeiten, treffen den Vorstand des herrschenden Unternehmens dieselben Pflichten wie im faktischen Konzern. 3.

Pflichten bei Beendigung des Beherrschungsvertrags

72 Der Beherrschungsvertrag kann gemäß § 296 AktG durch einverständliche Aufhebung oder gemäß § 297 AktG durch Kündigung beendet werden. Eine Beendigung ist zudem nach § 307 AktG vorgesehen, wenn in die bisher 100 %ige Tochtergesellschaft außenstehende Aktionäre eintreten. Auch bei Auflösung128) oder Insolvenz eines der beteiligten Unternehmen129), sowie bei der Verschmelzung der beiden Unternehmen130) oder der Eingliederung des abhängigen Unternehmens in das herrschende Unternehmen131) endet der Beherrschungsvertrag automatisch. Schließlich kann ein befristeter Beherrschungsvertrag durch Zeitablauf enden.132) 73 Eine Beendigung durch Weisung des herrschenden Unternehmens ist gemäß § 299 AktG unzulässig. 74 Mit der Beendigung des Beherrschungsvertrags endet auch das Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens. Liegt weiterhin ein Abhängigkeitsverhältnis vor, gelten für die Einflussnahme des herrschenden Unternehmens auf das abhängige Unternehmen nach Beendigung des Beherrschungsvertrags die §§ 311– 318 AktG.133) ___________ 127) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 41; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1324; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 32; Koch, § 308 Rz. 9; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 20; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 6; a. A. MünchKommAkt/Altmeppen, § 309 Rz. 62. 128) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 106; a. A. KK-AktG/Koppensteiner, § 297 Rz. 44 f.; Hölters/ Weber/Deilmann, § 297 Rz. 39; Koch, § 297 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 297 Rz. 41. 129) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 106; MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 106; Hölters/ Weber/Deilmann, § 297 Rz. 40; Koch, § 297 Rz. 22 f.; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 297 Rz. 39; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 207; a. A. KK-AktG/Koppensteiner, § 297 Rz. 47 f. 130) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 106; KK-AktG/Koppensteiner, § 297 Rz. 37; MünchKommAktG/ Altmeppen, § 297 Rz. 130; Hölters/Weber/Deilmann, § 297 Rz. 29; BeckOGK-AktG/ Veil/Walla, § 297 Rz. 42. 131) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 106; KK-AktG/Koppensteiner, § 297 Rz. 40; MünchKommAktG/ Altmeppen, § 297 Rz. 141; Hölters/Weber/Deilmann, § 297 Rz. 26; BeckOGK-AktG/ Veil/Walla, § 297 Rz. 51. 132) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 117; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 206; KK-AktG/ Koppensteiner, § 297 Rz. 26; Hölters/Weber/Deilmann, § 297 Rz. 25; Koch, § 297 Rz. 22; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 297 Rz. 32. 133) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 120; MünchKommAktG/Altmeppen, § 296 Rz. 40; Emmerich/ Habersack/Emmerich, § 296 AktG Rz. 23; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 296 Rz. 14; Hölters/Weber/Deilmann, § 296 Rz. 14.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

a)

Aufhebung des Beherrschungsvertrags gemäß § 296 AktG

Die Aufhebung des Beherrschungsvertrags erfolgt durch Abschluss eines Auf- 75 hebungsvertrags zwischen den beiden beteiligten Unternehmen. Für den Abschluss des Aufhebungsvertrags ist auf Seiten der herrschenden AG der Vorstand zuständig. Die Zustimmung der Hauptversammlung ist nicht erforderlich.134) Der Aufhebungsvertrag muss inhaltlich auf die vollständige Beendigung des Unternehmensvertrags zum Ende des Geschäftsjahres oder des sonst vertraglich bestimmten Abrechnungszeitraums ausgerichtet sein.135) Eine Rückwirkung ist gemäß § 296 Abs. 1 Satz 2 AktG unzulässig. In der Praxis bietet sich ggf. die Schaffung eines Rumpfgeschäftsjahres an.136) Der Aufhebungsvertrag bedarf der Schriftform (§ 296 Abs. 1 Satz 3 AktG). b)

Kündigung des Beherrschungsvertrags gemäß § 297 AktG

§ 297 Abs. 1 AktG regelt die Möglichkeit der fristlosen, außerordentlichen 76 Kündigung aus wichtigem Grund. Die Kündigung bedarf gemäß § 297 Abs. 3 AktG der Schriftform. Zuständig für die Erklärung der Kündigung ist das Vertretungsorgan, also der Vorstand der herrschenden AG (vgl. § 297 Abs. 2 Satz 1 AktG). Die Zustimmung der Hauptversammlung des herrschenden Unternehmens ist nicht erforderlich.137) Die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung des Beherrschungsvertrags ist 77 zwar gesetzlich nicht vorgesehen, kann aber im Beherrschungsvertrag selbst vereinbart werden.138) Auch die ordentliche Kündigung vonseiten des herrschenden Unternehmens bedarf einer schriftlichen Erklärung seines Vorstands.139) II.

Pflichten des Vorstands des abhängigen Unternehmens

Schließen das herrschende und das abhängige Unternehmen einen Beherrschungs- 78 vertrag, kommt es zu einer intensiveren Konzernierung, als dies beim faktischen Konzern der Fall ist. ___________ 134) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 108; MünchKommAktG/Altmeppen, § 296 Rz. 8; KK-AktG/ Koppensteiner, § 296 Rz. 9; Großkomm-AktG/Mülbert, § 296 Rz. 10; Hölters/Weber/ Deilmann, § 296 Rz. 4, 6; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 296 Rz. 4 f. 135) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 296 AktG Rz. 8; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 296 Rz. 6; Henssler/Strohn/Paschos, § 296 AktG Rz. 3. 136) Henssler/Strohn/Paschos, § 296 AktG Rz. 3; Hölters/Weber/Deilmann, § 296 Rz. 12; Koch, § 296, Rz. 2. 137) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 116; MünchKommAktG/Altmeppen, § 297 Rz. 5; Grigoleit/ Servatius, § 297 Rz. 9f., 31. 138) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 111; MünchKommAktG/Altmeppen, § 297 Rz. 56; Emmerich/ Habersack/Emmerich, § 297 AktG Rz. 5; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 297 Rz. 24; Grigoleit/Servatius, § 297 Rz. 6; Koch, § 297 Rz. 11 f.; Großkomm-AktG/Mülbert, § 297 Rz. 71. 139) Raiser/Veil/Veil, § 62 Rz. 112; Grigoleit/Servatius, § 297 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Veil/ Walla, § 297 Rz. 30; Großkomm-AktG/Mülbert, § 297 Rz. 83 i. V. m. Rz. 13.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

79 Im Wesentlichen wird ein Wechsel in der unternehmerischen Leitungsfunktion der abhängigen Gesellschaft herbeigeführt.140) Von zentraler Bedeutung ist, dass das Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens auch solche Weisungen erfasst, die aus der Sicht der Untergesellschaft nachteilig sind.141) 1.

Durchsetzung des Konzerninteresses

80 Die Obergesellschaft erhält gemäß § 308 Abs. 1 Satz 1 AktG das Recht, dem Vorstand des abhängigen Unternehmens Weisungen hinsichtlich der Leitung der Gesellschaft zu erteilen. Dieses Recht umfasst den gesamten Bereich, in dem der Vorstand die Gesellschaft nach § 76 Abs. 1 AktG zu leiten hat.142) Folglich können Weisungen zu sämtlichen Maßnahmen der Geschäftsführung ausgesprochen werden, unabhängig davon ob es sich um grundsätzliche Fragestellungen im Zusammenhang mit der Geschäftsführung oder um das laufende Tagesgeschäft handelt.143) Auf Geschäfte, die auf Grundlage des Beherrschungsvertrags erfolgen, finden die gemäß ARUG II implementierten Regelungen zu Geschäften mit nahestehenden Personen (related party transactions) börsennotierter Gesellschaften aufgrund der Ausnahmeregelung in § 111a Abs. 3 Nr. 3 AktG keine Anwendung. 81 Voraussetzung für die nachteilige Weisung ist, dass diese im Konzerninteresse liegt, d. h. den Belangen des herrschenden Unternehmens oder konzernverbundener Unternehmen dient.144) 82 Soweit keine Weisungen der Obergesellschaft vorliegen, bleibt der Vorstand jedoch auch im Vertragskonzern primär den Interessen der eigenen Gesellschaft verpflichtet.145) Seine aus § 76 AktG resultierende Leitungsmacht bleibt insoweit neben dem Beherrschungsvertrag bestehen, so dass er Entscheidungen bei Fehlen einer Weisung in eigener Verantwortung zu treffen hat.146) Es ob-

___________ 140) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 85; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1400. 141) BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 2; Koch, § 308 Rz. 1; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 1; Heidel/Peres, § 308 Rz. 12; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 153; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 26. 142) BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 2; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 1; Koch, § 308 Rz. 1; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 2; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 151, 161. 143) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 151; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 39; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 21. 144) MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 2; Koch, § 308 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Veil/ Walla, § 308 Rz. 2; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1401. 145) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 85; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1402; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 54; Sina, AG 1991, 1 (8 f.). 146) Heidel/Peres, § 308 Rz. 34; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 100; Koch, § 308 Rz. 20.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

liegt dann der Obergesellschaft, dem Konzerninteresse durch Weisungen den Vorrang einzuräumen.147) Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft ist dennoch gehalten, sich grund- 83 sätzlich konzernfreundlich zu verhalten.148) Daraus folgt eine Konsultationspflicht gegenüber dem herrschenden Unternehmen hinsichtlich solcher Entscheidungen des Vorstands, bei denen erkennbar Interessen des herrschenden Unternehmens betroffen werden.149) 2.

Pflichten im Zusammenhang mit Weisungen des herrschenden Unternehmens

a)

Folgepflicht

Der Vorstand ist auch bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags unverändert 84 zur eigenverantwortlichen Leitung des abhängigen Unternehmens nach § 76 AktG verpflichtet. Den Vorstand des abhängigen Unternehmens trifft gleichzeitig aber eine Folgepflicht hinsichtlich rechtmäßiger Weisungen des herrschenden Unternehmens.150) Die Folgepflicht ergibt sich aus § 308 Abs. 2 Satz 1 AktG und verhält sich spiegelbildlich zur Weisungsbefugnis des herrschenden Unternehmens aus § 308 Abs. 1 AktG.151) Das bedeutet, dass mit der Überschreitung der Grenzen des Weisungsrechts durch die herrschende Gesellschaft gleichsam auch die Folgepflicht entfällt.152) b)

Prüfungs- und Konsultationspflicht

Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft ist infolgedessen angehalten, alle 85 Weisungen des herrschenden Unternehmens vor ihrer Befolgung mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.153) Im Zusammenhang mit dieser Pflicht hat der Vorstand durch eine geeignete Organisation des Informationsflusses innerhalb des Unternehmens sicherzustellen, dass Weisungen erfasst werden, deren Ad___________ 147) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1402. 148) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1402; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 42; KK-AktG/ Koppensteiner, § 308 Rz. 71; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 308 Rz. 55; BeckOGKAktG/Fleischer § 76 Rz. 115. 149) Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 42; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1402; Koch, § 308 Rz. 21; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 54; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 72. 150) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 86; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 52a; KK-AktG/Koppensteiner, § 307 Rz. 61. 151) Koch, § 308 Rz. 20; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 85; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1403. 152) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1403. 153) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 86; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 66; KKAktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 61; Koch, § 308 Rz. 20; Sina, AG 1991, 1 (9); GroßkommAktG/Hirte, § 308 Rz. 54.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

ressat nicht der Vorstand ist. Aber auch bei rechtmäßigen Weisungen ist der Vorstand der abhängigen Gesellschaft verpflichtet, die Weisung auf deren Nachteiligkeit für die abhängige Gesellschaft zu prüfen.154) Ergibt sich dabei eine etwaige Nachteiligkeit der angewiesenen Maßnahme, hat der Vorstand die Konzernspitze darauf hinzuweisen, sofern die Nachteiligkeit nicht evident ist.155) Bleibt das herrschende Unternehmen dennoch bei seiner Weisung, hat der Vorstand der abhängigen Gesellschaft diese zu befolgen.156) Eine Ausnahme besteht nur bei evidentem Fehlgebrauch des Weisungsrechts.157) 86 Bestehen Zweifel hinsichtlich der Nachteiligkeit der Weisung und deren Vereinbarkeit mit dem Konzerninteresse, so muss der Vorstand der abhängigen Gesellschaft die herrschende Gesellschaft ebenso über seine Zweifel informieren.158) 87 Dagegen obliegt es gerade nicht dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft, die Weisung dahingehend zu überprüfen, ob sie eine sachgerechte Maßnahme des herrschenden Unternehmens darstellt.159) c)

Ausnahme von der Folgepflicht

88 Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Folgepflicht des abhängigen Unternehmens enthält § 308 Abs. 2 Satz 2 AktG. § 308 Abs. 2 AktG soll dem Vorstand, dem es in Ermangelung ausreichender Informationen über sämtliche Auswirkungen einer Weisung seitens anderer mit dem herrschenden Unternehmen verbundener Unternehmen kaum möglich sein wird, das Konzerninteresse zu bestimmen, vor diesem Hintergrund die Prüfung der Rechtmäßigkeit erleichtern.160) Demnach besteht eine Folgepflicht dann nicht, wenn die Weisung offensichtlich weder den Interessen der Untergesellschaft noch dem Konzerninteresse entspricht. Der Vorstand der Untergesellschaft ist in diesem Fall nicht nur dazu berechtigt, die Weisungsbefolgung zu verweigern, sondern sogar dazu verpflichtet.161) Offensichtlichkeit besteht, wenn die Unvereinbar___________ 154) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 161; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 52a. 155) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 161; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 149; Koch, § 308 Rz. 21. 156) MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 149. 157) Siehe ausführlich Æ Rz. 88 ff. 158) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 53a; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 57. 159) Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 54. 160) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 88; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 65; Begr.RegE, in Kropff, S. 403. 161) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1405; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 88; Emmerich/Habersack/ Emmerich, § 308 AktG Rz. 52, 52f f; Koch, § 308 Rz. 22; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 308 Rz. 38.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

keit der Weisung mit dem Konzerninteresse für einen sachkundigen Dritten ohne weitere Nachprüfung deutlich erkennbar ist.162) Im Falle fortgesetzter unzulässiger Weisungen durch das herrschende Unter- 89 nehmen kann den Vorstand die Pflicht treffen, den Beherrschungsvertrag nach § 297 AktG aus wichtigem Grunde zu kündigen.163) Befolgt der Vorstand der abhängigen Gesellschaft eine rechtswidrige Weisung 90 des herrschenden Unternehmens, so kann er sich gegenüber der eigenen Gesellschaft schadensersatzpflichtig machen. Umgekehrt droht ihm gegenüber der herrschenden Gesellschaft dann eine Haftung, wenn eine rechtmäßige Weisung nicht befolgt wird.164) Nach vorzugswürdiger Ansicht obliegt es dabei dem Vorstand der abhängigen 91 Gesellschaft, zu beweisen, dass die Voraussetzungen einer berechtigten Weigerung vorliegen.165) Nach einer Gegenauffassung obliegt es dagegen dem Vorstand des herrschenden Unternehmens, die Vereinbarkeit einer zweifelhaften Weisung mit dem Konzerninteresse zu beweisen.166) 3.

Informationspflichten

Aus der Befolgungspflicht ergibt sich gleichzeitig die Verpflichtung des Vor- 92 stands des abhängigen Unternehmens, die Obergesellschaft über alle für die Ausübung des Leistungsrechts relevanten Umstände aufzuklären.167) Die für die Weisungsbefolgung erläuterten Grenzen gelten entsprechend für eine auf Informationsbeschaffung gerichtete Weisung. Darüber hinaus ist das abhängige Unternehmen in bestimmten Situationen vor 93 dem Hintergrund der Pflicht zu konzerntreuem Verhalten dazu verpflichtet, das beherrschende Unternehmen über bestimmte Sachverhalte und Fragestellungen von sich aus in Kenntnis zu setzen. So liegt der Fall immer dann, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass dem abhängigen Unternehmen aufgrund

___________ 162) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1405; Koch, § 308 Rz. 22; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 89; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 152; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 55; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 40. 163) Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 39; vgl. auch Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 64; Großkomm-AktG/Hirte, § 308 Rz. 58. 164) Siehe ausführlich Æ Rz. 280 ff. 165) Koch, § 308 Rz. 22; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1406; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 89; KKAktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 66; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 40; a. A. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 53c. 166) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 53c. 167) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1407; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 156; Großkomm-AktG/ Hirte, § 308 Rz. 29; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 21.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

einer Weisung Nachteile entstehen können, deren Eintrittsmöglichkeit oder Ausmaß der Konzernleitung nicht bekannt sind.168) 94 Eine weitere Mitteilungspflicht ergibt sich, wenn der Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG seine Zustimmung versagt bzw. nicht rechtzeitig erteilt. Der Vorstand des abhängigen Unternehmens hat die Obergesellschaft darüber aufzuklären,169) damit diese die Möglichkeit hat, das Zustimmungserfordernis durch Wiederholung der Weisung nach § 308 Abs. 3 Satz 2 AktG zu überwinden.170) 95 Gegenüber den Aktionären der abhängigen Gesellschaft besteht ausschließlich ein Auskunftsrecht gemäß § 131 AktG.171) III.

Besondere Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens

1.

Ausweitung der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats

96 In einem Konzern werden mehrere Gesellschaften unter einheitliche Leitung gestellt. Die einheitliche Leitung übt im Falle des Vertragskonzerns der Vorstand des herrschenden Unternehmens mittels seines durch den Beherrschungsvertrag verliehenen Weisungsrechts aus. Neben der Geschäftsführung der eigenen Gesellschaft ist der Vorstand der herrschenden Gesellschaft also auch für die Konzernleitung zuständig. Letzteres ist Teil der Geschäftsführung für das herrschende Unternehmen.172) Die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats erstreckt sich gemäß § 111 Abs. 1 AktG auf die gesamte Geschäftsführung des Vorstands. Im Konzern weitet sich die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens deshalb parallel zu der Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands des herrschenden Unternehmens aus.173) Er ist also auch zur Überwachung der Maßnahmen, die der Vorstand zur Konzernleitung trifft, verpflichtet.174) Im Vertragskonzern, bei dem der Vorstand weitreichende Einflussmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten hat, ist die Überwa___________ 168) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1408; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 91; Koch, § 308 Rz. 21; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 149; Heidel/Peres, § 308 Rz. 32; Schmidt/ Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 40. 169) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1408; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 90; Koch, § 308 Rz. 23; KKAktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 76; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 43. 170) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1408; Koch, § 308 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 43. 171) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1408. 172) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (331); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 63; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 51. 173) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 142; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 28; GroßkommAktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 348 ff.; Scheffler, DB 1994, 793 (796). 174) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 142; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (331 f.); Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 51; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 313; Koch, § 111 Rz. 33; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 37; Bürgers/Körber/ Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 9; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 369.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

chungspflicht des Aufsichtsrats auch entsprechend umfassend: die Überwachung soll in dem Maße erfolgen, wie sie auch bei einer Betriebsabteilung der eigenen Gesellschaft erfolgen würde.175) Der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens wird dabei aber nicht zu einem 97 „Konzernaufsichtsrat“, da der Konzern selbst keine eigene Rechtsform und keine rechtliche Einheit darstellt.176) Die Aufsichtsratsmitglieder sind nicht einem „Konzerninteresse“ im Sinne eines Interesses aller Konzerngesellschaften, sondern ausschließlich dem Interesse des herrschenden Unternehmens verpflichtet.177) Dies gilt selbst, wenn aufgrund von § 5 MitbestG Arbeitnehmervertreter aller Konzernunternehmen in den Aufsichtsrat entsendet werden, da sie nur Mitglieder des Organs des herrschenden Unternehmens werden.178) Zu berücksichtigen ist das „Konzerninteresse“ nur als „das Interesse des herrschenden Unternehmens an einer rentablen Ausnutzung der im Konzern zusammengefassten Wirtschaftskraft.“179) Der Aufsichtsrat hat deshalb auch keine unmittelbare Befugnis zur Überwa- 98 chung der Geschäftsleitung der abhängigen Unternehmen.180) Für die Überwachung der abhängigen Unternehmen bleiben in erster Linie ihre eigenen Aufsichtsräte zuständig.181) Der Aufsichtsrat muss seine Überwachung daher zentral ausüben.182) Er ist für 99 die Organisation seiner Überwachung selbst zuständig. Bei der Ausgestaltung der Informationsordnung ist darauf zu achten, dass auch die unternehmerische und wirtschaftliche Entwicklung und die Problemstellen im Konzern für den Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens erkennbar sind, sodass er neben der herrschenden Gesellschaft auch den Konzern effektiv und leicht überwachen kann.183) In der Praxis bietet es sich an, spezielle Aufsichtsratsausschüsse zu bilden, um der erweiterten Überwachungspflicht effektiv nachkommen zu ___________ 175) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 146; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 29; Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 352. 176) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 144; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (326); BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 114 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 63; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 9. 177) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (326); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 65; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 9; Scheffler, DB 1994, 793 (795). 178) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (328). 179) KK-AktG/Koppensteiner, § 308, Rz. 37; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (331). 180) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 144; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (329 u. 333); BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 116 f.; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 63; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 51. 181) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 63; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 29 f. 182) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 144. 183) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 145.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

können.184) Der Gesamtaufsichtsrat bleibt jedoch auch bei Delegation an einen Ausschuss letztverantwortlich.185) 100 Aus § 171 AktG ergibt sich, dass der Aufsichtsrat auch den Konzernabschluss sowie den Konzernlagebericht und den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers zu prüfen hat. § 90 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG normieren auch Berichts- und Informationspflichten des Vorstands bezüglich des Konzerns. 101 Im Rahmen der Überwachung hat der Aufsichtsrat auch die Pflicht, das Vorstandshandeln zu beurteilen. Auch im Konzern hat der Aufsichtsrat dabei allein das Interesse des herrschenden Unternehmens zu beachten.186) Die Überwachung und Beurteilung muss neben der Rechtmäßigkeit und der Ordnungsmäßigkeit des Vorstandshandelns auch dessen Zweckmäßigkeit und die Wirtschaftlichkeit erfassen.187) Insgesamt hat der Aufsichtsrat bei der Überwachung auf die Einhaltung von Gesetz und Recht im gesamten Konzern und deren Sicherung durch geeignete Compliance-Maßnahmen zu achten.188) Dabei muss der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens eines internationalen Konzerns neben der Einhaltung inländischen Rechts auch die Einhaltung fremden Rechts sowie die Berücksichtigung der für multinationale Unternehmen festgelegten Grundsätze überwachen.189) Die Überwachungsaufgabe bezieht sich darüber hinaus auch auf das Vorliegen einer zweckmäßigen Konzernorganisation, die Einrichtung von konzernweiten Controlling- und Risiko-Managementsystemen i. S. d. § 91 Abs. 2 AktG,190) die Zweckmäßigkeit und Einhaltung der Richtlinien der Konzernleitung sowie auf die Sicherstellung einer nachhaltigen Wirtschaftlichkeit des Gesamtkonzerns.191) Sofern das herrschende Unternehmen mit Sitz in Deutschland mehr als 3.000 Arbeitnehmer (ab dem 1. Januar 2024 mehr als 1.000 Arbeitnehmer) im Inland hat, erweitert sich mit Inkrafttreten des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens um die Überwachung der Einhaltung der in § 3 LkSG genannten menschenrechtlichen und umweltbezo___________ 184) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 143; Scheffler, DB 1994, 783 (797); a. A. Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (342). 185) Scheffler, DB 1994, 793 (797). 186) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (329); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 65; a. A. Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 147; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 28; Scheffler, DB 1994, 793 (795). 187) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653 (654); Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 28; vgl. hierzu ausführlicher Lutter/ Krieger/Verse, § 4 Rz. 148 ff.; Scheffler, DB 1994, 793 (796). 188) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 156; vgl. auch Koch, § 111 Rz. 33. 189) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 149; vgl. auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 353; Scheffler, DB 1994, 793 (797). 190) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 28; Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 152; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 66. 191) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 156; vgl. auch Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 29.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

genen Sorgfaltspflichten im eigenen Geschäftsbereich. Dieser umfasst dabei gemäß § 4 i. V. m. § 2 Abs. 6 LkSG auch die konzernangehörigen Gesellschaften, auf die das herrschende Unternehmen bestimmenden Einfluss ausübt. 2.

Informationsbeschaffung

Grundsätzlich hat der Vorstand über den Konzern in gleichem Maße zu be- 102 richten wie über die eigene Gesellschaft. Die gesetzlichen Vorgaben bezüglich der Berichte über die eigene Gesellschaft sind ebenso auf die Berichte über den Konzern anzuwenden.192) Dies ergibt sich für die regelmäßigen Berichte des Vorstands aus § 90 Abs. 1 103 Satz 2 AktG: Ist die Gesellschaft Mutterunternehmen (§ 290 Abs. 1, 2 des Handelsgesetzbuchs), so hat der Bericht auch auf Tochterunternehmen und auf Gemeinschaftsunternehmen (§ 310 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs) einzugehen.

Aus § 90 Abs. 1 Satz 1 AktG ergibt sich die Pflicht des Vorstands, über das ge- 104 samte Unternehmen der Gesellschaft zu berichten. Für die Berichte über die nachgeordneten Konzerngesellschaften bedeutet dies, dass über sie berichtet werden muss, wenn ein Bericht zur Darstellung der Lage des herrschenden Unternehmens erforderlich ist.193) Inwieweit über die nachgeordneten Konzerngesellschaften berichtet wird, hängt also von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für das herrschende Unternehmen ab.194) Zu berichten ist nur über Vorgänge, die für das herrschende Unternehmen von erheblichem Einfluss sind.195) Insbesondere im Vertragskonzern ist wegen der engen Verstrickung über die Verlustausgleichspflicht die wirtschaftliche Lage des abhängigen Unternehmens auch für die herrschende Gesellschaft relevant und muss daher auch von den Berichten des Vorstands abgedeckt werden.196) Der Vorstand des herrschenden Unternehmens muss sich die Informationen 105 vom Vorstand des abhängigen Unternehmens beschaffen. Mit Zustimmung des Vorstands des herrschenden Unternehmens kann der Vorstand des abhängigen Unternehmens die Informationen aber auch direkt an den Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens erteilen.197) Die Auskunftspflicht des Vorstands ___________ 192) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 229; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 332. 193) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (336). 194) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (334); allg. Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 90 Rz. 12; allg. Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 372. 195) Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 10; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 114; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 41; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 23; Scheffler, DB 1994, 793 (794). 196) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 231; vgl. auch Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (340); BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 116; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 86. 197) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 232; Scheffler, DB 1994, 793 (797).

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

des herrschenden Unternehmens über die nachgeordneten Konzerngesellschaften erstreckt sich aber nur auf diejenigen Informationen, die er von den nachgeordneten Gesellschaften erlangen kann.198) 106 Selbst wenn die Informationen außerhalb der Hauptversammlung erteilt werden, haben die außenstehenden Aktionäre kein Auskunftsrecht gemäß § 131 Abs. 4 AktG, da die Informationen der herrschenden Gesellschaft nicht als Aktionär, sondern als konzernleitendes Unternehmen erteilt werden.199) Für den Fall der Einbeziehung des abhängigen Unternehmens in den Konzernabschluss des herrschenden Unternehmens ist dies ausdrücklich in § 131 Abs. 4 Satz 3 AktG geregelt. 107 Die Gestaltung der Berichte zum Konzern entspricht denen zur eigenen Gesellschaft. Meistens sind sie in die einzelnen Unternehmensbereiche und -sparten gegliedert.200) Es kann sich auch anbieten, statt eines Gesamtberichts mehrere Berichte über die einzelnen Unternehmen anzufertigen. Diese Trennung erfolgt aber nicht aus Rechtsgründen, sondern allein zu Gunsten einer übersichtlichen und sachgerechten Information des Aufsichtsrats.201) Gleiches gilt auch für den Konzern-Jahresbericht und den Konzern-Rentabilitätsbericht.202) 108 Darüber hinaus sind in § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG Sonderberichte des Vorstands an den Aufsichtsrat über den Konzern vorgesehen. Auch diesbezüglich gelten die gleichen Voraussetzungen wie für die Berichte, die nur das eigene Unternehmen betreffen. Allerdings ist nicht über wichtige Anlässe im Gesamtkonzern, sondern nur über solche in den einzelnen Konzerngesellschaften Bericht zu erstatten.203) 109 Die Vorlageberichte des Vorstands umfassen neben der Vorlage des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts auch die Durchführung zustimmungspflichtiger Maßnahmen im Konzern oder in einzelnen Konzerngesellschaften (auch in den Fällen von § 32 MitbestG und § 15 MontanMitbestErgG).204) 3.

Beratung mit dem Vorstand

110 Die Beratung des Vorstands gehört zur Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats.205) Sie bezieht sich inhaltlich also auch auf die von der erweiterten Über___________ 198) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (337); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 43. 199) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 234; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (337); Semler/ v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 328; Scheffler, DB 1994, 793 (798). 200) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 236; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (334). 201) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (335). 202) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 237. 203) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 238. 204) Lutter/Krieger/Verse, § 6 Rz. 239. 205) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653 (654); Scheffler, DB 1994, 793; Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 158.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

wachungspflicht erfassten Aspekte der Konzernleitung. Im Übrigen sind bei der Beratung über konzernspezifische Fragen dieselben Grundsätze heranzuziehen wie bei der Beratung über die Fragen der „eigenen“ Gesellschaft.206) 4.

Konzernweite Zustimmungsvorbehalte

Der Aufsichtsrat kann zunächst Zustimmungsvorbehalte für bestimmte kon- 111 zernleitende Maßnahmen einführen. Es ist aber auch möglich, dass sich allgemein gehaltene Zustimmungsvorbehalte auch auf Maßnahmen, die die abhängige Gesellschaft betreffen, erstrecken. a)

Zustimmungsvorbehalte für konzernleitende Maßnahmen

Da die Konzernleitung Teil der Geschäftsführungsaufgabe des Vorstands des 112 herrschenden Unternehmens ist, kann der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens in seinem eigenen Unternehmen Zustimmungsvorbehalte gemäß § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG einführen, die sich auch auf Maßnahmen des Vorstands des herrschenden Unternehmens in den nachgeordneten Unternehmen beziehen.207) Allerdings können diese Zustimmungsvorbehalte nur Maßnahmen von einigem Gewicht betreffen.208) Beispiele für Maßnahmen, die einem Zustimmungsvorbehalt unterstellt werden 113 können, sind die Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern, Investitionsentscheidungen oder Kapitalerhöhungen und Satzungsänderungen in den Tochtergesellschaften.209) Der Vorstand des herrschenden Unternehmens hat mit geeigneten Maßnahmen 114 im Rahmen des rechtlich zulässigen dafür zu sorgen, dass der Zustimmungsvorbehalt auch in der nachgeordneten Gesellschaft durchgesetzt wird.210) b)

Allgemein gehaltene (statutarische) Zustimmungsvorbehalte

Allgemein gehaltene, „neutrale“ (statutarische) Zustimmungsvorbehalte 115 können sich auch auf Maßnahmen des Vorstands des herrschenden Unternehmens in der abhängigen Gesellschaft beziehen, wenn das zu beurteilende Geschäft der abhängigen Gesellschaft eine vergleichbare Wirkung für das herrschende Unternehmen entfaltet, wie die ausdrücklich vom Zustimmungsvor___________ 206) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 158. 207) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 159; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 92; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 120; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 132, 135; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 734. 208) Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 65; Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 159; Hölters/Weber/ Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 92. 209) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 159; vgl. auch Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 92; siehe auch die Auflistung bei Scheffler, DB 1994, 793 (798). 210) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 93; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 122.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

behalt erfassten Maßnahmen des herrschenden Unternehmens.211) Eine Maßnahme entfaltet dieselbe Wirkung, wenn sich der Zustimmungsvorbehalt auf sie erstrecken würde, falls das abhängige Unternehmen ein unselbständiger Teil des herrschenden Unternehmens wäre.212) So können beispielsweise Investitionen und Desinvestitionen213) sowie Unternehmensverträge von allgemein gehaltenen Zustimmungsvorbehalten des herrschenden Unternehmens erfasst sein. Auch die Ausübung des Stimmrechts im Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft durch ein Vorstandsmitglied des herrschenden Unternehmens kann von einem Zustimmungsvorbehalt erfasst sein, da dies zugleich eine Geschäftsführungsmaßnahme des herrschenden Unternehmens darstellt.214) Gleiches gilt für die Bestellung von Organmitgliedern des abhängigen Unternehmens.215) Personalentscheidungen und die Erteilung von Prokura betreffen hingegen nur das abhängige Unternehmen und werden daher nicht erfasst.216) 116 Zur Durchsetzung des Zustimmungsvorbehalts im abhängigen Unternehmen ist der Vorstand des herrschenden Unternehmens im Rahmen des rechtlich zulässigen zuständig. Er kann sich dazu beispielsweise seines Weisungsrechts oder auch der Zugehörigkeit seiner Mitglieder zum Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens bedienen.217) c)

Zustimmungsvorbehalt nach § 308 Abs. 3 AktG

117 Zwar kann sich der Vorstand des herrschenden Unternehmens bei Ausübung seines Weisungsrechts durch erneute Weisungserteilung über die Versagung der Zustimmung des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens gemäß § 308 Abs. 3 AktG hinwegsetzen. Wenn das herrschende Unternehmen aber selbst einen Aufsichtsrat hat, darf die erneute Weisung nur mit dessen Zustimmung erteilt werden. Es handelt sich mithin um einen Zustimmungsvorbehalt des Auf___________ 211) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 160; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 136; Koch, § 111 Rz. 76; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer, § 111 Rz. 28; Schmidt/Lutter/ Drygala, § 111 Rz. 66. 212) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 160; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (340); Hölters/ Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 94; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 136; Koch, § 111 Rz. 76; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 66; vgl. ferner Großkomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 737. 213) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 160; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (340); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 136. 214) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (341). 215) Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (340). 216) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 160; Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325 (340); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 136; vgl. auch Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 737. 217) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 160; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 133; Koch, § 111 Rz. 77; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 67; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 740.

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B. Besondere Pflichten im Vertragskonzern

sichtsrats des herrschenden Unternehmens. Mittels dieses Zustimmungsvorbehalts kann der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens auf die Schlichtung von Konflikten, die aufgrund der Weisungserteilung zwischen den Gesellschaften entstanden sind, hinwirken.218) d)

Zustimmungsvorbehalte im mitbestimmten Aufsichtsrat

Gemäß § 32 MitbestG können bei Bestehen eines mitbestimmten Aufsichtsrats 118 bestimmte Maßnahmen vom Vorstand im abhängigen Unternehmen nur aufgrund eines Beschlusses des Aufsichtsrats unternommen werden.219) IV.

Besondere Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens

1.

Keine Ausweitung der Überwachungspflicht

Die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats aus § 111 Abs. 1 AktG ändert sich 119 nicht durch den Abschluss eines Beherrschungsvertrags.220) Er hat die Geschäftsführung durch den Vorstand im gleichen Umfang und nach denselben Maßstäben zu überwachen wie in einer konzernfreien Gesellschaft.221) Auszurichten ist die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats dabei an dem Gesellschaftsinteresse, nicht an einem etwaigen Konzerninteresse.222) Aufgrund der fehlenden Ausweitung der Überwachungspflicht ergeben sich 120 auch für die Unterrichtung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft keine Besonderheiten. Demnach weitet sich die Berichtspflicht des Vorstands des abhängigen Unternehmens – anders als bei der herrschenden Gesellschaft – auch nicht auf den Konzern aus.223) Der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens kann allerdings im Rahmen 121 von Anforderungsberichten nach § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG die Unterrichtung über die rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen der Gesellschaft zum herrschenden Unternehmen sowie über geschäftliche Vorgänge beim herrschenden Unternehmen, die auf die Lage der Gesellschaft von erheblichem Einfluss sein können, verlangen.224)

___________ 218) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 162. 219) Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 163; MünchKommAktG/Annuß, § 32 MitbestG Rz. 12; KKAktG/Mertens/Cahn, Anh. § 117 B zu § 32 MitbestG Rz. 14. 220) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 40. 221) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 40; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 361; Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 164. 222) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 175; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 361. 223) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 42. 224) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 42.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

2.

Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats

122 Über Geschäfte, die durch das herrschende Unternehmen angewiesen werden und für die der Vorstand der abhängigen Gesellschaft nach § 111 Abs. 4 AktG die Zustimmung des Aufsichtsrats benötigt, entscheidet der Aufsichtsrat auch bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags frei und unabhängig von Weisungen der herrschenden Gesellschaft.225) Der Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats für bestimmte Geschäfte des Vorstands und die damit einhergehende beschränkende Wirkung nach § 82 Abs. 2 AktG auf die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands gilt grundsätzlich auch bei Bestehen eines Beherrschungsvertrags fort, das Weisungsrecht des herrschenden Unternehmens besteht nur gegenüber dem Vorstand.226) Die zusätzliche Zustimmung des Aufsichtsrats börsennortierter Gesellschaften ist dabei im Rahmen sog. related party transactions nach den durch das ARUG II geschaffenen Regelungen nicht erforderlich, wenn die Geschäfte auf dem Beherrschungsvertrag beruhen.227) 123 Verweigert der Aufsichtsrat des abhängigen Unternehmens seine Zustimmung zu einem angewiesenen Geschäft oder erteilt keine Zustimmung innerhalb einer angemessenen Frist, obliegt dem Vorstand die Mitteilungspflicht hierüber gegenüber der herrschenden Gesellschaft.228) Diese kann dann ihre Weisung wiederholen. Wird die Weisung wiederholt, ist eine erneute Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 308 Abs. 3 Satz 2 AktG nicht mehr erforderlich.229) Handelt es sich bei dem herrschenden Unternehmen um eine Gesellschaft mit Aufsichtsrat, bedarf die Wiederholung der Weisung nach § 308 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 AktG der Zustimmung des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft. C.

Besondere Pflichten im faktischen Konzern

I.

Pflichten des Vorstands des herrschenden Unternehmens

124 Bei Vorliegen eines faktischen Konzerns kann es grundsätzlich nur dann zu einer engen Konzernbindung kommen, wenn eine solche von dem beherrschten Unternehmen geduldet wird.230) Anderenfalls ist der Vorstand der herrschenden Gesellschaft auf eine dezentrale Konzernführung verwiesen.231) ___________ 225) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 175; KK-AktG/Koppensteiner, § 308 Rz. 75; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 361. 226) MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 160. 227) BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a Rz. 41 m. w. N. 228) MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 162; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG AktG Rz. 71; Koch, § 308 Rz. 23. 229) MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 163; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 71. 230) Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 129; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1282. 231) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1282.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

1.

Möglichkeiten der Beeinflussung

Das beherrschende Unternehmen ist bei der Einflussnahme auf das abhängige 125 Unternehmen auf die im Folgenden erläuterten Maßnahmen beschränkt. a)

Faktische Beeinflussung durch Weisungen und Empfehlungen

Eine Einflussnahme des herrschenden Unternehmens erfolgt im faktischen 126 Konzern in erster Linie in faktischer Art und Weise, häufig in Form informeller Handlungen.232) Das ergibt sich zum einen daraus, dass es keine gesetzlichen Instrumentarien zur 127 Beherrschung des abhängigen Unternehmens im faktischen Konzern gibt.233) Zum anderen wird aus den in § 311 Abs. 1 AktG statuierten Verhaltensverboten deutlich, dass die Eigenständigkeit der Tochtergesellschaft grundsätzlich erhalten werden soll.234) Denkbar ist vor allem eine Beeinflussung durch die aus einer Mehrheitsbeteili- 128 gung i. S. v. § 16 AktG folgende Dominanz im Aufsichtsrat sowie durch Empfehlungen und Ratschläge ohne gesetzliche Ausgestaltung.235) Dabei muss nicht zwangsläufig der Vorstand des beherrschten Unternehmens 129 Adressat der Veranlassung sein, da diese auch an untergeordnete Stellen erfolgen kann.236) Es obliegt dann jedoch dem Vorstand, die Organisation des Unternehmens so zu gestalten, dass er von derartigen Anweisungen Kenntnis erlangt. Die Tatsache, dass die Anweisung an eine nachgeordnete Stelle adressiert wird, ändert nichts daran, dass es sich dabei um eine Veranlassung i. S. v. § 311 Abs. 1 AktG handelt.237) b)

Grenzen der Beeinflussung

Der Schutzzweck des § 311 Abs. 1 AktG erfordert jedoch gewisse Grenzen 130 dieser Beeinflussung. Die abhängige Gesellschaft darf nicht zu nachteiligen Rechtsgeschäften veranlasst werden, soweit für den daraus entstehenden Nachteil kein angemessener Ausgleich erfolgt.238) Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nachteilige Weisungen und Maßnahmen im faktischen Konzern zulässig sind, solange ein Nachteilsausgleich erfolgt.239) ___________ Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 73; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1284. Koch, § 76 Rz. 47; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 72 f. Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 76 Rz. 51; Koch, § 76 Rz. 47. Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1284. KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 21; Koch, § 311 Rz. 17; Emmerich/Habersack/ Habersack, § 311 AktG Rz. 27. 237) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 27. 238) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1286; Döllerer, in: Festschrift Semler, S. 441. 239) v. Falkenhausen, ZIP 2014, 1205 (1206); Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1286. 232) 233) 234) 235) 236)

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

131 Die Durchsetzung des Nachteilsausgleichs muss durch den Vorstand der abhängigen Gesellschaft verfolgt werden240) und bis zum Ende des Geschäftsjahres erfolgen.241) Bis dahin sind die §§ 57 ff. AktG durch die §§ 311 ff. AktG verdrängt.242) 132 Der Begriff der Veranlassung ist weit zu verstehen. Danach genügt grundsätzlich jede Form der Einflussnahme des herrschenden Unternehmens.243) Ausreichend ist, dass die Handlung auf Seiten der abhängigen Gesellschaft den Eindruck erweckt, ein bestimmtes Verhalten werde seitens der herrschenden Gesellschaft gewünscht.244) Die Form der Äußerung ist unerheblich, sodass auch bloße Ratschläge, Vorschläge oder Anregungen ausreichen.245) 133 Vor dem Hintergrund des Schutzzweckes des § 311 AktG wird jedoch eine kausale Verknüpfung zwischen der Veranlassung und dem gesellschaftsrechtlich vermittelten Einfluss des herrschenden Unternehmens verlangt. Folglich muss die herrschende Gesellschaft ihren faktischen Einfluss gerade dazu genutzt haben, um das abhängige Unternehmen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen.246) 134 Dadurch, dass Veranlassungen häufig auf eher informellem Wege erfolgen, wird der abhängigen Gesellschaft der Beweis unter Zugrundelegung der allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln oft nicht gelingen. Daher kommen ihr hinsichtlich des Vorliegens einer Veranlassung nach herrschender Ansicht Beweiserleichterungen, in Form eines Anscheinsbeweises für das Vorliegen einer Veranlassung zugute.247) 135 Unter einem Nachteil ist jede Minderung oder konkrete Gefährdung der Vermögens- und Ertragslage des beherrschten Unternehmens zu verstehen, soweit sie als Abhängigkeitsfolge eintritt.248) ___________ 240) MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 44. 241) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 305. 242) BGH Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, Rz. 48, zitiert nach juris; Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 117; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 82; Henze, BB 1996, 489 (498). 243) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 76; Koch, § 311 Rz. 13; BeckOGK-AktG/ Müller; § 311 Rz. 73. 244) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 76; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 3. 245) Differenzierend KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 2 f.; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1287. 246) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1288; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 80; Emmerich/ Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 22; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 2; Mülbert, S. 272. 247) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 33; Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 30; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 10. 248) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 88; Koch, § 311 Rz. 24; Hölters/Weber/Leuering/ Goertz, § 311 Rz. 51.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

Ursache des Nachteils muss folglich die Abhängigkeit des Unternehmens 136 sein. Maßgeblich ist, ob auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft die Maßnahme getroffen hätte. Ist dies zu bejahen, so fehlt es an einem Nachteil i. S. v. § 311 AktG.249) Daher sind finanzielle Einbußen, die sich aus allgemeinen und unvermeidlichen unternehmerischen Risiken ergeben nicht ausgleichsfähig.250) Den Vorstand des beherrschenden Unternehmens trifft die Pflicht, das Vorlie- 137 gen der Voraussetzungen des § 311 Abs. 1 AktG zu überprüfen, bevor er in tatbestandsmäßiger Weise auf die abhängige Gesellschaft einwirkt.251) Das ergibt sich aus dem Verbot nachteiliger Weisungen gemäß § 311 Abs. 1 AktG.252) Er muss folglich sicherstellen, dass das angetragene Rechtsgeschäft für das 138 Tochterunternehmen nicht nachteilig ist oder dass es im Falle seiner Nachteiligkeit einen entsprechenden Ausgleich erfährt.253) Es bedarf mithin der Gewährung eines Vermögensvorteils zumindest in Form eines Rechtsanspruchs gegen das herrschende Unternehmen, der geeignet ist, den entstanden Nachteil zu neutralisieren.254) Der Ausgleich muss entweder während des Geschäftsjahres selber erfolgen o- 139 der ansonsten zumindest verbindlich bestimmt sein, also in Form eines abgeschlossenen Vertrages, der der abhängigen Gesellschaft einen durchsetzbaren Rechtsanspruch einräumt.255) Sog. qualifizierte nachteilige Maßnahmen, d. h. solche, die nicht ausgleichsfähig 140 sind, weil sie beispielsweise nicht quantifizierbar256) oder existenzgefährdend sind, sind anders als im Vertragskonzern unzulässig.257) Ebenso sind solche Nachteile unzulässig, deren Veranlassung nicht im Konzerninteresse liegt.258) § 311 AktG berechtigt des Weiteren nur zu punktuellen Eingriffen. Nicht ge- 141 rechtfertigt sind dagegen solche Eingriffe, die dazu führen, dass dem abhängigen Unternehmen letztlich keine unternehmerische Entscheidungsmacht mehr zukommt.259) ___________ 249) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 89; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 311 Rz. 52; MünchKommAktG/ Altmeppen, § 311 Rz. 160; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 76. 250) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 89. 251) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 150. 252) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 74. 253) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 74. 254) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1290; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 77; Koch, § 311 Rz. 39. 255) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1291; Koch, § 311 Rz. 46; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 126. 256) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 77. 257) Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 130. 258) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 102; Koch, § 311 Rz. 43; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1290. 259) Mülbert, S. 281 f.; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1290.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

c)

Vorstandsdoppelmandate

142 Eine weitere Möglichkeit der Ausübung der Konzernleitung und -kontrolle stellen Vorstandsdoppelmandate dar. Die Personalunion zwischen einem Mitglied des Vorstandes des abhängigen und des beherrschten Unternehmens, stellt ein effektives Instrumentarium dar, um Einfluss auf die abhängige Gesellschaft auszuüben.260) Die Einflussnahme erfolgt dann „von innen“ auf der Ebene der Untergesellschaft, sodass eine unmittelbare Umsetzung von außerhalb der Untergesellschaft liegenden Interessen erfolgen kann.261) 143 Über die Zulässigkeit von Vorstandsdoppelmandaten besteht Einigkeit.262) Für die Mitgliedschaft von Vorstandsmitgliedern der Obergesellschaft im Aufsichtsrat der Untergesellschaft ergibt sich das bereits aus dem Umkehrschluss aus § 100 Abs. 2 Satz 1 AktG. Danach ist lediglich die gleichzeitige Mitgliedschaft im Aufsichtsrat der Obergesellschaft und im Vorstand der abhängigen Gesellschaft, sowie sog. Überkreuzverflechtungen verboten. Darunter sind solche Konstellationen zu verstehen, in denen derjenige, der Aufsichtsratsmitglied einer Aktiengesellschaft werden soll, zugleich der gesetzliche Vertreter einer anderen Kapitalgesellschaft ist, deren Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied der Aktiengesellschaft angehört.263) Es soll verhindert werden, dass derjenige, der überwachen soll, selbst in einer anderen Gesellschaft einer Überwachung durch den Überwachten unterliegt.264) 144 Zulässig ist insbesondere auch die gleichzeitige Mitgliedschaft im Vorstand der Obergesellschaft und der Untergesellschaft.265) 145 Zur Begründung eines Doppelmandats ist jeweils die Zustimmung der Aufsichtsräte beider Gesellschaften erforderlich (§§ 84 Abs. 1, 88 Abs. 1 Satz 2 AktG).266) 146 Beachtlich sind die Besonderheiten, die sich bei Doppelmandaten hinsichtlich des Anstellungsvertrages des entsprechenden Vorstandsmitglieds ergeben. Geeignet erscheint der Abschluss zweier Verträge, wobei die vertraglich von der Tochtergesellschaft erbrachte Vergütung dann auf den Vertrag mit der Mutter-

___________ 260) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 94; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 126. 261) Aschenbeck, NZG 2000, 1015 (1021); Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1292. 262) BGH Urt. v. 3.9.2009 – II ZR 170/07, ZIP 2009, 1162 (1163 ff.); Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 127; Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1293; Aschenbeck, NZG 2000 1015 (1018); MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 98; Koch, § 311 Rz. 21; Hölters/Weber/Hölters/ Hölters, § 76 Rz. 57; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 28. 263) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1293. 264) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1293. 265) Altmeppen ZIP 2008, 437 (443). 266) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/70, WM 2009, 1138 (1140); Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 127; Passarge, NZG 2007, 441 (441).

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

gesellschaft anzurechnen ist oder eine separat verrechnete Vergütung vereinbart wird.267) Besonderheiten ergeben sich ebenfalls für die Prüfung der Angemessenheit der 147 Bezüge gemäß § 87 AktG. Bei einem Doppelmandat stellt sich die Frage, ob die Bezüge beider Tätigkeiten insgesamt am Angemessenheitsgebot zu messen sind. Nach vorherrschender Ansicht trägt der Aufsichtsrat der herrschenden Gesellschaft die Verantwortung für die Gesamtbezüge, d. h. einschließlich der von der abhängigen Gesellschaft gezahlten Bezüge.268) Im Hinblick auf die Abgabe der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG sind 148 Doppelmandate bezüglich der Vereinbarkeit mit den Empfehlungen des Corporate Governance Kodex sorgfältig zu würdigen.269) Problematisch erscheint lediglich, dass die Doppelmandatsträger jeweils den 149 Interessen beider Gesellschaften verpflichtet sind und es daher zu Loyalitätskonflikten kommen kann, wenn diese Interessen kollidieren.270) Ein gesetzliches Verbot von Vorstandsdoppelmandaten wäre wenig sinnvoll, da 150 das herrschende Unternehmen ein solches dadurch umgehen könnte, dass sie eine andere Person, die mit ihm auf eine andere Art und Weise verbunden ist, einsetzen könnte.271) Nach ganz überwiegender Ansicht ergibt sich aus der abstrakten Gefahr einer In- 151 teressenkollision kein generelles Stimmverbot für die Doppelmandatsträger.272) Zum Teil wird im Falle eines Interessenkonflikts ein umfassendes Stimmverbot 152 gemäß § 34 BGB analog angenommen.273) Andere Ansätze leiten aus den konzernrechtlichen Regelungen einen generellen Vorrang des Konzerninteresses ab,274) während wiederum andere die Entscheidung, welchem Interesse der Vorrang einzuräumen ist, ins Ermessen des Doppelmandatsträgers stellen wollen.275) Dies ist jedoch nach ganz überwiegender Auffassung nicht einschlägig. ___________ 267) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1294; näher zur Vertragsgestaltung: Passarge, NZG 2007, 441 (443); Fonk, NZG 2010, 368 (368 ff.); Weiß, CB 2014, 97 (100). 268) Fonk, NZG 2010, 368 (372 f.). 269) Passarge, NZG 2007, 441 (444); Wirth, in: Festschrift Bauer, S. 1147 (1158); Krauel/Klie, WM 2010, 1735 (1738). 270) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 98; Aschenbeck, NZG 2000, 1015 (1019). 271) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 100; Altmeppen ZIP 2008, 437 (442). 272) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 76 Rz. 59; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 120; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 225; Passarge, NZG 2007, 441 (442); Wirth, in: Festschrift Bauer, S. 1147 (1157 f.). 273) Dafür: Hoffmann-Becking ZHR 150 (1986), 570 (579 ff.); Schneider, ZHR 150 (1986), 609 (623); ablehnend: Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 14; Koch, § 77 Rz. 8; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 77 Rz. 38; MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 22; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 45; Weiß, CB 2014, 97 (99). 274) Nodoushani, GWR 2009, 309 (311f.). 275) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1297.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

153 Der Doppelmandatsträger ist vielmehr dazu verpflichtet, je nach einschlägigem Pflichtenkreis das eine oder andere Interesse zu beachten. Im Vorstand der Obergesellschaft hat er folglich nur deren Belange zu berücksichtigen, im Vorstand der abhängigen Gesellschaft nur Belange dieser.276) Es gilt, dass die Pflichterfüllung gegenüber der einen Gesellschaft niemals die Pflichtverletzung gegenüber der anderen rechtfertigen kann.277) 154 Im Falle eines unlösbaren Interessenkonflikts kann der Doppelmandatsträger durch Ruhenlassen des Stimmrechts bzw. Stimmenthaltung278) mit Verweis auf den Interessenkonflikt bis hin zu einer Amtsniederlegung279) bei dauerhaften Interessenkollisionen Abhilfe schaffen.280) 155 Eine Pflicht zur Stimmenenthaltung besteht ausnahmsweise dann, wenn eine praktische Übereinstimmung der beiden Interessen unmöglich ist und die Entscheidung für eine Seite die Schädigung der anderen bedeuten würde.281) 156 Eine Lösung des Interessenkonflikts kann im Einzelfall auch durch eine besondere Geschäftsordnung für den Konzernvorstand, in welcher konkrete Anweisungen für Doppelmandatsträger berücksichtigt werden, gelöst werden. 157 Dabei darf durch die Regelung die Einrichtung eines Doppelmandates keine Sinnentleerung erfahren. Es wäre daher verfehlt, zum Schutz des abhängigen Unternehmers jede Mitwirkung des Doppelmandatsträgers von vorneherein auszuschließen. Vielmehr ist den betreffenden Personen im Rahmen der Business Judgement Rule ein Ermessenspielraum einzuräumen. Die Mitwirkung bei Vorliegen eines Interessenkonflikts findet danach erst dort ihre Grenze, wo der Vorstand vernünftigerweise nicht mehr annehmen durfte, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln.282) 158 Allerdings sind viele Rechtsfragen zur Gestaltung von Anstellungsverträgen mit Doppelvorständen bislang noch ungeklärt.283)

___________ 276) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/70, WM 2009, 1138 (1140); Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1295; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 128; Aschenbeck, NZG 2000, 1015 (1021); MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 53; MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 44. 277) BGH Urt. v. 21.12.1979 – II ZR 244/78, NJW 1980, 1629 (1630); Weiß, CB 2014, 97 (99); Passarge, NZG 2007, 441 (442); Wirth, in: Festschrift Bauer, S. 1147 (1157). 278) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 43; Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 229. 279) MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 45; Weiß, CB 2014, 97 (99); Großkomm-AktG/ Kort, § 76 Rz. 230. 280) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1297; BeckOGK-AktG/Fleischer; § 76 Rz. 122. 281) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 76 Rz. 59. 282) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1297. 283) Siehe zu Konzernanstellungsverträgen bei Vorstandsdoppelmandaten MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 4.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

d)

Sonstige personelle Verflechtungen

Neben den Vorstandsdoppelmandaten sind auch andere personelle Verflechtun- 159 gen denkbar. Zum einen kommt zur Erhöhung der faktischen Einflussmacht die Einrichtung eines Zwischengremiums, etwa in Form eines Executive Committee in Betracht. Zu beachten ist, dass durch die Ausgestaltung der Zuständigkeiten des Gremiums 160 die aktienrechtlichen Aufgabenverteilungen nicht verletzt werden dürfen. Der Aufgabenbereich des Gremiums dürfte sich daher auf eine Beratungs- oder Vermittlungsleistung beschränken.284) Aufgrund der unabdingbaren Leitungsmacht des Vorstands darf das Gremium 161 insbesondere keine Aufgaben wahrnehmen, die originär dem Vorstand zugewiesen sind und die dieser nicht ausdrücklich weiter delegiert hat.285) In Betracht kommt weiterhin die Entsendung einfacher Angestellter in Or- 162 gane des abhängigen Unternehmens, vgl. §§ 84 Abs. 1, 101 Abs. 1 AktG.286) Es ist außerdem möglich, einen Generalbevollmächtigten für mehrere Toch- 163 terunternehmen einzusetzen. Das ist allerdings nur dann zulässig, wenn dem Vorstand der abhängigen Gesellschaft das Letztentscheidungsrecht verbleibt, was sich dadurch erreichen lässt, dass die Vollmacht des jeweiligen Angestellten widerruflich ist.287) 2.

Verantwortlichkeit für rechtswidrige Beeinflussungen

a)

Haftungsgrundsätze

Die privilegierende Sperrwirkung von § 311 AktG entfällt, wenn die herr- 164 schende Gesellschaft keinen angemessenen Ausgleich für eine nachteilige Veranlassung leistet und damit im Ergebnis eine rechtswidrige Beeinflussung vorliegt. § 57 AktG ist dann uneingeschränkt anwendbar. Aus der konzernrechtlichen Verantwortlichkeit des herrschenden Unterneh- 165 mens und seiner Organwalter wird daneben ein Schadensersatzanspruch der abhängigen Gesellschaft nach § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG begründet. Dieser kann prozessual auch von den Gläubigern oder den Aktionären des ab- 166 hängigen Unternehmens geltend gemacht werden.288)

___________ 284) 285) 286) 287) 288)

Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1298; Götz, ZGR 2003, 1(10). Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1298; Götz, ZGR 2003, 1(11). Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1299. Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1299; Krauel/Klie, WM 2010, 1735 (1739). Grigoleit/Grigoleit, § 317 Rz. 10 f.; ausführlicher hierzu unter § 8 Rz. 286 ff.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

b)

Kündigung und Abberufung

167 Handelt ein Vorstandsmitglied häufig ermessensfehlerhaft oder kommt es zu schwerwiegenden Schäden der Muttergesellschaft, kann auch eine Abberufung gerechtfertigt sein. Dagegen kann ein Schaden der Untergesellschaft keine Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds im Verhältnis zu seiner Aktiengesellschaft begründen.289) Entsprechendes gilt für die Kündigung des Dienstvertrages. 3.

Keine Leitungspflicht bezüglich Tochtergesellschaft

168 Dem Vorstand der herrschenden Gesellschaft obliegt grundsätzlich keine umfassende Leitungspflicht hinsichtlich des abhängigen Unternehmens i. S. v. § 76 AktG.290) Vielmehr verbleibt es beim faktischen Konzern bei der eigenverantwortlichen Leitungsmacht des Vorstands des abhängigen Unternehmens, der dabei ausschließlich Interessen der abhängigen Gesellschaft zu berücksichtigen hat.291) 4.

Konzernüberwachungspflicht

169 Auch wenn keine Konzernleitungspflicht des herrschenden Unternehmens besteht, so obliegt dem Vorstand des herrschenden Unternehmens aber eine Pflicht zur laufenden Konzernüberwachung.292) 170 Diese umfasst insbesondere eine Pflicht zur sachgerechten Konzernorganisation und zur Errichtung eines konzernweiten Systems der Risiko-Früherkennung sowie eines konzernweiten Controlling-Systems.293) Grundlage dieser Pflichten ist die Sorgfaltspflicht des Vorstands der herrschenden Gesellschaft, die diesen dazu verpflichtet, deren Beteiligungsvermögen sorgfältig zu verwalten.294) Hierzu gehört auch die Pflicht zur Einrichtung eines konzernweiten Compliance-Systems zur Verhinderung von Rechtsverstößen im Konzern.295) 171 Darüber hinaus obliegt dem Vorstand eines börsennotierten herrschenden Unternehmens gemäß § 111c AktG die Pflicht, Geschäfte mit nahestehenden Personen unverzüglich zu veröffentlichen, die der mit ARUG II eingeführten Zustimmungspflicht des Aufsichtsrats unterfallen.296) Davon erfasst sind insbesondere auch Geschäfte mit Gesellschaften, mit denen eine gesellschaftsrechtliche Bindung ___________ 289) Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1305. 290) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 76 Rz. 51; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 76 Rz. 97 ff.; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 11; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 152. 291) MünchHdb GesR IV/Wentrup, § 19 Rz. 42. 292) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 26. 293) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 26; Lutter/Krieger/Verse, § 4 Rz. 151, 152. 294) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 26. 295) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 26; Koch, § 76 Rz. 20 ff. 296) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 36; Koch, § 111c Rz. 2.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

aufgrund der Beherrschung oder dienstvertragliche oder organschaftliche Verbindungen durch die Möglichkeit zur Besetzung von Schlüsselpositionen der Gesellschaft bestehen.297) Die Veröffentlichungspflicht umfasst nicht nur einzelne Geschäfte, die den Schwellenwert von 1,5 % der Summe aus Anlage- und Umlaufvermögen der Gesellschaft überschreiten, sondern auch mehrere Geschäfte mit derselben nahestehenden Person innerhalb eines Geschäftsjahres, die aggregiert diesen Schwellenwert überschreiten.298) Nach Überschreiten des Schwellenwerts erfolgt eine neue Aggregation der danach erfolgenden Geschäfte, sodass eine erneute Veröffentlichung erst wieder erforderlich ist, wenn der Schwellenwert im gleichen Geschäftsjahr erneut überschritten wird. Somit wird bei Überschreiten des Schwellenwerts ebenso wie am Ende eines jeden Geschäftsjahres „der Zähler auf Null gestellt“. Die Zustimmungspflicht betrifft jeweils nur dasjenige Geschäft, durch das in der Aggregation mit dem vorangegengenen Geschäften der Schwellenwert überschritten wird. Zu beachten ist, dass gewisse Geschäfte nach § 111a Abs. 3 AktG hiervon ausgenommen sind. Das betrifft insbesondere Geschäfte, die im ordentlichen Geschäftsgang und zu marktüblichen Bedingungen getätigt werden.299) Um die Veröffentlichungspflicht des Vorstands ordnungsgemäß erfüllen zu können, muss eine verlässliche Erfassung und Kontrolle über zustimmungspflichtige Geschäfte und deren volumenmäßige Aggregation innerhalb der herrschenden Gesellschaft etabliert werden.300) 5.

Informationsrechte und Pflicht zur Informationsbeschaffung

Dem Vorstand des herrschenden Unternehmens stehen im Rahmen des fakti- 172 schen Konzerns zudem auch besondere Informationsrechte zu. Demnach hat das abhängige Unternehmen dem herrschenden Unternehmen all diejenigen Informationen zur Verfügung zu stellen, die dieses zur Erfüllung eigener Rechtspflichten benötigt, sofern keine datenschutzrechtlichen Bedenken entgegenstehen.301) Insbesondere ist die abhängige Gesellschaft nach § 294 Abs. 3 HGB dazu verpflichtet, dem herrschenden Unternehmen alle Informationen und Nachweise zur Verfügung zu stellen, welche diese zur Aufstellung des Konzernabschlusses und -lageberichts innerhalb von 90 Tagen nach Geschäftsjahresende302) benötigt.303)

___________ 297) 298) 299) 300) 301) 302) 303)

BeckOGK-AktG/Spindler/Seidel, § 111a Rz. 20 f.; Koch, § 111a Rz. 5 f. Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1241a f. Koch, § 111a Rz. 10 ff. Backhaus, NZG 2020, 695 (697). MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 27; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 425. Empfehlung F.2 DCGK 2022. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 27; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 425.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

II.

Pflichten des Vorstands des abhängigen Unternehmens

173 Die §§ 311 ff. AktG sollen verhindern, dass das herrschende Unternehmen seinen Einfluss auf das abhängige Unternehmen ausnutzt, um es zu nachteiligen Rechtsgeschäften zu veranlassen, es sei denn, die Nachteile werden ausgeglichen. Geschützt werden sollen folglich das abhängige Unternehmen und damit mittelbar auch deren Aktionäre und Gläubiger.304) 174 Die in den Normen enthaltenen Prüfungs-, Dokumentations- und Informationspflichten sollen das abhängige Unternehmen in die Lage versetzten, den Einfluss der herrschenden Gesellschaft beobachten und, falls erforderlich, begrenzen zu können.305) 1. Orientierung an Unternehmensinteresse 175 Der Vorstand hat vorrangig die Interessen des abhängigen Unternehmens zu beachten und nicht das Interesse des Konzerns.306) Ein Vorrang darf dem Konzerninteresse nur dann eingeräumt werden, wenn der Ausgleich des damit verbundenen Nachteils durch das herrschende Unternehmen sichergestellt ist.307) 176 Zum Teil wird vertreten, dass eine derartige Loslösung der Leitung des abhängigen Unternehmens vom Gesamtkonzern und seinen Interessen nicht möglich sei. Vielmehr seien Entscheidungen des Vorstands des abhängigen Unternehmens immer vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit zu einem Unternehmensverbund zu treffen, da das Schicksal des Gesamtkonzerns und das der abhängigen Unternehmen in einem untrennbaren Zusammenhang stünden.308) Folglich müsse stets eine Orientierung an der Konzernpolitik erfolgen, Handlungsmaßstab wäre somit das Konzerninteresse.309) Dies dürfe jedoch nicht so weit gehen, dass das abhängige Unternehmen den Status eines autonomen Unternehmensträgers de facto verliere. Der Vorstand müsse folglich weiterhin in der Lage sein, aufgrund selbstgewählter unternehmerischer Ziele einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.310) 177 Alleine die Existenz der Verlustausgleichspflicht in den §§ 311 ff. AktG zeigt, dass Konzerninteresse und Unternehmensinteresse nicht zwangsläufig parallel verlaufen. Die Ausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens greift zudem nur dann, wenn der Vorstand des abhängigen Unternehmens durch das herrschende Unternehmen kausal zu einem bestimmten Verhalten veranlasst wurde. ___________ 304) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 1; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 3; BeckOGKAktG/Müller, § 311 Rz. 3. 305) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1357. 306) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 125; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 77. 307) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1358. 308) Crezelius, in: Festschrift Kropff, S. 37 (47). 309) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 445; Crezelius, in: Festschrift Kropff, S. 37 (47). 310) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1359.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

Die bloße Befolgung des Konzerninteresses führt dagegen nicht zu einer Ausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens.311) Daher ist es vorzugswürdig, dem Vorstand die Berücksichtigung des Konzern- 178 interesses anstelle des Unternehmensinteresses nur dann zu gestatten, wenn dadurch von vornherein kein Nachteil entsteht.312) 2.

Pflichten im Zusammenhang mit Veranlassungen durch das herrschende Unternehmen

a)

Keine Veranlassungsfolgepflicht

Der Vorstand des abhängigen Unternehmens im faktischen Konzern ist anders 179 als im Vertragskonzern nicht dazu verpflichtet, den Veranlassungen des herrschenden Unternehmens Folge zu leisten.313) Eine solche Pflicht besteht sogar dann nicht, wenn die durch das beherrschende Unternehmen angetragene Maßnahme oder Weisung mit keinerlei Nachteilen verbunden ist.314) Es bleibt damit bei einer eigenverantwortlichen Leitung der Tochtergesellschaft durch den Vorstand gemäß § 76 Abs. 1 AktG.315) Es ist allenfalls dann eine Reduzierung des Vorstandsermessens dahingehend 180 denkbar, der Weisung Folge zu leisten, wenn die Handlung unter allen Alternativen die einzige im Gesellschaftsinteresse liegende ist.316) Auch dann bestünde die Verpflichtung zur Befolgung allenfalls im Binnenverhältnis zur eigenen Gesellschaft und nicht gegenüber dem herrschenden Unternehmen.317) Zustimmungsvorbehalte zugunsten des herrschenden Unternehmens dürfen 181 weder in der Geschäftsordnung des Vorstands noch in der Satzung der abhängigen Gesellschaft vorgesehen werden.318) b)

Prüfungspflichten

Möchte der Vorstand des abhängigen Unternehmens die Weisung des herr- 182 schenden Unternehmens befolgen, ergeben sich daraus weitreichende Prüfungspflichten bezüglich der Zulässigkeit der Weisung.319) ___________ 311) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1360. 312) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1358. 313) OLG Hamm, Urt. v. 10.05.1995 – 8 U 59/94, ZIP 1263, 1271; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 139; Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 109; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 44; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78; BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 125. 314) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 106; KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 139. 315) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 104; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78. 316) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1362. 317) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 106; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78. 318) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1362, MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 410. 319) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 140; Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 115; Fleischer/ Fleischer, § 18 Rz. 105.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

183 Dabei hat der Vorstand zunächst zu untersuchen, ob die angewiesene Maßnahme für das abhängige Unternehmen nachteilig ist.320) Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist der Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme des Rechtsgeschäfts oder der Maßnahme.321) Stellt sich die Maßnahme aus Sicht des abhängigen Unternehmens vorteilhaft oder ergebnisneutral dar, darf der Vorstand die Weisung befolgen, er muss es jedoch auch dann nicht.322) 184 Wirkt sich die Maßnahme oder das Rechtsgeschäft dagegen negativ für das abhängige Unternehmen aus, so kommt nur dann noch eine Befolgung der Weisung in Betracht, wenn der festgestellte Nachteil einem Ausgleich durch das herrschende Unternehmen zugänglich ist.323) Das ist insbesondere dann zu verneinen, wenn der Nachteil nicht quantifizierbar ist.324) Erscheint dem Vorstand die Ausgleichsfähigkeit dagegen zweifelhaft, trifft ihn eine Ablehnungspflicht.325) 185 Wird die Nachteilsausgleichsfähigkeit bejaht, ist das herrschende Unternehmen auf seine Bonität hin zu überprüfen. Nur wenn das herrschende Unternehmen hinsichtlich des in Betracht kommenden Ausgleichs leistungsfähig erscheint, kommt eine Annahme der Weisung in Betracht.326) 186 Weiterhin besteht eine Vergewisserungspflicht. Der Vorstand muss sich durch das herrschende Unternehmen seine Bereitschaft zum Nachteilsausgleich erklären lassen.327) Bestreitet das herrschende Unternehmen dagegen die Nachteiligkeit oder lehnt einen Ausgleich von vornherein ab, so hat sich der Vorstand dem Verlangen zu widersetzen.328) 187 Der Vorstand hat das herrschende Unternehmen zudem über den eventuellen Nachteil aufzuklären und dessen Ausmaß mitzuteilen, wenn er sich für die Durchführung einer nachteiligen, aber ausgleichsfähigen Maßnahme entscheidet.329) ___________ 320) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 465; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 105. 321) BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06, NJW 2008, 1583 Rz. 11 = ZIP 2008, 785; Hölters/ Weber/Leuering/Goertz, § 311 Rz. 57. 322) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 106; Geßler, in: Festschrift Westermann, S. 145 (156). 323) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 141; Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 112. 324) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 108; Geßler, in: Festschrift Westermann, S. 145 (156). 325) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 466; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 108. 326) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 142; Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 114; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 31. 327) OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, AG 1995, 512 (516); Emmerich/Habersack/ Habersack, § 311 AktG Rz. 78; Aschenbeck, NZG 2000, 1015 (1021); MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 31. 328) Geßler, in: Festschrift Westermann, S. 145 (157); Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78. 329) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 468; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 110; KK-AktG/ Koppensteiner, § 311 Rz. 145; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

Überwiegend wird zudem eine Prüfung dahingehend verlangt, ob die Vornahme 188 der Maßnahme auch im Konzerninteresse liegt.330) Entsprechend § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG ist unter dem Konzerninteresse das Interesse des herrschenden Unternehmens oder eines mit diesem konzernverbundenen Unternehmens zu verstehen.331) Die Legitimierung einer nachteiligen Maßnahme aus Interessen eines Dritten ist auch im faktischen Konzern zu verneinen.332) Eine Ablehnungsverpflichtung in einem solchen Fall wird man vor dem Hin- 189 tergrund von § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG hier nur annehmen können, wenn die angestrebte Maßnahme dem Konzerninteresse offensichtlich widerspricht.333) Nicht erforderlich ist, dass Modalitäten und Höhe des Ausgleichs bereits vor 190 Durchführung der Maßnahme vertraglich vereinbart werden; § 311 Abs. 2 AktG lässt die Bestimmung des Ausgleichs ausdrücklich bis zum Ende des Geschäftsjahres zu.334) Ist allerdings ein Ausgleich nur in einer ganz bestimmten Form möglich, so hat der Vorstand der abhängigen Gesellschaft eine Zusicherung des herrschenden Unternehmens einzuholen, dass der Ausgleich in dieser Art und Weise erfolgen wird.335) Kommt die Ausführung der Maßnahme vor dem Hintergrund dieser Kriterien 191 in Betracht, liegt die tatsächliche Befolgung im Ermessen des Vorstands.336) Maßstab der Ermessensentscheidung ist dann alleine das Interesse des abhängigen Unternehmens.337) Bei mit der herrschenden Gesellschaft abzuschließenden Geschäften obliegt dem 192 Vorstand börsennotierter abhängiger Gesellschaften im faktischen Konzernverhältnis zudem aufgrund der im Rahmen des ARUG II eingeführten Regelungen zu related party transactions die Pflicht zur Prüfung, ob ein zustimmungspflichtiges Geschäft gemäß § 111b AktG vorliegt und damit eine Vorlage an den Aufsichtsrat oder den hierfür zuständigen Ausschuss zu erfolgen hat.338)

___________ 330) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 108; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 309; Emmerich/ Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78. 331) Emmerich/Habersack/Habersack, § 308 AktG Rz. 47; Ihrig/Schäfer § 33 Rz. 1363. 332) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 60; Koch, § 311 Rz. 43. 333) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 108. 334) Geßler, in: Festschrift Westermann, S. 145 (157); Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 111; KK-AktG/ Koppensteiner, § 311 Rz. 145. 335) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 111. 336) Ihrig/Schäfer § 33 Rz. 1364; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 106. 337) Ihrig/Schäfer § 33 Rz. 1364; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 31; a. A. MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 467. 338) Backhaus, NZG 2020, 695 (697).

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

c)

Organisationspflichten

193 Mit der Prüfungspflicht gehen zudem Organisationspflichten des Vorstands einher. Nur wenn der Informationsfluss innerhalb der abhängigen Gesellschaft so organisiert ist, dass der Vorstand von möglicherweise nachteiligen Veranlassungen, deren Nachteilsausgleich nicht gesichert ist, Kenntnis erlangt, kann er eine pflichtgemäße Prüfung gewährleisten.339) Der Informationsfluss muss insbesondere auch solche Anweisungen erfassen, deren Adressat nicht der Vorstand ist.340) 194 Im Falle börsennotierter abhängiger Gesellschaften hat der Vorstand angesichts der Prüfungs- und Veröffentlichungspflicht gemäß den nach ARUG II eingeführten Regelungen zu related party transactions die Erfassung der zustimmungspflichtigen Geschäfte zu gewährleisten.341) Dabei hat der Vorstand auch die volumenmäßige Aggregation der Geschäfte mit der herrschenden Gesellschaft im Laufe des Geschäftsjahres zu berücksichtigen, um bei Überschreiten des Schwellenwertes von 1,5 % der Summe aus Anlage- und Umlaufvermögen der Gesellschaft die unverzügliche Veröffentlichung vornehmen zu können.342) d)

Folgepflichten bei der Durchführung von veranlassten Maßnahmen

195 Aus der Ausführung der Weisung ergeben sich für den Vorstand der abhängigen Gesellschaft Folgepflichten. 196 Zunächst besteht die Pflicht, alle mit der Maßnahme zusammenhängenden rechtserheblichen Vorgänge zu dokumentieren. Erfasst werden müssen dabei insbesondere auch solche Veranlassungen, die sich nicht an den Vorstand selbst, sondern an untergeordnete Stellen im abhängigen Unternehmen richten.343) 197 Weiterhin ist der Vorstand im Falle der Befolgung einer nachteiligen Weisung dazu verpflichtet, ggf. Verhandlungen über Art und Umfang des Nachteilsausgleichs mit dem herrschenden Unternehmen zu führen344) und auf die Durchsetzung des vereinbarten Nachteilsausgleichs hinzuwirken.345) 198 Eine Mitwirkung des Vorstands an den Modalitäten des Ausgleichs ist nicht erforderlich, wenn objektiv sichergestellt ist, dass der Nachteil vollständig kompensiert wird. Ebenso nicht erforderlich ist, dass bereits bei Durchführung der ___________ 339) Schmidt/Lutter/Vetter, § 311 Rz. 116; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 80; Ihrig/Schäfer § 33 Rz. 1365. 340) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 144; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 80. 341) Backhaus, NZG 2020, 695 (697). 342) MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 73. 343) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1366. 344) Geßler, in: Festschrift Westermann, S. 145 (157). 345) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 112; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 80.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

Maßnahme ein Rechtsanspruch auf den Ausgleich gegen die herrschende Gesellschaft begründet wird, zumal eine genaue Bestimmung der Ausgleichspflicht zu diesem Zeitpunkt regelmäßig noch nicht vorgenommen werden kann.346) Die Durchsetzungspflicht des Vorstands ist daher darauf beschränkt, das Aus- 199 gleichsangebot auf seine Eignung und Vollwertigkeit hin zu überprüfen.347) Dagegen besteht für den Fall, dass ein ursprünglich zugesicherter Ausgleich 200 durch das herrschende Unternehmen wider Erwarten nicht erfolgt, die Verpflichtung des Vorstands, den Anspruch gegen das herrschende Unternehmen aus § 317 Abs. 3 AktG bzw. gegen dessen Vorstandsmitglieder gemäß § 317 Abs. 3 AktG geltend zu machen.348) Zudem besteht hinsichtlich zukünftiger Weisungen die Pflicht, einer nachteiligen Veranlassung nur bei sofortigem Ausgleich oder Begründung eines entsprechenden Rechtsanspruchs nachzukommen.349) 3.

Informations- und Berichtspflichten

a)

Information des herrschenden Unternehmens

Das Tochterunternehmen trifft gemäß § 294 Abs. 3 HGB die Pflicht, dem 201 herrschenden Unternehmen die dort genannten Angaben zur Verfügung zu stellen. Außerdem besteht gemäß § 294 Abs. 3 Satz 2 HGB eine Auskunftsund Nachweispflicht hinsichtlich solcher Informationen, die beim Mutterunternehmen für die Aufstellung des Konzernabschlusses- und Jahresberichts benötigt werden (Konsolidierungskreis).350) Ebenso verpflichtet § 90 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AktG die abhängige Gesell- 202 schaft dazu, Unterlagen und Informationen zu erteilen, die der Vorstand der Obergesellschaft zur Aufstellung der Konzernplanung benötigt. Es wird sich dabei unter anderem regelmäßig um die eigene Planung des Tochterunternehmens handeln.351) Es besteht jedoch keine allgemeine, ungeschriebene Verpflichtung des Vor- 203 stands des abhängigen Unternehmens, das herrschende Unternehmen zum Zwecke der Konzernleitung aufzuklären.352)

___________ 346) 347) 348) 349) 350)

Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78. MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 472. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1367; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 79. Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 79. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1368; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 425; Singhof, ZGR 2001, 146 (155 f.); a. A. Fabritius, in: Festschrift Huber, S. 705 (709 f.). 351) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1368; Götz, ZGR 1998, 524 (528). 352) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1369; MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 425; Singhof, ZGR 2001, 146 (159 f.).

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

204 Das ergibt sich bereits daraus, dass der Vorstand der abhängigen Gesellschaft im faktischen Konzern nach der Systematik des § 311 AktG die Einflussnahme des herrschenden Unternehmens verweigern darf.353) 205 Allerdings besteht andererseits die Berechtigung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft, nach seinem Ermessen Informationen an das herrschende Unternehmen weiterzugeben. Diese gilt ungeachtet etwaiger Verschwiegenheitspflichten gegenüber Dritten nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.354) 206 Es darf dennoch keine gänzlich unbeschränkte Informationsweitergabe erfolgen. Allerdings sind die Kriterien hinsichtlich der Beschränkungen umstritten. 207 Denkbar ist es, hinsichtlich der Informationsweitergabe ausschließlich auf Interessen der abhängigen Gesellschaft abzustellen.355) Teilweise wird vertreten, dass der Vorstand bei der Beurteilung auch die Bedeutung der Information zur Abstimmung und Koordination im Konzern berücksichtigen darf.356) 208 Beachtlich ist, dass es sich bei dem Informationsverlangen des herrschenden Unternehmens um eine Veranlassung i. S. v. § 311 AktG handelt. Daher erscheint es richtig, eine Informationsweitergabe dann nicht vorzunehmen, wenn der abhängigen Gesellschaft dadurch nicht auszugleichende Nachteile entstehen. Eine Informationsweitergabe lässt sich dann vor dem Hintergrund der Interessen des abhängigen Unternehmens nicht rechtfertigen. 209 Den Vorstand des abhängigen Unternehmens trifft somit die Pflicht, zu prüfen, ob die Informationsweitergabe eine nachteilige und nicht ausgleichsfähige Maßnahme nach § 311 AktG darstellt.357) 210 Nach zutreffender Ansicht zieht die Informationserteilung an das herrschende Unternehmen außerhalb der Hauptversammlung nicht nach § 131 Abs. 4 AktG die Verpflichtung nach sich, auf Verlangen auch die anderen Aktionäre zu informieren.358) b)

Pflichten im Zusammenhang mit der Erstattung eines Abhängigkeitsberichts nach § 312 Abs. 1 AktG

211 Gemäß § 312 Abs. 1 Satz 1 AktG hat der Vorstand einer faktisch abhängigen Gesellschaft innerhalb der ersten drei Monate des Geschäftsjahres einen Bericht über die Beziehungen zur herrschenden Gesellschaft aufzustellen.359) ___________ 353) Koch, § 311 Rz. 36d; siehe auch MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 425. 354) Singhof, ZGR 2001, 146 (160); Hoffmann-Becking, in: Festschrift Rowedder, S. 155 (167); Leuering/Keßler, NJW-Spezial 2015, 399 (399f.); Hüffer, in: Festschrift Schwark, S. 185 (192). 355) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1371. 356) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1371. 357) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 430; Hüffer, in: Festschrift Schwark, S. 185 (193). 358) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1372; Hüffer, in: Festschrift Schwark, S. 185 (194). 359) Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 114; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1373; KK-AktG/Koppensteiner, § 312 Rz. 1.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

In diesem sog. Abhängigkeitsbericht sind nach § 312 Abs. 1 Satz 2 AktG alle 212 Rechtsgeschäfte aufzuführen, die im vergangen Geschäftsjahr mit dem beherrschenden Unternehmen oder einem mit ihm verbundenen Unternehmen oder auf Veranlassung oder im Interesse dieser Unternehmen abgeschlossen wurden. Ebenso ist über Maßnahmen Bericht zu erstatten, die der Vorstand auf Veranlassung oder im Interesse dieser Unternehmen getroffen oder unterlassen hat.360) Es handelt sich dabei kurzum um alle Vorgänge und Umstände, die „benachteiligungsverdächtig“ erscheinen.361) Die Veröffentlichungspflicht gemäß § 111c AktG bei zustimmungspflichtigen Geschäften mit nahestehenden Personen ist dabei von der Berichtspflicht zu unterscheiden und hat keine Auswirkungen auf diese.362) Der Bericht soll dem Aufsichtsrat (§ 314 AktG) und dem Abschlussprüfer 213 (§ 313 AktG) ein möglichst vollständiges Bild der Geschäftsbeziehungen zwischen dem abhängigen und dem herrschenden Unternehmen vermitteln, damit eine sachgemäße interne Überprüfung der Beziehungen gewährleistet werden kann.363) Zudem soll Aktionären und Gesellschaftsgläubigern die Durchsetzung ihrer 214 Ersatzansprüche nach § 317 AktG erleichtert werden.364) Der Bericht ist den Aktionären aufgrund der teilweise enthaltenen sensiblen Daten zwar nicht unmittelbar zugänglich, allerdings werden die Schlusserklärung des Vorstands sowie die Prüfungsergebnisse von Aufsichtsrat und Abschlussprüfern offengelegt.365) Ergeben sich hieraus Unregelmäßigkeiten, die auf nicht ausgeglichene Nachteile hinweisen, kann jeder Aktionär nach § 315 AktG eine Sonderprüfung beantragen und sich auf diese Weise die für eine Klage notwendigen Angaben beschaffen.366) Letztlich hat die Berichterstattungspflicht auch einen präventiven Charakter 215 und dient der Selbstkontrolle des Vorstands. Dieser soll zum Schutz der abhängigen Gesellschaft dazu angehalten werden, bereits während des laufenden Geschäftsjahres sicherzustellen, dass nachteilige Maßnahmen unterbleiben oder ausgeglichen werden.367) ___________ 360) 361) 362) 363) 364)

Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 114. BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 2; KK-AktG/Koppensteiner, § 312 Rz. 1. Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 108. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1389; Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 2. MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 5; Koch, § 312 Rz. 1; BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 3. 365) BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 3; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 7. 366) BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 3. 367) BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 4; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 115; MünchKommAktG/ Altmeppen, § 312 Rz. 132; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 312 Rz. 53.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

aa)

Inhalt der Berichtspflicht

216 Hinsichtlich des Begriffes des Rechtsgeschäfts im Sinne der Norm ist auf allgemeine bürgerlich-rechtliche Grundsätze abzustellen. Es handelt sich dabei um Tatbestände, die mindestens aus einer Willenserklärung bestehen und an die die Rechtsordnung den Eintritt eines rechtlich gewollten Erfolges knüpft.368) Erfasst werden dabei nicht nur Verträge, sondern auch einseitige Rechtsgeschäfte, Gestaltungserklärungen und geschäftsähnliche Handlungen.369) Nicht berichtspflichtig ist dagegen das Vorliegen von nur einer Willenserklärung hinsichtlich eines zweiseitigen Rechtsgeschäfts, wie z. B. das Vorliegen eines Angebots.370) 217 Bei zweiseitigen Rechtsgeschäften sind Leistung und Gegenleistung aufzuführen (§ 312 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 AktG). Liegt dagegen ein einseitiges Rechtsgeschäft vor, so ist zunächst das Fehlen einer Gegenleistung festzustellen und darüber hinaus zu erläutern, aufgrund welchen wirtschaftlichen Äquivalents das Geschäft dennoch angemessen erscheint.371) 218 Weiterhin sind solche Geschäfte berichtspflichtig, die das beherrschte Unternehmen auf Veranlassung oder im Interesse des herrschenden Unternehmens oder einem mit diesem verbundenen Unternehmen mit Dritten abgeschlossen hat (§ 312 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 AktG).372) 219 Unter „sonstigen Maßnahmen“ ist jedes Tun oder Unterlassen zu verstehen, das sich auf die Vermögens- oder Ertragslage des Unternehmens auswirken kann, ohne dabei rechtsgeschäftlichen Charakter zu haben.373) Lediglich solche Vorgänge, die eindeutig keine vermögensmäßigen Auswirkungen haben und daher für die abhängige Gesellschaft keinerlei Benachteiligung bedeuten können, sind nicht berichtspflichtig.374) 220 Besonderheiten gelten bei mehrfacher und mehrstufiger Abhängigkeit. Das abhängige Unternehmen hat über die Beziehungen zu allen herrschenden Unternehmen zu berichten, wenn es von mehreren abhängig ist, wobei die Erstellung eines einheitlichen Berichts ausreicht, wenn sich daraus ergibt, auf wessen Veranlassung hin eine Maßnahme vorgenommen wurde.375)

___________ 368) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 23; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1381; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 81. 369) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1381; Koch, § 312 Rz. 13. 370) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 23. 371) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1381; Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 23. 372) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 31. 373) BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 37; Koch, § 312 Rz. 23. 374) MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 90. 375) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 9; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 129; Koch, § 312 Rz. 19.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

Gleiches gilt, wenn das herrschende Unternehmen seinerseits von einem Un- 221 ternehmen beherrscht wird. In dieser Situation sind dann sowohl die Beziehungen zur mittelbar herrschenden Konzernmutter als auch die zur unmittelbar herrschenden Konzerntochter aufzuführen.376) Berichtspflichtig sind auch Rechtsgeschäfte und Maßnahmen, die mit nachge- 222 ordneten Unternehmen stattfinden. Das ergibt sich daraus, dass diese nach § 312 Abs. 1 Satz 2 AktG als mit dem herrschenden Unternehmen verbunden anzusehen sind und sich die Berichtspflicht auf solche Unternehmen erstreckt.377) Der Vorstand hat daher sicherzustellen, dass bereits vor Eintritt der Abhängig- 223 keitssituation bestehende Dauerschuldverhältnisse mit nachrangig verbundenen Unternehmen im Falle ihrer Fortführung ebenfalls dokumentiert werden.378) Rechtsgeschäfte und Maßnahmen des Tochterunternehmens des abhängigen 224 Unternehmens sind nicht berichtspflichtig, soweit das abhängige Unternehmen nicht beteiligt ist. Allerdings kann dann ein berichtspflichtiger Vorgang vorliegen, wenn Repräsentanten der abhängigen Gesellschaft aktiv oder durch das Nichtausüben von Einflussmöglichkeiten das Rechtsgeschäft gefördert haben.379) Gemäß § 311 Abs. 3 AktG muss der Abhängigkeitsbericht mit einer Schlusser- 225 klärung des Vorstands enden, in welcher der Vorstand zu erklären hat, dass er hinsichtlich der mit dem herrschenden Unternehmen abgeschlossenen Rechtsgeschäfte eine angemessene Gegenleistung erhalten hat bzw. bei der Vornahme einer Maßnahme auf Veranlassung des herrschenden Unternehmens nicht benachteiligt worden ist.380) Ist ein Nachteilsausgleich durch das herrschende Unternehmen erfolgt, ist auch dies in der Schlusserklärung festzuhalten.381) Nach § 312 Abs. 3 Satz 3 AktG ist die Schlusserklärung des Vorstands in den 226 Lagebericht (§§ 264 Abs. 1, 289 HGB) aufzunehmen.382) Die Schlusserklärung ist für die präventive Funktion des Abhängigkeitsberichts von entscheidender Bedeutung. Zum einen soll die Stellung des Vorstandes gegenüber dem herrschenden Unternehmen gestärkt werden und zum anderen soll ihm die Pflicht zur eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft vergegenwärtigt werden.383)

___________ 376) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 9; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 129; Koch, § 312 Rz. 19. 377) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1378. 378) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1378. 379) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1379. 380) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 45; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 142. 381) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1385; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 142. 382) Koch, § 312 Rz. 37; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 151. 383) Koch, § 312 Rz. 35; Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 44.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

bb)

Erkundigungspflicht

227 Den Vorstand trifft zunächst eine Erkundigungspflicht, hinsichtlich des Bestehens eines faktischen Konzerns und der damit einhergehenden Verpflichtung zur Stellung eines Abhängigkeitsberichts.384) 228 Liegen Voraussetzungen vor, die das Vorliegen eines faktischen Abhängigkeitsverhältnisses nahelegen, obliegt es dem Vorstand des eventuell abhängigen Unternehmens dahingehend Klarheit zu schaffen. Er kann sich gegebenenfalls bei den Anteilseignern erkundigen, die insoweit einem Auskunftsrecht unterliegen. Der Vorstand darf dagegen nicht zuwarten, bis ihm das Vorliegen einer Mehrheitsbeteiligung nach § 20 AktG oder § 21 WpHG mitgeteilt wird.385) cc)

Informationsbeschaffungspflicht

229 Für den Vorstand des faktisch abhängigen Unternehmens ergibt sich daraus eine Informationsbeschaffungspflicht. 230 Die Informationsvorkehrungen im Unternehmen müssen so ausgerichtet sein, dass alle für den Abhängigkeitsbericht relevanten Informationen vollständig und zutreffend erfasst werden.386) Findet eine intensive Einbindung des abhängigen Unternehmens in den Konzern statt, kommt es in der Regel zu einer Vielzahl berichtspflichtiger Maßnahmen, Vorgänge und Rechtsgeschäfte. Insbesondere dann, wenn mehrere Unternehmen des Konzerns in der gleichen Industrie tätig sind. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, rein faktische, typischerweise nicht dokumentierte Vorgänge zu erfassen.387) 231 Die Aufstellung eines Abhängigkeitsberichts ist daher ohne die Installation eines formalisierten Kontroll- und Dokumentationsprozesses gar nicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich. 232 In der Praxis haben sich die Anweisung der betroffenen Mitarbeiter, die Einrichtung einer Clearingstelle sowie der Aufbau einer elektronischen Clearingstelle etabliert.388) dd)

Sorgfaltspflichten

233 Gemäß § 312 Abs. 2 AktG muss der Bericht den Grundsätzen einer gewissenhaften und getreuen Rechenschaft entsprechen. Den Vorstand treffen dahingehende Sorgfaltspflichten. Inhalt und Tragweite dieser Grundsätze ergeben sich ___________ 384) 385) 386) 387) 388)

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Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1374. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1374. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1375. Schmidt/Lutter/Vetter, § 312 Rz. 58. Schmidt/Lutter/Vetter, § 312 Rz. 61 ff.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

insbesondere aus dem Zweck der Berichtserstattung.389) Wie bereits erläutert soll durch die Berichtserstattung eine sachgerechte Überprüfung durch den Aufsichtsrat und den Abschlussprüfer, insbesondere im Hinblick auf die Durchsetzung etwaiger Ersatzansprüche, ermöglicht werden. Der Abhängigkeitsbericht muss daher den Geboten der Wahrheit, der Voll- 234 ständigkeit sowie der Klarheit und Übersichtlichkeit genügen.390) Zentrales Problem ist es hier, die Grundsätze in ein angemessenes Verhältnis 235 zueinander zu setzen. Es leuchtet ein, dass Vollständigkeit auf Kosten der Übersichtlichkeit gehen kann sowie dass eine zusammenfassende und damit übersichtliche Darstellung die Vollständigkeit beeinflussen kann.391) Aus dem Vollständigkeitsgebot folgt zunächst die strikte Beachtung von § 312 236 Abs. 1 AktG. Der Bericht muss aus sich heraus verständlich sein, was ggf. auch die Angabe weitergehender Informationen erforderlich macht.392) So werden im Einzelfall beispielsweise der Schriftwechsel mit dem herrschenden Unternehmen sowie Protokolle von Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen heranzuziehen sein.393) Ebenfalls aus dem Gebot der Vollständigkeit ergeben sich Dokumentations- 237 und Organisationspflichten des Vorstands.394) Welche Anforderungen konkret an die Dokumentationspflicht zu stellen sind, richtet sich nach dem jeweiligen Einzelfall. Denkbar ist beispielsweise eine Aufstellung nach Vertragspartner, Gegenstand des Rechtsgeschäfts, Art der Rechtsgrundlage oder eine chronologische Aufstellung dokumentationspflichtiger Maßnahmen. Maßgeblich ist, was für die jeweilige Unternehmensorganisation zweckmäßig ist.395) Die organisatorischen Vorkehrungen müssen so ausgestaltet sein, dass alle relevanten Sachverhalte lückenlos erfasst werden. Als Basis genügt hier insbesondere nicht die Buchhaltung des Unternehmens. Zum einen werden hier Maßnahmen, die keinen rechtsgeschäftlichen Charakter haben, i. d. R. nicht erfasst.396) Zum anderen bietet die Buchhaltung keinen geeigneten Beurteilungsmaßstab für die wirtschaftliche Beurteilung der ausgetauschten Leistungen.397) ___________ 389) MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 132; Fleischer/Fleischer, § 18 Rz. 115; BeckOGKAktG/Müller, § 312 Rz. 3; Koch, § 312 Rz. 31. 390) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 41 ff.; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 132 ff.; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1383, 1389; Schmidt/Lutter/Vetter, § 312 Rz. 51 ff. 391) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 41; Koch, § 312 Rz. 31. 392) Koch, § 312 Rz. 32; Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 42. 393) MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 135. 394) Emmerich/Habersack/Habersack, § 312 AktG Rz. 42; Koch, § 312 Rz. 32. 395) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1391. 396) Koch, § 312 Rz. 32. 397) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1391.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

ee)

Berichtsschuldner

238 Berichtsschuldner ist der Vorstand der Gesellschaft in seiner Gesamtheit.398) Daraus folgt, dass jedes Vorstandsmitglied mit seinem Wissen für eine zutreffende Berichterstattung zu sorgen hat. Der Bericht ist daher auch von allen Vorstandsmitgliedern zu unterzeichnen.399) ff)

Berichtszeitraum

239 Der Berichtszeitraum umfasst das abgelaufene Geschäftsjahr. Wird eine Abhängigkeit erst im Laufe des Geschäftsjahres begründet, beschränkt sich die Berichtspflicht auf den Zeitraum zwischen dem Eintritt der tatbestandlichen Voraussetzungen und dem Abschlussstichtag.400) 240 Kommt es dagegen während des Geschäftsjahres zum Abschluss eines Beherrschungsvertrages, entfällt die Berichtspflicht für das gesamte Jahr. Das ergibt sich daraus, dass sich auch die Verlustausgleichsfrist des herrschenden Unternehmens auf den Jahresfehlbetrag des gesamten Jahres bezieht.401) gg)

Information der Aktionäre der abhängigen Gesellschaft

241 Nach vorherrschender Meinung erstreckt sich der Informationsanspruch der Aktionäre der abhängigen Gesellschaft während der Hauptversammlung gemäß § 131 Abs. 1 Satz 2 AktG auch im faktischen Konzern auf die vertraglichen und geschäftlichen Beziehungen der Gesellschaft und den mit ihr konzernrechtlich verbundenen Unternehmen. Der Anspruch wird nicht durch die Berichtspflicht des Vorstands nach § 312 AktG verdrängt.402) 242 Der Auskunftsanspruch ist jedoch auf die Auskunft hinsichtlich solcher Angelegenheiten der Gesellschaft beschränkt, die zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist.403) Andererseits ist beachtlich, dass das Auskunftsrecht ein wesentlicher Bestandteil des Mitgliedschaftsrechts eines Aktionärs ist und dass gezielte Informationen unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung seiner Mitgliedschaft sind.404) Die Aktionäre werden mittelbar durch den Aufsichtsratsbericht nach § 171 Abs. 2 AktG, der nach § 314 Abs. 2 Satz 1 AktG in das Ergebnis des Abhängigkeitsberichts aufzu___________ 398) Koch, § 312 Rz. 2; MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 51. 399) MünchKommAktG/Altmeppen, § 312 Rz. 52; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1386; Koch, § 312 Rz. 2. 400) Koch, § 312 Rz. 6; Schmidt/Lutter/Vetter, § 312 Rz. 11. 401) Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1388; Koch, § 312 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Vetter, § 312 Rz. 14. 402) OLG Stuttgart, Urt. v. 11.8.2004 – 20 U 3/04, AG 2005, 94; Emmerich/Habersack/ Habersack, § 312 AktG Rz. 5; Koch, § 312 Rz. 39. 403) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 6.1.2003 – 20 W 449/93, AG 2003, 335 (336); Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1392; 404) Habersack/Verse, AG 2003, 300; Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1392.

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C. Besondere Pflichten im faktischen Konzern

nehmen ist, informiert.405) Allerdings kann sich gerade aus diesem Bericht ein Anlass zu Nachfragen ergeben, vor allem dann, wenn einzelne Aspekte im Abhängigkeitsbericht beanstandet wurden. Hier ist ein Überwiegen des Informationsinteresses der Aktionäre gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse des Unternehmens anzunehmen. Ein Auskunftsrecht ist dann zumindest hinsichtlich der beanstandeten Aspekte anzunehmen.406) Ein Auskunftsrecht steht den Aktionären insbesondere dann zu, wenn die im 243 Zusammenhang mit dem Abhängigkeitsbericht zu erlangenden Informationen für die Entscheidung über die Entlastung des Vorstands und des Aufsichtsrats erforderlich sind. Das ist jedoch lediglich bei groben Verstößen gegen die Berichtspflicht denkbar.407) Detaillierten Fragstellungen während der Hauptversammlung kann jedoch die 244 grundsätzliche Vertraulichkeit des Abhängigkeitsberichts entgegengehalten werden.408) III.

Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens

Hinsichtlich der Pflichten des Aufsichtsrats des herrschenden Unternehmens 245 im faktischen Konzern ergeben sich gegenüber den Aufsichtsratspflichten im Vertragskonzern grundsätzlich keine Abweichungen.409) Ein Unterschied ergibt sich nur daraus, dass sich im faktischen Konzern auf Grund der erheblich weitergehenden Leitungsbefugnisse im Vertragskonzern naturgemäß die inhaltlichen Grenzen für die Rechtmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der zu überwachenden Konzerngeschäftsführung verschieben.410) Eine weitere Abweichung ergibt sich zudem bei börsennotierten Gesellschaften, sofern die Gesellschaft mit der abhängigen Gesellschaft Geschäfte tätigt, die den gemäß ARUG II eingeführten Regelungen zu related party transactions unterfallen.411) In diesen Fällen ist die Zustimmung des Aufsichtsrats oder eines hierfür bestimmen Ausschusses erforderlich, da im faktischen Konzernverhältnis im Gegensatz zum Vertragskonzern die Ausnahmeregelung des § 111a Abs. 3 Nr. 3 AktG nicht greift. Ausgenomment vom Zustimmungserfordernis sind jedoch die Geschäfte nach § 111a Abs. 3 AktG, insbesondere Geschäfte im ordentlichen Geschäftsgang zu marktüblichen Bedingungen. Zur

___________ 405) 406) 407) 408) 409) 410) 411)

MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 121. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1392. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1392. Ihrig/Schäfer, § 33 Rz. 1392. Siehe ausführlich Æ Rz. 96 ff. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 174. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 36.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Bewertung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, muss der Aufsichtsrat ein internes Überprüfungsverfahren etablieren.412) IV.

Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens

246 Die Pflichten des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens entsprechen grundsätzlich denjenigen des Aufsichtsrats des abhängigen Unternehmens im Vertragskonzern. Die Rechtstellung und Überwachungspflichten des Aufsichtsrats werden auch im faktischen Konzern nicht berührt. Der Aufsichtsrat hat dabei insbesondere darauf zu achten, dass durch das herrschende Unternehmen angewiesene nachteilige Maßnahmen nur unter den Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs ausgeführt werden.413) Eine § 308 Abs. 3 AktG entsprechende Umgehungsmöglichkeit des Zustimmungsvorbehalts des Aufsichtsrats besteht im faktischen Konzern nicht. Ist die abhängige Gesellschaft börsennotiert, bedürfen bestimmte Geschäfte mit der herrschenden Gesellschaft, die von den Regelungen zu related party transactions des ARUG II erfasst sind, kraft Gesetzes der Zustimmung des Aufsichtsrats oder eines hierfür bestimmen Ausschusses gemäß § 111b AktG. Hierfür kann auf die Ausführungen zum Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens (Æ Rz. 241) verwiesen werden. Umstritten ist, ob in diesen Fällen des Zustimmungsvorbehalts gemäß § 111b AktG die Möglichkeit des gestreckten Nachteilsausgleichs nach § 311 Abs. 2 AktG greift. Teilweise wird vertreten, dass es dem Aufsichtsrat bei einem potentiellen späteren Nachteilsausgleich mangels Kenntnis der genauen Konditionen nicht möglich sei, ordnungsgemäß über die Zustimmung zu dem Geschäft zu entscheiden.414) Handelt es sich bei dem herrschenden Unternehmen um eine nahestehende Person, soll diesem daher die Möglichkeit des gestreckten Nachteilsausgleichs verwehrt sein.415) Gemäß vorzugswürdiger Ansicht ist auch bei Geschäften mit nahestehenden Personen der gestreckte Nachteilsausgleich möglich, sofern der gestreckte Nachteilsausgleich zumindest dem Grunde nach bei Durchführung des Geschäfts vereinbart ist und dies bei der Bewertung durch den Aufsichtsrat Berücksichtigung findet.416) Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der mit Ergänzung des § 311 Abs. 3 AktG klargestellt hat, dass die bisherigen Grundsätze des faktischen Konzerns und zum Nachteilsausgleich auch im Rahmen der related party transaction

___________ Backhaus, NZG 2020, 695 (700). Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 81. Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 107 Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 107; Grigoleit, ZGR 2019, 412 (456); Tarde, NZG2019, 488 (495). 416) Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1249; Seidel, AG 2018, 423 (427); vgl. Vetter, ZHR 179 (2015), 273 (313). 412) 413) 414) 415)

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D. Die Haftung im Konzern

Anwendung finden sollen.417) Im Übrigen kann auf die Ausführungen zum Vertragskonzern (Æ Rz. 119 ff.) verwiesen werden.418) D.

Die Haftung im Konzern

I.

Überblick

Winter

Der Vorstand leitet die Gesellschaft unter eigener Verantwortung (§ 76 AktG). 247 Die Leitungsmacht wird bei verbundenen Unternehmen für den Vorstand der herrschenden Gesellschaft419) erweitert, für den Vorstand der abhängigen Gesellschaft420) – im Vertrags-421) oder Eingliederungskonzern – (teilweise) aufgehoben oder – bei nur faktischer Konzernierung – beeinflusst. Diese Verschiebung führt zu einer Anpassung der Haftung. Leitungsmacht und Verantwortlichkeit sind in Einklang zu bringen.422) Dabei rückt die besondere „Gefahr“423) einer – nicht per se negativen424) – 248 Konzernierung in den Blick: Gläubiger und (Minderheits-)Aktionäre können nicht darauf vertrauen, dass die Leiter „ihres“ Unternehmens Entscheidungen am Wohl der Gesellschaft ausrichten. Obwohl juristisch selbständig, dient sie im Unternehmensverbund einem einheitlichen wirtschaftlich übergeordneten Interesse,425) das sich möglicherweise allein für die herrschende oder eine andere Konzerngesellschaft (oder gar nicht) auszahlt.426) Diesem Interessenwiderstreit427) begegnet das Recht auf vielfältige Weise, unter anderem durch Schaffung von Transparenz428) (§§ 20 – 22 AktG, 312 ff. AktG), durch besondere Leistungen oder Sicherheiten zugunsten des abhängigen Unternehmens, seiner ___________ 417) BT Drucks.19/9739 (ARUG II), S. 115; Ihrig/Schäfer, § 31 Rz. 1249. 418) Siehe ausführlich Æ Rz. 119 ff. 419) Die Verwendung der Begriffe „herrschendes“ und „abhängiges“ Unternehmen folgt der gebräuchlichen, wenngleich ungenauen Diktion. Vertiefend zum Begriff der herrschenden AG MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 46 f. Zum Vorstand einer abhängigen Gesellschaft vgl. vertiefend MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 42 f. 420) Vertiefend zur abhängigen Gesellschaft vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 42 f. 421) Vgl. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 161 f. 422) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 69 Rz. 1. 423) Zum Begriff der „Konzerngefahr“ vgl. BeckOGK-AktG/Schall, Vorb. zu § 15 ff. Rz. 32. Die Konzerngefahr ist im Ergebnis nichts anderes als der Zielkonflikt zwischen rechtlichen Rahmenbedingungen und wirtschaftlicher Realität. 424) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 8. 425) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 3. 426) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 356 u. 360. 427) Aus dogmatischer Sicht überzeugend zu Interessenkonflikten im Konzern Altmeppen, ZHR 171 (2007), 320 ff. 428) Neben Transparenz ist auch erklärtes Ziel, Gewissheit über die Beteiligungsquoten zu schaffen, um somit Rechtssicherheit erzeugen zu können, vgl. MünchKommAktG/Bayer, § 20 Rz. 1 und ferner die Grundlagenentscheidung BGH, Urt. v. 22.4.1991 – II ZR 231/90, BGHZ 114, 203, 215 = NJW 1991, 2765 ff. = ZIP 1991, 719 ff.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Gläubiger und der (Minderheits-)Aktionäre (§§ 302 ff. AktG, § 311 AktG) sowie durch Haftungstatbestände, die bei pflichtwidrigem Handeln Ansprüche gegen das herrschende Unternehmen (§ 317 Abs. 1 AktG), dessen Vorstand (§§ 309, 317 Abs. 3 AktG) und die Organe der abhängigen Gesellschaft (§§ 310, 318 AktG) begründen.429) Keine genuin konzernrechtliche, aber eine eine schädliche Einflussnahme sanktionierende und ausgleichende Vorschrift findet sich überdies in § 117 AktG430) (Æ Rz. 69). Der herrschenden Gesellschaft bleiben ihre Organe daneben auch im Konzern gemäß den allgemeinen Haftungstatbeständen, insbesondere nach §§ 93, 116 AktG, verpflichtet. 249 Haftungsfragen stellen sich nicht nur bei Bestehen des Konzernrechtsverhältnisses, sondern auch bei der Begründung und der Aufgabe herrschenden Einflusses. 250 Dieser Einfluss wird im faktischen Konzern431) durch eine qualifizierte Beteiligung vermittelt und setzt mithin einen Beteiligungserwerb voraus. Der Erwerb ist eine Maßnahme der Geschäftsführung, obliegt also dem Vorstand. Dieser ist aber nicht frei. Er hat zum einen den rechtlichen Rahmen, insbesondere das Kartellrecht und das Kapitalmarktrecht (u. a. WpÜG) zu beachten, zum anderen muss der Erwerb durch die Satzung gedeckt sein, die eine Zustimmung des Aufsichtsrats vorsehen kann.432) Eines Hauptversammlungsbeschlusses bedarf es regelmäßig nicht.433) Ein unzulässiger Beteiligungserwerb ist wirksam, kann aber bei Hinzutreten eines Schadens Ansprüche nach §§ 93, 116 AktG begründen.434) 251 Ein vertraglicher Konzern435) setzt den Abschluss eines Beherrschungsvertrags436) voraus, der von den Vorständen der vertragsschließenden Unternehmen – bei entsprechender Satzungsbestimmung mit Billigung des Aufsichtsrats – geschlossen wird. Der Vertrag bedarf der Zustimmung der Hauptversammlung sowohl der herrschenden als auch der abhängigen Gesellschaft.437) Billigen die Aktionäre den Vertragsschluss, ist für eine Haftung der Leitungsorgane regelmäßig kein Raum (§ 93 Abs. 4 Satz 1 AktG). ___________ 429) Vgl. auch die Monographie von Voigt, Haftung aus Einfluss auf die Aktiengesellschaft (§§ 117, 309, 317 AktG), 2004. 430) Vertiefend zur Struktur und zum Verhältnis der §§ 117 AktG und § 317 f. AktG Brüggemeier, AG 1988, 93 (93 ff.). 431) Dazu, dass der faktische Konzern ein Phänomen ist, ohne dass er ausdrücklich im Gesetz erwähnt wird, vgl. die kritische Betrachtung bei MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 8 und Rz. 9 ff. mit mannigfaltigen Hinweisen zum umfangreichen Schrifttum. 432) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 2 ff. 433) Streitig, vgl. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 9 ff. 434) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 15. 435) Zum Begriff vgl. Hölters/Weber/Krebs, § 18 Rz. 5; so auch Koch, § 18 Rz. 2 f. 436) Henssler/Strohn/Paschos, § 291 AktG Rz. 8 ff. 437) Zum Ganzen MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 20 ff.

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D. Die Haftung im Konzern

Haftungsbegründend kann der – seitens der Hauptversammlung nicht zustim- 252 mungspflichtige438) – Abschluss eines Entherrschungsvertrags439) sein, insbesondere wenn eine nach Beendigung des Unternehmensvertrags faktische Beteiligung und Beherrschung von der Satzung nicht gedeckt sind.440) Für die Organhaftung innerhalb eines Konzerns ist die Unterscheidung zwischen 253 faktischer und unternehmensvertraglicher Beherrschung von maßgeblicher Bedeutung. Im faktischen Konzern bleibt es bei der eigenverantwortlichen Leitung der ab- 254 hängigen Gesellschaft durch ihren Vorstand. Er hat dabei das Konzerninteresse in seine Entscheidungen einzubeziehen. Im Mittelpunkt einer möglichen Haftung steht der Nachteil, zu dessen Hinnahme sich der Vorstand veranlasst sieht und den die veranlassende herrschende Gesellschaft nach § 311 AktG auszugleichen hat. Die Leistung dieses Ausgleichs haben der Vorstand der Obergesellschaft sowie die Organe der Untergesellschaft sicherzustellen, wollen sie sich nicht haftbar machen (§§ 317 Abs. 3, 318 AktG). Bei vertraglich begründeter Beherrschung steht die abhängige Gesellschaft 255 ganz oder teilweise unter einheitlicher Leitung durch den Vorstand des herrschenden Unternehmens. Im Zentrum steht die Weisung, die der Vorstand des abhängigen Unternehmens nach Maßgabe des § 308 AktG zu befolgen hat. Dem entspricht die haftungsbewehrte Ausweitung der Pflichten und der Sorgfalt des Vorstands des herrschenden Unternehmens zugunsten der abhängigen Gesellschaft bei der Erteilung von Weisungen (§ 309 AktG) ebenso wie die – sich schon aus §§ 93, 116 AktG441) ergebende – Prüfpflicht der Organe der abhängigen Gesellschaft (§ 310 AktG). II.

Haftung im Vertragskonzern

Der Vorstand der herrschenden Gesellschaft hat die kraft Unternehmensver- 256 trags geschaffene Leitungsmacht gegenüber der abhängigen Gesellschaft schon aufgrund der Pflichtenstellung in „seiner“ (i. e. der herrschenden) Gesellschaft ordnungsgemäß auszuüben, da er sich sonst ihr gegenüber nach § 93 AktG schadensersatzpflichtig macht.442) Die Haftungsregelung des § 309 AktG443) ___________ 438) Streitig, vgl. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 69 Rz. 63. 439) Einen guten Überblick zum Entherrschungsvertrag gibt MünchHdb GesR IV/Krieger, § 69 Rz. 62; Jäger, DStR 1995, 1113 (1114 f.) stellt sich die Frage, ob es überhaupt einen Entherrschungsvertrag geben kann. Aus monographischer Sicht Pesch, Der aktienrechtliche Entherrschungsvertrag, Dissertation Bonn 2012, passim. 440) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 69 Rz. 63. 441) Koch, § 309 Rz. 1. 442) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 362 f.; Heidel/Peres, § 309 Rz. 1. 443) Dazu, dass § 309 AktG vor allem auch präventiv gegen pflichtwidrige Weisungen wirken kann Henssler/Strohn/Bödeker, § 309 AktG Rz. 1.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

erweitert diese Haftung zugunsten der abhängigen Gesellschaft, wenn der Vorstand der herrschenden Gesellschaft pflichtwidrig eine Weisung erteilt, die bei der abhängigen Gesellschaft zu einem Schaden führt. Diesen Anspruch können nach den Voraussetzungen des § 309 Abs. 4 AktG auch die Aktionäre und Gläubiger der abhängigen Gesellschaft durchsetzen. 257 Neben die Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft tritt nach § 310 AktG gesamtschuldnerisch die Haftung der Organe der abhängigen Gesellschaft, wenn sie sich während der vertraglichen Herrschaft pflichtwidrig verhalten. Da sich diese Haftung bereits aus §§ 93, 116 AktG ergibt, erschöpft sich die Bedeutung der Vorschrift in der Anordnung eines Gesamtschuldverhältnisses sowie darin, dass sie in Absatz 4 die Regelung des § 309 Abs. 3 – 5 AktG für anwendbar erklärt.444) 1.

Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft

258 Der Vorstand der herrschenden Gesellschaft schuldet die ordnungsgemäße Ausübung der nach § 308 AktG erweiterten Leitungsmacht sowohl gegenüber „seiner“ als auch gegenüber der abhängigen Gesellschaft. a)

Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft

259 Die Haftung des Vorstands gegenüber seiner Gesellschaft folgt der allgemeinen Regelung des § 93 AktG. Das besondere Haftungsrisiko ergibt sich im Konzern daraus, dass er aufgrund seiner Konzernleitungsmacht alle Vorschriften einzuhalten hat, die das Gesetz zum Schutz des abhängigen Unternehmens vorsieht. Hinzu tritt seine gegenüber dem herrschenden Unternehmen bestehende Pflicht zur Konzernleitung; der Vorstand hat die Möglichkeiten, die ihm der Beherrschungsvertrag bietet, wahrzunehmen.445) 260 Einen Schaden erleidet das herrschende Unternehmen regelmäßig bereits dadurch, dass es der abhängigen Gesellschaft aufgrund des Fehlverhaltens des Vorstands zum Schadensersatz verpflichtet ist.446) Außerdem ist das herrschende Unternehmen zum Verlustausgleich nach § 302 AktG verpflichtet. b)

Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft

261 § 309 AktG gewährt der abhängigen Gesellschaft einen eigenen Anspruch gegen den Vorstand der herrschenden Gesellschaft. Die Regelung ist zwingend447) ___________ 444) Koch, § 310 Rz. 1; so auch MünchKommAktG/Altmeppen, § 310 Rz. 1 f. 445) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 160; Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 363; vgl. ferner vertiefend Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, passim. 446) Die Haftung des herrschenden Unternehmens ist allgemein anerkannt, streitig ist nur seine dogmatische Herleitung, vgl. dazu Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 20 f. m. w. N. auch zu den verschiedenen dogmatischen Ansätzen. 447) Vgl. Koch, § 309 Rz. 1.

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D. Die Haftung im Konzern

und kann weder durch den Beherrschungsvertrag noch im Anstellungsvertrag der Organmitglieder des herrschenden Unternehmens modifiziert werden.448) Eine Haftung setzt neben dem Bestehen eines Beherrschungsvertrags eine schadensverursachende schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung durch den Vorstand der herrschenden Gesellschaft bei der Ausübung von Leitungsmacht voraus. aa)

Ausübung von Leitungsmacht

Haftungsvoraussetzung ist, dass der Vorstand der herrschenden Gesellschaft 262 seine Leitungsmacht ausübt, also Weisungen449) erteilt. Bei einem Unterbleiben von – aus ihrer Sicht gebotenen – Weisungen steht der abhängigen Gesellschaft grundsätzlich kein Schadensersatzanspruch zu. Die Untergesellschaft hat keinen Anspruch auf die Erteilung von Weisungen,450) sodass der Vorstand der Mutter ihr gegenüber nicht zu einer bestimmten Weisungsdichte verpflichtet ist.451) Ausnahmen sind nur geboten, wenn der Vorstand des herrschenden Unternehmens durch vorangegangene Weisung eine Lage geschaffen hat, die weitere Weisungen erfordert.452) Adressat der Weisung ist der Vorstand der abhängigen Gesellschaft.453) Der 263 Beherrschungsvertrag begründet grundsätzlich keine Weisungsbefugnis gegenüber dem Aufsichtsrat und der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft; allerdings ersetzt die wiederholte Weisung nach Maßgabe des § 308 Abs. 3 Satz 2 AktG eine statutarisch ggf. erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft.454) Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft kann eine andere Person als Weisungsempfänger bestimmen.455) Ebenso ist dem Vorstand der herrschenden Gesellschaft eine Delegation des Weisungsrechts etwa auf Angestellte der herrschenden Gesellschaft, andere Konzerngesellschaften oder sonstige Beauftragte möglich.456) Allerdings bleibt der Vorstand für die ordnungsgemäße Ausübung des Weisungsrechts durch den Dritten verantwortlich.457) Umstritten ist, ob der Vorstand in diesem Fall selbst nach § 309 AktG haftet oder ob ihn nur eine Haftung für Auswahlver___________ 448) Koch, § 309 Rz. 1 und § 93 Rz. 3 zur Geltung des § 93 AktG auch im Konzern. 449) Dazu, dass der Begriff der Weisung weit auszulegen ist, vgl. Koch, § 309 Rz. 9. 450) Vgl. Geißler, GmbHR 2015, 734 (740); Koch, § 309 Rz. 10; a. A. Grigoleit/Servatius, § 309 Rz. 6. 451) Oppenländer/Trölitzsch/Drygala, § 43 Rz. 49. 452) Koch, § 309 Rz. 10; zu weiteren Ausnahmen auch Emmerich, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, S. 651 ff. und ferner vertiefend MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 59. 453) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 158. 454) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 151. 455) Schmidt/Lutter/Langenbucher, § 308 Rz. 18. 456) Koch, § 309 Rz. 4; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 157. 457) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 385.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

schulden trifft (§ 664 Abs. 1 Satz 2 BGB).458) Letztere Ansicht verdient den Vorzug. Da im Zeitpunkt der Schädigung keine Sonderverbindung zwischen dem Vorstand und der abhängigen Gesellschaft besteht, in die der Dritte eintreten könnte, fehlt es an dem von § 278 BGB vorausgesetzten Schuldverhältnis. Durch eine zulässige Delegation des Weisungsrechts reduziert sich der Pflichtenkreis der Geschäftsleitung im Ergebnis auf eine Auswahl- und Überwachungsverantwortung (§ 664 Abs. 1 Satz 2 BGB).459) 264 Inhalt einer Weisung können sämtliche Maßnahmen der Geschäftsführung in der abhängigen Gesellschaft sein; es gibt keine gesetzliche Beschränkung auf wesentliche Leitungsmaßnahmen.460) Das herrschende Unternehmen kann namentlich die Unternehmensplanung, die unternehmerische Tätigkeit und Organisation der abhängigen Gesellschaft, die Durchführung der Geschäfte sowie die Besetzung der Führungspositionen festlegen und im Einzelnen bestimmen.461) 265 Rechtswidrig und damit nach § 134 BGB nichtig sind Weisungen, wenn ihre Befolgung das Gesetz oder die Satzung der abhängigen Gesellschaft verletzen.462) Verboten sind insbesondere Weisungen, die der Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO, den steuerrechtlichen, bilanzrechtlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen oder den gesellschaftsrechtlichen Kapitalerhaltungsgrundsätzen zuwiderlaufen.463) § 299 AktG schließt Weisungen aus, den Unternehmensvertrag zu ändern, aufrechtzuerhalten oder zu beendigen.464) Eine Weisung darf nicht gegen Satzungsbestimmungen der Mutter- oder Tochtergesellschaft verstoßen. Namentlich hat sie sich innerhalb der satzungsmäßigen Gesellschaftszwecke zu halten, da widrigenfalls die Zuständigkeit der Hauptversammlung verletzt würde.465) 266 Der Umfang des Weisungsrechts kann über den gesetzlichen Rahmen hinaus nicht vertraglich ausgedehnt, aber beschränkt oder von bestimmten (Form-) Erfordernissen abhängig gemacht werden.466) Über die im Beherrschungsvertrag gezogenen – im Wege der objektiven Auslegung zu ermittelnden467)– Grenzen darf sich die Weisung nicht hinwegsetzen. 267 Bestimmt der Beherrschungsvertrag nichts anderes, ist das herrschende Unternehmen berechtigt, auch nachteilige Weisungen zu erteilen, wenn sie den Be___________ 458) 459) 460) 461) 462) 463) 464) 465) 466) 467)

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Vgl. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 24 m. w. N. Vgl. Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1328. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 151. BeckOGK-Akt/Veil/Walla, § 308 Rz. 21. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 152. Koch, § 308 Rz. 14. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 152. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 56a. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 155. Grigoleit/Grigoleit, § 308 Rz. 14.

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D. Die Haftung im Konzern

langen des herrschenden Unternehmens oder der mit ihm und der Gesellschaft konzernverbundenen Unternehmen dienen, vgl. § 308 Abs. 1 Satz 2 AktG. Die Weisung dient den Belangen des herrschenden Unternehmens, wenn ihr Effekt unmittelbar oder mittelbar seiner Vermögens- oder Ertragslage zugutekommt. Der mit den Sicherungen der §§ 300 ff., 304 ff. AktG „erkaufte“ Beherrschungsvertrag erlaubt, das darauf gerichtete Interesse über dasjenige der abhängigen Gesellschaft zu stellen.468) Gleiches gilt bei einem Vorteil für ein – sei es auch nur faktisch – konzernverbundenes Unternehmen.469) Umstritten ist, ob die Weisung die Existenz der abhängigen Gesellschaft ge- 268 fährden darf, sprich ihre Lebensfähigkeit während der Laufzeit des Beherrschungsvertrags oder ihre Überlebensfähigkeit nach dessen Beendigung bedrohen darf.470) Die h. M. lehnt einen derart weitreichenden Eingriff als unverhältnismäßig ab.471) Bis zur Grenze der Existenzgefährdung sind Eingriffe in die Vermögenssubstanz der Untergesellschaft gedeckt. Unzulässig ist die Anweisung an die Untergesellschaft zur Abführung des Gewinns, wenn nur ein Beherrschungs-, aber kein Gewinnabführungsvertrag besteht.472) Die Haftung der Vorstandsmitglieder des herrschenden Unternehmens setzt 269 eine pflichtwidrige Weisung voraus. Der Weisungsbegriff ist weit auszulegen.473) Eine förmliche oder explizit als solche bezeichnete Weisung ist nicht erforderlich, es genügen auch Anregungen, Empfehlungen oder sonstige Willensäußerungen, deren Befolgung durch den Vorstand der abhängigen Gesellschaft erwartet wird.474) Ebenso reicht es aus, dass das herrschende Unternehmen durch Abstimmung in der Hauptversammlung der abhängigen Gesellschaft handelt, nachdem es den Vorstand dieser Gesellschaft zu einer entsprechenden Vorlage gemäß § 119 Abs. 2 AktG veranlasst hat.475) Bei einem Vorstandsdoppelmandat, also der Organstellung derselben Person 270 im Vorstand sowohl der herrschenden als auch der abhängigen Gesellschaft, ist eine generelle Weisung anzunehmen; dies gilt jedoch nicht bei Tätigwerden des Geschäftsleiters des herrschenden Unternehmens als Aufsichtsratsmitglied oder Vertreter des herrschenden Unternehmens in der Hauptversammlung der ab___________ 468) Koch, § 308 Rz. 17. 469) Koch, § 308 Rz. 18; so wird es auch als unzulässig angesehen, wenn die nachteiligen Weisungen nur den Interessen Dritter dienen, vgl. MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 153. 470) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 153; vertiefend Gessler, ZHR 140 (1976), 433 (433 ff.) und ferner Immenga, ZHR 140 (1976), 301 (301 ff.). 471) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 386; Koch, § 308 Rz. 19 m. w. N. 472) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 154. 473) Koch, § 309 Rz. 9. 474) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 71 Rz. 165. 475) MünchHdb GesR IV/Krieger § 71 Rz. 165.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

hängigen Gesellschaft.476) Vorstandsdoppelmandate sind trotz der damit verbundenen Einflussmöglichkeiten des herrschenden Unternehmens und des mit dem gleichzeitigen Einsatz bei zwei Gesellschaften verbundenen Loyalitätskonflikts zulässig. Sie sind aber kein „Freibrief“ zugunsten der Konzernspitze. Der Doppelmandatsträger hat vielmehr bei seinen Entscheidungen stets die Interessen des jeweiligen Pflichtenkreises wahrzunehmen.477) Er darf bei seiner Tätigkeit in der abhängigen Gesellschaft nicht generell den Interessen des herrschenden Unternehmens den Vorrang vor denen der abhängigen Gesellschaft geben. Es verbleibt vielmehr bei der Geltung der §§ 308 – 310 AktG.478) bb)

Schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung

271 Die Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft setzt nach § 309 Abs. 2 AktG einen mindestens fahrlässigen Sorgfaltspflichtverstoß voraus. Streitig ist, ob ein solcher Verstoß eine objektiv rechtswidrige Weisung im Sinne einer schuldhaften Missachtung der Schranken des Weisungsrechts voraussetzt oder auch bei einer an sich von § 308 AktG gedeckten, aber die allgemeinen Sorgfaltspflichten verletzenden Weisung eingreift.479) Nach dem zuletzt genannten, inzwischen wohl herrschenden Verständnis löst auch eine rechtmäßige Weisung, die zu einem Schaden der abhängigen Gesellschaft führt, die Haftung aus, wenn die von § 309 geforderte Sorgfalt nicht angewendet wurde.480) Die praktische Bedeutung des Meinungsstreits ist gering,481) denn für die Annahme einer Verletzung allgemeiner Sorgfaltspflichten beim Ausspruch von Weisungen ist Zurückhaltung geboten.482) Es gelten die gleichen Maßstäbe wie bei der Geschäftsführung eines unverbundenen Unternehmens einschließlich der Business Judgement Rule.483) Der Vorstand hat also einen weiten Ermessensspielraum. 272 Auch die Beweislastregel in § 309 Abs. 2 Satz 2 AktG entspricht allgemeinen Geschäftsführungsgrundsätzen.484) Danach muss die abhängige Gesellschaft Tatsachen behaupten und beweisen, aus denen sich die Weisung als möglicherweise pflichtwidrige Handlung, der Schaden und die adäquate Kausalität ergeben. Dagegen ist es Sache des Vorstands, Tatsachen zu behaupten und unter Beweis ___________ 476) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 660. 477) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, ZIP 2009, 1162. 478) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 308 AktG Rz. 29; a. A. MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 66. 479) Koch, § 309 Rz. 13. 480) Vgl. MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 68. 481) MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 72. 482) Siehe Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 42, so ausdrücklich noch Emmerich/ Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 33 in der 8. Aufl. 2016. 483) BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 23; Koch, § 309 Rz. 15. 484) MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 74.

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D. Die Haftung im Konzern

zu stellen, aus denen sich ergibt, dass er nicht pflichtwidrig oder jedenfalls nicht schuldhaft gehandelt hat.485) cc)

Kausaler Schaden

Ausgleichspflichtig ist der Schaden i. S. d. §§ 249 ff. BGB, den die abhängige 273 Gesellschaft aufgrund der rechts- und pflichtwidrigen Weisung erlitten hat. Dabei bleiben etwaige Vorteile für andere Unternehmen des Konzerns außer Betracht.486) Nach zutreffender herrschender Auffassung entfällt ein Schaden des abhängigen Unternehmens auch nicht deshalb, weil im Ergebnis das herrschende Unternehmen bei Bestehen eines Gewinnabführungsvertrags belastet wird (geringere Gewinnabführung oder höherer Verlustausgleich).487) Die durch den Unternehmensvertrag bedingten positiven Vermögensentwicklungen bewirken keine Entlastung des Schädigers.488) Die persönliche Verantwortlichkeit nach § 309 AktG steht ihrem Normzweck nach einer Entlastung des Schädigers durch Minderung der Gewinnabführung oder Erhöhung der Verlustübernahmepflicht entgegen.489) Auch wenn der Schaden erst nach Beendigung des Beherrschungsvertrages eintritt, ist er nach § 309 AktG zu ersetzen, wenn und soweit er auf eine pflichtwidrige Weisung zurückzuführen ist.490) dd)

Verzicht und Vergleich

Nur unter Einhaltung der Voraussetzungen des § 309 Abs. 3 AktG darf die ab- 274 hängige Gesellschaft auf die Ersatzansprüche aus Absatz 2 verzichten oder sich über sie vergleichen. Die Vorschrift verlangt einen Sonderbeschluss der außenstehenden Aktionäre, vgl. § 309 Abs. 3 Satz 1 AktG. Eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des bei der Beschlussfassung erforderlichen Grundkapitals erreichen, kann den Verzicht bzw. Vergleich durch Widerspruch zur Niederschrift verhindern, vgl. § 309 Abs. 3 Satz 1 a. E. AktG. Einem Vergleich oder Verzicht darf erst nach Ablauf von drei Jahren ab Entstehung des Anspruchs zugestimmt werden. ee)

Geltendmachung

Der Schadensersatzanspruch nach § 309 Abs. 2 AktG steht der abhängigen Ge- 275 sellschaft zu. Er ist von deren Vorstand geltend zu machen. Der Vorstand ver___________ Koch, § 309 Rz. 16; differenzierter Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 42 f. BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 25. Koch, § 309 Rz. 17 m. w. N. Soweit ersichtlich wurde diese Ansicht von Mertens, AcP 168 (1968), 225 (231 f.) begründet, der sich jedoch für eine Ausnahme für das herrschende Unternehmen mit Gewinnführungsvertrag ausspricht. 489) Koch, § 309 Rz. 18. 490) BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 26.

485) 486) 487) 488)

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

fügt hierbei über kein Ermessen und ist seinerseits schadensersatzpflichtig, wenn er die Geltendmachung schuldhaft unterlässt.491) Eine Weisung des herrschenden Unternehmens, die darauf gerichtet ist, den Vorstand der Untergesellschaft von der Geltendmachung des Anspruchs abzuhalten, ist rechtswidrig und nicht zu befolgen.492) Dennoch besteht die Gefahr, dass der Vorstand seiner Verpflichtung nicht nachkommt. Daher räumt § 309 Abs. 4 AktG einzelnen Aktionären und Gläubigern die Möglichkeit ein, die Ersatzansprüche im Wege einer gesetzlichen Prozessstandschaft gerichtlich zu verfolgen.493) Der Anspruch ist auf Leistung an die Gesellschaft gerichtet. Zusätzlich unterfällt auch der Anspruch aus § 309 Abs. 2 AktG dem § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG, sodass die Hauptversammlung mit einfacher Mehrheit die Geltendmachung des Anspruchs erzwingen und zu diesem Zweck nach § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG einen besonderen Vertreter bestimmen kann.494) Auch Gläubiger der abhängigen Gesellschaft sind berechtigt, den Schadensersatzanspruch der Gesellschaft geltend zu machen, sofern sie von ihr keine Befriedigung erlangen können (§ 309 Abs. 4 Satz 3 AktG). Im Gegensatz zu den Aktionären können sie vom Vorstand des herrschenden Unternehmens Zahlung an sich selbst verlangen.495) Ebenfalls im Unterschied zur Rechtslage bei Geltendmachung durch einen Aktionär lässt ein Verzicht oder ein von der Gesellschaft geschlossener Vergleich den Ersatzanspruch der Gläubiger gemäß § 309 Abs. 4 Satz 4 AktG unberührt. Zudem ist die Haftung, anders als bei § 93 Abs. 5 AktG, nicht auf Fälle grober Sorgfaltspflichtverletzungen beschränkt.496) 276 Bei Insolvenz der abhängigen Gesellschaft endet das Klagerecht der Aktionäre und Gläubiger. An dessen Stelle tritt das Klagerecht des Insolvenzverwalters (§ 309 Abs. 4 Satz 5 AktG). ff)

Verjährung

277 Nach § 309 Abs. 5 AktG verjähren die Ansprüche in fünf Jahren. Konkurrierende Ansprüche aus Vertrag und Delikt verjähren selbstständig nach den für ___________ 491) Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 309 Rz. 46. 492) Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 309 Rz. 46. 493) KG, Beschl. v. 25.8.2011 – 25 W 63/11, NZG 2011, 1429 (1431 f.) = ZIP 2012, 1089; Koch, § 309 Rz. 21a; BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 32 f. 494) BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182, Rz. 32-41. Dass die Ansprüche nach §§ 310, 318 AktG der abhängigen Gesellschaft gegenüber „ihren“ Verwaltungsmitgliedern § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG unterfallen, war stets nahezu einhellige Meinung, vgl. ebd., Rz. 38 m. w. N. 495) BeckOGKAktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 34; MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 134. 496) Vgl. Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 309 Rz. 51; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 309 AktG Rz. 2, 69, der jedoch die praktische Relevanz dieser Klagemöglichkeit angesichts des § 303 AktG ohnehin für gering erachtet.

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D. Die Haftung im Konzern

sie einschlägigen Vorschriften. Beginn, Hemmung und Unterbrechung der Verjährung richten sich nach den allgemeinen Vorschriften des BGB.497) 2.

Haftung des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft

Die Mitglieder des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft sind nicht ge- 278 setzliche Vertreter i. S. d. § 309 Abs. 1 AktG. Sie haften nach dieser Vorschrift auch dann nicht, wenn der Aufsichtsrat einer erneuten Weisung gemäß § 308 Abs. 2 Satz 2 AktG zugestimmt hat.498) 3.

Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft

Ebenso wie bei der Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft ist 279 hinsichtlich der Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft zwischen Ansprüchen der eigenen – in diesem Fall der abhängigen – und der vertraglich verbundenen – hier der herrschenden – Gesellschaft zu unterscheiden. a)

Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft

§ 310 AktG normiert die Sorgfaltspflichten und die Verantwortlichkeit der 280 Verwaltungsmitglieder der Untergesellschaft im Vertragskonzern. Ihr Zweck ist ebenso wie in § 309 AktG Schadensausgleich und -prävention.499) Die Regelung ist zwingend. Greift § 310 AktG ein, verdrängt er die allgemeinen Vorschriften der §§ 93, 116 AktG, die jedoch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 310 AktG, insbesondere bei Fehlen einer Weisung, anwendbar bleiben.500) Die Haftung nach § 310 AktG setzt neben dem Bestehen eines Beherrschungsvertrags eine schadensverursachende schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung durch den Vorstand der abhängigen Gesellschaft bei der Entgegennahme von Weisungen voraus. aa)

Entgegennahme und Ausführung von Weisungen

Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft ist Adressat der Weisung. Eine zu- 281 lässige Weisung hat er zu befolgen, eine unzulässige darf er nicht ausführen. Unzulässig und damit unverbindlich sind namentlich Weisungen, die gegen den Beherrschungsvertrag, gegen die Satzung oder gegen das Gesetz verstoßen oder durch die die Vorschrift des § 309 Abs. 1 AktG verletzt wird.501) Grundsätzlich darf der Vorstand der abhängigen Gesellschaft auch keiner Weisung folgen, eigene ___________ 497) 498) 499) 500) 501)

BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 309 Rz. 36; Koch, § 309 Rz. 25. Koch, § 309 Rz. 4; Hölters/Weber/Leuering/Goertz, § 309 Rz. 11. Koch, § 310 Rz. 1. Koch, § 310 Rz. 1; MünchKommAktG/Altmeppen, § 310 Rz. 1 m. w. N. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 310 AktG Rz. 10; MünchKommAktG/Altmeppen, § 310 Rz. 12 ff.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Aktien zu kaufen, entgegen § 66 AktG Aktionäre von ihren Leistungspflichten zu befreien oder gesetzwidrige Verträge mit Aktionären oder Mitgliedern des Vorstandes oder Aufsichtsrates abzuschließen.502) Um sich pflichtgemäß zu verhalten, trifft den Vorstand der abhängigen Gesellschaft also eine Prüfpflicht. Die Verantwortlichkeit des Vorstands der abhängigen Gesellschaft verhält sich spiegelbildlich zu derjenigen des Vorstands der herrschenden Gesellschaft, allerdings darf und muss der Vorstand der abhängigen Gesellschaft die Durchführung nachteiliger Weisungen nur dann verweigern, wenn die Weisung den Belangen des herrschenden oder der konzernverbundenen Unternehmen offensichtlich nicht dient.503) Offensichtlich heißt, dass der Nachteil für jeden Sachkenner ohne weitere Nachforschungen erkennbar ist.504) Die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Offensichtlichkeit obliegt dem Vorstand.505) 282 Von der pflichtwidrigen Befolgung unzulässiger Weisungen des herrschenden Unternehmens ist die unsorgfältige und aus diesem Grund ebenfalls pflichtwidrige Ausführung zulässiger Weisungen des herrschenden Unternehmens zu unterscheiden. Es besteht Einigkeit, dass der Vorstand auch in diesem Fall haftet, streitig ist nur, ob diese Haftung ihre Grundlage in § 93 AktG oder in § 310 AktG findet.506) 283 Delegiert der Vorstand der abhängigen Gesellschaft die Zuständigkeit für den Empfang von Weisungen auf Mitarbeiter, haftet er, wenn er die betreffenden Angestellten nicht ordnungsgemäß ausgesucht und überwacht hat. Er hat organisatorisch sicherzustellen, dass er rechtzeitig über nachteilige Weisungen informiert wird, sodass er seiner eigenen Prüfungspflicht gerecht werden kann.507) bb)

Schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung

284 Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft haftet nach § 310 AktG, wenn er bei der Ausführung der Weisung pflichtwidrig gehandelt hat. Maßgeblich ist, dass er bei der Prüfung und Befolgung der Weisung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verletzt hat. Hätte er erkennen können und müssen, dass die Weisung offensichtlich rechtswidrig war und führt er sie gleichwohl aus, handelt er schuldhaft.508) ___________ Ihrig/Schäfer, § 32 Rz. 1315; MünchKommAktG/Altmeppen, § 308 Rz. 95. Vgl. Kuhlmann/Ahnis, Rz. 610; Henssler/Strohn/Bödeker, § 310 AktG Rz. 6. Anstatt vieler MünchKommAktG/Altmeppen, § 310 Rz. 12 u. § 308 Rz. 152 m. w. N. Siehe Henssler/Strohn/Bödeker, § 310 AktG Rz. 7; Koch, § 310 Rz. 6. Mit der h. M. für die Anwendung der §§ 93, 116 AktG beispielsweise Schmidt/Lutter/ Langenbucher, § 310 Rz. 4; a. A. Emmerich/Habersack/Emmerich, § 310 AktG Rz. 12 u. 7 f. 507) BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 310 Rz. 7, die sich zugleich gegen eine Haftung des Mitarbeiters durch analoge Anwendung des § 310 AktG aussprechen; a. A. MünchKommAktG/ Altmeppen, § 310 Rz. 35. 508) BeckOGK-AktG/Veil/Walla, § 310 Rz. 8; so im Ergebnis auch Henssler/Strohn/Bödeker, § 310 AktG Rz. 3 i. V. m. § 308 AktG Rz. 17.

502) 503) 504) 505) 506)

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D. Die Haftung im Konzern

cc)

Kausaler Schaden

Für die Kausalität zwischen der Befolgung der Weisung und der Schädigung 285 der abhängigen Gesellschaft sowie für den Schaden der Gesellschaft gelten die Ausführungen zu § 309 AktG entsprechend (dazu Æ Rz. 273). Der Schaden der abhängigen Gesellschaft entfällt auch dann nicht, wenn ein Gewinnabführungsvertrag besteht.509) Auch die Verlustausgleichspflicht des herrschenden Unternehmens (§ 302 AktG) lässt den Schaden nicht entfallen.510) dd)

Verweis auf § 309 Abs. 3 – 5 AktG

§ 310 Abs. 4 AktG verweist betreffend den Verzicht auf und den Vergleich über 286 Ersatzansprüche auf § 309 Abs. 3 AktG. Für das Klagerecht der Aktionäre und das Verfolgungsrecht der Gläubiger gilt § 309 Abs. 4 AktG. Die Ersatzansprüche auch gegen den Vorstand der abhängigen Gesellschaft verjähren in fünf Jahren (§ 310 Abs. 4 AktG i. V. m. § 309 Abs. 5 AktG). b)

Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft

Eine Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft gegenüber der herr- 287 schenden Gesellschaft kommt namentlich in Betracht, wenn er eine rechtmäßige Weisung nicht befolgt und die herrschende Gesellschaft aus diesem Grund einen Nachteil erleidet. Die Haftung ergibt sich allerdings weder unmittelbar aus § 93 AktG noch aus § 310 AktG, sondern wegen der Verletzung des Beherrschungsvertrags aus § 280 Abs. 1 BGB i. V. m. § 308 Abs. 2 AktG, § 278 BGB.511) 4.

Haftung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft

Die Mitglieder des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft haften ihr gegen- 288 über nach § 310 Abs. 1 Satz 1 AktG neben den Mitgliedern des Vorstandes gesamtschuldnerisch, wenn sie die Gesellschaft durch die Verletzung ihrer Pflichten schädigen. Zwar ist der Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft nicht Adressat der Weisungen des herrschenden Unternehmens, der Aufsichtsrat muss jedoch die Geschäftsführung „seines“ Vorstandes überwachen, insbesondere die Befolgung unzulässiger Weisungen verhindern (§ 111 Abs. 1 AktG). Ebenso ist er gehalten, etwaige Schadensersatzansprüche gegen die Mitglieder des Vorstands zu verfolgen; erkennt er, dass eine solche Anspruchsverfolgung dem Interesse des herrschenden Unternehmens widerspricht, hat er dieses zu konsultieren und ihm die Möglichkeit zur Haftungsfreistellung oder zur Herbeiführung einer Hauptversammlungsentscheidung betreffend einen Verzicht oder ___________ 509) Vgl. nur MünchKommAktG/Altmeppen, § 309 Rz. 87 ff. 510) So anstatt vieler Emmerich/Habersack/Emmerich, § 310 AktG Rz. 13 i. V. m. § 309 Rz. 53 ff. 511) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 795 f.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Vergleich zu ermöglichen.512) Eine Haftung des Aufsichtsrats kommt ferner in Betracht, wenn er pflichtwidrig seine Zustimmung nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zu einem Geschäft erteilt, zu dem das herrschende Unternehmen die abhängige Gesellschaft angewiesen hat, obwohl die Weisung unzulässig war und die Mitglieder des Aufsichtsrats dies bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt (§ 310 Abs. 1 Satz 2 AktG) erkennen konnten und mussten.513) III.

Haftung im faktischen Konzern

289 Die faktisch konzernierte Aktiengesellschaft ist Weisungen des herrschenden Unternehmens nicht unterworfen (keine einheitliche Leitung), aber von Einflussnahme nicht frei.514) Die aus einer Beeinflussung resultierenden Nachteile für die abhängige Gesellschaft hat das herrschende Unternehmen nach § 311 Abs. 1 AktG spätestens zum Geschäftsjahresende auszugleichen, weil es nach § 317 Abs. 1 AktG schadensersatzpflichtig ist. Neben die Haftung des herrschenden Unternehmens tritt diejenige seines Vorstands (§ 317 Abs. 3 AktG), der überdies nach § 93 AktG auch seiner Gesellschaft gegenüber verantwortlich ist. Die Organe der abhängigen Gesellschaft haften bei der Verletzung ihrer Berichtspflichten (§§ 312, 314 AktG) nach § 318 AktG und bei der Verletzung sonstiger Pflichten nach §§ 93, 116 AktG. 1.

Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft

290 Unterbleibt der Nachteilsausgleich nach § 311 Abs. 2 AktG, sieht sich der Vorstand der herrschenden Gesellschaft unmittelbar Ansprüchen der abhängigen Gesellschaft ausgesetzt (§ 317 Abs. 3 AktG). Da „seine“ Gesellschaft gesamtschuldnerisch haftet (§ 317 Abs. 1 AktG), kommen außerdem Regressansprüche der herrschenden Gesellschaft nach § 93 AktG und im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs in Betracht. a)

Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft

291 Nach § 317 Abs. 3 AktG haftet der Vorstand der herrschenden Gesellschaft gegenüber der abhängigen, nicht eingegliederten und nicht durch einen Beherrschungsvertrag unterworfenen Gesellschaft, wenn er sie veranlasst, ein für sie nachteiliges Rechtsgeschäft vorzunehmen oder zu ihrem Nachteil eine Maßnahme zu treffen oder zu unterlassen, ohne dass der Nachteil bis zum Ende des Geschäftsjahrs tatsächlich ausgeglichen oder der abhängigen Gesellschaft ein Rechtsanspruch auf einen zum Ausgleich bestimmten Vorteil gewährt wird, und der abhängigen Gesellschaft daraus ein Schaden entsteht. Die Haftung ___________ 512) Fischbach/Lüneborg, NZG 2015, 1142 (1144 f.). 513) Emmerich/Habersack/Emmerich, § 310 AktG Rz. 21; ebenso Koch, § 310 Rz. 2. 514) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 389 f.

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D. Die Haftung im Konzern

trifft nur das einzelne, die Maßnahme veranlassende Mitglied des Vorstands des herrschenden Unternehmens; unbeteiligte Organmitglieder bleiben haftungsfrei.515) Das Vorstandsmitglied haftet als Gesamtschuldner (§§ 421 ff. BGB) neben dem herrschenden Unternehmen. aa)

Veranlassen

Veranlassen i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG ist jede Einflussnahme des herrschenden 292 Unternehmens, die eine nachteilige Maßnahme in der abhängigen Gesellschaft (mit-)verursacht.516) Gleichgültig ist, ob sie als Ratschlag, Anregung, Erwartung oder als Weisung geäußert wird; ebenso wenig ist erheblich, ob sich die Einflussnahme auf den Einzelfall bezieht oder in Gestalt von Richtlinien erfolgt.517) Als Urheber einer Veranlassung kommen neben dem Vorstand auch Angestellte des herrschenden Unternehmens oder Dritte in Betracht, sofern sie aus Sicht der abhängigen Gesellschaft im Einverständnis mit der Obergesellschaft handeln; die Veranlassung muss sich nicht an den Vorstand der abhängigen Gesellschaft richten, sondern kann sich auch an nachgeordnete Stellen wenden.518) Eine Einflussnahme ist auch im faktischen Konzern durch Vorstandsdoppel- 293 mandate möglich und grundsätzlich zulässig (Æ Rz. 142 ff.).519) Ein Veranlassungsbewusstsein der für das herrschende Unternehmen handelnden Personen wird nicht verlangt.520) Maßgeblich ist die Sicht des Veranlassungsadressaten in der abhängigen Gesellschaft.521) Nach § 317 Abs. 3 AktG haften nur die Vorstandsmitglieder der herrschenden 294 Gesellschaft, die die abhängige Gesellschaft zu dem Rechtsgeschäft oder der sonstigen Maßnahme veranlasst haben; eine mittelbare Veranlassung genügt. Es haftet auch der Vorstand, der einen Angestellten des herrschenden Unternehmens anweist oder gewähren lässt, auf die abhängige Gesellschaft schädigend einzuwirken.522) Eine pauschale Zurechnung nach §§ 278, 831 BGB findet demgegenüber in § 317 Abs. 3 AktG ebenso wenig statt wie eine Haftung wegen mangelhafter Überwachung oder unzureichender Organisation.523) Die Veran___________ 515) Vgl. Koch, § 317 Rz. 14; siehe auch MünchKommAktG/Altmeppen, § 317 Rz. 88. 516) Hierzu ausführlich Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 22 m. w. N.; BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 73. 517) Vgl. Koch, § 311 Rz. 13; Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 23. 518) KK-AktG/Koppensteiner, § 311 Rz. 17 und 21. 519) BGH, Urt. v. 9.3.2009 – II ZR 170/07, ZIP 2009, 1162. 520) Koch, § 311 Rz. 13. 521) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 138. 522) BeckOGK-AktG/Müller, § 317 Rz. 17 f.; Henssler/Strohn/Bödeker, § 317 AktG Rz. 10. 523) Koch, § 317 Rz. 14; zur Frage der Überwachung und Organisation siehe insbesondere Henssler/Strohn/Bödeker, § 317 AktG Rz. 10, die für diese Fälle auf die Möglichkeit der Haftung nach § 93 AktG verweist.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

lassung muss sich nicht an den Vorstand der abhängigen Gesellschaft richten, sondern kann auch an Mitglieder des Aufsichtsrats oder Angestellte der abhängigen Gesellschaft adressiert sein.524) bb)

Nachteil

295 Unter einem Nachteil i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG ist jede Minderung oder konkrete Gefährdung der Vermögens- oder Ertragslage der Gesellschaft zu verstehen, soweit sie auf die Abhängigkeit zurückzuführen ist.525) An einem Nachteil – und damit an einer Haftungsvoraussetzung – fehlt es, wenn sich ein ordentlicher und gewissenhafter Vorstand einer unabhängigen Gesellschaft ebenso hätte verhalten können.526) Die Nachteiligkeit ist bezogen auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts oder der Maßnahme zu beurteilen.527) Das Ob und die Höhe des Nachteils bemessen sich also aufgrund einer ex-ante-Betrachtung.528) Erweisen sich Rechtsgeschäft oder Maßnahme wegen einer späteren negativen Entwicklung als nachteilig, begründet dies keinen Nachteil i. S. d. § 311 Abs. 1 AktG.529) Ebenso wenig entfällt der Nachteil wegen einer späteren glücklichen Entwicklung.530) Nicht erforderlich ist, dass ein Verlust entsteht, denn nachteilig kann auch das Auslassen einer Gewinnchance sein. Keinen Nachteil stellt der sog. passive Konzerneffekt dar, das heißt die Eingliederung in den Konzern als solches.531) 296 Zur Feststellung eines Nachteils können die Maßstäbe, die für eine Beurteilung von verdeckten Gewinnausschüttungen gelten, zur Orientierung herangezogen werden.532) Bezugspunkte für das Handeln des Vorstands sind der Unternehmensgegenstand und der Gesellschaftszweck.533) Lieferungen und Leistungen zwischen den verbundenen Unternehmen sind möglichst an einem Marktpreis zu messen, in Ermangelung eines solchen können die Konditionen für ver___________ 524) Koch, § 317 Rz. 4 u. § 311 Rz. 17. 525) St. Rspr. seit BGH, Urt. v. 1.3.1999 – II ZR 312/97, NJW 1999, 1706 (1707) = ZIP 1999, 708; siehe auch BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, NJW 2011, 2719 (2722) = ZIP 2011, 1306 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 526) Siehe nur BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, NJW 2011, 2719 (2723) = ZIP 2011, 1306; BGH, Urt. v. 3.3.2008 – II ZR 124/06, NJW 2008, 1583 (1583) = ZIP 2008, 785; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 82. 527) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 83. 528) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 90. 529) So insbesondere BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, NJW 2009, 850 (852) = ZIP 2009, 70. 530) Koch, § 311 Rz. 26; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 83. 531) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 89. 532) Koch, § 311 Rz. 27 ff. 533) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 93; vgl. auch Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 41 m. w. N., wonach es auf die „besonderen Verhältnisse der abhängigen Gesellschaft“ ankomme.

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D. Die Haftung im Konzern

gleichbare Leistungen Dritter herangezogen werden.534) Fehlt es auch daran, sind die Selbstkosten zuzüglich einer üblichen Gewinnspanne anzusetzen.535) Schwieriger ist die Nachteilsermittlung bei Maßnahmen, die keine Rechtsgeschäfte sind (bspw. Investitionsentscheidungen, Organisationsmaßnahmen u. ä.). Hier besteht ein weiter Ermessensspielraum, der aber jedenfalls dann überschritten wird, wenn die Maßnahme den Bestand oder die dauerhafte Rentabilität des abhängigen Unternehmens ernsthaft in Frage stellt oder wenn sie unkalkulierbare oder für das Unternehmen erhebliche Risiken ohne entsprechende Chancen mit sich bringt.536) Der nachteilige Charakter einer Maßnahme entfällt nicht dadurch, dass der 297 Nachteil nicht quantifizierbar ist. Nicht quantifizierbare Nachteile sind allerdings einem Ausgleich nach § 311 Abs. 2 AktG regelmäßig nicht zugänglich, weshalb die Einflussnahme von vornherein rechtswidrig ist.537) Lässt sich – gegebenenfalls durch richterliche Schätzung nach § 287 ZPO – nachträglich ein Schaden quantifizieren, ist die Haftung des Vorstands nach § 317 Abs. 3 AktG möglich. Soweit eine Quantifizierung auch eines Schadens nicht möglich ist, gelten die Grundsätze über die qualifizierte Konzernierung.538) cc)

Unterbleiben des Nachteilsausgleichs

Die Haftung des Vorstands des herrschenden Unternehmens setzt voraus, dass 298 die der abhängigen Gesellschaft zugefügten Nachteile nicht bis zum Ende des Geschäftsjahres ausgeglichen werden. Der Ausgleich kann tatsächlich oder durch Begründung eines Rechtsanspruchs 299 der abhängigen Gesellschaft geleistet werden. Der abhängigen Gesellschaft müssen Vorteile gewährt werden, welche die Nachteile für deren Vermögensund Ertragslage aufwiegen.539) Umstritten ist, ob Inhalt und Höhe der Ausgleichsleistung vom Vorstand des herrschenden Unternehmens einseitig bestimmt werden – so die herrschende Meinung – oder ob sie im Einvernehmen mit dem abhängigen Unternehmen festzulegen sind;540) jedenfalls ist objektiv zu beurteilen, ob diese Leistung genügt.541) Maßgeblich ist die Bewertung des ___________ 534) MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 208 ff. u. 213; so auch Emmerich/Habersack/ Habersack, § 311 AktG Rz. 55 f. 535) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 85. 536) Koch, § 311 Rz. 34. 537) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 43. 538) BeckOGK-AktG/Müller, § 311 Rz. 102. 539) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 89. 540) Einen Überblick zum Meinungsstand gibt MünchKommAktG/Altmeppen, § 311 Rz. 359 m. w. N., der dem Streit aber nur geringe praktische Relevanz zumisst. 541) Koch, § 311 Rz. 41.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

Vorteils im Zeitpunkt seiner Gewährung.542) Schlägt sich der Nachteil bilanziell nieder, muss auch der Vorteil bilanzierbar sein,543) ansonsten genügt es, dass er bewertbar ist.544) Der Ausgleich kann vom herrschenden Unternehmen oder von einem Dritten gewährt werden.545) Er muss in den Jahresabschluss desjenigen Geschäftsjahres der abhängigen Gesellschaft einfließen, in dem der Nachteil entstanden ist.546) Positive Konzerneffekte, also Vorteile aus der Zugehörigkeit zum Unternehmensverbund als solche, genügen zum Nachteilsausgleich nicht.547) dd)

Kausaler Schaden

300 Die Haftung des Vorstands der herrschenden Gesellschaft setzt einen aus der nicht ausgeglichenen Nachteilszufügung erwachsenden Schaden bei der abhängigen Gesellschaft voraus.548) Anders als der Nachteil, der aus ex-ante-Perspektive bestimmt wird, bestimmt sich der Schaden aus der ex-post-Sicht.549) Übersteigt er den Nachteil, ist der Schaden vollständig zu ersetzen. Ist der Schaden geringer als der Nachteil, leitet die herrschende Ansicht aus dem Sanktionszweck des § 317 AktG und dem normativen Schadensbegriff ab, dass der Nachteil den auszugleichenden Mindestschaden darstellt.550) Im Übrigen bestimmen sich Art und Umfang des Schadensersatzes nach §§ 249 ff. BGB; im Prozess gilt § 287 ZPO.551) ee)

Kein Verschulden

301 Die Haftung nach § 317 Abs. 3 AktG verlangt nach herrschender Meinung kein Verschulden des Vorstands der herrschenden Gesellschaft; maßgebend ist allein die Veranlassung zu der nicht ausgeglichenen nachteiligen Maßnahme.552) ff)

Haftungsausschluss nach § 317 Abs. 2 AktG

302 Nach § 317 Abs. 2 AktG tritt die Ersatzpflicht nicht ein, wenn auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer unabhängigen Gesellschaft ___________ 542) Koch, § 311 Rz. 40. 543) Koch, § 311 Rz. 39. 544) OLG Jena, Urt. v. 25.4.2007 – 6 U 947/05 = NZG 2008, 275 (278); BeckOGKAktG/Müller, § 311 Rz. 113. 545) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 89. 546) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 156. 547) Koch, § 311 Rz. 39. 548) Henssler/Strohn/Bödeker, § 317 AktG Rz. 3. 549) Koch, § 317 Rz. 7. 550) Henssler/Strohn/Bödeker, § 317 AktG Rz. 3; Koch, § 317 Rz. 7 m. w. N.; a. A. MünchKommAktG/Altmeppen, § 317 Rz. 40. 551) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 130. 552) Emmerich/Habersack/Habersack, § 317 AktG Rz. 7 m. zahlreichen w. N.; a. A. MünchKommAktG/Altmeppen, § 317 Rz. 10.

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D. Die Haftung im Konzern

das Rechtsgeschäft vorgenommen oder die Maßnahme getroffen oder unterlassen hätte. Ist diese Bedingung erfüllt, fehlt es indessen schon an einem Nachteil i. S. d. § 311 AktG, sodass der Haftungstatbestand nicht erfüllt ist. Die Bedeutung des § 317 Abs. 2 AktG erschöpft sich daher darin, dass er Darlegung und Beweis für das beschriebene Verhalten dem Haftungsschuldner auferlegt.553) gg)

Verweis auf § 309 Abs. 3 – 5 AktG

§ 317 Abs. 4 AktG verweist betreffend den Verzicht und den Vergleich über 303 Ersatzansprüche auf § 309 Abs. 3 AktG. Für das Klagerecht der Aktionäre und das Verfolgungsrecht der Gläubiger gilt § 309 Abs. 4 AktG. Zudem unterfällt auch dieser Anspruch dem § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG.554) Die Ersatzansprüche verjähren in fünf Jahren (§ 317 Abs. 4 AktG i. V. m. § 309 Abs. 5 AktG). b)

Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft

Der Vorstand des herrschenden Unternehmens haftet seiner Gesellschaft nach 304 den allgemeinen Regeln (§ 93 Abs. 2 AktG). Daneben treten aufgrund des in § 317 Abs. 1 und 3 AktG begründeten Gesamtschuldverhältnisses Ansprüche aus § 426 Abs. 1 und 2 BGB. Das herrschende Unternehmen kann also Rückgriff bei seinem Vorstand nehmen, wenn es von der abhängigen Gesellschaft auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird.555) Eine Haftung gegenüber der herrschenden Gesellschaft kommt – anders als gegenüber der abhängigen Gesellschaft – auch in Betracht, wenn dem Vorstand nachgeordnete Stellen aufgrund mangelhafter Organisation oder Überwachung das abhängige Unternehmen zu nachteiligen Maßnahmen veranlassen.556) 2.

Haftung des Aufsichtsrats der herrschenden Gesellschaft

Da nur der Vorstand gesetzlicher Vertreter der herrschenden Gesellschaft ist, sind 305 die Mitglieder ihres Aufsichtsrats keine Adressaten des § 317 Abs. 3 AktG.557) 3.

Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft

Sind die Voraussetzungen des § 317 AktG erfüllt, ist der Vorstand der abhän- 306 gigen Gesellschaft ihr gegenüber nach § 318 Abs. 1 AktG zum Schadensersatz verpflichtet. Die Vorschrift führt allerdings in die Irre, da die Vorstandshaftung entgegen dem Wortlaut in § 318 Abs. 1 AktG nicht auf den Fall eines Versto___________ 553) 554) 555) 556) 557)

MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 131. BGH, Urt. v. 30.6.2020 – II ZR 8/19, BGHZ 226, 182, Rz. 32-41. Kuhlmann/Ahnis, Rz. 232. Emmerich/Habersack/Habersack, § 317 AktG Rz. 24. Anstatt vieler Koch, § 317 Rz. 13 m. w. N.; a. A. ist wohl allein Wälde, DB 1972, 2289 (2292).

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

ßes gegen die Berichtspflicht des § 312 AktG beschränkt ist. Vielmehr tritt die Haftung nach § 93 AktG daneben.558) Nicht verantwortlich ist der Vorstand der abhängigen Gesellschaft gegenüber dem herrschenden Unternehmen. a)

Haftung gegenüber der abhängigen Gesellschaft

307 Nach § 318 Abs. 1 AktG haften die Mitglieder des Vorstands der abhängigen Gesellschaft neben den nach § 317 AktG Ersatzpflichtigen gesamtschuldnerisch, wenn sie ihre Berichtspflicht nach § 312 AktG verletzen. Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft ist darüber hinaus verpflichtet, die Zulässigkeit jeder Veranlassung durch das herrschende Unternehmen, ihre möglichen Auswirkungen auf die Vermögens- und Ertragslage der abhängigen Gesellschaft sowie die Ausgleichsfähigkeit zu prüfen.559) Verletzt er diese Pflicht, haftet er nach den allgemeinen Vorschriften. aa)

Verletzung der Berichtspflicht

308 § 318 Abs. 1 AktG soll die Erfüllung der Pflicht des Vorstands zur Aufstellung eines Abhängigkeitsberichts gemäß § 312 AktG sicherstellen.560) Die Berichtspflicht dient der Information von Gesellschaftsgläubigern und Aktionären, daneben der Selbstvergewisserung des Vorstands über die mit der faktischen Konzernierung verbundenen Gefahren. In den Bericht sind alle „benachteiligungsverdächtigen“ Vorgänge und Umstände eines Geschäftsjahres aufzunehmen.561) Der Vorstand verletzt die Berichtspflicht, wenn ein Bericht fehlt, unvollständig oder unrichtig ist.562) 309 Kumulativ zur Verletzung der Berichtspflicht setzt der Tatbestand des § 318 Abs. 1 AktG voraus, dass das herrschende Unternehmen nach § 317 Abs. 1 AktG haftbar ist. Auch die Haftung nach § 318 Abs. 1 AktG tritt also nur ein, wenn der Nachteilsausgleich unterblieben ist.563) Es genügt, dass der Anspruch nach § 317 Abs. 1 AktG besteht. Nicht erforderlich ist, dass er tatsächlich geltend gemacht wird.564) 310 Die Haftung setzt nach § 318 Abs. 1 Satz 2 AktG Verschulden des Vorstands der abhängigen Gesellschaft voraus. Es gilt der auch im Rahmen des § 93 AktG

___________ 558) Koch, § 318 Rz. 1; MünchKommAktG/Altmeppen, § 318 Rz. 1 ff., der § 318 AktG gar für überflüssig und irreführend hält. 559) Kuhlmann/Ahnis, Rz. 207. 560) Koch, § 318 Rz. 1. 561) BeckOGK-AktG/Müller, § 312 Rz. 2. 562) Koch, § 318 Rz. 3; Emmerich/Habersack/Habersack, § 318 AktG Rz. 5. 563) Koch, § 318 Rz. 3; MünchKommAktG/Altmeppen, § 318 Rz. 8. 564) BeckOGK-AktG/Müller, § 318 Rz. 6.

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D. Die Haftung im Konzern

anzulegende Sorgfaltsmaßstab; die Darlegungs- und Beweislast für die Einhaltung pflichtgemäßer Sorgfalt obliegt dem Vorstand.565) Der in § 318 Abs. 3 AktG normierte Haftungsausschluss bei einer Beschluss- 311 fassung der Hauptversammlung ist bedeutungslos, da die Berichtspflicht nicht zur Disposition der Hauptversammlung steht, ein entsprechender (gesetzmäßiger) Beschluss also nicht denkbar ist.566) bb)

Allgemeine Haftung

Neben die Haftung nach § 318 AktG tritt die allgemeine Haftung nach § 93 312 AktG für die ordnungsgemäße Erfüllung der Pflichten, die den Vorstand der abhängigen Gesellschaft infolge des Abhängigkeitsverhältnisses treffen.567) Der Vorstand der abhängigen Gesellschaft ist bei nur faktischer Konzernierung 313 an Vorgaben des herrschenden Unternehmens nicht gebunden. Er leitet die Gesellschaft vielmehr in eigener Verantwortung (§ 76 AktG). Dennoch darf er deren Konzernverbundenheit nicht ignorieren, sondern hat sie als einen Aspekt bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Eine nachteilige Veranlassung darf der Vorstand unter den Voraussetzungen des § 311 AktG befolgen. Dabei trifft ihn eine Prüfpflicht. Er hat insbesondere zu beachten, ob die Maßnahme im Konzerninteresse liegt, der Nachteil ausgleichsfähig und das herrschende Unternehmen zum Ausgleich bereit und voraussichtlich in der Lage ist.568) Sind diese – ggf. durch Nachfrage beim herrschenden Unternehmen zu klärenden – Voraussetzungen erfüllt, darf der Vorstand der abhängigen Gesellschaft die Maßnahme ergreifen; er handelt dann nicht sorgfaltswidrig i. S. d. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.569) Den vom herrschenden Unternehmen gewährten Ausgleich muss der Vorstand der abhängigen Gesellschaft auf die objektive Werthaltigkeit für die abhängige Gesellschaft prüfen und ggf. Gegenvorstellungen erheben.570) Der Vorstand muss die abhängige Gesellschaft so organisieren, dass er von 314 sämtlichen – auch an nachgeordnete Stellen gerichteten – Vorgaben des herrschenden Unternehmens erfährt.571) Haben sie nachteiligen Charakter oder ist die Bereitschaft zum Nachteilsausgleich nicht gesichert, muss er einschreiten. Die Haftung des Vorstands der abhängigen Gesellschaft nach § 93 AktG wird 315 durch die Sonderregeln des § 318 AktG modifiziert, wenn er seine im Zusam___________ 565) MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 139. 566) BeckOGK-AktG/Müller, § 318 Rz. 10. 567) BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, NJW 2009, 850 (852) = ZIP 2009, 70; Emmerich/ Habersack/Habersack, § 318 AktG Rz. 10 m. w. N. 568) Vgl. nur Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78 m. w. N. 569) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 78. 570) Wellhöfer/Peltzer/Müller/Wellhöfer, § 4 Rz. 392. 571) Emmerich/Habersack/Habersack, § 311 AktG Rz. 80 m. w. N.

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§ 7 Besonderheiten im Konzern

menhang mit dem Abhängigkeitsverhältnis stehenden Pflichten verletzt und das herrschende Unternehmen nach § 317 AktG haftet.572) Die Vorstandsmitglieder haften in diesem Fall als Gesamtschuldner neben den nach § 317 AktG Verantwortlichen.573) Ein etwaiger Eigenschaden der Aktionäre ist zu ersetzen. Hinsichtlich weiterer Haftungsmodalitäten gelten die § 309 Abs. 3 – 5 AktG entsprechend.574) b)

Haftung gegenüber dem herrschenden Unternehmen

316 Gegenüber dem herrschenden Unternehmen haftet der Vorstand der abhängigen Gesellschaft nicht, da es sowohl an einem Organ- als auch einem Vertragsverhältnis fehlt.575) 4.

Haftung des Aufsichtsrats der abhängigen Gesellschaft

317 Die Mitglieder des Aufsichtsrats haften nach § 318 Abs. 2 AktG neben den nach Abs. 1 und § 317 AktG Verantwortlichen als Gesamtschuldner, wenn sie die Prüfungs- und Berichtspflichten des § 314 AktG verletzt haben. Eine Pflichtverletzung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Aufsichtsrat den Abhängigkeitsbericht nicht geboten sorgfältig auf nicht ausgeglichene Nachteile überprüft oder sein Bericht an die Hauptversammlung unvollständig oder unrichtig ist.576) Der Haftungstatbestand setzt außerdem die Verwirklichung des Tatbestands des § 317 Abs. 1 Satz 1 AktG sowie ein Verschulden des Aufsichtsratsmitglieds voraus. 318 § 318 Abs. 2 AktG verdrängt den allgemeinen Haftungstatbestand des § 116 AktG nicht. Der Aufsichtsrat der abhängigen Gesellschaft muss daher insbesondere etwaigen Pflichtverletzungen ihres Vorstands nachgehen, die er mit Rücksicht auf die Interessen der verbundenen Unternehmen nur zurückstellen darf, wenn ein der abhängigen Gesellschaft aus der Nichtverfolgung von Ansprüchen entstehender Nachteil ausgeglichen wird.577) Soweit der Aufsichtsrat abhängigkeitsspezifische Pflichten verletzt, wird die Haftung durch die Sonderregeln des § 318 AktG modifiziert. Ebenso wie im Rahmen der Vorstandshaftung ist ein etwaiger Eigenschaden der Aktionäre zu ersetzen. Hinsichtlich der weiteren Haftungsmodalitäten gelten die § 309 Abs. 3 – 5 AktG entsprechend.578) ___________ 572) 573) 574) 575) 576) 577) 578)

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BeckOGK-AktG/Müller, § 318 Rz. 15 m. w. N. BeckOGK-AktG/Müller, § 318 Rz. 15. BeckOGK-AktG/Müller, § 318 Rz. 15. Siehe nur Kuhlmann/Ahnis, Rz. 233. Vgl. Emmerich/Habersack/Habersack, § 318 AktG Rz. 14. Fischbach/Lüneborg, NZG 2015, 1142 (1143 f.). Vgl. BGH, Urt. v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, NJW 2009, 850 (853) = ZIP 2009, 70; Emmerich/Habersack/Habersack, § 318 AktG Rz. 15.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

Illert/de Vries

Übersicht A. Einführung......................................... 1 B. Rechte und Pflichten der Organe ..... 5 I. Komplementäre .................................. 6 1. Aus der Gesellschafterstellung resultierende Rechte und Pflichten ............................... 7 a) Keine Pflicht zur Vermögenseinlage.............................. 7 b) Stimmrecht .................................. 8 c) Informationsrechte ..................... 9 d) Actio pro socio .......................... 10 2. Rechte und Pflichten der Komplementäre als Geschäftsleitungsorgan.................. 11 a) Geschäftsführungsbefugnis ...... 12 b) Vertretungsbefugnis.................. 16 II. Aufsichtsrat ...................................... 17 1. Zusammensetzung und persönliche Voraussetzungen ........ 18 2. Überwachungsaufgabe .............. 21 3. Ausführungs- und Vertretungskompetenz ................... 22 a) Ausführungskompetenz ........... 22 b) Vertretungskompetenz ............ 23 4. Unterschiede zu den Kompetenzen des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft .......... 24 5. Gewillkürte Organe ................. 26 a) Überblick ................................... 26 b) Kompetenzen ............................ 30 c) Zusammensetzung, Bestellung und Selbstorganisation...... 36 d) Vergütung .................................. 46 e) Selbstorganisation und Beschlussfassungen ................... 49 f) Rechte und Pflichten................. 52 g) Haftung...................................... 56 C. Organhaftung.................................. 57 I. Haftung des Komplementärs .......... 57 1. Innenhaftung ............................ 58 a) Haftung nach personengesellschaftsrechtlichen Vorschriften .............................. 59

b) Haftung nach aktienrechtlichen Vorschriften ................... 60 aa) Anwendbare Haftungstatbestände .................................... 61 bb) Insbesondere: § 283 Nr. 3 AktG i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG ......................................... 62 (1) Sorgfaltspflichtverletzung ....... 63 (2) Haftungsadressaten .................. 64 (3) Beginn und Ende der Haftung ..................................... 67 (4) Business Judgement Rule.......... 72 (5) Verschulden ............................... 73 (6) Haftungsausschluss................... 74 (7) Geltendmachung der Ansprüche gegen die Komplementäre ......................... 75 c) Haftungsfreistellung ................. 76 2. Außenhaftung ........................... 77 a) Haftungsgrundlage.................... 78 b) Inhalt der Haftung .................... 79 c) Innenregress .............................. 80 d) Beginn und Ende der Haftung ... 81 e) Haftungsfreistellung ................. 82 3. Haftung der Kommanditaktionäre .................................... 85 a) Innenhaftung ............................. 86 b) Außenhaftung ........................... 87 II. Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats .............................. 88 1. Innenhaftung ............................. 89 a) Verletzung der Überwachungspflichten..................... 90 b) Verletzung der Ausführungs- und Vertretungspflichten .................................... 91 c) Sorgfaltsmaßstab ....................... 94 d) Business Judgement Rule.......... 95 e) Haftungsausschluss................... 96 2. Außenhaftung ........................... 97 III. Die kapitalistische KGaA – am Beispiel der GmbH & Co. KGaA ................................................ 98

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA 1.

Haftung der KomplementärGmbH ...................................... 99 2. Haftung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH ...... 100 a) Haftung gegenüber der Komplementär-GmbH........... 101 b) Haftung gegenüber der KGaA... 102 c) Geltendmachung der Haftung ................................... 103

d) Haftung gegenüber Dritten......................................104 IV. Haftungsfragen bei einer ausländischen Gesellschaft als Komplementärin der KGaA...........105 1. Gesellschaften aus dem EUAusland.....................................106 2. Gesellschaften aus Drittstaaten.......................................108

Schrifttum: Altmeppen, Haftung der Gesellschafter einer Personengesellschaft für Delikte, NJW 1996, 1017; Altmeppen, Konkursantragspflicht in der Vor-GmbH?, ZIP 1997, 273; Armbrüster, Wettbewerbsverbote im Kapitalgesellschaftsrecht, ZIP 1997, 1269; Assmann/ Sethe, Der Beirat der KGaA, in: Festschrift Lutter, 2000, S. 251; Bachmann, Die Änderung personengesellschaftsrechtlicher Satzungsbestandteile bei der KGaA, in: Festschrift K. Schmidt, 2009, S. 41; ders., Die Besetzung des Aufsichtsrats der KGaA mit Gesellschaftern der Komplementärin und ihre Vertretung diesen gegenüber, AG 2019, 581; Backhaus, Die Auswirkungen der Neuregelungen zur Vorstandsvergütung im ARUG II auf die börsennotierte Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), AG 2020, 462; Baums, Der fehlerhafte Aufsichtsratsbeschluss, ZGR 1983, 300; Beuthien, Haftung der Vorgesellschafter: Warum so umständlich? Warum so milde?, WM 2013, 1485; Beuthien, Die Vorgesellschaft im Privatrechtssystem (Teil I) – Fehlentwicklungen in Rechtsprechung und Lehre, ZIP 1996, 305 ff.; Cahn, Die Änderung von Satzungsbestimmungen nach § 281 AktG bei der Kommanditgesellschaft auf Aktien, AG 2001, 579; Cahn, Wettbewerbsverbot des Vorstands in der AG & Co. KG, Der Konzern 2007, 716; Dirksen/ Möhrle, Die kapitalistische Kommanditgesellschaft auf Aktien, ZIP 1998, 1377; Ebenroth/ Auer, Die ausländische Kapitalgesellschaft & Co. KG – ein Beitrag zur Zulässigkeit grenzüberschreitender Typenvermischung, DNotZ 1990, 139; Eidenmüller, Wettbewerb der Gesellschaftsrechte in Europa, ZIP 2002, 2233; Ek, Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat, 2. Aufl., 2010; Fett/Förl, Die Mitwirkung der Hauptversammlung einer KGaA bei der Veräußerung wesentlicher Unternehmensteile – Zugleich Besprechung von OLG Stuttgart, NZG 2003, 778, NZG 2004, 210; Fiebelkorn, Zur Reichweite der Regelungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten in der atypischen Kommanditgesellschaft auf Aktien, ZGR 2020, 782; Fleischer, Vorstandsverantwortlichkeit und Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen – Von der Einzelüberwachung zur Errichtung einer Compliance-Organisation, AG 2003, 291; Fett/Stütz, 20 Jahre Kapitalgesellschaft & Co. KGaA – Bestandsaufnahme und neuere Entwicklungen, NZG 2017, 1121; Flume, Zur Enträtselung der Vorgesellschaft. Eine Untersuchung aus Anlass der Entscheidung BGH NJW 1981, 1373, NJW 1981, 1753; Froesch, Managerhaftung – Risikominimierung durch Delegation?, DB 2009, 722; Fromholzer/Simons, Die Festlegung von Zielgrößen für den Frauenanteil in Aufsichtsrat, Geschäftsleitung und Führungspositionen, AG 2015, 457; Gehling, Erfolgsorientierte Vergütung des Aufsichtsrats, ZIP 2005, 549; Grobe, Zum Rechtsverhältnis des persönlich haftenden Gesellschafters einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, NJW 1968, 1709; Grote, Anlegerschutz in der Publikums-KG durch Einrichtung eines Beirats, Diss. 1994; Grunewald/Otte, Klage von Personengesellschaftern gegen Gesellschaftsexterne, ZIP 2017, 1737; Haase, Die Vorteile der GmbH oder der GmbH & Co. KGaA in gesellschaftsrechtlicher Sicht, GmbHR 1997, 917; Habersack, Der Gesellschafterausschuss der KGaA, in: Festschrift Hellwig, 2010, S. 143; Habersack/Kersten, Chancengleiche Teilhabe an Führungspositionen in der Privatwirtschaft – Gesellschaftsrechtliche Dimensionen und verfassungsrechtliche Anforderungen, BB 2014, 2819; Habersack, Zur Corporate Governance der Kapitalgesellschaft & Co. KGaA, ZIP 2019, 1453; Heermann, Unentziehbare Mitwirkungsrechte der Minderheitsaktionäre bei außergewöhnlichen Geschäften in der GmbH & Co. KGaA – Ein Beitrag zum Anlegerschutz und zur richterlichen

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA Inhaltskontrolle, ZGR 2000, 61; Hennemann, Einfluss und Kontrolle in der Kommanditgesellschaft auf Aktien – zum persönlichen Anwendungsbereich der §§ 285 Abs. 1 S. 2 und 287 Abs. 3 AktG –, ZHR 182 (2018), 157; Hennerkes/Lorz, Roma locuta causa finita: Die GmbH & Co. KGaA ist zulässig – zugleich Besprechung des BGH-Beschlusses vom 24.2.1997 – II ZB 11/96, DB 1997, 1388; Hölters, Der Beirat der GmbH und GmbH & Co. KG, 1979; Hölters, Der Beirat in der GmbH – Verantwortlichkeit, Haftung und Rechtsschutz, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes, BB 1977, 105; Huber, Der Beirat: Praxisratgeber für Gesellschaften, Beiräte und ihre Berater, 2004; Ihrig/Schlitt, Die KGaA nach dem Beschluß des BGH vom 24.2.1997, ZHR Beiheft 67, 33; Jeschke/Wiedemann, Vergütung von Aufsichts- und Beiräten – Rechtliche und wirtschaftliche Aspekte sachgerechter Vergütungsstrukturen, in: Festschrift Hennerkes, 2000, S. 257; Johannsen-Roth/Kießling, Die unzureichende Beachtung der rechtsformspezifischen Besonderheiten der KGaA in der jüngeren Gesetzgebung und im Corporate Governance Kodex, in: Festschrift Marsch-Barner, 2018, S. 274; Joost, Mitbestimmung in der kapitalistischen Kommanditgesellschaft auf Aktien, ZGR 1998, 334; Kallmeyer, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien – eine interessante Rechtsformalternative für den Mittelstand?, DStR 1994, 977; Kallmeyer, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats in der Kommanditgesellschaft auf Aktien, ZGR 1983, 57; Kessler, Die Entwicklung des Binnenrechts der KGaA seit BGHZ 134, 392, NZG 2005, 145; Kittner, Unternehmensverfassung und Information – Die Schweigepflicht von Aufsichtsratsmitgliedern, ZHR 138 (1972), 208; Kleindiek, Zur Gründerhaftung in der Vor-GmbH, ZGR 1997, 427; Kort, Die Gründerhaftung in der Vor-GmbH, ZIP 1996, 109; Kölling, Gestaltungsspielräume und Anlegerschutz in der kapitalistischen KGaA, 2005; Kort, Actio pro socio auch bei Klagen gegen Nicht-Gesellschafter, DStR 2001, 2161; Krebs, Geschäftsführerhaftung bei der GmbH & Co. KG und das Prinzip der Haftung für sorgfaltswidrige Leitung, 1991; Maulbetsch, Beirat und Treuhand in der Publikumspersonengesellschaft, Diss. 1983; Meister, Zur Vorbelastungsproblematik und zur Haftungsverfassung der Vorgesellschaft bei der GmbH, in: Festschrift Werner, 1984, S. 521; Mülsch/Nohlen, Die ausländische Kapitalgesellschaft und Co. KG mit Verwaltungssitz im EG-Ausland, ZIP 2008, 1358; Otte, Die AG & Co. KGaA, 2011; Peus, Die Haftung des Vorstandes der AG zwischen unternehmerischer Freiheit und sozialer Pflicht, 2015; Pflug, Der persönlich haftende Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, NJW 1971, 345; Priester, Die Unversehrtheit des Stammkapitals bei Eintragung der GmbH – ein notwendiger Grundsatz?, ZIP 1982, 1141; Priester, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien ohne natürlichen Komplementär, ZHR 160 (1996), 250; Raiser/Veil, Die Haftung der Gesellschafter einer Gründungs-GmbH, BB 1996, 1344; Reichert, GmbH & Co. KG, 8. Aufl., 2021; Rohleder, Die Übertragbarkeit von Kompetenzen auf GmbH-Beiräte, Diss. 1990; Rudersdorf, Wettbewerbsverbote in Gesellschafts- und Unternehmenskaufverträgen, RNotZ 2011, 509; Säcker, Aktuelle Probleme der Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder, NJW 1986, 803; Schlitt, Die Satzung der Kommanditgesellschaft auf Aktien, 1999; K. Schmidt, Sternförmige GmbH & Co, KG und horizontaler Haftungsdurchgriff – Gedanken zum Stand der Gerichtspraxis –, in: Festschrift Wiedemann, 2002, S. 1199; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., 2002; K. Schmidt, Außenhaftung und Innenhaftung bei der Vor-GmbH, ZIP 1996, 353; K. Schmidt, Die Beschlußanfechtungsklage bei Vereinen und Personengesellschaften. Ein Beitrag zur Institutionenbildung im Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Stimpel, 1985, S. 217; K. Schmidt, Die Vor-GmbH als Unternehmerin und als Komplementärin – Zur Bedeutung des Urteils vom 9.3.1981, NJW 1981, 1345; K. Schmidt, Zehn Jahre GmbH & Co. KGaA – Zurechnungs- und Durchgriffsprobleme nach BGHZ 134, 392, in: Festschrift Priester, 2007, S. 691; S.H. Schneider, „Unternehmerische Entscheidungen“ als Anwendungsvoraussetzung für die Business Judgement Rule, DB 2005, 707; U.H. Schneider, Anwaltlicher Rat zu unternehmerischen Entscheidungen bei Rechtsunsicherheit – Ein Beitrag zum Management der Organhaftung, DB 2011, 99; Schnorbus, Gestaltungsfragen fakultativer Aufsichtsorgane der KGaA, Liber Amoricum M. Winter, 2011, 627; Schnorbus/Ganzer, Haftung fakultativer Gesellschaftsorgane in der GmbH und KGaA, BB 2017, 1795; Schulze-Osterloh, Die Regelung des Anstellungsverhältnisses der

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA Mitglieder des Beirats einer Personengesellschaft, ZIP 2006, 49; Seibt/von Rimon, Monistische SE & Co. KGaA: Einsatzfelder und Antworten auf Praxisfragen, ZIP 2019, 753; Sethe, Die personalistische Kapitalgesellschaft mit Börsenzugang, Diss. 1995; ders., Wider die Entrechtung der Kommanditaktionäre, AG 2021, 78; Simon, Bestellung und Abberufung des Aufsichtsrats in GmbH und GmbH & Co. KG, GmbHR 1999, 257; Sina, Funktionsfähigkeit des Beirats und Rückfallkompetenz, GmbHR 1999, 72; Spindler, Prognosen im Gesellschaftsrecht, AG 2006, 677; Stimpel, Unbeschränkte oder beschränkte, Außen- oder Innenhaftung der Gesellschafter der Vor-GmbH?, in: Festschrift Fleck, 1988, S. 345; Teubner, Der Beirat zwischen Verbandssouveränität und Mitbestimmung – Zu den Schranken der Beiratsverfassung in der GmbH -, ZGR 1986, 565; Thümmel, Aufsichtsratshaftung vor neuen Herausforderungen – Überwachungsfehler, unternehmerische Fehlentscheidungen, Organisationsmängel und andere Risikofelder, AG 2004, 83; Turiaux/ Knigge, Vorstandshaftung ohne Grenzen? – Rechtssichere Vorstands- und Unternehmensorganisation als Instrument der Risikominimierung, DB 2004, 2199; Ulmer, Zur Haftungsverfassung in der Vor-GmbH, ZIP 1996, 733; Voormann, Der Beirat im Gesellschaftsrecht, Diss., 2. Aufl., 1990; Wagner/Spemann, Organhaftungs- und Strafbarkeitsrisiken für Aufsichtsräte, NZG 2015, 945; Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, habil. 2000; Wichert, Satzungsänderungen in der Kommanditgesellschaft auf Aktien, AG 1999, 362; Wiedemann, Zur Haftungsverfassung der Vor-AG: Der Gleichlauf von Gründerhaftung und Handelnden-Prozess. Zugleich eine Besprechung des Urteils des Landgerichts Heidelberg vom 11. Juni 1997, ZIP 1997, 2045, ZIP 1997, 2029; Wiesner, Die Enthaftung ausgeschiedener persönlich haftender Gesellschafter einer KGaA, ZHR 148 (1984), 56; Yanli, Stichwort: Der Beirat der GmbH, DStR 1991, 1352.

A.

Einführung

1 Mit der bereits seit 1861 bestehenden Kommanditgesellschaft auf Aktien1) steht eine Rechtsform zur Verfügung, in der das Unternehmen durch geschäftsführende Gesellschafter weitgehend eigenverantwortlich geleitet wird und diese auch die persönliche Haftung für den Erfolg des Unternehmens übernehmen.2) Neben den Spezialvorschriften der §§ 278–290 AktG findet entweder das Recht der Kommanditgesellschaft (§ 278 Abs. 2 AktG) oder das Recht der Aktiengesellschaft (§ 278 Abs. 3 AktG) Anwendung. Im Einzelnen gilt: 

Das Rechtsverhältnis der Komplementäre untereinander und gegenüber den Kommanditaktionären sowie gegenüber Dritten richtet sich nach den Vorschriften für die Kommanditgesellschaft, § 278 Abs. 2 AktG.



Im Übrigen gelten die Vorschriften zur Aktiengesellschaft, § 278 Abs. 3 AktG.

2 § 278 AktG entspricht weitgehend dem Wortlaut von § 219 des Aktiengesetzes 1937,3) mit dem die KGaA erstmals die Rechtspersönlichkeit mit eigenen Rech___________ 1) 2) 3)

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Einen umfassenden geschichtlichen Überblick geben Großkomm-AktG/Sethe Vorbem § 278 Rz. 17; MünchKommAktG/Perlitt, Vorbem § 278 Rz. 6 ff.; KK-AktG/Mertens/ Cahn, Vorbem. § 278 Rz. 5; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 76 Rz. 1 f. MünchKommAktG/Perlitt, Vorbem § 278 Rz. 4; Bürgers/Fett/Göz, § 2 Rz. 9; Henssler/ Strohn/Arnold, AktG § 278 Rz. 2; Grigoleit/Servatius, § 278 Rz. 3. Gegenüber der Vorgängerversion wurde lediglich geändert, dass die Kommanditaktionäre „an dem in Aktien zerlegten Grundkapital beteiligt sind“ (§ 278 Abs. 1 AktG), zuvor: „mit Einlagen auf das in Aktien zerlegte Grundkapital beteiligt sind“ (§ 219 Abs. 1 AktG 1937); vgl. hierzu KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 2; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 1; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 1.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

ten und Pflichten und eigenem Vermögen erhielt.4) Als Handelsgesellschaft sind auf die KGaA die für Kaufleute geltenden Vorschriften des HGB anwendbar.5) Neben den Pflichtorganen (persönlich haftende Gesellschafter, Aufsichtsrat 3 und Hauptversammlung) kann in der KGaA aufgrund der personengesellschaftsrechtlichen Gestaltungsfreiheit ein zusätzliches fakultatives Organ, etwa ein Beirat oder ein Aktionärsausschuss, eingerichtet werden. Die persönlich haftenden Gesellschafter sind zugleich Gesellschafter und vertretungsberechtigtes Geschäftsleitungsorgan der KGaA. Für den Aufsichtsrat gelten grundsätzlich dieselben Vorschriften wie für den Aufsichtsrat in der AG, wobei er mit deutlich weniger Befugnissen ausgestattet ist. Die Besonderheiten in der KGaA, auf die in diesem Kapitel eingegangen wer- 4 den soll, werden durch die Hybridstellung dieser Gesellschaftsform zwischen Kommanditgesellschaft und Aktiengesellschaft bestimmt. § 278 Abs. 2 AktG verweist für das Rechtsverhältnis der persönlich haftenden Gesellschafter untereinander und gegenüber Dritten auf das Recht der Kommanditgesellschaft, sodass die Rechte und Pflichten sowie die Haftung der persönlich haftenden Gesellschafter untereinander und gegenüber Dritten personengesellschaftsrechtlich geprägt sind. Im Übrigen wird auf das Recht der Aktiengesellschaft verwiesen, sodass das Verhältnis der KGaA gegenüber Dritten aktienrechtlich geprägt ist. Als Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit und eigenem Vermögen haftet den Gläubigern grundsätzlich das Gesellschaftsvermögen. An diesem sind weder die persönlich haftenden Gesellschafter noch die Kommanditaktionäre gesamthänderisch beteiligt. Darüber hinaus haften die persönlich haftenden Gesellschafter mit ihrem Privatvermögen für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, während die Kommanditaktionäre nicht persönlich für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haften, § 278 Abs. 1 AktG. B.

Rechte und Pflichten der Organe

Wie sich aus den §§ 278 ff. AktG ergibt, hat die KGaA drei Pflichtorgane: Zu- 5 mindest einen Komplementär,6) den Aufsichtsrat und die Hauptversammlung.7) Die Satzung kann – anders als in der Aktiengesellschaft – darüber hinaus zusätzliche Organe vorsehen (Æ Rz. 26). ___________ 4) 5)

6) 7)

MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 2 f.; Großkomm-AktG/Sethe, Vorbem. § 278 Rz. 31; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 10. MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 4; die KGaA ist Formkaufmann i. S. d. § 6 Abs. 2 HGB, vgl. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 11; Oetker/Körber, § 6 Rz. 19; Hopt/Merkt, HGB, § 6 Rz. 6; MünchKommHGB/K. Schmidt, § 6 Rz. 9. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 14; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 8; BeckOGKAktG/Bachmann, § 278 Rz. 39; Habersack, ZIP 2019, 1453. MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 42; Bürgers/Fett/Göz, § 2 Rz. 4; Henssler/Strohn/ Arnold, AktG § 278 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 19; Hölters/Weber/ Müller-Michaels, § 278 Rz. 8.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

I.

Komplementäre

6 Geschäftsführungs- und vertretungsbefugtes Organ der KGaA sind die nicht von der Geschäftsführung und Vertretung ausgeschlossenen persönlich haftenden Gesellschafter. Die Organstellung kommt dabei der Gesamtheit dieser Gesellschafter, nicht aber einzelnen Komplementären zu.8) Zusätzlich zum Recht der KG, auf das § 278 Abs. 2 AktG im Verhältnis der Komplementäre zu den Kommanditaktionären und (gesellschaftsexternen) Dritten verweist, sind über § 283 AktG bestimmte für den Vorstand der Aktiengesellschaft geltende Vorschriften anwendbar. 1.

Aus der Gesellschafterstellung resultierende Rechte und Pflichten

a)

Keine Pflicht zur Vermögenseinlage

7 Die Komplementäre sind nicht zu einer Vermögenseinlage verpflichtet, da sie bereits persönlich für die Verbindlichkeiten der KGaA haften.9) Sie können jedoch gemäß § 281 Abs. 2 AktG freiwillig eine Vermögenseinlage erbringen, die, wenn sie nicht auf das Grundkapital geleistet wird, nach Höhe und Art in der Satzung festgesetzt werden muss. Die Vermögenseinlagen gehen in das Eigentum der Gesellschaft über, der Gesellschafter behält diesbezüglich nur seinen Auseinandersetzungsanspruch.10) Wie in der Kommanditgesellschaft, können als Sacheinlage alle Leistungen vorgesehen werden, die von den Gesellschaftern als Beiträge geleistet werden können, also auch die Leistung von Diensten, §§ 278 Abs. 2, 161, 109 HGB, §§ 705 ff. BGB.11) Darüber hinaus können die Komplementäre auch Aktien an der Gesellschaft durch Zeichnung gemäß § 280 AktG oder rechtsgeschäftlich nach der Gründung erwerben.12) b)

Stimmrecht

8 Das (mitgliedschaftliche) Stimmrecht des Komplementärs bei der Beschlussfassung der Komplementäre ist zunächst vom Stimmrecht der Kommanditaktionäre in der Hauptversammlung abzugrenzen. In der Hauptversammlung können nur die Komplementäre abstimmen, die gleichzeitig auch Kommanditaktionäre sind.13) Gegenstand des mitgliedschaftlichen Stimmrechts der Komple___________ 8) MünchKommAktG/Perlitt, Vorbem. § 278 Rz. 48; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 20. 9) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 70; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 21; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 42; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 234. 10) MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 44. 11) Großkomm-AktG/Sethe, § 281 Rz. 15; Koch, § 281 Rz. 2, § 286 Rz. 2; MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 45; a. A. BeckOGK-AktG/Bachmann, § 281 Rz. 8; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 77 Rz. 23; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 281 Rz. 10. 12) MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 57; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 82; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 52. 13) Koch, § 285, Rz. 1b; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 285 Rz. 6, 37; MünchKommAktG/Perlitt, § 285 Rz. 9.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

mentäre selbst sind alle Beschlussgegenstände, die in der Kommanditgesellschaft die Zustimmung der Komplementäre voraussetzen, § 285 Abs. 2 Satz 1 AktG.14) Zustimmungsbedürftig sind damit außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen gemäß §§ 116 Abs. 2, 164 HGB,15) strukturverändernde Maßnahmen,16) die Feststellung des Jahresabschlusses nach § 286 Abs. 1 Satz 2 AktG, sowie alle Grundlagengeschäfte17) wie Satzungsänderungen18) oder der Auflösungsbeschluss.19) Beschlüsse der Komplementäre sind grundsätzlich formfrei möglich.20) Die Einberufung einer Komplementärversammlung ist daher nur erforderlich, wenn die Satzung dies so vorsieht.21) In der Praxis wird es sich vielmehr anbieten, in der Geschäftsordnung der persönlich haftenden Gesellschafter eine Beschlussfassung in Sitzungen oder auf anderem Wege, etwa im Umlaufverfahren, vorzusehen. c)

Informationsrechte

Jedem Komplementär steht als Ausfluss seiner Gesellschafterstellung ein Recht 9 auf Unterrichtung in allen Gesellschaftsangelegenheiten zu.22) Insbesondere die von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Komplementäre können sich von den Angelegenheiten der Gesellschaft persönlich unterrichten sowie die Handelsbücher und die Papiere der Gesellschaft einsehen und sich aus ihnen eine Bilanz und einen Jahresabschluss anfertigen, § 278 Abs. 2 AktG, §§ 161 Abs. 2, 118 HGB. Zur Ausübung dieser Rechte darf der Komplementär auch die Ge___________ 14) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 44. 15) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 285 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 285 Rz. 35; Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 61; Koch, § 285 Rz. 2; vgl. auch KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 285 Rz. 36; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 285 Rz. 6; MünchKommAktG/ Perlitt, § 285 Rz. 42. 16) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 285 Rz. 36; Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 62; Koch, § 285 Rz. 2; MünchKommAktG/Perlitt, § 285 Rz. 43. 17) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 285 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 285 Rz. 36; Koch, § 285 Rz. 2; Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 62; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 285 Rz. 35; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 285 Rz. 6; Grigoleit/Servatius, § 285 Rz. 13. 18) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 285 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 285 Rz. 36; Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 62; Koch, § 285 Rz. 2; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 285 Rz. 35. 19) Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 62; Koch, § 285 Rz. 2; vgl. auch MünchKommAktG/ Perlitt, § 285 Rz. 43; Grigoleit/Servatius, § 285 Rz. 14. 20) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 285 Rz. 40; Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 68; Bürgers/ Fett/Reger, § 5 Rz. 48; bei eintragungspflichtigen Beschlüssen ist allerdings gemäß § 285 Abs. 3 Satz 2 AktG eine Beurkundung erforderlich. 21) MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 88, § 285 Rz. 39; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 45; vgl. auch Großkomm-AktG/Sethe, § 285 Rz. 70. 22) MünchKommHGB/Enzinger, § 118 Rz. 1; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 29; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 64.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

schäftsräume der Gesellschaft betreten.23) Darüber hinaus kann der einzelne Komplementär im Wege der actio pro socio auch den Auskunftsanspruch der Gesellschaft gemäß § 278 Abs. 2 AktG, §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB, §§ 713, 666 BGB gegenüber den geschäftsführenden Komplementären geltend machen (Æ Rz. 10).24) d)

Actio pro socio

10 Zur Geltendmachung von sog. Sozialansprüchen25) der Gesellschaft gegen andere Komplementäre sowie gegen die Gesamtheit der Kommanditaktionäre kann der einzelne Komplementär im Wege der actio pro socio vorgehen.26) Teilweise wird zwar der Ausschluss der actio pro socio27) bzw. zumindest eine Einschränkung ihres Anwendungsbereichs28) vor allem mit dem Argument vertreten, dass die KGaA als juristische Person, die durch ihre Organe vertreten wird, ihre Ansprüche selbst geltend machen kann. Da eine Klagebefugnis für den von der Geschäftsführung ausgeschlossenen Komplementär zumindest im ___________ 23) Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn/Drescher, HGB, § 118 Rz. 12; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 64; Hopt/Roth, HGB, § 118 Rz. 4. 24) Siehe auch Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn/Drescher, HGB, § 118 Rz. 41; Heymann HGB/ Hoffmann/Barlitz, § 118 Rz. 5; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 65; Hopt/Roth, HGB, § 118 Rz. 1. 25) Dies sind etwa (vgl. zum Ganzen BeckOK BGB/Schöne, § 705 Rz. 113 f.) die Ansprüche auf Leistung der im Gesellschaftsvertrag versprochenen Beiträge (BGH, Urt. v. 27.6.1983 – II ZR 230/82, ZIP 1983, 931 [932 f.]), Schadensersatzansprüche wegen Nichterfüllung der Beitragspflicht oder Verletzung sonstiger Gesellschafterpflichten, Ansprüche aus der Nachschusspflicht gemäß § 735 BGB, Ansprüche gegen einen geschäftsführenden Gesellschafter auf Auskunft und Rechnungslegung (BGH, Urt. v. 22.2.1971 – II ZR 100/68, WM 1971, 723 [725]) oder Herausgabe nach Beendigung der Geschäftsführung, Ansprüche auf Rückzahlung von Entnahmen oder Schadensersatz wegen pflichtwidriger Geschäftsführung (BGH, Urt. v. 27.6.1957 – II ZR 15/56, NJW 1957, 1358; BGH, Urt. v. 30.11.1959 – II ZR 145/58, NJW 1960, 433 [434]; BGH, Urt. v. 2.7.1973 – II ZR 94/71, NJW 1973 2198 [2199]; BGH, Urt. v. 13.5.1985 – II ZR 170/84, ZIP 1985, 1137 [1137 f.]). 26) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 52; MünchHdB GesR VII/Busch/Link, § 32 Rz. 32; Bürgers/Fett/Göz, § 5 Rz. 681; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 62; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 278 Rz. 31 (nimmt an, dass die Klagebefugnis jedenfalls dem von der Vertretung ausgeschlossenen Komplementär zugebilligt werden muss); Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 68. Zur Ausweitung der actio pro socio auf Ansprüche der Gesellschaft gegen Dritte vgl. Kort, DStR 2001, 2162, 2164 ff. sowie in neuerer Zeit Grunewald/Otte, ZIP 2017, 1737. 27) Kessler, NZG 2005, 145 (147) (mit der Begründung, dass in der KGaA mit dem Aufsichtsrat ein weiteres Organ besteht, das (systemgerechter) zur Vertretung der Gesellschaft geeignet ist). 28) KK-AktG/Mertens, § 278 Rz. 27 (der die Zulässigkeit der actio pro socio auf die Fälle beschränken will, in denen die Gesellschaft selbst zur Geltendmachung ihres Anspruchs offenbar außerstande ist und in denen für den Kläger ein besonderes Schutzbedürfnis besteht (diese Auffassung wird im KK-AktG seit der 2. Aufl. nicht mehr vertreten); MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 80 ff. (der nach der Vertretungsberechtigung differenziert und eine actio pro socio nur für nicht vertretungsberechtigte Komplementäre zulassen will, da die vertretungsberechtigten Gesellschafter als Organ Leistung an die von ihnen vertretene Gesellschaft fordern können).

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B. Rechte und Pflichten der Organe

Einzelfall sinnvoll und auch erforderlich sein kann, dürfte zumindest der vollständige Ausschluss der actio pro socio zu weit gehen.29) Auch eine Einschränkung zur Vermeidung von Doppelzuständigkeiten dürfte nicht erforderlich sein, da nicht davon auszugehen ist, dass der Komplementär klagen wird, wenn auch die Gesellschaft schon Klage eingereicht hat.30) 2.

Rechte und Pflichten der Komplementäre als Geschäftsleitungsorgan

Hinsichtlich der Geschäftsführungs- und Vertretungskompetenzen verweist 11 § 278 Abs. 2 AktG grundsätzlich auf das Recht der KG. Darüber hinaus sind in den §§ 283, 284 AktG Spezialvorschriften geregelt, die auch für den Vorstand einer Aktiengesellschaft gelten (Æ Rz. 32 f.). a)

Geschäftsführungsbefugnis

Die Komplementäre sind gemäß §§ 114, 161 Abs. 2 HGB, § 278 Abs. 2 AktG 12 zur Führung der Gesellschaft sowohl berechtigt, als auch verpflichtet, sofern sie nicht von der Geschäftsführung ausgeschlossen sind. Der einzelne Komplementär ist gemäß §§ 114, 115 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB, 278 Abs. 2 AktG berechtigt allein zu handeln; möglich ist aber auch eine Satzungsregelung, die eine Gesamtgeschäftsführungsbefugnis vorsieht.31) Da die Mehrheit der Kommanditgesellschaften auf Aktien in der Praxis lediglich einen Komplementär hat, wird diese Regelung in der Regel nicht relevant sein.32) Die Geschäftsführungsbefugnis umfasst grundsätzlich alle Handlungen, die der 13 gewöhnliche Betrieb des Handelsgewerbes der Gesellschaft mit sich bringt, § 116 Abs. 1 HGB. Nicht hiervon umfasst sind außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen sowie Grundlagengeschäfte, für die jeweils die Zustimmung der Gesamtheit der Komplementäre und der Gesamtheit der Kommanditaktionäre erforderlich ist.33) Außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen sind gemäß §§ 116 Abs. 2, 161 Abs. 2 HGB, § 288 Abs. 2 AktG Handlungen, die über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes der Gesellschaft hinausgehen. Hierbei handelt es sich um Geschäfte, die nach Art und Umfang, insbesondere wegen des mit ihnen verbundenen Risikos, nicht regelmäßig vorkommen, die außerhalb des Handelsgewerbes der Gesellschaft liegen, oder die ___________ 29) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 31; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 80 ff. 30) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 62; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 31. 31) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 60, 62; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 87; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 174 f. 32) Fett/Stütz, NZG 2017, 1121, 1126; dies liegt in der Regel daran, dass eine juristische Person alleiniger Komplementär ist. 33) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 278 Rz. 10; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 67, 70; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 110, 122; Koch, § 278 Rz. 13, 17a; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 278 Rz. 63, 65, 69; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 278 Rz. 14; Bürgers/ Fett/Reger, § 5 Rz. 81; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 38 f.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

in der besonderen Situation des Unternehmens oder der gerade gegebenen allgemeinen Situation als ungewöhnlich gelten müssen.34) 14 Als Grundlagengeschäfte gelten vor allem strukturverändernde Maßnahmen, die eine Änderung der Satzung notwendig machen oder wesentliche gesellschaftsvertragliche Rechte der Gesellschafter berühren.35) Hinsichtlich der Bestimmung, wann eine strukturverändernde und damit zustimmungspflichtige Maßnahme vorliegt, wird in Literatur und Rechtsprechung teilweise auf die Grundsätze der Holzmüller/Gelatine-Entscheidungen36) zurückgegriffen.37) Darüber hinaus finden die Holzmüller/Gelatine-Grundsätze in der KGaA nach umstrittener Auffassung keine Anwendung, da durch die Differenzierung zwischen gewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen und Grundlagengeschäften kein Bedarf für ungeschriebene Kompetenzen der Hauptversammlung besteht.38) Die Kommanditaktionäre sind bereits über das Zustimmungserfordernis zu Grundlagengeschäften eingebunden. 15 In der Praxis ist es zudem üblich, den Komplementären die alleinige Entscheidung über außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahmen zuzuweisen. Dies erfolgt durch einen Ausschluss des Zustimmungserfordernisses der Gesamtheit der Kommanditaktionäre in der Satzung gemäß § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 Halbs. 2 HGB.39) Dies ist nach zutreffender Auffassung sowohl in der gesetzestypischen, personalistisch strukturierten KGaA, als auch in der atypischen, kapitalistisch strukturierten KGaA zulässig.40) Ob ein Aus___________ 34) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 112; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 177; Bürgers/ Fett/Reger, § 5 Rz. 86 f.; vgl. auch Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 38 und zu gewöhnlichen Geschäften Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 278 Rz. 14. 35) OLG Stuttgart, Urt. v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, NZG 2003, 778 (783); Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 92. 36) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, NJW 1982, 1703 (Holzmüller); BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, NZG 2004, 571 (Gelatine I); BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 154/02, NZG 2004, 575 (Gelatine II). 37) OLG Stuttgart, Urt. v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, NZG 2003, 778 (783); Großkomm-AktG/ Sethe, § 278 Rz. 123; Kessler, NZG 2005, 145 (148). 38) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 123; Kessler, NZG 2005, 145 (148); Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 92; a. A. BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 77 (u. a. unter Verweis auf OLG Stuttgart, Urt. v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, NZG 2003, 778 (783)); Schmidt/ Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 39; Raiser/Veil, § 31 Rz. 21. 39) Das Zustimmungserfordernis ausgeschlossen haben u. a. die Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA (§ 7 Abs. 2 Satz 3 der Satzung); die Fresenius SE & Co. KGaA (§ 7 Abs. 2 Satz 3 der Satzung); die Bertelsmann SE & Co. KGaA (§ 7 Abs. 2 Satz 3 der Satzung); die Ströer SE & Co. KGaA (§ 9 Abs. 2 Satz 3 der Satzung) und die Drägerwerk AG & Co. KGaA (§ 16 Abs. 3 Satz 2 der Satzung). 40) Haase, GmbHR 1997, 917 (920); MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 22; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 230; nur zur gesetzestypischen, personalistisch strukturierten KGaA BGH, Beschl. v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, ZIP 1997, 1027 (1029); Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 113; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 69; Koch, § 278 Rz. 19; vgl. auch Priester, ZHR 160, 250 (261 f.); Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 38.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

schluss des Zustimmungserfordernisses in der Satzung bei Grundlagengeschäften zulässig ist, richtet sich nach zutreffender Meinung in der Literatur danach, ob die Maßnahme von § 278 Abs. 2 AktG (unterliegt der Satzungsautonomie) oder § 278 Abs. 3 AktG (unterliegt der Satzungsstrenge) erfasst ist.41) Der Satzungsstrenge unterfallen danach insbesondere solche Geschäfte, für die auch in der AG die Zustimmung der Hauptversammlung unabdingbar ist,42) wie etwa Maßnahmen zur Kapitalaufbringung und -erhaltung sowie die Kapitalerhöhung und -herabsetzung, ein Verzicht auf Ersatzansprüche nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG sowie zwingendes Umwandlungs- und Konzernrecht.43) b)

Vertretungsbefugnis

§ 278 Abs. 2 AktG verweist hinsichtlich der Vertretungsbefugnis auf das Recht 16 der KG, das allerdings über § 170 HGB hinaus, wonach der Kommanditist zur Vertretung der Gesellschaft nicht berechtigt ist, keine weiteren Vorschriften enthält und ansonsten auf das Recht der OHG verweist. Danach gelten die §§ 125, 126, 127 HGB, wonach zur Vertretung der Gesellschaft jeder Gesellschafter ermächtigt ist. Grundsätzlich ist jeder Komplementär allein zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt, wenn er nicht von der Vertretung ausgeschlossen ist.44) Die Satzung kann jedoch eine Gesamtvertretung gemäß § 125 Abs. 2 HGB vorsehen. Nach dem Grundsatz der Selbstorganschaft ist es dagegen nicht möglich, sämtliche Komplementäre von der Vertretung auszuschließen und die organschaftliche Vertretung auf Dritte zu übertragen.45) Wie in der AG wird die KGaA in bestimmten Fällen vom Aufsichtsrat bzw. von einem besonderen Vertreter vertreten. Um Interessenkollisionen auszuschließen, vertritt der Aufsichtsrat die KGaA, wenn sie ein Rechtsgeschäft mit den Komplementären abschließt oder Ersatzansprüche gegen sie geltend macht, §§ 278 Abs. 3 AktG i. V. m. §§ 112, 147 Abs. 2 AktG. II.

Aufsichtsrat

Die §§ 278 ff. AktG enthalten in § 287 AktG Sonderbestimmungen zum Auf- 17 sichtsrat in der Kommanditgesellschaft auf Aktien im Hinblick auf die Eigenart ___________ 41) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 124; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 71 f.; Heermann, ZGR 2000, 61 (67); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 91; MünchKommAktG/ Perlitt, Vor § 278 Rz. 34 f. 42) MünchKommAktG/Perlitt, Vor § 278 Rz. 35. 43) Ausführlich mit Beispielen hierzu Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 124. 44) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 86; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 156; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 246. 45) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 59; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 6; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 138; Koch, § 278 Rz. 19a; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 76; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 248; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 10. Zum Grundsatz der Selbstorganschaft allgemein siehe Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 10; MünchKommBGB/Schäfer, § 709 Rz. 5 f.; MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 125 Rz. 6.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

dieser Gesellschaftsform.46) Danach führt der Aufsichtsrat die Beschlüsse der Kommanditaktionäre aus, § 287 Abs. 1 AktG, und vertritt die Gesamtheit der Kommanditaktionäre gegen die persönlich haftenden Gesellschafter, wenn die Hauptversammlung keinen besonderen Vertreter gewählt hat, § 287 Abs. 2 Satz 1 AktG. Darüber hinaus gilt § 283 Nr. 4 AktG, wonach die persönlich haftenden Gesellschafter dem Aufsichtsrat gegenüber ebenso verpflichtet sind wie der Vorstand gegenüber dem Aufsichtsrat in der Aktiengesellschaft. Im Übrigen unterfällt der Aufsichtsrat in der Kommanditgesellschaft auf Aktien grundsätzlich denselben Regelungen wie der Aufsichtsrat in der Aktiengesellschaft, vorbehaltlich der im Verhältnis zum Aufsichtsrat der AG eingeschränkten Befugnisse, insbesondere im Hinblick auf die Ernennung der Geschäftsleiter und der Einrichtung von Zustimmungsvorbehalten (ausführlich zu den Rechten und Pflichten des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft Æ § 3 Rz. 96 ff., 258 ff.).47) 1.

Zusammensetzung und persönliche Voraussetzungen

18 Hinsichtlich der Zusammensetzung des Aufsichtsrats in der KGaA gelten im Wesentlichen die für den Aufsichtsrat der AG anwendbaren Vorschriften. Über § 278 Abs. 3 AktG sind danach nicht nur die §§ 95 – 99 AktG anwendbar, sondern auch die jeweiligen mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften.48) 19 Seit dem 1.1.201649) ist für neu zu wählende und zu entsendende Aufsichtsratsmitglieder die fixe Mindestquote von 30 % für das unterrepräsentierte Geschlecht nach dem „Teilhabe-Gleichberechtigte-Gesetz“50) zu beachten. Diese Quote gilt für Aufsichtsräte von börsennotierten Unternehmen, die zugleich paritätisch mitbestimmt sind und somit (ohne Einschränkung) auch für solche in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft auf Aktien, §§ 278 Abs. 3, 96 Abs. 2, 3 AktG.51) Einschränkungen sind hingegen bei der Festlegung von Zielgrößen nach §§ 278 Abs. 3, 111 Abs. 5 AktG (sowie dem im August 2021 neu eingeführten Mindestbeteiligungsgebot von einer Frau für Vor___________ 46) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 1; Koch, § 287 Rz. 1. 47) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 443. 48) Henssler/Strohn/Arnold, AktG, § 287 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 3 ff.; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 19 f.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 4; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 17 f.; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 445; Schmidt/Lutter/ Schmidt, § 287 Rz. 3, 5. Eine Ausnahme gilt für das Montanmitbestimmungsgesetz und das Montanmitbestimmungsergänzungsgesetz, da die Rechtsform der KGaA dort nicht erfasst ist, vgl. § 1 Abs. 2 MontanMitbestG sowie § 1 MitbestErgG; vgl. hierzu Bürgers/ Körber/Lieder/Förl/Fett, AktG, § 287 Rz. 11. 49) Vgl. § 25 Abs. 2 EGAktG. 50) Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vom 24.4.2015 (BGBl I, 642), das durch Artikel 11 Absatz 1 des Gesetzes vom 11.4.2017 (BGBl I, 802) geändert worden ist. 51) Vgl. Henssler/Strohn/Arnold, AktG, § 287 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 4; Habersack/Kersten, BB 2014, 2819.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

stände mit mehr als drei Mitgliedern in börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen52)) zu machen. Nach § 111 Abs. 5 AktG hat der Aufsichtsrat von Gesellschaften, die börsennotiert sind oder der Mitbestimmung unterliegen, entsprechende Zielgrößen für den Frauenanteil im Aufsichtsrat und im Vorstand festzulegen. Eine derartige Zielgröße für den Vorstand bzw. die Geschäftsleitung kann der Aufsichtsrat einer Kommanditgesellschaft auf Aktien jedoch mangels Personalkompetenz nicht festsetzen.53) Dies gilt auch für den Fall einer GmbH & Co. KGaA, in der die GmbH Komplementärin der KGaA ist. Hier wird der Aufsichtsrat regelmäßig keinen Einfluss auf die Geschäftsführerbestellung haben, da diese von den Gesellschaftern der GmbH ernannt werden.54) Die Zielgrößen in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats selbst bleiben hiervon jedoch unberührt.55) Auch die persönlichen Voraussetzungen von Aufsichtsratsmitgliedern in der 20 Kommanditgesellschaft auf Aktien richten sich grundsätzlich nach den Vorgaben für die AG. Prokuristen und Handlungsbevollmächtigte der Gesellschaft sind auch in der Kommanditgesellschaft auf Aktien von der Aufsichtsratstätigkeit ausgeschlossen, §§ 278 Abs. 3, 105 Abs. 1 AktG.56) Darüber hinaus können die Komplementäre der KGaA nicht Mitglied des Aufsichtsrats werden, § 287 Abs. 3 AktG. Diese Vorschrift ist unabdingbar57) und bezweckt zuvorderst eine Vermeidung von offenkundigen Interessenkonflikten zwischen Geschäftsführung und Aufsicht58). Dies gilt ebenso für nicht-geschäftsführungsbefugte per-

___________ 52) Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhaben von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Zweites Führungspositionen-Gesetz – FüPoG II) vom 7. August 2021, BGBl. S. 3311/2021. 53) BeschlE, BT-Drucks. 18/4227, S. 22; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 71; Fromholzer/ Simons, AG 2015, 457, 459. 54) Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 71; für eine Anwendbarkeit der Festlegung von Zielquoten in der Geschäftsleitung der Komplementärgesellschaft BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 44 f.; zur praktischen Umsetzung in der Komplementär-GmbH BeckOGKAktG/Bachmann, § 278 Rz. 45; vgl. auch Johannsen-Roth/Kießling in: Festschrift MarschBarner, S. 273 (279 f.), die aufgrund der fehlenden Personalkompetenz des Aufsichtsrats der KGaA und bei gleichzeitig fehlender Börsennotierung bzw. Mitbestimmung der Komplementärgesellschaft aber nur von einer freiwilligen Festlegung von Zielgrößen für den Vorstand der Komplementärgesellschaft durch den Aufsichtsrat der Komplementärgesellschaft ausgehen. 55) Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 71. 56) MünchKommAktG/Habersack, § 105 Rz. 4. 57) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 16; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 27; Bürgers/ Fett/Bürgers, § 5 Rz. 452; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 10. 58) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 16; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 287 Rz. 4; Bürgers/ Fett/Bürgers, § 5 Rz. 453; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 7; in neuerer Zeit hierzu ausführlich Hennemann, ZHR 182 (2018), 157 (160 ff.).

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

sönlich haftende Gesellschafter.59) Auch vertretungsberechtigte Organmitglieder sowie nach umstrittener Auffassung maßgeblich beteiligte Gesellschafter60) der Komplementärgesellschaft sind vor diesem Hintergrund von einem Aufsichtsratsmandat ausgeschlossen.61) Eine Erstreckung von § 287 Abs. 3 AktG auf nicht geschäftsführende Mitglieder des Verwaltungsrats in der monistischen SE als Komplementärgesellschaft der KGaA ist dagegen als zu weitreichend abzulehnen.62) 2.

Überwachungsaufgabe

21 Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats in der KGaA entspricht im Wesentlichen der des Aufsichtsrats in der AG (Æ § 3 Rz. 97 ff.). Über § 278 Abs. 3 AktG finden die Vorschriften der §§ 95 ff. AktG Anwendung, was auch die Überwachung der Geschäftsführung gemäß § 111 AktG umfasst.63) § 283 Nr. 4 AktG verweist hinsichtlich der Pflichten der persönlich haftenden Gesellschafter ebenfalls auf das Recht der AG. Die persönlich haftenden Gesellschafter sind dementsprechend gegenüber dem Aufsichtsrat zur Berichterstattung verpflichtet (§ 90 AktG), soweit nicht das Fehlen eines Vorstands etwas ___________ 59) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 6; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 287 Rz. 9; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 16; Koch, § 287 Rz. 5 f.; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 28; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 454; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 7; a. A. Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 287 Rz. 4. 60) Ob über eine Bagatellbeteiligung hinaus nur eine „maßgebliche“ Beteiligung, d. h. eine beherrschende Stellung schädlich ist, ist umstritten. Nach Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 9 werden nur maßgeblich beteiligte, insbesondere herrschende Gesellschafter der Komplementärgesellschaft erfasst; Grigoleit/Servatius, § 287 Rz. 9, Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 457 und Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 287 Rz. 2 gehen davon aus, dass nur beherrschende Gesellschafter erfasst werden; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 287 Rz. 10 und MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 29 gehen davon aus, dass sich die Inkompatibilität nur auf den herrschenden Gesellschafter einer Komplementär-GmbH und auf den Vorstand einer Komplementär-AG erstreckt; Koch, § 287 Rz. 5 will die Inkompatibilität nur auf Gesellschafter der Komplementärin erstrecken, die eine organähnliche Leitungsfunktion innehaben und beherrschenden Einfluss ausüben können; nach KKAktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 10 werden beherrschende oder maßgeblich beteiligte Gesellschafter einer Komplementärgesellschaft nur erfasst, wenn sie die organschaftlichen Geschäftsführungsbefugnisse tatsächlich ausüben; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 11 und Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 287 Rz. 4 gehen davon, dass von der Inkompatibilität nur Geschäftsführer und andere gesetzliche Vertreter der Komplementärin erfasst werden. 61) BGH, Urt. v. 5.12.2005 – II ZR 291/03, ZIP 2006, 177 (178 f.); MünchKommAktG/ Perlitt, § 287 Rz. 28; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 456 f.; a. A. (Unanwendbarkeit von § 287 Abs. 3 AktG auf Gesellschafter der Komplementärgesellschaft) Habersack, ZIP 2019, 1453 (1461). 62) Seibt/von Rimon, AG 2019, 753 (756); BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 9; Hölters/ Weber/Müller-Michaels, § 287 Rz. 4. 63) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 32; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 278 Rz. 21; Grigoleit/Servatius, § 278 Rz. 17 f.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

anderes gebietet.64) § 283 AktG verweist darüber hinaus auch auf die Pflicht zur Vorlage des Jahresabschlusses, des für mittlere und große Gesellschaften zu erstellenden Lageberichts (§ 283 Nr. 9 i. V. m. § 170 AktG) und ggfs. zur Vorlage des Konzernabschlusses und Lageberichts (§ 283 Nr. 10 i. V. m. §§ 290 ff. HGB).65) Um seiner Überwachungsaufgabe nachzukommen, muss der Aufsichtsrat sich wie in der AG ein Bild von den tatsächlichen Vorgängen innerhalb der Geschäftsführung machen.66) Aufgrund des Verweises von § 278 Abs. 3 AktG auf das Recht der AG findet § 23 Abs. 5 Satz 1 AktG Anwendung, sodass keine abweichenden Regelungen hinsichtlich der Überwachungsaufgabe in der Satzung getroffen werden können.67) Etwas anderes gilt nur, soweit die Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrats lediglich erweitert werden.68) 3.

Ausführungs- und Vertretungskompetenz

a)

Ausführungskompetenz

Wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, führt der Aufsichtsrat die Be- 22 schlüsse der Kommanditaktionäre aus, § 287 Abs. 1 AktG. Hiermit sind die Beschlüsse der Gesamtheit der Kommanditaktionäre gemeint, die in folgenden Fällen zu fassen sind: 1. Beschlüsse, die neben der Zustimmung der Komplementäre auch der Zustimmung der Kommanditaktionäre bedürfen (vgl. § 285 Abs. 2 Satz 1 AktG). 2. Beschlüsse, die die Angelegenheiten der Kommanditaktionäre betreffen, etwa kraft Satzung.69) Beschlüsse der Hauptversammlung wie zum Beispiel die Zustimmung zu Kapitalmaßnahmen oder Umwandlungsmaßnahmen werden dagegen durch die persönlich haftenden Gesellschafter im Rahmen der Geschäftsleitung ausgeführt.70) ___________ 64) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 15; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 492; GroßkommAktG/Sethe, § 283 Rz. 24; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 283 Rz. 11; Hölters/Weber/MüllerMichaels, § 283 Rz. 5; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 37; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 283 Rz. 8; Grigoleit/Servatius, § 283 Rz. 15; Heidel/Wichert, § 283 Rz. 2. 65) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 283 Rz. 3; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 32, § 283 Rz. 31 ff. m. w. N. 66) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 35; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 16 ff.; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 39. 67) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 44; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 27; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 53. 68) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 44; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 27; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 53; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 65; vgl. auch KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 25. 69) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 49; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 20 f.; Bürgers/ Fett/Bürgers, § 5 Rz. 499; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 58; Schmidt/Lutter/ Schmidt, § 287 Rz. 17. 70) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 33; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 49; Koch, § 287 Rz. 1; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 18; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 287 Rz. 2; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 59; Grigoleit/Servatius, § 287 Rz. 2; Heidel/ Wichert, § 287 Rz. 5.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

b)

Vertretungskompetenz

23 In Rechtsstreitigkeiten, die die Gesamtheit der Kommanditaktionäre gegen die persönlich haftenden Gesellschafter oder diese gegen die Gesamtheit der Kommanditaktionäre führen, vertritt der Aufsichtsrat die Kommanditaktionäre, § 287 Abs. 2 Satz 1 AktG. Neben dieser Spezialregelung, die auf der unterschiedlichen Ausgestaltung der KGaA gegenüber der AG beruht, ist § 112 AktG entsprechend anwendbar, sodass der Aufsichtsrat die Gesellschaft im Verhältnis zu den Komplementären gerichtlich und außergerichtlich vertritt. Hiernach ist der Aufsichtsrat zuständig für die Vertretung der Gesellschaft im Verhältnis zu den Komplementären. Infolge der insoweit klaren Positionierung des BGH, wonach die KGaA gegenüber ihren aktuellen und ehemaligen Komplementären durch den Aufsichtsrat vertreten wird,71) wird in der Literatur mittlerweile nur noch selten eine gegensätzliche Auffassung vertreten.72) Streitig ist insbesondere noch die Frage, ob eine von § 112 AktG abweichende Satzungsregelung getroffen werden kann. Dies dürfte als Teil der Binnenorganisation dem Personengesellschaftsrecht unterfallen, sodass eine abweichende Regelung zumindest bei Übertragung der Vertretungskompetenz auf einen Beirat oder Gesellschafterausschuss zulässig sein sollte.73) In der Praxis bietet es sich zudem an, die Vertretungskompetenz gegenüber den Komplementären zumindest teilweise mit einer Einflussnahmemöglichkeit auf deren Bestellung/Abberufung zu synchronisieren. 4.

Unterschiede zu den Kompetenzen des Aufsichtsrats in der Aktiengesellschaft

24 Obgleich für den Aufsichtsrat der KGaA grundsätzlich dieselben Regelungen wie für den Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft gelten, ist er im Verhältnis zu diesem mit deutlich weniger Befugnissen ausgestattet. Insbesondere fehlt ihm die Kompetenz zur Bestellung der Geschäftsleiter und die Befugnis zum Erlass der Geschäftsordnung für die persönlich haftenden Gesellschafter nach § 77 ___________ 71) BGH, Urt. v. 29.11.2004 – II ZR 364/02, ZIP 2005, 348 (Leitsatz 1). 72) Etwa Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 505; Vgl. auch BGH, Hinweisbeschl. v. 7.6.2010 – II ZR 210/09, ZIP 2010, 2345 (2346) Rz. 12 f. (geht von der Vertretungsberechtigung des verbleibenden Komplementärs (einer KG) aus, lässt aber im Streitfalle wegen möglicher Interessenkollision die Vertretung durch einen besonderen Vertreter zu); KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 287 Rz. 21 (gehen davon aus, dass eine Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrats nur neben einer entsprechenden Vertretungsmacht der persönlich haftenden Gesellschafter besteht); kritisch aber i. E. der Anwendung des § 112 AktG zustimmend Habersack, ZIP 2019, 1453 (1455 f.); zuletzt die Anwendbarkeit von § 112 AktG in der KGaA ablehnend Ziebelkorn, ZGR 2020, 782, 787 f. 73) So auch Fett/Stütz, NZG 2017, 1121 (1126); MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79, Rz. 36, MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 67, 69 und Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 20 (die die Anwendbarkeit von § 112 AktG bejahen, aber abweichende Satzungsregelungen als zulässig ansehen); a. A. Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 67 f.; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 287 Rz. 30 f. (für eine zwingende Zuständigkeit des Aufsichtsrats).

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B. Rechte und Pflichten der Organe

Abs. 2 Satz 1 AktG, die gesetzlich geregelten Zustimmungsvorbehalte des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG sind nicht anwendbar und er wirkt nicht bei der Feststellung des Jahresabschlusses nach § 286 Abs. 1 AktG mit.74) Die Rolle des Aufsichtsrats kann allerdings durch abweichende Satzungsgestal- 25 tung weitreichender und eher dem Aufsichtsrat in der Aktiengesellschaft entsprechend geregelt werden.75) Insbesondere kann ein Zustimmungsvorbehalt zu bestimmten Geschäftsführungsmaßnahmen der Komplementäre eingerichtet werden oder ihm die Befugnis zum Erlass einer Geschäftsordnung für die Komplementäre in der Satzung zugesprochen werden.76) 5.

Gewillkürte Organe

a)

Überblick

Nicht selten findet sich in KGaA-Satzungen ein gewillkürtes Gesellschaftsorgan, 26 meist als Beirat oder Gesellschafterausschuss, teilweise aber auch als Aktionärsausschuss oder Verwaltungsrat bezeichnet.77) Die Schaffung eines solchen gewillkürten Organs mit eigenen organschaftlichen Rechten ist – anders als in der AG – in der KGaA auf Grund der gemäß § 278 Abs. 2 AktG geltenden personengesellschaftsrechtlichen Gestaltungsfreiheit zulässig. Die Motive hierfür sind wie auch bei anderen Gesellschaftsformen78) vielfäl- 27 tig.79) Eine Ausgestaltung des Beirats als rein beaufsichtigendes und kontrollierendes Organ ist bei der KGaA im Gegensatz zur Publikumspersonengesellschaft oder zur GmbH praktisch nicht zu finden.80) Hierfür sieht das Gesetz bereits den Aufsichtsrat vor.81) Vielfach werden einem Beirat Rechte übertragen, die nicht gesetzlich zwingend beim Aufsichtsrat verbleiben müssen bzw. ___________ 74) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 38 ff.; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 482 ff.; Joost, ZGR 1998, 334 (336); Koch, § 278 Rz. 15; Kölling, S. 49 f. 75) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 34; vgl. auch Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 75 ff.; KKAktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 25 f. 76) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 515; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 76; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 287 Rz. 25, § 278 Rz. 70. 77) Zur Begrifflichkeit weitergehend siehe Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 79; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 85; zur Zulässigkeit eines zusätzlichen Organs Habersack, in: Festschrift Hellwig, 2010, S. 143 (146 ff.); Schnorbus, Liber amicorum M. Winter, 2011, 627 (629). 78) Vgl. hierzu Voormann, S. 1 – 48; zur GmbH Rohleder, S. 7 – 12; zur Publikums KG Maulbetsch, S. 23 f.; Grote, S. 57 ff. 79) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 80, 84 ff.; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 560 ff.; KKAktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 28. 80) Allerdings ist es denkbar, dem Beirat zusätzliche Überwachungsrechte zu geben, zum Beispiel die Aufgabe eines unternehmensinternen Controllings, so Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 561. 81) Da dem Aufsichtsrat auch zwingend gewisse Rechte verbleiben müssen (Æ Rz. 32), wird sich der Aufsichtsrat als reines Überwachungsorgan wohl auch nicht durchsetzen.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

in einer Aktiengesellschaft dem Aufsichtsrat zustünden (z. B. Zustimmungsrechte und Kompetenz, den Vorstand zu bestellen). Nicht nur in gesetzestypischen unternehmergeprägten KGaAs findet sich vielfach ein Beirat, der für die Vergütungsvereinbarungen mit den Komplementären oder für Kreditgewährungen an diese zuständig ist und sich teilweise bzw. vollständig aus der Anteilseignerseite des Aufsichtsrats der KGaA zusammensetzt. 28 Ein zusätzliches Motiv für einen Beirat, jedoch nie alleiniges, liegt in § 287 Abs. 1 (Kompetenz zur Durchführung der Beschlüsse der Kommanditaktionäre) und Abs. 2 AktG (Vertretung in Rechtsstreitigkeiten). Für die KGaA wird dies in der Literatur wegen der Gefahr von Interessenkollisionen sogar empfohlen.82) Sobald ein Beirat eingerichtet wird, werden ihm in fast allen Fällen auch die Rechte aus § 287 AktG übertragen. Auch weitere Mitwirkungsrechte der Hauptversammlung gemäß § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 HGB werden sowohl in gesetzestypischen als auch in kapitalistischen KGaA häufig auf einen Beirat übertragen. 29 Daneben kann ein Beirat auch als Schlichtungsorgan eingesetzt werden,83) der Sicherung des Familieneinflusses bzw. der Gründerpersönlichkeiten dienen oder als Gremium zur Repräsentation, Pflege und Förderung von Beziehungen und allgemeinen Beratung der Geschäftsführung eingerichtet werden. b)

Kompetenzen

30 Auf Grund der im Binnenverhältnis zwischen den Organen gemäß § 278 Abs. 2 AktG geltenden personengesellschaftsrechtlichen Gestaltungsfreiheit können einem Beirat in der Satzung einer KGaA weitreichende Kompetenzen zugewiesen werden. 31 Grenzen findet eine solche Kompetenzzuweisung u. a. in dem Grundsatz der Selbstorganschaft, der eine Zuweisung der Vertretungsbefugnis unter Ausschluss aller Komplementäre verbietet. Auch eine Zuweisung organschaftlicher Geschäftsführungsbefugnis unter Ausschluss aller Komplementäre ist als nicht zulässig anzusehen, wohingegen eine weitreichende Übertragung von Geschäftsführungsrechten in Form von Zustimmungs- und Weisungsrechten nach hier vertretener Auffassung (mit Ausnahme von § 283 AktG sowie Rechten im öffentlichen Interesse) auch in einer gesetzestypischen KGaA zulässig ist. Erforderlich ist jedoch eine entsprechende Satzungsregelung. 32 Die Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrats müssen diesem gemäß § 278 Abs. 3 AktG zwingend verbleiben.84) Dies umfasst auch das Recht und die Pflicht zur Prüfung und Geltendmachung von etwaigen Organhaftungsansprüchen. Eine Übertragung von sonstigen Befugnissen, die in der AG dem Aufsichtsrat ___________ 82) Vgl. Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 559. 83) Vgl. Assmann/Sethe, in: Festschrift Lutter, S. 255; vgl. Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 556. 84) Vgl. Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 490 f.; vgl. zu den einzelnen Rechten Literatur aus Rohleder, S. 103 – 124, hierzu zählt auch § 111 Abs. 3 Satz 1 AktG.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

zustehen, wie zum Beispiel die Personalhoheit85) (nicht jedoch das Recht, die Geschäftsleitung einer Komplementärgesellschaft unmittelbar zu bestellen bzw. abzuberufen)86), das Recht zum Erlass einer Geschäftsordnung für die Geschäftsleitung oder auch Zustimmungsrechte, das Recht zur Vertretung der Gesellschaft gegenüber den Komplementären entsprechend §§ 278 Abs. 2, 112 AktG, das Recht zur Entscheidung über die Vergabe von Krediten gemäß §§ 283 Nr. 5, 89 AktG, die Vertretung in Prozessen gemäß § 287 Abs. 2 Satz 1 AktG87), ist hingegen zulässig.88) Ausgenommen von einer alleinigen Übertragung auf einen Beirat ist die Zu- 33 ständigkeit zur Befreiung vom Wettbewerbsverbot gemäß § 284 AktG, die Aufnahme neuer Kommanditaktionäre89) sowie der Auflösungsbeschluss nach § 289 Abs. 1 AktG.90) ___________ 85) Bei der KGaA bedeutet dies die Aufnahme neuer Komplementäre (vgl. hierzu Huber, Rz. 104; Assmann/Sethe, in: Festschrift Lutter, S. 251 (261); MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 68, eine Besetzung mit Gesellschaftern wird nicht gefordert. Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 401; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 515, die diese Kompetenz für auf einen Aufsichtsrat übertragbar halten. Für die KG: Reichert/Ullrich in: Reichert, GmbH & Co. KG, § 28 Rz. 11, und Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften/Stengel, § 3 Rz. 273, nach denen die Entscheidung auch gesellschaftsfremden Dritten überlassen werden darf; OLG Hamburg, Urt. v. 27.3.1985 – 13 U 74/84, ZIP 1985, 740 (741); a. A. Voormann, S. 91 f.; differenzierend KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 32, die eine gesellschaftsfremde Besetzung ablehnen) wobei insbesondere die Fragen, ob die erforderliche Satzungsänderung konstitutiv oder – wie hier vertreten (Æ Rz. 70) – deklaratorisch ist, und wie die Satzungsänderung anzumelden ist, umstritten sind. In der Praxis wird von diesem Recht vielfach Gebrauch gemacht, wobei die Aufnahme und der Ausschluss aus wichtigem Grund bei gesetzestypischen KGaA häufig noch der Zustimmung der Komplementäre bedarf. 86) Ihrig/Schlitt, ZHR Beiheft 67, 33 (53 f.); Kölling, S. 122; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 212 ff. 87) Dies ergibt sich insbesondere schon aus § 287 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AktG; so auch BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 42; Grigoleit/Servatius, § 287 Rz. 4; Schmidt/Lutter/ Schmidt, § 287 Rz. 20; zu beachten ist erneut, dass bei einer solchen Übertragung Interessenkollisionen vermieden werden müssen, was von der Besetzung des Beirats und der Wahl/Bestimmung der Beiratsmitglieder abhängt, vgl. hierzu auch OLG München, Urt. v. 26.7.1995 – 7 U 5169/94, AG 1996, 86. 88) Erforderlich ist immer die Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes, wie zum Beispiel im Falle der Übertragung von stimmrechtsfesten Rechten des Kernbereichs (Æ Rz. 34). Vgl. auch zu sog. Öffnungsklauseln: Armbrüster, ZIP 1997, 1269 (1275) (zur Öffnungsklausel bzgl. der Freistellung vom Wettbewerbsverbot in der GmbH); Gehling, ZIP 2005, 549 (551) (zur Öffnungsklausel bzgl. der Aufsichtsratsvergütung in der AG); Rudersdorf, RNotZ 2011, 509 (516) (zur Öffnungsklausel bzgl. der Befreiung vom Wettbewerbsverbot in der GmbH); Scholz/Verse, § 29 Rz. 75 (zur Öffnungsklausel bzgl. der Gewinnverteilung in der GmbH). 89) Dies erfolgt – wie auch bei einer AG – über eine Kapitalerhöhung, die zwingend nach aktienrechtlichen Vorschriften gemäß §§ 182 ff. AktG durchzuführen ist. Das Recht zur Erteilung der Zustimmung im Falle einer Vinkulierung gemäß § 68 Abs. 2 AktG kann und wird einem Beirat jedoch in der Praxis vielfach übertragen. 90) So auch die herrschende Meinung in der Literatur, vgl. nur Bürgers/Fett/Schulz, § 8 Rz. 8; Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, § 285 Rz. 74; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 289 Rz. 10.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

34 Das Recht zur Neuaufnahme eines Komplementärs mit Sondereinlage bzw. zur Erhöhung einer bereits bestehenden Sondereinlage kann dem Beirat unter Beachtung der Grenzen der Kernbereichslehre nur auf Grundlage einer Satzungsregelung, die den Umfang der Sondereinlage sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch der maximalen Höhe nach klar umreißt, übertragen werden.91) 35 Die Rechte, die den Kommanditaktionären nicht in ihrer Gesamtheit, sondern individuell zustehen, unterliegen gemäß § 278 Abs. 3 AktG zwingenden aktienrechtlichen Vorschriften. Insbesondere folgende Rechte können daher den Kommanditaktionären nicht genommen und auf einen Beirat übertragen werden: Das Auskunftsrecht gemäß § 131 AktG92), der Verzicht auf oder der Vergleich über Ersatzansprüche nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, die Bestellung von Sonderprüfern gemäß § 142 Abs. 2 und 4 AktG und gemäß § 258 Abs. 2 Satz 3 AktG, die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gemäß § 147 Abs. 3 AktG oder auch § 117 AktG, die Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 AktG93), der Gewinnverwendungsbeschluss94) gemäß §§ 278 Abs. 3, 174 AktG, die Rechte der Aktionäre im Zusammenhang mit einer Hauptversammlung gemäß §§ 118 ff. AktG (einschließlich des Rechts zur Anfechtung gemäß §§ 243, 245 AktG), Maßnahmen, die nach zwingenden gesetzlichen Vorschriften die Beteiligung der Hauptversammlung erfordern wie zum Beispiel Kapital-95) oder Umwandlungsmaßnahmen96) oder Vorschriften, die primär dem Gläubigerschutz dienen.97) c)

Zusammensetzung, Bestellung und Selbstorganisation

36 Ein Beirat darf auch mit gesellschaftsfremden Dritten besetzt werden. Der Grundsatz der Verbandssouveränität untersagt nach hier vertretener Auffassung nur die Selbstentmündigung.98) Eine weitere Einschränkung nähme den Gesellschaftern ihre Freiheit, den Einfluss Dritter gerade durch die Einbeziehung in ein auf die Verbandsinteressen verpflichtetes Gesellschaftsorgan zu le___________ 91) In diesem Sinne auch Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, § 281 Rz. 29 (in Bezug auf eine Ermächtigung der Geschäftsleitung durch die Satzung); Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 403; Wichert, AG 1999, 362 (368). 92) Dieses ist, da den Kommanditaktionären das Recht zur Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 286 Abs. 1 AktG zwingend zusteht, weitergehender als das Auskunftsrecht eines Aktionärs, vgl. Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 368. 93) Cahn, AG 2001, 579 (581). 94) Ausführlich hierzu und zur Ergebnisermittlung und –verteilung Bürgers/Fett/Schließer, § 6 Rz. 32 ff. 95) Heermann, ZGR 2000, 61 (67); a. A. Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 362, der dies unter § 278 Abs. 2 AktG einordnet. 96) So Heermann, ZGR 2000, 61 (67). 97) Sethe, S. 112 f.; Heermann, ZGR 2000, 61 (67). 98) Weber, S. 310.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

gitimieren.99) Die Gesellschafter müssen demnach immer in der Lage sein, die Geschicke der Gesellschaft selbst zu bestimmen.100) Dies hindert jedoch nicht eine Preisgabe ihrer Kompetenzen, solange den Gesellschaftern die Möglichkeit verbleibt, diese Kompetenzen wieder zurückzugewinnen.101) Bei der Besetzung des Beirats sind § 100 Abs. 1 AktG,102) § 100 Abs. 2 Satz 1 37 Nr. 2103) als allgemeingültiger Grundsatz, soweit der Beirat Überwachungsaufgaben wahrnimmt,104) §§ 287 Abs. 3, 105 AktG analog (auch hier, soweit der Beirat überwachende Aufgaben wahrnimmt)105), nicht jedoch § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG106) und § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG107) (und zwar auch soweit der Beirat überwachende Aufgaben wahrnimmt, da § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AktG weniger ein allgemein gültiger Grundsatz ist, sondern stärker als Nr. 2 vor Interessenkonflikten schützen soll, was nicht zwingend eine Anwendung auf einen neben dem Aufsichtsrat gebildeten fakultativen Beirat erfordert) zu berücksichtigen. Ein Beirat ist grundsätzlich mitbestimmungsfrei, auch wenn ihm weitreichende 38 Kompetenzen zugewiesen werden sollten. Eine Grenze ist nur in Ausnahmefällen und unter Abwägung konkurrierender Wert- und Zweckgesichtspunkte108)

___________ 99) K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 14 III 3. 100) MünchHdb GesR II/Mutter, § 8 Rz. 14. 101) So im Ergebnis auch: Hölters, Der Beirat der GmbH und GmbH & Co. KG, S. 22 f.; den Gesellschaftern steht in jedem Fall ein Kernbereich an Rechten zu. Zudem haben sie die Möglichkeit, den Beirat abzuberufen bzw. aufzulösen. Als zusätzliche Sicherung stehen die Beiratsmitglieder in einem Rechtsverhältnis zur Gesellschaft, aus dem sich Treuepflichten ergeben. Diese Sicherungen reichten aus, um einen mit Dritten besetzten Beirat ausreichend zu kontrollieren. Für die GmbH: Scholz/K. Schmidt, § 45 Rz. 10 (Allgemeine Grenze der Zuständigkeitsverlagerung sei die Selbstentmündigung der Gesellschafter). 102) GmbH-Handbuch/Fuhrmann, Rz. 1981, der aber eine Abweichung vom Prinzip der Besetzung nur mit natürlichen Personen zulassen will; Huber, Rz. 116. 103) So Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 449; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 30 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 11. 104) Derjenige, der in seiner Geschäftsführung von einem anderen abhängig ist, hat nicht die notwendige Unabhängigkeit und Unbefangenheit, um die Geschäftsführung eines anderen pflichtgerecht zu überwachen, MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 31. 105) Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 5.12.2005 – II ZR 291/03, ZIP 2006, 177 (179), der allenfalls von einer Anwendung auf Geschäftsführer und Gesellschafter mit beherrschendem Einfluss ausgeht; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 11 (nur in Bezug auf Abs. 1) m. w. N. 106) So auch die herrschende Meinung in der Literatur für fakultative Beiräte aller Rechtsformen, vgl. nur Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 448 m. w. N.; Huber, Rz. 118 m. w. N.; Voormann, S. 137. 107) Hölters, Der Beirat der GmbH und der GmbH & Co. KG, S. 34; Huber, Rz. 120; Voormann, S. 137; a. A.: MünchKommAktG/Habersack, § 100 Rz. 38 (lehnt Anwendbarkeit lediglich im Beirat ohne Überwachungsfunktion ab). 108) Vgl. Teubner, ZGR 1986, 565 (576).

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

zu ziehen, wenn die gesellschaftsrechtliche Gestaltung die Mitbestimmung unterläuft (sog. Umgehungsverbot).109) 39 Die Wahl bzw. Bestimmung der Beiratsmitglieder sollte und wird sich in der Regel aus der Satzung ergeben.110) Die Stimmverbote111) des § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 AktG gelten für Komplementäre, die Kommanditaktien halten, im Rahmen einer Wahl (bzw. Entlastung) des Beirats analog, soweit der Beirat überwachende Aufgaben (vgl. § 285 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG) wahrnimmt. 40 Als Bestellungsformen sind grundsätzlich auch Entsendungsrechte zugunsten von Gesellschaftern112) (wobei § 101 Abs. 2 Satz 4 AktG nicht analog anwendbar ist) oder eine Kooptation113) denkbar. 41 Inwieweit neben der Bestellung zum Beiratsmitglied noch ein Anstellungsverhältnis zustande kommt, kann nur im Einzelfall entschieden werden. In der Regel wird bei der häufig anzutreffenden Wahl der Beiratsmitglieder durch die Hauptversammlung, vergleichbar einem Aufsichtsratsmitglied in der AG, kein gesondertes Rechtsverhältnis zustande kommen.114) Dies bedeutet insbesondere, dass die Vergütung in der Satzung oder einem Hauptversammlungsbeschluss zu regeln ist. Sofern die Komplementäre oder der Aufsichtsrat den Beirat bestellen, kommt ein entgeltlicher Dienstvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter gemäß §§ 611 ff., 675 BGB zustande115), so dass ein Anspruch auf angemessene Vergütung besteht. 42 Meist werden die Beiratsmitglieder für eine bestimmte Zeit gewählt, so dass sie mit Ablauf dieses Zeitraums automatisch aus dem Beirat ausscheiden.116) Ein Verbleiben der Beiratsmitglieder im Amt über den Bestellungszeitraum hinaus bis zur Bestellung von neuen Mitgliedern ist ohne Hinweise im Gesellschafts___________ 109) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 102/81, ZIP 1982, 440 (441); BGH, Urt. v. 14.11.1983 – II ZR 33/83, ZIP 1984, 55 (58); so auch für die mitbestimmte GmbH Weber, S. 144. 110) Für den Fall, dass eine Satzungsregelung fehlt, muss sich aus den Umständen ergeben, wer für die Bestellung zuständig ist, vgl. Voormann, S. 129. 111) Hierzu: Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 577 ff. 112) Voormann, S. 127; zum Erfordernis einer Satzungsreglung, GmbH-Handbuch/Fuhrmann, Rz. 1982. Entsendungsrechte für gesellschaftsfremde Dritte dürften – auch wenn sie kein Sonderrecht i. S. d. § 35 BGB begründen und somit zustimmungsfrei wieder entzogen werden können – hingegen nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein, so zum Beispiel zugunsten eines neutralen Dritten zur Auflösung einer Patt-Situation, vgl. Voormann, S. 129. 113) Vgl. Hölters, Der Beirat der GmbH & Co. KG, S. 16; Voormann, S. 127 f. 114) Vgl. nur für den Aufsichtsrat einer AG: MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 33 Rz. 11; Koch, § 101 Rz. 2. 115) Vgl. Schulze-Osterloh, ZIP 2006, 49 ff.; Beiratsmitglieder in der KGaA werden ähnlich einem Aufsichtsratsmitglied entlohnt. Die Entlohnung variiert aber nach Sitzungshäufigkeit und Aufgaben. 116) Weitere Ausscheidensgründe sind der Tod des Beiratsmitglieds, der Wegfall bestimmter zwingender persönlicher Voraussetzungen, die Abschaffung des Beirats und das Erlöschen der Gesellschaft, Huber, Rz. 374 ff.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

vertrag oder andere besondere Umstände abzulehnen.117) Ist eine Regelung zur Amtszeit der Beiratsmitglieder im Gesellschaftsvertrag nicht getroffen, so ist von einer unbegrenzten Amtszeit auszugehen.118) Eine solche unbefristete Amtszeit kann auch ausdrücklich vereinbart sein. Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kann das Beiratsmitglied jederzeit das 43 Amt niederlegen bzw. abberufen werden.119) Eine Niederlegung bzw. Abberufung ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes ist bei einer befristeten entgeltlichen Tätigkeit120) und in Ausnahmefällen121) ausgeschlossen. In Einzelfällen können besondere Voraussetzungen zu beachten sein, so z. B. 44 wenn eine Beiratsmitgliedschaft in der Satzung geregelt ist (in diesem Fall ist für die Abberufung eine Satzungsänderung erforderlich, die eine qualifizierte Mehrheit gemäß §§ 278 Abs. 3, 179 Abs. 2 Satz 1 AktG erfordert) oder es sich hierbei um ein Sonderrecht eines Gesellschafters gemäß § 35 BGB handelt, welches diesem ohne seine Zustimmung nicht entzogen werden kann. Besteht zusätzlich ein Anstellungsverhältnis, so endet dieses ggfs. nicht auto- 45 matisch. Es kann im Falle der Unentgeltlichkeit (Auftragsverhältnis nach §§ 662 ff. BGB) jederzeit, im Falle der Entgeltlichkeit (Dienstvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter gemäß §§ 675, 611 ff. BGB) nach den Vorschriften der ordentlichen bzw. der außerordentlichen Kündigung gemäß § 620 Abs. 2 BGB bzw. §§ 626 f. BGB beendet werden. ___________ 117) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.1.1982 – 6 W 61/81, BB 1982, 1574 hatte einen solchen Fall für den Beirat einer GmbH zu entscheiden. Auf Grund einer Satzungsauslegung kam das OLG Düsseldorf zu dem Ergebnis, die Beiratsmitglieder müssten bis zur Bestellung neuer Beiratsmitglieder im Amt verbleiben, auch wenn es sich um ein satzungswidriges Verhalten der Gesellschafter handelt. Ein solches Ergebnis ist ohne entsprechende Satzungsauslegung nicht zu befürworten. Zum einen würden so Nichtgesellschafter unter Umständen gegen ihren Willen in dem Beirat festgehalten, so auch Voormann, S. 132. Zum anderen könnte ein Gesellschafter durch bloße Blockierung der Neuwahl, ohne selbst eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen zu können, dem anderen Gesellschafter(n) seinen Willen aufzwingen. 118) Voormann, S. 132. 119) Zuständig hierfür ist das Organ bzw. die Organe, die auch für die Bestellung zuständig sind, vgl. Voormann, S. 133; Hölters, Der Beirat der GmbH & Co. KG, S. 31. Diese Rechte sind auch nicht in der Satzung abdingbar, Voormann, S. 135. Für einen Abberufungsbeschluss der Hauptversammlung ist dabei ohne ausdrückliche anderweitige Satzungsregelung eine einfache Mehrheit (und ein einstimmiger Beschluss der Komplementäre) ausreichend (vgl. Huber, Rz. 383; etwas anders Rohleder, S. 145 – 151 für die GmbH, der für die Abberufung von Mitgliedern eines nur überwachenden Beirats i. S. d. § 52 GmbHG eine ¾-Mehrheit fordert. Dies lässt sich aber auf einen Beirat der KGaA nicht übertragen, da es einen ausschließlich überwachenden Beirat de facto nicht gibt); § 103 AktG findet keine Anwendung (so aber Simon, GmbHR 1999, 257 (262)); auch ist nicht ohne Weiteres die Mehrheit erforderlich, die für die Bestellung gilt, wenn die Satzung eine entsprechende Regelung trifft (Staub/Casper, § 163 Rz. 30; Habersack/Schäfer, § 109 Rz. 56; Simon, GmbHR 1999, 257 (262)). 120) Sina, GmbHR 1999, 72 (73). 121) Diese können ihren Grund in einem Konzernverhältnis oder der Gesellschafterstellung des Beiratsmitglieds haben, Huber, Rz. 389; vgl. auch Sina, GmbHR 1999, 72 (73).

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

d)

Vergütung

46 Die Angemessenheit einer Beiratsvergütung lässt sich nur im Einzelfall bestimmen.122) Die Restriktionen von § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG für die Vergütung von Aufsichtsräten und in § 87 Abs. 1 AktG für Vorstandsbezüge gelten nicht für einen fakultativen Beirat.123) 47 In der Praxis wird ein Beirat meist in eine etwa bestehende D&O-Versicherung der Gesellschaft einbezogen (zur Frage der Zuständigkeit zum Abschluss einer D&O-Versicherung Æ § 26 Rz. 25). 48 Auf etwaige Beraterverträge der Gesellschaft mit Beiratsmitgliedern ist § 114 AktG nicht analog anzuwenden;124) in Satzungen findet sich teilweise jedoch eine entsprechende Regelung, die den Abschluss eines solchen Vertrages von der Zustimmung des gesamten Beirats abhängig macht, was insbesondere dann sinnvoll sein kann, wenn dem Beirat Aufgaben zugewiesen sind, die in der AG dem Aufsichtsrat obliegen. e)

Selbstorganisation und Beschlussfassungen

49 Dem Beirat steht das Organisationsrecht auf Grund seiner Organisationsautonomie selbst zu (einschließlich das Recht zum Erlass einer Geschäftsordnung, Bildung von Ausschüssen125)), soweit es nicht von der Satzung selbst oder nach der Satzung von den Komplementären, dem Aufsichtsrat oder der Hauptversammlung wahrgenommen wird.126) 50 § 108 Abs. 2 Satz 2 AktG ist nicht auf den Beirat anwendbar. Formelle127) und materielle128) Mängel können zu fehlerhaften Beschlussfassungen führen. Es muss davon ausgegangen werden, dass fehlerhafte Beschlüsse, vergleichbar dem Personengesellschafts-129) und Vereinsrecht130), nichtig sind, wobei sich Grenzen ___________ 122) Ausführlich, Jeschke/Wiedemann, in: Festschrift Hennerkes, S. 257 ff. 123) Jeschke/Wiedemann, in: Festschrift Hennerkes, S. 257 (260). Zu berücksichtigen ist aber in jedem Fall § 57 AktG, falls der Beirat auch mit Kommanditaktionären besetzt ist. 124) Auch der Verweis in § 52 GmbHG für einen fakultativen Beirat in der GmbH reicht nach hier vertretener Auffassung nicht aus, da in der KGaA – anders als in der GmbH in diesem Fall – bereits ein zwingend zu bildender Aufsichtsrat besteht. 125) Huber, Rz. 438, bezeichnet eine weitere Untergliederung der Beiratstätigkeit als wenig sinnvoll und misst den Ausschüssen eine geringe Bedeutung bei. 126) Huber, Rz. 59, empfiehlt ausdrücklich die Regelung dieser Frage in der Satzung. Dem wird in der Praxis ganz überwiegend nachgekommen. Sollte dies nicht der Fall sein, so können die Gesellschafter mit einem den Erfordernissen einer Satzungsänderung genügenden Beschluss die interne Ablauforganisation auch gegen eventuell bereits bestehende konträre Beschlüsse des Beirats bestimmen. 127) Vgl. Voormann, S. 177, unter Verweis auf Hölters, Der Beirat der GmbH & Co. KG, S. 44. 128) Voormann, S. 175. 129) Vgl. Westermann/Wertenbruch/Westermann, Band I, § 24 Rz. 546 ff. m. w. N.; a. A. K. Schmidt, in: Festschrift Stimpel, S. 242 f. 130) Vgl. BGH, Urt. v. 3.3.1971 – KZR 5/70, NJW 1971, 879 ff.; a. A. MünchKommBGB/ Leuschner, § 32 Rz. 59 ff.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

aus der zeitlichen Begrenzung der Verwirkung131) sowie aus dem Rechtsschutzinteresse, welches eine Erhebung der Klage durch „jedermann“ sachgerecht eingrenzen soll132), ergeben.133) Je nach Ausgestaltung der Rechte des Beirats und der Satzung können Mitglieder 51 des Aufsichtsrats (selten) oder Komplementäre (regelmäßig) ein Teilnahmerecht an den Sitzungen des Beirats haben. f)

Rechte und Pflichten

Die Beiratsmitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.134) Wenn dies 52 auch für das fakultative Organ Beirat nicht gesetzlich geregelt ist, so ergibt sich die Verschwiegenheitspflicht aus dem allgemeinen Rechtsgedanken der §§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 AktG, 52 Abs. 1 GmbHG, 34 Abs. 1 Satz 2, 41 GenG.135) Dieser stellt dogmatisch eine Präzisierung der organschaftlichen Treuepflicht dar.136) Der Umfang und die Dauer haben sich an §§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 AktG zu orientieren (Æ Rz. 62 ff., 89 ff.). Es gilt ein objektiver Sorgfaltsmaßstab, der an dem Verhalten eines gewissen- 53 haften und ordentlichen Beiratsmitglieds ausgerichtet ist.137) Dies entspricht dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.138) Die genaue Ausgestaltung des Sorgfaltsmaßstabs gemäß § 93 Abs. 1 AktG eines Beiratsmitglieds lässt sich schwer verallgemeinern. Er hat sich allein nach den von dem Beirat wahrgenommenen Aufgaben zu richten (zu den Sorgfaltspflichten und dem -maßstab für Vorstand und Aufsichtsrat Æ § 2 Rz. 2 ff. und § 4 Rz. 1 ff.). Die Tatsache, dass der Beirat ein fakultatives Organ der KGaA ist, führt nicht zu einer von § 93 Abs. 1 AktG abweichenden Beurteilung.139) Zusätzlich ist zu beachten, ob ___________ 131) BGH, Urt. v. 7.6.1999 – II ZR 278/98, ZIP 1999, 1391 (1392); BGH, Urt. v. 17.5.1993 – II ZR 89/92, ZIP 1993, 1079 (1082). 132) Huber, Rz. 282 f. 133) A. A. Voormann, S. 177 ff., nichtig sind demnach nur Beschlüsse, die inhaltlich gegen zwingendes Gesellschaftsrecht verstoßen, das überwiegend dem Schutz der Gesellschaftsgläubiger oder dem öffentlichen Interesse dient, oder die mit dem Wesen der betroffenen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind oder die ihrem Inhalt nach gegen die guten Sitten verstoßen; Hölters, Der Beirat der GmbH & Co. KG, S. 44; ders., BB 1977, 109; Baums, ZGR 1983, 300 (305 ff.); K. Schmidt, in: Festschrift Stimpel, 217 ff.; ders., Gesellschaftsrecht, § 15 II 3 (S. 447 ff.), der die Ausdehnung der Anfechtungsklage auf alle rechtswidrigen Mehrheitsbeschlüsse in Verbänden fordert, nicht für bestimmte Organe. 134) Voormann, S. 155; Yanli, DStR 1991, 1352 (1354). 135) Huber, Rz. 339. 136) Kittner, ZHR 136 (1972), 208 (220). 137) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 607. 138) In Abweichung hiervon erscheint die Anwendung des Haftungsmaßstabes des §§ 708 BGB, 105 Abs. 2, 161 Abs. 2 HGB dann als angemessen, wenn die Stellung als Beiratsmitglied als Sonderrecht aus der Gesellschafterposition fließt, Huber, Rz. 355. 139) Thümmel, AG 2004, 83 (85).

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der Beirat die Gesellschaftsinteressen140) oder auch bzw. vornehmlich die Interessen einer Gesellschaftergruppe141) wahrzunehmen hat. 54 Eine Ausdehnung des Wettbewerbsverbots gemäß § 284 AktG auf Beiratsmitglieder, denen Kompetenzen vergleichbar einem Aufsichtsrat in der AG zustehen, erscheint auf Grund des Normzwecks nicht angemessen.142) Sollten einem Beirat wesentliche, über Zustimmungsrechte hinausgehende Geschäftsführungsrechte zustehen, ist eine entsprechende Anwendung des § 284 AktG zu befürworten.143) Wie auch ein Komplementär kann das Beiratsmitglied vom Wettbewerbsverbot in der Satzung freigestellt werden. Hierfür ist analog § 284 Abs. 1 AktG ein Beschluss des Aufsichtsrats und eine Einwilligung der persönlich haftenden Gesellschafter erforderlich.144) 55 Der Beirat wird bei seiner Tätigkeit nicht vom Aufsichtsrat überwacht, auch wenn er geschäftsführende Tätigkeiten wahrnimmt.145) Einer dementsprechenden Satzungsregelung steht jedoch nichts entgegen.146) In Umgehungsfällen mag im Einzelfall eine Inhaltskontrolle der Satzung das geeignete Instrument sein.147) Dies gilt auch, wenn der Aufsichtsrat mitbestimmt ist, da die zwingenden Rechte des Aufsichtsrats immer bestehen bleiben.148) g)

Haftung

56 Beiräte haften für etwaige Pflichtverletzungen im Innenverhältnis analog § 93 AktG. Haftungsmilderungen zum Beispiel nach § 708 BGB finden grundsätzlich keine Anwendung.149) Vertragliche Haftungsbeschränkungen sind denkbar ___________ 140) Vgl. hierzu Voormann, S. 146. 141) Vgl. Huber, Rz. 336 f. 142) Armbrüster, ZIP 1997, 1269 (1272); Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 117. Ein Wettbewerbsverbot gilt auch nicht für Aufsichtsräte einer AG, vgl. Lutter/Krieger/Verse, § 12 Rz. 880. 143) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 602; Kölling, S. 192; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 117. Zum Beirat in der GmbH: Für einen solchen wird ein aus der Treuepflicht folgendes Wettbewerbsverbot bejaht, zumindest, solange er nicht ausschließlich überwachend tätig ist, vgl. Uwe H. Schneider, BB 1995, 365 (370) unter Verweis auf Scholz/Schneider, § 52 Rz. 350; Armbrüster, ZIP 1997, 1269 (1278). 144) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 284 Rz. 20 f.; dagegen MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 27 (Eine Befreiung kann nur im Einzelfall, nicht generell durch die Satzung erteilt werden). 145) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 497; BeckOGK/Bachmann, § 287 Rz. 14; Großkomm-AktG/ Sethe, § 287 Rz. 35, 45; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 16; vgl. auch MünchKommAktG/ Perlitt, § 287 Rz. 48. 146) Assmann/Sethe, in: Festschrift Lutter, S. 267; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 604. 147) So Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 498, hierzu unten. 148) Vgl. Hölters, Der Beirat der GmbH und GmbH & Co. KG, S. 24 f.; Teubner, ZGR 1986, 565 (578). 149) Vgl. zur Unanwendbarkeit des § 708 BGB nach der hier vertretenen Ansicht hinsichtlich der persönlich haftenden Gesellschafter Æ Rz. 59, 63, hinsichtlich der Aufsichtsratsmitglieder Æ Rz. 94.

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C. Organhaftung

und zulässig.150) Etwaige Ansprüche sind von der Geschäftsführung geltend zu machen. Im Außenverhältnis kommt eine Haftung nach allgemeinen vertraglichen und deliktischen Prinzipien in Betracht.151) C.

Organhaftung

I.

Haftung des Komplementärs

Die Komplementäre der KGaA haben im Vergleich zu den Vorstandsmitglie- 57 dern der Aktiengesellschaft eine wesentlich stärkere Stellung inne. Sie können, unabhängig von einer Kapitalbeteiligung, vom Aufsichtsrat nicht abberufen und nur eingeschränkt kontrolliert werden.152) Hiermit geht aber auch eine weitreichende persönliche Haftung einher. Die Haftung des Komplementärs gegenüber der KGaA kann sich zum einen aus der Verletzung personengesellschaftsrechtlicher Pflichten, insbesondere der gesellschafterlichen Treuepflicht,153) zum anderen aus der Verletzung von aktienrechtlich begründeten Pflichten, die über die Verweisnormen der §§ 278 Abs. 3 AktG, 283 Nr. 3 AktG anwendbar sind, ergeben. Zudem tritt hierneben die Außenhaftung für Verbindlichkeiten der Gesellschaft nach §§ 278 Abs. 1, 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 128 ff. HGB. 1.

Innenhaftung

Eine Spezialvorschrift zur Schadensersatzhaftung der persönlich haftenden Ge- 58 sellschafter gegenüber der Gesellschaft ist in § 284 AktG geregelt. Danach dürfen die persönlich haftenden Gesellschafter ohne ausdrückliche Einwilligung der übrigen Komplementäre und des Aufsichtsrats weder im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen noch Mitglied des Vorstands oder Geschäftsführer oder persönlich haftender Gesellschafter einer anderen gleichartigen Gesellschaft sein, § 284 Abs. 1 Satz 1 AktG. Bei Verstoß gegen das Wettbewerbsverbot kann die Gesellschaft Ersatz für den entstandenen Schaden fordern, § 284 Abs. 2 Satz 2 AktG. Über diese Vorschrift hinaus, die als Ausfluss der gesellschafterlichen Treuepflicht angesehen wird,154) finden über die Verweisnormen der § 278 Abs. 2, 3 AktG die in ___________ 150) Erforderlich wäre jedoch auch dann ein zustimmender Beschluss aller Gesellschafter, vgl. Huber, Rz. 364. 151) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 611; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 119. 152) BeckOGK/Bachmann, AktG § 278 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, Vorbem. § 278 Rz. 7; Wiesner, ZHR 148 (1984), 56 (63) (stellt allerdings darauf ab, dass die Kontrolle der Komplementäre in deren persönlicher Haftung liege). 153) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 59; BeckOGK/Bachmann, AktG § 278 Rz. 51; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 278 Rz. 33; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 90 ff.; Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 69 (zur gesellschafterlichen Treuepflicht); Heidel/Wichert, § 278 Rz. 48 (zur gesellschafterlichen Treuepflicht). 154) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 284 Rz. 1; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 29; vgl. auch MünchKommAktG/Perlitt, § 284 Rz. 3.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

der Aktiengesellschaft und Kommanditgesellschaft geltenden Haftungstatbestände Anwendung. Dementsprechend wird in Bezug auf die Innenhaftung der Komplementäre üblicherweise zwischen aktienrechtlichen und personengesellschaftsrechtlichen Vorschriften differenziert.155) Welche Vorschriften zum Tragen kommen, hängt von dem jeweils betroffenen Rechtsverhältnis ab. a)

Haftung nach personengesellschaftsrechtlichen Vorschriften

59 Die Haftung des Komplementärs gegenüber der Gesellschaft nach personengesellschaftsrechtlichen Vorschriften kann sich vor allem aus einer Treuepflichtverletzung ergeben, die aus seiner Stellung als Gesellschafter resultiert.156) Als Beispiele hierfür werden insbesondere die treuwidrige Verweigerung seiner Zustimmung zu außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen i. S. v. § 116 Abs. 2 HGB157) sowie die Einwirkung auf die Gesellschaft durch wiederholte (zustimmungsfreie) außergewöhnliche Maßnahmen, sodass letztlich eine strukturverändernde (zustimmungsbedürftige) Maßnahme vorliegt, genannt.158) Voraussetzung hierfür ist jedoch ein individuell zurechenbares Stimmverhalten des Komplementärs; diejenigen Komplementäre, die gegen eine schadensursächliche Maßnahme gestimmt haben, verletzen ihre Treuepflicht nicht.159) Bei der Prüfung, ob eine Treuepflichtverletzung vorliegt, gilt nach §§ 283 Nr. 3, 93 AktG der Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters. Der Verweis des § 278 Abs. 2 AktG in das Personengesellschaftsrecht gilt insoweit nicht. Die Ansicht von Reger,160) wonach der Komplementär im Falle von Treuepflichtverletzungen auf Grundlage des § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 3 HGB, § 708 BGB nur für eigenübliche Sorgfalt einzustehen habe, ist abzulehnen. Eine objektiv sorgfaltswidrige Amtsausübung, die zu einem Schaden der Gesellschaft führt, richtet sich nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Nicht zuletzt aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts des § 283 Nr. 3 AktG, der als Spezialregelung § 278 Abs. 2 AktG verdrängt, muss im Rahmen der Innenhaftung für Komplementäre insgesamt der Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gelten.161)

___________ 155) 156) 157) 158)

Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 69 f. HdbAktG/Nicolas/von Eiff, Kapitel 17, Rz. 102; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 71 ff. Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 72. Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 120; Heermann, ZGR 2000, 61 (83); Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 73. 159) Weitergehend zu den Treuepflichten MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 29 f.; Bürgers/ Fett/Reger, § 5 Rz. 74. 160) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 74. 161) Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 17 m. w. N.; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 10; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 62.

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C. Organhaftung

b)

Haftung nach aktienrechtlichen Vorschriften

Die Rechte und Pflichten der Komplementäre zur Geschäftsführungs- und 60 Vertretungsbefugnis richten sich gemäß § 278 Abs. 2 AktG nach den §§ 114 ff., 125 ff. HGB, sodass die den Vorstand betreffenden Regelungen der §§ 76 ff. AktG keine Anwendung finden. Auch die Vorschriften zur Vorstandshaftung in der Aktiengesellschaft werden grundsätzlich verdrängt, vgl. § 278 Abs. 3 AktG. Über die Verweisnorm des § 283 AktG werden die Komplementäre jedoch in Bezug auf Geschäftsführungs-, Vertretungs- und interne Organisationspflichten dem Vorstand der AG gleichgestellt (Æ Rz. 57 ff., § 1 Rz. 54 ff., § 1 Rz. 180 ff., § 1 Rz. 225 ff.).162) aa)

Anwendbare Haftungstatbestände

Ebenso wie die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat in der Aktiengesell- 61 schaft haften die Komplementäre für eine Verletzung der sie im Zusammenhang mit der Gründung treffenden Pflichten nach §§ 278 Abs. 3, 48, 53 AktG.163) Darüber hinaus gilt über den Verweis des § 283 Nr. 3 AktG auch § 117 Abs. 1 AktG wegen schädigender Beeinflussung eines anderen Organmitglieds bzw. § 117 Abs. 2 AktG als Organmitglied, welches beeinflusst wird.164) Des Weiteren finden die konzernrechtlichen Haftungsvorschriften Anwendung, etwa die §§ 309, 310 AktG oder §§ 317, 318 AktG.165) bb)

Insbesondere: § 283 Nr. 3 AktG i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG

Über den Verweis des § 283 Nr. 3 AktG findet § 93 Abs. 2 AktG auf etwaige 62 Schadensersatzansprüche gegen die persönlich haftenden Gesellschafter Anwendung.166) Danach sind die Komplementäre, die ihre Pflichten verletzen, der Gesellschaft als Gesamtschuldner zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet.

___________ 162) Grigoleit/Servatius, § 283 Rz. 1; vgl. auch Grobe, NJW 1968, 1709; Pflug, NJW 1971, 345 (346). 163) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 70. 164) Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 17; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 70, 128; a. A. Schmidt/ Lutter/Schmidt, § 283 Rz. 6 (Geltung von § 117 AktG für die nichtgeschäftsführenden Komplementäre); MünchKommAktG/Perlitt, § 283 Rz. 19 (der eine Anwendbarkeit von § 117 Abs. 1 AktG für die geschäftsführungsbefugten Komplementäre ablehnt). 165) Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 283 Rz. 5; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 111; vgl. auch BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 101 (Die Rechtsfolgen ergeben sich für den Vertragskonzern unmittelbar aus §§ 300 ff. AktG und für den faktischen Konzern aus § 311 AktG). 166) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 11; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 283 Rz. 5; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 111 ff.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

(1)

Sorgfaltspflichtverletzung

63 Ob eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, richtet sich beim Vorstand der Aktiengesellschaft zunächst nach § 76 Abs. 1 AktG, der den Pflichtenkreis des Vorstands definiert, sowie § 93 Abs. 1 AktG, der den Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters bestimmt. Angesichts der anders ausgestalteten Organisationsverfassung in der KGaA kann § 76 AktG nicht uneingeschränkt anwendbar sein, sondern nur insoweit, als dass die Befugnis der Komplementäre zur Geschäftsführung der eines Vorstands in der Aktiengesellschaft entspricht.167) Der Pflichtenstandard eines Komplementärs richtet sich daher nach dem Umfang seiner Leitungsmacht- und Verantwortung und der konkreten Ausgestaltung seiner Geschäftsführungsbefugnisse.168) Der Sorgfaltsmaßstab des § 708 BGB für die Haftung in eigenen Angelegenheiten gilt im Bereich der aktienrechtlichen Haftung trotz des Verweises in §§ 161 Abs. 2, 105 Abs. 2 HGB nicht (Æ Rz. 59).169) Vielmehr gilt der normative Maßstab, den ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter anwenden muss, der nicht mit eigenen, sondern mit ihm wie einem Treuhänder anvertrauten Mitteln wirtschaftet.170) Es gilt jedoch auch der weite unternehmerische Entscheidungsspielraum des Vorstands (zur Business Judgement Rule Æ Rz. 72).171) Darüber hinaus können sich zusätzliche Sorgfaltspflichten aus den mitgliedschaftlichen Treuepflichten, konzernrechtlichen Haftungstatbeständen (§§ 309, 310, 317, 318 AktG) sowie den Berichtspflichten (§ 312 AktG) ergeben (Æ Rz. 61).172) (2)

Haftungsadressaten

64 Haftungsadressaten gemäß § 283 Nr. 3, § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG sind sämtliche geschäftsführungsbefugten Komplementäre einer KGaA. Nach dem Grundsatz der Gesamtverantwortung der Komplementäre trifft jeden Komplementär wie die Vorstandsmitglieder in der Aktiengesellschaft die Pflicht zur Geschäftsleitung im Ganzen; mit dieser Allzuständigkeit geht eine umfassende Verantwortung für die Belange der Gesellschaft einher.173) Diese Haftungsverantwortung für Geschäftsführungsmaßnahmen trifft im Grundsatz jeden einzelnen geschäfts___________ 167) Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 3, 20; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 118. 168) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 10; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 118. 169) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 283 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 10; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 283 Rz. 3; MünchKommAktG/Perlitt, § 283 Rz. 18. 170) BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 143/93, ZIP 1995, 591 (592); OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.11.1996 – 6 U 11/95, AG 1997, 231 (235); OLG Hamm, Urt. v. 10.5.1995 – 8 U 59/94, AG 1995, 512 (514); Koch, § 278 Rz. 13; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 120. 171) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 121. 172) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 111. 173) Fleischer/Fleischer, § 8 Rz. 5; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 133; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 170 (zur AG).

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C. Organhaftung

führungsbefugten Komplementär gegenüber der Gesellschaft unabhängig von der Ressortzuständigkeit und der Vereinbarung von Einzel- oder Gesamtgeschäftsführung (Æ § 1 Rz. 80).174) Auch im Hinblick auf eine Haftungsverantwortlichkeit für eine Zurechnung 65 etwaigen Fehlverhaltens von Hilfspersonen, derer sich die Gesellschaft bedient und die der Komplementär in dem von ihm zu verantwortenden Geschäftsbereich einsetzt, gelten die zur Aktiengesellschaft dargelegten Überlegungen (vgl. Æ § 1 Rz. 91). Soweit es sich bei den geschäftsführenden Komplementären um beschränkt 66 Geschäftsfähige oder Geschäftsunfähige handelt, haften über § 278 BGB bzw. § 14 Abs. 1 Nr. 3 StGB deren gesetzliche Vertreter.175) (3)

Beginn und Ende der Haftung

Da § 93 Abs. 2 AktG i. V. m. § 283 Nr. 3 AktG auf die Geschäftsleiterstellung 67 abstellen, richten sich Beginn und Ende der Haftung in der KGaA nach der Komplementärstellung. Hierbei kommt es jeweils auf den Zeitpunkt des pflichtwidrigen Verhaltens an; der Zeitpunkt des Schadenseintritts ist unerheblich.176) In der Aktiengesellschaft erfolgt der Beginn der Haftung im Rahmen von § 93 68 Abs. 2 AktG mit der tatsächlichen Übernahme der organschaftlichen Tätigkeit. Weder ein Anstellungsvertrag noch ein wirksamer Bestellungsakt oder die Handelsregistereintragung sind erforderliche Voraussetzung für den Beginn der Vorstandshaftung nach § 93 Abs. 2 AktG.177) In der KGaA, in der das Prinzip der Selbstorganschaft gilt und dementspre- 69 chend die organschaftliche Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis den Gesellschaftern vorbehalten bleiben muss,178) ist dagegen ein wirksamer Bestellungsakt Voraussetzung für die Haftung.179) Die Aufnahme neuer persönlich haftender Gesellschafter nach Entstehung der KGaA und das Ausscheiden von Komplementären ist nach ganz überwiegender Ansicht eine Satzungsänderung, die der Zustimmung aller Komplementäre sowie eines Beschlusses der Kom___________ 174) Vgl. auch MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 9; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 133; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 170 (zur AG). 175) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 25; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 135; vgl. auch BeckOGKAktG/Bachmann, § 278 Rz. 41 (beschränkt geschäftsfähige Komplementäre müssten durch einen Vertreter handeln). 176) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Rothenburg, § 11 Rz. 39. 177) BeckOGK/Fleischer, AktG § 93 Rz. 213; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 349 ff.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 12. 178) Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 46; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 31 f.; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 134. 179) Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 46; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 134.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

manditaktionäre mit einer ¾-Mehrheit des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals bedarf.180) 70 Vollzieht sich der Eintritt eines Gesellschafters auf Grundlage einer entsprechenden Satzungsbestimmung, also einer Regelung, die bestimmten Personen ein Eintrittsrecht gewährt oder die Entscheidung über die Aufnahme von Komplementären Dritten überträgt, stellt dies keine Satzungsänderung dar.181) In diesem Fall ist die Satzung vielmehr nach Eintritt des Komplementärs unrichtig geworden und bedarf dementsprechend einer Fassungsänderung.182) Die Komplementärstellung erlangt der Gesellschafter jedenfalls in Bezug auf die Innenhaftung entgegen § 181 Abs. 3 AktG bereits mit Vornahme der entsprechenden Maßnahme; die Handelsregistereintragung wirkt bei Satzungsänderungen personengesellschaftsrechtlichen Inhalts lediglich deklaratorisch.183) Ist der Komplementär gleichzeitig Gründungsgesellschafter, wird die Aufnahme der Geschäftstätigkeit der KGaA regelmäßig mit der Aufnahme der Geschäftstätigkeit des Komplementärs zusammenfallen, sodass es hier auf diesen Zeitpunkt ankommt.184) 71 Die Innenhaftung endet mit dem Erlöschen der Geschäftsführungsbefugnis, also entweder durch den gerichtlichen Entzug der Geschäftsführungsbefugnis nach §§ 117, 127, 161 Abs. 2 HGB, § 278 Abs. 2 AktG,185) beziehungsweise im Falle einer Satzungsregelung, die das Verfahren zur Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis regelt und die gerichtliche Entscheidung durch einen Beschluss eines Gesellschaftsorgans ersetzt, durch einen entsprechenden satzungsändernden Beschluss eines Gesellschaftsorgans186) oder durch das Ausscheiden aus der KGaA187). Die Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis wird mit Rechtskraft des richterlichen Gestaltungsurteils oder im Falle einer einstweiligen Verfügung nach §§ 940, 938 ZPO mit deren Zustellung wirksam.188) ___________ 180) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 46 (in Bezug auf die Aufnahme neuer Komplementäre); Cahn, AG 2001, 579 (584); Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 315; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 28 f.; a. A. Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 17. 181) Großkomm-AktG/Sethe, § 281 Rz. 9; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 18; MünchKommAktG/Perlitt, § 281 Rz. 15. 182) Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 18. 183) Bachmann, in: Festschrift K. Schmidt, S. 41 (49); BeckOGK-AktG/Bachmann, § 281 Rz. 23; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 281 Rz. 10; Bürgers/Fett/Reger, § 3 Rz. 27, § 5 Rz. 316; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 281 Rz. 13; a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 281 Rz. 5. 184) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 134. 185) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 165 ff. 186) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 178; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 254; vgl. auch KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 97. 187) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 134. 188) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 185.

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C. Organhaftung

(4)

Business Judgement Rule

Gemäß §§ 283 Nr. 3 AktG, 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt eine Pflichtverletzung 72 nicht vor, sofern der Komplementär bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Wenn das handelnde Organmitglied im Rahmen des ihm zugebilligten unternehmerischem Handlungsspielraums gehandelt hat, besteht für die Einhaltung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung (sogenannte „Business Judgement Rule“, Æ § 2 Rz. 25 ff.).189) Der Verweis in § 283 Nr. 3 AktG bezieht sich auf die Business Judgement Rule in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, weshalb diese auch für die Handlungen eines Komplementärs einer KGaA Anwendung findet.190) Trotz der unterschiedlichen gesetzlichen Konzeption der Stellung von Vorstandsmitgliedern in der AG und der Komplementäre einer KGaA und den unterschiedlichen Regelungen zur Geschäftsführungsbefugnis,191) gelten hinsichtlich der Business Judgement Rule gegenüber dem Recht der Aktiengesellschaft keine Besonderheiten (hierzu Æ § 2 Rz. 25 ff.). (5)

Verschulden

Die Ersatzpflicht der geschäftsführenden Komplementäre gemäß §§ 283 Nr. 3, 73 93 Abs. 2 AktG setzt weiterhin voraus, dass diese ihre Pflichten schuldhaft, d. h. vorsätzlich oder fahrlässig verletzt haben. Es kommt darauf an, dass die Komplementäre die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters missachtet haben (hierzu Æ § 1 Rz. 226 ff., § 2 Rz. 57). (6)

Haftungsausschluss

Die Haftung der geschäftsführenden Komplementäre ist nach §§ 283 Nr. 3, 93 74 Abs. 4 Satz 1 AktG ausgeschlossen, wenn die Handlung auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht (hierzu für die AG Æ § 2 Rz. 110 ff.).192) Ein gesetzmäßiger Hauptversammlungsbeschluss erfordert unter anderem die Einberufung einer solchen Hauptversammlung gemäß §§ 278 Abs. 3, 118 Abs. 1 AktG sowie deren Beurkundung nach §§ 278 Abs. 3, 130 Abs. 1 AktG. Die bloße Einwilligung aller Aktionäre ohne förmlichen Beschluss reicht für eine ___________ 189) Vgl. etwa Regierungsbegründung zum UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Koch, § 93 Rz. 33. 190) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 10; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 283 Rz. 4; Grigoleit/Servatius, § 283 Rz. 15. 191) Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung gemäß § 76 Abs. 1 AktG in der AG siehe BeckOGK/Fleischer, AktG § 76 Rz. 71 ff.; zur Einzel- oder Gesamtgeschäftsführungsbefugnis in der KGaA siehe MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 7 ff. 192) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 12; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 93 (mit Einschränkungen); Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 283 Rz. 4; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 140 f.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

Enthaftung nach § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG ebenso wenig aus wie die Billigung oder Weisung eines Mehrheitsaktionärs.193) Der Haftungsausschluss betrifft darüber hinaus nur die Haftung des Komplementärs gegenüber der Gesellschaft. Ansprüche der Gläubiger werden nach § 93 Abs. 5 Satz 3 AktG nicht dadurch aufgehoben, dass die Handlung auf einem Beschluss der Hauptversammlung beruht. (7)

Geltendmachung der Ansprüche gegen die Komplementäre

75 Die KGaA kann im Rechtsverkehr vorbehaltlich abweichender Satzungsbestimmungen grundsätzlich von jedem Komplementär als organschaftlichem Vertreter einzeln vertreten werden, § 278 Abs. 2 AktG, §§ 161 Abs. 2, 125 Abs. 1, 164 HGB, wobei die Vertretungsmacht auch das Recht zur prozessualen und außergerichtlichen Vertretung umfasst. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Gesellschaft gegenüber den Komplementären vertreten werden muss. In diesem Fall ist der Aufsichtsrat nach § 112 AktG zuständig für die Vertretung der Gesellschaft (Æ Rz. 23).194) Darüber hinaus können die Kommanditaktionäre Ansprüche gegen die Komplementäre nach § 283 Nr. 8 AktG auf demselben Wege wie Aktionäre in einer AG gegen den Vorstand einer AG geltend machen, d. h. durch den nach § 287 Abs. 2 AktG (vorbehaltlich abweichender Satzungsbestimmungen) zuständigen Aufsichtsrat als Vertreter der Gesamtheit der Kommanditaktionäre nach Fassung eines Hauptversammlungsbeschlusses mit einfacher Mehrheit, §§ 147, 148 AktG (zur actio pro socio Æ Rz. 10).195) c)

Haftungsfreistellung

76 Eine Freistellung der Komplementäre hinsichtlich der Verbindlichkeiten der KGaA kann gegenüber der Gesellschaft durch vertragliche Regelungen oder durch Satzung vereinbart werden, § 278 Abs. 2 AktG, §§ 161 Abs. 2, 128 Satz 2, 130 Abs. 2 HGB.196) Von der Sorgfaltspflicht und der hieraus folgenden Haftung nach §§ 283 Nr. 3, 93 AktG der Komplementäre kann dagegen aufgrund der eigenverantwortlichen Stellung der Komplementäre als Leitungsorgane nicht abgewichen werden. Gegenüber den für Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft geltenden Grundsätzen (Æ § 2 Rz. 174) gelten insoweit keine Besonderheiten. ___________ 193) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 478, 496. 194) BGH, Urt. v. 29.11.2004 – II ZR 364/02, NZG 2005, 276. 195) Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 30; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 36; MünchHdB GesR VII/Busch/Link, § 32 Rz. 27; Koch, § 283 Rz. 2; Hölters/Weber/MüllerMichaels § 283 Rz. 9; MünchKommAktG/Perlitt, § 283 Rz. 32; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 167. 196) MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 24. Eine derartige Freistellungsvereinbarung sehen u. a. die Satzungen der Merck KGaA (§ 10 Abs. 6 und § 11 Abs. 3 Satz 3 der Satzung) und der Drägerwerk AG &Co. KGaA (§ 14 Abs. 4 der Satzung) vor.

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Illert/de Vries

C. Organhaftung

2.

Außenhaftung

Unabdingbares Charakteristikum der Kommanditgesellschaft auf Aktien ist die 77 persönliche Haftung der Komplementäre für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gegenüber ihren Gläubigern. Diese Außenhaftung nach § 278 Abs. 1, 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 128 ff. HGB umfasst das Rechtsverhältnis der Komplementäre zu Gesellschaftsgläubigern bezüglich der Erfüllung (vertraglicher) Ansprüche und der Ansprüche, die aus der Nichterfüllung (vertraglicher) Ansprüche resultieren. Häufig werden unter den Begriff der „Außenhaftung“ nicht nur die persönliche Haftung der Komplementäre gegenüber Dritten nach § 128 HGB, sondern auch deliktische Ansprüche sowie Ansprüche aus c. i. c. gegen die persönlich haftenden Gesellschafter subsumiert. Für die Ansprüche aus c. i. c. und die deliktischen Ansprüche gelten gegenüber den übrigen Kapitalgesellschaften keine Besonderheiten. a)

Haftungsgrundlage

Für Verbindlichkeiten der KGaA haften die Komplementäre den Gläubigern 78 der KGaA gegenüber persönlich, unbeschränkt, primär, zwingend und unmittelbar, § 278 Abs. 1, 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 128 ff. HGB.197) Sie haften dementsprechend unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit für sämtliche eingegangenen Verbindlichkeiten mit ihrem gesamten Privatvermögen, ohne vorrangige Inanspruchnahme der Gesellschaft oder anderer Komplementäre und ohne Möglichkeit der Haftungsbeschränkung, §§ 278 Abs. 2 AktG, 128 Satz 2 HGB. Der Komplementär kann allerdings die der Gesellschaft zustehenden Einwendungen sowie die ihm persönlich zustehenden Einreden geltend machen, § 278 Abs. 2 AktG, §§ 129, 159, 170 HGB.198) Die persönliche Haftung tritt neben die der KGaA, die anders als die KG juristische Person und dementsprechend selbst Trägerin des Gesellschaftsvermögens ist.199) b)

Inhalt der Haftung

§ 128 HGB gilt grundsätzlich für alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft, un- 79 abhängig von Rechtsgrund und Inhalt der Schuld. Hiervon umfasst sind dementsprechend neben Verbindlichkeiten aus Vertrag, Delikt und Bereicherungsrecht auch öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten wie Steuerschulden.200) Der ___________ 197) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 64; BeckOK AktG/Bachmann, § 278 Rz. 46; KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 278 Rz. 21, 44; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 40; Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 220; Grigoleit/Servatius, § 278 Rz. 15. 198) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 222. 199) LAG München, Urt. v. 26.10.1989, – 9 Sa 1073/88, ZIP 1990, 1219 (1219 f.); GroßkommAktG/Sethe, § 278 Rz. 67; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 20; Koch, § 278 Rz. 10. 200) Hopt/Roth, HGB, § 128 Rz. 2; a. A. bzgl. deliktischer Verbindlichkeiten Altmeppen, NJW 1996, 1017.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

Inhalt der Haftung nach § 128 HGB ist nach wie vor umstritten. Nach der bei der Kommanditgesellschaft vorherrschenden und auch sonst überzeugenden sogenannten Erfüllungstheorie haften die Komplementäre auf Erfüllung der Gesellschaftsschuld, d. h. die Komplementärhaftung ist identisch mit der Haftung der Gesellschaft,201) während die sogenannte Haftungstheorie lediglich ein Einstehen des Gesellschafters verlangt.202) Der Komplementär haftet nach letzterer Ansicht stets nur auf Geldschulden und nicht auf Vornahme der der Gesellschaft obliegenden Verpflichtung.203) Die Abgrenzung wird heutzutage allerdings überwiegend nicht mehr durch Entscheidung des Theorienstreites vorgenommen, sondern durch Auslegung des jeweiligen Vertrags und einer Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Komplementärs an seiner Privatsphäre und dem Gesellschaftsinteresse an der Erhaltung ihrer Kreditwürdigkeit.204) Die bloße Haftung auf einen in Geld zu leistenden Ersatz soll zumindest nach der Rechtsprechung in jedem Fall die Ausnahme vom Grundsatz darstellen, dass die Verpflichtung im Grunde den Gesellschafter ebenso wie die Gesellschaft trifft.205) Eine Erfüllung durch den Komplementär erscheint dann nicht mehr sachgerecht, wenn und soweit die Erbringung durch den Gesellschafter sachlich nicht das gleiche bewirkt wie die Erbringung durch die Gesellschaft selbst.206) Insbesondere die Abgabe einer von der Gesellschaft geschuldeten Willenserklärung kann nur von der Gesellschaft selbst und nicht von den einzelnen Komplementären verlangt werden.207) Auch Unterlassungs- und Duldungspflichten oder die Einhaltung eines Wettbewerbsverbots können nicht inhaltsgleich durch die Gesellschafter erfüllt werden.208)

___________ 201) BGH, Urt. v. 11.12.1978 – II ZR 235/77, NJW 1979, 1361 f.; BGH, Urt. v. 14.2.1957 – II ZR 190/55, NJW 1957, 871 (872); Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 28; MünchKommHGB/ Schmidt/Drescher, § 128 Rz. 25; Westermann/Wertenbruch/Wertenbruch, Band I, § 34 Rz. 903 ff.; vgl. auch den Überblick über die Rechtsprechung bei GesR II/Wiedemann, § 8 III 3 b) cc). 202) Vgl. die Nachweise bei Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 27 ff. (dort Fn. 4078 und 4084). 203) Oetker/Boesche, § 128 Rz. 26; Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 27; MünchKommHGB/Schmidt/ Drescher, § 128 Rz. 25; Henssler/Strohn/Steitz, HGB § 128 Rz. 22. 204) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 224; Hopt/Roth, HGB, § 128 Rz. 9. 205) BGH, Urt. v. 22.3.1988 – X ZR 64/87, NJW 1988, 1976 f.; BGH, Urt. v. 1.4.1987 – VIII ZR 15/86, NJW 1987, 2367 (2369); i. d. S. Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 28 f.; Hopt/ Roth, HGB, § 128 Rz. 9; MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 128 Rz. 25. 206) So MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 128 Rz. 25; a. A. Westermann/Wertenbruch/ Wertenbruch, Band I, § 34 Rz. 903 ff., der an dieser Stelle auf § 275 Abs. 1 BGB (subjektive Unmöglichkeit) abstellt. 207) BGH, Urt. v. 25.1.2008 – V ZR 63/07, NJW 2008, 1378; Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 37; Hopt/Roth, HGB, § 128 Rz. 18; MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 128 Rz. 31. 208) Siehe hierzu MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 128 Rz. 30; a. A. Bürgers/Fett/ Reger, § 5 Rz. 224.

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C. Organhaftung

c)

Innenregress

Mehrere Komplementäre haften im Außenverhältnis grundsätzlich als Gesamt- 80 schuldner.209) Dementsprechend finden im Innenverhältnis zwischen den Komplementären § 426 Abs. 1, 2 BGB Anwendung. Danach sind die Komplementäre untereinander zu gleichen Anteilen verpflichtet, soweit nicht ein anderes bestimmt ist. Von der Haftung nach Kopfteilen gemäß § 426 Abs. 1 BGB kann durch Satzung oder Anstellungsvertrag abgewichen werden. Die Haftungsverteilung richtet sich also nach den in der Satzung niedergelegten Verlustbeteiligungen, oder, enthält die Satzung keine Regelung, gemäß § 121 Abs. 3 HGB nach Köpfen.210) Im Verhältnis des Komplementärs zur Gesellschaft dagegen greift § 426 BGB mangels Gesamtschuld zwischen Gesellschaft und Komplementären nicht ein.211) Regressansprüche der Komplementäre richten sich dementsprechend nach § 110 HGB bzw. nach Ausscheiden des Gesellschafters nach § 670 BGB.212) Die Regressansprüche der Gesellschafter untereinander sind gegenüber dem Anspruch nach § 110 HGB bzw. § 670 BGB aufgrund der gesellschafterlichen Treuepflicht, die zwischen den Gesellschaftern besteht, subsidiär.213) Dieser subsidiäre Anspruch gegen die Mitgesellschafter entsteht bereits ab dem Zeitpunkt, in dem der Gesellschaft keine liquiden Mittel mehr zur Verfügung stehen, und nicht etwa erst dann, wenn feststeht, dass die Zwangsvollstreckung gegen die Gesellschaft aussichtslos wäre.214) ___________ 209) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 67; BeckOGK/Bachmann, AktG § 278 Rz. 46; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 76 Rz. 22. 210) BGH, Urt. v. 2.7.1962 – II ZR 204/60, NJW 1962, 1863; BGH, Urt. v. 15.1.1988 – V ZR 183/86, ZIP 1988, 899 (901); Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 22; GroßkommAktG/Sethe, § 278 Rz. 68; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 162; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 224; vgl. auch KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 44 (Geltung der §§ 421 ff. BGB). 211) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 68; Oetker/Boesche, § 128 Rz. 8; Bürgers/Körber/ Förl/Fett, § 278 Rz. 21; Koch, § 278 Rz. 10; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 44; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 161; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 224; Hopt/Roth, HGB, § 128 Rz. 19. 212) Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 21; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 68; Koch, § 278 Rz. 10 (im Fall eines ausgeschiedenen Komplementärs sei zudem § 426 Abs. 2 BGB anwendbar); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 44 (die neben einem Anspruch des bereits ausgeschiedenen Komplementärs aus § 670 BGB auch einen Anspruch aus § 426 BGB annehmen); MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 161 (im Fall eines ausgeschiedenen Komplementärs sei zudem § 426 Abs. 2 BGB anwendbar); Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 226. 213) BGH, Urt. v. 15.1.1988 – V ZR 183/86, ZIP 1988, 899 (901); BGH, Urt. v. 2.7.1962 – II ZR 204/60, NJW 1962, 1863 f.; Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 49; MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 162; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 226; Hopt/Roth, HGB, § 128 Rz. 27; ausdrücklich die Subsidiarität aus der gesellschafterlichen Treuepflicht herleitend MünchHdb. GesR I/Herchen, § 69 Rz. 9; Henssler/Strohn/Steitz, HGB § 128 Rz. 34. Davon zu unterscheiden ist die Inanspruchnahme von Mitgesellschaftern hinsichtlich Drittgläubigerforderungen, deren Subsidiarität die Rechtsprechung verneint, siehe BGH, Urt. v. 8.10.2013 – II ZR 310/12, ZIP 2013, 2306 (2308). 214) BGH Urt. v. 2.7.1979 – II ZR 132/78, NJW 1980, 339 (340); Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 68; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 226.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

d)

Beginn und Ende der Haftung

81 Die Haftung des Komplementärs umfasst auch die vor seinem Eintritt in die KGaA entstandenen Verbindlichkeiten der Gesellschaft, § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 130 HGB. Für die Nachhaftung regeln die § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 160 Abs. 1 Satz 1 HGB, dass Komplementäre für die bis zu ihrem Ausscheiden begründeten Verbindlichkeiten nachhaften, wenn sie vor Ablauf von fünf Jahren fällig werden. Die Nachhaftung für bis dahin begründete Verbindlichkeiten (vgl. § 160 Abs. 1 HGB) umfasst ggfs. sowohl deliktische Ansprüche als auch Dauerschuldverhältnisse, da diese mit dem Vertragsschluss bereits als entstanden gelten können.215) Die teilweise vertretene teleologische Reduktion216) der Nachhaftung des Komplementärs für Gesellschaftsverbindlichkeiten nach dem Ausscheiden aus der KGaA aufgrund des weiterhin möglichen Zugriffs der Gläubiger auf das Gesellschaftsvermögen als Haftungsmasse konnte sich bislang nicht durchsetzen.217) Da eine fünfjährige Nachhaftung des Komplementärs in §§ 237, 249 und 224 UmwG nunmehr ausdrücklich angeordnet wird, kann für den Fall des Ausscheidens des Komplementärs auf andere Weise als nach dem UmwG nichts anderes gelten.218) e)

Haftungsfreistellung

82 Der persönlichen Haftung gegenüber Dritten kann durch eine schuldrechtliche Freistellungsvereinbarung begegnet werden, die zwar Dritten nicht entgegengehalten werden kann, aber im Innenverhältnis gegenüber den übrigen Komplementären und der Gesellschaft wirkt.219) Aufgrund des personengesellschaftsrechtlichen Verhältnisses der Komplementäre untereinander kann eine derartige Freistellungsvereinbarung durch entsprechende Regelung individualvertraglich oder in der Satzung festgehalten werden.220) Im Falle einer Inanspruchnahme des Komplementärs durch einen Gesellschaftsgläubiger nach § 128 HGB bewirkt eine solche Freistellungsvereinbarung, dass bei erfolgloser Inanspruchnahme der Gesellschaft der freigestellte Komplementär im Innenverhältnis von seiner anteiligen Verlustbeteiligung befreit ist. Die Freistellungs___________ 215) BGH, Urt. v. 29.4.2002 – II ZR 330/00, NJW 2002, 2170, 2171 – bzgl. Dauerschuldverhältnisse; Hopt/Roth, HGB, § 160 Rz. 2; MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 160 Rz. 23; BeckOK HGB/Klimke, § 160 Rz. 6; Habersack/Schäfer, § 160 Rz. 10; Ebenroth/ Boujong/Joost/Strohn/Hillmann, HGB, § 160 Rz. 7. 216) Wiesner, ZHR 148 (1984), 56, 68 ff. 217) Der teleologischen Reduktion stehen ablehnend gegenüber Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 67; Kallmeyer, DStR 1994, 977 (979); MünchKommAktG/Semler/Perlitt, § 278 Rz. 164. 218) So auch Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 67; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 23. 219) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 69; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 24; KKAktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 40. 220) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 69; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 231.

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Illert/de Vries

C. Organhaftung

vereinbarung bewirkt daher auch, dass sich die anteilige Haftung der übrigen Komplementäre dementsprechend erhöht.221) Zwischen den Komplementären und der Gesellschaft ist ebenfalls eine vertrag- 83 liche Haftungsfreistellung möglich, durch die die Gesellschaft die Komplementäre im Innenverhältnis von der Haftung freistellt.222) Hiervon ausgeschlossen sind jedoch etwaige Organhaftungsansprüche der Gesellschaft nach §§ 283 Nr. 3, 93 Abs. 2 AktG, da diese als zwingendes Recht nicht individualvertraglich oder durch eine Satzungsregelung ausgeschlossen werden können.223) Eine in der Satzung festgehaltene Haftungsfreistellung der Komplementäre ge- 84 genüber Dritten, bei der die Kommanditaktionäre die Freistellung übernehmen, ist dagegen nicht möglich, da dies eine aktienrechtlich unzulässige Nachschusspflicht der Kommanditaktionäre bewirken würde.224) Möglich ist ein individualvertraglich mit dem Vertragspartner vereinbarter Haftungsausschluss,225) etwa durch Beschränkung der Haftung der Gesellschafter auf den ihrer Beteiligungsquote entsprechenden Teil der Gesellschaftsschuld,226) oder einer Beschränkung der Haftung der Komplementäre für bestimmte Darlehensverbindlichkeiten der Gesellschaft im jeweiligen Darlehensvertrag.227) 3.

Haftung der Kommanditaktionäre

Die einzelnen Kommanditaktionäre sind im Gegensatz zur Hauptversammlung 85 zwar kein Organ der KGaA, jedoch soll der Vollständigkeit halber im Folgenden dargestellt werden, inwieweit für die Kommanditaktionäre in der KGaA im Innenverhältnis und gegenüber Dritten im Einzelfall eine Haftung in Betracht kommt. Die Stellung als Kommanditaktionär kann bei der Gründung durch Übernahme von Aktien gemäß § 280 AktG, nach Entstehung der Gesellschaft durch Übertragung von Aktien durch einen anderen Aktionär oder durch Übernahme von Aktien bei einer Kapitalerhöhung begründet werden.228) Auch die Komplementäre können Kommanditaktionäre werden (hierzu bereits oben Æ Rz. 8).229) Im Vergleich zu den Aktionären einer Aktiengesellschaft haben die ___________ 221) 222) 223) 224) 225)

226) 227) 228) 229)

Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 231. Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 69; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 24. Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 233. Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 69; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 231. Henssler/Strohn/Steitz, HGB § 128 Rz. 13; Hopt/Roth, HGB, § 128 Rz. 38; MünchKommHGB/Schmidt/Drescher, § 128 Rz. 38; BeckOK HGB/Klimke, § 128 Rz. 33; Habersack/Schäfer, § 128 Rz. 16. BGH, Urt. v. 27.11.2012 – XI ZR 144/11, NJW 2013, 1089 (Leitsatz 1); BGH, Urt. v. 8.2.2011 – II ZR 263/09, NJW 2011, 2040 (Leitsatz 1). OLG Köln, Urt. v. 25.2.2015 – 13 U 96/13, I-13 U 96/13 – juris (Leitsätze 1 und 2). MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 57; Münch-KommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 98 – bzgl. Übernahme gemäß § 280 AktG und rechtsgeschäftlichem Erwerb unter Aktionären. Vgl. auch MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 57.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

Kommanditaktionäre der KGaA zum Teil weitergehende Befugnisse, ihnen obliegen beispielsweise die Beschlussfassung über die Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 AktG und die Zustimmung zu außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen gemäß § 278 Abs. 2 i. V. m. § 285 Abs. 2 Satz 1 AktG, §§ 164 Satz 1 Halbs. 2, 116 Abs. 2 HGB.230) Teilweise haben die Kommanditaktionäre aber auch geringeren Einfluss, ihnen fehlt etwa die mittelbare Personalkompetenz für die Geschäftsleitung.231) Die Stellung der Kommanditaktionäre als Gesamtheit gegenüber den persönlich haftenden Gesellschaftern bestimmt sich nach dem Recht der Kommanditgesellschaft, § 278 Abs. 2 AktG. Im Übrigen gelten die aktienrechtlichen Vorschriften, § 278 Abs. 3 AktG, sodass die Rechte und Pflichten der Kommanditaktionäre im Wesentlichen denjenigen der Aktionäre einer Aktiengesellschaft entsprechen.232) a)

Innenhaftung

86 Im Verhältnis zur KGaA können sich gegen die Kommanditaktionäre Ansprüche aus der Gründung, Ansprüche auf Leistung der Einlage, Ansprüche aus §§ 117 ff. AktG, Ansprüche wegen einer verbotenen Einlagenrückgewähr nach §§ 57, 62 AktG und sonstige Ansprüche wegen Schädigung der Gesellschaft ergeben.233) Gegebenenfalls kommt auch eine Haftung nach den Grundsätzen der Durchgriffshaftung in Betracht.234) Die Haftung aufgrund von Pflichtverletzungen kann sich z. B. aus Treuepflichtverletzungen oder im Einzelfall trotz der Geltung von § 165 HGB aus der Verletzung von Wettbewerbsverboten ergeben.235) Ferner wird die Ansicht vertreten, dass es darüber hinaus bei der Verletzung von Mitteilungspflichten zu Haftungsfällen kommen kann, wenn eine Verletzung von aktienrechtlichen Treuepflichten des Meldepflichtigen vorliege.236)

___________ 230) Manz/Mayer/Schröder/Mayer, Rz. 155; Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 98; Koch, § 278 Rz. 12 f.; Münch-KommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 177 – bzgl. außergewöhnliche Geschäftsmaßnahmen; Grigoleit/Servatius, § 278 Rz. 8 – bzgl. außergewöhnliche Geschäftsmaßnahmen. 231) Manz/Mayer/Schröder/Mayer, Rz. 155. 232) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 35; Kessler, NZG 2005, 145 (147); KK-AktG/ Mertens/Cahn, § 278 Rz. 45. 233) MünchHdB GesR VII/Busch/Link, § 32 Rz. 50. 234) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 36; Grigoleit/Servatius, § 278 Rz. 15; Schmidt/ Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 6; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 278 Rz. 19. 235) Zur Reichweite der Treuepflicht BGH, Urt. v. 2.7.2007 – II ZR 181/06, NZG 2007, 860 (zur KG); BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 36 (in Bezug auf die Treuepflicht); Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 370 f. 236) Assmann/Schneider/Mülbert/Schneider, § 44 Rz. 104; zu den Mitteilungspflichten der Kommanditaktionäre allgemein siehe Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 372.

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C. Organhaftung

b)

Außenhaftung

Im Verhältnis zu Dritten gelten nach § 278 Abs. 3 AktG allein die aktienrecht- 87 lichen Vorschriften, was eine Haftung nach den §§ 171 ff. HGB ausschließt. Im Unterschied zu den Kommanditisten besteht daher keine Haftung für die Verbindlichkeiten der Kommanditgesellschaft.237) Durch die Leistung ihrer Einlage bringen die Kommanditaktionäre das in Aktien zerlegte Grundkapital auf, was eine darüber hinausgehende Haftung ausschließt (§§ 278 Abs. 3, 54 AktG).238) Aber auch die Leistung und der Verbleib der Einlage sind für eine Außenhaftung irrelevant,239) sodass auch bei nicht bzw. unvollständig erbrachter Einlage keine persönliche Haftung des Kommanditaktionärs besteht.240) II.

Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats

Die Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats in der KGaA entspricht im We- 88 sentlichen der Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats in der AG, worauf an dieser Stelle weitestgehend verwiesen wird. Dennoch gelten in der KGaA einige Besonderheiten, die im Folgenden dargestellt werden. 1.

Innenhaftung

Für die Mitglieder des Aufsichtsrats der Kommanditgesellschaft auf Aktien gelten 89 die Organhaftungstatbestände wie für einen Aufsichtsrat in einer Aktiengesellschaft sinngemäß, soweit sich aus den §§ 279 ff. AktG oder dem Fehlen eines Vorstands nichts anderes ergibt, § 278 Abs. 3 AktG. Neben § 117 Abs. 2 AktG241) sind daher insbesondere die §§ 116, 93 Abs. 2 AktG anwendbar. a)

Verletzung der Überwachungspflichten

Zu den Pflichten des Aufsichtsrats gehört nach §§ 278 Abs. 3, 111 Abs. 1 AktG 90 in erster Linie die Überwachung der Geschäftsführung. Der Gegenstand der Überwachung unterscheidet sich trotz der beschränkten Einwirkungsbefugnisse nicht von dem des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft. Zwar hat der Aufsichtsrat der KGaA nicht die Kompetenz, eigenständig Zustimmungserfordernisse nach § 111 Abs. 4 AktG einzurichten oder Komplementäre abzuberufen. ___________ 237) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 35; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 96; Koch, § 278 Rz. 4; Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 278 Rz. 7; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 6; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 48; Heidel/Wichert, § 278 Rz. 18. 238) Manz/Mayer/Schröder/Mayer, Rz. 151; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 96; Koch, § 278 Rz. 4. 239) Peus, S. 41; Koch, § 278 Rz. 4. 240) Beck’sches Handbuch der AG/Maul, § 4 Rz. 206; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 96; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 427. 241) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 30; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 12; Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 64; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 27.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

Aus den beschränkten Einwirkungsmöglichkeiten folgt allerdings kein Rechtfertigungsgrund oder ein Haftungsausschluss, da sich der Aufsichtsrat nicht damit exkulpieren kann, er habe die persönlich haftenden Gesellschafter nicht zu einem anderen Verhalten zwingen können.242) Vom Prüfungsumfang umfasst sind dementsprechend wie in der Aktiengesellschaft nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Ordnungsgemäßheit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen der Geschäftsleitung.243) Soweit der Aufsichtsrat Bedenken hinsichtlich einer Maßnahme der persönlich haftenden Gesellschafter hat, kann er diese den Komplementären mitteilen, die Hauptversammlung informieren und als letztes Mittel seinen eigenen Rücktritt erklären, wenn er eine Maßnahme nicht mittragen kann.244) Nach herrschender Auffassung ist der Aufsichtsrat einer Kommanditgesellschaft auf Aktien weiter verpflichtet, eine Hauptversammlung einzuberufen, wenn er mit seinen Bedenken nicht durchdringt, und zwar auch dann, wenn das Zustimmungsrecht der Hauptversammlung bei außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen (§ 278 Abs. 2 AktG i. V. m. § 164 Satz 1 Halbs. 2 HGB) abbedungen ist.245) Für die Kommanditaktionäre ist die Information auch dann wichtig, wenn kein Zustimmungsrecht der Hauptversammlung besteht.246) In dieser Hauptversammlung hat der Aufsichtsrat der Hauptversammlung seine Bedenken vorzutragen und rechtlich angebrachte Maßnahmen, wie die Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis persönlich haftender Gesellschafter nach § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 117, 140 HGB oder die Ausschließung persönlich haftender Gesellschafter nach § 289 Abs. 5 AktG anzuregen.247) Darüber hinaus wird vertreten, dass Aufsichtsratsmitglieder – wie auch in der Aktiengesellschaft – in Extremfällen nach Ausschöpfung aller angemessenen gesellschaftsinternen Einwirkungs___________ 242) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 30; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 45 ff. („keine Flucht aus der Verantwortung“). 243) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991, 653 (654); Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 8; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 493; Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 20 f.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 39; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 10; GroßKomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 Rz. 306; Koch, § 111 Rz. 29; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 14; Wagner/Spemann, NZG 2015, 945 (946); BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 16; a. A. Kallmeyer, ZGR 1983, 57 (70 ff.). 244) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 43 (in Bezug auf die Einberufung und Information der Hauptversammlung); Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 552; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 68; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 46. 245) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 42; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 14; KKAktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 15; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 46; a. A. Bürgers/ Fett/Bürgers, § 5 Rz. 552 und MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 75 (die den Aufsichtsrat nur dann zur Einberufung einer Hauptversammlung für verpflichtet halten, wenn das Zustimmungsrecht der Hauptversammlung bei außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen nicht abbedungen ist). 246) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 42; a. A. Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 495. 247) MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 46; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 68.

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C. Organhaftung

möglichkeiten auch gehalten sind, die Öffentlichkeit oder Behörden zu informieren, wenn nur so schwerer Schaden von der Gesellschaft abgewendet werden kann.248) Im Falle einer KGaA, die behördlicher Aufsicht unterliegt, kann dem im Hinblick auf die Information der Behörde in Einzelfällen zuzustimmen sein. Bei rechtswidrigem Handeln der Geschäftsleitung ist es als ultima ratio nach Ausschöpfung aller internen Möglichkeiten zumutbar, dass sich das Aufsichtsratsmitglied an die Aufsichtsbehörde wendet.249) Eine darüber hinausgehende Pflicht zur Information der Öffentlichkeit scheidet nach hier vertretener Auffassung aus. b)

Verletzung der Ausführungs- und Vertretungspflichten

Über den Pflichtenkreis des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft hinaus führt 91 der Aufsichtsrat der Kommanditgesellschaft auf Aktien die Beschlüsse der Kommanditaktionäre aus, wenn die Satzung dies nicht anders bestimmt, § 287 Abs. 1 AktG. Diese Zuständigkeitsregelung gilt für alle Beschlüsse der Hauptversammlung, durch die diese die Rechte der Gesamtheit der Kommanditaktionäre geltend macht, die nach Personengesellschaftsrecht den Kommanditisten im Verhältnis zu den Komplementären zustehen.250) Hierzu gehören insbesondere die Auskunftsrechte nach § 166 HGB, die Zustimmung zur Aufnahme neuer Komplementäre, die Zustimmung zu außergewöhnlichen Geschäften, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Zustimmung nach § 285 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 286 Abs. 1 AktG, die Auflösungsklage, die Klage auf Zustimmung zum Jahresabschluss und die Klage auf Erbringung einer Vermögenseinlage.251) Da der Aufsichtsrat in diesen Fällen die Rechte der Kommanditaktionäre wahrnimmt, wird von der Literatur zum Teil vertreten, dass er sich dann bei Ausführung der Beschlüsse der Kommanditaktionäre auch an deren Interessen – und nicht dem Gesellschaftsinteresse – zu orientieren habe.252) Da die Kommanditaktionäre bei Ausübung ihrer Mitgliedschaftsrechte den gesellschafterlichen Treuepflichten unterliegen, können sich aus den Treuepflichten Schran___________ 248) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 33 (für die Aktiengesellschaft); KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 116 Rz. 17; weitergehend sogar Säcker, NJW 1986, 803 (804 f.). 249) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 20; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 116 Rz. 17. 250) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 49, 31; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 58; KKAktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 2, 18. 251) Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 287 Rz. 5; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 58; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 33. 252) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 51 (unter Hinweis darauf, dass der Aufsichtsrat bei Ausführung der Beschlüsse – anders als bei der Vertretung nach § 287 Abs. 2 AktG – eigennützige Rechte dieser Gesellschaftergruppe wahrnimmt); BeckOGK/Bachmann, AktG § 287 Rz. 34; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 60; Schlitt, S. 176; a. A. MünchHdb GesR IV/Herfs, § 79 Rz. 75; vgl. auch KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 19 (misst der Frage, welche Interessen der Aufsichtsrat zu berücksichtigen hat, an dieser Stelle keine praktische Relevanz bei).

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

ken ergeben, wenn das Unternehmensinteresse und die Interessen der Kommanditaktionäre auseinanderfallen.253) 92 Darüber hinaus vertritt der Aufsichtsrat der Kommanditgesellschaft auf Aktien die Gesellschaft nach § 112 AktG und die Gesamtheit der Kommanditaktionäre gegenüber den Komplementären, § 287 Abs. 2 AktG.254) Bei der Vertretung nach § 112 AktG hat der Aufsichtsrat ebenso wie in der Aktiengesellschaft sein Handeln vorrangig am Unternehmensinteresse auszurichten. Dies gilt auch bei der Vertretung der Gesamtheit der Kommanditaktionäre.255) Der damit einhergehende Interessenkonflikt, sofern die Interessen der Gesellschaft und der Kommanditaktionäre nicht gleichgerichtet sind, kann mit den bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten gelöst werden.256) 93 Sowohl bei Wahrnehmung der Ausführungs- als auch der Vertretungskompetenz haftet der Aufsichtsrat gegenüber der Gesellschaft und nicht etwa gegenüber der Gesamtheit der Kommanditaktionäre gemäß §§ 116, 93, 278 Abs. 3 AktG.257) c)

Sorgfaltsmaßstab

94 Über die Verweisungsnorm von § 278 Abs. 3 AktG gilt der Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 AktG, wonach die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds anzuwenden ist. Dieser Pflichtenmaßstab gilt ebenso wie in der Aktiengesellschaft auch für die Arbeitnehmervertreter.258) Die Verschuldensvermutung gilt auch zu Lasten der Aufsichtsratsmitglieder der Kommanditgesellschaft auf Aktien, §§ 278 Abs. 3, 116, 93 Abs. 2 AktG.259) Der abgemilderte Haftungsmaßstab des § 708 BGB findet hingegen keine Anwendung (Æ Rz. 59). Auch wenn durch die Satzung die Kompetenzen des Aufsichtsrats erweitert werden und dem Aufsichtsrat zusätzliche Befugnisse nach ___________ 253) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 52; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 61; a. A. KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 19. 254) Grundlegend BGH, Urt. v. 29.11.2004 – II ZR 364/02, NZG 2005, 276; siehe ferner Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 68 (in Bezug auf die Vertretung nach § 112 AktG); MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 65; vgl. auch Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 503 ff. (der seine ursprüngliche Auffassung, die Anwendbarkeit von § 112 AktG auf die KGaA zu verneinen, im Anschluss an die Rechtsprechung des BGH relativiert hat, Rz. 505). 255) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 67; a. A. MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 78; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 20 (verweist allerdings in Fn. 63 darauf, es bleibe eine Wahrnehmung „der in der Gesellschaft kumulierten Interessen“). 256) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 66 (weist auf die Möglichkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters hin). 257) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 66; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 30; KKAktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 27; MünchKommAktG/Perlitt, § 287 Rz. 63, 79; a. A. noch MünchKommAktG/Semler/Perlitt, § 287 Rz. 79. 258) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 551; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers/Fischer AktG § 116 Rz. 2 (m. w. N.). 259) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 556; Lutter/Krieger/Verse, § 13 Rz. 982.

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C. Organhaftung

§ 278 Abs. 2 AktG eingeräumt werden, findet auf die Ausführung der Überwachung stets das zwingende aktienrechtliche Haftungsregime Anwendung.260) d)

Business Judgement Rule

Über § 278 Abs. 3 i. V. m. §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG gilt die Busi- 95 ness Judgement Rule für den Aufsichtsrat der KGaA ebenso wie für den Aufsichtsrat der AG (Æ § 3 Rz. 284). Auch der Aufsichtsrat der KGaA handelt daher nicht pflichtwidrig, wenn er bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise auf der Grundlage angemessener Informationen und zum Wohle der Gesellschaft handelt. Gegenüber dem Recht der Aktiengesellschaft ergeben sich insoweit keine Besonderheiten. e)

Haftungsausschluss

Die Haftungsbeschränkung des § 93 Abs. 4 AktG ist grundsätzlich auch auf 96 den Aufsichtsrat der Kommanditgesellschaft auf Aktien anwendbar, §§ 116, 278 Abs. 3 AktG. Danach tritt eine Haftung des Aufsichtsrats nicht ein, wenn die schädigende Handlung auf einem rechtmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht.261) Da die Haftungserleichterung wie in der Aktiengesellschaft allerdings nur eintritt, soweit eine Bindung an den Hauptversammlungsbeschluss eingreift und die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats auch bei der Durchführung von Hauptversammlungsbeschlüssen gelten, wird eine Haftungsbefreiung in der Praxis aber selten in Betracht kommen (Æ § 4 Rz. 28 ff.). 2.

Außenhaftung

Hinsichtlich der Haftung der Aufsichtsratsmitglieder der Kommanditgesell- 97 schaft auf Aktien gegenüber Dritten ergeben sich gegenüber der Haftung des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft keine Besonderheiten (Æ § 4 Rz. 40 ff.). Eine Haftung kommt insbesondere nach den §§ 823 ff. BGB, c. i. c. und einigen wenigen Spezialvorschriften wie etwa §§ 117, 317 AktG in Betracht.262) III.

Die kapitalistische KGaA – am Beispiel der GmbH & Co. KGaA

In der kapitalistischen oder auch atypischen Kommanditgesellschaft auf Ak- 98 tien sind der oder die Komplementäre keine natürlichen Personen.263) Obgleich ___________ 260) Großkomm-AktG/Sethe, § 287 Rz. 53 (bzgl. der Ausführungskompetenz) BeckOGKAktG/Bachmann, § 287 Rz. 30; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 287 Rz. 27; MünchKommAktG/ Perlitt, § 287 Rz. 57; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 287 Rz. 12. 261) BeckOGK-AktG/Bachmann, § 287 Rz. 30; Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 557. 262) Bürgers/Fett/Bürgers, § 5 Rz. 558. 263) Zur Begrifflichkeit siehe ausführlich Großkomm-AktG/Sethe, Vor § 278 Rz. 138; Dirksen/ Möhrle, ZIP 1998, 1377 ff.; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 650 ff.; MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 275 ff.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

die Kommanditgesellschaft auf Aktien im vom Gesetzgeber vorgesehenen Regelfall eine natürliche Person als Komplementär hat, hat der BGH die Zulässigkeit der GmbH & Co. KGaA mit einer vielbeachteten Entscheidung vom 24.2.1997264) ausdrücklich anerkannt, nachdem das OLG Hamburg zuvor bereits die Zulässigkeit der GmbH & Co. KG265) bejaht hatte. Auch wenn sich die Entscheidung des BGH ausdrücklich nur auf die Rechtsform der GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin bezieht, dürften sich die Grundlagen der Entscheidung auf alle Handelsgesellschaften, Stiftungen und Genossenschaften beziehen.266) Neben der GmbH kommen dementsprechend als persönlich haftende Gesellschafter die AG, SE, Personengesellschaften, BGB-Außengesellschaft, die Unternehmergesellschaft, der nicht eingetragene und der eingetragene Verein, die Genossenschaft, Stiftungen, juristische Personen des öffentlichen Rechts, Partnergesellschaften, Partnerreedereien und VVaGs in Betracht, nicht dagegen die stille Gesellschaft (Arg.: reine Innengesellschaft), Wohnungseigentümergemeinschaften, die Bruchteilsgemeinschaft, die eheliche Gütergemeinschaft und die Erbengemeinschaft.267) Die Vorgabe des BGH, dass „das Fehlen einer natürlichen Person in der Eigenschaft des Komplementärs in der Form der Gesellschaft kenntlich gemacht wird“268), wurde mit Neufassung des § 279 AktG durch das KonTraG269) umgesetzt. § 279 Abs. 2 AktG sieht nunmehr vor, dass die Firma der KGaA, wenn sie keine natürliche Person als Komplementär hat, eine Bezeichnung enthalten muss, welche die Haftungsbeschränkung kennzeichnet. Im Folgenden wird am Beispiel der GmbH & Co. KGaA das Haftungsregime bei der kapitalistischen Kommanditgesellschaft auf Aktien dargestellt, das in seinen Grundzügen auch auf andere kapitalistische Ausgestaltungen der KGaA übertragbar ist. 1.

Haftung der Komplementär-GmbH

99 Auch in der atypischen Kommanditgesellschaft auf Aktien haften die Komplementäre gegenüber der Gesellschaft nach §§ 283 Nr. 3, 93 AktG.270) Dass eine juristische Person Komplementär und damit Haftungsadressat des Organ___________ 264) BGH, Beschl. v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, ZIP 1997, 1027 (Leitsatz a)). 265) OLG Hamburg, Beschl. v. 5.12.1968 – 2 W 34/68, NJW 1969, 1030 ff. 266) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 40; Hennerkes/Lorz, DB 1997, 1388 (1393); MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 277. 267) Vgl. Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 40, 42 (m. w. N.); Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 8 ff.; Kölling, S. 31 f. (m. w. N. zu den einzelnen Gesellschaftsformen); MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 37 f. 268) BGH, Beschl. v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, ZIP 1997, 1027 (Leitsatz b)). 269) Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich v. 27.4.1998, BGBl I 1998, 786. Vgl. hierzu Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 278 Rz. 6; Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 7. 270) BGH, Beschl. v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, ZIP 1997, 1027 (1028 f.); MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 317; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 113.

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C. Organhaftung

haftungsanspruchs ist, rechtfertigt keine andere Behandlung.271) Gleiches gilt für die übrigen Haftungstatbestände nach personengesellschaftsrechtlichen und aktienrechtlichen Vorschriften sowie für die Haftung gegenüber Dritten nach §§ 278 Abs. 2 AktG, 161 Abs. 2, 128 HGB. Die juristische Person haftet mit ihrem Gesellschaftsvermögen nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen. Ein Durchgriff auf das Vermögen der Gesellschafter kommt nur in Einzelfällen, wie der Fallgruppe der Vermögensvermischung, in Betracht.272) 2.

Haftung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH

Nach dem gesetzlichen Leitbild der Gesellschaft mit beschränkter Haftung 100 haftet der Geschäftsführer für Pflichtverletzungen anlässlich seiner Tätigkeit als Geschäftsleitungsorgan nur gegenüber der Komplementär-GmbH selbst, da er nur mit dieser einen Anstellungsvertrag und ein Organverhältnis eingeht. Nach neuerer Rechtsprechung kommt allerdings auch eine Haftung gegenüber der KGaA in Betracht (Æ Rz. 102). a)

Haftung gegenüber der Komplementär-GmbH

Im Falle der Komplementär-GmbH ist ebenso wie in der Komplementär- 101 Aktiengesellschaft weitgehend unumstritten, dass die Leitungsorgane gegenüber der Komplementärgesellschaft nach den Vorschriften haften, die für die jeweilige Rechtsform gelten.273) Da sich der Sorgfaltsmaßstab des § 43 Abs. 2 GmbHG nicht wesentlich von dem des § 93 Abs. 2 AktG unterscheidet, ergeben sich im Falle einer Komplementär-GmbH keine wesentlichen Unterschiede zur Haftung der Komplementär-GmbH gegenüber der KGaA.274) b)

Haftung gegenüber der KGaA

Besteht die alleinige Aufgabe der Komplementär-GmbH darin, die Geschäfte 102 der KGaA zu führen, wird eine Sorgfaltspflichtverletzung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH im Regelfall nur zu Schäden auf Ebene der KGaA ___________ 271) BGH, Beschl. v. 24.2.1997 – II ZB 11/96, ZIP 1997, 1027 (1028 f.); MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 316; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 153. 272) Großkomm-AktG/Sethe, § 278 Rz. 66; zur Durchgriffshaftung allgemein siehe BeckOK GmbHG/Wilhelmi, § 13 Rz. 137 ff. 273) MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 317; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 153. 274) Soweit die Komplementärin der KGaA eine OHG oder KG ist, wird teilweise vertreten, dass in Abweichung von den Haftungsvorschriften des bürgerlichen Rechts, insbesondere § 708 BGB, ebenfalls der Haftungsmaßstab des § 93 AktG geltend soll, etwa von Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 18; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 317. Vor dem Hintergrund der persönlichen unbeschränkten Haftung der Gesellschafter in KG und OHG nach § 128 HGB für den Anspruch der KGaA aus §§ 283 Nr. 3, 93 AktG dürfte ein milderer Haftungsmaßstab innerhalb der Komplementärgesellschaft allerdings von geringer praktischer Bedeutung sein, so auch Hauschka/Moosmayer/Lösler/Liese, § 7 Rz. 177.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

führen. Da diese mangels direkter vertraglicher oder organschaftlicher Verbindung in der Regel keine anderweitigen Ansprüche gegen den Geschäftsführer geltend machen kann, wird in der Literatur auf verschiedenen Wegen ein Direktanspruch der KGaA gegen die Geschäftsführung der KomplementärGmbH begründet: Von Teilen der Literatur wird eine analoge Anwendung von § 93 Abs. 2 AktG im Verhältnis zwischen KGaA und Geschäftsführer vertreten, z. T. auch eine analoge Anwendung von § 43 Abs. 2 GmbHG im Verhältnis zwischen KGaA und Geschäftsführer.275) Von der herrschenden Meinung wird allerdings zu Recht entsprechend der Rechtsprechung zur KG276) vertreten, dass sich der Schutzbereich des Organ- und Anstellungsverhältnisses im Falle einer sorgfaltswidrigen Geschäftsführung auf die KGaA erstreckt, wenn die alleinige oder wesentliche Aufgabe der Komplementär-GmbH in der Führung der Geschäfte der Kommanditgesellschaft auf Aktien besteht.277) Im Verhältnis zur KG wird die Schutzbedürftigkeit der KG damit begründet, dass diese auf die Sorgfalt und die Gewissenhaftigkeit des Geschäftsleiters angewiesen ist und sie und die Kommanditisten keine Befugnisse haben, unmittelbar auf diesen einzuwirken. Auch habe die Komplementär-GmbH ein Interesse daran, dass ihr Geschäftsführer den Angelegenheiten der KG die gleiche Sorgfalt widmet wie ihren eigenen. Dies soll die Erstreckung des Schutzbereiches des Organund Anstellungsverhältnisses auf die KG rechtfertigen.278) Überträgt man diese Grundsätze auf die KGaA, haftet der Geschäftsführer der KomplementärGmbH gegenüber dieser nach § 43 Abs. 2 GmbHG und gegenüber der KGaA nach § 43 Abs. 2 GmbHG i. V. m. den Grundsätzen zum Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. Nach anderer Ansicht soll dagegen der Anspruch der KGaA gegen die Komplementärgesellschaft aus §§ 283 Nr. 3, 93 Abs. 2 AktG auf den Geschäftsführer der Komplementärgesellschaft „ausgedehnt“ werden.279) Vorteil hieran ist, dass der Geschäftsleiter unabhängig von der Rechtsform der ___________ 275) Henssler/Strohn/Arnold, AktG § 283 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 13 (befürwortet eine Anwendung von §§ 283 Nr. 3, 93 Abs. 2 AktG); MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 318; Schmidt, in: Festschrift Priester, 691 (704) (für eine Anwendung von § 283 Nr. 3, 93 AktG, sog. „Integrationsmodell“); ablehnend Krebs, S. 336 f. (der zu Recht einwendet, dass ein Direktanspruch im Wege einer Analogie die Trennung der beiden Gesellschaften aufheben würde oder zu einer Doppelorganstellung führen würde). 276) St. Rspr., zuletzt BGH, Urt. v. 22.9.2020 – II ZR 141/19, ZIP 2020, 2117 (2118) (m. w. N.). 277) Vgl. auch Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 19; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 318; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 160; grundlegend zum Haftungsdurchgriff in der KG: K. Schmidt, in: Festschrift Wiedemann, S. 1199 ff. 278) BGH, Urt. v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, ZIP 2013, 1712 (1714). 279) In diese Richtung gehend Großkomm-AktG/Sethe, § 283 Rz. 18 (Nicht anders als die Komplementärgesellschaft unterlägen auch die für diese handelnden Organe dem für die Komplementärgesellschaft geltenden Sorgfaltsmaßstab, was für den Vorstand einer Aktiengesellschaft aus § 93 Abs. 1 AktG bzw. für den Geschäftsführer einer GmbH aus § 43 Abs. 1 GmbHG folge).

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C. Organhaftung

Komplementärgesellschaft einheitlich nach § 93 Abs. 2 AktG gegenüber der KGaA haftet. Die Ausdehnung des aktienrechtlichen Organhaftungsanspruchs in eine andere Gesellschaftsform vermag allerdings schon innerhalb einer deutschen Gesellschaftsform, etwa der KG oder OHG, nicht zu überzeugen, da die Haftungsverhältnisse innerhalb der Komplementärgesellschaft sich auch nach dem Recht dieser Komplementärgesellschaft richten müssen. Anderenfalls würde das Haftungsgefüge innerhalb der Komplementärgesellschaft einseitig aufgrund externer Umstände verändert, ohne dies im Innenverhältnis anderweitig zu berücksichtigen. Dies gilt umso mehr im Falle einer ausländischen Komplementärgesellschaft, für die erst recht das eigene Haftungsregime im Innenverhältnis Anwendung finden muss.280) Vorzugswürdig ist es daher, im Falle einer Komplementär-GmbH nur im Außenverhältnis der Komplementär-GmbH gegenüber der KGaA §§ 283 Nr. 3, 93 Abs. 2 AktG anzuwenden, während der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH nach § 43 Abs. 2 GmbHG i. V. m. Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter gegenüber der KGaA haftet. Ist die Haftung des Geschäftsführers im Innenverhältnis gegenüber der Komplementär-GmbH ausgeschlossen, wirkt sich dies auch im Außenverhältnis aus, da die KGaA anderenfalls weitergehende Rechte als die Komplementärgesellschaft selbst hätte. Die Rechtsprechung begründet die Begrenzung des Drittschutzes beim Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter durch eine entsprechende Anwendung von § 334 BGB und dem Grundsatz von Treu und Glauben.281) Diese Grundsätze sind konsequenterweise auch im Verhältnis zwischen dem Geschäftsführer der Komplementär-GmbH und der KGaA entsprechend anzuwenden.282) Dementsprechend ist bei der Haftung des Geschäftsführers zu berücksichtigen, dass dieser den Weisungen der Gesellschafter Folge leisten muss.283) c)

Geltendmachung der Haftung

Für die Geltendmachung der Haftung gegenüber der Komplementär-GmbH 103 gelten gegenüber der gesetzestypischen KGaA grundsätzlich keine Besonderheiten (Æ Rz. 75). Die Gesellschaft kann grundsätzlich von jedem Komplementär gerichtlich und außergerichtlich vertreten werden. Dies gilt jedoch nicht für die ___________ 280) So auch Hauschka/Moosmayer/Lösler/Liese, § 7 Rz. 178; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 160. 281) BGH, Urt. v. 10.11.1994 – III ZR 50/94, NJW 1995, 392 (393). 282) A. A. Otte, S. 100 f. (der davon ausgeht, dass § 334 BGB regelmäßig konkludent abbedungen sei), vgl. hierzu Cahn, Der Konzern 2007, 716 (725) (zur Anwendbarkeit von § 334 BGB auf das Wettbewerbsverbot nach § 88 AktG im Falle einer Komplementär-AG). 283) Fett/Stütz, NZG 2017, 1121 (1126); Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 283 Rz. 6; Bürgers/ Fett/Reger, § 5 Rz. 160; zu den Auswirkungen von Weisungen auf die Haftung des Geschäftsführers allgemein siehe Noack/Servatius/Haas/Beurskens, § 43 Rz. 16 ff.; Lutter/ Hommelhoff/Kleindiek, § 43 Rz. 40 ff.; Scholz/Verse, § 43 Rz. 260 ff.; MünchKommGmbHG/ Fleischer, § 43 Rz. 275 ff.

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§ 8 Besonderheiten in der KGaA

Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der Komplementär-GmbH selbst. In diesem Fall wird die Gesellschaft durch den Aufsichtsrat vertreten.284) Aufgrund des Verweises in § 283 Nr. 8 AktG können die Kommanditaktionäre darüber hinaus Haftungsansprüche gegen die Komplementär-GmbH im Rahmen der §§ 147, 148 AktG geltend machen. Im Falle mehrerer Komplementäre können diese darüber hinaus auch unabhängig von einer Hauptversammlungsentscheidung im Wege der actio pro socio gegen eine Komplementär-GmbH vorgehen.285) Möglich ist sowohl eine Inanspruchnahme der KomplementärGmbH nach §§ 283 Nr. 3, 93 Abs. 2 AktG, als auch eine direkte Inanspruchnahme des Geschäftsführers nach § 43 Abs. 2 GmbHG i. V. m. den Grundsätzen zum Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. Soweit Ansprüche gegen die Komplementär-GmbH gerichtlich geltend gemacht werden, empfiehlt sich aufgrund des Gleichlaufs der Haftung für die Komplementär-GmbH, ihren Geschäftsführern den Streit zu verkünden. d)

Haftung gegenüber Dritten

104 Für die Haftung gegenüber Dritten gelten keine Besonderheiten gegenüber der gesetzestypischen KGaA. Die Komplementär-GmbH haftet ebenso wie eine natürliche Person, die Komplementär der KGaA ist, nach §§ 128, 161 Abs. 2 HGB, 278 Abs. 2 AktG persönlich für die Verbindlichkeiten der KGaA. Eine Außenhaftung der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH kommt nur nach allgemeinen Grundsätzen hinsichtlich der Außenhaftung von Geschäftsleitern in Betracht, etwa bei deliktischen Direktansprüchen oder Ansprüchen aus c. i. c. IV.

Haftungsfragen bei einer ausländischen Gesellschaft als Komplementärin der KGaA

105 Die Frage der Zulässigkeit einer ausländischen Komplementärgesellschaft richtet sich im Wesentlichen danach, ob der Gründungs- oder der Sitztheorie gefolgt wird. Daher wird von der Literatur hinsichtlich der Zulässigkeit einer ausländischen Komplementärgesellschaft oftmals zwischen Gesellschaften aus dem EU-Ausland und Gesellschaften aus Drittstaaten differenziert.286) 1.

Gesellschaften aus dem EU-Ausland

106 Rechtsfähige Gesellschaften aus dem EU-Ausland, die ihren Sitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben, kommen als Komplementärin einer KGaA ___________ 284) Zur Reichweite von § 112 AktG gegenüber der Komplementärgesellschaft und deren Geschäftsleitern vgl. Habersack, ZIP 2019, 1453, 1456. 285) Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 145; GroßKomm-AktG/Sethe § 283 Rz. 30; Koch, § 283 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Bachmann, § 283 Rz. 22; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett § 283 Rz. 13; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 31. 286) Vgl. nur Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 14; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 35.

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C. Organhaftung

in Betracht.287) Nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur kann eine ausländische Gesellschaft nämlich grundsätzlich Komplementärin einer KG sein.288) Die dieser Auffassung zu Grunde liegenden Argumente sind entsprechend auf die KGaA übertragbar.289) Diese Ansicht wird zumindest von einem Teil der Registergerichte geteilt: In der Praxis wurden bereits eine Reihe von Kommanditgesellschaften auf Aktien mit ausländischen Komplementärgesellschaften registriert.290) Die Vertreter der gegenteiligen Auffassung, die die KGaA mit ausländischer Komplementärgesellschaft ablehnen, sehen in solch einer Typenmischung, der sowieso schon hybriden Struktur der KGaA und des daraus entstehenden „Normenmixes“291) eine noch größere Unübersichtlichkeit und führen darüber hinaus an, dass sich auf Grund der fehlenden Eintragung der Komplementärgesellschaft in einem deutschen Handelsregister die Vertretungsstruktur nicht vollumfänglich erschließen lasse.292) Für die Kommanditaktionäre sei das Durcheinander der anzuwendenden Rechtsvorschriften nicht mehr nachzuvollziehen, was die Durchsetzung bestimmter Rechte, wie beispielsweise die Durchsetzung der bestehenden Pflicht einer Komplementärgesellschaft zur Bestellung oder Abberufung bestimmter Vertreter, erschwere bzw. sogar gänzlich verwehre.293) Diese Sichtweise lässt sich allerdings nicht mit der in Art. 49, 54 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit in Einklang bringen.294) Da auch der BGH infolge der „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ ___________ 287) H. M., siehe nur BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 42; Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 14; Bürgers/Körber/Lieder/Förl/Fett, § 278 Rz. 13; MünchHdb GesR IV/Herfs, § 78 Rz. 13b; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 278 Rz. 16; MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 35; Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 21; a. A. AG Bad Oeynhausen, Beschl. v. 15.3.2005 – 16 AR 15/05, GmbHR 2005, 692; Großkomm-Akt/Assmann/Sethe, Vor § 278 Rz. 170 ff.; Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rz. 555. 288) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 24.4.2008 – 20 W 425/07, ZIP 2008, 1286; OLG Saarbrücken, Urt. v. 21.4.1989 – 5 W 60/88, NJW 1990, 647; BayOLG, Beschl. v. 21.3.1986 – BReg 3 Z 148/85, NJW 1986, 3029; MünchKommHGB/Grunewald, § 161 Rz. 110; Mülsch/Nohlen, ZIP 2008, 1358. 289) MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 35; a. A. Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, Vor § 278 Rz. 170 ff. 290) Z. B. SIG Euro Holding AG & Co. KGaA (AG Waldshut-Tiengen) (nunmehr SIG Euro Holding GmbH); Glas Trösch Euroholding AG & Co. KGaA (AG Freiburg i. B.), und zwar jeweils ohne den Zusatz „AG schweizerischen Rechts“; Boeing International B.V. & Co Holding KGaA (AG Offenbach am Main). 291) So wörtlich BeckOGK-AktG/Bachmann, § 278 Rz. 42; Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, Vor § 278 Rz. 171; vgl. auch Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rz. 555; MünchKommAktG/ Perlitt, § 278 Rz. 36. 292) Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, Vor § 278 Rz. 172; Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 15; Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rz. 555. 293) Vgl. Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, Vor § 278 Rz. 171 ff.; Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 15. 294) Mülsch/Nohlen, ZIP 2008, 1358; vgl. auch MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 36; Schmidt/ Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 21.

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705

§ 8 Besonderheiten in der KGaA

– Rechtsprechung des EuGH295) die Sitztheorie zugunsten der Gründungstheorie aufgegeben hat,296) würde eine Ablehnung der KGaA mit ausländischer Komplementärgesellschaft allein aufgrund ihrer komplexen Struktur zu weit gehen.297) Infolgedessen können EU-Auslandsgesellschaften trotz der sich gegebenenfalls daraus ergebenden Unzweckmäßigkeit Komplementärin einer KGaA sein.298) 107 Die Leitungsorgane der ausländischen Gesellschaft haften gegenüber dieser nach den im Innenverhältnis anwendbaren ausländischen Vorschriften. Zwar unterliegt die Gesellschaft als persönlich haftende Gesellschafterin im Außenverhältnis dem Recht der KGaA. Die Haftungsfrage der Organe der Komplementärgesellschaft ist jedoch eine andere und richtet sich richtigerweise lediglich nach den im Innenverhältnis auf die Komplementärgesellschaft anzuwendenden Normen.299) In Betracht kommt eine Haftung der Leitungsorgane der ausländischen Komplementärgesellschaft i. V. m. den Grundsätzen zum Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter (Æ Rz. 102). 2.

Gesellschaften aus Drittstaaten

108 Bei nicht-unionsrechtlichen Sachverhalten, die dementsprechend nicht in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fallen, findet nach ganz herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur die Sitztheorie Anwendung.300) Danach unterliegt die Gesellschaft prinzipiell dem Recht des Sitzstaates, wobei hiermit nicht der Satzungssitz gemeint ist, sondern der effektive Sitz, der seinerseits nach dem Ort der Hauptverwaltung zu bestimmen ist.301) Liegt ___________ 295) EuGH, Slg. 2003, I-10 – 155, NJW 2003 (Inspire Art); EuGH, Slg. 2002 – I-9919, NJW 2002, 3614 (Überseering); EuGH. Slg. 1999, I-1459, NJW 1999, 2027 (Centros). 296) BGH, Beschl. v. 4.7.2013 – V ZB 197/12, NJW 2013, 3656; BGH, Urt. v. 14.3.2005 – II ZR 5/03, NJW 2005, 1648; Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 14; BeckOGK/Müller, AktG § 1 Rz. 121; Mülsch/Nohlen, ZIP 2008, 1358 (1361). 297) MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 36. 298) Vgl. Schmidt/Lutter/Schmidt, § 278 Rz. 21; a. A. Großkomm-AktG/Assmann/Sethe, Vor § 278 Rz. 171 ff. 299) Hauschka/Moosmayer/Lösler/Liese, § 7 Rz. 178; Bürgers/Fett/Reger, § 5 Rz. 160. 300) BGH, Urt. v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, NJW 2011, 3372 (3373); BGH, Urt. v. 15.3.2010 – II ZR 27/09, NZG 2010, 712 (713) (schweizerischer Verein); BGH, Beschl. v. 8.10.2009 – IX ZR 229/06, GmbHR 2010, 211 (Singapur-Ltd.); BGH, Urt. v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, DStR 2009, 59 (61) – Trabrennbahn (schweizerische AG); OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.7.2011 – I-15 U 282/09, BeckRS 2013, 14730 (Singapur-Ltd.); Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 14; MünchKommAktG/Ego, IntGesR Rz. 209 f.; a. A. Schmidt/Lutter/Ringe, IntGesR Rz. 76 (welcher für eine Gründungsrechtsanknüpfung auch im Verhältnis zu Drittstaaten plädiert, um ein Nebeneinander unterschiedlicher kollisionsrechtlicher Ansätze zu verhindern). 301) BGH, Urt. v. 27.10.2008 – II ZR 158/06, NJW 2009, 289 (290); BGH, Urt. v. 29.1.2003 – VIII ZR 155/02, NJW 2003, 1607 (1608); BGH, Urt. v. 21.3.1986 – V ZR 10/85, NJW 1986, 2194 (2195); BGH, Urt. v. 5.11.1980 – VIII ZR 230/79, NJW 1981, 522 (525); BayOLG, Beschl. v. 26.8.1998 – 3Z BR 78/98, BayObLGZ 1998, 195 (197 f.); Koch, § 1 Rz. 37.

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C. Organhaftung

der Ort der Hauptverwaltung der Komplementärgesellschaft im Ausland, ist diese daher dem ausländischen Recht zu unterwerfen. Da die Komplementärgesellschaft die Geschäfte der KGaA führt und die Verwaltungssitze damit zumindest im Falle nur einer einzigen Komplementärin zusammenfallen, ist bei konsequenter Anwendung der Sitztheorie auch die KGaA dem ausländischen Recht zu unterwerfen und könnte nicht in einem deutschen Handelsregister eingetragen werden.302) Etwas anderes gilt nur, wenn vorrangige völkerrechtliche Vereinbarungen getroffen wurden, Art. 3 Nr. 2 EGBGB. Ein Beispiel hierfür ist der Handelsvertrag mit den USA aus dem Jahre 1954303), in dem in Art. XXV Abs. 5 Satz 2 eine Gründungsanknüpfung vorgeschrieben wird. Danach gelten „Gesellschaften, die entsprechend den Gesetzen und sonstigen Vorschriften des einen Vertragsteils in dessen Gebiet errichtet sind, (…) als Gesellschaften dieses Vertragsteils; ihr rechtlicher Status wird in dem Gebiet des anderen Vertragsteils anerkannt“.304) In einem solchen Fall gelten hinsichtlich der Haftung des Leitungsorgans die Grundsätze, die auch für Gesellschaften aus dem EU-Ausland gelten.

___________ 302) BGH, Urt. v. 21.3.1986 – V ZR 10/85, NJW 1986, 2194; Bürgers/Fett/Bürgers, § 4 Rz. 15, Staudinger/Großfeld, IntGesR, Rz. 544. 303) Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika v. 29.10.1954, BGBl II 1956, 487 ff.; zur Rechtsfähigkeit einer US-Gesellschaft mit Verwaltungssitz in Deutschland aufgrund dieses Vertrages siehe BGH, Urt. v. 29.1.2003 – VIII ZR 155/02, NJW 2003, 1607. 304) Vgl. hierzu MünchKommAktG/Perlitt, § 278 Rz. 35, der jedenfalls annimmt, dass Gesellschaften, die aus den USA kommen, Komplementär einer KGaA sein können. Von den Registergerichten wurden u. a. bereits die BIBO International Inc. & Co. World Wide Oxygen-Water KG a. A. (AG München, wegen Vermögenslosigkeit gelöscht), die Diebold Holding Germany Inc. & Co. KGaA (AG Frankfurt/M., mittlerweile gelöscht) und die Diebold Nixdorf Holding Germany Inc. & Co. KGaA (AG Paderborn, mittlerweile nach Formwechsel Diebold Nixdorf Holding Germany GmbH) im Handelsregister eingetragen.

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§ 9 Besonderheiten in der SE Übersicht A. Einführung......................................... 1 B. Rechte und Pflichten der Organe ..... 6 I. Dualistische SE ................................... 6 1. Vorstand....................................... 7 2. Aufsichtsrat ............................... 19 II. Monistische SE ................................. 28 1. Verwaltungsrat .......................... 29 2. Geschäftsführende Direktoren ................................. 40 C. Organhaftung.................................. 50 I. Dualistische SE ................................. 50 1. Sorgfalts- und Treuepflichten .... 50 a) Vorstand..................................... 51 b) Aufsichtsrat ............................... 54

2.

Pflichtverletzung und Business Judgement Rule.......... 56 3. Anspruchsverfolgung................ 59 4. Vergleichschluss und Enthaftung................................. 64 II. Monistische SE ................................. 67 1. Sorgfalts- und Treuepflichten..................................... 67 2. Pflichtverletzung und Business Judgement Rule.......... 71 3. Anspruchsverfolgung................ 75 4. Vergleichschluss und Enthaftung................................. 78 Wilk

Schrifttum: Bachmann, Der Verwaltungsrat der monistischen SE, ZGR 2008, 779; Boettcher, Die Kompetenzen von Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren in der monistischen SE in Deutschland, 2009; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2004; Bücker, Bedeutung der monistischen SE in Deutschland und Verantwortlichkeit der Verwaltungsratsmitglieder, in: Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/ Wittig, 10 Jahre SE, 2015, S. 203; Bunz, Die Hauptversammlung der monistischen SE, AG 2018, 466; de Raet/Möslein, Die Mandatspause im Kapitalgesellschaftsrecht, NJW 2021, 2920; Drinhausen/Nohlen, Festlegung der Amtsdauer von SE-Organmitgliedern in der Satzung nach Art. 46 Abs. 1 SE-VO, ZIP 2009, 1890; Forst, Zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung auf die SE, ZIP 2010, 1786; Forst, Zur Größe des mitbestimmten Organs einer kraft Beteiligungsvereinbarung mitbestimmten SE, AG 2010, 350; Graßl/Nikoleyczik, Wechsel von der dualistischen in die monistische SE – Eine sinnvolle Alternative für Familienunternehmen, AG 2020, 881; Grobe, Die Geschlechterquote für Aufsichtsrat und Vorstand, AG 2015, 289; Habersack, Das Konzernrecht der „deutschen“ SE, ZGR 2003, 724; Habersack, Das Konzernrecht der „deutschen“ SE, ZGR 2003, 724; Habersack, Schranken der Mitbestimmungsautonomie in der SE – Dargestellt am Beispiel der Größe und inneren Ordnung des Aufsichtsorgans, AG 2006, 345; Habersack, Konstituierung des ersten Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der durch Formwechsel entstandenen SE und Amtszeit seiner Mitglieder, Der Konzern 2008, 67; Habersack/Schürnbrand, Das Schicksal gebundener Ansprüche beim Formwechsel, NZG 2007, 81; Hirte, Die Europäische Aktiengesellschaft, NZG 2002, 1; Hoffmann-Becking, Organe: Strukturen und Verantwortlichkeiten, insbesondere im monistischen System, ZGR 2004, 355; Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten in der Privatwirtschaft, 2015; Ihrig, Die geschäftsführenden Direktoren in der monistischen SE: Stellung, Aufgaben und Haftung, ZGR 2008, 809; Ihrig/Wandt, Die Aktienrechtsnovelle 2016, BB 2016, 6; Kämmerer/Veil, Paritätische Arbeitnehmermitbestimmung in der monistischen Societas Europaea – ein verfassungsrechtlicher Irrweg? ZIP 2005, 369; Kiem, Erfahrungen und Reformbedarf bei der SE – Entwicklungsstand, ZHR 173 (2009), 156; Lutter/Kollmorgen/Feldhaus, Die Europäische Aktiengesellschaft – Satzungsgestaltung bei der „mittelständischen SE“, BB 2005, 2473; Marsch-Barner, Die Rechtsstellung der Europäischen Gesellschaft (SE) im Umwandlungsrecht, Liber Amicorum Happ, 2006, S. 165; Marsch-Barner, Zur monistischen Führungsstruktur einer deutschen Europäischen Gesellschaft (SE), Gedächtnisschrift Bosch (2006), S. 99; Metz, Die

Wilk

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§ 9 Besonderheiten in der SE Organhaftung bei der monistisch strukturierten Europäischen Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland, 2009; Sagan, Eine Geschlechterquote für die europäische Aktiengesellschaft, RdA 2015, 255; Schaper, Unternehmenskommunikation und Vertraulichkeit in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) im Vergleich zur AG, AG 2018, 356; Scheifele, Die Gründung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), 2004; Seibt, Geschlechterquote im Aufsichtsrat und Zielgrößen für die Frauenbeteiligung in Organen und Führungsebenen in der Privatwirtschaft, ZIP 2015, 1193; Seibt, Temporärer Widerruf von Vorstandsbestellungen (§ 84 Abs. 3 AktG), AG 2021, 733; Seibt/von Rimon, Monistische SE & Co. KGaA: Einsatzfelder und Antworten auf Praxisfragen, AG 2019, 753; Spindler, Die Hauptversammlung der Europäischen Gesellschaft und Anfechtungsklagen gegen ihre Beschlüsse, in: Lutter/Hommelhoff, Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 223; Stüber, Regierungsentwurf zur sog. „Frauenquote“ – Eine Übersicht der Neuerungen, CCZ 2015, 38; Teichmann, Gestaltungsfreiheit in Mitbestimmungsvereinbarungen, AG 2008, 797; Teichmann/Rüb, Der Regierungsentwurf zur Geschlechterquote in Aufsichtsrat und Vorstand, BB 2015, 259; dies., Die gesetzliche Geschlechterquote in der Privatwirtschaft, BB 2015, 898; Theisen/Hölzl, Corporate Governance, in: Theisen/Wenz, Die Europäische Aktiengesellschaft, 2. Aufl., 2005, S. 269; Wicke, Die Europäische Aktiengesellschaft – Grundstruktur, Gründungsformen und Funktionsweise, MittBayNot 2006, 196; Wicke, Die SE als Familienunternehmen, RNotZ 2020, 25; Wilk, Aktionärsrechte in der deutschen SE, 2017; Wilk, U.S. Corporation Going European? – The One-Tier Societas Europaea (SE) in Germany, Suffolk Transnational Law Review 35 (2012), 31.

A.

Einführung

1 Mit der SE-Rechtsform steht Unternehmen in Deutschland seit 2004 eine dritte aktienrechtlich verfasste Rechtsform zur Verfügung. Ihre primäre Rechtsgrundlage ist die SE-Verordnung (SE-VO),1) welche insbesondere zu Gründung, Organverfassung und Sitzverlegung eigenständige und vom deutschen Aktiengesetz teilweise deutlich abweichende gesellschaftsrechtliche Regelungen enthält. Weitere, ebenfalls SE-spezifische Vorschriften enthalten das deutsche SEAusführungsgesetz (SEAG)2) und – in Hinblick auf die Beteiligung der Arbeitnehmer – das SE-Beteiligungsgesetz (SEBG).3) Letzteres beruht auf der SE-Richtlinie.4) Beide Gesetze füllen Gestaltungsspielräume und -aufträge aus, die der europäische Verordnungs- bzw. Richtliniengeber den Mitgliedstaaten eingeräumt hat. Weitere Regelungen können in der SE-Satzung getroffen werden, für die die SE-VO ebenfalls einzelne Freiräume eröffnet. Lediglich subsi-

___________ 1) 2)

3)

4)

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Verordnung (EG) Nr. 2157 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl EG L 294 vom 10.11.2001, S. 1. Gesetz zur Ausführung der Verordnung (EG) Nr. 2157 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), eingeführt unter Art. 1 des Gesetzes zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) vom 22.12.2004, BGBl I, 3675. Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, eingeführt unter Art. 2 des Gesetzes zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) vom 22.12.2004, BGBl I, 3675. Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl EG L 294 vom 10.11.2001, S. 22.

Wilk

A. Einführung

diär hierzu gilt für eine in Deutschland ansässige SE das auf deutsche Aktiengesellschaften anwendbare Recht. Praktisch unterliegt die SE dennoch in weiten Teilen deutschem Aktienrecht. 2 Dies gilt wegen des Rumpfcharakters der SE-VO mitunter bereits für die auf Verordnungsebene geregelten Bereiche, in denen das nationale Recht teilweise ungeregelte Lücken schließt (z. B. ergänzende Anwendung von AG-Gründungsrecht im Rahmen der in der SE-VO geregelten SE-Gründungsvarianten gemäß Art. 15 Abs. 1 SE-VO). Andere zentrale Regelungsbereiche wie etwa das Recht der Unternehmensfinanzierung und die zivilrechtliche Verantwortlichkeit der Organmitglieder bei Pflichtverletzungen sind sogar nahezu vollständig dem nationalen Gesetzgeber überlassen. Zu den aus unternehmerischer Sicht gewichtigsten Besonderheiten der SE ge- 3 genüber der deutschen AG zählt die außergewöhnliche Flexibilität bei der Gestaltung des Verwaltungsmodells. Denn neben der klassischen dualistischen Struktur mit Vorstand und Aufsichtsrat5) (two-tier) steht auch ein monistisches System mit einem Verwaltungsrat6) und einem oder mehreren geschäftsführenden Direktoren (one-tier) zur Wahl. Die Wahl kann auch nach der SEGründung immer wieder neu getroffen werden.7) Eine weitere Besonderheit der SE bildet die Möglichkeit, die Beteiligung der Arbeitnehmer – einschließlich der Mitbestimmung in den Organen – individuell per Vereinbarung zu regeln (§ 21 SEBG). Bei SE-Gründung zu beachten sind ferner die gemäß Art. 2, 17 ff. SE-VO auf vier in der SE-VO geregelte Varianten beschränkten Möglichkeiten einer Primärgründung8), die sich freilich durch die mittlerweile anerkannte und praktisch erprobte Möglichkeit des Erwerbs einer SE-Vorratsgesellschaft9) praktisch umgehen lassen. Und schließlich handelt es sich bei der SE um die bislang einzige europäische Kapitalgesellschaftsform, die rechtsfor___________ 5)

6) 7)

8)

9)

Formal zutreffend sind die in SE-VO, SEAG und SEBG verwendeten Bezeichnungen „Leitungsorgan“ und „Aufsichtsorgan“. In der deutschen Rechtspraxis haben sich gleichwohl auch für die SE die aus der AG bekannten Bezeichnungen etabliert; sie werden auch in vielen SE-Satzungen ohne Beanstandung verwendet. Die abw. Terminologie der SE-VO („Verwaltungsorgan“) hat keine inhaltliche Bedeutung. Ganz h. M.; siehe nur MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 38 SE-VO Rz. 35; Habersack/Drinhausen/Scholz, Art. 38 SE-VO Rz. 29; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/ Teichmann, Art. 38 SE-VO Rz. 35 a. E.; Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz, Die Europäische AG, S. 269 (280). Im Gegensatz zur sog. Sekundärgründung einer SE durch eine bereits bestehende SE, die gemäß Art. 3 Abs. 2 SE-VO keinen mit den Primärgründungsvarianten vergleichbaren Einschränkungen unterliegt; vgl. ausführlich Habersack/Drinhausen/Habersack, Art. 3 SE-VO Rz. 7 ff.; Scheifele, Gründung der SE, S. 438 ff.; Marsch-Barner, in: Liber Amicorum Happ, S. 165 (169 ff.). OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.3.2009 – I-3 Wx 248/08, ZIP 2009, 918, 919 ff.; LG Hamburg, Beschl. v. 30.9.2005 – 417 T 15/05, ZIP 2005, 2018, 2019 („Zoll Pool Hafen Hamburg SE“); vorinstanzl. AG Hamburg, Beschl. v. 28.6.2005 – 66 AR 76/05, ZIP 2005, 2017, 2018; ferner AG München, Vfg. v. 29.3.2006 – HRB 159649, ZIP 2006, 1300, 1300 f.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

merhaltend ihren Satzungs- und Verwaltungssitz zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten verlegen kann (Art. 8 SE-VO). Nicht offen steht der SE dagegen die für Kapitalgesellschaften nationaler Rechtsform mittlerweise anerkannte10) Möglichkeit, Satzungssitz und Verwaltungssitz auf zwei unterschiedliche Mitgliedstaaten zu verteilen. Satzungs- und Verwaltungssitz der SE sind stattdessen gemäß Art. 7 Satz 1 SE-VO stets in einem einzigen Mitgliedstaat zu beziehen und können auch anschließend nur einheitlich in einen anderen Mitgliedstaat verlegt werden. 4 In der deutschen Unternehmensrechtspraxis ist die SE-Rechtsform mittlerweile weit verbreitet, und zwar sowohl bei etablierten börsennotierten Gesellschaften (z. B. Allianz, BASF und E.ON,) als auch bei Gesellschaften, deren Börsengang weniger lange Zeit zurückliegt, wie Delivery Hero, Hello Fresh und Zalando. Auch eine Reihe nichtbörsennotierter Unternehmen und Familiengesellschaften11) hat die Vorteile der SE für sich entdeckt, teilweise in Form von Typenkombinationen (z. B. SE & Co. KGaA). Weniger verbreitet dagegen ist in Deutschland die monistische SE, was sowohl der immer noch empfundenen Neuartigkeit des Modells als auch Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem ggf. auf Geschäftsführungsebene eingreifenden Mitbestimmungsregime12) geschuldet sein mag. Doch auch für dieses Verwaltungsmodell gibt es mittlerweile mehrere prominente Beispiele (z. B. Conrad Electronic, Deichmann und Mensch und Maschine Software); und auch die monistische SE eignet sich unter bestimmten Umständen als Komplementärgesellschaft einer SE & Co. KG oder SE & Co. KGaA.13) 5 Nachfolgend sollen zunächst die Eckpunkte der allgemeinen Rechte und Pflichten von Vorstand, Aufsichtsrat, Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren in der deutschen SE vorgestellt werden (Æ Rz. 6 ff.), bevor speziell auf die Organhaftung in der SE eingegangen wird (Æ Rz. 50 ff.). B.

Rechte und Pflichten der Organe

I.

Dualistische SE

6 Ausgestaltet wird das dualistische SE-Verwaltungsmodell auf Verordnungsebene in Art. 38 bis 41 und 46 bis 51 SE-VO. Einige spezifisch deutsche, weitge___________ 10) Prägend die EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit aus den zurückliegenden 30 Jahren: Urt. v. 27.9.1988 – Rs. 81/87, NJW 1989, 2186 („Daily Mail“); Urt. v. 9.3.1999 – C-212/97, ZIP 1999, NJW 1999, 438 („Centros“); Urt. v. 5.11.2002 – C-208/00, ZIP 2002, 2037 („Überseering“); Urt. v. 30.9.2003 – C-167/01, ZIP 2003, 1885 („Inspire Art“); Urt. v. 30.12.2005 – C-411/03, ZIP 2005, 2311 („Sevic“); Urt. v. 16.12.2008 – C-210/06, ZIP 2009, 24 („Cartesio“); Urt. v. 12.7.2012 – C-378/10, ZIP 2012, 1394 („Vale“); Urt. v. 25.10.2017 – C-106/16, ZIP 2017, 2145 („Polbud“). 11) Zu den rechtlichen Gesichtspunkten näher Graßl/Nikoleyczik, AG 2020, 881; Wicke, RNotZ 2020, 25. 12) Hierzu Kämmerer/Veil, ZIP 2005, 369. 13) Hierzu näher Seibt/von Rimon, AG 2019, 753; Wicke, RNotZ 2020, 25 (37 f.).

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B. Rechte und Pflichten der Organe

hend an das AktG angelehnte Vorschriften finden sich in §§ 15 bis 19 SEAG; und weitere einzelne Gestaltungsfreiheiten genießt der Satzungsgeber (z. B. nach Art. 39 Abs. 4 Satz 1, Art. 40 Abs. 3 Satz 1 und Art. 43 Abs. 2 Satz 1 SE-VO). Im Übrigen gelten gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO die auf die AG anwendbaren Regelungen. Die weite Entwicklung und hohe Komplexität des deutschen Vorstands- und Aufsichtsratsrechts (einschließlich der hierzu vorhandenen Rechtsprechung) gegenüber den eher auf grundlegende Weichenstellungen ausgerichteten Verordnungsregeln bewirken, dass sich zahlreiche Parallelen zwischen den dualistischen Systemen von SE und AG ergeben.14) 1.

Vorstand

Aufgabe des SE-Vorstands ist es, die Geschäfte der SE in eigener Verantwor- 7 tung zu führen (Art. 39 Abs. 1 Satz 1 SE-VO). Dies unterscheidet sich nur dem Wortlaut nach, nicht aber inhaltlich, von der dem AG-Vorstand gemäß § 76 Abs. 1 AktG obliegenden eigenverantwortlichen Leitung der Gesellschaft (Æ § 1 Rz. 16 ff.).15) Von der breiten Geschäftsführungskompetenz des Vorstands können gemäß Art. 48 Abs. 1 SE-VO, § 19 SEAG per Satzungsregelung oder durch Beschluss des Aufsichtsrats einzelne Arten von Geschäften ausgenommen werden, die der Vorstand nur mit Zustimmung des Aufsichtsrats vornehmen darf. Die aktiengesetzliche Parallelregelung in § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG (Æ § 3 Rz. 136 ff.) hat für die SE demgegenüber keine Bedeutung.16) Eine punktuelle Verlagerung seiner Geschäftsführungskompetenz kann der 8 Vorstand vornehmen, indem er bestimmte Maßnahmen der Hauptversammlung zur Entscheidung vorlegt. Die Befugnis hierzu ergibt sich aus § 119 Abs. 2 AktG (Æ § 1 Rz. 167 f.), der über Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO entsprechend für die SE gilt.17) Der Vorstand kann diese Vorlage in der SE allerdings nicht einsetzen, um eine erforderliche und verweigerte Zustimmung des Aufsichtsrats zu überwinden, da Art. 48 SE-VO und § 19 SEAG für eine ent-

___________ 14) Vgl. etwa die tabellarischen Übersichten zu Parallelen und Unterschieden zwischen dem Vorstandsrecht von SE und AG bei Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 39 SE-VO Rz. 6 f., sowie zum Aufsichtsratsrecht bei Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 40 SE-VO Rz. 4. 15) BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 39 SE-VO Rz. 4; Van Hulle/Maul/Drinhausen/Drinhausen/ Keinath, § 11 Rz. 2; Hirte, NZG 2002, 1 (6); abw. Schwarz, SE-VO, Art. 39 Rz. 43; Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 39 SE-VO Rz. 10 (ohne jedoch i. E. dem SEVorstand die eigenverantwortliche Geschäftsleitungsbefugnis abzusprechen). 16) Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Spindler, Art. 52 SE-VO Rz. 37; Wilk, Aktionärsrechte, S. 266; i. E. auch KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Art. 48 SE-VO Rz. 6 ff., 20. 17) Mittlerweile ganz h. M.; siehe nur Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Spindler, Art. 52 SEVO Rz. 27; KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 27; MünchKommAktG/Kubis, Art. 52 SE-VO Rz. 20; jeweils m. w. N.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

sprechende Anwendung des § 111 Abs. 4 Sätze 3-5 AktG keinen Raum lassen.18) Zwingend der Hauptversammlung vorzulegen sind Geschäftsführungsmaßnahmen, die wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für die Gesellschaft unter die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur AG entwickelten sog. Holzmüller/ Gelatine-Grundsätze (Æ § 1 Rz. 169 ff.) fallen; letztere gelten für die SE entsprechend,19) ohne dass es insofern einer ausdrücklichen Verweisungsnorm auf Verordnungsebene bedarf.20) 9 Gemäß § 78 Abs. 2 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO verfügen mehrere Vorstandsmitglieder grundsätzlich über Gesamtvertretungsmacht für die Gesellschaft. Per Satzungsbestimmung oder Entscheidung des Aufsichtsrats (auf Grundlage einer entsprechenden Satzungsbestimmung) kann einem oder mehreren Vorstandsmitgliedern jedoch Einzelvertretungsbefugnis eingeräumt werden. Auf dieselbe Weise kann bestimmt werden, dass einzelne Vorstandsmitglieder gemeinsam mit einem Prokuristen vertretungsbefugt sind (§ 78 Abs. 3 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO). SE-spezifische Sonderregelungen existieren insoweit nicht. 10 Der Vorstand besteht grundsätzlich aus einer oder mehreren Personen – abhängig in erster Linie von der (obligatorischen21)) Vorgabe hierzu in der Satzung (Art. 39 Abs. 4 Satz 1 SE-VO). Für Gesellschaften mit einem Grundkapital von mehr als drei Millionen Euro sieht § 16 Abs. 1 Satz 1 SEAG, Art. 39 Abs. 4 Satz 2 SE-VO grundsätzlich eine (satzungsdispositive) Mindestzahl von zwei Vorstandsmitgliedern vor. Eine zwingende Mindestzahl von zwei Mitgliedern ergibt sich gemäß § 38 Abs. 2 SEBG, § 16 Abs. 1 Satz 2 SEAG, Art. 39 Abs. 4 Satz 2 SE-VO nur für Gesellschaften, für die die sog. Mitbestimmung kraft Gesetzes (§§ 34 ff. SEBG) gilt. In diesem Fall ist ein Vorstandsmitglied als sog. Arbeitsdirektor für den Bereich Arbeit und Soziales verantwortlich (§ 38 Abs. 2 Satz 2 SEBG). Wenn der Vorstand aus mindestens vier Personen besteht und die SE sowohl börsenno___________ 18) Str., wie hier Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 48 SE-VO Rz. 14; Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Spindler, Art. 52 SE-VO Rz. 37; KK-AktG/Siems/MüllerLeibenger, Art. 48 SE-VO Rz. 20; MünchKommAktG/Kubis, Art. 52 SE-VO Rz. 20; Wilk, Aktionärsrechte, S. 269 ff.; a. A. MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 48 SEVO Rz. 16; KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 33; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 48 SE-VO Rz. 9, Art. 52 SE-VO Rz. 10; Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 48 SE-VO Rz. 19; Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz, Die Europäische AG, S. 269 (282). 19) H. M.; siehe nur Schwarz, SE-VO, Art. 52 Rz. 35; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 52 SEVO Rz. 13; KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 36; Habersack/Drinhausen/Bücker, Art. 52 SE-VO Rz. 42; Habersack, ZGR 2003, 724 (741), jeweils m. w. N.; a. A. Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Spindler, Art. 52 SE-VO Rz. 47; Marsch-Barner, in: Liber Amicorum Happ (2006), S. 165 (171); Brandt, Hauptversammlung, S. 123 ff. 20) Wilk, Aktionärsrechte, S. 32 ff., 310 ff.; a. A. BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 52 SE-VO Rz. 13 (Verweise der SE-VO umfassen auch nationales Richterrecht). 21) Ganz h. M.; siehe nur KK-AktG/Paefgen, Art. 39 SE-VO Rz. 75; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Drygala, Art. 39 SE-VO Rz. 50; Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 39 SE-VO Rz. 39.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

tiert als auch paritätisch mitbestimmt ist, muss mindestens eine Frau und ein Mann in den Vorstand bestellt werden (sog. Mindestbeteiligung; § 16 Abs. 2 Satz 1 SEAG; zur Parallelregelung für die AG in § 76 Abs. 3a AktG Æ § 1 Rz. 36).22) Dieselbe Mindestbeteiligung gilt unabhängig von Börsennotierung und Mitbestimmungsniveau bereits ab drei Vorstandsmitgliedern, wenn es sich um eine SE mit Mehrheitsbeteiligung des Bundes handelt (§ 52a Abs. 2 Nr. 1 SEAG; parallel für die AG § 393a Abs. 2 Nr. 1 AktG).23) Vorstands- und Aufsichtsratsamt sind grundsätzlich miteinander inkompati- 11 bel (Art. 39 Abs. 3 Satz 1 SE-VO). Lediglich bei Vakanz eines Vorstandssitzes kann der Aufsichtsrat eines seiner Mitglieder zeitweise abstellen, um die freie Position im Vorstand zu füllen (Art. 39 Abs. 3 Satz 2 – 4 SE-VO, § 15 SEAG). Das betreffende Aufsichtsratsmitglied wird für diesen Zeitraum vollwertiges Mitglied des Vorstands, während sein Aufsichtsratsamt ruht (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 SE-VO). Die parallele Inkompatibilitätsregelung für den AG-Vorstand in § 105 AktG (Æ § 3 Rz. 13) wird durch Art. 39 Abs. 3 SE-VO weitgehend verdrängt.24) Bestellt und abberufen werden die Vorstandsmitglieder durch den Aufsichtsrat 12 (Art. 39 Abs. 2 Satz 1 SE-VO), der hierüber grundsätzlich mit der einfachen Mehrheit seiner anwesenden Mitglieder beschließt (Art. 50 Abs. 1 Buchst. b) SE-VO). Bei Stimmengleichheit gibt grundsätzlich die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden den Ausschlag (Art. 50 Abs. 2 Satz 1 SE-VO). In der Satzung können diese Beschlussregeln gemäß Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO in vielfacher Hinsicht variiert werden, und zwar sowohl allgemein als auch speziell in Bezug auf die Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder (z. B. Verschärfung oder Absenkung des Mehrheitserfordernisses, Veto- oder Vorschlagsrechte, Mehrfachstimmrechte oder Alleinentscheidungsrechte Æ Rz. 25). Allein das Letztentscheidungsrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden gilt gemäß Art. 50 Abs. 2 Satz 2 SE-VO zwingend, wenn die Hälfte der Aufsichtsratssitze von Arbeitnehmervertretern besetzt ist. Eine Wiederwahl amtierender Vorstandsmitglieder ist statthaft, soweit die Satzung hierfür keine Einschränkungen vorsieht (Art. 46 Abs. 2 SE-VO). Dem bestellten Vorstandsmitglied selbst steht es

___________ 22) Eingeführt wurde die Vorschrift durch das Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG II) vom 7.8.2021, BGBl I, 3311. Nach der Übergangsregelung in § 16 Abs. 2 Satz 3 SEAG ist die Mindestbeteiligung seit dem 1. August 2022 bei allen Neubestellungen und Mandatsverlängerungen zu beachten. 23) Nach der Übergangsregelung in § 52a Abs. 3 SEAG ist auch diese Mindestbeteiligung seit dem 1. August 2022 bei allen Neubestellungen und Mandatsverlängerungen zu beachten. 24) Zu verbleibenden punktuellen Anwendungsbereichen des § 105 AktG in Bezug auf eine deutsche SE siehe Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 39 SE-VO Rz. 33 ff.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

schließlich offen, seine Organmitgliedschaft durch Amtsniederlegung eigeninitiativ zu beenden.25) 13 In materieller Hinsicht unterliegt die vorzeitige Abberufung von Vorstandsmitgliedern einer deutschen SE gemäß § 84 Abs. 4 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) ii) SE-VO denselben Einschränkungen wie in der AG (Æ § 3 Rz. 186 ff.). Erforderlich ist danach ein wichtiger Grund, der insbesondere in einer groben Pflichtverletzung oder einem Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung bestehen kann.26) 14 Ein SE-Vorstandsmitglied kann den Aufsichtsrat gemäß § 84 Abs. 3 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO unter denselben Voraussetzungen wie ein AG-Vorstandsmitglied um einen vorübergehenden Widerruf der Bestellung ersuchen (sog. Stayonboard-Regelung).27) Die Beschlussfassung des Aufsichtsrats über das Ersuchen richtet sich dann in formeller Hinsicht nach Art. 50 SEVO (Æ Rz. 12) und in materieller Hinsicht nach § 84 Abs. 3 AktG. 15 Die Dauer der regulären Amtszeit bestimmt sich gemäß Art. 46 Abs. 1 SE-VO nach der Satzung; sie darf sechs Jahre nicht überschreiten. Nicht abschließend geklärt ist, ob der Satzungsgeber die Bestimmung der Amtszeit im Rahmen einer Höchstgrenze auch in die Hände des Aufsichtsrats legen kann. Der einschlägige Verordnungswortlaut legt dies – etwa im Vergleich zu Art. 40 Abs. 3 Satz 1 SE-VO – nicht unbedingt nahe.28) Ausgehend vom Sinn und Zweck des Art. 46 Abs. 1 SE-VO spricht sich die wohl überwiegende Ansicht29) gleichwohl für eine mögliche Beschränkung der Satzung auf eine Höchstgrenze aus. Danach soll es insbesondere zulässig sein, die für die für die AG-Vor___________ 25) Ganz h. M.; siehe nur MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 39 SE-VO Rz. 38; KKAktG/Paefgen, Art. 39 SE-VO Rz. 72; Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 39 SE-VO Rz. 26. 26) H. M.; Schwarz, SE-VO, Art. 39 Rz. 62 f.; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 39 SE-VO Rz. 37; MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 39 SE-VO Rz. 34; Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 39 SE-VO Rz. 25; Van Hulle/Maul/Drinhausen/ Drinhausen/Keinath, § 11 Rz. 13; Wicke, MittBayNot 2006, 196 (202); a. A. (freie Abberufbarkeit des SE-Vorstands) Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz, Die Europäische AG, S. 269 (280). 27) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Entwurf des FüPoG II, BT-Drucks. 19/30514, S. 24; Habersack/ Drinhausen/Seibt, Art. 39 SE-VO Rz. 25a; de Raet/Möslein, NJW 2021, 2920 (2921); Seibt, AG 2021, 733 (735). 28) Zutr. Schwarz, SE-VO, Art. 46 Rz. 14; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 46 SE-VO Rz. 4; MünchHdb GesR IV/Austmann, § 86 Rz. 4. 29) Schwarz, SE-VO, Art. 46 Rz. 13 ff.; Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 46 SE-VO Rz. 10 ff.; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 46 SE-VO Rz. 6; MünchKommAktG/Reichert/ Brandes, Art. 46 SE-VO Rz. 3; Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355 (364); Drinhausen/ Nohlen, ZIP 2009, 1890 (1892 ff.); a. A. Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 46 SE-VO Rz. 4; KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Art. 46 SE-VO Rz. 12; MünchHdb GesR IV/Austmann, § 86 Rz. 4; Wilk, Aktionärsrechte, S. 292; ebenso das Verständnis der Vorschrift in Bezug auf das monistische System von AG Hamburg, Beschl. v. 28.6.2005 – 66 AR 76/05, ZIP 2005, 2017, 2018 („Zoll Pool Hafen Hamburg SE“).

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B. Rechte und Pflichten der Organe

standsbestellung gesetzlich geltende Regelung aus § 84 Abs. 1 Satz 1 AktG in der SE-Satzung nachzubilden.30) Letzteres entspricht auch der verbreiteten Praxis. Die innere Ordnung und der Geschäftsgang eines mehrköpfigen Vorstands 16 bestimmen sich – soweit es um die Voraussetzungen der Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung geht – nach den in Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO bestimmten Grundsätzen (Beschlussfähigkeit bei Anwesenheit der Hälfte aller Mitglieder, Beschlussfassung durch einfache Mehrheit und Letztentscheidungsrecht des Vorstandsvorsitzenden) bzw. nach den hiervon im Einzelfall abweichenden Satzungsregeln (Æ Rz. 25). Sonstige Regeln zum Geschäftsgang kann der Vorstand selbst gemäß § 77 Abs. 2 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii), iii) SE-VO in eine Geschäftsordnung aufnehmen, soweit nicht der Aufsichtsrat deren Erlass übernimmt bzw. die Satzung Einzelfragen der Geschäftsordnung regelt. Dem Aufsichtsrat steht es ferner gemäß § 84 Abs. 2 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO offen, ein Vorstandsmitglied zum Vorsitzenden zu ernennen. Alternativ kann der Vorstand im Rahmen seiner Geschäftsführungskompetenz einen Sprecher wählen.31) Vergütet werden die Vorstandsmitglieder gemäß § 87 AktG, Art. 9 Abs. 1 17 Buchst. c) ii) SE-VO nach denselben Grundsätzen wie in der AG.32) Es gelten insbesondere das Angemessenheits- und Üblichkeitsgebot, das Leitbild der nachhaltigen und langfristigen Unternehmensentwicklung und die mehrjährige Bemessungsgrundlage als leitendes Element variabler Vergütungsbestandteile33) (Æ § 3 Rz. 205 ff.). Die Festsetzung der Vergütung liegt ebenso wie der Abschluss des Anstellungsvertrags, in den die Vergütungsvereinbarung eingebettet werden kann, in den Händen des Aufsichtsrats.34) Grundlage der Festsetzung ist in einer börsennotierten SE das Vergütungssystem für den Vorstand, das der Aufsichtsrat gemäß § 87a AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO zu beschließen und der Hauptversammlung mindestens alle vier Jahre gemäß § 120a Abs. 1 AktG, Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO zur Billigung vorzulegen hat (§ 3 Rz. 217 ff.). Über die gewährte und geschuldete Vergütung haben Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten SE jährlich im Vergütungsbericht zu berichten (§ 162 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO), der ebenso jährlich der Hauptversammlung zur Billigung vorzulegen ist (§ 120a Abs. 4 AktG, Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO); auch insofern gelten dieselben Grundsätze wie in der AG. ___________ So etwa ein Vorschlag von Drinhausen/Nohlen, ZIP 2009, 1890 (1894). MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 39 SE-VO Rz. 32. Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 39 SE-VO Rz. 88 ff.; Forst, ZIP 2010, 1786 (1787 f.). Vgl. Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 39 SE-VO Rz. 91 f.; Forst, ZIP 2010, 1786 (1787 f., 1789); an dieser Parallele zum Recht der AG hat sich auch mit Inkrafttreten des ARUG II zum 1. Januar 2021 nichts geändert. 34) Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 39 SE-VO Rz. 84 ff., 88 ff.

30) 31) 32) 33)

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§ 9 Besonderheiten in der SE

18 Wie in der AG (Æ § 1 Rz. 380) hat sich der Vorstand schließlich jährlich gemäß § 120 AktG, Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO dem Entlastungsvotum der Hauptversammlung zu stellen.35) 2.

Aufsichtsrat

19 Der Aufsichtsrat überwacht die Geschäftsführung des Vorstands, ohne selbst unmittelbar an ihr beteiligt zu sein. Dieser Leitsatz aus Art. 40 Abs. 1 SE-VO entspricht weitgehend dem AG-Modell, wie es in § 111 AktG (Æ § 3 Rz. 97 ff.) umrissen ist.36) Wichtige Instrumente der Überwachungstätigkeit bilden die regelmäßige und anlassbezogene Information durch den Vorstand sowie die Verankerung und Ausübung von Zustimmungsvorbehalten für einzelne Geschäftsführungsmaßnahmen gemäß Art. 48 SE-VO (Æ Rz. 7). Ein Weisungsrecht besteht dagegen nicht, und auch der Aufsichtsrat seinerseits ist gegenüber der Hauptversammlung grundsätzlich nicht an Weisungen gebunden.37) 20 Der Aufsichtsrat besteht gemäß § 17 Abs. 1 Sätze 1, 2 SEAG, Art. 40 Abs. 3 Satz 2 SE-VO aus mindestens drei Mitgliedern. Die genaue Sitzzahl oder die Regeln für deren Bestimmung werden in der Satzung festgelegt (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 SE-VO). Der Satzungsgeber ist hierbei seinerseits in Abhängigkeit von Grundkapital und Mitbestimmungregime an verschiedene gesetzliche Vorgaben gebunden. Zum einen sieht § 17 Abs. 1 Satz 4 SEAG eine grundkapitalabhängige Höchstgrenze von neun Sitzen (Grundkapital bis zu EUR 1,5 Mio.), 15 Sitzen (Grundkapital über EUR 1,5 Mio. und bis zu EUR 10 Mio.) bzw. 21 Sitzen (Grundkapital über EUR 10 Mio.) vor. Und zum anderen muss die Mitgliederzahl gemäß § 17 Abs. 1 Satz 3 SEAG durch drei teilbar, wenn dies für die Beteiligung der Arbeitnehmer aufgrund des SEBG erforderlich ist. Letzteres kann insbesondere dann der Fall sein, wenn eine (bzw. die) Gründungsgesellschaft unter das Drittelbeteiligungsgesetz fiel und das Beteiligungsniveau gemäß § 35 SEBG über die SE-Gründung hinaus erhalten blieb oder eine entsprechende Beteiligungsvereinbarung abgeschlossen wurde.38) Angelehnt sind diese Vorgaben allesamt an die Regeln für den AG-Aufsichtsrat in § 95 AktG (Æ § 3 Rz. 6). Ob und inwieweit auch die Beteiligungsvereinbarung eigenständige und ggf. vorrangige Regelungen über die Sitzzahl enthalten kann, ist um___________ 35) Mittlerweile ganz h. M.; siehe nur Schwarz, SE-VO, Art. 52 Rz. 30; KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 28; MünchKommAktG/Kubis, Art. 52 SE-VO Rz. 19; Habersack/ Drinhausen/Bücker, Art. 52 SE-VO Rz. 26 f.; Van Hulle/Maul/Drinhausen/Maul, § 13 Rz. 16; Wicke, MittBayNot 2006, 196 (203). 36) Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 40 SE-VO Rz. 2; MünchKommAktG/ Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 4. 37) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 9 f.; ebenso im Grundsatz KKAktG/Paefgen, Art. 40 SE-VO Rz. 19, der den Ausschluss eines Weisungsrechts der Hauptversammlung jedoch an der ergänzenden Anwendung deutschen Aktienrechts festmacht. 38) Ihrig/Wandt, BB 2016, 6 (12 f.).

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B. Rechte und Pflichten der Organe

stritten39) und wird auch in der Praxis nicht einheitlich gehandhabt. Keine Anwendung auf die SE finden schließlich die in § 7 Abs. 1 MitbestG vorgesehenen Mindestsitzzahlen, und zwar auch dann nicht, wenn die SE kraft Beteiligungsvereinbarung oder gesetzlicher Auffanglösung (§§ 34 ff. SEBG) der paritätischen Mitbestimmung unterliegt.40) Bestellt und abberufen werden die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner 21 grundsätzlich durch die Hauptversammlung (Art. 40 Abs. 2 Satz 1 SE-VO). Jedenfalls für die Bestellung gilt dabei das einfache Stimmenmehrheitserfordernis aus Art. 57 Halbs. 1 SE-VO. Ob dies auch für die vorzeitige Abberufung gilt oder ob insofern für die deutsche SE das qualifizierte (und satzungsmäßig abmilderbare) Stimmenmehrheitserfordernis aus § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG (Æ § 3 Rz. 24 f.) vorrangig gilt, ist umstritten. Die wohl überwiegende Ansicht spricht sich hier für die volle Anwendung der Regeln über die Abberufung des AG-Aufsichtsrats (§ 103 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AktG) aus.41) Entsendungsrechte zugunsten einzelner Aktionäre kann die Satzung wie in der AG (Æ § 3 Rz. 26 f.) für bis zu ein Drittel der Aufsichtsratssitze vorsehen (§ 101 Abs. 2 AktG, Art. 47 Abs. 4 SE-VO), und in Ausnahmefällen können einzelne Aufsichtsratsmitglieder durch Gerichtsbeschluss gemäß § 104 AktG bestellt werden. Schließlich steht es jedem bestellten Aufsichtsratsmitglied selbst offen, sein Amt durch Niederlegung vorzeitig zu beenden. In materieller Hinsicht ist die Bestellung gemäß Art. 47 Abs. 2 Buchst. a) SE- 22 VO von der Erfüllung der allgemeinen aktienrechtlichen Eignungsvoraussetzungen aus § 100 Abs. 1, 2 AktG, abhängig42) (z. B. keine Mitgliedschaft in mehr als neun anderen gesetzlichen Aufsichtsräten, kein Amt als gesetzlicher Vertreter eines abhängigen Unternehmens Æ § 3 Rz. 10 ff.). Bei Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse gemäß § 316a Satz 2 HGB sind, also u. a. bei börsennotierten Gesellschaften, muss zudem mindestens ein Auf___________ 39) Hierzu ausführlich mit gegensätzlichen Positionen Forst, AG 2010, 350; Habersack, AG 2006, 345; Habersack/Drinhausen/Hohenstatt/Müller-Bonanni, § 21 SEBG Rz. 21 ff.; Kiem, ZHR 173 (2009), 156 (175 ff.); Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 43 SE-VO Rz. 36 ff.; Teichmann, AG 2008, 797; Wilk, Aktionärsrechte, S. 43 ff., 58 f.; ferner LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.2.2010 – 1 HK O 8471/09, ZIP 2010, 372; vgl auch die Nachweise zum Meinungssstand bei KK-AktG/Kiem, Art. 12 SE-VO Rz. 64. 40) Wilk, Aktionärsrechte, S. 217 m. w. N. 41) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 58; KK-AktG/Kiem, Art. 57 SE-VO Rz. 28; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 40 SE-VO Rz. 23 a. E.; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Spindler Art. 57 SE-VO Rz. 12; Habersack/Drinhausen/ Bücker, Art. 57 SE-VO Rz. 20; a. A. (einfache Stimmenmehrheit gemäß Art. 57 Halbs. 1 SE-VO ausreichend) KK-AktG/Paefgen, Art. 40 SE-VO Rz. 81; Habersack/Drinhausen/ Seibt, Art. 40 SE-VO Rz. 55; Schwarz, SE-VO Art. 40 Rz. 65; Brandt, Hauptversammlung, S. 148, 243; wiederum a. A. (qualifiziertes Stimmenmehrheitserfordernis gemäß § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG ohne Möglichkeit einer satzungsmäßigen Abmilderung) Wilk, Aktionärsrechte, S. 92 f., 94 f. 42) Ausführlich MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 47 SE-VO Rz. 11 ff.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

sichtsratsmitglied über Sachverstand auf dem Gebiet der Rechnungslegung und mindestens ein anderes Aufsichtsratsmitglied über Sachverstand auf dem Gebiet der Abschlussprüfung verfügen (§ 100 Abs. 5 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO; sog. Finanzexperten bzw. Financial Experts Æ § 3 Rz. 18). Über die gesetzlichen Voraussetzungen hinaus kann auch die Satzung persönliche Eignungsvoraussetzungen enthalten, die ggf. bei der Bestellung zu beachten sind (§ 100 Abs. 4 AktG, Art. 47 Abs. 3 SE-VO).43) Schließlich muss der SEAufsichtsrat zu mindestens 30 % mit Frauen bzw. Männern besetzt werden, wenn er aus derselben Anzahl von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern besteht und es sich um eine börsennotierte Gesellschaft handelt (§ 17 Abs. 2 SEAG; sog. Geschlechterquote).44) Ist für die Anteileignerseite etwa nach Maßgabe der anwendbaren Beteiligungsvereinbarung (§ 21 SEBG) also auch nur ein Sitz mehr vorgesehen als für die Arbeitnehmerseite, so führt dies zu einem vollständigen Wegfall der in § 17 Abs. 2 SEAG normierten Mindestvorgaben,45) und zwar auch dann, wenn die sitzmäßige Unterzahl der Arbeitnehmerseite durch eine satzungsmäßige Erhöhung des Stimmgewichts der Arbeitnehmervertreter gemäß Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO (Æ Rz. 25) auf einen paritätischen Einfluss herangeführt wird. Dieselbe Geschlechterquote gilt unabhängig von Börsennotierung und Mitbestimmungsniveau, wenn es sich um eine SE mit Mehrheitsbeteiligung des Bundes handelt (§ 52a Abs. 2 Nr. 2 SEAG; parallel für die AG § 393a Abs. 2 Nr. 2 AktG).46) Keinen Anknüpfungspunkt für die Geschlechterquote bildet demgegenüber die paritätische Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz, da jenes für die SE allenfalls mittelbar über § 35 SEBG Wirkung entfaltet (Æ Rz. 20). Anders als § 96 Abs. 2 Sätze 2 ff. AktG in Bezug auf den AG-Aufsichtsrat enthält § 17 Abs. 2 SEAG keine gesetzlichen Vorgaben zur Wahl zwischen sog. Gesamt- und Getrennterfüllung, zur Aufbzw. Abrundungsregeln der Mindestsitzzahl sowie zur Rechtsfolge beim Verstoß einer Aufsichtsratswahl gegen die Mindestquote (Æ § 3 Rz. 20). Hieraus

___________ 43) Ausführlich Wilk, Aktionärsrechte, S. 217 ff. 44) Krit. zur Vereinbarkeit der Norm mit Europarecht MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 78; Sagan, RdA 2015, 255 (257 ff.); Teichmann/Rüb, BB 2015, 898 (904); für eine Variier- und Abdingbarkeit der Geschlechterquote in der Beteiligungsvereinbarung Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 40 SE-VO Rz. 10 f.; hiergegen mit Recht MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 81; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Oetker, § 21 SEBG Rz. 54. 45) Teichmann/Rüb, BB 2015, 259 (266). 46) Nach der Übergangsregelung in § 52a Abs. 4 SEAG ist die Geschlechterquote nach § 52a Abs. 2 Nr. 2 SEAG seit dem 1. April 2022 bei allen Neu- und Wiederwahlen zum Aufsichtsrat zu beachten.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

wird abgeleitet,47) dass (i.) der SE-Aufsichtsrat dem Gesamterfüllungsgrundsatz unterliegt, ohne dass der Anteilseigner- oder Arbeitnehmerseite ein einseitiges gesetzliches Recht zusteht, per Widerspruch auf einer Getrennterfüllung zu bestehen, und (ii.) die Beteiligungsvereinbarung (§ 21 SEBG) aber von diesem Grundsatz abweichen kann (z. B. durch Nachbildung des gesetzlichen Widerspruchsrechts aus § 96 Abs. 2 AktG48) oder eine alternative Regelung ohne gesetzliches Vorbild. In Anbetracht der unklaren Gesetzeslage wird eine solche ausdrückliche Regelung in der Beteiligungsvereinbarung auch rechtspraktisch den sichersten Weg darstellen. Die Rundungsregel aus § 96 Abs. 2 Satz 4 AktG und die Nichtigkeitsfolge bei Quotenverstößen gemäß § 96 Abs. 2 Sätze 6 und 7 AktG sollen über Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO auch i. R. d. § 17 Abs. 2 SEAG Anwendung finden.49) Keinen materiellen Einschränkungen unterliegt demgegenüber die vorzeitige 23 Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder; insbesondere ein wichtiger Grund ist nicht erforderlich. Die reguläre Amtszeit bestimmt sich wie beim Vorstand (Æ Rz. 15) nach der 24 Satzung und darf sechs Jahre nicht überschreiten (Art. 46 Abs. 1 SE-VO). Auch insofern ist nicht abschließend geklärt, ob die Satzung eine feste Dauer der Amtszeit vorgeben muss oder ob sie sich auf die Festsetzung einer Höchstgrenze beschränken kann, wie es der Situation in der AG (§ 102 Abs. 1 AktG Æ § 3 Rz. 30) entspricht.50) Die Praxis begegnet dieser Ungewissheit nicht selten, indem sie eine der Formulierung nach an § 102 Abs. 1 AktG angelehnte Regelamtszeit mit einer Sechs-Jahres-Obergrenze für Abweichungen im Einzelfall ___________ 47) So die Annahme in der Beschlussempfehlung zum Entwurf eines Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BT-Drucks. 18/4227, S. 22; im Anschluss Grobe, AG 2015, 289 (298); Seibt, ZIP 2015, 1193 (1202); Stüber, CCZ 2015, 38 (39 f.); ein Widerspruchsrecht (ebenso wie einen diesbzgl. Regelungsspielraum in der Beteiligungsvereinbarung) bejahend dagegen Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 40 SE-VO Rz. 44b; Hohenstatt/Wendler, in: Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten, Rz. 346; Teichmann/Rüb, BB 2015, 898 (904); wiederum abw. MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 80. 48) Siehe das Formulierungsbeispiel von Hohenstatt/Wendler, in: Hohenstatt/Seibt, Geschlechterund Frauenquoten, Rz. 349. 49) So ebenfalls die Annahme des Gesetzgebers; vgl. BT-Drucks. 18/4227, S. 22; ebenso Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 40 SE-VO Rz. 13; Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 40 SE-VO Rz. 44c; Grobe, AG 2015, 289 (298); Seibt, ZIP 2015, 1193 (1202). 50) Für die zwingende Vorgabe einer absoluten Zahl Lutter/Hommelhoff/Teichmann/ Teichmann, Art. 46 SE-VO Rz. 4; KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Art. 46 SE-VO Rz. 12; Wilk, Aktionärsrechte, S. 227 f.; in Bezug auf das monistische System AG Hamburg, Beschl. v. 28.6.2005 – 66 AR 76/05, ZIP 2005, 2017, 2018 („Zoll Pool Hafen Hamburg SE“); a. A. (Höchstgrenze ausreichend) Schwarz, SE-VO, Art. 46 Rz. 13 ff.; Habersack/ Drinhausen/Drinhausen, Art. 46 SE-VO Rz. 10 ff.; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 46 SE-VO Rz. 6; MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 46 SE-VO Rz. 3; HoffmannBecking, ZGR 2004, 355 (364); Drinhausen/Nohlen, ZIP 2009, 1890 (1892 ff.); speziell in Bezug auf das monistische System Wicke, RNotZ 2020, 25 (31).

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§ 9 Besonderheiten in der SE

kombiniert.51) Die satzungsmäßig bestimmte Amtszeit gilt auch für den ersten Aufsichtsrat der SE; die Sonderregeln aus § 30 Abs. 3 AktG für den ersten AG-Aufsichtsrat finden auf die SE keine Anwendung.52) 25 Die Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung des Aufsichtsrats ist gemäß Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO grundsätzlich von der Anwesenheit der Hälfte seiner Mitglieder bzw. vom Erreichen einer einfachen Stimmenmehrheit abhängig, verbunden mit dem Recht des Aufsichtsratsvorsitzenden, eine Pattsituation per Letztentscheidungsrecht aufzulösen. Die Satzung kann diese Voraussetzungen in vielfacher und über die Möglichkeiten in der AG (Æ § 3 Rz. 70) hinausgehender Art und Weise variieren, wie etwa durch eine allgemeine oder selektive Verschärfung oder Abmilderung des Präsenz- bzw. Mehrheitserfordernisses, Veto- oder Vorschlagsrechte, Alleinentscheidungsrechte, Mehrfachstimmrechte oder sonstige Verzerrungen des Stimmgewichts der einzelnen Mitglieder.53) Zwingend gilt allein das Letztentscheidungsrecht des Vorsitzenden, sofern es sich um einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat handelt (Art. 50 Abs. 2 Satz 2 SE-VO); dazu dürfen etwaige Stimmgewichtsverzerrungen (z. B. durch Mehrstimmrechte) nicht eingesetzt werden, um gezielt den in der Beteiligungsvereinbarung bzw. Auffangregelung (§§ 34 ff. SEBG) festgeschriebenen Einfluss der Arbeitnehmervertreter auszuhöhlen (vgl. § 38 Abs. 1 SEBG).54) Ebenfalls zwingend gilt die Mindestsitzungsfrequenz von zwei Sitzungen bzw. – bei nichtbörsennotierten Gesellschaften – einer Sitzung pro Kalenderhalbjahr gemäß § 110 Abs. 3 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO.55) Die Regeln über sitzungsungebundene Beschlussfassungen aus § 108 Abs. 3, 4 AktG (z. B. Videokonferenz, schriftliche Abstimmung Æ vgl. § 3 Rz. 74) können in der Satzung nachgebildet werden,56) wenn man ihren gesetzlichen Anwendungsbereich nicht ohnehin bereits über Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO auf die SE ___________ 51) Vgl. etwa § 8 Abs. 3 der Satzung der E.ON SE (Stand Juni 2020), § 10 Abs. 3 der Satzung der Delivery Hero SE (Stand Dezember 2022) sowie § 10 Abs. 3 der Satzung der Zalando SE (Stand Januar 2022). 52) Str.; wie hier MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 40 SE-VO Rz. 52 f.; KK-AktG/ Siems/Müller-Leibenger, Art. 46 SE-VO Rz. 9; Schwarz, SE-VO, Art. 40 Rz. 53; Habersack/ Drinhausen/Drinhausen, Art. 46 SE-VO Rz. 8; Habersack, Der Konzern 2008, 67, 74; Wilk, Aktionärsrechte, S. 226 ff.; a. A. Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Drygala, Art. 40 SE-VO Rz. 28; KK-AktG/Paefgen, Art. 40 SE-VO Rz. 71 ff.; Habersack/Drinhausen/ Seibt, Art. 40 SE-VO Rz. 51; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 40 SE-VO Rz. 9. 53) Im Einzelnen str.; ausführlich hierzu MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 50 SE-VO Rz. 20 ff.; Wilk, Aktionärsrechte, S. 242 ff. 54) Vgl. KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Art. 50 SE-VO Rz. 15; Wilk, Aktionärsrechte, S. 247. 55) Unstr.; siehe nur MünchKommAktG/Habersack, § 110 Rz. 3; Habersack, AG 2006, 345 (349, 350). 56) Siehe die Formulierungsbeispiele von Diekmann, in: Happ/Bednarz, UmwandlungsR, Muster 5.01, S. 1415 f., und Lutter/Kollmorgen/Feldhaus, BB 2005, 2473 (2478).

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B. Rechte und Pflichten der Organe

erstrecken will.57) Im Übrigen steht es dem Aufsichtsrat im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts frei, seinen Geschäftsgang selbst zu regeln, etwa in Form einer Geschäftsordnung. Darin kann insbesondere die Einrichtung von Ausschüssen vorgesehen werden;58) für Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse gemäß § 316a Satz 2 HGB sind, also u. a. für börsennotierte Gesellschaften, ist die Einrichtung eines Prüfungsausschusses obligatorisch (§ 107 Abs. 4 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO). Soweit es sich um beschließende Ausschüsse handelt, gelten für ihre Beschlussfassung wiederum Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO bzw. in der Satzung vorgesehene Sonderregeln.59) Der Aufsichtsrat hat schließlich gemäß Art. 42 SE-VO aus seiner Mitte einen Vorsitzenden zu wählen, der im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat zwingend aus dem Kreis der Anteilseignervertreter stammen muss. Darüber hinaus ist gemäß § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO mindestens ein Stellvertreter zu wählen. Über die Vergütung der Aufsichtsratsmitglieder entscheiden die Aktionäre. 26 Statthaft ist nach h. M. sowohl eine Satzungsregelung über die Vergütung als auch eine Vergütungsbewilligung durch Hauptversammlungsbeschluss (§ 113 Abs. 1 Satz 2 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO).60) Bei börsennotierten Gesellschaften ist die Vergütungsregelung mindestens alle vier Jahre der Hauptversammlung zur Billigung vorzulegen (§ 113 Abs. 3 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO Æ § 3 Rz. 35). Aktienoptionen können dem SE-Aufsichtsrat nicht gewährt werden, da sie auch in der SE weder aus eigenen Aktien noch aus bedingtem Kapital bedient werden könnten (vgl. Art. 5 SE-VO, § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG bzw. § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5, § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG Æ § 3 Rz. 34). Im selben jährlichen Intervall wie der Vorstand (Æ Rz. 18) haben sich schließlich 27 auch die Mitglieder des Aufsichtsrats einem Entlastungsvotum der Hauptversammlung zu unterziehen (§ 120 AktG, Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO).61)

___________ 57) Für eine solche Erstreckung etwa BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 50 SE-VO Rz. 3; KKAktG/Siems/Müller-Leibenger, Art. 50 SE-VO Rz. 24. 58) Unstr.; siehe nur KK-AktG/Paefgen, Art. 40 SE-VO Rz. 117; Habersack/Drinhausen/ Drinhausen, Art. 50 SE-VO Rz. 23; Habersack, AG 2006, 345 (349). 59) Schwarz, SE-VO, Art. 50 Rz. 24 ff; Wilk, Aktionärsrechte, S. 253 f.; a. A. wohl Habersack/ Drinhausen/Drinhausen, Art. 50 SE-VO Rz. 23; wiederum abw. Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Teichmann, Art. 50 SE-VO Rz. 21 ff. 60) Siehe nur Schwarz, SE-VO, Art. 40 Rz. 88; Habersack/Drinhausen/Seibt, Art. 40 SE-VO Rz. 32. 61) Auch in Bezug auf den Aufsichtsrat mittlerweile ganz h. M.; siehe nur KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 28; Habersack/Drinhausen/Bücker, Art. 52 SE-VO Rz. 26 ff.; MünchKommAktG/Kubis, Art. 52 SE-VO Rz. 19; Wicke, MittBayNot 2006, 196, 203; Wilk, Aktionärsrechte, S. 273 ff., m. w. N.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

II.

Monistische SE

28 Im Mittelpunkt des monistischen SE-Modells steht der Verwaltungsrat62), dessen Struktur sich an das englisch-amerikanische Board-Modell anlehnt63) und grundsätzlich alle im dualistischen Modell auf Vorstand und Aufsichtsrat verteilte Kompetenzen und Funktionen auf sich vereint. Eine spezifisch deutsche Besonderheit der monistischen SE stellen die geschäftsführenden Direktoren als zweites, untergeordnet für die Geschäftsführung zuständiges Gremium dar. Ihre Rechtsstellung wird nicht durch die SE-VO, sondern ausschließlich in §§ 40 ff. SEAG ausgestaltet. Organqualität kommt dementsprechend nur dem Verwaltungsrat, nicht dagegen den geschäftsführenden Direktoren zu,64) auch wenn letztere in verschiedener Hinsicht organtypische Rechte und Pflichten haben. 1.

Verwaltungsrat

29 Der Verwaltungsrat führt die Geschäfte der SE (Art. 43 Abs. 1 Satz 1 SE-VO) in ähnlich eigenverantwortlicher Weise wie der Vorstand, ohne jedoch von einem weiteren Organ institutionell überwacht zu werden. Die Kontrolle der Geschäftsführung vollzieht sich stattdessen innerhalb des Verwaltungsrats selbst – in der deutschen SE etwa im Verhältnis zwischen solchen Verwaltungsratsmitgliedern, die gleichzeitig als geschäftsführende Direktoren tätig sind, und der nicht geschäftsführenden Mehrheit der Verwaltungsratsmitglieder (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 SEAG). Auch in der monistischen SE können zu diesem Zweck Zustimmungsvorbehalte für bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen installiert werden; die betreffende Geschäftsführungsmaßnahme bedarf dann gemäß Art. 48 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SE-VO eines ausdrücklichen Beschlusses des Gesamtverwaltungsrats. Gerichtet ist die Geschäftsführungskompetenz des Verwaltungsrats in der deutschen SE primär nach innen. Mit Ausnahme der Vertretung der Gesellschaft gegenüber den geschäftsführenden Direktoren gemäß § 41 Abs. 5 SEAG (etwa bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Æ Rz. 75) verfügen die Verwaltungsratsmitglieder weder individuell noch als Gesamtgremium über organschaftliche Vertretungsmacht für die Gesellschaft. 30 Punktuell können sich Geschäftsführungsentscheidungen auch in der monistischen SE auf die Hauptversammlung verlagern. Dem Verwaltungsrat (nicht jedoch den geschäftsführenden Direktoren Æ Rz. 41) steht es insbesondere frei, einzelne Geschäftsführungsmaßnahmen gemäß § 119 Abs. 2 AktG, Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO der Hauptversammlung zur Entscheidung vorzulegen.65) Ebenso übertragbar auf das Verhältnis zwischen Verwaltungsrat und Hauptver___________ 62) Die SE-VO verwendet die inhaltlich gleichbedeutende Bezeichnung „Verwaltungsorgan“. 63) Rechtsvergleichend Wilk, Suffolk Transnational Law Review 35 (2012), 31. 64) Str.; wie hier KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 7; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 6; a. A. Schwarz, SE-VO, Art. 39 Rz. 53. 65) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 10; Wilk, Aktionärsrechte, S. 348.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

sammlung sind nach h. M. die sog. Holzmüller/Gelatine-Grundsätze (Æ § 1 Rz. 169 ff.), nach denen bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen von grundlegender Bedeutung zwingend der Hauptversammlung vorzulegen sind.66) Der Verwaltungsrat besteht gemäß Art. 43 Abs. 2 SE-VO, § 23 Abs. 1 SEAG 31 aus mindestens einem Mitglied. Die Bestimmung der genauen Mitgliederzahl oder die Regeln für ihre Festlegung sind gemäß Art. 43 Abs. 2 Satz 1 SE-VO in die Satzung aufzunehmen. Dabei unterliegt der Satzungsgeber unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlichen Mindest- und Höchstgrenzen, die sich an die Parallelvorgaben für den AG- und SE-Aufsichtsrat (Æ § 3 Rz. 6) anlehnen. So muss der Verwaltungsrat gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SEAG aus mindestens drei Mitgliedern bestehen, wenn die SE über ein Grundkapital von mehr als EUR 3 Mio. verfügt. Ferner gilt bei einem Grundkapital von bis zu EUR 1,5 Mio. eine Höchstgrenze von neun Sitzen, bei einem Grundkapital von mehr als EUR 1,5 Mio. und bis zu EUR 10 Mio. eine Höchstgrenze von 15 Sitzen und bei einem noch höheren Grundkapital eine absolute Höchstgrenze von 21 Sitzen. Keine Anwendung auf den Verwaltungsrat finden wiederum die Mindestsitzzahlen aus § 7 Abs. 1 MitbestG. Bestellt und abberufen werden die Verwaltungsratsmitglieder der Anteils- 32 eigner – wie die Mitglieder des Aufsichtsrats im dualistischen Modell (Æ Rz. 21) – grundsätzlich durch die Hauptversammlung (Art. 43 Abs. 3 Satz 1 SE-VO), soweit keine Entsendungsrechte einzelner Aktionäre bestehen (§ 101 Abs. 2 AktG. § 28 Abs. 2 SEAG)67) und nicht ausnahmsweise eine Bestellung durch Gerichtsbeschluss (§ 30 SEAG) erfolgt. Für die Bestellung gilt das einfache Stimmenmehrheitserfordernis aus Art. 57 Halbs. 1 SE-VO, während für eine vorzeitige Abberufung nach § 29 Abs. 1 SEAG dasselbe gelten soll wie in Bezug auf den AG-Aufsichtsrat. Danach bedarf der Abberufungsbeschluss grundsätzlich einer Dreiviertel-Stimmenmehrheit, soweit die Satzung nichts Abweichendes bestimmt.68) ___________ 66) Siehe nur MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 11; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 44 SEAG) Rz. 6 a. E.; Habersack/ Drinhausen/Verse, § 44 SEAG Rz. 4; jeweils m. w. N.; a. A. Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Spindler, Art. 52 SE-VO Rz. 47; Marsch-Barner, in: Liber Amicorum Happ (2006), S. 165 (171); Brandt, Hauptversammlung, S. 123 ff.; diff. Wilk, Aktionärsrechte, S. 346 f. 67) Hierzu Graßl/Nikoleyczik, AG 2020, 881 (884 f.). 68) Ob und inwieweit der Gesetzgeber mit dieser, an § 103 Abs. 1 AktG angelehnten Regelung die Vorgaben der SE-VO einhält, ist fraglich; siehe hierzu Schwarz, SE-VO, Art. 43 Anh Rz. 148; Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 43 SE-VO Rz. 112; KK-AktG/Paefgen, Art. 40 SE-VO Rz. 81 Fn. 151; Wilk, Aktionärsrechte, S. 93, 326 f. (zur parallelen Frage der Anwendbarkeit von § 103 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AktG auf die Abberufung des SE-Aufsichtsrats Æ Rz. 22); die Verordnungskonformität bejahend Lutter/Hommelhoff/Teichmann/ Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 29 SEAG) Rz. 11; KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 29 SEAG) Rz. 2; KK-AktG/Kiem, Art. 57 SE-VO Rz. 28.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

33 Die von Verwaltungsratskandidaten zu erfüllenden Eignungsvoraussetzungen lehnen sich ebenfalls an die Vorgaben für den Aufsichtsrat (Æ Rz. 22) an. Es gelten zunächst die in § 27 Abs. 1 SEAG bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen, die weitgehend wortgleich den Regelungen zum Aufsichtsrat in § 100 Abs. 2 AktG (Æ § 3 Rz. 14) nachgebildet sind. Eine weitere Parallele zum Recht des Aufsichtsrats ist das für Unternehmen von öffentlichem Interesse (§ 316a Satz 2 HGB) – also u. a. für börsennotierte Gesellschaften – geltende Erfordernis, mindestens ein Mitglied zu wählen, das über Sachverstand auf dem Gebiet der Rechnungslegung verfügt, und mindestens ein weiteres Mitglied, das über Sachverstand auf dem Gebiet der Abschlussprüfung verfügt (sog. Finanzexperten bzw. Financial Experts; § 27 Abs. 1 Satz 4 SEAG, § 105 Abs. 5 AktG). Nach Art. 47 Abs. 3 SE-VO, § 100 Abs. 4 AktG können ferner in die Satzung individuelle Eignungsvoraussetzungen für die jeweilige Gesellschaft aufgenommen werden.69) Für die Geschlechterquote schließlich findet sich in § 24 Abs. 3 SEAG eine – ebenfalls an § 96 Abs. 2 AktG (Æ § 3 Rz. 20) angelehnte – Parallelregelung zu § 17 Abs. 2 SEAG (Æ Rz. 22). Danach ist ein Verwaltungsrat einer börsennotierten SE, der aus derselben Zahl von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern bestehen, zu mindestens 30 % mit Frauen bzw. Männern zu besetzen. Dieselbe Geschlechterquote gilt unabhängig von Börsennotierung und Mitbestimmungsniveau, wenn es sich um eine SE mit Mehrheitsbeteiligung des Bundes handelt (§ 52a Abs. 2 Nr. 3 SEAG).70) Wie in § 17 Abs. 2 SEAG fehlt es auch in § 24 Abs. 2 SEAG an einer gesetzlichen Klärung der Frage, ob sich die für den AG-Aufsichtsrat gemäß § 96 Abs. 2 Sätze 2 ff. AktG geltenden Vorgaben zur Wahl zwischen sog. Gesamt- und Getrennterfüllung, zur Auf- bzw. Abrundungsregeln der Mindestsitzzahl sowie zur Rechtsfolge beim Verstoß einer Aufsichtsratswahl gegen die Mindestquote (Æ § 3 Rz. 20) auf die SE erstrecken oder die SE hiervon gerade ausgenommen werden soll. Zugrunde liegt diesem Verzicht auch in Bezug auf die monistische SE die – wegen § 20 Halbs. 2 SEAG zweifelhafte71)– Annahme des Gesetzgebers, dass sich die Geltung der Rundungsregeln und der Nichtigkeitsfolge bei Quotenverstößen bereits aus Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO ergebe, während das gesetzliche Recht zum Widerspruch gegen den Gesamterfüllungsgrundsatz wegen der Besonderheiten der SE-Mitbestimmung nicht gelte und allenfalls in einer Beteili-

___________ 69) Ganz h. M.; siehe nur MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 47 SE-VO Rz. 39; Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 47 SE-VO Rz. 20; Habersack/Drinhausen/ Drinhausen, Art. 47 SE-VO Rz. 25 a. E. 70) Nach der Übergangsregelung in § 52a Abs. 4 SEAG ist die Geschlechterquote nach § 52a Abs. 2 Nr. 3 SEAG seit dem 1. April 2022 bei allen Neu- und Wiederwahlen zum Verwaltungsrat zu beachten. 71) Zutr. Teichmann/Rüb, BB 2015, 898 (905); Hohenstatt/Wendler, in: Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten, Rz. 352.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

gungsvereinbarung nachgebildet werden könne.72) In praktischer Hinsicht wird auch hier der sicherste Weg darin liegen, die Modalitäten der Gesamt- bzw. Getrennterfüllung in der Beteiligungsvereinbarung zu regeln (Æ Rz. 22). Keine materiellen Voraussetzungen gelten schließlich für die Abberufung eines 34 Verwaltungsratsmitglieds. Insbesondere ist hierfür kein wichtiger Grund entsprechend § 84 Abs. 4 Satz 1 AktG erforderlich. Die Hauptversammlung kann einem Verwaltungsratsmitglied dementsprechend nicht gemäß § 84 Abs. 4 Satz 2 AktG das Vertrauen entziehen,73) sondern ist unmittelbar für die Abberufung zuständig. Auch insoweit ist die Rechtsstellung der Verwaltungsratsmitglieder damit derjenigen von Aufsichtsratsmitgliedern (Æ Rz. 23) stärker angenähert als der von Vorstandsmitgliedern. Zwischen der Verwaltungsratsmitgliedschaft und der Position als geschäfts- 35 führender Direktor besteht keine Inkompatibilität. Die Führungsstruktur kann daher insgesamt schlanker gestaltet werden als im dualistischen Modell.74) Einzige gesetzliche Einschränkung bildet die in § 40 Abs. 1 Satz 2 SEAG enthaltene Vorgabe, nach der der Verwaltungsrat mehrheitlich aus nicht geschäftsführenden Mitgliedern bestehen muss. Darüber hinaus kann die Wählbarkeit von geschäftsführenden Direktoren allein in der Satzung – etwa im Rahmen satzungsmäßiger Eignungsvoraussetzung nach Art. 47 Abs. 3, § 100 Abs. 4 AktG – eingeschränkt oder ausgeschlossen werden. Die für die Amtszeit geltenden Vorgaben aus Art. 46 SE-VO gelten für die du- 36 alistischen und monistischen SE-Organe gleichermaßen (Æ Rz. 15, 24). Die reguläre Amtszeit eines Verwaltungsratsmitglieds beträgt damit ebenfalls maximal sechs Jahre und bestimmt sich im Einzelnen nach der Satzung. Die Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung im Verwaltungsrat bedarf ge- 37 mäß Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO grundsätzlich einer Präsenz von mindestens der Hälfte der Verwaltungsratsmitglieder bzw. einer einfachen Stimmenmehrheit; Pattsituationen können durch den Verwaltungsratsvorsitzenden entschieden werden. Die Möglichkeiten, diese Grundsätze durch die Satzung zu variieren, sind ebenso vielfältig wie in Bezug auf den Vorstand (Æ Rz. 12, 16) und Aufsichtsrat (Æ Rz. 25). Eine Sitzung hat der Verwaltungsrat gemäß Art. 44 Abs. 1 SE-VO mindestens alle drei Monate einzuberufen. § 35 Abs. 1, 2 SEAG gestattet nach dem Vorbild des § 108 Abs. 3, 4 AktG (Æ § 3 Rz. 74) bestimmte sit___________ 72) Beschlussempfehlung zum Entwurf eines Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BT-Drucks. 18/4227, S. 22; im Anschluss Grobe, AG 2015, 289 (298); Seibt, ZIP 2015, 1193 (1202); Stüber, CCZ 2015, 38 (39 f.); die Anwendbarkeit des gesetzlichen Widerspruchsrechts bejahend dagegen Habersack/Drinhausen/Verse, § 24 SEAG Rz. 8; Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 24 SEAG) Rz. 4 ff.; Hohenstatt/Wendler, in: Hohenstatt/Seibt, Geschlechter- und Frauenquoten, Rz. 350 ff. 73) Schwarz, SE-VO, Art. 43 Anh Rz. 150; Wilk, Aktionärsrechte, S. 327 f. 74) Wicke, RNotZ 2020, 25 (31 f.).

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§ 9 Besonderheiten in der SE

zungsungebundene Beschlussfassungen (z. B. Videokonferenz, schriftliche Abstimmung). Im Übrigen kann der Verwaltungsrat seinen Geschäftsgang gemäß § 34 Abs. 2 SEAG in einer Geschäftsordnung regeln, was jedenfalls bei mehr als zwei Organmitgliedern in aller Regel praktisch unverzichtbar ist. Insbesondere per Geschäftsordnung regeln kann der Verwaltungsrat die Einrichtung von Ausschüssen;75) für Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse gemäß § 316a Satz 2 HGB sind, also u. a. für börsennotierte Gesellschaften, ist die Einrichtung eines Prüfungsausschusses obligatorisch (§ 34 Abs. 5 SEAG). Art. 45 SE-VO schließlich gibt dem Verwaltungsorgan – parallel zu Art. 42 SE-VO (Æ Rz. 25) – auf, aus seiner Mitte einen Vorsitzenden zu wählen; bei paritätischer Mitbestimmung des Verwaltungsrats sind nur Anteilseignervertreter wählbar. Daneben ist gemäß § 34 Abs. 1 SEAG mindestens ein Stellvertreter des Vorsitzenden zu wählen. Eine Vorsitzenden- und Stellvertreterwahl erübrigt sich nur dann, wenn der Verwaltungsrat aus einem einzigen Mitglied besteht (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 3 SEAG). 38 Die Entscheidung über die Vergütung der Verwaltungsratsmitglieder liegt in den Händen der Hauptversammlung. § 38 SEAG verweist insofern pauschal auf die Regelungen über die Aufsichtsratsvergütung in § 113 AktG (Æ § 3 Rz. 34 ff.). Anders als Aufsichtsratsmitglieder können Verwaltungsratsmitglieder auch in Aktienoptionsprogramme einbezogen werden. Denn ihre Aufgaben betreffen (unabhängig von einer gleichzeitigen Bestellung als geschäftsführender Direktor) jedenfalls in erster Linie nicht die Überwachung, sondern die Führung der Geschäfte. Sie sind folglich „Mitglieder der Geschäftsführung“ i. S. d. § 71 Abs. 1 Nr. 8 Satz 5, § 192 Abs. 2 Nr. 3, § 193 Abs. 2 Nr. 4 AktG.76) Verwaltungsratsmitglieder, die auch als geschäftsführende Direktoren tätig sind, können für beide Ämter eine gesonderte Vergütung erhalten.77) 39 Schließlich hat die Hauptversammlung jährlich über die Entlastung der Verwaltungsratsmitglieder zu beschließen. § 120 AktG, Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO gelten entsprechend für die monistische SE, ohne dass es insofern eines ausdrücklichen Verweises bedarf.78) ___________ 75) Siehe nur Bachmann, ZGR 2008, 779 (791 f.). 76) H. M.; Habersack/Drinhausen/Verse, § 38 SEAG Rz. 13 ff.; KK-AktG/Siems/MüllerLeibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 38 SEAG) Rz. 9; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/ Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 38 SEAG), Rz. 8; Bachmann, ZGR 2008, 779, 795 ff.; Lutter/Kollmorgen/Feldhaus, BB 2005, 2473 (2480); Wilk, Aktionärsrechte, S. 404; a. A. MünchKommAktG/Oechsler Art. 5 SE-VO Rz. 40; BeckOGK-SE/Casper, Art. 5 SE-VO Rz. 4; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Fleischer, Art. 5 SE-VO Rz. 8. 77) Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 57; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 65; Wilk, Aktionärsrechte, S. 360 f.; abw. Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 43 SE-VO Rz. 147. 78) Mittlerweile ganz h. M.; siehe nur KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 28 a. E.; Lutter/ Hommelhoff/Teichmann/Spindler, Art. 52 SE-VO Rz. 30 a. E.; Habersack/Drinhausen/ Bücker, Art. 52 SE-VO Rz. 28.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

2.

Geschäftsführende Direktoren

Wie der Verwaltungsrat sind die geschäftsführenden Direktoren gemäß § 40 40 Abs. 2 SEAG für die Führung der Geschäfte zuständig. Ihre Geschäftsführungskompetenz konkurriert allerdings nicht mit der des Verwaltungsrats, sondern ist jener in fast jeder Hinsicht untergeordnet. Die geschäftsführenden Direktoren sind folglich weniger mit dem Vorstand einer AG als mit der ersten Führungsebene hinter dem Vorstand vergleichbar. Insbesondere sind die geschäftsführenden Direktoren gegenüber dem Verwaltungsrat umfassend weisungsabhängig (§ 44 Abs. 2 SEAG) und genießen weder allgemein noch punktuell Freiräume, die sie analog § 76 Abs. 1 AktG in eigener Verantwortung ausfüllen können. Auch durch die Satzung kann das Weisungsrecht nicht eingeschränkt werden.79) Dem Verwaltungsrat steht es jedoch offen, den geschäftsführenden Direktoren aus eigener Initiative mehr oder weniger weitreichende Freiräume einzuräumen (und diese ggf. auch wieder zu entziehen). Praktisch verbreitet ist etwa eine umfassende Aufgabendelegation an die geschäftsführenden Direktoren in Bezug auf das Tagesgeschäft.80) Die umfassende Abhängigkeit vom Verwaltungsrat können die geschäftsfüh- 41 renden Direktoren auch nicht punktuell dadurch umgehen, dass sie entsprechend § 119 Abs. 2 AktG die Entscheidung der Hauptversammlung einholen.81) Vorlageberechtigt ist insofern allein der für die Geschäftsführung originär zuständige Verwaltungsrat (Æ Rz. 30). Auch in Bezug auf Geschäftsführungsmaßnahmen von grundlegender Bedeutung, die unter die sog. Holzmüller/ Gelatine-Grundsätze fallen (Æ § 1 Rz. 169 ff.), ergibt sich keine eigene Vorlagebefugnis bzw. -pflicht der geschäftsführenden Direktoren. Vorlageberechtigt und -verpflichtet ist vielmehr auch in diesen Fällen allein der Verwaltungsrat.82) Unentziehbar zugewiesen ist den geschäftsführenden Direktoren gemäß § 41 42 SEAG lediglich die Befugnis zur Vertretung der Gesellschaft. Angelehnt ist diese an die organschaftliche Vertretungsbefugnis des AG-Vorstands gemäß § 78 AktG: Dem Grundsatz der Gesamtvertretungsbefugnis mehrerer geschäftsführender Direktoren steht die Möglichkeit gegenüber, durch Satzungsbestimmung einem oder mehreren Direktoren Einzelvertretungsbefugnis einzuräumen (Æ § 1 Rz. 191). Ebenso kann die Satzung bestimmen, dass einzelne geschäftsführende Direktoren gemeinsam mit einem Prokuristen vertretungsgefugt sind (§ 41 Abs. 3 Satz 1 SEAG). ___________ 79) H. M.; KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 44 SEAG) Rz. 4; Habersack/Drinhausen/Verse, § 44 SEAG Rz. 9; Ihrig, ZGR 2008, 809 (819 f.); Wilk, Aktionärsrechte, S. 343 f.; grds. ebenso, aber stattdessen die Möglichkeit einer anstellungsvertraglich zugesicherten Weisungsfreiheit bejahend BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 43 SE-VO Rz. 16; a. A. Marsch-Barner, in: GS Bosch (2006), S. 99 (105). 80) Graßl/Nikoleyczik, AG 2020, 881 (883). 81) Wilk, Aktionärsrechte, S. 363 f. 82) Wilk, Aktionärsrechte, S. 364; vgl. auch Habersack/Drinhausen/Verse, § 44 SEAG Rz. 6.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

43 Die Zahl der geschäftsführenden Direktoren ist gesetzlich nicht festgelegt. Zumindest ein geschäftsführender Direktor ist jedoch in jedem Fall zu bestellen (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 SEAG). Weitere Festlegungen – etwa eine bestimmte Zahl, eine Mindest- oder eine Höchstzahl – können gemäß § 40 Abs. 1 Satz 5 SEAG in der Satzung getroffen werden. 44 Bestellt und abberufen werden die geschäftsführenden Direktoren gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SEAG durch den Verwaltungsrat. Eine Hauptversammlungszuständigkeit hierfür existiert ebenso wenig wie die Möglichkeit, einzelnen Aktionären satzungsmäßige Entsendungsrechte zu verleihen. Sowohl für die Bestellungs- als auch für die Abberufungsentscheidung kann die Satzung jedoch gemäß Art. 50 Abs. 1, 2 SE-VO verbindliche Vorgaben setzen, etwa durch die Verankerung besonderer Beschlussfähigkeits- und Mehrheitserfordernisse, Vorschlags- oder Vetorechte83) (Æ Rz. 25, 37). Die geschäftsführenden Direktoren ihrerseits können den Verwaltungsrat gemäß § 40 Abs. 6 SEAG im Wesentlichen unter denselben Voraussetzungen wie ein Vorstandsmitglied (Æ Rz. 14) um einen vorübergehenden Widerruf der Bestellung ersuchen (sog. Stayonboard-Regelung). 45 Für die Bestellung der geschäftsführenden Direktoren gelten nur wenige gesetzliche Eignungsvoraussetzungen nämlich grundsätzlich nur die Ausschlussgründe nach § 76 Abs. 3 AktG, § 40 Abs. 1 Satz 4 SEAG. Darüber hinaus muss mindestens eine Frau und ein Mann bestellt werden, wenn insgesamt mindestens vier Personen bestellt sind und die SE sowohl börsennotiert als auch im Verwaltungsrat paritätisch mitbestimmt ist (sog. Mindestbeteiligung; § 40 Abs. 1a Satz 1 SEAG; zur Parallelregelung für den AG-Vorstand in § 76 Abs. 3a AktG Æ § 1 Rz. 37).84) Dieselbe Mindestbeteiligung gilt unabhängig von Börsennotierung und Mitbestimmungsniveau bereits ab drei geschäftsführenden Direktoren, wenn es sich um eine SE mit Mehrheitsbeteiligung des Bundes handelt (§ 52a Abs. 2 Nr. 4 SEAG; parallel für die AG § 393a Abs. 2 Nr. 1 AktG).85) Überwiegend für zulässig erachtet werden weiter satzungsmäßige Eignungsvoraussetzungen auf Grundlage von § 40 Abs. 1 Satz 5 SEAG;86) teilweise wird hierfür auch auf § 100 Abs. 4 AktG, Art. 47 Abs. 3 SE-VO abge-

___________ 83) Z. B. zur gezielten Stärkung der Position eines „CEO“; hierzu Graßl/Nikoleyczik, AG 2020, 881 (884). 84) Nach der Übergangsregelung in § 40 Abs. 1a Satz 3 SEAG ist die Mindestbeteiligung seit dem 1. August 2022 bei allen Neubestellungen und Mandatsverlängerungen zu beachten. 85) Nach der Übergangsregelung in § 52a Abs. 3 SEAG ist auch diese Mindestbeteiligung seit dem 1. August 2022 bei allen Neubestellungen und Mandatsverlängerungen zu beachten. 86) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 114; KK-AktG/Siems/MüllerLeibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 45; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 19; a. A. Wilk, Aktionärsrechte, S. 350 ff.

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B. Rechte und Pflichten der Organe

stellt.87) Satzungsmäßig eingeschränkt werden kann gemäß § 40 Abs. 5 Satz 1 SEAG ferner die Befugnis des Verwaltungsrats, geschäftsführende Direktoren jederzeit und ohne Angabe von Gründen abzuberufen. So können in der Satzung etwa die für den Vorstand geltenden Einschränkungen aus § 84 Abs. 4 AktG (Abberufung nur aus wichtigem Grund Æ Rz. 13 und § 3 Rz. 186 ff.) zugunsten der geschäftsführenden Direktoren nachgebildet oder in abgewandelter Form übernommen werden.88) Für die Amtszeit der geschäftsführenden Direktoren ergeben sich weder aus 46 der SE-VO noch aus dem SEAG feste Vorgaben. Insbesondere Art. 46 Abs. 1 SE-VO, der den Satzungsgeber mit der Festsetzung einer höchstens sechsjährigen Amtszeit für die SE-Organe beauftragt, ist mangels Organqualität der geschäftsführenden Direktoren (Æ Rz. 28) nicht anwendbar.89) Die Entscheidung über die Amtszeit liegt daher grundsätzlich uneingeschränkt in den Händen des Verwaltungsrats. Gemäß § 40 Abs. 5 Satz 1 SEAG können jedoch auch insofern Vorgaben in die Satzung aufgenommen werden wie etwa die Festlegung einer Mindestamtszeit, innerhalb derer ein geschäftsführender Direktor nur aus wichtigem Grund abberufen werden kann.90) Die innere Ordnung im Miteinander mehrerer geschäftsführender Direktoren 47 kann in einer von den geschäftsführenden Direktoren einstimmig zu beschließenden Geschäftsordnung geregelt werden (§ 40 Abs. 4 Satz 1, 3 SEAG). Die Zuständigkeit zum Erlass einer Geschäftsordnung liegt gemäß § 40 Abs. 4 Satz 1 SEAG beim Verwaltungsrat, wenn die Satzung dies vorsieht oder der Verwaltungsrat die Zuständigkeit selbst an sich zieht. Einzelfragen der Geschäftsordnung können auch unmittelbar in der Satzung geregelt werden (§ 40 Abs. 1 Satz 2 SEAG). Inhaltlich und in der Wortwahl nachempfunden ist § 40 Abs. 4 SEAG den Regeln über die innere Ordnung des Vorstands aus § 77 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 16, § 1 Rz. 11 f.). Über die Vergütung der geschäftsführenden Direktoren entscheidet der Ver- 48 waltungsrat nach Maßgabe von § 87 AktG, § 40 Abs. 8 SEAG. Die für die Festsetzung der Vorstandsvergütung geltenden Grundsätze (Æ Rz. 17) gelten da___________ 87) So offenbar Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 47 SE-VO Rz. 21; Habersack/ Drinhausen/Drinhausen, Art. 47 SE-VO Rz. 26 f. 88) H. M.; siehe nur MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 137 ff.; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 54; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/ Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 7 a. E.; Marsch-Barner, in: GS Bosch (2006), S. 99 (105). 89) H. M.; siehe nur KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 41; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 6, 17; Van Hulle/Maul/Drinhausen/ Drinhausen/Keinath, § 11 Rz. 34, jeweils m. w. N.; i. E. auch Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Teichmann, Art. 46 SE-VO Rz. 8; a. A. Schwarz, SE-VO, Art. 46 SE-VO Rz. 7. 90) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 118 f.; Van Hulle/Maul/ Drinhausen/Drinhausen/Keinath, § 11 Rz. 34; Wilk, Aktionärsrechte, S. 354 f., 356.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

mit entsprechend im Verhältnis zwischen Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren. Das gilt auch in Bezug auf das Vergütungssystem, das der Verwaltungsrat einer börsennotierten SE für die geschäftsführenden Direktoren zu beschließen hat (§ 87a AktG, § 40 Abs. 8 SEAG),91) und wohl ebenso für das Erfordernis eines Votums der Hauptversammlung zum Vergütungssystem nach § 120a Abs. 1 AktG (vgl. § 87a Abs. 2 Satz 1 AktG). Der Verwaltungsrat übernimmt gemäß § 41 Abs. 5 SEAG ferner die Vertretung der SE gegenüber den geschäftsführenden Direktoren beim Abschluss eines Anstellungsvertrags. 49 Die Frage, ob die Hauptversammlung jährlich entsprechend § 120 AktG über die Entlastung der geschäftsführenden Direktoren zu beschließen hat, wird mittlerweile wohl überwiegend bejaht,92) auch wenn die fehlende Organqualität und die umfassende Abhängigkeit der geschäftsführenden Direktoren eher gegen die Erforderlichkeit einer solchen Beschlussfassung sprechen.93) In der Unternehmenspraxis wird die jährliche Entlastung der geschäftsführenden Direktoren durch die Hauptversammlung uneinheitlich gehandhabt, ohne dass die jeweiligen Beschlussfassungen in dieser Hinsicht bislang gerichtlich beanstandet wurden. ,

C.

Organhaftung

I.

Dualistische SE

1.

Sorgfalts- und Treuepflichten

50 Der SE-Vorstand und -Aufsichtsrat unterliegen wie ihre Gegenstücke in der AG organschaftlichen Sorgfalts- und Treuepflichten. Art. 51 SE-VO bildet dabei die Schnittstelle zwischen SE-spezifischem Organhaftungsrecht und den allgemeinen aktienrechtlichen Organhaftungsregeln, wie sie in weiten Teilen auch für die SE – insbesondere die dualistische SE – gelten. Die Norm verweist umfassend auf die jeweiligen mitgliedstaatlichen, auf nationale Aktiengesellschaften anwendbaren Regeln. Für eine dualistische SE mit Sitz in Deutschland führt dieser Verweis grundsätzlich zu den aktiengesetzlichen Regeln über die Vorstands- und Aufsichtsratshaftung nach §§ 93, 116 AktG. Deren Schutzbereich erfasst im Fall der SE nicht nur die Erfüllung aktiengesetzlicher Pflichten,

___________ 91) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 162. 92) Bejahend ohne nähere Begründung Schwarz, SE-VO, Art. 52 SE-VO Rz. 30 a. E.; im Anschluss BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 51 SE-VO Rz. 11; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Spindler, Art. 52 SE-VO Rz. 30 a. E.; KK-AktG/Kiem, Art. 52 SE-VO Rz. 28 a. E.; Van Hulle/Maul/Drinhausen/Drinhausen/Keinath, § 12 Rz. 56; für eine Entlastung (nur?) der Verwaltungsratsmitglieder dagegen Habersack/Drinhausen/Bücker, Art. 52 SE-VO Rz. 28; Van Hulle/Maul/Drinhausen/Maul, § 13 Rz. 16; Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz, Die Europäische AG, S. 269 (282). 93) Wilk, Aktionärsrechte, S. 365 f.; a. A. ausdrücklich Bunz, AG 2018, 466, 470 f.; Boettcher, Kompetenzen von Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren, S. 198.

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C. Organhaftung

sondern auch solcher Organpflichten, die unmittelbar auf Verordnungsebene angesiedelt sind.94) a)

Vorstand

Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, Art. 51 SE-VO hat der SE-Vorstand bei der 51 Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Maßgeblich ist dabei, wie ein pflichtbewusster selbstständig tätiger Leiter eines Unternehmens der konkreten Art, der nicht mit eigenen Mitteln wirtschaftet, sondern ähnlich wie ein Treuhänder fremden Vermögensinteressen verpflichtet ist, zu handeln hat (Æ § 1 Rz. 253). Im Bereich der Sorgfaltspflichten hat der Vorstand zunächst die auf sein Handeln anwendbaren Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften einzuhalten (Legalitätspflicht Æ § 1 Rz. 229 ff.). Dazu zählen sowohl gesellschaftsinterne Vorgaben aus Satzung und Geschäftsordnung (z. B. Einhaltung von Zustimmungsvorbehalten zugunsten des Aufsichtsrats und Respektierung von Ressortgrenzen) als auch externe, allgemeingültige Vorgaben, und zwar sowohl in Bezug auf die Person des Vorstands selbst (z. B. Insolvenzantragspflicht, Buchführung, Berichts- und Informationspflichten gegenüber Aufsichtsrat und Hauptversammlung sowie die in § 93 Abs. 3 AktG aufgeführten Sonderbereiche) als auch in Bezug auf die Gesellschaft (z. B. Steuerrecht, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht sowie handels- und kapitalmarktrechtliche Offenlegungspflichten).95) Nachgeordnete Unternehmensangestellte hat der Vorstand mit derselben Sorgfalt zu überwachen (Æ § 1 Rz. 281 ff.). Er hat aufgrund seiner Legalitätspflicht insbesondere ein auf Schadensverhinderung und Prävention ausgerichtetes Compliance-System einzurichten und dessen Wirksamkeit regelmäßig zu überprüfen96) (Æ § 1 Rz. 285 ff.). Rechtsgrundlage dieser Pflichten sind teilweise SE-spezifische Sondervorschriften wie Art. 48 SE-VO für Zustimmungsvorbehalte und Art. 41 SE-VO i. V. m. § 18 SEAG für die Unterrichtung des Aufsichtsrats. Inhaltlich ergeben sich allerdings wenig Unterschiede zu den aktiengesetzlichen Parallelregelungen (z. B. § 90 AktG für Berichte an den Aufsichtsrat). Soweit das Handeln des Vorstands nicht rechtlich determiniert ist, fällt der 52 Vorstand auf die allgemeine Pflicht zur ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführung aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG zurück. Er trägt in diesem Rahmen die Verantwortung dafür, das von den Aktionären eingebrachte Kapital im Rahmen des Unternehmensgegenstands zweckmäßig, wirtschaftlich und gewinn___________ 94) Schwarz, SE-VO, Art. 51 Rz. 10 f.; Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 12; KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Art. 51 SE-VO Rz. 2. 95) Ausführl. zu dieser Auffächerung in interne und externe Pflichtenbindung Æ § 1 Rz. 231 ff.; ferner BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 AktG Rz. 19 ff. 96) Exemplarisch BGH 1 StR 265/16, CCZ 2017, 285, 287 f.; LG München I, 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 („Siemens/Neubürger“).

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733

§ 9 Besonderheiten in der SE

bringend einzusetzen. Welche Form diese unternehmerische Leitungsverantwortung im Einzelnen annimmt, richtet sich – jenseits von Fällen offensichtlicher Verschwendung – nach den konkreten Umständen, insbesondere nach der Art und Größe des Unternehmens, dem Marktumfeld und dem zur Verfügung stehenden finanziellen, personellen und technischen Spielraum.97) 53 Die Treuepflicht legt den Vorstand darauf fest, „in allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gesellschaft berühren, allein deren Wohl und Wehe und nicht ihren eigenen Nutzen oder den Vorteil anderer im Auge zu haben.“98) Die hieraus üblicherweise abgeleitete (Æ § 1 Rz. 331 ff.) Verschwiegenheitspflicht hat für die SE eine spezielle Kodifizierung in Art. 49 SE-VO erfahren. Danach dürfen Mitglieder von SE-Organen Informationen über die SE, die im Falle ihrer Verbreitung den Interessen der Gesellschaft schaden könnten, auch nach Ausscheiden aus ihrem Amt nicht weitergeben. Für Fälle, in denen eine Informationsweitergabe zulässig ist, verweist Art. 49 SE-VO wiederum auf mitgliedstaatliches Recht, so dass sich für die deutsche SE auch insofern ein weitgehender Gleichlauf mit deutschem Aktienrecht (Æ § 1 Rz. 332 f.) ergibt. Ebenso parallel zum Recht des AG-Vorstands gestalten sich die übrigen Facetten der Treuepflicht des SE-Vorstands, insbesondere das Wettbewerbsverbot gemäß § 88 AktG (Æ § 1 Rz. 323 ff.) und die Pflicht, sich bietende Geschäftschancen allein für die Gesellschaft zu realisieren und nicht selbst auszunutzen (Æ § 1 Rz. 316 ff.). b)

Aufsichtsrat

54 Nach demselben Muster wie für sein Gegenstück in der deutschen AG gelten Sorgfalts- und Treuepflichten auch für den SE-Aufsichtsrat. Der normative Weg führt hierbei von Art. 51 SE-VO über § 116 Satz 1 AktG ebenfalls zu § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.99) Im Rahmen ihrer Legalitätspflicht haben danach auch die Aufsichtsratsmitglieder die für sie und die Gesellschaft verbindlich geltenden Rechtsvorschriften zu beachten und im Übrigen die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds anzuwenden100) (Æ § 3 Rz. 258). Bezugspunkt der Pflichten bildet die dem Aufsichtsrat gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 1 SE-VO obliegende Überwachungsaufgabe. Gerichtet ist diese auf die Überwachung des Vorstands und in diesem Rahmen auf die regelmäßige Unterrichtung über den Gang der Geschäfte, die Auswahl, Bestellung und ggf. Abberufung der Vorstandsmitglieder, die Verantwortung für die Vorstandsvergütung gemäß §§ 87, 87a AktG (Æ Rz. 17) sowie die punktuelle Intervention in Sondersituationen, z. B. in Form der Verweigerung der Zustimmung zu einem ___________ 97) Siehe nur BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 AktG Rz. 55. 98) So BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 144; auch a. a. O., Rz. 137; ausführl. Æ § 1 Rz. 308 ff. 99) Siehe nur Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 7; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Teichmann, Art. 51 SE-VO Rz. 20. 100) Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 51 SE-VO Rz. 15.

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C. Organhaftung

gemäß Art. 48 SE-VO zustimmungspflichtigen Geschäft. Für die Unterrichtung des Aufsichtsrats durch den Vorstand bildet Art. 41 SE-VO i. V. m. § 18 SEAG eine gegenüber den aktiengesetzlichen Regeln vorrangig anwendbare,101) inhaltlich jedoch kaum abweichende Rechtsgrundlage. Im Rahmen seiner Treuepflicht ist der Aufsichtsrat wie der Vorstand auf die 55 Wahrung des Gesellschaftsinteresses festgelegt (Æ § 1 Rz. 308 ff., § 3 Rz. 292 ff.). Er unterliegt in dieser Hinsicht gemäß § 49 SE-VO der Pflicht zur Verschwiegenheit und – in eingeschränktem Umfang (Æ § 3 Rz. 294) – der Pflicht, für die Gesellschaft schädliche Interessenkonflikte zu vermeiden. Die den Aufsichtsratsmitgliedern obliegenden Sorgfalts- und Treuepflichten gelten für Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter gleichermaßen;102) sie sind auch im Rahmen einer Beteiligungsvereinbarung (§ 21 SEBG) nicht disponibel. 2.

Pflichtverletzung und Business Judgement Rule

Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen, sind der 56 Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, Art. 51 SE-VO zum Schadensersatz verpflichtet. Sind mehrere Vorstands- und/oder Aufsichtsratsmitglieder für die Entstehung des Schadens verantwortlich, haften sie als Gesamtschuldner gemäß §§ 421 ff. BGB (Æ § 2 Rz. 145 ff., § 4 Rz. 34 f.). Im Zweifel trifft die Beweislast das handelnde Organmitglied (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, Art. 51 SE-VO Æ § 2 Rz. 96, 194 ff.). Unterschiede zwischen dualistischer SE und AG ergeben sich auch insofern nicht. Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn 57 das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (Æ § 2 Rz. 25 ff.). Dieser Programmsatz der aktiengesetzlichen Business Judgement Rule gilt gemäß Art. 51 SE-VO auch für den Vorstand einer deutschen SE.103) Dagegen haben sich Versuche, eine SE-spezifische Business-Judgement Rule oder eine anderweitige SEspezifische Konturierung zivilrechtlicher Organhaftungsregeln unmittelbar aus Art. 51 SE-VO abzuleiten,104) zurecht nicht durchgesetzt.105) Der etablierte Vierklang aus unternehmerischer Entscheidung, Handeln zum Wohl der Gesellschaft, Handeln auf Grundlage angemessener Informationen und Handeln in ___________ 101) Das aktiengesetzliche Regime aus §§ 90, 111 AktG bleibt jedoch über Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO subsidiär anwendbar; vgl. die tabellarische Übersicht bei Habersack/ Drinhausen/Seibt, Art. 41 SE-VO RZ. 5. 102) Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 7. 103) Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 15; GK-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 689; Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 51 SE-VO Rz. 16. 104) Schwarz, SE-VO, Art. 51 Rz. 14 (Business Judgement Rule als Element von Art. 51 SE-VO). 105) Vgl. Wilk, Aktionärsrechte, S. 382 f.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

gutem Glauben gilt danach auch für den SE-Vorstand; Besonderheiten gegenüber der AG ergeben sich nicht.106) 58 Über Art. 51 SE-VO, § 116 Satz 1 AktG kann die aktiengesetzliche Business Judgement Rule auch auf den SE-Aufsichtsrat Anwendung finden.107) Praktisch lässt die weitgehende Beschränkung des Aufsichtsrats auch in der SE auf retrospektiv-überwachende Tätigkeiten (und die ebenso weitgehende Anvertrautheit der Geschäftsleitung an den Vorstand) den praktischen Anwendungsbereich der Business Judgement Rule in Bezug auf den Aufsichtsrat freilich verhältnismäßig klein ausfallen. 3.

Anspruchsverfolgung

59 Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder wegen Pflichtverletzung aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, Art. 51 SE-VO zu verfolgen, ist auch in der SE gemäß § 112 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO Sache des Aufsichtsrats.108) Die SE-Verordnung enthält hierzu keine besonderen Vorschriften; sie ist mit Blick auf die Überwachungsaufgabe des Vorstands gemäß Art. 40 Abs. 1 SEVO und die in Art. 41 SE-VO angelegte Berichtspflicht des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat freilich gerade auf eine Anspruchsverfolgung durch den Aufsichtsrat angelegt. Die vom BGH in „ARAG/Garmenbeck“ geprägte grundsätzliche Pflicht des Aufsichtsrats, bestehende Ersatzansprüche im Interesse der Gesellschaft durchzusetzen (Æ § 2 Rz. 156 f., § 3 Rz. 276 ff.), gilt entsprechend in der deutschen SE. 60 Spiegelbildlich hierzu ist es gemäß § 78 AktG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO Aufgabe des Vorstands, Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen Aufsichtsratsmitglieder wegen Pflichtverletzung aus § 93 Abs. 1 Satz 1, § 116 Satz 1 AktG, Art. 51 SE-VO zu verfolgen.109) 61 Die Hauptversammlung kann eine Anspruchsverfolgung wie in der AG gemäß § 147 Abs. 1 AktG initiieren, indem sie den Aufsichtsrat hierzu mit einfacher Stimmenmehrheit anweist oder mit derselben Mehrheit gemäß § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG einen besonderen Vertreter für die Anspruchsgeltendmachung bestellt (zum besonderen Vertreter Æ § 6 Rz. 1 ff.). Vorbereiten kann die Hauptversammlung die Geltendmachung jeweils durch Einsetzen eines Sonderprüfers gemäß § 142 Abs. 1 AktG. Ob bzw. inwieweit sich die Anwendbarkeit dieser verfolgungsspezifischen Normen auf die SE nach Art. 9 Abs. 1 ___________ 106) Vgl. Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 51 SE-VO Rz. 15. 107) Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 51 SE-VO Rz. 15. 108) Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 19; Hdb. Managerhaftung/ Teichmann, § 5.49. 109) Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 19; Hdb. Managerhaftung/ Teichmann, § 5.49.

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C. Organhaftung

Buchst. c) ii) SE-VO,110) nach Art. 51 SE-VO und/oder nach Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO111) richtet – oder nach mehreren dieser Verweise gleichzeitig112) –, ist in praktischer Hinsicht ohne Belang.113) Ebenfalls wie in der AG kann ausnahmsweise eine Aktionärsminderheit die 62 Initiative bei der Anspruchsverfolgung übernehmen. Unter den Voraussetzungen des Art. 147 Abs. 2 Satz 2 AktG können Aktionäre, deren Anteile zusammen mindestens 10 % des Grundkapitals oder einen anteiligen Grundkapitalbetrag von einer Million Euro erreichen, die gerichtliche Bestellung eines besonderen Vertreters bzw. die gerichtliche Auswechselung eines bereits bestellten besonderen Vertreters beantragen. Sind die zusätzlichen Voraussetzungen des § 148 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, können Aktionäre, deren Anteile zusammen mindestens 1 % des Grundkapitals oder einen anteiligen Grundkapitalbetrag von mindestens EUR 100.000 erreichen, eine gerichtliche Ermächtigung beantragen, um die Anspruchsverfolgung unmittelbar im eigenen Namen zu übernehmen (Æ § 6 Rz. 22 ff.). Dasselbe Quorum gilt für die Durchsetzung einer Sonderprüfung durch eine Aktionärsminderheit nach § 142 Abs. 2 AktG. Für die im Ergebnis unbestrittene Anwendbarkeit der Vorschriften auf die SE ist es ohne Belang, ob man sich auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) ii) SE-VO114) oder Art. 51 SE-VO115) als einschlägige Verweisungsnorm festlegen mag. Die aktiengesetzlichen Vorschriften über die Anspruchsverfolgung finden auch 63 auf solche Organhaftungsansprüche der SE Anwendung, die vor SE-Gründung (z. B. unmittelbar nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG oder nach § 43 Abs. 2 GmbHG im Fall eines sog. Kettenformwechsels) in einer Gründungsgesellschaft entstanden sind. So setzt sich etwa eine im Entstehungszeitpunkt bestehende gesetzliche Verfolgungszuständigkeit der GmbH-Gesellschafterversammlung aus § 46 Nr. 8 GmbHG nicht in Form einer primären Verfolgungszuständigkeit der AG- und anschließend der SE-Hauptversammlung fort. Auch für den Fall, dass die SE Inhaberin von Organhaftungsansprüchen ist, die nach einem ausländischen Gesellschaftsstatut entstanden sind, bemessen sich die gesellschaftsrechtlichen Verfolgungsvoraussetzungen ab Eingreifen des deutschen Gesellschaftsstatuts allein nach den deutschen Regeln. Möglich ist dies insbesondere dann, wenn eine deutsche SE gemäß Art. 2 Abs. 1 SE-VO durch Verschmelzung mit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Aktiengesellschaft (i. S. d. ___________ 110) Schwarz, SE-VO, Art. 52 Rz. 28. 111) Habersack/Drinhausen/Bücker, Art. 52 SE-VO Rz. 29; wohl auch MünchKommAktG/ Reichert/Brandes, Art. 52 SE-VO Rz. 21. 112) Spindler, in: Lutter/Hommelhoff, Europäische Gesellschaft, S. 223 (235 f.); Van Hulle/ Maul/Drinhausen/Maul, § 13 Rz. 19, 30. 113) Offen insofern Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz, Die Europäische AG, S. 269 (282 f.). 114) Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 19. 115) In diese Richtung Schwarz, SE-VO, Art. 51 Rz. 23.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

Anhang I der SE-VO) gegründet wurde oder eine in einem anderen Mitgliedstaat gegründete SE per grenzüberschreitender Sitzverlegung nach Art. 8 SE-VO nachträglich in den deutschen Rechtsraum gewechselt ist. Ein Bestandsschutz für die zuvor geltenden ausländischen Verfolgungsregeln kommt nicht in Betracht, auch mangels Einschlägigkeit von Art. 2 Abs. 16 SE-VO. Und praktisch zu verwirklichen wäre ein Bestandsschutz aufgrund der formalen und strukturellen Unterschiede zwischen den nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen ohnehin nicht lückenlos. Die Verfolgungsvoraussetzungen des deutschen SERechts gelten schließlich auch dann, wenn sich die Ansprüche gegen ehemalige Organmitglieder richten, die bereits vor Gründung der SE bzw. vor Eingreifen des deutschen Gesellschaftsstatuts aus dem Amt ausgeschieden sind. 4.

Vergleichschluss und Enthaftung

64 Über bestehende Ersatzansprüche wegen Pflichtverletzung gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG kann die SE mit den betreffenden Vorstands- bzw. Aufsichtsratsmitgliedern einen Vergleich abschließen oder auf die Ansprüche verzichten. Zulässig ist dies gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, Art. 51 SE-VO jedoch nur dann, wenn seit der Entstehung des Anspruchs mindestens drei Jahre verstrichen sind, die Hauptversammlung dem Vergleich bzw. Verzicht zustimmt und nicht eine 10 %-Aktionärsminderheit Widerspruch erhebt. Von vornherein keine Ersatzpflicht tritt gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, Art. 51 SE-VO ein, wenn die kritische Entscheidung selbst auf einem Hauptversammlungsbeschluss beruht – etwa nach einer vom Vorstand oder Aufsichtsrat initiierten Vorlage gemäß § 119 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 8). Art. 51 SE-VO sorgt auch insofern für einen weitgehenden Gleichlauf mit den Organhaftungsregeln in der AG. 65 Weder Art. 51 SE-VO noch die aktiengesetzlichen Organhaftungsvorschriften treffen indes eine klare Aussage zur Frage, welche Rolle der Reglementierung von Vergleich und Verzicht in § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG bei SE-spezifischen Umwandlungsmaßnahmen nach Anspruchsentstehung zukommt. Liegt etwa die Anspruchsentstehung länger zurück als die Gründung der SE im Wege eines Formwechsels oder einer Verschmelzung, sprechen die besseren Gründe dafür, dass die Beschränkungen aus § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG mit Wirksamkeit der SE-Gründung eingreifen, für die Berechnung der Dreijahresfrist jedoch bereits am Zeitpunkt der Anspruchsentstehung anzusetzen ist.116) Denn jedenfalls soweit es sich um deutsche Gründungsgesellschaften handelte, befand sich der Anspruch bereits vor der SE-Gründung im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG. Mit SE-Gründung verschiebt sich allein die Geltungsgrundlage der Vorschrift. Das gilt auch dann, wenn die Gründungsgesellschaft im Zeitpunkt der Anspruchsentstehung noch in GmbH-Rechtsform bestand, wie dies etwa bei der SE-Gründung im Wege des Kettenformwechsels der Fall ___________ 116) Wilk, Aktionärsrechte, S. 527.

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C. Organhaftung

sein kann. Denn mit dem der SE-Gründung zwingend vorangeschalteten Formwechsel in die AG geraten die betreffenden Organhaftungsvorschriften auch in diesem Fall noch vor SE-Gründung in den Anwendungsbereich des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG.117) Bei der Gründung einer gemeinsamen Holding- oder TochterSE gemäß Art. 2 Abs. 2 bzw. Abs. 3 SE-VO dagegen ist eine vor SE-Gründung ansetzende Berechnung der Dreijahresfrist auf Ebene der SE ausgeschlossen, da die SE in diesen Gründungsvarianten jeweils als neuer Rechtsträger entsteht und etwaige vor Gründung entstandene Organhaftungsansprüche bei den Gründungsgesellschaften verbleiben. Ein vor der SE-Gründung einsetzender Beginn der Dreijahresfrist ergibt sich 66 auch dann, wenn der SE gegen ein Organmitglied Ersatzansprüche zustehen, die nach einem ausländischen Gesellschaftsstatut entstanden sind (z. B. nach Verschmelzungsgründung mit ausländischer Gesellschaft oder grenzüberschreitender Sitzverlegung nach Deutschland). Mit Eingreifen des deutschen Gesellschaftsstatuts geraten auch diese Ansprüche in den Anwendungsbereich des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (ebenso wie Ansprüche aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG den Anwendungsbereich der Reglementierung verlassen, wenn die Gesellschaft den deutschen Rechtsraum verlässt). Der Beginn der Dreijahresfrist bemisst sich auch in diesem Fall nach der Entstehung des Anspruchs. Denn der Sinn und Zweck der Frist – ausreichend Zeit zu schaffen, um den Schaden zu überblicken118) – wird unabhängig davon erreicht, inwieweit die Gesellschaft während des Verstreichens der Zeit noch dem ausländischen oder bereits dem deutschen Gesellschaftsstatut unterliegt.119) II.

Monistische SE

1.

Sorgfalts- und Treuepflichten

Auch die Sorgfalts- und Treuepflichten, denen die Verwaltungsratsmitglieder 67 und die geschäftsführenden Direktoren unterliegen, bemessen sich im Grundsatz nach § 93 AktG. Dessen Anwendbarkeit beruht für den Verwaltungsrat auf § 39 SEAG und für die geschäftsführenden Direktoren auf § 40 Abs. 9 SEAG, jeweils i. V. m. Art. 43 Abs. 4 SE-VO. Dagegen tritt § 20 SEAG, nach dem die §§ 76 – 116 AktG für die monistische SE grundsätzlich nicht gelten, als allgemeinere Vorschrift zurück. Jedenfalls nur untergeordnete Bedeutung für die monistische deutsche SE hat ferner der Verweis aus Art. 51 SE-VO; denn mitgliedstaatliche Organhaftungsvorschriften, die für die nationale Aktienge-

___________ 117) Vgl. Habersack/Schürnbrand, NZG 2007, 81 (87); abw. Lutter/Grunewald, UmwG, § 20 Rz. 30. 118) Ganz h. M.; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 282 m. w. N. 119) Wilk, Aktionärsrechte, S. 527.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

sellschaft gelten und deren Anwendbarkeit auf die monistische SE erstreckt werden könnte, existieren in Deutschland nicht.120) 68 Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG haben grundsätzlich sowohl die Verwaltungsratsmitglieder als auch die geschäftsführenden Direktoren die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Die zur Umschreibung dieser Pflicht für den AG-Vorstand gebräuchliche Formel, die auf einen selbstständig tätigen Leiter eines Unternehmens abstellt, der nicht mit eigenen Mitteln wirtschaftet, sondern treuhandartig fremden Vermögensinteressen verpflichtet ist (Æ Rz. 51; § 1 Rz. 253), lässt sich jedenfalls auf den Verwaltungsrat als zentralem Geschäftsführungsorgan der monistischen SE weitgehend übertragen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass mit dem Verwaltungsratsamt nicht unbedingt derselbe zeitliche Aufwand und dieselbe intensive Einbindung in das Tagesgeschäft verbunden ist wie typischerweise mit einem hauptberuflich ausgeübten Vorstandsamt.121) So werden etwa solche Verwaltungsratsmitglieder, die nicht gleichzeitig zu geschäftsführenden Direktoren bestellt sind, ihr Amt häufig und legitimerweise nur nebenberuflich ausüben.122) Für sie rückt der auf Überwachung und Unternehmensstrategie bezogene Aufgabenteil des Verwaltungsrats entsprechend stärker in den Vordergrund. Die geschäftsführenden Direktoren wiederum sind typischerweise zwar ebenso intensiv und hauptberuflich in das Tagesgeschäft der Gesellschaft eingebunden wie Vorstandsmitglieder. Sie nehmen ihre Tätigkeit allerdings nicht ansatzweise so eigenständig wahr; insbesondere steht ihnen bei ihren Aufgaben kein gesetzlich garantierter Freiraum offen (Æ Rz. 40). Ihre Rolle wird daher häufig mit der von GmbH-Geschäftsführern verglichen.123) Den von § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG vorgegebenen Sorgfaltsmaßstab haben die geschäftsführenden Direktoren daher nicht als allgemein eigenverantwortliche Geschäftsleiter, sondern innerhalb der vom Verwaltungsrat gesetzten vorgegebenen Leitlinien (die von mehr oder weniger Eigenverantwortlichkeit gekennzeichnet sein mögen) und ggf. auf Basis konkreter, einzelfallbezogener Weisungen des Verwaltungsrats auszufüllen.124) ___________ 120) Zutr. Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Art. 51 SE-VO Rz. 18; abw. Schwarz, SE-VO, Art. 51 Rz. 9. 121) Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 39 SEAG) Rz. 5; Habersack/Drinhausen/Verse, § 39 SEAG Rz. 3; Bücker, in: 10 Jahre SE, S. 203 (218); Metz, Organhaftung, S. 138 f. 122) Ausführl. Bücker, in: 10 Jahre SE, S. 203 (218 f.). 123) RegE SEEG, BT-Drucks. 15/3405, S. 39; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 51 SE-VO Rz. 10; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG), Rz. 66; Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 9; Bunz, AG 2018, 468; Graßl/ Nikoleyczik, AG 2020, 881 (883 f.). 124) Vgl. MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 176 ff.; Wicke, RNotZ 2020, 25 (32).

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C. Organhaftung

Abweichungen zum Nebeneinander von Vorstand und Aufsichtsrat ergeben 69 sich auch in Bezug auf die einzelnen gesetzlichen Pflichten, denen die Verwaltungsratsmitglieder und die geschäftsführenden Direktoren im Rahmen ihrer Legalitätspflicht nachzukommen haben. So unterliegen die Verwaltungsratsmitglieder als Geschäftsleiter zwar gemäß § 22 Abs. 5 Satz 2 SEAG der Insolvenzantragspflicht; zur Seite gestellt ist dieser Pflicht jedoch eine Pflicht der geschäftsführenden Direktoren, bei Insolvenznähe den Kontakt zum Verwaltungsrat zu suchen (§ 40 Abs. 3 SEAG). Nicht zum unmittelbaren Aufgabenbereich des Verwaltungsrats gehört weiter die gesetzliche Buchführungspflicht; der Verwaltungsrat hat gemäß § 22 Abs. 3 Satz 1 SEAG aber indirekt dafür Sorge zu tragen, dass die erforderlichen Handelsbücher (unter Federführung der geschäftsführenden Direktoren) geführt werden und übernimmt gemäß § 47 SEAG nach Aufstellung des Jahresabschlusses dessen gesellschaftsinterne Prüfung und Feststellung, soweit die Feststellung nicht der Hauptversammlung überlassen wird. Dagegen ist der Verwaltungsrat unmittelbar Adressat der aus § 91 Abs. 2 AktG (Æ § 1 Rz. 367 ff.) bekannten Pflicht, ein (Überwachungs-)System einzurichten, um existenzbedrohende Entwicklungen früh zu erkennen (§ 22 Abs. 3 Satz 2 SEAG), sowie der für börsennotierte Gesellschaften gemäß § 91 Abs. 3 AktG geltenden Pflicht (Æ § 1 Rz. 374), ein internes Kontrollsystem und Risikomanagementsystem einzurichten (§ 22 Abs. 3 Satz 3 SEAG). Auch die Pflicht der Unternehmensleitung, ein auf Schadensverhinderung und Prävention ausgerichtetes Compliance-Management-System einzurichten (Æ § 1 Rz. 285 ff. und § 16 Rz. 6 ff.), wird in der monistischen SE allein der Verwaltungsrat umfassend ausfüllen können. Für die geschäftsführenden Direktoren verbleibt die Aufgabe, im Rahmen der vom Verwaltungsrat verantworteten Risikomanagement-, Kontroll- und Compliance-Systeme die ihnen untergeordneten Mitarbeiter und Prozesse zu überwachen. Verwaltungsratsmitglieder und geschäftsführende Direktoren unterliegen wei- 70 terhin einer Treuepflicht – als Element der Geschäftsleiterpflichten aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG –, die sie darauf verpflichtet, im Rahmen ihrer Tätigkeit die Interessen der Gesellschaft vor den eigenen Nutzen und Vorteil zu stellen125) (Æ Rz. 53). Einem gesetzlichen Wettbewerbsverbot unterliegen jedoch nur die geschäftsführenden Direktoren, für die § 40 Abs. 8 SEAG auf § 88 AktG verweist. Dennoch wird davon auszugehen sein, dass die Verpflichtung, sich bietende Geschäftschancen allein für die Gesellschaft zu realisieren und nicht selbst auszunutzen (Æ Rz. 53), nicht nur für die geschäftsführenden Direktoren gilt, sondern auch und erst recht für die Verwaltungsratsmitglieder als oberste Geschäftsleitungsinstanz der Gesellschaft.126) Der Verschwiegenheitspflicht ___________ 125) Metz, Organhaftung, S. 126 ff., 198 f. 126) Einschr. dagegen Habersack/Drinhausen/Verse, § 39 SEAG Rz. 18; Metz, Organhaftung, S. 130 f.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

aus Art. 49 SE-VO wiederum – soweit man sie der Treuepflicht zuordnen möchte – gilt allein für die Verwaltungsratsmitglieder, während für die geschäftsführenden Direktoren (denen jedenfalls im Rahmen der SE-VO die Organqualität fehlt Æ Rz. 28) die in § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG kodifizierte Verschwiegenheitspflicht gemäß § 40 Abs. 9 SEAG entsprechend gilt.127) 2.

Pflichtverletzung und Business Judgement Rule

71 Im Fall von Pflichtverletzungen haften die Verwaltungsratsmitglieder und geschäftsführenden Direktoren der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 39 SEAG bzw. § 40 Abs. 9 SEAG auf Schadensersatz. 72 Bei Verantwortlichkeit mehrerer Handelnder für denselben Schaden haften die Verantwortlichen jedenfalls grundsätzlich gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, §§ 421 ff. BGB als Gesamtschuldner. Anders als im Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat erscheint eine gesamtschuldnerische Haftung jedoch nicht in jedem Fall angemessen, wenn sich der verantwortliche Personenkreis sowohl aus geschäftsführenden Direktoren als auch aus Verwaltungsratsmitgliedern zusammensetzt. Denn eine gleichrangige Haftung steht im Widerspruch zur umfassenden persönlichen Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit der geschäftsführenden Direktoren gegenüber dem Verwaltungsrat. Je stärker etwa eine schädigende Handlung der geschäftsführenden Direktoren von Vorgaben des Verwaltungsrats geprägt ist, desto weniger gerechtfertigt erscheint es, die geschäftsführenden Direktoren im Außenverhältnis für den vollen Schaden haftbar zu machen. Auch das Recht der geschäftsführenden Direktoren, rechtswidrige Weisungen des Verwaltungsrats zu verweigern,128) ändert hieran nichts, wenn die Mitverantwortlichkeit des Verwaltungsrats nicht auf konkreten Anordnungen, sondern auf organisatorischen Defiziten zurückgeht. Im Blick zu behalten ist freilich gleichzeitig das Interesse der geschädigten Gesellschaft, die im Fall einer teilweise quotalen Haftung der Schadensbeteiligten eine volle Kompensation nur durch paralleles Vorgehen gegen mehrere Schädiger erhielte und in den Anträgen zudem die Haftungsquote antizipieren müsste. Ein Haftungskonzept für die monistische SE, das diesen Widerspruch zwischen hierarchischer Abstufung im Innenverhältnis und gleichrangig gesetzlich angeordneter Gesamtschuld im Außenverhältnis stimmig auflösen würde, ist noch nicht ansatzweise entwickelt. Praktisch liegt es bis dahin am nächsten, die in § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG angeordnete Gesamtschuld jedenfalls im Grundsatz auch auf das Verhältnis zwischen Verwaltungsratsmitgliedern und geschäfts___________ 127) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 186, Art. 49 SE-VO Rz. 1; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 49 SE-VO Rz. 1; Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 49 SE-VO Rz. 3; Schaper, AG 2018, 356, 363. 128) Habersack/Drinhausen/Verse, § 44 SEAG Rz. 14; Van Hulle/Maul/Drinhausen/ Drinhausen/Keinath, § 11 Rz. 23; Ihrig, ZGR 2008, 809 (824 f.).

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C. Organhaftung

führenden Direktoren zu erstrecken und eine ggf. überwiegende Verantwortung der Verwaltungsratsmitglieder nur im Rahmen des gesamtschuldnerischen Innenausgleichs zu berücksichtigen. Zu Problemen kann das hierarchische Gefälle zwischen Verwaltungsrat und ge- 73 schäftsführenden Direktoren auch in Bezug auf die Beweislast führen. Diese liegt gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 39 SEAG bzw. § 40 Abs. 9 SEAG an sich generell bei den handelnden Amtswaltern. Praktisch wird den geschäftsführenden Direktoren ein Entlastungsbeweis jedoch nur insoweit sinnvoll aufzugeben sein, als ihnen vom Verwaltungsrat ein Handlungsfreiraum eröffnet wurde oder sie dem Verwaltungsrat selbst angehören.129) Sowohl für die Verwaltungsratsmitglieder als auch die geschäftsführenden Di- 74 rektoren gilt schließlich die aktienrechtliche Business Judgement Rule aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, § 39 SEAG bzw. § 40 Abs. 9 SEAG,130) wonach eine Pflichtverletzung nicht in Betracht kommt, wenn der handelnde Amtswalter bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Inwieweit die geschäftsführenden Direktoren tatsächlich von ihr profitieren, liegt weitgehend in der Hand des Verwaltungsrats. Denn eine unternehmerische Entscheidung der geschäftsführenden Direktoren kommt nur insoweit in Betracht, als ihnen nach dem Geschäftsleitungskonzept des Verwaltungsrats ein Ermessensspielraum offensteht.131) 3.

Anspruchsverfolgung

Die Zuständigkeiten von Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren 75 bei der Verfolgung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft wegen Pflichtverletzung aus § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 39 SEAG bzw. § 40 Abs. 9 SEAG sind jedenfalls im Außenverhältnis in ähnlicher Weise ineinander verschränkt wie die Kompetenzen von Aufsichtsrat und Vorstand im dualistischen System. Der Verwaltungsrat ist auf Basis seiner Vertretungsbefugnis im Außenverhältnis nach § 41 Abs. 5 SEAG und seiner umfassenden Geschäftsleitungs- und Überwachungspflicht uneingeschränkt dafür zuständig, Ansprüche gegen geschäftsführende Direktoren zu verfolgen. Und den geschäftsführenden Direktoren obliegt gemäß § 41 Abs. 1 SEAG die gerichtliche und außergerichtliche Vertre___________ 129) Ohne Einschränkungen diesbzgl. Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 39 SEAG) Rz. 11; Metz, Organhaftung, S. 275 ff. 130) Im Grds. unstr.; siehe nur Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SEVO (§ 39 SEAG) Rz. 6; Schwarz, SE-VO, Art. 51 Rz. 14; MünchKommAktG/Reichert/ Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 18075; Habersack/Drinhausen/Verse, § 39 SEAG Rz. 7, 14; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 51 SE-VO Rz. 12; Ihrig, ZGR 2008, 809 (830); einschr. KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 39 SEAG), Rz. 16 f. 131) Zutr. Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 65.

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§ 9 Besonderheiten in der SE

tung der Gesellschaft beim Verfolgen von Ersatzansprüchen gegen Verwaltungsratsmitglieder. 76 Im Innenverhältnis der Gesellschaft dagegen bildet die Zuständigkeit für die Verfolgung von Ansprüchen gegen Verwaltungsratsmitglieder ein Element der umfassenden Geschäftsleitungs- und Überwachungskompetenz des Verwaltungsrats.132) Vor dem Hintergrund des dualistischen Modells mag die einheitliche Verfolgungszuständigkeit des Verwaltungsrats und die damit einhergehende Verortung von Verfolgten und Verfolgungszuständigkeiten im selben Organ ungewöhnlich erscheinen. Sie fügt sich jedoch in rechtlicher Hinsicht stimmig in die von § 22 Abs. 6 SEAG angeordnete Konzentration der Vorstands- und Aufsichtsratsaufgaben auf den Verwaltungsrat und lässt sich auch praktisch leichter handhaben, wenn es etwa um die einheitliche Durchsetzung von Ansprüchen gegen mehrere Amtswalter geht, die teilweise nur dem Verwaltungsrat angehören, teilweise nur als geschäftsführende Direktoren tätig sind und teilweise beide Ämter bekleiden. Soweit sich die Ansprüche auch gegen amtierende Verwaltungsratsmitglieder richten, sind diese nach allgemeinen Grundsätzen vom Stimmrecht ausgeschlossen (§ 34 BGB).133) Für die Entscheidung des Verwaltungsrats über die Anspruchsverfolgung gelten die in der aktiengesetzlichen Rechtsprechung entwickelten ARAG/Garmenbeck-Grundsätze (Æ § 3 Rz. 276 ff.) entsprechend.134) 77 Bleibt der Verwaltungsrat bei der Verfolgung eines mutmaßlichen Ersatzanspruchs gegen Verwaltungsratsmitglieder untätig, so kann die Hauptversammlung wie im dualistischen System (Æ Rz. 61) gemäß § 147 Abs. 1 AktG eine Anspruchsverfolgung durchsetzen, gemäß § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG einen besonderen Vertreter mit der Geltendmachung beauftragen oder zur Vorbereitung einer Geltendmachung eine Sonderprüfung nach § 142 Abs. 1 AktG in Auftrag geben. Spezifisch monistische Besonderheiten ergeben sich insofern ebenso wenig wie in Hinblick auf die Möglichkeit für eine qualifizierte Aktionärsminderheit, gemäß § 142 Abs. 2 AktG eine Sonderprüfung durchzusetzen, gemäß § 147 Abs. 2 Satz 2 AktG die gerichtliche Bestellung eines besonderen Vertreters zu beantragen und gemäß § 148 Abs. 1 AktG die Anspruchsverfol-

___________ 132) H. M.; MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 51 SE-VO Rz. 35 ff.; Habersack/ Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 24 ff.; Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 Rz. 20; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 39 SEAG) Rz. 13; Hdb. Managerhaftung/Teichmann, § 5 Rz. 5.50; a. A. Ihrig, ZGR 2008, 809, (821 f.); wohl auch BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 43 SE-VO Rz. 17, Art. 51 SE-VO Rz. 17. 133) MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 51 SE-VO Rz. 32 ff.; Habersack/Drinhausen/ Drinhausen, Art. 51 Rz. 20. 134) Vgl. Manz/Mayer/Schröder/Manz, Art. 51 SE-VO Rz. 16; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/ Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 68.

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C. Organhaftung

gung selbst zu betreiben.135) Weniger deutlich ist, ob die Hauptversammlung bzw. eine Aktionärsminderheit sich auf dieselbe Weise in die Anspruchsverfolgung einschalten kann, wenn sich die mutmaßlichen Ersatzansprüche ausschließlich gegen geschäftsführende Direktoren richten.136) Hierfür spricht die in § 40 Abs. 9 SEAG vorgenommene Annäherung der Haftung der geschäftsführenden Direktoren an die aktienrechtliche Vorstandshaftung. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass § 40 Abs. 9 SEAG nur auf § 93 AktG und nicht auch auf §§ 142, 147, 148 AktG verweist.137) Dass es sich hierbei um eine planwidrige Verweislücke handelt, liegt in Anbetracht der fehlenden Organqualität der geschäftsführenden Direktoren und der im Übrigen durchaus selektiven Verweisung von § 40 SEAG auf Vorstandsrecht jedenfalls nicht auf der Hand. 4.

Vergleichschluss und Enthaftung

Jedenfalls in Bezug auf Ersatzansprüche gegen Verwaltungsratsmitglieder aus 78 § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 39 SEAG kann sich die Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, § 39 SEAG nur dann auf einen Vergleich oder Verzicht einlassen, wenn seit Entstehung des Anspruchs mindestens drei Jahre verstrichen sind, die Hauptversammlung dem Vergleich bzw. Verzicht zustimmt und nicht eine 10 %-Aktionärsminderheit Widerspruch erhebt.138) Ebenso steht es dem Verwaltungsrat offen, im Vorfeld einer kritischen Entscheidung einen Hauptversammlungsbeschluss gemäß § 119 Abs. 2 AktG einzuholen, der bei späterem Eintritt eines Schadens gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG enthaftend wirken kann139) (Æ Rz. 8, 64). Ob dieselben Möglichkeiten bzw. Restriktionen, dem Verweis in § 40 Abs. 9 79 SEAG folgend, auch in Hinblick auf Ersatzansprüche gegen geschäftsführende Direktoren gelten,140) erscheint weniger eindeutig. Denn die Vorlage einer Geschäftsführungsentscheidung an die Hauptversammlung aus eigener Initiative steht geschäftsführenden Direktoren gar nicht offen (Æ Rz. 41); sie sind ___________ 135) Zur i. E. unstr. Anwendbarkeit der §§ 147 f. AktG auf die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Verwaltungsratsmitglieder siehe Habersack/Drinhausen/Verse, § 39 SEAG Rz. 27; MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 40 f.; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 39 SEAG) Rz. 13. 136) Dafür KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 40 SEAG), Rz. 90 f.; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 82; a. A. Wilk, Aktionärsrechte, S. 384. 137) Wilk, Aktionärsrechte, S. 384. 138) Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 39 SEAG) Rz. 7; Habersack/Drinhausen/Verse, § 39 SEAG Rz. 23. 139) Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 39 SEAG) Rz. 7; Habersack/Drinhausen/Verse, § 39 SEAG Rz. 23. 140) Dafür im Grds. die wohl h. M.; Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 66; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 79; MünchKommAktG/Reichert/Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 173 ff.; Marsch-Barner, in: GS Bosch (2006), S. 99 (112).

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§ 9 Besonderheiten in der SE

vielmehr allein dem Verwaltungsrat gegenüber weisungsgebunden. Verbreitet wird daher angenommen, dass die geschäftsführenden Direktoren durch Einholung eines Beschlusses des Verwaltungsrats enthaftet werden.141) Der hierfür regelmäßig gezogene Vergleich zum Verhältnis zwischen Gesellschafterversammlung und GmbH142) wirkt freilich insofern nicht stimmig, als mit dem Verwaltungsratsbeschluss gerade keine unmittelbare Legitimation auf Anteilseignerebene verbunden ist, und im dualistischen System eine Billigung durch den Aufsichtsrat (in dessen Zuständigkeiten der Verwaltungsrat gemäß § 22 Abs. 6 SEAG grundsätzlich einrückt) gemäß § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG gerade keine enthaftende Wirkung hat (§ 93 Abs. 4 Satz 2 AktG). Letztlich stellt ein Verwaltungsratsbeschluss aber wohl den einzig gangbaren Weg dar, um die in § 40 Abs. 9 SEAG zweifellos auch für die geschäftsführenden Direktoren eröffnete Möglichkeit einer Enthaftung gemäß § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG im monistischen System zu verankern. 80 Auch die gemäß § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG an sich der Hauptversammlung obliegende Kompetenz zur Genehmigung eines Verzichts oder Vergleichs mit geschäftsführenden Direktoren ist im Rahmen des § 40 Abs. 9 SEAG konsequenterweise auf den Verwaltungsrat zu beziehen.143) Denn der in § 93 Abs. 4 AktG angelegte Mechanismus ist ersichtlich darauf angelegt, die Zuständigkeit für eine Enthaftung ex ante (Satz 2) und ex post (Satz 3) demselben Organ zuzuordnen, wofür im Fall der monistischen SE nur der Verwaltungsrat in Betracht kommt.

___________ 141) Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 9; BeckOGK-SE/Eberspächer, Art. 51 SE-VO Rz. 10; KK-AktG/Siems/Müller-Leibenger, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 95, 99; Marsch-Barner, in: GS Bosch (2006), S. 99 (112); Boettcher, Kompetenzen von Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren, S. 190 ff.; weitgehend ebenso Lutter/Hommelhoff/Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 66; Hdb. Managerhaftung/Teichmann, § 5 Rz. 5.44; i. E. wohl abw. Habersack/ Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 79; ausdrücklich a. A. MünchKommAktG/Reichert/ Brandes, Art. 43 SE-VO Rz. 173 f.; Ihrig, ZGR 2008, 809 (830). 142) Siehe nur Habersack/Drinhausen/Drinhausen, Art. 51 SE-VO Rz. 9; Lutter/Hommelhoff/ Teichmann/Teichmann, Anh. Art. 43 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 66; Marsch-Barner, in: GS Bosch (2006), S. 99 (112); ausdrückl. diff. dagegen Ihrig, ZGR 2008, 809 (830). 143) Anders wohl implizit die h. M.; vgl. KK-AktG/Siems, Anh. Art. 51 SE-VO (§ 40 SEAG) Rz. 99 f.; Habersack/Drinhausen/Verse, § 40 SEAG Rz. 79; Metz, Organhaftung, S. 272 f.

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Teil II Besondere Risikobereiche

§ 10 Kapitalmarktrecht*)

Horcher

Übersicht A. B. I. II.

III.

C. I.

II.

III. *)

Einleitung........................................... 1 Ad-hoc-Publizitätspflicht ................ 4 Anwendungsbereich........................... 4 Tatbestandsvoraussetzungen der Ad-hoc-Publizitätspflicht .................. 7 1. Vorliegen einer Insiderinformation ..................................... 7 a) Präzise Information .................. 11 b) Fehlende öffentliche Bekanntheit der Information ........ 14 c) Erhebliches Kursbeeinflussungspotential............................ 15 2. Unmittelbarer Emittentenbezug .......................................... 18 3. Veröffentlichung der Insiderinformation .................... 19 4. Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizitätspflicht ......... 20 5. Publizitätspflichten im Rahmen von Konzernstrukturen ..... 28 Sanktionen und Haftung.................. 31 1. Sanktionen ................................. 31 2. Kapitalmarktrechtliche Haftung...................................... 33 3. Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB ................................ 35 4. Haftung gemäß § 826 BGB....... 36 Insidergeschäfte............................... 39 Insiderhandelsverbot und Empfehlungsverbot .......................... 40 1. Verwendungsverbot und der Begriff des Insidergeschäfts...... 40 2. Empfehlungs- und Verleitungsverbot ............................... 42 3. Ausnahmen ................................ 43 Offenlegungsverbot ......................... 46 1. Grundtatbestand........................ 46 2. Ausnahme: Marktsondierung (Art. 11 MAR).................. 48 Sanktionen und Haftung ................. 51

D. Pflicht zur Führung von Insiderlisten ........................................ 55 I. Pflichteninhalt ................................. 55 II. Sanktionen ....................................... 61 E. Directors’ Dealings ......................... 63 I. Anwendungsbereich: Führungspersonen und eng verbundene Personen ........................................... 64 II. Pflichten im Rahmen von Directors’ Dealings .......................... 68 1. Meldepflichtige Geschäfte ........ 68 2. Meldepflichten........................... 72 III. Handelsverbote ................................ 80 1. Voraussetzungen für ein Handelsverbot ........................... 80 2. Ausnahmen vom Handelsverbot ......................................... 83 IV. Sanktionen ........................................ 87 F. Verbot der Marktmanipulation..... 89 I. Tatbestand ........................................ 90 1. Handels- und informationsgestützte Marktmanipulation ..... 90 2. Ausnahmen................................ 94 II. Sanktionen und Haftung ................. 96 G. Stimmrechtsmeldepflichten ........ 100 I. Stimmrechtsmelderegime gemäß §§ 33 ff. WpHG.................. 102 1. Melderegime für Stimmrechte.....103 2. Melderegime für Finanzinstrumente ................................ 105 3. Melderegime für Gesamtposition .................................... 107 4. Meldeschwellen und -verfahren ......................... 108 5. Sanktionen und Haftung ........ 111 II. Mitteilungspflichten hinsichtlich der mit der Beteiligung verfolgten Ziele und der verwandten Mittel ..... 114 III. Mitteilungspflichten bzgl. eigener Gesamtstimmrechtszahl.................. 116

___________ *)

Der Autor dankt Herrn Rechtsanwalt Jan-Hendrik Zoike für die wertvolle Unterstützung bei der Aktualisierung dieses Kapitels.

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§ 10 Kapitalmarktrecht Schrifttum: Behn, Ad-hoc-Publizität und Unternehmensverbindungen, 2012; Buck-Heeb/ Dieckmann, Informationsdeliktshaftung von Vorstandsmitgliedern und Emittenten, AG 2008, 681; Brellochs, Leerverkaufsangriffe – Anmerkungen aus Sicht der Praxis, ZGR 2020, 319; Brellochs, Konkretisierung des Acting in Concert durch den BGH, AG 2019, 29; Buck-Heeb, Insiderrecht und soziale Medien, AG 2021, 42; Bühren, Auswirkungen des Insiderhandelsverbots der EU-Marktmissbrauchsverordnung auf M&ATransaktionen, NZG 2017, 1172; Fleischer, Konzernleitung und Leitungssorgfalt der Vorstandsmitglieder im Unternehmensverbund, DB 2005, 759; Götze/Carl, Konzernrechtliche Aspekte der Transparenzpflichten nach der EU-Marktmissbrauchsverordnung, Der Konzern 2016, 529; Hasselbach/Stepper, Veröffentlichungspflichten bei M&A-Transaktionen und bei Übernahmen börsennotierter Unternehmen, BB 2020, 203; Horcher/ Kovács, Die Reichweite der Stimmrechtszurechnung wegen Acting in Concert nach dem BGH-Urteil v. 25.9.2018 (II ZR 190/17), DStR 2019, 388; Jüngst/Bünten, Wertpapierrechtliche Mitteilungspflichten in M&A-Transaktionen, ZIP 2019, 847; Klöhn, Ad-hocPublizität und Insiderverbot im neuen Marktmissbrauchsrecht, AG 2016, 423; Klöhn, „Selbst geschaffene innere Tatsachen“, Scalping und Stakebuilding im neuen Markmissbrauchsrecht, ZIP 2016, 44; Klöhn, Die Spector-Vermutung und deren Widerlegung im neuen Insiderrecht, WM 2017, 2085; Klöhn, Die Regelung legitimer Handlungen im neuen Insiderrecht (Art. 9 MAR), ZBB 2017, 261; Klöhn, Wann ist eine Information öffentlich bekannt i. S. v. Art. 7 MAR?, ZHR 180 (2016), 707; Kraack, Der neue Emittentenleitfaden zum Marktmissbrauchsrecht, ZIP 2020, 1389; Krause, Kapitalmarktrechtliche Compliance: neue Pflichten und drastisch verschärfte Sanktionen nach der EU-Marktmissbrauchsverordnung, CCZ 2014, 248; Krämer/Kiesewetter, Rechtliche und praktische Aspekte einer Due Diligence aus öffentlich zugänglichen Informationsquellen einer börsennotierten Gesellschaft, BB 2012, 1679; Kumpan, Ad-hoc-Publizität nach der Marktmissbrauchsverordnung, DB 2016, 2039; Kumpan, Die neuen Regelungen zu Directors’ Dealings in der Marktmissbrauchsverordnung, AG 2016, 446; Kumpan/Misterek, Der verständige Anleger in der Marktmissbrauchsverordnung, Zu den Eigenschaften der Maßstabsfigur für Insiderinformation, ZHR 184 (2020), 180; Kuthe/Rückert/Sickinger, Compliance-Handbuch Kapitalmarktrecht, 2. Aufl., 2008; Langenbucher, In Brüssel nichts Neues? – Der „verständige Anleger“ in der Marktmissbrauchsverordnung, AG 2016, 417; Leyens, Ad-hoc-Information der Anleger: Zwischenschritte und Compliance-Vorfälle als Insiderinformation, ZGR 2020, 256; von der Linden, Das neue Marktmissbrauchsrecht im Überblick, DStR 2016, 1036; Meschede, Dieselgate: Denkbare Anspruchsgrundlagen für Schadensersatzansprüche von Porsche-Aktionären und Erwerbern von Derivaten auf VW-Aktien gegen die Volkswagen AG, ZIP 2017, 215; Möllers, Marktmanipulation durch Leerverkaufsattacken und irreführende Finanzanalysen, NZG 2018, 649; Mülbert/ Sajnovits, Der Aufschub der Ad-hoc-Publizitätspflicht bei Internal Investigations, Teil I und II, WM 2017, 2006 u. 2041; Mülbert/Sajnovits, Insiderrecht und Ad-hoc-Publizität im anbrechenden ESG-Zeitalter, WM 2020, 1557; Poelzig, Insider- und Marktmanipulationsverbot im neuen Marktmissbrauchsrecht, NZG 2016, 528; Poelzig, Die Neuregelung der Offenlegungsvorschriften durch die Marktmissbrauchsverordnung, NZG 2016, 761; Redenius-Hövermann/Walter, Ad-hoc-Veröffentlichungspflichten bei verbandsinternen Sanktionen, ZIP 2020, 1331; Salaschek/Richter, Ad-hoc-Veröffentlichungspflichten nach Art. 17 MAR im kartellrechtlichen Kontext, BB 2020, 1411; Schilha, Umsetzung der EUTransparenzrichtlinie 2013: Neuregelungen zur Beteiligungspublizität und periodischen Berichterstattung, DB 2015, 1821; de Schmidt, Neufassung des Verbots der Marktmanipulation durch MAR und CRIM-MAD, Recht der Finanzinstrumente 2016, 4; Schmolke, „Leerverkaufsattacken“ und Marktmissbrauch, ZGR 2020, 291; Schorn/Utz, Reform des Rechts der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, CB 2015, 255; Seibt/Kraack, Praxisleitfaden zum BaFin-Emittentenleitfaden Modul C, Insiderrecht und Ad hoc-Publizität, BKR 2020, 313; Seibt/Wollenschläger, Revision des Marktmissbrauchsrechts durch Marktmissbrauchsverordnung und Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für Marktmanipulation, AG 2014, 593; Simons, Gesetzgebungskunst, AG 2016, 651; Simons, Die Insiderliste, CCZ 2016, 221; Söhner, Praxis-Update Marktmissbrauchsverordnung: Neue Leit-

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A. Einleitung linien und alte Probleme, BB 2017, 259; Stenzel, Managementbeteiligungen und Marktmissbrauchsverordnung, DStR 2017, 883; Stüber, Directors’ Dealings nach der Marktmissbrauchsverordnung, DStR 2016, 1221; Veil, Europäisches Insiderrecht 2.0 – Konzeption und Grundsatzfragen der Reform durch MAR und CRIM-MAD, ZBB 2014, 85; Wilsing/Kleemann, Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 11.3.2015, C-628/13, ZIP 2015, 627, DStR 2015, 958; Wilsing, Ad hoc-Information der Anleger: Zwischenschritte und Compliance-Vorfälle als Insiderinformation, ZGR 2020, 276.

A.

Einleitung

Für Organe kapitalmarktorientierter Unternehmen bestehen neben den allge- 1 meinen Sorgfaltsanforderungen eine Reihe kapitalmarktspezifischer Pflichten, deren Einhaltung zur Haftungsvermeidung unerlässlich ist. Im Folgenden sollen daher die wichtigsten Risikobereiche überblicksartig aufgezeigt und geeignete Verhaltensregeln zur Haftungsvermeidung dargestellt werden. Durch die am 3.7.2016 in Kraft getretene und unmittelbar geltende Europäische 2 Marktmissbrauchsverordnung (Market Abuse Regulation – „MAR“)1) wurde der sachliche Anwendungsbereich im Vergleich zur früheren Rechtslage (§ 15 WpHG a. F.2)) ausgeweitet. Ihre Vorschriften erfassen neben Finanzinstrumenten, die zum Handel an einem regulierten Markt zugelassen sind, nunmehr auch Finanzinstrumente, die ausschließlich in multilateralen (Multilateral Trading Facility – „MTF“) oder – seit dem 3.1.2018 – organisierten Handelssystemen (Organised Trading Facility – „OTF“) gehandelt werden bzw. deren Wert von solchen Finanzinstrumenten abhängt (Art. 2 Abs. 1 MAR), sofern die Instrumente dort auf Initiative des Emittenten bzw. mit seiner Zustimmung oder Genehmigung gehandelt werden (Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 3 MAR, Art. 19 Abs. 7 Buchst. a MAR). Vom Begriff des MTF ist in Deutschland insbesondere der Freiverkehrshandel erfasst;3) bei OTFs handelt es sich hingegen um Handelsplattformen für Nichtdividendenpapiere, wie etwa Schuldverschreibungen, strukturierte Finanzprodukte, Emissionszertifikate oder Derivate.4) Zudem wurde durch die MAR der Bußgeldrahmen drastisch erhöht. Bei den relevanten kapitalmarktrechtlichen Pflichten handelt es sich insbeson- 3 dere um die folgenden Pflichten: 

Ad-hoc-Veröffentlichung von den Emittenten betreffenden Insiderinformationen (Æ Rz. 4 ff.);



Verbot von Insidergeschäften (Æ Rz. 40 ff.; § 21 Rz. 282 ff.);



Pflicht zur Führung von Insiderlisten (Æ Rz. 57 ff.);

___________ 1) 2)

3) 4)

Verordnung (EU) 596/2014 vom 16.4.2014, ABl. EU 2014 L 173, S. 1. Verweise auf §§ des WpHG a. F. beziehen sich auf das WpHG in der Fassung vor dem Ersten Finanzmarktnovellierungsgesetz vom 20.6.2016 (BGBl I, 1514) und damit bis zum 2.7.2016. § 48 Abs. 3 Satz 2 BörsG; vgl. auch Marsch-Barner/Schäfer/Schäfer, Rz. 15.14. § 2 Abs. 8 Nr. 9 WpHG bzw. § 2 Abs. 7 BörsG.

Horcher

751

§ 10 Kapitalmarktrecht



Mitteilung von Directors’ Dealings und Handelsverbote (Æ Rz. 65 ff.);



Marktmanipulationsverbot (Æ Rz. 91 ff.; § 21 Rz. 299 ff.); sowie



Stimmrechtsmeldepflichten für Beteiligungen an börsennotierten Gesellschaften (Æ Rz. 106 ff.).

B.

Ad-hoc-Publizitätspflicht

I.

Anwendungsbereich

4 Nach Art. 17 Abs. 1 MAR ist ein Emittent von Finanzinstrumenten zur unverzüglichen Veröffentlichung von ihn unmittelbar betreffenden Insiderinformationen verpflichtet.5) 5 Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 17 MAR ist, dass der Emittent die Zulassung eines Finanzinstruments zum Handel am regulierten Markt, einem MTF oder OTF beantragt, erhalten oder genehmigt hat (Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 3 MAR).6) 6 Der Begriff des Finanzinstruments wird in Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 MAR i. V. m. Art. 4 Abs. 1 Nr. 15 i. V. m. Anhang I Abschnitt C der Richtlinie 2014/65/EU (Markets in Financial Instruments Directive – „MiFID II“) definiert und ist weit auszulegen.7) Erfasst sind u. a. übertragbare Wertpapiere, Geldmarktinstrumente, Anteile an Organismen für gemeinsame Anlagen, Derivate und auch Emissionszertifikate. Bei Aktiengesellschaften wird sich die Ad-hoc-Publizitätspflicht häufig aus der Börsennotierung der Aktien oder Unternehmensanleihen ergeben. II.

Tatbestandsvoraussetzungen der Ad-hoc-Publizitätspflicht

1.

Vorliegen einer Insiderinformation

7 Maßgeblich für das Entstehen einer Ad-hoc-Publizitätspflicht ist die Beurteilung, ob die vorliegende Information als Insiderinformation i. S. d. Art. 7 MAR zu qualifizieren ist. Demnach sind Insiderinformationen nicht öffentlich bekannte, präzise Informationen, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen (zum Straftatbestand des Insiderhandels Æ Rz. 40 ff. sowie ausführlich § 21 Rz. 282 ff.). ___________ 5) 6)

7)

752

Soweit im Folgenden Fundstellen vor Inkrafttreten der MAR zitiert werden, ist insoweit von einer Übertragbarkeit auf die aktuelle Rechtslage auszugehen. Erwägungsgrund 49 S. 5 MAR sowie von der Linden, DStR 2016, 1036 ff.; vgl. ferner Krause, CCZ 2014, 248 (250); Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593 (595); Söhner, BB 2017, 259. Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 22; Schwark/Zimmer/Kumpan/ Grütze, Art. 17 MAR Rz. 43.

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B. Ad-hoc-Publizitätspflicht

Dem Vorstand obliegt die Beurteilung, ob und wann eine Insiderinformation 8 vorliegt. Dabei kommt den Leitlinien der BaFin eine besondere Rolle zu.8) In der Folge entscheidet der Vorstand über das weitere Vorgehen, insbesondere über eine Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung oder einen Aufschub der Veröffentlichung im Wege der Selbstbefreiung (Æ Rz. 20 ff.). Diese Aufgabe ist häufig einem sog. Ad-hoc-Komitee übertragen, das ggf. zusätzliche externe Experten heranzieht. Nach der Verwaltungspraxis der BaFin muss die Entscheidung des Ad-hoc-Komitees über eine Selbstbefreiung unter Einbindung jedenfalls eines Vorstandsmitglieds des Emittenten erfolgen.9) Im Rahmen von gestreckten Geschehensabläufen (wie etwa einer M&A-Trans- 9 aktion oder einem Vorstandswechsel) können sowohl das Endereignis als auch die jeweiligen Zwischenschritte eine ad-hoc-pflichtige Insiderinformation darstellen, sofern die Information zum jeweiligen Zeitpunkt die Kriterien für eine Insiderinformation erfüllt (Art. 7 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 MAR).10) Praxishinweis: Allgemeingültige Empfehlungen können aufgrund der starken Ein- 10 zelfallabhängigkeit nicht gegeben werden. Allerdings ist im Rahmen von gestreckten Sachverhalten auch auf Grund der restriktiven Verwaltungspraxis der BaFin tendenziell zu einer eher vorsichtigen Handhabung und frühzeitigen Annahme einer Publizitätspflicht und damit verbunden der Prüfung der Möglichkeit eines Aufschubs (Æ Rz. 20 ff.) zu raten. a)

Präzise Information

Zunächst ist zu beurteilen, ob eine hinreichend präzise Information vorliegt. 11 Präzise sind Informationen nach Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR, wenn sie Umstände oder Ereignisse betreffen, die bereits gegeben bzw. eingetreten sind oder bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft gegeben sein bzw. eintreten werden. Bei zukünftigen Umständen ist dies bei hinreichender Eintrittswahrscheinlichkeit, d. h. einer Eintrittswahrscheinlichkeit von mehr als 50 %, der Fall.11) Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines zukünftigen ___________ 8) Vgl. allgemein zu Insiderinformationen BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, Ziff. I.2, S. 9 ff. sowie die sektorspezifische Ergänzung des Emittentenleitfadens BaFin, Leitlinien zur Bestimmung allgemeiner Kriterien für Ad-hoc-Publizitätspflichten und Aufschubmöglichkeiten für Kredit- und Finanzinstitute betreffend bankaufsichtliches Handeln und Abwicklung, S. 6 ff. (Stand: 31.5.2021). 9) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.3.1.1, S. 36; zur Entscheidungskompetenz des Aufsichtsrats im Falle des Entstehens der Insiderinformation im Aufgabenbereich des Aufsichtsrats (etwa bei Veränderungen in der Zusammensetzung des Vorstands) Æ § 3 Rz. 253 und 286. 10) Siehe hierzu auch Erwägungsgrund 16 MAR; zuvor bereits EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – Rs. C-19/11, ZIP 2012, 1282 sowie BGH, Beschl. v. 22.11.2010 – II ZB 7/09, ZIP 2011, 72. 11) Kumpan, DB 2016, 2039 (2041); Klöhn, AG 2016, 423 (428); Poelzig, NZG 2016, 528 (532) sowie zu § 13 WpHG a. F. BGH, Beschl. v. 25.2.2008 – II ZB 9/07, ZIP 2008, 639. Zur Verwaltungspraxis vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.2, S. 10.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

Umstands ist aber nur dann relevant, wenn dem bereits eingetretenen Zwischenschritt (noch) nicht die Qualität einer Insiderinformation zukommt. 12 Darüber hinaus muss die Information spezifisch genug sein, dass sie einen Schluss auf die möglichen Auswirkungen der Umstände bzw. Ereignisse auf die Kurse der betroffenen Finanzinstrumente erlaubt. Die Information muss so bestimmt sein, dass sie hinreichende Grundlage für eine Einschätzung über den zukünftigen Verlauf des Börsen- oder Marktpreises des Finanzinstruments bilden kann.12) Dies setzt jedoch nicht voraus, dass sich die Richtung der Kursentwicklung vorhersehen lässt. Mit dem Begriff der präzisen Information sollen vielmehr nur vage oder allgemeingültige Informationen ausgeschlossen werden, die keine Schlussfolgerung auf die mögliche Kursauswirkung zulassen.13) 13 Relevante Informationen können neben Tatsachen auch überprüfbare Werturteile, Einschätzungen, Absichten und Prognosen sein.14) Gerüchte sind präzise Informationen, sofern sie einen Tatsachenkern haben und ein verständiger Anleger auf ihrer Grundlage handeln würde.15) Maßgeblich ist die Quelle des Gerüchts, die ihm zugrunde liegenden nachprüfbaren Fakten und die Verfassung der Märkte im Allgemeinen und des Segments des betroffenen Unternehmens im Besonderen.16) b)

Fehlende öffentliche Bekanntheit der Information

14 Eine Information ist öffentlich bekannt, wenn sie dem breiten Anlegerpublikum und damit einer unbestimmten Zahl von Personen zugänglich ist; auf die konkrete Kenntnisnahme kommt es hingegen nicht an.17) Ausreichend ist es, wenn die Informationen über den Börsenticker laufen oder durch eine bundesweit erscheinende (Tages-)Zeitung18) oder einen großen Nachrichtendienst (Reuters, dpa) bekannt gegeben werden.19) Nicht ausreichend ist dagegen ___________ 12) Kumpan, DB 2016, 2039 (2041); Hopt/Kumpan, Art. 7 MAR Rz. 1; BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.2, S. 10 f. sowie zur alten Rechtslage BGH, Beschl. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, ZIP 2013, 1165 (1167). 13) EuGH, Urt. v. 11.3.2015 – Rs. C-628/13, ZIP 2015, 627 (629); Wilsing/Kleemann, DStR 2015, 958. 14) Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 44; Hopt/Kumpan, Art. 7 MAR Rz. 1. 15) Vgl. Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 MAR; BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.4.4, S. 14 f.; vgl. bereits Fleischer/Schmolke, AG 2007, 841 (847). 16) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.4.4, S. 14 f. 17) Klöhn, ZHR 180 (2016), 707 (724); Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 52; Schwark/Zimmer/Kumpan/Misterek, Art. 7 MAR Rz. 102; siehe für zahlreiche Beispiele auch BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.1, S. 10 sowie Klöhn MAR/Klöhn, Art. 7 Rz. 134 ff. 18) Ausreichend z. B. die Börsen-Zeitung, die von einem breiten Anlegerpublikum rezipiert wird, Klöhn, ZHR 180 (2016), 707 (726 f.). 19) Klöhn, ZHR 180 (2016), 707 (726).

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B. Ad-hoc-Publizitätspflicht

die Mitteilung auf der Website des Emittenten oder auf sozialen Netzwerken,20) im Rahmen einer Pressekonferenz, der Analystenkonferenz oder der Hauptversammlung21); ebenso wenig ist die Veröffentlichung in einer Regionalzeitung oder im Rahmen einer Gerichtsverhandlung ausreichend.22) c)

Erhebliches Kursbeeinflussungspotential

Wesentliches Abgrenzungskriterium, ob eine nicht öffentliche Information eine 15 Insiderinformation darstellt, ist in der Praxis häufig die Frage des erheblichen Kursbeeinflussungspotentials. Nach der (wenig erhellenden) Definition des Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR 16 besitzt eine Information erhebliches Kursbeeinflussungspotential, wenn ein verständiger Anleger23) die Information wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidungen nutzen würde. Dies ist aus der ex-antePerspektive eines durchschnittlich börsenkundigen und rational handelnden Anlegers zu beurteilen.24) Entscheidend ist, ob ein Kauf- oder Verkaufsanreiz besteht und das Geschäft dem verständigen Anleger lohnend erscheint.25) Die Eignung sollte auch die voraussichtlichen Auswirkungen der Information 17 in Betracht ziehen, insbesondere unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen, die das Finanzinstrument unter den gegebenen Umständen beeinflussen dürften.26) Im Rahmen der notwendigen Einzelfallprüfung sind u. a. Größe und Struktur des Unternehmens, Branche, Wettbewerbssituation und Markterwartung heranzuziehen.27) Als Richtschnur kann hier zudem der BaFin___________ 20) ESMA, Final Report, Draft technical standards on the Market Abuse Regulation, ESMA/2015/1455 (Stand: 28.9.2015), Rz. 188; Klöhn, ZHR 180 (2016), 707 (728 f.). 21) Dies gilt auch, wenn die Hauptversammlung „live“ im Internet übertragen wird, da nicht gewährleistet ist, dass die Information zeitgleich dem breiten Anlegerpublikum bekannt wird, vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.1, S. 10. 22) Klöhn, ZHR 180 (2016), 707 (729 f.); Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 53. 23) Der Verordnungsgeber hat auf eine gesetzliche Definition des Begriffs verzichtet, ausführlich hierzu Langenbucher, AG 2016, 417 ff. 24) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.4.1, S. 11 unter Verweis auf Erwägungsgrund 14 MAR. 25) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.4.2, S. 12; Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 54; Hopt/Kumpan, Art. 7 Rz. 10; Klöhn MAR/Klöhn, Art. 7 Rz. 211 ff.; Schwark/Zimmer/Kumpan/Misterek, Art. 7 MAR Rz. 180; zur alten Rechtslage bereits Krämer/Kiesewetter, BB 2012, 1679 (1684) sowie Fuchs/Mennicke/ Jakovou, WpHG, § 13 Rz. 159 ff. (insbesondere Rz. 161). 26) Vgl. Erwägungsgrund 14 MAR; Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 54 ff. 27) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.5.13, S. 22.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

Katalog potentieller Insiderinformationen dienen.28) Insiderinformationen können demnach im Regelfall insbesondere bei Strukturmaßnahmen (z. B. Verschmelzungen, Spaltungen, Abschluss von Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsverträgen), Übernahme- oder Abfindungsangeboten, Kapitalmaßnahmen, Restrukturierungsmaßnahmen, Erwerb oder Veräußerung wesentlicher Beteiligungen oder Kerngeschäftsfeldern, Rechtsstreitigkeiten von besonderer Bedeutung, wesentliche und überraschende Änderung der Finanzkennzahlen oder überraschende Veränderungen in Schlüsselpositionen des Unternehmens (insbesondere Vorstands- oder Aufsichtsratsvorsitz, Rückzug von Unternehmensgründern) entstehen. 2.

Unmittelbarer Emittentenbezug

18 Eine Ad-hoc-Publizitätspflicht besteht nur im Hinblick auf Insiderinformationen, die den Emittenten unmittelbar betreffen.29) Erforderlich ist ein direkter Bezug der Insiderinformation zum Emittenten unabhängig von dessen Kenntnis.30) Erfasst sind unternehmensinterne Entwicklungen wie z. B. Geschäftsabschlüsse, wichtige Erfindungen, Kapital- oder Strukturmaßnahmen, die Stellung eines Insolvenzantrags, maßgebliche Rechtsstreitigkeiten oder einschneidende Personalentscheidungen.31) Außerhalb des Tätigkeitsbereichs des Emittenten eingetretene Umstände können genügen, haben aber eine geringere praktische Relevanz.32) Als Beispielsfälle können hier etwa die Mitteilung eines Großaktionärs an den Emittenten einen Squeeze-out durchführen zu wollen33) oder die Ankündigung eines Übernahmeangebots34) angeführt werden. 3.

Veröffentlichung der Insiderinformation

19 Der Veröffentlichungsprozess wird häufig durch entsprechende Dienstleister begleitet. Vorab hat der Emittent die Ad-hoc-Mitteilung an die BaFin und die Geschäftsführungen der Handelsplätze zu schicken, an denen die Finanzinstrumente des Emittenten zum Handel zugelassen oder in den Handel einbezogen ___________ 28) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.5.13, S. 22. Zum Einbau in die zweistufige Prüfung des Kursbeeinflussungspotenzials vgl. auch BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.2.1.4.2, S. 12. 29) Kumpan, DB 2016, 2039 (2041); KK-WpHG/Klöhn, § 15 Rz. 77 ff.; Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 135. 30) Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 66 und 105. 31) Kumpan, DB 2016, 2039 (2041); Hopt/Kumpan, Art. 17 MAR Rz. 6; Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 86 ff. 32) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.2.2.2, S. 33. 33) Kumpan, DB 2016, 2039 (2041); mit Negativbeispielen BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.2.2.2, S. 34. 34) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.2.2.2, S. 33; Ellenberger/Bunte BankRHdB/Kumpan, § 86 Rz. 140.

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B. Ad-hoc-Publizitätspflicht

sind (§ 26 Abs. 1 WpHG). Unverzüglich danach,35) erfolgt die Veröffentlichung über geeignete Medien nichtdiskriminierend, unentgeltlich und zeitgleich in der gesamten Europäischen Union36) (in Deutschland erfolgt die Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung typischerweise über EQS News oder ein anderes elektronisch betriebenes Informationsverbreitungssystem). Die Veröffentlichung muss neben der Beschreibung der Insiderinformation und ihrer Qualifizierung als solche die Identität des Emittenten, die ISINs der betroffenen Finanzinstrumente sowie das Datum des Eintritts der relevanten Umstände enthalten.37) Unverzüglich hiernach ist die Insiderinformation an das Unternehmensregister i. S. d. § 8b HGB zu übermitteln (§ 26 Abs. 1 WpHG). Die Information ist zudem auf der Internetseite des Emittenten für die Dauer von mindestens 5 Jahren zu veröffentlichen (Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 3, Abs. 9 MAR).38) 4.

Selbstbefreiung von der Ad-hoc-Publizitätspflicht

Trotz Vorliegens einer den Emittenten unmittelbar betreffenden Insiderinfor- 20 mation kann der Emittent nach Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR im Wege einer Selbstbefreiung einen vorübergehenden Aufschub der Ad-hoc-Veröffentlichung erreichen.39) Hierfür ist erforderlich, dass kumulativ folgende Voraussetzungen vorliegen:40) 

Beeinträchtigung der berechtigten Interessen des Emittenten durch eine unverzügliche Veröffentlichung der Insiderinformation;



Keine Irreführung der Öffentlichkeit durch den Aufschub der Offenlegung; und



Gewährleistung der Vertraulichkeit der Insiderinformation.

___________ 35) Zu den Anforderungen der BaFin an das Unverzüglichkeitsgebot vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.4, S. 42; in der Praxis sind dies ca. 30 Minuten, vgl. Söhner, BB 2017, 259. 36) Vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1055. 37) Vgl. § 4 Abs. 1 WpAV. 38) Zu den Anforderungen Art. 3 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1055. 39) Daneben können Kredit- und Finanzinstitute unter bestimmten Voraussetzungen zur Wahrung der Stabilität des Finanzsystems die Veröffentlichung einer Insiderinformation aufschieben. Da dieser Aufschub gemäß Art. 17 Abs. 5 MAR der Zustimmung der zuständigen Regulierungsbehörde (d. h. in Deutschland der BaFin) bedarf, dürfte dieser Aufschubgrund allenfalls in Einzelfällen Bedeutung erlangen. 40) Diese Anforderungen werden durch § 6 WpAV und Abschnitt 5 der ESMA-Leitlinien 2016/1478 weiter präzisiert. Beachte ferner BaFin, Leitlinien zur Bestimmung allgemeiner Kriterien für Ad-hoc-Publizitätspflichten und Aufschubmöglichkeiten für Kredit- und Finanzinstitute betreffend bankaufsichtliches Handeln und Abwicklung, S. 17 ff. (Stand: 31.5.2021).

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§ 10 Kapitalmarktrecht

21 Das Vorliegen der Aufschubvoraussetzungen ist kontinuierlich zu überprüfen.41) Entfällt nur eine der drei vorgenannten Voraussetzungen, ist der Emittent zur unverzüglichen Veröffentlichung der Insiderinformation verpflichtet.42) Dies gilt nicht, wenn die Insiderinformation während des Aufschubzeitraums entfällt oder sich anderweitig erledigt. Auch eine Mitteilung über den vorgenommenen Aufschub an die BaFin ist dann nicht mehr erforderlich (Æ Rz. 26).43) 22 Im Rahmen des berechtigten Emittenteninteresses ist zu prüfen, ob die Veröffentlichung geeignet ist, die legitimen Interessen des Emittenten zu gefährden.44) Nach den ESMA-Leitlinien45) können insbesondere die folgenden, nicht abschließenden Umstände ein berechtigtes Emittenteninteresse an einem Aufschub begründen: 

Wahrscheinliche Gefährdung laufender Verhandlungen (etwa zu Fusionen, Übernahmen, Spaltungen oder Restrukturierungen) durch Veröffentlichung der Insiderinformation;



Gefährdung von der finanziellen Überlebensfähigkeit des Emittenten dienenden Finanzierungsverhandlungen durch Veröffentlichung der Insiderinformation;



Ausstehen der für die Wirksamkeit einer Maßnahme erforderlichen Aufsichtsratszustimmung, wenn eine unverzügliche Offenlegung die sachgerechte Bewertung der Information durch das Publikum gefährden würde und die ausstehende Gremienentscheidung so schnell wie möglich eingeholt wird;



Gefährdung der geistigen Eigentumsrechte an einer Produktentwicklung oder Erfindung durch eine unverzügliche Offenlegung der Information;



Gefährdung der Durchführung des Plans zum Erwerb oder der Veräußerung der Beteiligung an einem anderen Unternehmen durch eine unverzügliche Offenlegung der Information.

23 Eine Irreführung der Öffentlichkeit ist anzunehmen, wenn der Emittent das Ungleichgewicht noch aktiv vergrößert oder das Publikum durch aktive Signale in die Irre führt oder im Markt schon konkrete Informationen „gehandelt“

___________ 41) Vgl. Art. 4 Abs. 1 Buchst. b Unterbuchst. ii und Buchst. c DVO (EU) 2016/1055; BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.3.1, S. 36. 42) Vgl. Art. 17 Abs. 7 MAR bei Wegfall der Vertraulichkeit der Insiderinformation; vgl. zudem § 7 WpAV. 43) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.3.1, S. 36. 44) Klöhn, AG 2016, 423 (430 f.); Poelzig, NZG 2016, 761 (764); Kumpan, DB 2016, 2039 (2043); § 6 Satz 1 WpAV ist aufgrund der maximalharmonisierenden Wirkung von Art. 17 Abs. 4 MAR unbeachtlich. 45) Nr. 5.1 der ESMA-Guidelines ESMA/2016/1478 vom 20.10.2016; vgl. hierzu auch Erwägungsgrund 50 der MAR.

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B. Ad-hoc-Publizitätspflicht

werden.46) Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die verzögert offenzulegende Information sich von einer in diesem Zusammenhang vom Emittenten veröffentlichten früheren Information wesentlich unterscheidet, sie den Umstand betrifft, dass der Emittent seine zuvor öffentlich bekanntgegebenen finanziellen Ziele nicht erreicht oder die Information von Markterwartungen abweicht, die der Emittent zuvor durch sein Handeln hervorgerufen hat.47) Die Vertraulichkeit der Insiderinformation ist insbesondere bei Aufkommen 24 präziser Gerüchte nicht mehr gewährleistet, und zwar unabhängig davon, ob das Leak der Sphäre des Emittenten zugeordnet werden kann oder nicht (vgl. Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 1 MAR).48) Daneben besteht eine Veröffentlichungspflicht, sofern die Insiderinformation an eine andere Person weitergegeben wurde, sofern diese weder gesetzlich noch vertraglich zur Verschwiegenheit verpflichtet ist (Art. 17 Abs. 8 MAR). Nach der Verwaltungspraxis der BaFin ist Voraussetzung für eine wirksame 25 Selbstbefreiung, dass mindestens ein Vorstandsmitglied an der Entscheidung über die Selbstbefreiung beteiligt ist (Æ Rz. 8).49) Das Vorliegen der Aufschubvoraussetzungen ist gemäß Art. 17 Abs. 4 Unter- 26 abs. 3 MAR gegenüber der BaFin schriftlich zu erläutern.50) Dies hat entweder im Rahmen der Vorabmitteilung an die BaFin oder jedenfalls unverzüglich nach Veröffentlichung der Insiderinformation zu erfolgen.51) Praxishinweis: Es empfiehlt sich, bereits zum Zeitpunkt der Aufschubentscheidung 27 das Erläuterungsschreiben an die BaFin sowie den Entwurf einer Ad-hoc-Mitteilung vorzubereiten, um im Falle eines Leaks schnell handlungsfähig zu sein. 5.

Publizitätspflichten im Rahmen von Konzernstrukturen

Im Rahmen von Konzernstrukturen können Ad-hoc-Pflichten auf verschiedenen 28 Ebenen entstehen.52) Hierbei ist allerdings nie der Konzern als solcher veröffent___________ 46) Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 156; Kumpan, DB 2016, 2039 (2044); zu Letzterem vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.4.2009 – 20 Kap 1/08, ZIP 2009, 962 (970). 47) Nr. 5.2 der ESMA-Guidelines ESMA/2016/1478 vom 20.10.2016; Schwark/Zimmer/ Kumpan/Schmidt, Art. 17 MAR Rz. 252; Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 264. 48) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.3.1.4, S. 39. 49) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.3.1.1, S. 36; zur Entscheidung durch den Aufsichtsrat im Falle des Entstehens der Insiderinformation im Aufgabenbereich des Aufsichtsrats (etwa bei Vorstandswechseln, Æ § 3 Rz. 253 und 286). 50) Zum notwendigen Inhalt vgl. Art. 4 VO (EU) 2016/1055 sowie § 7 WpAV; vgl. auch BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, Ziff. I.3.9, S. 48 f. 51) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.3.3.1.1, S. 36; Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 302 ff. 52) Ausführlich hierzu und zur Frage der Wissenszurechnung im Konzern Götze/Carl, Der Konzern 2016, 259 ff.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

lichungspflichtig, sondern ausschließlich das zu einer Unternehmensgruppe gehörende Einzelunternehmen, sofern es Finanzinstrumente begeben hat.53) Grundsätzlich ist in Bezug auf Ad-hoc-Pflichten also jedes Unternehmen als juristisch selbstständig zu betrachten.54) 29 Für den Vorstand des Mutterunternehmens ist zu beachten, dass in Fällen, in denen sowohl das Mutter- als auch das Tochterunternehmen börsennotiert sind und auf der Ebene des Tochterunternehmens eine veröffentlichungspflichtige Insiderinformation eintritt, beide Unternehmen ad-hoc-pflichtig sein können.55) Die Abgabe einer einheitlichen Mitteilung für alle ad-hoc-pflichtigen Unternehmen ist nach herrschender Auffassung jedoch unzulässig.56) Für die Frage der Selbstbefreiung gemäß Art. 17 Abs. 4 MAR finden die Interessen einer Konzerngesellschaft des Emittenten keine Beachtung; anderes gilt nur dann, wenn dieses Interesse ein solches Gewicht erlangt, dass es zum Interesse des Emittenten selbst wird.57) 30 Ist ein Ereignis rein formal lediglich auf der Ebene des nicht börsennotierten herrschenden Mutterunternehmens eingetreten, ist das börsennotierte Tochterunternehmen veröffentlichungspflichtig, wenn das konkrete Ereignis auch das Tochterunternehmen unmittelbar betrifft und das erforderliche erhebliche Kursbeeinflussungspotenzial aufweist.58) III.

Sanktionen und Haftung

1.

Sanktionen

31 Gemäß § 120 Abs. 15 Nr. 6 – 11, Abs. 18 Satz 1, Satz 2 Nr. 2, Satz 3 WpHG kann bei vorsätzlichen oder leichtfertigen Pflichtverletzungen bei der Veröffentlichung gegen eine natürliche Person eine Geldbuße bis zu 1 Mio. € ver___________ 53) Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 93; Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 17 MAR Rz. 64 ff.; Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 138; zur alten Rechtslage bereits Fuchs/Pfüller, WpHG, § 15 Rz. 206; Behn, Ad-hoc-Publizität und Unternehmensverbindungen, S. 76 f.; Spindler/Speier, BB 2005, 2031 (2032); Fleischer, DB 2005, 759 (761). 54) Götze/Carl, Der Konzern 2016, 529. 55) Siehe hierzu Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 95; Götze/Carl, Der Konzern 2016, 529 (532). 56) Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 17 MAR Rz. 69; Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 100; zur alten Rechtslage schon Spindler/Speier, BB 2005, 2031 (2034). 57) Hopt/Kumpan, Art. 17 MAR Rz. 17; Schwark/Zimmer/Kumpan/Schmidt, Art. 17 MAR Rz. 212; Meyer/Veil/Rönnau/Veil/Brüggemeier, § 10 Rz. 136; zur alten Rechtslage bereits Fuchs/Pfüller, WpHG, § 15 Rz. 210 f.; Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, 6. Aufl., 2012, § 15 Rz. 157. 58) Meyer/Veil/Rönnau/Veil/Brüggemeier, § 10 Rz. 68; Assmann/Schneider/Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 17 MAR Rz. 49; ausführlich auch Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 17 MAR Rz. 66 ff.; weiter einschränkend auf Umstände, die sich auf die Betriebsmittel des Emittenten auswirken oder in denen Willensbetätigungen der Mutter gegen den Emittenten in Rede stehen noch Schwark/Zimmer/Kruse, 4. Aufl., 2010, § 15 WpHG Rz. 48.

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B. Ad-hoc-Publizitätspflicht

hängt werden, gegen eine juristische Person sogar bis zu 2,5 Mio. € oder 2 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes und darüber hinaus bis zum Dreifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils.59) Ferner ist die BaFin nach § 125 WpHG berechtigt, Entscheidungen über Maß- 32 nahmen und Sanktionen auf ihrer Internetseite bekannt zu machen und fünf Jahre lang zu veröffentlichen. Hierbei sind auch die verantwortlichen Personen zu benennen (sog. „naming and shaming“). 2.

Kapitalmarktrechtliche Haftung

Sofern ein ad-hoc-pflichtiger Emittent von Finanzinstrumenten eine Insider- 33 information, die ihn unmittelbar betrifft, nicht oder unrichtig veröffentlicht, kann er einem Dritten gemäß § 97 WpHG bzw. § 98 WpHG zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der durch die Unkenntnis der Insiderinformation oder dadurch entstanden ist, dass der Dritte auf die Richtigkeit der Insiderinformation vertraut hat. Haftungsadressat der §§ 97, 98 WpHG ist die Gesellschaft (Emittent).60) Al- 34 lerdings muss der Vorstand im Rahmen seiner Gesamtverantwortung sicherstellen, dass die aus Art. 17 MAR resultierende Publizitätspflicht eingehalten werden.61) 3.

Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB

Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 WpHG bleiben Schadenersatzansprüche, die auf an- 35 deren Rechtsgrundlagen beruhen, unberührt. Gemeint sind solche Rechtsgrundlagen, deren Haftungsgrund sich nicht allein auf den Verstoß gegen die Publizitätspflicht aus Art. 17 MAR beschränkt.62) Dies ermöglicht zwar die Heranziehung zivilrechtlicher Anspruchsgrundlagen. Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 17 MAR bestehen mangels einer Schutzgesetzeigenschaft dieser Vorschrift nach richtiger Auffassung aber weiterhin nicht.63) ___________ 59) Zu den von der BaFin herangezogenen Bemessungskriterien und ihrem Entscheidungsprozess vgl. BaFin, WpHG-Bußgeldleitlinien II (Stand: Februar 2017). 60) Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 17 MAR Rz. 349; Assmann/Schneider/Mülbert/ Assmann, WpHG, Art. 17 MAR Rz. 307; zur alten Rechtslage bereits Fuchs/Fuchs, WpHG, § 37c Rz. 7. 61) Hopt/Kumpan, Art. 17 MAR Rz. 4; zur alten Rechtslage bereits Just/Voß/Ritz/Becker/ Voß, WpHG, § 15 Rz. 32; KK-WpHG/Klöhn, § 15 Rz. 52. Zu den Vorteilen der Unternehmenshaftung siehe Assmann/Schneider/Mülbert/Hellgardt, WpHG, § 98 Rz. 61. 62) So ausdrücklich Klöhn MAR/Klöhn, Art. 17 Rz. 590. 63) Assmann/Schneider/Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 17 Rz. 11 und 308; Marsch-Barner/ Schäfer/Schäfer, § 15 Rz. 15.53 m. w. N.; a. A. wohl Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/ Kumpan, § 86 Rz. 168.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

4.

Haftung gemäß § 826 BGB

36 Grundsätzlich kann im Einzelfall ein Verstoß gegen die Ad-hoc-Publizitätspflichten auch eine unmittelbare persönliche Haftung des Vorstands gegenüber geschädigten Aktionären aus § 826 BGB begründen.64) Die hierfür notwendige vorsätzliche sittenwidrige Handlung soll nach der Rechtsprechung des BGH dann vorliegen, wenn die Vorstandsmitglieder die grobe Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung kennen, da sie in diesem Fall auch wissen, dass hierdurch Wertpapierkäufe auf fehlerhafter Tatsachengrundlage getätigt werden.65) Bei positiver Kenntnis der Unrichtigkeit einer Ad-hoc-Mitteilung könne nämlich schon nach der Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass die Mitteilung keinen anderen Zweck hatte, als dem Börsenpublikum einen gestiegenen Unternehmenswert vorzuspiegeln und den Börsenpreis positiv zu beeinflussen.66) 37 Ob eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung auch im Falle eines pflichtwidrigen Unterlassens von Ad-hoc-Mitteilungen in Betracht kommt, ist umstritten.67) Richtigerweise müssen zu der pflichtwidrig unterlassenen Ad-hocMitteilung noch besondere Umstände hinzutreten, die das schädigende Verhalten aufgrund des verfolgten Zwecks oder wegen der eingesetzten Mittel nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und „des als anständig Geltenden“ verwerflich machen.68) 38 Die praktische Bedeutung von § 826 BGB im Rahmen der Ad-hoc-Publizitätspflichten ist aufgrund der hohen tatbestandlichen Voraussetzungen bislang gering. C.

Insidergeschäfte

39 Art. 14 MAR verbietet folgende Handlungen: 

das Tätigen von Insidergeschäften und den Versuch hierzu;



die Empfehlung an Dritte oder die Verleitung Dritter, Insidergeschäfte zu tätigen; und



die unrechtmäßige Offenlegung von Insiderinformationen.

___________ 64) BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, NJW 2004, 2664; BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 217/03, NJW 2004, 2668; Marsch-Barner/Schäfer/Schäfer, § 15 Rz. 15.54. 65) BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 217/03, NJW 2004, 2668 (2670); siehe auch Spindler, WM 2004, 2089 (2091); Compliance-Handbuch Kapitalmarktrecht/Rückert/Kuthe, S. 239; KapitalanlagerechtsHdb/Assmann/Schütze/Buck-Heeb/Fleischer, § 6 Rz. 20. 66) BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 217/03, NJW 2004, 2668 (2670). 67) OLG München, Urt. v. 18.5.2011 – 20 U 4879/10, BeckRS 2011, 13734; Buck-Heeb/ Dieckmann, AG 2008, 681 (683); Meschede, ZIP 2017, 215 (216); Meyer/Veil/Rönnau/ Wolf, § 31 Rz. 73. 68) So ausdrücklich Meschede, ZIP 2017, 215 (216) unter Verweis auf BGH, Urt. v. 10.7.2001 – VI ZR 160/00, NJW 2001, 3702 (3703) und OLG München, Urt. v. 18.5.2011 – 20 U 4879/10, BeckRS 2011, 13734.

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C. Insidergeschäfte

I.

Insiderhandelsverbot und Empfehlungsverbot

1.

Verwendungsverbot und der Begriff des Insidergeschäfts

Art. 14 Buchst. a MAR verbietet das Tätigen von Insidergeschäften sowie den 40 Versuch hierzu (sog. „Verwendungsverbot“). Ein „Insidergeschäft“ liegt gemäß Art. 8 Abs. 1 Satz 1 MAR vor, wenn eine Person über Insiderinformationen (Æ Rz. 7 ff.) verfügt und unter Nutzung derselben für eigene oder fremde Rechnung direkt oder indirekt Finanzinstrumente, auf die sich die Informationen beziehen, erwirbt oder veräußert. Auch die Nutzung von Insiderinformationen in Form der Stornierung oder Änderung eines Auftrags in Bezug auf ein Finanzinstrument, auf das sich die Informationen bezieht, gilt als Insidergeschäft (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 MAR). Bedeutung erlangt dies vor allem für den sukzessiven Beteiligungsaufbau im Vorfeld eines öffentlichen Übernahmeangebots (sog. stakebuilding).69) Das Handeln aufgrund einer Empfehlung ist ferner dann ein verbotenes Insidergeschäft, wenn die Person, die aufgrund der Empfehlung tätig wird, weiß oder wissen sollte, dass die Empfehlung auf einer Insiderinformation beruht (Art. 8 Abs. 3 MAR).70) Voraussetzung für das Vorliegen eines verbotenen Insidergeschäfts ist, dass das 41 Geschäft „unter Nutzung“ einer Insiderinformation getätigt wird (Art. 8 Abs. 1 MAR). In Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung71) wird widerleglich vermutet, dass eine Person, die über Insiderkenntnisse verfügt und ein Geschäft ausführt, die Insiderinformation tatbestandlich nutzt (vgl. Erwägungsgrund 24 MAR).72) Den Ausnahmetatbeständen (Æ Rz. 45 ff.) kommt daher erhebliche Bedeutung zu. 2.

Empfehlungs- und Verleitungsverbot

Art. 14 Buchst. b MAR verbietet es den Inhabern von Insiderinformationen auf 42 Grundlage dieser Informationen Dritten zu empfehlen, Insidergeschäfte zu tätigen, oder Dritte dazu zu verleiten, Insidergeschäfte zu tätigen (sog. „Empfehlungs- und Verleitungsverbot“, vgl. Art. 8 Abs. 2 MAR). Ohne Bedeutung ist es dabei, ob dies für eigene oder fremde Rechnung erfolgt.73) Ein Erfolgseintritt derart, dass der Dritte tatsächlich das Finanzinstrument erwirbt oder veräußert, ist nicht erforderlich.74) „Verleiten“ ist hierbei die Beeinflussung des Willens eines anderen mit dem Ziel ihn zum Erwerb oder zur Veräußerung von Finanz___________ Krause, CCZ 2014, 248 (251); Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593 (597). Krause, CCZ 2014, 248 (251). EuGH, Urt. v. 23.12.2009 – C-45/08, BKR 2010, 65. Klöhn, WM 2017, 2085 (2088 f.); Klöhn, AG 2016, 423 (433); Stenzel, DStR 2017, 883 (885); Bühren, NZG 2017, 1172 (1174). 73) Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 74. 74) Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 74; Park/Hilgendorf/Kusche, Art. 14 MAR, Rz. 60. 69) 70) 71) 72)

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§ 10 Kapitalmarktrecht

instrumenten zu bewegen.75) „Empfehlung“ ist eine rechtlich unverbindliche Erklärung, durch die ein bestimmtes Verhalten auch nur indirekt als für den Adressaten vorteilhaft dargestellt und ihm dessen Verwirklichung angeraten wird.76) Die Insiderinformation selbst muss der Ratschlag nicht enthalten.77) 3.

Ausnahmen

43 In Art. 9 MAR werden in Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung in nicht abschließender Weise78) verschiedene Ausnahmetatbestände normiert, bei denen der Handel mit Finanzinstrumenten in Kenntnis einer Insiderinformation mangels Nutzung derselben79) kein Insidergeschäft darstellt (sog. Legitime Handlungen): durch Errichtung von Chinese Walls (Art. 9 Abs. 1 MAR), Geschäfte von Market Makern (Art. 9 Abs. 2 MAR), bloße Erfüllungsgeschäfte (Art. 9 Abs. 3 MAR), öffentliche Übernahmeangebote, sofern zum Zeitpunkt der Annahme des Angebots sämtliche Insiderinformationen öffentlich gemacht worden sind oder sonst ihren Charakter als Insiderinformationen verloren haben (Art. 9 Abs. 4 MAR)80) oder die Umsetzung getroffener Erwerbs- oder Veräußerungsentscheidungen (Art. 9 Abs. 5 MAR).81) 44 Zudem nimmt Art. 5 MAR unter bestimmten Voraussetzungen Aktienrückkäufe und Stabilisierungsmaßnahmen vom Verbot des Insiderhandels aus. Die Vorschrift enthält vor allem Regelungen zu Handelsbedingungen sowie Beschränkungen hinsichtlich Dauer und Volumen sowie Bekanntgabe- und Meldepflichten.82) Präzisierung erfährt die Vorschrift durch die Verordnung 2016/ 1052.83)

___________ 75) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.4.3.1, S. 62; Ellenberger/Bunte BankRHdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 74; Park/Hilgendorf/Kusche, Art. 14 MAR, Rz. 57; Schwark/ Zimmer/Kumpan/Schmidt, Art. 8 MAR Rz. 68; Assmann/Schneider/Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 8 MAR Rz. 91, so bzgl. des bisherigen Verleitens, das übertragbar ist: Fuchs/Mennicke, WpHG, § 14 Rz. 379; KK-WpHG/Klöhn, § 14 Rz. 484. 76) Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 75; Schwark/Zimmer/Kumpan/ Schmidt, Art. 8 MAR Rz. 69; Assmann/Schneider/Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 8 MAR Rz. 82; so zur alten Rechtslage bereits Fuchs/Mennicke, WpHG, § 14 Rz. 366; KKWpHG/Klöhn, § 14 Rz. 489. 77) Ellenberger/Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan, § 86 Rz. 75. 78) Klöhn, WM 2017, 2085 (2092); Bühren, NZG 2017, 1172 (1175); Veil, ZBB 2014, 85 (91); Poelzig, NZG 2016, 528 (533). 79) Klöhn, ZBB 2017, 261 (262). 80) Ausführlich Bühren, NZG 2017, 1172 (1176 ff.). 81) Ausführlich zu den Ausnahmen nach Art. 9 MAR Klöhn, ZBB 2017, 261 ff. 82) de Schmidt, Recht der Finanzinstrumente 2016, 4 (8). 83) Delegierte Verordnung (EU) 2016/1052 der Kommission vom 8.3.2016 – ABl EU L 173/34.

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C. Insidergeschäfte

Weiterhin gültig sind weitere bisher anerkannte ungeschriebene Ausnahme- 45 tatbestände.84) Dies sind z. B. face-to-face-Geschäfte,85) die Umsetzung eines vor Erlangung von Insiderwissen getroffenen Erwerbs- oder Veräußerungsentschlusses (sog. Master Plan-Ausnahme),86) ein Handeln entgegen der prognostizierten Kursentwicklung oder die Verwertung von Sicherheiten.87) II.

Offenlegungsverbot

1.

Grundtatbestand

Art. 14 Buchst. c MAR verbietet es schließlich den Inhabern von Insiderinfor- 46 mationen, diese unrechtmäßig offenzulegen (sog. „Offenlegungsverbot“). In Anlehnung an die Grøngaard und Bang-Entscheidung des EuGH88) ist die Offenlegung von Insiderinformationen dann unrechtmäßig, wenn eine Person, die über Insiderinformationen verfügt, diese gegenüber einer anderen Person offenlegt, außer dies geschieht im Zuge der normalen Ausübung einer Beschäftigung oder der normalen Erfüllung von Aufgaben (Art 10 Abs. 1 MAR). Erforderlich ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Offenlegung und der Ausübung der Arbeit oder des Berufs besteht.89) Die Offenlegung der Insiderinformation ist rechtmäßig, wenn der Informationsempfänger die Information benötigt, um seine beruflichen Aufgaben ordnungsgemäß und effizient erledigen zu können.90) Maßgeblich ist hierfür eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls.91) Die Offenlegung kann unmittelbar durch Weitergabe der Insiderinformation 47 oder mittelbar durch Schaffung der Voraussetzungen der Kenntniserlangung durch einen Dritten erfolgen.92) Die unternehmensinterne Offenlegung an und innerhalb von Vorstand und Aufsichtsrat ist befugt, soweit dies im sachlichen

___________ 84) Klöhn, WM 2017, 2085 (2088 f.). 85) Bühren, NZG 2017, 1172 (1175); Meyer/Veil/Rönnau/Veil, § 7 Rz. 46; BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.4.2.5.2.2.3, S. 61. 86) Bühren, NZG 2017, 1172 (1175); ausführlich Schwark/Zimmer/Kumpan/Schmidt, Art. 9 MAR Rz. 97 ff; BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.4.2.5.2.2, S. 60. 87) Siehe hierzu ausführlich KK-WpHG/Klöhn, § 14 Rz. 159 ff.; ausdrücklich zur Fortgeltung der ungeschriebenen Ausnahmen unter dem Regime der MAR Klöhn, AG 2016, 423 (433). 88) EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-384/02, ZIP 2006, 123. 89) EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-384/02, NJW 2006, 134 = ZIP 2006, 123; Ellenberger/ Bunte BankR-HdB/Hopt/Kumpan § 86 Rz. 105. 90) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.4.4.2.1, S. 63; vgl. EuGH, v. 22.11.2005 – C-384/02, NJW 2006, 133 (134) = ZIP 2006, 123. 91) Ausführlich Klöhn MAR/Klöhn, Art. 10 Rz. 43 ff. 92) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.4.4.1, S. 62; Assmann/Schneider/ Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 10 MAR Rz. 12.

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Zusammenhang mit deren Leitungs- und Überwachungsfunktion erfolgt,93) die Offenlegung an den Betriebsrat nur, soweit es um die Erfüllung von Informationspflichten geht.94) An die Betriebsversammlung oder an Arbeitnehmer direkt ist eine Weitergabe erst nach entsprechender Ad hoc-Mitteilung zulässig.95) Die unternehmensexterne Offenlegung ist nur dann befugt, wenn sie zur Wahrnehmung berechtigter Emittenteninteressen erforderlich ist.96) Dies ist u. a. dann der Fall, wenn Berater oder sonstige eingeschaltete Hilfspersonen die Informationen benötigen, um die ihnen vom Unternehmen übertragenen Aufgaben erfüllen zu können.97) 2.

Ausnahme: Marktsondierung (Art. 11 MAR)

48 Die Marktsondierung (sog. market sounding) anlässlich der Platzierung von Wertpapieren oder im Rahmen von Übernahmeangeboten war bereits nach alter Rechtslage als ungeschriebene Ausnahme von der Offenlegungspflicht anerkannt und wird nun durch Art. 11 MAR einer gesetzlichen Regelung zugeführt. Art. 11 Abs. 1 MAR definiert die Marktsondierung als Übermittlung von Informationen vor der Ankündigung eines Geschäfts durch den Emittenten, einen Zweitanbieter oder einen Dritten, der im Auftrag des Emittenten oder des Zweitanbieters tätig wird, an einen oder mehrere potenzielle Anleger, um das Interesse von potenziellen Anlegern an einem möglichen Geschäft und dessen Bedingungen wie seinem Umfang und seiner preislichen Gestaltung abzuschätzen. 49 Der Begriff der Marktsondierung erfasst gemäß Art. 11 Abs. 2 MAR zudem die Offenlegung von Insiderinformationen gegenüber Aktionären der Zielgesellschaft durch einen potenziellen Bieter, wenn die Insiderinformationen erforderlich sind, um den Inhabern die Meinungsbildung über ihre Verkaufsbereitschaft zu ermöglichen, und die Verkaufsbereitschaft dieser Inhaber nach vernünftigem Ermessen für den Beschluss des potenziellen Bieters über die Veröffentlichung des Übernahmeangebots erforderlich ist. ___________ 93) Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 10 MAR Rz. 50; BaFin-Emittentenworkshop, S. 39; zur alten Rechtslage bereits Just/Voß/Ritz/Becker/Ritz, § 14 Rz. 94; Fuchs/ Mennicke, WpHG, § 14 Rz. 234. 94) Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 10 Rz. 56; Assmann/Schneider/Mülbert/Assmann, Art. 10 MAR Rz. 29. 95) Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 10 MAR Rz. 60; Just/Voß/Ritz/Becker/Ritz § 14, Rz. 94; Meyer/Veil/Rönnau/Meyer, § 8 Rz. 24. 96) Vgl. zur Offenlegung gegenüber unternehmensexternen Personen Assmann/Schneider/ Mülbert/Assmann, Art. 10 MAR Rz. 45 ff.; Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 10 MAR Rz. 67 ff.; zur alten Rechtslage bereits KK-WpHG/Klöhn § 14 Rz. 387; Just/Voß/ Ritz/Becker/Ritz, § 14 Rz. 97. 97) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. I.4.4.2.1, S. 63; Assmann/Schneider/ Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 10 Rz. 46; Just/Voß/Ritz/Becker/Ritz, WpHG, § 14 Rz. 100.

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C. Insidergeschäfte

Den offenlegenden Marktteilnehmer treffen umfangreiche Pflichten: Zunächst 50 ist zu prüfen, ob die Marktsondierung zur Offenlegung von Insiderinformationen führt. Das Ergebnis der Prüfung sowie die Gründe hierfür sind schriftlich festzuhalten und zu aktualisieren, mindestens fünf Jahre lang aufzubewahren und auf Verlangen der BaFin vorzulegen (Art. 11 Abs. 3 und Abs. 8 MAR). Die Offenlegung ist ferner nur dann zulässig, wenn der Offenlegende die Zustimmung des Adressaten der Marktsondierung zum Erhalt von Insiderinformationen eingeholt hat und er diesen über die Vertraulichkeit der Information und das Verbot ihrer Nutzung belehrt hat (Art. 11 Abs. 4 und 5 Unterabs. 1 MAR). Zudem muss der Offenlegende gemäß Art. 11 Abs. 5 Unterabs. 2 MAR eine Liste mit Datum und Uhrzeit jeder Informationsübermittlung sowie Name und Kontaktdaten der Adressaten der Insiderinformation führen. Darüber hinaus hat der Offenlegende den Adressaten zu informieren, sobald die Information ihre Qualität als Insiderinformation verloren hat, und muss dies dokumentieren (Art. 11 Abs. 6 MAR).98) III.

Sanktionen und Haftung

Vorsätzlich begangene Insidergeschäfte (und der Versuch hierzu) können ge- 51 mäß § 119 Abs. 3, Abs. 4 WpHG mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet sind. Sonstige Zuwiderhandlungen sind Ordnungswidrigkeiten nach § 120 Abs. 14, Abs. 18 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, Satz 3 WpHG. Der Bußgeldrahmen beträgt für natürliche Personen bis zu 5 Mio. € und für juristische Personen bis zu 15 Mio. € oder 15 % des im vorangegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes und darüber hinaus bis zum Dreifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils. Neben der Innenhaftung gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1, 2 AktG besteht im Rahmen 52 von Insidergeschäften die Möglichkeit, dass der erlangte Taterlös gemäß §§ 73 ff. StGB eingezogen wird.99) Darüber hinaus ist die BaFin nach § 125 WpHG berechtigt, Entscheidungen 53 über Maßnahmen und Sanktionen auf ihrer Internetseite bekannt zu machen und fünf Jahre lang zu veröffentlichen. Hierbei sind auch die verantwortlichen Personen zu benennen (sog. „naming and shaming“). Eine zivilrechtliche Haftung scheidet hingegen regelmäßig aus. Ein Schadens- 54 ersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 14 MAR kommt nach vorzugswürdiger Auffassung wegen der lediglich marktschützenden Funktion dieser

___________ 98) Muster für die Aufzeichnung in Anhang III der Durchführungsverordnung (EU) 2016/959 vom 17.5.2016. 99) Ausführlich zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung Schorn/Utz, CB 2017, 255 ff.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

Vorschrift nicht in Betracht.100) Grundsätzlich denkbar ist eine Schadensersatzhaftung gemäß § 826 BGB;101) die hohen Anforderungen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung werden aber nur selten vorliegen. D.

Pflicht zur Führung von Insiderlisten

I.

Pflichteninhalt

55 Nach Art. 18 Abs. 1 MAR sind alle Emittenten, die eine Zulassung ihrer Finanzinstrumente zum regulierten Markt, einem MTF oder OTF veranlasst oder genehmigt haben, und alle in ihrem Auftrag oder für ihre Rechnung handelnden Personen (sog. „Dienstleister“, z. B. Rechtsanwälte, Steuerberater, Unternehmensberater und Kommunikationsagenturen)102) verpflichtet, eine Liste der Personen (sog. „Insiderliste“) aufzustellen, die auf Grundlage ihres Arbeitsvertrages oder durch anderweitige Aufgabenwahrnehmung Zugang zu Insiderinformationen haben. Die Insiderlisten sind auf aktuellem Stand zu halten und der BaFin als zuständiger Behörde auf Anfrage zukommen zu lassen. Bei direkter Anfrage der Insiderliste durch ausländische Aufsichtsbehörden (ohne Einschaltung der BaFin) ist die Zulässigkeit der Herausgabe insbesondere unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen; dies kann die Verweigerung der direkten Herausgabe an die ausländische Aufsichtsbehörde zur Folge haben. 56 Die Pflicht zur Führung von Insiderlisten trifft zum einen den Emittenten und damit im Rahmen seiner Gesamtverantwortung auch den Vorstand der Gesellschaft. Dieser kann aber frei entscheiden, ob die Erstellung selbst vorgenommen oder hierzu ein Dienstleister eingeschaltet wird (Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 MAR).103) Zum anderen ist auch jeder einzelne Dienstleister unabhängig vom Emittenten und von den übrigen Dienstleistern zur Listenführung verpflichtet.104) 57 Ein Muster mit dem notwendigen Inhalt zur Führung der Insiderliste nach Anhang I der Durchführungsverordnung (EU) 2016/347 ist auf der Homepage der BaFin abrufbar.105) Mindestinhalt der Insiderliste ist die Identität der in die Liste Aufgenommenen, der Aufnahmegrund, der Zeitpunkt der Erlangung der ___________ 100) Klöhn MAR/Klöhn, Art. 14 Rz. 122; Meyer/Veil/Rönnau/Veil, § 7 Rz. 102 f.; Assmann/ Schneider/Mülbert/Assmann, Art. 14 MAR Rz. 12. 101) Schwark/Zimmer/Kumpan/Grütze, Art. 14 MAR Rz. 49; allenfalls im Rahmen von ZweiPersonen-Verhältnis denkbar Assmann/Schneider/Mülbert/Assmann, Art. 14 MAR Rz. 14. 102) Söhner, BB 2017, 259 (261); Simons, AG 2016, 651 (652); siehe zu weiteren Beispielen BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. V.2.3.1, S. 87 f. 103) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. V.2, S. 86; Söhner, BB 2017, 259 (261). 104) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. V.2, S. 87; Simons, CCZ 2016, 221. 105) Vgl. BaFin, Musterbeispiele zum Ausfüllen des Meldeformulars (Stand: 23.11.2018), abrufbar unter https://www.bafin.de/dok/7980152.

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D. Pflicht zur Führung von Insiderlisten

Insiderinformation und das Datum der Erstellung der Insiderliste.106) Im Unterschied zu den früheren Insiderverzeichnissen ist nunmehr auch die Angabe der dienstlichen und privaten Festnetz- und Mobilnummer der Insider erforderlich. Die Insiderliste ist grundsätzlich projektbezogen zu erstellen. Die (optionale) Kategorie des „permanenten Insiders“ ist kleiner als die des bisherigen Funktionsinsiders: Aufgenommen werden müssen nur Personen, die aufgrund des Charakters ihrer Funktion oder Position jederzeit Zugang zu allen Insiderinformationen haben.107) Erforderlich ist ein finaler Zusammenhang zwischen Aufgabe und Zugang.108) Die Emittenten-Insiderliste muss zusätzlich mindestens einen Ansprechpartner der Dienstleister aufführen.109) Die Insiderliste ist unverzüglich unter Angabe von Datum und Uhrzeit des 58 Eintritts der Änderung zu aktualisieren, wenn eine Änderung des Erfassungsgrundes eintritt, eine weitere Person Zugang zu Insiderinformationen hat oder eine erfasste Person keinen Zugang mehr zu Insiderinformationen hat (Art. 18 Abs. 4 MAR). Die Insiderliste ist mindestens fünf Jahre nach Erstellung oder Aktualisierung 59 aufzubewahren (Art. 18 Abs. 5 MAR). Es ist darauf zu achten, dass gemäß Art. 18 Abs. 2 MAR alle in die Insiderliste 60 aufgenommenen Personen über ihre Pflichten sowie die hiermit verbundenen Sanktionsmöglichkeiten belehrt werden. Hierzu ist auf der Homepage der BaFin eine Musterbelehrung abrufbar.110) II.

Sanktionen

Nach § 120 Abs. 15 Nr. 12-16, Abs. 18 Satz 1, Satz 2 Nr. 3, Satz 3 WpHG kann 61 bei Verstößen gegen die Pflicht zur Führung von Insiderlisten nach Art. 18 MAR gegenüber natürlichen Personen eine Geldbuße von bis zu 500.000 € und gegenüber juristischen Personen von bis zu 1 Mio. € verhängt werden und darüber hinaus bis zum Dreifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils. Zudem ist die BaFin gemäß § 125 WpHG berechtigt, Entscheidungen über 62 Maßnahmen und Sanktionen auf ihrer Internetseite bekannt zu machen und fünf Jahre lang zu veröffentlichen. Hierbei sind auch die verantwortlichen Personen zu benennen (sog. „naming and shaming“).

___________ 106) 107) 108) 109) 110)

Simons, CCZ 2016, 221 (225). Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. V.4.2, S. 90; Söhner, BB 2017, 259 (262). Simons, CCZ 2016, 221 (224). Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. V.3.3, S. 89. BaFin, Musterbelehrung Art. 18 MAR, abrufbar unter https://www.bafin.de/dok/11123066.

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E.

Directors’ Dealings

63 Nach Art. 19 MAR haben Führungskräfte und eng mit ihnen verbundene Personen der BaFin jedes Eigengeschäft mit Anteilen oder Schuldtiteln dieses Emittenten oder damit verbundener Derivate oder anderen damit verbundenen Finanzinstrumenten zu melden. Darüber hinaus besteht für Führungskräfte ein (zeitlich begrenztes) Handelsverbot (sog. „Closed Period“). I.

Anwendungsbereich: Führungspersonen und eng verbundene Personen

64 Vom Anwendungsbereich der Vorschriften für Eigengeschäfte sind nach Art. 19 MAR Führungspersonen („Personen, die Führungsaufgaben wahrnehmen“) und eng verbundene Personen („in enger Beziehung zu ihnen stehende Personen“) erfasst. 65 Führungspersonen sind Personen, die einem Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan des Unternehmens angehören (und damit alle Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder111)) sowie höhere Führungskräfte, die zwar kein Organmitglied sind, aber regemäßig Zugang zu Insiderinformationen haben und befugt sind, unternehmerische Entscheidungen über zukünftige Entwicklungen und Geschäftsperspektiven des Unternehmens zu treffen, vgl. Art. 3 Abs. 1 Nr. 25 MAR. Erfasst sind nur Personen, die Personalverantwortung haben und strategische Entscheidungen für das Gesamtunternehmen ohne Zustimmungsvorbehalt des Vorstands treffen können; dies dürften nur Generalbevollmächtigte und Mitglieder eines sog. erweiterten Vorstands sein.112) Sonstige Personen sind gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 25 Buchst. b MAR nur dann Führungspersonen, wenn sie regelmäßig Zugang zu relevanten Insiderinformationen haben und befugt sind, über die Geschäftspolitik zu entscheiden.113) 66 Unter die Gruppe der „eng verbundenen Personen“ fallen nach Art. 3 Abs. 1 Nr. 26 MAR: 

der Ehepartner oder ein Partner dieser Person, der nach nationalem Recht einem Ehepartner gleichgestellt ist;



ein unterhaltsberechtigtes Kind entsprechend dem nationalen Recht;



ein sonstiger Verwandter, der zum Zeitpunkt der Tätigung des betreffenden Geschäfts seit mindestens einem Jahr demselben Haushalt angehört; oder



eine juristische Person, Treuhand oder Personengesellschaft, deren Führungsaufgaben durch eine Person, die Führungsaufgaben wahrnimmt, oder

___________ 111) Kumpan, AG 2016, 446 (448). 112) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.1.2.1, S. 66 f.; Klöhn MAR/Semrau, Art. 19 Rz. 27; Kumpan, AG 2016, 446 (449). 113) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.1.2.1, S. 66; Kumpan, AG 2016, 446 (448 f.); ausführlich zum Merkmal unternehmerischer Entscheidungen Schwark/Zimmer/ Kumpan/Grütze, Art. 19 MAR Rz. 66 ff. und Klöhn MAR/Semrau, Art. 19 Rz. 26.

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E. Directors’ Dealings

durch eine oben bereits aufgelistete Person wahrgenommen werden, oder die direkt oder indirekt von einer solchen Person kontrolliert wird, oder die zugunsten einer solchen Person gegründet wurde oder deren wirtschaftliche Interessen weitgehend denen einer solchen Person entsprechen. Allein die Wahrnehmung von Führungsaufgaben in einer anderen juristischen 67 Person macht diese juristische Person nicht zu einer der Führungskraft nahestehenden Person, sofern diese nicht von der Führungskraft des Emittenten kontrolliert wird oder zu deren Gunsten gegründet wurde oder ihre wirtschaftlichen Interessen weitgehend denen der Führungskraft entsprechen. Sog. „reine Doppelmandate“114) begründen daher keine Directors‘ Dealings-Mitteilungspflichten. II.

Pflichten im Rahmen von Directors’ Dealings

1.

Meldepflichtige Geschäfte

Meldepflichtig sind Geschäfte mit Anteilen oder Schuldtiteln des Emittenten 68 oder damit verbundener Derivate oder anderer damit verbundener Finanzinstrumente. Voraussetzung ist, dass die Geschäfte ein Gesamtvolumen von 20.000 € pro Jahr erreichen, welches durch Addition aller meldepflichtigen Geschäfte ohne Netting zu errechnen ist (Art. 19 Abs. 8 Satz 2 und Abs. 9 Satz 1 MAR).115) Meldepflichtig ist neben dem eigentlichen Kauf oder Verkauf der Anteile auch das Verpfänden und Verleihen oben genannter Finanzinstrumente (Art. 19 Abs. 7 Buchst. a MAR), Geschäfte von gewerbsmäßig handelnden Dritten, die im Auftrag einer meldepflichtigen Person handeln, wenn die meldepflichtige Person Einfluss auf die Anlageentscheidung hat (vgl. Art. 19 Abs. 7 Buchst. b und Erwägungsgrund 58 Satz 7 MAR) sowie Geschäfte im Rahmen einer Lebensversicherung, wenn die meldepflichtige Person das Investitionsrisiko trägt und sie die Befugnis hat, Investitionsentscheidungen bzgl. spezifischer Instrumente zu treffen (Art. 19 Abs. 7 Buchst. c MAR). Des Weiteren sind nach Art. 10 Abs. 2 der Delegierte Verordnung (EU) 69 2016/522 u. a. folgende Geschäfte meldepflichtig: Erwerb, Veräußerung, Leerverkauf, Zeichnung oder Austausch von Aktien, Annahme oder Ausübung einer Aktienoption, Eingehen und Ausüben von Aktien-Swaps, Erwerb, Veräußerung oder Ausübung von Rechten einschließlich Verkaufs- und Kaufoptionen, automatische und nicht automatische Umwandlung eines Finanzinstruments in ein anderes Finanzinstrument einschließlich des Austauschs von Wandelschuld___________ 114) Bafin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.1.2.4, S. 68; eingehend zu Doppelmandaten von Aufsichtsratsmitgliedern Hdb Aufsichtsrat/Goette/Arnold/Hitzer, § 5 Rz. 154 ff. 115) Vgl. zu diesem seit 1.1.2020 geltenden Schwellenwert BaFin, Allgemeinverfügung zur Erhöhung des Schwellenwertes auf 20.000,00 EUR nach Art. 19 Abs. 9 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 für zu meldende Eigengeschäfte nach Art. 19 Abs. 1, 8 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 vom 24.10.2019.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

verschreibungen in Aktien sowie getätigte oder erhaltene Zuwendungen und Spenden sowie entgegengenommene Erbschaften.116) 70 Der Erwerb oder die Gewährung von Optionen oder anderen Derivaten im Rahmen von Vergütungsprogrammen unterliegen der Meldepflicht, unabhängig davon, ob die berechtigte Person einen Handlungsspielraum bei der Zuteilung hat oder nicht.117) Dagegen unterliegen in Geld abgerechnete Instrumente, die weder handel- noch abtretbar sind und die dazu dienen, einen performanceabhängigen Vergütungsanspruch zu berechnen (z. B. sog. phantom stocks, appreciation rights, restricted stock units etc.), nicht der Meldepflicht.118) 71 Ein bei Übernahme der Führungsposition gehaltener Bestand von Finanzinstrumenten muss nicht offengelegt werden.119) 2.

Meldepflichten

72 Die meldepflichtige Person hat zunächst unverzüglich und spätestens drei Geschäftstage nach dem Abschluss des Geschäfts das Formular für die Meldung und öffentliche Bekanntgabe von Eigengeschäften von Führungskräften an den Emittenten und die BaFin zu übermitteln (vgl. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 MAR). Hierfür ist gemäß Art. 19 Abs. 15 MAR zwingend die im Anhang der Durchführungsverordnung (EU) 2016/523 enthaltene Vorlage entsprechend der Mustervorlage durch die BaFin zu nutzen.120) Neben den Angaben zur meldepflichtigen Person (Vor- und Familienname) und Angaben zum Emittenten (Name sowie Legal Entity Identifier Code), sind Angaben zum Grund der Meldung (d. h. Position der meldenden Person beim Emittenten) sowie Angaben zum betroffenen Finanzinstrument und zu Art, Datum, Uhrzeit, Kurs und Volumen des Geschäfts zu machen (Art. 19 Abs. 6 MAR). 73 Unter den Begriff des „Geschäftstages“ fallen alle Wochentage, die kein Samstag, Sonn- oder Feiertag sind, wobei ein beachtlicher Feiertag dann vorliegt, wenn entweder der fragliche Tag am Sitz des Emittenten oder an einem der Dienstsitze der BaFin (Hessen/Nordrhein-Westfalen) ein gesetzlicher Feiertag ist.121)

___________ 116) ESMA/2016/1644, S. 9; Stenzel, DStR 2017, 883 (888); ausführlich dazu BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.9, S. 74 ff. 117) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.9.1, S. 74 118) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.9.1.1, S. 75; Kumpan, AG 2016, 446 (451); Söhner, BB 2017, 259 (264). 119) Kumpan, AG 2016, 446 (452) m. w. N. 120) Vgl. BaFin, Musterbeispiele zum Ausfüllen des Meldeformulars (Stand: 23.11.2018), abrufbar unter https://www.bafin.de/dok/7980152. 121) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.2.7, S. 71.

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E. Directors’ Dealings

Praxishinweis: Maßgeblich ist das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft.122) Ist 74 der dingliche Vollzug hingegen vom Eintritt bestimmter Bedingungen abhängig, entsteht die Meldepflicht erst, wenn das Geschäft im Rahmen des dinglichen Vollzugs tatsächlich durchgeführt wird.123) Sodann muss der Emittent die von der Führungsperson gemeldeten Informatio- 75 nen unverzüglich und spätestens zwei124) Geschäftstage nach Erhalt einer in Art. 19 Abs. 1 MAR genannten Meldung über geeignete Medien sowie auf seiner Internetseite für einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren veröffentlichen (Artt. 19 Abs. 3 Unterabs. 1, 17 Abs. 10 Buchst. a MAR).125) Praxishinweis: Da die Veröffentlichungsfrist (relativ) kurz ist, sollten Führungs- 76 personen angehalten werden, die Mitteilung gegenüber dem Emittenten deutlich vor Ablauf der Frist – möglichst am nächsten Geschäftstag – abzugeben. Sodann sind die Informationen zu Eigengeschäften unverzüglich nach der Ver- 77 öffentlichung an das Unternehmensregister i. S. d. § 8b HGB zu übermitteln (26 Abs. 2 WpHG) und zuletzt die Veröffentlichung der BaFin mitzuteilen (26 Abs. 2 WpHG). Diese kann die Information auf ihrer Website veröffentlichen (Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 3 MAR, § 10 WpAV). Emittenten haben die Führungspersonen über deren Verpflichtungen im Rah- 78 men der Directors‘ Dealings-Vorschriften schriftlich zu belehren (Art. 19 Abs. 5 Unterabs. 1 Satz 1 MAR), wobei nicht Schriftform i. S. d. § 126 BGB gemeint ist. Ausreichend aber auch erforderlich ist jede Form, die eine dauerhafte Dokumentation und Abrufbarkeit gewährleistet.126) Diese Pflicht trifft auch die Führungspersonen gegenüber den mit ihnen in enger Beziehung stehenden Personen; eine Kopie der Belehrung ist aufzubewahren (Art. 19 Abs. 5 Unterabs. 2 MAR). Mit Einführung der MAR trifft den Emittenten zudem die Pflicht, eine Liste über 79 Führungspersonen und eng mit diesen verbundenen Personen zu führen (Art. 19 Abs. 5 Unterabs. 1 Satz 2 MAR). Diese Liste ist stets aktuell zu halten.127)

___________ 122) von der Linden, DStR 2016, 1036 (1040); Kumpan, AG 2016, 446 (454). 123) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.2.2, S. 69. 124) Die Verkürzung von bislang drei auf zwei Geschäftstage ist mit Geltung der Verordnung (EU) 2019/2115 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11.2019 zur Änderung der Richtlinie 2014/65/EU und der Verordnungen (EU) 596/2014 und (EU) 2017/1129 zur Förderung der Nutzung von KMU-Wachstumsmärkten am 1.1.2021 in Kraft getreten. 125) Siehe hierzu auch Söhner, BB 2017, 259 (263), der als „geeignete Medien“ u. a. Bloomberg, Reuters, dpa-AFX, Dow Jones, vwd, DGAP ansieht. 126) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.8, S. 74. 127) Stüber, DStR 2016, 1221 (1225).

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§ 10 Kapitalmarktrecht

III.

Handelsverbote

1.

Voraussetzungen für ein Handelsverbot

80 Nach Art. 19 Abs. 11 MAR dürfen Führungspersonen 30 Tage vor „Ankündigung“ eines Zwischenberichts (zu welchen auch der Halbjahresbericht gehört128)) oder eines Jahresabschlussberichts, zu dessen Veröffentlichung der Emittent verpflichtet ist, weder direkt noch indirekt Eigengeschäfte oder Geschäfte für Dritte im Zusammenhang mit Finanzinstrumenten des Emittenten tätigen (sog. Closed Period). Unter Umständen sind auch Geschäfte erfasst, die eine Führungskraft über oder für eine eng verbundene Person ausführt.129) Allein die Existenz von Doppelmandatsträgern führt jedoch nicht zu einem Handelsverbot für das Unternehmen, in dem die Führungsperson eine Organfunktion (etwa Mitgliedschaft im Aufsichtsrat) wahrnimmt. 81 Abweichend vom missverständlichen Begriff der „Ankündigung“ ist als fristauslösendes Ereignis das (angekündigte) Veröffentlichungsdatum des relevanten Finanzberichts anzusehen.130) Die Veröffentlichung des vorläufigen Jahresergebnisses ist maßgeblich, sofern diese alle wesentlichen Informationen umfasst, von denen anzunehmen ist, dass sie auch im Jahresbericht enthalten sind.131) Hingegen löst eine verpflichtende Quartalsmitteilung, wie sie in § 53 der Börsenordnung der Frankfurter Wertpapierbörse vorgesehen ist, grundsätzlich kein Handelsverbot aus.132) 82 Wurde das Geschäft außerhalb der Closed Period schuldrechtlich unbedingt vereinbart, kann es ohne Verstoß gegen Art. 19 Abs. 11 MAR innerhalb der Closed Period vollzogen werden.133) 2.

Ausnahmen vom Handelsverbot

83 In Art. 19 Abs. 12 MAR sind Ausnahmen vom Handelsverbot normiert, die im Einzelfall vom Emittenten gewährt werden können. Zuständig für die Ge___________ 128) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.7, S. 74. 129) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.7, S. 73. 130) Vgl. ESMA/2016/1644, S. 7; ESMA, Questions and Answers on the Market Abuse Regulation (ESMA70-145-111, Question 7.2, S. 20 (Stand: 13.7.2016); BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.7, S. 73; Stüber, DStR 2016, 1221 (1226) unter Verweis auf die englische Sprachfassung („announcement“); Söhner, BB 2017, 259 (263). 131) ESMA, Questions and Answers on the Market Abuse Regulation (ESMA70-145-111), S. 25 (Stand: 13.7.2016); BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.7, S. 73; Söhner, BB 2017, 259 (264). 132) Vgl. BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.7, S. 74; siehe umfassend zu den einzelnen Veröffentlichungspflichten nach den jeweiligen Börsenordnungen Söhner, BB 2017, 259 (264). 133) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. II.3.7, S. 74; Stenzel, DStR 2017, 883 (888).

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E. Directors’ Dealings

währung einer Handelsverbotsbefreiung ist grundsätzlich der Vorstand, im Falle einer Befreiung zugunsten des Vorstands der Aufsichtsrat.134) Eine entsprechende Befreiung kann erteilt werden, sofern:

84



im Einzelfall außergewöhnliche Umstände, wie beispielsweise schwerwiegende finanzielle Schwierigkeiten, den unverzüglichen Verkauf von Anteilen notwendig machen; oder



das Geschäft besondere Merkmale erfüllt, es etwa im Rahmen von Belegschaftsaktien- oder Arbeitnehmersparplänen erfolgt oder sofern sich dabei das wirtschaftliche Eigentum an dem einschlägigen Wertpapier nicht ändert.

Die Anforderungen für die Befreiung vom Handelsverbot sind hoch und 85 werden durch die Delegierte Verordnung (EU) 2016/522 präzisiert.135) Die Führungsperson hat dem Emittenten vor einer möglichen Handelstätigkeit während der Closed Period einen begründeten schriftlichen Antrag vorzulegen, mit dem die Zustimmung zum unverzüglichen Handel eingeholt werden soll. Aus dem Antrag muss u. a. hervorgehen, dass das intendierte Geschäft nicht zu einem anderen Zeitpunkt außerhalb der Closed Period ausgeführt werden kann. Der Emittent muss dann selbst vor der Erteilung der Erlaubnis überprüfen, ob die geltend gemachten „außergewöhnlichen Umstände“ tatsächlich vorliegen. Dazu ist nach Art. 8 der Delegierten Verordnung (EU) 2016/522 erforderlich, dass die Umstände äußerst dringend, unvorhergesehen sowie zwingend sind und nicht von der Führungsperson verursacht werden bzw. sich ihrer Kontrolle entziehen.136) Darüber hinaus ist die Führungskraft – auch bei Erteilung einer Befreiung – 86 weiterhin an das Insiderhandels- und das Marktmanipulationsverbot gebunden. IV.

Sanktionen

Ein Verstoß gegen die Vorschriften des Art. 19 MAR stellt eine Ordnungswidrig- 87 keit dar, die mit einer Geldbuße gegenüber natürlichen Personen bis zu 500.000 € und gegenüber juristischen Personen bis zu 1 Mio. € oder bis zum Dreifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils geahndet werden kann (§ 120 Abs. 15 Nr. 17–22, Abs. 18 Satz 1, Satz 2 Nr. 3, Satz 3 WpHG). Zudem kann die BaFin gemäß § 125 WpHG Entscheidungen über Maßnahmen 88 und Sanktionen auf ihrer Internetseite bekannt machen und fünf Jahre lang veröffentlichen. Hierbei sind auch die verantwortlichen Personen zu benennen (sog. „naming and shaming“). ___________ 134) Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593 (602); Stüber, DStR 2016, 1221 (1226). 135) Delegierte Verordnung (EU) 2016/522 der Kommission vom 17.12.2015; Stüber, DStR 2016, 1221 (1227). 136) Erwägungsgrund Nr. 22 der Delegierte Verordnung (EU) 2016/522 der Kommission vom 17.12.2015; Stüber, DStR 2016, 1221 (1227).

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§ 10 Kapitalmarktrecht

F.

Verbot der Marktmanipulation

89 Artt. 12 und 15 MAR statuieren das Verbot der Marktmanipulation. Der Tatbestand hat eine nicht unerhebliche Ausweitung erfahren und umfasst alle manipulierenden Verhaltensweisen.137) Neben Finanzinstrumenten sind nun auch Waren-Spot-Kontrakte (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a MAR) und Handlungen in Bezug auf Referenzwerte (etwa LIBOR oder EURIBOR) (Art. 2 Abs. 2 Buchst. c MAR) erfasst. Zudem verbietet Art. 15 MAR nun ausdrücklich auch den Versuch der Marktmanipulation. I.

Tatbestand

1.

Handels- und informationsgestützte Marktmanipulation

90 Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und b MAR erfassen die handelsgestützte Marktmanipulation sowie sonstige Täuschungshandlungen. Der Tatbestand erfasst nicht nur jeden „Abschluss eines Geschäfts“ oder jede „Erteilung eines Handelsauftrags“, sondern auch „jede andere Handlung“ (Art. 12 Abs. 1 Buchst. a MAR) bzw. „jegliche sonstige Tätigkeit“ (Art. 12 Abs. 1 Buchst. b MAR). 91 Art. 12 Abs. 1 Buchst. c MAR regelt den Grundtatbestand der informationsgestützten Marktmanipulation. Neben Handlungen, die falsche oder irreführende Signale in Bezug auf eines der erfassten Tatobjekte geben oder hierzu geeignet sind, sind auch Handlungen erfasst, die ein anormales oder künstliches Preisniveau herbeiführen oder hierzu geeignet sind. Ausdrücklich genannt ist die Verbreitung von Gerüchten. In subjektiver Hinsicht ist Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit in Bezug darauf, dass die Information falsch oder irreführend ist, erforderlich. Eine informationsgestützte Marktmanipulation kann auch durch eine Unterlassung begangen werden (vgl. Art. 2 Abs. 4 MAR). Die BaFin prüft bei unterlassenen oder verspätet abgegebenen Ad-hoc-Mitteilungen regelmäßig auch eine mögliche Verletzung des Marktmanipulationsverbots.138) 92 Art. 12 Abs. 1 Buchst. d MAR erfasst ausdrücklich die Manipulation von Referenzwerten, wobei auch hier Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit in Bezug darauf, dass die Information falsch oder irreführend ist, erforderlich ist. 93 Art. 12 Abs. 2 MAR enthält einige zwingende139) Anwendungsbeispiele von handlungs- bzw. informationsgestützter Marktmanipulation. Zudem enthält

___________ 137) de Schmidt, Recht der Finanzinstrumente 2016, 4 (6); ausführlich zur Systematisierung der Erscheinungsformen sowie zur Ausweitung des Anwendungsbereichs des Verbots der Marktmanipulation durch die MAR Meyer/Veil/Rönnau/Teigelack, § 12 Rz. 15 ff. und 18 ff. 138) Ausführlich BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. III.7.3, S. 81 f. 139) BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, 2020, Ziff. III.4, S. 79; Assmann/Schneider/Mülbert/ Mülbert, WpHG, Art. 12 MAR Rz. 234; de Schmidt, Recht der Finanzinstrumente 2016, 4 (7).

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F. Verbot der Marktmanipulation

Art. 12 Abs. 3 i. V. m. Anhang I MAR eine nicht erschöpfende140) Aufzählung von Indikatoren für manipulatives Handeln durch Aussenden falscher oder irreführender Signale bzw. durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen sowie sonstiger Formen der Täuschung.141) Diese sind für sich genommen nicht zwangsläufig als Manipulation zu sehen, sind aber ausweislich des Textes des Anhangs I der MAR zu berücksichtigen, wenn Marktteilnehmer oder die zuständigen Behörden Geschäfte oder Handelsaufträge prüfen. Die Beurteilung hat jedoch anhand des jeweiligen konkreten Einzelfalls zu erfolgen.142) 2.

Ausnahmen

Art. 5 MAR normiert unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme vom 94 Marktmanipulationsverbot für Aktienrückkäufe und Stabilisierungsmaßnahmen. Art. 13 MAR eröffnet Behörden ferner die Möglichkeit, sog. „zulässige Markt- 95 praktiken“ anzuerkennen. Als Konsequenz dieser Anerkennung gilt das Verbot der handelsgestützten Manipulation gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a MAR nicht, wenn die Person nachweist, dass sie legitime Gründe hatte und das fragliche Verhalten im Rahmen der Marktpraxis erfolgte. Bisher hat die BaFin jedoch noch keine solche zulässige Marktpraxis anerkannt.143) II.

Sanktionen und Haftung

Vorsätzliche Manipulationen, die auf den Börsen- oder Marktpreis eingewirkt 96 haben, sind Straftaten, die mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet werden können, § 119 Abs. 1 i. V. m. § 120 Abs. 2 Nr. 3 WpHG (ausführlich dazu Æ § 21 Rz. 299 ff.). Auch der Versuch der Marktmanipulation ist strafbar (§ 119 Abs. 4 WpHG). Für Manipulationen, die keine Straftaten darstellen, wie etwa leichtfertig be- 97 gangene Taten, kann die BaFin gegen natürliche Personen ein Bußgeld von bis ___________ 140) ESMA, Final Report – ESMA’s technical advice on possible delegated acts concerning the Market Abuse Regulation vom 3.2.2015, ESMA/2015/224, S. 13 Abs. 29; Assmann/ Schneider/Mülbert/Assmann, WpHG, Art. 12 Rz. 283; Schwark/Zimmer/Zimmer/Bator, Art. 12 MAR Rz. 4. 141) Eine weitere Präzisierung ist auf Grundlage von Art. 12 Abs. 5 MAR durch die beispielhafte Aufzählung von Praktiken in Art. 4 Abs. 1 mit Anhang II der delegierten VO (EU) 2016/522 erfolgt. 142) de Schmidt, Recht der Finanzinstrumente 2016, 4 (8); zur weiteren Präzisierung kann der Final Report des ESMA (ESMA, Final Report – ESMA’s technical advice on possible delegated acts concerning the Market Abuse Regulation vom 3.2.2015, ESMA/2015/224) herangezogen werden, in welchem Praktiken genannt sind, die nach Ansicht der ESMA als Marktmanipulation zu qualifizieren sind. 143) Auf der Homepage der ESMA sind nach Art. 13 Abs. 9 MAR alle als zulässig anerkannten Marktpraktiken zu veröffentlichen.

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§ 10 Kapitalmarktrecht

zu 5 Mio. € und gegenüber juristische Personen bis zu 15 Mio. € bzw. 15 % des Gesamtumsatzes und darüber hinaus bis zum Dreifachen des aus dem Verstoß gezogenen Vorteils verhängen (§ 120 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 15 Nr. 2, Abs. 18 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, Satz 3 WpHG). 98 Entscheidungen, die wegen eines Verstoßes gegen das Marktmanipulationsverbot erlassen wurden, werden von der BaFin auf ihrer Internetseite bekannt gemacht (sog. „naming and shaming“), § 125 WpHG. 99 Daneben ist eine zivilrechtliche Haftung möglich. Sofern eine informationsgestützte Marktmanipulation (Art. 12 Abs. 1 Buchst. c MAR) gleichzeitig den Tatbestand einer unwahren Insiderinformation in einer Ad-hoc-Mitteilung (Art. 17 MAR) darstellt, kann dies etwa eine Haftung nach § 98 WpHG begründen.144) Ferner kommt unter den strengen Voraussetzungen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung eine zivilrechtliche Haftung nach § 826 BGB in Betracht.145) Hingegen scheidet eine Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB mangels Schutzgesetzeigenschaft des Art. 15 MAR nach richtiger Auffassung aus.146) G.

Stimmrechtsmeldepflichten

100 Die Stimmrechtsmeldepflichten aus den §§ 33 ff. WpHG regeln die kapitalmarktrechtliche Beteiligungspublizität. In ihrem Anwendungsbereich werden die aktienrechtlichen Stimmrechtsmeldepflichten verdrängt (vgl. §§ 20 Abs. 8, 21 Abs. 5 AktG). Letztere kommen somit nur zur Anwendung, wenn die betreffenden Aktien ausschließlich im Freiverkehr gehandelt werden. 101 Die Stimmrechtsmeldepflichten aus den §§ 33 ff. WpHG bestehen grundsätzlich neben Regelungen der MAR (ausführlich dazu Æ Rz. 4 ff.). Sie sind somit unabhängig voneinander zu prüfen und zu befolgen.147) I.

Stimmrechtsmelderegime gemäß §§ 33 ff. WpHG

102 Die §§ 33 ff. WpHG statuieren drei verschiedene Melderegime für Stimmrechtsbeteiligungen an Gesellschaften, deren Aktien zum Handel am regulierten Markt zugelassen sind. Die Stimmrechtsmitteilungspflichten sind gegenüber dem Emittenten und der BaFin zu erfüllen und nachfolgend vom Emittenten gemäß § 40 WpHG zu veröffentlichen. Beteiligungen an (stimmrechts-

___________ 144) 145) 146) 147)

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Assmann/Schneider/Mülbert/Mülbert, WpHG, Art. 15 MAR Rz. 50. Assmann/Schneider/Mülbert/Mülbert, WpHG, Art. 15 MAR Rz. 49. Assmann/Schneider/Mülbert/Mülbert, WpHG, Art. 15 MAR Rz. 45. Vgl. Assmann/Schneider/Mülbert/U.H. Schneider/S.H. Schneider, WpHG, Vorbem. § 33 Rz. 65 für das Verhältnis zu Art. 17 MAR sowie Schwark/Zimmer/v. Hein, Vorbem. §§ 33 ff. WpHG Rz. 50 für das Verhältnis zu Art. 19 MAR.

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G. Stimmrechtsmeldepflichten

losen) Vorzugsaktien werden von den Meldepflichten hingegen grundsätzlich nicht erfasst.148) 1.

Melderegime für Stimmrechte

Das Melderegime für Stimmrechte gemäß § 33 WpHG erfasst Stimmrechte aus 103 selbst gehaltenen Aktien bzw. solche, die nach einem der (umfangreichen) Zurechnungstatbestände des § 34 WpHG der jeweiligen Person zugerechnet werden. Gemäß § 33 Abs. 3 WpHG zählen zu den selbst gehaltenen Aktien auch solche, hinsichtlich deren ein unbedingter Übertragungsanspruch besteht, der ohne zeitliche Verzögerung zu erfüllen ist (d. h. spätestens am zweiten Geschäftstag nach dem betreffenden Abschluss (t+2)149)); dies gilt spiegelbildlich für Übertragungsverpflichtungen. Über die Börse erworbene Aktien sind daher ab dem Tag des Kaufes (d. h. dem Trade Date) hinzuzurechnen und über die Börse veräußerte Aktien ab dem Tag des Verkaufs abzuziehen. Unter den Zurechnungstatbestand des § 34 WpHG fallen insbesondere von 104 Tochterunternehmen gehaltene Stimmrechte (Abs. 1 Nr. 1), für Rechnung gehaltene Stimmrechte (Abs. 1 Nr. 2),150) Stimmrechte, hinsichtlich derer eine Vollmacht erteilt wurde und für deren Ausübung jedenfalls (teilweise) ein Ermessensspielraum besteht (Abs. 1 Nr. 6),151) oder Stimmrechte von Aktionären, die sich im Hinblick auf den Emittenten im Wege eines sog. acting in concert abstimmen (Abs. 2). Letzteres umfasst die – über den Einzelfall hinausgehende – Verständigung über die Ausübung von Stimmrechten oder das Zusammenwirken mit dem Ziel einer dauerhaften und erheblichen Änderung der unternehmerischen Ausrichtung des Emittenten, wobei das Vorliegen eines Einzelfalls ausschließlich formal zu bestimmen ist.152)

___________ 148) Schwark/Zimmer/v. Hein, § 33 WpHG Rz. 20; MünchKommAktG/Bayer, § 33 WpHG Rz. 25; K. Schmidt/Lutter/Veil, AktG, § 33 WpHG Rz. 14; Assmann/Schneider/Mülbert/ U.H. Schneider/S.H. Schneider, WpHG, § 33 Rz. 40 ff. 149) Begr. RegE, BT-Drucks. 18/5010, S. 44; Emmerich/Habersack/Habersack, § 33 WpHG Rz. 14; MünchKommAktG/Bayer, § 33 WpHG Rz. 28; Schilha, DB 2015, 1821 (1824). 150) Ein Halten für Rechnung setzt voraus, dass die fragliche Person die wesentlichen Chancen und Risiken aus den Aktien trägt und Einfluss auf die Stimmrechtsausübung aus diesen Aktien nehmen kann, vgl. BGH, Urt. v. 29.7.2014 – II ZR 353/12, NZG 2014, 985 (990) = ZIP 2014, 2261. 151) Schwark/Zimmer/v. Hein, § 34 WpHG Rz. 19 ff.; Emmerich/Habersack/Habersack, § 34 WpHG Rz. 17 ff. 152) BGH, Urt. v. 25.9.2018 – II ZR 190/17, NJW 2019, 219 = ZIP 2018, 2214; besprochen von Horcher/Kovács, DStR 2019, 388 ff. und Brellochs, AG 2019, 29 ff.; nunmehr auch BaFin, FAQ zu den Transparenzpflichten des WpHG in den Abschnitten 6 (§§ 33 ff.) und 7 (§§ 48 ff.), S. 9 f. (Stand: 22.9.2020).

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§ 10 Kapitalmarktrecht

2.

Melderegime für Finanzinstrumente

105 Mit der Vorschrift des § 38 WpHG besteht ein gesondertes Melderegime für Instrumente. Dieses ergänzt die Stimmrechtsmeldepflichten aus §§ 33, 34 WpHG und soll die Möglichkeiten eines heimlichen Beteiligungsaufbaus durch eine zeitliche Vorverlagerung der Meldepflicht einschränken.153) 106 Dem Melderegime für Finanzinstrumente gemäß § 38 WpHG unterfallen solche Instrumente, die das unbedingte Recht verleihen, aufgrund einer rechtlich bindenden Vereinbarung mit Stimmrechten verbundene und bereits ausgegebene, an einem organisierten Markt zugelassene Aktien eines Emittenten zu erwerben (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a WpHG)154) oder die den Erwerb der Aktien nicht von äußeren Umständen, sondern einzig vom Ermessen des Inhabers des Finanzinstruments abhängig machen (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b WpHG).155) Ausreichend ist, dass sich das Instrument auf derartige Aktien bezieht und eine vergleichbare wirtschaftliche Wirkung hat (§ 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG). Beispielhaft, aber nicht zwingend nennt das Gesetz etwa übertragbare Wertpapiere, Optionen, Terminkontrakte, Swaps, Zinsausgleichsvereinbarungen und Differenzgeschäfte (§ 38 Abs. 2 WpHG).156) Auch die Stillhalterposition unter einer Put-Option oder bedingte Kaufverträge unterfallen diesem Melderegime.157) Sehen Instrumente lediglich ein Cash Settlement und keine Realerfüllung vor, ist die relevante Position nicht anhand des Nominalwerts, sondern auf Delta-adjustierter Basis zu bestimmen (§ 38 Abs. 3 Satz 2 WpHG). 3.

Melderegime für Gesamtposition

107 Daneben besteht ein Melderegime nach § 39 WpHG im Hinblick auf die Summe sämtlicher bestehender Stimmrechte an einem Emittenten: Die Stimmrechte i. S. d. § 33 WpHG und die i. S. d. § 38 WpHG werden addiert. Die Meldepflicht nach § 39 WpHG besteht neben und unabhängig von der aus § 33 WpHG und/oder § 38 WpHG:158) Werden Stimmrechte i. S. d. §§ 33 und 38 WpHG ___________ 153) Begr. RegE, BT-Drucks. 17/3628, S. 1 und 17; MünchKommAktG/Bayer, § 38 WpHG Rz. 2; Assmann/Schneider/Mülbert/U.H. Schneider/S.H. Schneider, WpHG, § 38 Rz. 2 und 11; K. Schmidt/Lutter/Veil, AktG, § 38 WpHG Rz. 1. 154) Begr. RegE BT-Drucks. 16/2498, S. 36; MünchKommAktG/Bayer, § 38 WpHG Rz. 3 ff.; Assmann/Schneider/Müller/U.H. Schneider/S.H. Schneider, WpHG, § 38 Rz. 14 ff. 155) Vgl. Durchführungsrichtlinie 2007/14/EG, Erwägungsgrund 13; MünchKommAktG/Bayer, § 38 WpHG Rz. 3 ff. 156) Ausführlich zu den einzelnen Instrumenten BaFin, Emittentenleitfaden Modul B, 2018, Ziff. I.2.8.1, S. 41 ff. 157) BaFin, Emittentenleitfaden Modul B, 2018, Ziff. I.2.8.1.2, S. 42 f.; vgl. Emmerich/ Habersack/Habersack, § 38 WpHG Rz. 15; zur alten Rechtslage bereits Fuchs/Zimmermann, WpHG, § 25 Rz. 9. 158) Emmerich/Habersack/Habersack, § 39 WpHG Rz. 4; MünchKommAktG/Bayer, § 39 WpHG Rz. 3.

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Horcher

G. Stimmrechtsmeldepflichten

nur umgeschichtet, wird keine Meldepflicht nach § 39 WpHG ausgelöst. Dagegen können jeweils Stimmrechte i. S. d. § 33 WpHG und § 38 WpHG hinzuerworben oder veräußert werden, ohne dass deren Schwellen überschritten werden, die Stimmrechte summiert können aber die Meldepflicht nach § 39 WpHG auslösen. 4.

Meldeschwellen und -verfahren

Eine Stimmrechtsmeldepflicht wird durch Erreichen, Überschreiten oder Un- 108 terschreiten einer der Schwellen von 3 %,159) 5 %, 10 %, 15 %, 20 %, 25 %, 30 %, 50 % oder 75 % der Stimmrechte an einem Emittenten, für den die Bundesrepublik Deutschland der Herkunftsstaat ausgelöst. Die Meldepflicht ist unverzüglich, und spätestens innerhalb von vier Handelstagen, gegenüber dem Emittenten und der BaFin zu erfüllen. Die Frist beginnt grundsätzlich mit dem Zeitpunkt, zu dem der Meldepflichtige vom Erreichen, Überschreiten oder Unterschreiten einer Schwelle Kenntnis hat oder nach den Umständen haben musste, wobei die Kenntnis zwei Handelstage nach der Schwellenberührung unwiderlegbar vermutet wird (§ 33 Abs. 1 Satz 3 und 4 WpHG). Aufgrund der hohen (Organisations-)Anforderungen, die die BaFin in diesem Zusammenhang stellt, ist typischerweise davon auszugehen, dass die Meldefrist am Tag der Schwellenüber- bzw. -unterschreitung beginnt. Seit dem 1.7.2020 sind die Stimmrechtsmitteilungen an die BaFin und die Gesellschaft nur noch in elektronischer Form zu übermitteln (§§ 4 ff. StimmRMV). Die Mitteilung an die BaFin erfolgt über die Melde- und Veröffentlichungsplattform (MVP) der BaFin.160) Die eingegangene Stimmrechtsmitteilung ist dann unverzüglich, spätestens in- 109 nerhalb von drei Handelstagen, durch den Emittenten zu veröffentlichen und unverzüglich danach dem Unternehmensregister zur Speicherung zu übermitteln (§ 40 Abs. 1 WpHG). Gleichzeitig ist die Veröffentlichung der BaFin mitzuteilen (§ 40 Abs. 2 WpHG). Praxishinweis: Die Stimmrechtsbeteiligungen und damit verbunden mögliche 110 Schwellenüber- bzw. -unterschreitungen sind stets bezogen auf die jeweilige Einzelgesellschaft und das jeweilige Melderegime zu bestimmen. Selbst wenn sich etwa die konzernweite Beteiligung nicht ändert, kann sich eine Meldepflicht durch Schwellenunter- oder -überschreitung etwa auf Ebene einer Zwischenholding ergeben. Wird eine solche Meldepflicht ausgelöst, sind die aktuellen konzernweiten Positionen aller Melderegime darzustellen.

___________ 159) Diese Eingangsmeldeschwelle gilt nur für das Stimmrechtsmelderegime gemäß §§ 33 f. WpHG. 160) Vgl. allgemein BaFin, FAQ zu dem verpflichtenden elektronischen Meldeverfahren für Stimmrechtsmitteilungen (§§ 33 ff. WpHG) (Stand: 13.3.2020).

Horcher

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§ 10 Kapitalmarktrecht

5.

Sanktionen und Haftung

111 Eine bedeutsame Folge eines Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht aus § 33 WpHG ist der in § 44 Abs. 1 WpHG vorgesehene Verlust der Rechte des Mitteilungspflichtigen aus Aktien, die ihm gehören bzw. aus denen ihm Stimmrechte gemäß § 34 WpHG zugerechnet werden. Bei einem Verstoß gegen § 38 Abs. 1 oder 39 Abs. 1 WpHG erfasst der Rechtsverlust die Aktien, die dem Mitteilungspflichtigen gehören (§ 44 Abs. 2 WpHG). Der Rechtsverlust besteht für die Zeit, in der die Mitteilungspflichten nicht erfüllt werden (§ 44 Abs. 1 Satz 1 WpHG) und bezieht sich auf alle Vermögens-, Verwaltungsund Sonderrechte aus den Aktien. Ausreichend für die Sanktion ist bereits, wenn der Verstoß gegen die Meldepflicht aus einfacher Fahrlässigkeit begangen wurde.161) Ist die Angabe des vom Meldepflichten gehaltenen Stimmrechtsanteils falsch oder fehlt gänzlich (etwa im Falle einer falschen oder verspäteten Stimmrechtsmitteilung) und handelte der Mitteilungspflichtige vorsätzlich oder groß fahrlässig, verlängert sich der Rechtsverlust gemäß § 44 Abs. 1 Satz 3 WpHG um sechs Monate, außer die Abweichung zwischen (falscher) Mitteilung und tatsächlichem Stimmrechtsanteil beträgt weniger als 10 % und es wurde keine Stimmrechtsschwelle berührt.162) 112 Ein vorsätzlicher oder leichtfertiger Verstoß gegen die Mitteilungspflichten aus §§ 33, 38, 39 WpHG stellt zudem eine Ordnungswidrigkeit dar, für welche die BaFin gemäß § 120 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. d und e i. V. m. Abs. 17 WpHG ein Bußgeld in Höhe von bis zu 2 Mio. € verhängen kann. Bei einer juristischen Person oder Personenvereinigung kann die Geldbuße bis zu 10 Mio. € oder 5 % des Gesamtumsatzes betragen, den die juristische Person oder Personenvereinigung im der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielt hat. Außerdem kann die BaFin die Ordnungswidrigkeit gemäß § 120 Abs. 17 Satz 3 WpHG mit einer Geldbuße bis zum Zweifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils ahnden.163) 113 Eine zivilrechtliche Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB wird mangels einer Schutzgesetzeigenschaft der §§ 33 ff. WpHG nach richtiger Auffassung hingegen nicht begründet.164) ___________ 161) MünchKommAktG/Bayer, § 44 WpHG Rz. 13; Emmerich/Habersack/Habersack, § 44 WpHG Rz. 10; zur alten Rechtslage schon Fuchs/Zimmermann, WpHG, § 28 Rz. 16; KK-WpHG/Kremer/Oesterhaus, § 28 Rz. 35. 162) MünchKommAktG/Bayer, § 44 WpHG Rz. 60 ff.; Assmann/Schneider/Mülbert/U.H. Schneider/S.H. Schneider, WpHG, § 44 Rz. 45 ff. 163) Zu den von der BaFin herangezogenen Bemessungskriterien und ihrem Entscheidungsprozess vgl. BaFin, WpHG-Bußgeldleitlinien II (Stand: Februar 2017). 164) Ebenso Schwark/Zimmer/v. Hein, WpHG, § 33 Rz. 34 f.; K. Schmidt/Lutter/Veil, AktG, § 44 WpHG Rz. 28; a. A. etwa Assmann/Schneider/Mülbert/U.H. Schneider/S.H. Schneider, WpHG, § 44 Rz. 101; MünchKommAktG/Bayer, § 44 WpHG Rz. 75.

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Horcher

G. Stimmrechtsmeldepflichten

II.

Mitteilungspflichten hinsichtlich der mit der Beteiligung verfolgten Ziele und der verwandten Mittel

Erreicht oder überschreitet ein gemäß §§ 33, 34 WpHG Meldepflichtiger die 114 10 %-Schwelle oder eine höhere Schwelle, muss er dem Emittenten die mit dem Erwerb der Stimmrechte verfolgen Ziele (in § 43 Abs. 1 WpHG enumerativ dargelegt) und die Herkunft der für den Erwerb verwendeten Mittel innerhalb von 20 Handelstagen nach Erreichen oder Überschreiten dieser Schwelle mitteilen (§ 43 Abs. 1 WpHG). Ausnahmen von der Mitteilungspflicht sind u. a. möglich, sofern die Satzung des Emittenten eine generelle Ausnahme von der Anwendung des § 43 Abs. 1 WpHG vorsieht (§ 43 Abs. 3 WpHG) sowie bei Überschreiten des Schwellenwerts aufgrund eines öffentlichen Angebots i. S. d. § 2 Abs. 1 WpÜG (§ 43 Abs. 1 Satz 5 WpHG). Die Mitteilung ist von der Gesellschaft unverzüglich nach deren Eingang und spätestens innerhalb von drei Handelstagen zu veröffentlichen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 WpHG i. V. m. § 43 Abs. 2 WpHG). Ist der Meldepflichtige seiner Mitteilungspflicht nicht nachgekommen, veröf- 115 fentlicht der Emittent diese Tatsache (§ 43 Abs. 2 WpHG). Spezielle Sanktionen sieht das Gesetz für Verstöße gegen die Mitteilungspflicht gemäß § 43 Abs. 1 WpHG nicht vor. Ungeachtet dessen haftet der Meldepflichtige nach den allgemeinen Grundsätzen, in Extremfällen etwa wegen Verstoßes gegen das Marktmanipulationsverbot gemäß Artt. 12 und 15 MAR.165) III.

Mitteilungspflichten bzgl. eigener Aktien sowie der Veränderung der Gesamtstimmrechtszahl

Erreicht, überschreitet oder unterschreitet ein Emittent selbst oder durch Dritte, 116 die für seine Rechnung handeln, die Schwellen von 5 % oder 10 % (für Inlandsemittenten gilt zusätzlich die 3 %-Schwelle) an eigenen Aktien, hat er dies gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 WpHG spätestens vier Handelstage nach Schwellenberührung zu veröffentlichen sowie der BaFin mitzuteilen. Zudem hat er die Zu- oder Abnahme von Stimmrechten unverzüglich, spätes- 117 tens innerhalb von zwei Handelstagen zu veröffentlichen und der BaFin mitzuteilen (§ 41 Abs. 1 WpHG). Verstöße gegen vorstehende Mitteilungs- bzw. Veröffentlichungspflichten kön- 118 nen gegenüber natürlichen Personen mit Geldbuße bis zu 2 Mio. € geahndet werden, gegenüber juristischen Personen mit Geldbuße von bis zu 10 Mio. € oder 5 % des Gesamtumsatzes des letzten Geschäftsjahrs; zudem ist eine Geldbuße bis zum Zweifachen des aus dem Verstoß gezogenen wirtschaftlichen Vorteils möglich (§ 120 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. f und g, Abs. 17 WpHG). ___________ 165) MünchKommAktG/Bayer, § 43 Rz. 21 und 23; Emmerich/Habersack/Habersack, § 43 WpHG Rz. 14.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

Dehio

Übersicht A. Einleitung........................................... 1 B. Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute............................... 5 I. Überblick ............................................ 5 II. Ordnungsgemäße Geschäftsorganisation ........................................ 8 1. Zentralnorm des § 25a KWG...... 8 2. Verantwortung der Geschäftsleitung ........................ 13 3. Risikotragfähigkeit .................... 15 4. Strategien ................................... 16 5. Internes Kontrollsystem ........... 17 6. Risikoberichterstattung ............ 24 7. Auslagerungskontrolle .............. 27 III. Geldwäscheprävention .................... 28 IV. Anforderungen an die Vergütung ..... 30 V. Pflichten in der Sanierungs- und Abwicklungsplanung........................ 36 VI. Konsequenzen bei Verstößen ......... 38 VII. Haftung und Business Judgement Rule.......................................... 39 VIII. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats auch hinsichtlich aufsichtsrechtlicher Vorschriften .... 42 IX. Persönliche und fachliche Anforderungen an Vorstandsund Aufsichtsratsmitglieder ............ 44

1.

C. I. II. III. IV.

V.

Eignung, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand der Vorstandsmitglieder................................... 45 2. Sachkunde, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand der Mitglieder des Aufsichtsrats.............................. 50 Versicherungsunternehmen ............................................ 55 Einleitung.......................................... 55 Geschäftsorganisation...................... 56 Haftung und Business Judgement Rule ................................ 65 Persönliche und fachliche Anforderungen an Vorstandsund Aufsichtsratsmitglieder ............ 66 1. Sachkunde, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand des Vorstands .................. 67 2. Sachkunde, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand des Aufsichtsrats ............. 71 Anforderungen an die Vergütung ........................................ 74

Schrifttum: Dehio/Schmidt, Der neue Aufsichtsrahmen für Wertpapierinstitute – Das Wertpapierinstitutsgesetz, DB 2021, 1654; Grabowski, Die EZB als Aufsichtsbehörde, Diss. 2016; Hopt, Die Verantwortlichkeit von Vorstand und Aufsichtsrat: Grundsatz und Praxisprobleme – unter besonderer Berücksichtigung der Banken, ZIP 2013, 1793; Langenbucher, Vorstandshaftung und Legalitätspflicht in regulierten Branchen, ZBB 2013, 16; Plagemann, Die zeitliche Verfügbarkeit von Organmitgliedern von Banken und Finanzdienstleistungsinstituten, WM 2013, 2345; Thaten, Die Ausstrahlung des Aufsichts- auf das Aktienrecht am Beispiel der Corporate Governance von Banken und Versicherungen, Diss. 2016.

A.

Einleitung

Das klassische Bankgeschäft besteht letztlich in der Übernahme von Risiken,1) 1 die aus der volkswirtschaftlich wertvollen Funktion der Fristen- und Liquidi___________ 1)

Böcking/Bundle, in: Hopt/Binder/Böcking, Handbuch Corporate Governance von Banken und Versicherungen, S. 60.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

tätstransformation folgen. Im Zuge der Finanzkrise 2009 wurde das Vertrauen in die Fähigkeit der Banken zur selbstständigen Bedeckung dieser und weiterer Risiken, die sich aus ihren vielseitigen Geschäftsfeldern ergeben,2) jedoch stark beschädigt. Die infolge dieses Vertrauensverlusts stark angestiegene Regelungsdichte von nationaler, vor allem aber auch von europäischer Seite, führt spiegelbildlich zu einem enorm gewachsenen Compliance-Aufwand. Hinzu kommt ein zunehmend selbstbewusstes Auftreten der Aufsichtsbehörden, das so auch den Erwartungen der Öffentlichkeit entsprechen dürfte.3) Neben einer Marktzugangskontrolle (§ 32 Kreditwesengesetz – KWG) unterliegen die Institute damit dauerhaft einer strengen Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bzw. die Europäische Zentralbank (EZB).4) 2 Als Ergebnis dieser Entwicklungen steht innerhalb von Finanzunternehmen eine inzwischen gleichwertige Bedeutung der Backoffice-Tätigkeiten mit dem früher vorrangig behandelten Marktbereich.5) 3 Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im Versicherungssektor konstatieren, auch wenn Versicherungen mehr von den indirekten als den direkten Folgen der Finanzkrise betroffen sind. Dennoch wurde in den letzten Jahren ebenfalls im Versicherungsbereich eine umfangreichere Regulierung eingeführt, durch die die Position der Aufsichtsbehörden, insbesondere die der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) gestärkt wurde. Versicherungsunternehmen müssen die laufende Einhaltung der regulatorischen Anforderungen sicherstellen und unterliegen ebenso wie die Institute einer Marktzugangskontrolle (§ 8 Versicherungsaufsichtsgesetz – VAG) sowie einer Regulierung der Geschäftsorganisation, die nicht zuletzt durch die Umsetzung der Solvency II Richtlinie weiter detailliert wurde. 4 Daneben wurde im Jahr 2020 das Aufsichtsregime für sog. Wertpapierdienstleistungsinstitute im Rahmen der sof. Investment Firms Directive (IFD), bzw. Investment Firms Regulation (IFR) vollständig neu geregelt. Für Unternehmen, die bislang vollständig dem KWG bzw. der CRR unterlagen, findet sich nun ein neuer aufsichtsrechtlicher Rahmen, der in Deutschland vor allem durch das Wertpapierinstitutsgesetz (WpIG) festgelegt wird. Die Eckpunkte der Regulierung folgen dabei im Wesentlichen den bekannten Vorgaben, dennoch wurden neue Level 2 Maßnahmen für Risikomanagement und Vergütung von ___________ 2) 3) 4)

5)

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Siehe hierzu etwa Schuster, in: Hopt/Binder/Böcking, Handbuch Corporate Governance von Banken und Versicherungen, S. 170. Vgl. Hopt/Leyens, in: Hopt/Binder/Böcking, Handbuch Corporate Governance von Banken und Versicherungen, S. 11. Für einen Überblick über Aufbau und Organisation der BaFin siehe BankrechtsHdb/ Fischer/Boegl, § 126 Rz. 19 ff.; zur Aufsichtstätigkeit der EZB siehe etwa Grabowski, Die EZB als Aufsichtsbehörde, S. 107 ff. Vgl. Schuster, in: Hopt/Binder/Böcking, Handbuch Corporate Governance von Banken und Versicherungen, S. 190.

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B. Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute

Wertpapierdienstleistern erarbeitet, mit denen der regulatorische Rahmen auf die spezifischen Risiken und Herausforderungen des Wertpapierhandels angepasst wurde. B.

Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute

I.

Überblick

Die vielfältigen zusätzlichen Anforderungen, denen als Aktiengesellschaft or- 5 ganisierte Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute (im nachfolgenden zusammenfassend als Institute bezeichnet) im Vergleich zur nicht regulierten AG ausgesetzt sind, wirken sich letztlich auch auf den Rechts- und Pflichtenkreis von Vorstandsmitgliedern (in den Worten des KWG: Geschäftsleitern, vgl. § 1 Abs. 2 KWG) und in abgeschwächtem Umfang auf den von Aufsichtsräten (in den Worten des KWG: Mitglieder des Aufsichtsorgans, vgl. § 25d KWG) aus. Dies betrifft insbesondere die Vorgaben zur Geschäftsorganisation, die Anforderungen, die an die Eignung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gestellt werden und die Vorgaben zur Vergütung innerhalb des Instituts.6) Neben der bloßen Summe zusätzlich zu beachtender Vorschriften besteht eine 6 erste Herausforderung in der regulierten AG bereits darin, die anwendbaren und im konkreten Fall relevanten Vorgaben zu identifizieren. Bei den Rechtsquellen, denen die zusätzlichen Verpflichtungen von Instituten entspringen, zeigen sich im Vergleich zu den überwiegend aus dem AktG folgenden Sorgfalts- und den im Wesentlichen ungeschriebenen Treuepflichten der nicht regulierten AG denn auch merkliche Unterschiede. So sind bei der Bestimmung persönlicher Vorstandspflichten eines Instituts sämtliche Normebenen von europäischen Richtlinien und Verordnungen über einfache Gesetze und Rechtsverordnungen bis hin zu informellen, an sich unverbindlichen Äußerungen der BaFin (Rundschreiben, Merkblätter, Auslegungshilfen) im Blick zu behalten. Insgesamt zeigt sich für den Bereich der Institute, dass die unternehmerische 7 Handlungsfreiheit im Vergleich zu nicht regulierten Unternehmen durch die vielfältigen rechtlichen Vorgaben – zu Recht – deutlich an Umfang einbüßt.7) Dies gilt insbesondere auch für die Entscheidungsfreiheit über die interne Organisation der Gesellschaft, auch wenn diese aktienrechtlich in das Ermessen von Vorstand oder Aufsichtsrat gestellt wird.8) Ein Umstand, der im Hinblick

___________ 6)

7) 8)

Zu den Einwirkungen des Aufsichtsrechts auf die Stellung des Aufsichtsrats Thaten, Die Ausstrahlung des Aufsichts- auf das Aktienrecht am Beispiel der Corporate Governance von Banken und Versicherungen, S. 230 ff.; siehe auch Langenbucher, ZBB 2013, 16 (19). Vgl. Langenbucher, ZBB 2013, 16 (19); siehe auch Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 12. Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 12.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

auf eine mögliche Durchsetzung behördlicher Anschauungen mittels Verwaltungszwangs durchaus kritisch gesehen wird.9) II.

Ordnungsgemäße Geschäftsorganisation

1.

Zentralnorm des § 25a KWG

8 Die größten Abweichungen im Vergleich zur nicht regulierten AG ergeben sich für die Vorstandsmitglieder eines Instituts aus den Vorgaben zur ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation, die § 25a Abs. 1 KWG in groben Zügen vorzeichnet und für deren Umsetzung sie nach dessen Satz 2 unmittelbar verantwortlich sind. Aus der Gesamtverantwortung der Geschäftsleiter für die Umsetzung folgt dabei, dass der einzelne Geschäftsleiter die Umsetzung auch in fremden Ressorts überprüfen und gegebenenfalls einschreiten muss.10) 9 Über das Erfordernis eines Risikoüberwachungs- und Früherkennungssystems aus § 91 Abs. 2 AktG (hierzu Æ § 1 Rz. 364 f.) hinaus erfordert die Geschäftsorganisation eines Instituts nach § 25a Abs. 1 KWG insbesondere die Einrichtung eines angemessenen und wirksamen Risikomanagements, auf dessen Basis das Institut die Risikotragfähigkeit laufend sicherzustellen hat. Der Begriff des Risikomanagements wird hierbei als Sammelbegriff verwendet,11) wobei einzelne Mindestbestandteile noch innerhalb des § 25a Abs. 1 KWG vorgegeben werden. Diese Vorgaben bestehen explizit seit der 6. KWG-Novelle 1997 und bestanden daher schon unabhänig von der Einfügung der Pflicht zur Einrichtung eines Risikofrüherkennungsystems in § 93 Abs. 2 AktG. Danach muss das Risikomanagement zumindest folgendes enthalten: 

eine nachhaltige Geschäftsstrategie und eine damit konsistente Risikostrategie,



ein Verfahren zur Ermittlung und Sicherstellung der Risikotragfähigkeit,



ein internes Kontrollsystem inklusive einer Risikocontrolling-Funktion und einer Compliance-Funktion sowie eine interne Revision,



eine angemessene personelle und technisch-organisatorische Ausstattung des Instituts,



ein angemessenes Notfallkonzept, insbesondere für IT-Systeme und



ein angemessenes Vergütungssystem für Mitarbeiter und Geschäftsleiter.

10 Über diese Vorgaben zum Risikomanagement hinaus umfasst die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation zudem ein Informationssystem über die finanzielle Lage des Instituts, Vorkehrungen zur Dokumentation und Aufbewahrung der Geschäftstätigkeit und ein internes Whistleblowing-System (zur Einrichtung von Hinweisgebersystemen Æ § 21 Rz. 82 f.). ___________ 9) Siehe etwa Plagemann, WM 2014, 2345 (2349 f.). 10) Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, KWG, § 25a Rz. 54. 11) Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, KWG, § 25a Rz. 23.

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B. Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute

Zwar bedürfen diese organisatorischen Grundzüge noch erheblicher Konkreti- 11 sierung, schon die persönliche Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder für die Geschäftsorganisation (§ 25a Abs. 1 Satz 2 KWG), sowie deren potentielle Strafbarkeit bei anhaltenden Verstößen (§ 54a KWG) zeigen jedoch, mit welchem Nachdruck der Gesetzgeber die Regulierung an dieser Stelle vornimmt. Beabsichtigt wird damit indes nicht die von Sanktionen getriebene (blinde) Befolgung gesetzlicher und untergesetzlicher Vorgaben durch die Mitglieder des Vorstands. Vielmehr sind die oben genannten qualitativen Mindeststandards ausschließlich vor dem Hintergrund des Proportionalitätsprinzips umzusetzen, vgl. § 25a Abs. 1 Satz 4 KWG. Entscheidend ist also, dass das Risikomanagement gerade im Hinblick auf das individuelle Risikoprofil des betrachteten Instituts angemessen erscheint,12) freilich ohne, dass auf einen der genannten Punkte vollständig verzichtet werden könnte. Konkretisiert werden die Vorgaben des § 25a Abs. 1 (bzw. des § 25b) KWG 12 durch die als Rundschreiben veröffentlichten sog. Mindestanforderungen an das Risikomanagement13) (MaRisk) der BaFin. Die im Vergleich zum KWG detaillierteren Vorgaben verfolgen das Ziel, zukünftige Schieflagen von Instituten durch ein wirksames Risikomanagement zu verhindern.14) Das Rundschreiben enthält daher insbesondere Anforderungen an die Festlegung von Risikomanagementstrategien und die Einrichtung interner Kontrollverfahren, wobei als wesentliche zu kontrollierende Risiken das Adressenausfallrisiko (einschließlich Länderrisiken), Marktpreisrisiko, Liquiditätsrisiko und das operationelle Risiko identifiziert werden.15) In technischer Hinsicht sind die Vorgaben der MaRisk in Teilen bewusst unscharf formuliert, um den Instituten im Rahmen einer prinzipienbasierten Regulierung16) individuelle, auf das jeweilige Institut abgestimmte Umsetzungsalternativen zu ermöglichen.17) 2.

Verantwortung der Geschäftsleitung

Auch die MaRisk stellen noch einmal ausdrücklich klar, dass die Vorstände für 13 die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation unabhängig von internen Zuständigkeitsregelungen verantwortlich sind, vgl. MaRisk AT 3. Die dort gemachten Vorgaben werden damit unabhängig davon, ob sie noch einmal ausdrückliche Pflichten der Vorstände formulieren, für diese verbindlich. Seit der Überarbei___________ 12) Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, KWG, § 25a Rz. 96. 13) BaFin, Rundschreiben 05/2023 (BA) – Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk vom 29.6.2023. 14) Wohlert, in: Becker/Gruber/Wohlert, S. 106. 15) Zu den erfassten Risiken siehe BaFin, MaRisk AT 2.2. 16) Zum prinzipienbasierten Ansatz des Aufsichtsrechts siehe etwa Thaten, Die Ausstrahlung des Aufsichts- auf das Aktienrecht, S. 185. 17) Wohlert, in: Becker/Gruber/Wohlert, S. 106; siehe auch Kleine/Nolte, in: Becker/Gruber/ Wohlert, S. 167.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

tung der MaRisk 2017 umfasst diese Verantwortung auch die Entwicklung einer angemessenen Risikokultur für das Institut.18) 14 Diese Anforderungen greifen auch dann, wenn sich das Institut externer Dienstleister bedient. Ein solches Outsourcing ist in der Finanzindustrie gängige Praxis und die weitreichenden Möglichkeiten, die das KWG bietet, werden umfassenden genutzt. (zur Auslagerung Æ Rz. 27). 3.

Risikotragfähigkeit

15 Das übergeordnete Ziel, die Risikotragfähigkeit des Instituts laufend sicherstellen zu können, wird auch in den MaRisk noch einmal bekräftigt.19) Risikotragfähigkeit bedeutet dabei, dass die wesentlichen Risiken, die im Ergebnis zu einem Zahlungsausfall des Instituts führen können, durch eine entsprechende Liquiditäts- und Eigenkapitalbasis laufend gedeckt werden können. Die entsprechenden Vorgaben entstammen mittlerweile unmittelbar dem Gemeinschaftsrecht und sind in der sog. Capital Requirements Regulation (CRR)20) festgehalten. Die CRR enthält die Vorgaben zur Berechnung und Risikogewichtung der Aktiva bzw. zur Berechnung der aufsichtsrechtlichen Eigenmittel und legt in Umsetzung der Vorgaben des Baseler Ausschusses die entsprechenden Schwellenwerte fest. Zur Einhaltung der Risikotragfähigkeit sieht wiederum das deutsche Recht vor, dass jedes Institut entsprechende interne Prozesse einzurichten hat, wobei wesentliche Elemente der Risikotragfähigkeitssteuerung und wesentliche zugrundeliegende Annahmen von der Geschäftsleitung zu genehmigen sind.21) 4.

Strategien

16 Der Vorstand hat im Rahmen einer nachhaltigen Geschäftsstrategie die Ziele des Instituts für wesentliche Geschäftsaktivitäten sowie die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele darzustellen.22) Hierbei sind insbesondere strategische Ziele des Instituts so konkret zu formulieren, dass sie auch tatsächlich in die operative Unternehmensplanung Eingang finden können.23) In einer hiermit konsistenten Risikostrategie sind zudem die Ziele der Risikosteuerung und der Risikoappetit des Instituts für die in der Geschäftsstrategie enthaltenen wesentlichen Geschäftsaktivitäten festzulegen.24) Der Vorstand kann die Verantwort___________ 18) BaFin, MaRisk AT 3. 19) BaFin, MaRisk AT 4.1 Tz. 1. 20) Verordnung Nr. 575/2013 des europäischen Parlaments und Rates vom 26.6.2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 646/2012. 21) Siehe BaFin, MaRisk AT 4.1 Tz. 8. 22) BaFin, MaRisk AT 4.2. 23) BaFin, MaRisk AT 4.2 Tz. 1. 24) BaFin, MaRisk AT 4.2 Tz. 2.

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B. Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute

lichkeit für die Strategien nicht delegieren und muss ihre Umsetzung selbst sicherstellen, was insbesondere die Kommunikation von Inhalt und Änderungen der Strategien erfasst.25) 5.

Internes Kontrollsystem

Ebenfalls mit dem Ziel der Erhaltung der Risikotragfähigkeit müssen Institute 17 ein internes Kontrollsystem einrichten, das einerseits aus Risikosteuerungs-, Risikocontrolling-Prozessen und Stresstests und andererseits aus einer eigens eingerichteten Risikocontrolling- und einer Compliance-Funktion bestehen muss.26) Im Rahmen der Risikosteuerungs- und -controllingprozesse hat sich der Vor- 18 stand regelmäßig über die Geschäftslage und Risikosituation unterrichten zu lassen, wobei er seinerseits den Aufsichtsrat mindestens vierteljährlich über die Geschäftslage und Risikosituation zu informieren hat.27) (zur Risikoberichterstattung Æ Rz. 36 ff.). Aufbau- und ablauforganisatorisch ist sicherzustellen, dass miteinander unvereinbare Tätigkeiten von unterschiedlichen Mitarbeitern wahrgenommen werden.28) Am deutlichsten wird dies an der erforderlichen Trennung von Markt- und Marktfolgebereichen, die bis auf die Ebene der Geschäftsleitung sichergestellt sein muss.29) Mitarbeiter müssen zudem beim Wechsel vom Markt- in den Kontrollbereich Übergangsfristen einhalten, um eine mögliche Selbstüberprüfung zu verhindern, sog. „Cooling-Off“.30) Darüber hinaus haben Institute über eine Risiko-Controlling-Funktion für 19 die unabhängige Überwachung und Kommunikation der Risiken des Instituts zu verfügen, die insbesondere folgende Aufgaben wahrnimmt:31) 

Unterstützung der Geschäftsleitung in allen risikopolitischen Fragen,



Durchführung der Risikoinventur und Erstellung des Gesamtrisikoprofils,



Unterstützung der Geschäftsleitung bei der Einrichtung und Weiterentwicklung der Risikosteuerungs- und Risikocontrolling-Prozesse,



Einrichtung und Weiterentwicklung eines Systems von Risikokennzahlen sowie eines Risikofrüherkennungssystems,



laufende Überwachung der Risikosituation des Instituts und der Risikotragfähigkeit sowie der Einhaltung der eingerichteten Risikolimits,



regelmäßige Erstellung der Risikoberichte für die Geschäftsleitung,

___________ 25) 26) 27) 28) 29) 30) 31)

BaFin, MaRisk AT 4.2 Tz. 3, 6. BaFin, MaRisk AT 4.3. BaFin, MaRisk AT 4.3.2 Tz. 3. BaFin, MaRisk AT 4.3.1 Tz. 1. BaFin, MaRisk, AT 4.4.1. BaFin, MaRisk AT 4.3.1 Tz. 1. BaFin, MaRisk, AT 4.4.1.

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Verantwortung für die Prozesse zur unverzüglichen Weitergabe von unter Risikogesichtspunkten wesentlichen Informationen an die Geschäftsleitung, die jeweiligen Verantwortlichen und gegebenenfalls die Interne Revision.

20 Die Risiko-Controlling-Funktion ist ggf. bis einschließlich der Geschäftsleitungsebene von den Bereichen zu trennen, die für die Initiierung bzw. den Abschluss von Geschäften zuständig ist; im Kreditgeschäft ist zusätzlich eine Trennung von Markt und Marktfolge erforderlich. Bei kleineren Instituten kann dies mitunter zu Herausforderungen führen. Die Leitung der Risikocontrolling-Funktion für große und komplexe Institute (Bilanzsumme über 30 Mrd. €) muss durch einen Geschäftsleiter („Chief Risk Officer – CRO“) erfolgen, der zudem weder für den Bereich Finanzen/Rechnungswesen noch für den Bereich Organisation/IT verantwortlich sein darf.32) 21 Um den Risiken, die sich aus der Nichteinhaltung rechtlicher Regelungen und Vorgaben ergeben können, wirksam entgegenzuwirken, muss jedes Institut zudem über eine Compliance-Funktion verfügen.33) Die Compliance-Funktion soll wirksame Verfahren zur Einhaltung des rechtlichen Rahmens sicherstellen und kontrollieren. Sie fällt in den Verantwortungsbereich eines hierzu vom Institut zu bestellenden Compliance-Beauftragten. Dies ändert jedoch nichts an der Verantwortung der Vorstände für die Einhaltung rechtlicher Regelungen („Legalitätspflicht“, hierzu Æ § 1 Rz. 229 ff.). Die Compliance-Funktion untersteht unmittelbar der Geschäftsleitung und berichtet dieser.34) Große und komplexe Institute müssen mittlerweile eine eigenständige Organisationseinheit unmittelbar unterhalb der Geschäftsleiterebene einrichten.35) 22 Zusätzlich zur Compliance-Funktion muss jedes Institut über eine funktionsfähige Interne Revision verfügen, die sich risikoorientiert und unabhängig mit der Prüfung der Wirksamkeit und Angemessenheit des Risikomanagements im Allgemeinen und des internen Kontrollsystems im Besonderen sowie der Ordnungsmäßigkeit grundsätzlich aller Aktivitäten und Prozesse befasst und diese beurteilt.36) Daneben dürfte die interne Revision aufgrund ihrer Aufgaben die erste Anlaufstelle für die interne Ermittlung auffälliger Sachverhalte sein. Abhängig von der Größe des Instituts kann diese Aufgabe auch von einem Geschäftsleiter wahrgenommen werden. 23 Die MaRisk umfasst daneben auch Vorgaben zum Umgang mit Risikodaten.37) Die MaRisk greifen damit (zumindest teilweise) die Herausforderungen auf, ___________ 32) 33) 34) 35) 36) 37)

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BaFin, MaRisk AT 4.4.1 Tz. 5. BaFin, MaRisk AT 4.4.2. BaFin, MaRisk AT 4.4.2 Tz. 3. BaFin, MaRisk AT 4.4.2 Tz. 4. BaFin, MaRisk AT 4.4.3. BaFin, MaRisk AT 4.3.4.

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die sich durch „Big Data“ im Besonderen auch in der Finanzindustrie stellen.38) Die entsprechenden Vorgaben gelten für Institute mit einer Bilanzsumme von mehr als 30 Mrd. € und enthalten insbesondere Regelungen zur Kompatibilität unterschiedlicher Datenströme, zur Vollständigkeit und Qualität, Auswertbarkeit und Verfügbarkeit der Daten und zur Leistungsfähigkeit der IT-Systeme sowie zu verantwortlichen Personen. 6.

Risikoberichterstattung

Im Rahmen der Novelle im Oktober 2017 wurde die MaRisk um umfangreiche 24 Anforderungen an die Risikoberichterstattung ergänzt. Hierbei werden zunächst allgemeine Anforderungen an Risikoberichte aufgestellt, etwa dass diese in nachvollziehbarer, aussagekräftiger Weise zu erfolgen haben und neben einer Darstellung auch eine Beurteilung der Risikosituation sowie ggf. Handlungsvorschläge enthalten müssen.39) Gleiches gilt für die vierteljährlich zu verfassenden Risikoberichte des Vorstands an den Aufsichtsrat, wobei hier insbesondere auf Risiken für die Geschäftsentwicklung und hierzu geplante Maßnahmen des Vorstands gesondert einzugehen ist.40) Die MaRisk sieht weiter mindestens vierteljährliche Berichte der Risikocont- 25 rolling-Funktion vor, die dem Vorstand vorzulegen sind. Zu erstellen ist demnach ein Gesamtrisikobericht, der insbesondere Informationen zu den aktuellen Kapital- und Liquiditätskennzahlen enthält. Zusätzlich sind zu den oben genannten, als wesentlich erkannten Risiken, einzelne Berichte zu erstellen. Neben der Risikocontrolling-Funktion berichtet auch die Compliance-Funktion 26 mindestens jährlich, aber auch anlassbezogen unmittelbar an den Vorstand.41) Inhalt des Berichts sollen die Angemessenheit und Wirksamkeit der Compliance-Vorkehrungen sowie Möglichkeiten zu Verbesserungen sein. Der Vorstand hat diese Berichte an den Aufsichtsrat und die Interne Revision weiterzuleiten. 7.

Auslagerungskontrolle

Finanzinstitute bedienen sich in der Praxis in hohem Maße externer Dienst- 27 leister, auf die Aufgaben ausgelagert werden. Eine Auslagerung liegt vor, wenn ein anderes Unternehmen mit der Wahrnehmung solcher Aktivitäten und Prozesse im Zusammenhang mit der Durchführung von Bankgeschäften, Finanz___________ 38) Vgl. zu der grundsätzlichen Stoßrichtung des Aufsichtsrechts hinsichtlich der Regulierung von Big Data: BaFin Prinzipienpapier: Big Data und künstliche Intelligenz: Prinzipien für den Einsatz von Algorithmen in Entscheidungsprozessen, 2021. Abrufbar unter: https:// www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Aufsichtsrecht/dl_Prinzipienpapier_BDAI.p df?__blob=publicationFile&v=1. 39) BaFin, MaRisk BT 3.1 Tz. 1. 40) BaFin, MaRisk BT 3.1 Tz 5. 41) BaFin, MaRisk AT 4.4.2 Tz. 7.

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dienstleistungen oder sonstigen institutstypischen Dienstleistungen beauftragt wird, die ansonsten vom Institut selbst erbracht würden.42) Das deutsche Aufsichtsrecht ermöglicht eine weitreichende Auslagerung von Aufgaben auf der Basis von schriftlichen Geschäftsbesorgungsverträgen. Eine solche Auslagerung entbindet die Geschäftsleitung des Instituts indes nicht von der Verantwortung für die vom Dienstleister erbrachten Aufgaben und darf nicht dazu führen, dass die Letztentscheidung der Geschäftsleitung für das Finanzgeschäft auf ein anderes Unternehmen delegiert wird. Die entsprechenden Regeln, die sich im KWG und in AT 9 der MaRisk finden, wurden zuletzt wiederholt verschärft. Insbesondere im Nachgang des Zusammenbruchs der WirecardGruppe wurden die Vorgaben durch das Finanzmarktintegritäts-Stärkungsgesetz sowie die Umsetzung der EBA Guidelines on outsourcing im Jahr 2021 deutlich erweitert. Unter anderem ist die Geschäftsleitung nun noch deutlicher dazu verpflichtet, die Dienstleister zu überwachen. Desweiteren wurde die Möglichkeiten zur Auslagerung der Tätigkeiten der Risikocontrolling-Funktion, der Compliance-Funktion und der internen Revision beschränkt. Daneben müssen Institute ein detailliertes Auslagerungsregister führen und sind u. a. verpflichtet, der Aufsicht zu melden, wenn sie beabsichtigen, wesentliche Aufgaben auf externe Dienstleister auszulagern. III.

Geldwäscheprävention

28 Neben den auf interne Risiken bezogenen Organisationsvorgaben des § 25a KWG und der MaRisk sind die Institute ebenfalls verpflichtet, Vorkehrungen zur Verhinderung (des externen Risikos) der Geldwäsche zu treffen. Auch wenn die aufsichtsrechtliche Pflicht zur Geldwäscheprävention nicht mehr in engem Regelungszusammenhang zu § 25a KWG steht, handelt es sich bei den Vorgaben weiterhin um Mindestanforderungen einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation,43) sodass die Vorstandsmitglieder auch für ihre Einrichtung persönlich verantwortlich sind. 29 Die aufsichtsrechtlichen Vorgaben des § 25h KWG zur Geldwäscheprävention entsprechen dabei inhaltlich weitgehend denen des Geldwäschegesetzes. Dennoch fallen wegen der im Verhältnis zur typischen AG ungleich größeren Gefährdungssituation die in tatsächlicher Hinsicht zu treffenden Vorkehrungen meist deutlich umfangreicher aus. Hierbei sind Institute verpflichtet, geschäftsund kundenbezogene Sicherungssysteme gegen Geldwäsche zu schaffen, diese zu aktualisieren und laufende Kontrollen durchzuführen. Dies umfasst auch Maßnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs neuer Finanzprodukte und Technologien und die Bestellung eines Geldwäschebeauftragten. ___________ 42) BaFin, MaRisk AT 9 Tz. 1. 43) Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, KWG, § 25a Rz. 24.

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IV.

Anforderungen an die Vergütung

Als Bestandteil der ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation ist die Geschäfts- 30 leitung zur Einrichtung eines angemessenen, transparenten und auf nachhaltige Entwicklung des Instituts ausgerichteten Vergütungssystems verpflichtet, das ein angemessenes Verhältnis zwischen der variablen und fixen jährlichen Vergütung festlegt. Die Verantwortung für die Einrichtung eines entsprechenden, über die Vorgaben in § 87 AktG hinausgehenden, Vergütungssystems für die Vorstandsmitglieder selbst trifft dagegen nach § 3 Abs. 2 Institutsvergütungsverordnung44) den Aufsichtsrat. Nähere Vorgaben zu den Anforderungen, die ein solches Vergütungssystem er- 31 füllen muss, finden sich in der InstitutsVergV. Die Verordnung setzt in erster Linie die Anforderungen der Leitlinien der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde EBA für eine solide Vergütungspolitik in deutsches Recht um, die wiederum die Vergütungsregeln der europäischen Eigenmittelrichtlinie und -verordnung CRD V und CRR II konkretisieren. Weiter ausdifferenziert werden diese Vorgaben in der „Auslegungshilfe zur Institutsvergütungsverordnung“45) der BaFin, in der diese ihr Rechtsverständnis (formal unverbindlich) darlegt. Diese Auslegungshilfe wurde im Zuge der Neufassung der InstitutsVergV 2020 nochmals überarbeitet und als „Bearbeitungsstand“ verteilt, nicht aber auf der Homepage der BaFin veröffentlicht.46) Als Leitgedanke der regulatorischen Anforderungen an Vergütungssysteme 32 zeigt sich, dass sowohl auf Ebene der Geschäftsleitung, als auch auf Mitarbeiterebene keine Anreize geschaffen werden sollen, für das Institut unverhältnismäßig hohe Risiken einzugehen, vgl. § 5 Abs. 1 InstitutsVergV. Dem hierin enthaltenen Nachhaltigkeitsgedanken folgend, sollen die Mitarbeiter dem langfristigen Erfolg des Unternehmens verpflichtet und durch kurzfristige Profite getriebenes Handeln vermieden werden.47) In diesem Zuge wurden insbesondere die Abhängigkeit der Mitarbeiter von variablen Vergütungsbestandteilen und eine Kopplung der Vergütung an quantitative Absatzziele als Risikotreiber erkannt und dementsprechend beschränkt. Als weiterer Leitgedanke lässt sich die Vermeidung von Fehlanreizen identifizieren, die durch fehlende Konsequenzen

___________ 44) Verordnung über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Vergütungssysteme von Instituten (Institutsvergütungsverordnung – InstitutsVergV) vom 16.12.2013 (BGBl I, 4270), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom vom 20.9.2021 (BGBl I, 4308). 45) Auslegungshilfe zur Institutsvergütungsverordnung vom 15.2.2018, abrufbar unter https:// www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Auslegungsentscheidung/dl_180216_ae_insti tutsv.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 46) Bearbeitungsstand abrufbar unter: https://compgovernance.de/wp/wp-content/uploads/2020/ 09/81BaFIn-update-auslegungshilfe-zur-institutsvergv-zwischenstand-september-2020.pdf. 47) Vgl. Thaten, Die Ausstrahlung des Aufsichts- auf das Aktienrecht, S. 287.

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bei negativen Erfolgsbeiträgen entstehen.48) Hierzu passt, dass sich die Vergütung generell an den Geschäfts- und Risikostrategien des Unternehmens orientieren muss, § 4 InstitutsVergV. Die wesentlichen Angaben zur Ausgestaltung der Vergütungssysteme und zur Zusammensetzung der Vergütung müssen zudem Eingang in die Organisationsrichtlinien des Instituts finden, Entscheidungsprozesse zu variablen Vergütungsbestandteilen und zu Zulagen sind zu dokumentieren, § 11 InstitutsVergV. 33 Besondere Anforderungen bestehen an die Vergütung von Mitarbeitern der Kontrolleinheiten und an die des für die Risikosteuerung zuständigen Mitglieds der Geschäftsleitung. Um einen Interessenkonflikt zu vermeiden, darf sich ihre Vergütung nicht nach den gleichen Parametern wie die der von ihnen kontrollierten Organisationseinheiten richten, vgl. § 5 Abs. 4 InstitutsVergV. Zudem muss der Schwerpunkt ihrer Vergütung auf dem fixen Vergütungsbestandteil beruhen, § 9 Abs. 2 InstitutsVergV. 34 Eine eigene Vergütungskategorie besteht daneben für sog. Risikoträger. Dabei handelt es sich um Mitarbeiter, deren Tätigkeit sich unmittelbar auf das Risikoprofil des Instituts auswirkt. Die bisherige Regelung, wonach nur sog. bedeutende Institute, die aufgrund ihrer Bilanzsumme bzw. der Komplexität ihrer Geschäfte hervorgehoben sind (vgl. § 1 Abs. 3c KWG), Risikoträger zu identifizieren hatten, wurde mittlerweile auf sämtliche CRR-Kreditinstitute erweitert. Von der Definition können etwa einzelne Händler einer Bank, Mitarbeiter mit Leitungsverantwortung in Geschäftsbereichen oder auch die Leitung der Rechtsabteilung erfasst sein, wobei sich aus § 25a Abs. 5b KWG eine Liste derjenigen Mitarbeiter bzw. Rollen ergibt, die zwingend als Risikoträger gelten. Konkretisierende Regeln für die Einstufung als Risikoträger ergeben sich aus quantitativen und qualitativen Kriterien, die in einer delegierten EU-Verordnung detailliert werden.49) Die Identifizierung der für das Risiko des Instituts wesentlichen Mitarbeiter liegt in der Verantwortung des Instituts und damit mittelbar in der Verantwortung der Geschäftsleitung. Die variable Vergütung entsprechender Mitarbeiter ist an den eingegangenen gegenwärtigen und zukünftigen Risiken und an den getroffenen Maßnahmen zur Risikosteuerung auszurichten,50) wobei insbesondere ein Absinken des variablen Teils der Vergütung auf null möglich sein muss.51) Überdies ist die Auszahlung von mindestens 40 % der variablen Vergütung eines Risikoträgers über einen Zurückbehaltungszeitraum von vier Jahren zu strecken, wobei sich die Werte bei entsprechender ___________ 48) Siehe hierzu etwa § 5 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 2 InsitutsVergV und BaFin, Auslegungshilfe zur Institutsvergütungsverordnung, zu § 5 Abs. 2. 49) Delegierte Verordnung (EU) 2021/923 der Kommission vom 25.3.2021. 50) Vgl. § 18 Abs. 3 Satz 1 InstitutsVergV. 51) § 18 Abs. 5 Satz 1 InstitutsVergV

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Stellung, Aufgabe und Tätigkeit des Risikoträgers auf 60 % bzw. 5 Jahre erhöhen können, § 20 Abs. 1 InstitutsVergV. Schließlich enthält § 25d Abs. 5 KWG auch Vorgaben für das Vergütungssystem 35 der Mitglieder des Aufsichtsorgans. Dieses muss so ausgestaltet sein, dass keine Interessenskonflikte im Hinblick auf die Überwachungsfunktion des Organs erzeugt werden und darf (inzwischen) insbesondere keine variablen Vergütungsbestandteile (mehr) beinhalten. Durch einen Verweis in die CRR sind die Mitglieder des Aufsichtsorgans im Hinblick auf die Vergütung sowie diesbezüglicher Anzeige- bzw. Offenlegungspflichten zudem wie Risikoträger des Instituts zu behandeln.52) V.

Pflichten in der Sanierungs- und Abwicklungsplanung

Um Institute im Falle einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Finanzlage, 36 die zu einer Bestandsgefährdung führen kann (sog. Krisenfall) möglichst rasch stabilisieren zu können, haben diese bereits im Voraus einen Sanierungsplan zu erstellen und diesen bei Bedarf zu aktualisieren, vgl. § 12 Abs. 1 und 4 SAG. Hierin hat das Institut darzulegen, mit welchen von ihm selbst zu treffenden Maßnahmen die finanzielle Stabilität gesichert oder wiederhergestellt werden kann. Die Vorstandsmitglieder sind dabei einzeln und unabhängig von der internen Zuständigkeitsregelung für die Erstellung, Implementierung und Aktualisierung des Sanierungsplans verantwortlich, § 13 Abs. 5 SAG. Gleiches gilt für dessen Umsetzung im Krisenfall. Bei der Erstellung und Aktualisierung eines Abwicklungsplans durch die Aufsicht- 37 bzw. Abwicklungsbehörde haben Institute diese umfassend zu unterstützen, § 42 Abs. 1 SAG. Diese Unterstützung wird typischerweise in der Bereitstellung von internen Informationen und Analysen bestehen, für die letztlich die Vorstandsmitglieder verantwortlich sind. VI.

Konsequenzen bei Verstößen

Verstößt ein Institut trotz entsprechender Weisung der Aufsichtsbehörden ge- 38 gen organisatorische Vorgaben aus § 25a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 – 5 KWG und führt dieser Verstoß zu einer Bestandsgefährdung des Instituts, kann dieser Verstoß für die Vorstandsmitglieder strafrechtliche Konsequenzen haben (§ 54a KWG); in der Praxis führt diese bei Einführung 2014 noch als stumpfes Schwert bezeichnete strafrechtliche Verantwortlichkeit dazu, dass die Geschäftsleitung regelmäßig und anlassbezogen die Einhaltung organisatorischer Vorgaben durch externe Berater überprüft. Gleichwohl greift die strafrechtliche Sanktion weiterhin erst dann, wenn sich durch den Organisationsverstoß eine Bestandsgefährdung i. S. d. § 63 SAG ergibt, d. h. dass das Institut entweder in eine in___________ 52) Vgl. auch Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 110.

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solvenznahe Situation gerät oder in der Form gegen aufsichtsrechtliche Vorgaben verstößt, dass ein Entzug der Erlaubnis gerechtfertigt wäre bzw. dass eine solche Situation einzutreten droht. VII. Haftung und Business Judgement Rule 39 Der bereits angesprochene, durch vielfältige aufsichtsrechtliche Vorgaben eingeschränkte Handlungsspielraum der Vorstandsmitglieder wirkt sich auch unmittelbar auf die Anwendung der Business Judgement Rule des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus53) (zur Business Judgement Rule ausführlich Æ § 2 Rz. 25 ff.). Gleiches dürfte bei entsprechender Anwendung (§ 116 Satz 1 AktG) im Hinblick auf die konkret in § 25d Abs. 6 KWG vorgesehene Überwachungspflichten des Aufsichtsrats hinsichtlich bankaufsichtlicher Regelungen gelten. Denn um eine von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schon nach seinem Wortlaut vorausgesetzte, unternehmerische Entscheidung kann es sich jedenfalls dann nicht handeln, wenn dem Vorstands- bzw. Aufsichtsratsmitglied aufgrund strikter gesetzlicher Vorgaben keinerlei Entscheidungsspielraum verbleibt.54) Dies scheint zunächst auch auf die zwingenden Organisationsvorgaben des § 25a KWG zuzutreffen, zeigt sich aber im Hinblick auf die Anzahl der verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe als durchaus problematisch.55) Abhilfe schaffen insoweit auch nicht die Vorgaben der MaRisk, wenn man diese mit der wohl überwiegenden Ansicht als nach außen hin unverbindliches Verwaltungsinnenrecht einstuft.56) 40 Lassen sich verbindliche Handlungsvorgaben auch den MaRisk nicht entnehmen, stellt sich für den Vorstand die Frage, wie mit solchen aufsichtsrechtlichen Rechtsunsicherheiten umzugehen ist. Die überwiegende aktienrechtliche Literatur geht dabei davon aus, dass der Vorstand seiner Entscheidung die für die Gesellschaft günstigste, vertretbare Rechtsauslegung zugrunde legen darf.57) Demgegenüber hat sich der Vorstand nach einer in der aufsichtsrechtlichen Literatur vertretenen, sog. Optimierungsthese, „um die Ermittlung der aus seiner Sicht am besten vertretbaren Rechtsmeinung zu bemühen“.58) Dies soll im Rahmen des prinzipienbasierten Aufsichtsrechts bedeuten, dass das vom Gesetzgeber verfolgte Aufsichtsprinzip bestmöglich zur Wirkung kommen muss.59) ___________ 53) Siehe hierzu auch Hopt, ZIP 2013, 1793 (1798). 54) Siehe nur Spindler/Stilz/Fleischer, § 93 Rz. 67 m. w. N.; für die „unternehmerische“ Entscheidung des Aufsichtsrats siehe Spindler/Stilz/Spindler, § 16 Rz. 43. 55) Langenbucher, ZBB 2013, 16 (21). 56) Siehe etwa Luz/Neus/Schaber/Schneider/Wagner/Weber/Hellstern, KWG, § 25a Rz. 2; siehe auch die zahlreichen Nachweise bei Langenbucher, ZBB 2013, 16 (21), dort in Fn. 30. 57) Siehe hierzu MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rz. 90 sowie dort die Nachweise in Fn. 506. 58) Langenbucher, ZBB 2013, 16 (22). 59) Langenbucher, ZBB 2013, 16 (22 f.).

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Dieser Schluss von der Intention des Gesetzgebers auf die am besten vertretba- 41 re Rechtsmeinung und hiervon auf die Handlungspflichten des Vorstands erscheint zwar nicht zwingend, ermöglicht aber zuverlässig die Einfahrt in den „sicheren Hafen“ des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Für die Praxis, in der die Vorgaben der MaRisk (zumindest weit überwiegend) nicht in Zweifel gezogen werden, spricht jedoch viel dafür, ihren Inhalt als am besten vertretbare Rechtsmeinung im Hinblick auf die Auslegung der §§ 25a, 25b KWG anzusehen. Ein Ergebnis, das schon wegen des Gleichlaufs (faktischer) aufsichtsrechtlicher Pflichten des Instituts und dem „sicheren Hafen“ der Business Judgement Rule überzeugt. VIII. Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats auch hinsichtlich aufsichtsrechtlicher Vorschriften Zusätzlich zu den gesellschaftsrechtlichen Pflichten der Aufsichtsratsmitglie- 42 der ordnet § 25d Abs. 6 Satz 1 KWG eine Überwachungspflicht hinsichtlich der einschlägigen aufsichtsrechtlichen Regelungen an. Vorrangig betrifft diese Überwachung bankenaufsichtliche Messgrößen wie Eigenmittel- und Liquiditätsquoten, Leverage Ratio, Großkreditvorschriften und die zur Einhaltung dieser Größen vorgesehenen Strategien und Maßnahmen.60) Wie bereits angeklungen, umfasst das erforderliche Risikomanagement auch eine angemessene Einbindung des Aufsichtsrats.61) Hierdurch soll eine ausreichende Informationsversorgung des Aufsichtsrats sichergestellt werden, sodass dieser seiner aufsichtsrechtsbezogenen Überwachungsaufgabe auch hinsichtlich der ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation, wie sie in den MaRisk Ausdruck gefunden hat, hinreichend nachkommen kann62) (zu den Überwachungsmitteln des Aufsichtsrats ausführlich Æ § 3 Rz. 113 ff.). Gleichzeitig wird die Überwachungsaufgabe in § 25d Abs. 6 Satz 2 KWG auch 43 dahingehend präzisiert, dass auch der Erörterung von Strategien, Risiken und Vergütungssystemen ausreichend Zeit gewidmet werden muss. Insoweit soll auch der Aufsichtsrat konstruktiv in die Entwicklung des Instituts eingebunden werden, indem er durch seine Kritik zur Weiterentwicklung der Strategien des Instituts beiträgt.63) Hierzu gehören insbesondere die Geschäfts- und Risikostrategie.64) Die eingehende Befassung mit den Vergütungssystemen betrifft dabei sowohl deren abstrakte Ausgestaltung, als auch die tatsächliche Umsetzung innerhalb des Instituts.65) ___________ 60) 61) 62) 63) 64) 65)

Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Wolfgarten, KWG, § 25d Rz. 74. Siehe hierzu auch BaFin, MaRisk AT 1, Tz.1. Vgl. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Wolfgarten, KWG, § 25d Rz. 74. Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 115. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Wolfgarten, KWG, § 25d Rz. 78. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Wolfgarten, KWG, § 25d Rz. 80.

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IX.

Persönliche und fachliche Anforderungen an Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder

44 Wie schon das Aktienrecht in den §§ 76 Abs. 3 und 100 Abs. 1 AktG (ausführlich zu den persönlichen Mindestanforderungen Æ § 1 Rz. 38 ff. zum Vorstand und § 3 Rz. 10 ff. zum Aufsichtsrat der AG) kennt auch das Aufsichtsrecht besondere Anforderungen an die natürlichen Personen, aus denen sich Vorstand und Aufsichtsrat zusammensetzen. Erneut gehen hierbei die speziellen aufsichtsrechtlichen Vorschriften der §§ 25c, d KWG über die Bestimmungen des Aktienrechts hinaus, sowohl was die Anforderungen an die persönliche als auch die fachliche Eignung angeht. Die umfangreicheren rechtlichen Vorgaben des KWG werden zudem durch eine weitere informelle Äußerung der BaFin, das „Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB“66) ergänzt und werden laufend erweitert. Im Hinblick auf den Kreis erfasster Personen ist zudem zu beachten, dass diese zusätzlichen Anforderungen auch für stellvertretende Vorstandsmitglieder gelten. Da sie üblicherweise zur Geschäftsführung und zur Vertretung des Instituts berechtigt sind, gelten auch sie als Geschäftsleiter im Sinne des KWG.67) 1.

Eignung, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand der Vorstandsmitglieder

45 Nach § 25c Abs. 1 Satz 1 KWG müssen Geschäftsleiter für die Leitung des Instituts fachlich geeignet sein und der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ausreichend Zeit widmen. Daneben wird auch das typisch gewerberechtliche Institut der Zuverlässigkeit in den Anforderungskatalog aufgenommen. All diese Vorgaben muss das Vorstandsmitglied dabei freilich während seiner gesamten Tätigkeit und nicht bloß bei der Bestellung erfüllen.68) Flankiert werden die materiellen Vorgaben des § 25c KWG daher von einer Anzeigepflicht aus § 24 Abs. 1 Nr. 1 KWG, nach dem bei der Anzeige über die Absicht zur Bestellung eines Geschäftsleiters auch Angaben zu den oben genannten Umständen gemacht werden müssen. 46 Die fachliche Eignung setzt nach § 25c Abs. 1 Satz 2 KWG voraus, dass die Geschäftsleiter in ausreichendem Maße theoretische und praktische Kenntnisse in den betreffenden Geschäften sowie Leitungserfahrung haben. Hiervon kann in der Regel ausgegangen werden, wenn sie eine dreijährige leitende Tätigkeit ___________ 66) BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB (Stand: 29.12.2020), abrufbar unter: https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Merkblatt/ dl_mb_29_12_2020_GL_KWG_ZAG_KAGB.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 67) BankrechtsHdb, Fischer/Boegl, § 128 Rz. 48; siehe auch BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 14, Rz. 22. 68) So ausdrücklich BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 25, Rz. 92.

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bei einem Institut in vergleichbarer Größe und Geschäftsart nachweisen können. Bei der Institutsgröße ist grundsätzlich auf die Bilanzsumme abzustellen, die Aufsichtsbehörde kann jedoch weitere Kriterien, wie z. B. Anzahl der Mitarbeiter, Kreditvolumen oder Kundenzahl mitberücksichtigen.69) Von gleicher Geschäftsart sind Institute, die geschäftlich ähnlich ausgerichtet sind und die gleichen Bankgeschäfte und Finanzdienstleistungen betreiben.70) Um die Aktualität der Kenntnisse und Erfahrungen sicherzustellen, dürfen diese nicht länger zurückliegen, sondern müssen aktuell vorhanden sein.71) Im Übrigen können theoretische Kenntnisse und Leitungserfahrung auch auf sonstige Weise nachgewiesen werden. Zumindest für das Kreditgeschäft kann auf praktische Erfahrung nicht verzichtet werden. Dies führt dazu, dass fachliche Quereinsteiger regelmäßig erst eine gewisse Zeit als Generalbevollmächtigter Erfahrungen sammeln müssen, bevor sie als Geschäftsleiter berufen werden können. Die Zuverlässigkeit der Vorstandsmitglieder als zusätzliche persönliche An- 47 forderung wird grundsätzlich angenommen, sofern keine Tatsachen erkennbar sind, die die Unzuverlässigkeit begründen.72) Anhaltspunkte für eine mangelnde Zuverlässigkeit können das persönliche Verhalten sowie das Geschäftsgebaren des Vorstands im Hinblick auf strafrechtliche, finanzielle, vermögensrechtliche und auch aufsichtsrechtliche Aspekte sein.73) Hierbei werden insbesondere aufsichtliche Maßnahmen gegen den Vorstand selbst oder ein von ihm geleitetes Unternehmen sowie Straftaten im Vermögensbereich und Verstöße gegen Ordnungsvorschriften berücksichtigt.74) Dabei ist ein etwaiges Verschulden der Vorstandsmitglieder für die Annahme der Unzuverlässigkeit jedoch nicht erforderlich,75) sodass etwa fahrlässige Falschangaben im Rahmen des Erlaubnisverfahrens zur Annahme der Unzuverlässigkeit führen können.76) Schließlich wird im Rahmen der Zuverlässigkeitsprüfung auch beurteilt, ob ein Geschäftsleiter im ausreichenden Maße unvoreingenommen und in der Lage ist, eigene, vernünftige, objektive und unabhängige Entscheidungen und Urteile zu fällen.77) Bei begründeten Zweifeln kann die Aufsicht die Abberufung eines Geschäftsleiters verlangen. ___________ 69) 70) 71) 72) 73) 74) 75) 76) 77)

BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 26, Rz. 97. BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 26, Rz. 97. BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 25, Rz. 95. Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25c Rz. 24; BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 27, Rz. 106. Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25c Rz. 27; BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 27, Rz. 107. BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 28, Rz. 109. BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 27, Rz. 107. Schwennicke/Auerbach/Schwennicke, KWG, § 25c Rz. 16. BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 29, Rz. 118.

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48 Die erforderliche zeitliche Verfügbarkeit bemisst sich nach allgemeiner Anschauung unter Berücksichtigung der beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen der Mitglieder des Vorstands.78) Hiernach muss die für die Geschäftsleitertätigkeit verfügbare Zeit ausreichen, um den bestehenden Verpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen. Maßgeblich sind erneut die Erfordernisse des konkreten Instituts; die zu veranschlagenden Zeiträume können daher je nach Größe des Instituts und Komplexität der Geschäfte durchaus unterschiedlich ausfallen.79) Neben der abstrakten zeitlichen Verfügbarkeit des Vorstandsmitglieds ist indes sicherzustellen, dass diese Zeit auch tatsächlich aufgewendet wird.80) Im Einzelfall kann auch ein nicht-deutscher Wohnort zu Rückfragen der Aufsicht führen. 49 Im Zusammenhang mit dem Erfordernis der zeitlichen Verfügbarkeit stehen die Mandatsbegrenzungen des § 25c Abs. 2 KWG. Danach sind bei der Zahl der Leitungs- oder Aufsichtsmandate, die ein Geschäftsleiter gleichzeitig innehaben kann, der Einzelfall und die Art, der Umfang und die Komplexität der Geschäfte des Instituts zu berücksichtigen, vgl. § 25c Abs. 2 Satz 1 KWG. Dahinter steht der Gedanke, dass eine unzureichende Verfügbarkeit des einzelnen Vorstandsmitglieds auch aus einer zu großen Anzahl an Mandaten resultieren kann. Zugleich wird mit den Mandatsbegrenzungen etwaigen Interessenkonflikten vorgebeugt, die in Einzelfällen aus Mehrfachmandaten entstehen können.81) So dürfen Geschäftsleiter von bedeutenden CRR-Kreditinstituten (§ 1 Abs. 3c KWG) nicht gleichzeitig eine Geschäftsleiterposition in einem anderen Unternehmen, d. h. auch nicht in einem Unternehmen der Realwirtschaft, innehaben, § 25c Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 KWG. Hier bestehen allerdings auch privilegierende Ausnahmen, etwa für Mandate innerhalb einer Institutsgruppe. 2.

Sachkunde, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand der Mitglieder des Aufsichtsrats

50 In Anlehnung an die Anforderungen, die an die Vorstandsmitglieder gestellt werden, müssen auch die Mitglieder des Aufsichtsrats über die erforderliche Sachkunde zur Wahrnehmung der Kontrollfunktion verfügen, persönlich zuverlässig sein und der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ausreichend Zeit widmen, § 25d Abs. 1 Satz 1 KWG. Auch bei ihnen müssen diese Umstände während der gesamten Zeit ihrer Tätigkeit vorliegen.82) ___________ 78) 79) 80) 81) 82)

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BaFin, Merkblatt zu den Geschäftsleitern gemäß KWG, ZAG und KAGB, S. 29, Rz. 121. Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25c Rz. 62. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, KWG, § 25c Rz. 23. Vgl. Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25c Rz. 70. BaFin, Merkblatt zu den Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB vom 4.1.2016, geändert am 24.6.2021, S. 28, Rz. 98.

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B. Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute

Durch das Erfordernis der Sachkunde soll sichergestellt werden, dass die Mit- 51 glieder des Aufsichtsrats in der Lage sind, die von dem Institut getätigten Geschäfte und die damit verbundenen Risiken zu verstehen und gegebenenfalls erforderliche Änderungen bei der Führung der Geschäfte durchzusetzen.83) Die erforderliche Sachkunde bemisst sich auch für die Mitglieder des Aufsichtsrats nach den Eigenheiten des jeweiligen Instituts, vgl. § 25d Abs. 1 Satz 2 KWG. Verglichen mit den Anforderungen an die Vorstandsmitglieder fallen die Anforderungen indes geringer aus, müssen sie die zur Wahrnehmung der Kontrollfunktion erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten gemäß § 25d Abs. 2 Satz 1 KWG doch nur gemeinsam aufbringen. Ausreichend für das einzelne Mitglied ist damit, dass es zur Mitwirkung an kollektiven Entscheidungen des Organs in der Lage ist.84) Die Zuverlässigkeit der Aufsichtsratsmitglieder wird wie bei den Vorstands- 52 mitgliedern vermutet, solange keine gegenteiligen Umstände bekannt werden.85) Zweifel an der Zuverlässigkeit können insbesondere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit einer beruflichen Tätigkeit, aufsichtliche Maßnahmen, Insolvenzverfahren und mögliche Interessenkonflikte wecken.86) Auch für die Mitglieder des Aufsichtsrats setzt Unzuverlässigkeit jedoch kein Verschulden voraus.87) Ausreichende zeitliche Verfügbarkeit bedeutet auch hier, dass die Aufsichts- 53 ratsmitglieder prinzipiell über ausreichend Zeit verfügen müssen, um ihr Mandat neben sonstigen beruflichen und gesellschaftlichen Pflichten wirksam auszuüben und dass diese Zeit auch tatsächlich aufgewendet wird.88) Da es erneut auf die konkrete Art der Tätigkeit und des Unternehmens ankommt, können die zeitlichen Anforderungen auch hier individuell variieren.89) ___________ 83) Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Wolfgarten, KWG, § 25d Rz. 17. 84) Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 35; siehe auch die Gesetzesbegründung zum CRD IV Umsetzungsgesetz, BT-Drucks. 7/10974, S. 87: „Im Gegensatz zu der von Geschäftsleitern geforderten fachlichen Eignung erfordert „Sachkunde“ bei den einzelnen Verwaltungs- und Aufsichtsorganmitgliedern in Anlehnung an BGHZ 85, 293 ff. (Tz. 11) finanztechnisches Fachwissen (nur) in einem Ausmaß, das die Person zur Mitwirkung an der Kollektiventscheidung befähigt. Das bedeutet, dass nicht sämtliche Mitglieder über alle notwendigen Spezialkenntnisse verfügen müssen.“ 85) Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 23; BaFin, Merkblatt zu den Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB, S. 32, Rz. 120. 86) BaFin, Merkblatt zu den Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB, S. 32, Rz. 121. 87) BaFin, Merkblatt zu den Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB, S. 32, Rz. 122. 88) BaFin, Merkblatt zu den Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß KWG und KAGB, S. 35, Rz. 139. 89) Plagemann, WM 2014, 2345 (2346); Beck/Samm/Kokemoor/Kleinert, KWG, § 25d Rz. 48.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

54 Die das Kriterium der zeitlichen Verfügbarkeit konkretisierenden aufsichtsrechtlichen Mandatsbeschränkungen90) für Mitglieder des Aufsichtsrats treten neben die aktienrechtlichen Vorgaben aus § 100 Abs. 2 AktG. Die hieraus folgende Obergrenze von zehn Aufsichtsratsmandaten91) wird in § 25d Abs. 3a Satz 1 Nr. 3 KWG auf fünf Mandate in beaufsichtigten Unternehmen begrenzt, eine Ausnahmen besteht allerdings für Institute innerhalb derselben Institutssicherung, d. h. für die Banken des genossenschaftlichen Verbundes oder Sparkassen. Für bedeutende CRR-Kreditinstitute (§ 1 Abs. 3c KWG) gilt nach § 25 Abs. 3 Satz 1Nr. 4 KWG eine Grenze von fünf Aufsichtsratsmandaten, wer gleichzeitig in einem Unternehmen Geschäftsleiter ist, darf gar nur drei Aufsichtsratsmandate wahrnehmen, § 25d Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 KWG. C.

Versicherungsunternehmen

I.

Einleitung

55 Vergleichbar mit Banken kommt auch Versicherungsunternehmen eine besondere volkswirtschaftliche Bedeutung zu, die insbesondere aus ihrer Funktion der Vergemeinschaftung von Risiken folgt.92) Auch an ihrer wirtschaftlichen Existenz besteht folglich ein außerordentliches Allgemeininteresse. Ähnlich wie das KWG stellt daher auch das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) zusätzliche Anforderungen an die Geschäftsorganisation, die Eignung von Führungspersonal und an die Vergütungsstrukturen von Versicherungsunternehmen. Erneut werden diese durch Rechtsverordnungen bzw. informelle Äußerungen der BaFin ergänzt. II.

Geschäftsorganisation

56 Nach § 23 Abs. 1 VAG müssen Versicherungsunternehmen über eine wirksame und ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verfügen, die im Hinblick auf Art, Umfang und Komplexität ihrer Tätigkeiten angemessen ist. Schon an dem letzten Erfordernis zeigt sich, dass auch bei der Versicherungsaufsicht im Rahmen eines prinzipienbasierten Ansatzes den Eigenheiten des jeweiligen Unternehmens (wenn auch in geringerem Maße als bei Banken) Rechnung getragen werden muss.93) So muss die Geschäftsorganisation einer Versicherung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 VAG genau wie die beruflichen Qualifikationen, Kenntnisse und ___________ 90) Ausführlich zu den Mandatsbeschränkungen auch Plagemann, WM 2014, 2345 (2347). 91) Innerhalb einer Konzernstruktur sind fünf weitere Mandate in untergeordneten Unternehmen möglich, § 100 Abs. 2 Satz 2 AktG. Das Mandat als Aufsichtsratsvorsitzender wird doppelt angerechnet, § 100 Abs. 2 Satz 3 AktG. 92) Thaten, Die Ausstrahlung des Aufsichts- auf das Aktienrecht, S. 70. 93) Zum prinzipienbasierten Ansatz der zugrundeliegenden Solvency II-Richtlinie siehe Schaaf, Risikomanagement und Compliance in Versicherungsunternehmen, S. 25; zum Proportionalitätsprinzip siehe etwa Gehringer/Fröhler, in: Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, § 9 Rz. 5.

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C. Versicherungsunternehmen

Erfahrungen eines Vorstands gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 VAG eine „solide und umsichtige Leitung des Unternehmens gewährleisten“. Für Versicherungsunternehmen umfasst eine ordnungsgemäße Geschäftsorga- 57 nisation 

Eine angemessene, transparente Organisationsstruktur mit klaren Zuständigkeitstrennungen und -zuweisungen sowie ein wirksames unternehmensinternes Kommunikationssystem, § 23 Abs. 1 Satz 3 VAG,



angemessene Vorkehrungen, einschließlich der Entwicklung von Notfallplänen, um die Kontinuität und Ordnungsmäßigkeit ihrer Tätigkeiten zu gewährleisten, § 23 Abs. 4 VAG,



ein Whistleblowing-System, § 23 Abs. 6 VAG



ein in die Organisationsstruktur und die Entscheidungsprozesse des Unternehmens integriertes Risikomanagement, § 26 Abs. 1 VAG, das



wiederum eine unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung enthalten muss, § 27 Abs. 1 VAG.



Ein internes Kontrollsystem inklusive einer Compliance-Funktion, § 29 Abs. 1 VAG,



eine interne Revision, § 30 Abs. 1 VAG und



eine Versicherungsmathematische Funktion, § 31 Abs. 1 VAG.

Zur Konkretisierung dieser Vorgaben dienen im Versicherungsaufsichtsrecht 58 die Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen (MaGo) der BaFin.94) Auch diese statuieren dabei den Grundsatz der Gesamtverantwortung der Geschäftsleiter für die ordnungsgemäße und wirksame Geschäftsorganisation.95) Wie die MaRisk führen sie im Rahmen dieser Gesamtverantwortung auch das zusätzliche Erfordernis einer angemessenen Risikokultur ein. Im Hinblick auf die allgemeinen Governance-Anforderungen (oben 2.) kon- 59 kretisieren die MaGo die Festlegung von Aufgaben, Verantwortlichkeiten und ablauforganisatorischen Regelungen. Die Trennung von Zuständigkeiten wird dahingehend konkretisiert, dass diese bis einschließlich der Ebene der Geschäftsleitung zu erfolgen hat und dass der Aufbau von Risiken von deren Kontrolle und Überwachung zu trennen ist.96) Für die gemäß § 23 Abs. 2 VAG regelmäßig vom Vorstand als Gesamtorgan vorzunehmenden interne Über___________ 94) Rundschreiben 2/2017 (VA) – Mindestanforderungen an die Geschäftsorganisation von Versicherungsunternehmen, vom 25.1.2017, abrufbar unter https://www.bafin.de/ SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Rundschreiben/2017/rs_1702_mago_va.html. 95) BaFin, MaGo Tz. 2, 21; siehe zu diesem Grundsatz auch MünchKomm-VVG/NowakOver, Bd. 3, 170 Rz. 42. 96) BaFin, MaGo Tz. 29 f.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

prüfung der Geschäftsorganisation sehen die MaGo die Möglichkeit einer Aufgabenteilung gemäß der jeweiligen Zuständigkeitsverteilung vor. Jedes Mitglied muss sich jedoch über die Ergebnisse informieren und bleibt für die Umsetzung etwaiger Konsequenzen verantwortlich.97) 60 Zusammengefasst unter dem Begriff der Schlüsselfunktion sieht die MaGo besondere Vorgaben für die Funktionen der internen Revision, der ComplianceFunktion, der unabhängigen Risikocontrolling-Funktion und der versicherungsmathematischen Funktion vor.98) Wie diese Funktionen umgesetzt werden, etwa zentral oder dezentral, bleibt dabei den Unternehmen überlassen; gleichzeitig muss ihnen jedoch eine hervorgehobene Stellung innerhalb des Unternehmens eingeräumt werden.99) Zudem ist für jede der Funktionen unabhängig vom Vorstand jeweils eine verantwortliche Person zu bestimmen.100) Auch wenn weder das VAG noch die MaGo dies explizit erwähnen, gilt auch für die Schlüsselfunktionen der Grundsatz der Funktionstrennung, sodass mehrere Funktionen nicht durch die gleiche Organisationseinheit bzw. das dort eingesetzte Personal übernommen werden können.101) 61 Im Hinblick auf das Risikomanagementsystem102) des Unternehmens betont das Rundschreiben die bereits in § 23 VAG angelegte Gesamtverantwortung der Geschäftsleitung, gleichzeitig aber auch die diesbezügliche Überwachungspflicht des Aufsichtsrats,103) bevor Vorgaben zum Inhalt der Risikomanagementleitlinien für die einzelnen Risikoarten gemacht werden. 62 Über das Kriterium der Geschäftsorganisation enthalten die MaGo überdies Vorgaben dazu, wie die mittlerweile durch Solvency II festgelegten regulatorischen Eigenmittelquoten (SCR und MCR) einzuhalten sind und verknüpfen auf diese Weise qualitative und quantitative Aspekte der Versicherungsaufsicht.104) Inhaltlich erfolgen Konkretisierungen im Hinblick auf die Klassifizierung von Eigenmitteln, Anrechnungsgrenzen, Kapitalmanagement-Leitlinien und -planung sowie im Hinblick auf ergänzende Eigenmittel. 63 Für das interne Kontrollsystem verbleibt den Versicherungsunternehmen ein großer Spielraum. Entscheidend ist, dass das System auf das Risikoprofil des ___________ 97) BaFin, MaGo Tz. 43. 98) BaFin, MaGo Tz. 75 ff.; siehe zu diesen Schlüsselfunktionen auch Gehringer/Fröhler, in: Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, § 9 Rz. 87 ff. 99) BaFin, MaGo Tz. 77, 79. 100) BaFin, MaGo Tz. 81. 101) Das VAG spricht in § 23 Abs. 1 Satz 3 nur von einer „Trennung der Zuständigkeiten“; vgl. zu § 64a VAG a. F. auch Schaaf, Risikomanagement und Compliance in Versicherungsunternehmen, S. 151. 102) Siehe hierzu den Überblick bei MünchKomm-VVG/Grote, Bd. 3, 100 Rz. 277 ff. 103) BaFin, MaGo Tz. 151 f. 104) Siehe BaFin, MaGo Tz. 203 ff.

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C. Versicherungsunternehmen

Unternehmens abgestimmt und angemessen in dessen Strukturen integriert wird.105) Das Erfordernis von Notfallplänen wird auf solche Bereiche beschränkt, in 64 denen unvorhergesehene Störungen die Fortführung der Geschäftstätigkeit gefährden kann.106) Auch die Notfallpläne müssen dem Risikoprofil und den Strukturen des Unternehmens angepasst sein. III.

Haftung und Business Judgement Rule

Die bereits oben angesprochenen Besonderheiten im Hinblick auf die Anwen- 65 dung der Business Judgement Rule (ausführlich dazu Æ § 2 Rz. 25 ff.) gelten auch im Bereich der Versicherungsunternehmen. Als haftungsrelevante Entscheidungen, auf die § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Anwendung findet, erweisen sich in Versicherungsunternehmen insbesondere die Festlegung der Risikostrategie und die Einrichtung einer angemessenen Organisationsstruktur, hier insbesondere die Vorgabe der Funktionstrennung107) sowie Entscheidungen im Bereich der Vermögensanlage, die durch das VAG, Solvency II und das Kapitalanlagerundschreiben streng reglementiert ist. IV.

Persönliche und fachliche Anforderungen an Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder

Auch im Bereich der Versicherungsaufsicht werden über das Aktienrecht hi- 66 nausgehende Anforderungen an diejenigen Personen gestellt, die Funktionen als Vorstand oder Aufsichtsrat bekleiden.108) Diese folgen aus § 24 VAG, Art. 273 DVO-Solvency II109) und aus den Merkblättern der BaFin. 1.

Sachkunde, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand des Vorstands

Nach § 24 Abs. 1 VAG müssen Geschäftsleiter zuverlässig und fachlich geeignet 67 sein.110) An die Eignung der Vorstandsmitglieder eines Versicherungsunternehmens stellt das VAG ähnliche Anforderungen wie sie im Bereich der Banken ___________ 105) 106) 107) 108) 109)

BaFin, MaGo Tz. 230 ff. BaFin, MaGo Tz. 295. Schaaf, Risikomanagement und Compliance in Versicherungsunternehmen, S. 245, 251. Siehe hierzu auch MünchKomm-VVG/Grote, Bd. 3, 100 Rz. 271 ff. Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 der Kommission vom 10.10.2014 zur Ergänzung der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II), ABl L 12 vom 17.1.2015, S. 1. 110) Zu den Anforderungen an die Zuverlässigkeit und fachliche Eignung und zu den Begrenzungen von Mehrfachmandaten siehe auch MünchKomm-VVG/Nowak-Over, Bd. 3, 170 Rz. 43 ff.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

bestehen. Unter die fachliche Eignung fallen die bereits bekannten Anforderungen der theoretischen und praktischen Kenntnisse und der Leitungserfahrung, vgl. § 24 Abs. 1 Satz 3 VAG. Von dieser kann gemäß § 23 Abs. 1 Satz 4 VAG auch in Versicherungsunternehmen nach dreijähriger leitender Tätigkeit in einem vergleichbaren Versicherungsunternehmen ausgegangen werden. Konkretisiert werden die Anforderungen im VA Geschäftsleiter-Merkblatt der BaFin.111) Im Hinblick auf die fachliche Eignung ist auch hier das Proportionalitätsprinzip zu beachten, sodass mit steigender Komplexität der Geschäftstätigkeit des Unternehmens auch höheren Anforderungen zu stellen sind.112) 68 Die Zuverlässigkeit umfasst nach Art. 273 Abs. 4 DVO-Solvency II eine Bewertung der Redlichkeit der Person, sowie der Solidität ihrer finanziellen Verhältnisse. Bewertungsgrundlage sind hierbei Tatsachen in Bezug auf persönliches Verhalten und Geschäftsgebaren, sowie etwaige strafrechtliche und aufsichtliche Aspekte. Fehlt es an solchen Anhaltspunkten, wird die Zuverlässigkeit unterstellt, Unzuverlässigkeit setzt jedoch erneut kein Verschulden voraus.113) 69 Ohne erkennbare rechtliche Grundlage überträgt die BaFin das von der Bankenaufsicht bekannte Erfordernis der ausreichenden zeitlichen Verfügbarkeit auch auf die Vorstandsmitglieder von Versicherungsunternehmen.114) Inhaltlich entsprechen die Vorgaben denen für die Vorstände von Instituten. 70 Die Anzahl an Mehrfachmandaten ist gemäß § 24 Abs. 3 VAG auf zwei Geschäftsleitermandate bei Versicherungsunternehmen, Pensionsfonds, Versicherungs-Holdinggesellschaften oder Versicherungs-Zweckgesellschaften beschränkt. Für Unternehmen innerhalb derselben Gruppe kann die BaFin zusätliche Mandate zulassen. 2.

Sachkunde, Zuverlässigkeit und ausreichender Zeitaufwand des Aufsichtsrats

71 Die Kriterien der fachlichen Qualifikation und der Zuverlässigkeit gelten gemäß Art. 273 Abs. 3 und 4 DVO-Solvency II auch für die Mitglieder des Aufsichtsrats. Die BaFin konkretisiert das Merkmal der fachlichen Qualifikation in ihrem VA Merkblatt Aufsichtsrat115) dahingehend, dass das Mitglied jederzeit in der Lage sein muss, die Vorstände zu kontrollieren, zu überwachen und die ___________ 111) BaFin, Merkblatt zur fachlichen Eignung und Zuverlässigkeit von Geschäftsleitern gemäß VAG, vom 6.12.2018, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Merkblatt/VA/dl_mb_181206_gl_va.html. 112) BaFin, VA Geschäftsleiter-Merkblatt, S. 14. 113) BaFin, VA Geschäftsleiter-Merkblatt, S. 16. 114) Siehe BaFin, VA Geschäftsleiter-Merkblatt, S. 17 f. 115) BaFin, Merkblatt zur fachlichen Eignung und Zuverlässigkeit von Mitgliedern von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen gemäß VAG, vom 6.12.2018, abrufbar unter https:// www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Merkblatt/VA/dl_mb_181206_ar_va.html.

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C. Versicherungsunternehmen

Entwicklung des Unternehmens aktiv zu begleiten.116) Hierzu sind theoretische und praktische Kenntnisse aller Geschäftsbereiche und eine stetige Weiterbildung erforderlich.117) Im Zusammenhang mit der fachlichen Eignung stehen auch die Anforderungen an die Kenntnisse des Gremiums insgesamt. So sollen bei der Zusammensetzung des Organs in jedem Fall Kenntnisse im Bereich der Kapitalanlage, der Versicherungstechnik und der Rechnungslegung vorhanden sein; bei Neubestellung eines Mitglieds ist der BaFin darzulegen, wie diese Felder künftig abgedeckt werden sollen.118) Die Anforderungen an die Zuverlässigkeit von Vorständen gelten für Auf- 72 sichtsräte entsprechend,119) gleiches gilt für die zeitliche Verfügbarkeit.120) Neben dem zeitlichen Aufwand enthält das Merkblatt auch inhaltliche Befassungspflichten für die Aufsichtsratsmitglieder. So sollen diese das Unternehmen auch zwischen den Sitzungen begleiten und so die Geschäftsstrategie und Risikosituation des Unternehmens beobachten.121) Zudem wird eine Vorbereitungspflicht im Hinblick auf die Sitzungen des Organs festgelegt.122) Hinsichtlich der Mandatsbegrenzungen gilt, dass gemäß § 24 Abs. 4 Satz 2 73 VAG maximal fünf Aufsichtsratsmandate in von der BaFin beaufsichtigten Unternehmen zulässig sind. V.

Anforderungen an die Vergütung

Auch die Vergütungssysteme für Geschäftsleiter, Mitarbeiter und Aufsichts- 74 ratsmitglieder von Versicherungsunternehmen müssen angemessen, transparent und auf eine nachhaltige Entwicklung des Unternehmens ausgerichtet sein, § 25 Abs. 1 VAG.123) Wie die Vergütungssysteme von Banken müssen sie an den Strategien des Unternehmens ausgerichtet sein (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 VersicherungsVergütungsverordnung – VersVergV)124), müssen Interessenkonflikte und das Eingehen unverhältnismäßiger Risiken vermeiden und dürfen der Überwachungsfunktion der Kontrolleinheiten nicht zuwiderlaufen, § 3 Abs. 1 Nr. 2 VersVergV. Verantwortlich für die Ausgestaltung der Vergütungssysteme der Mitarbeiter ist der Vorstand, verantwortlich für dessen Vergütungssystem ist der Aufsichtsrat, § 3 Abs. 1 Satz 4 VersVergV. ___________ 116) 117) 118) 119) 120) 121) 122) 123) 124)

BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 13. BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 13. BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 19. Vgl. BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 15. BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 15 f. BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 20. BaFin, VA Merkblatt Aufsichtsrat, S. 20. Siehe hierzu auch MünchKomm-VVG/Sasserath-Alberti/Vogelgesang, Bd. 3, 100 Rz. 464. Versicherungs-Vergütungsverordnung vom 18.4.2016 (BGBl I, 763), die zuletzt durch Art. 4 des Gesetzes vom 19.12.2018 (BGBl I, 2672) geändert worden ist.

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§ 11 Regulierte Finanzunternehmen

75 Für Geschäftsleiter und Risikoträger bedeutender Versicherungsunternehmen müssen fixe und variable Vergütung in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen, es darf also keine Abhängigkeit von der variablen Vergütung bestehen, § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 VersVergV.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

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Übersicht A. B. I. II. C. I. II. III. IV.

V.

Einführung......................................... 1 Begriff der Krise/Insolvenz ............. 3 Einführung.......................................... 3 Krisenstadien als Auslöser für Vorstandspflichten ............................. 5 Pflichten des Vorstands.................... 7 Überwachungspflicht ......................... 7 Sanierungspflicht .............................. 12 Pflicht zur Information des Aufsichtsrats und anderer Organe......... 15 Pflicht zur Einberufung und Information der Hauptversammlung .......................................... 18 1. Einführung................................. 18 2. Unverzügliche Information der Aktionäre............................. 20 3. Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung .................................. 22 Insolvenzantragspflicht.................... 25 1. Schutzzweck .............................. 26 2. Abgrenzung zur Sanierungspflicht................................ 27 3. Inhalt und Entstehung der Antragspflicht............................ 30 4. Insolvenzreife ............................ 33 a) Zahlungsunfähigkeit.................. 33 aa) Einführung................................. 33 bb) Merkmal der Fälligkeit.............. 36 cc) Ernsthaftes Einfordern ............. 37 dd) Abgrenzung zur Zahlungsstockung..................................... 38 ee) Beweislast................................... 40 ff) Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit ..................................... 41 gg) Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit.................. 42 (1) Begriff der drohenden Zahlungsunfähigkeit.................. 42 (2) Auswirkung drohender Zahlungsunfähigkeit.................. 43 (3) Prognose .................................... 45 (4) Einzelheiten ............................... 49 b) Überschuldung .......................... 52

aa) Einführung................................. 52 bb) Abgrenzung zur Handelsbilanz.......................................... 53 cc) Vermögenstest........................... 54 dd) Bedeutung der Fortführungsprognose ........................... 55 ee) Inhalt der Fortführungsprognose .................................... 56 ff) Prognosezeitraum ..................... 57 gg) Verhältnis zur Zahlungsunfähigkeit................................. 59 hh) Verhältnis zur drohenden Zahlungsunfähigkeit ................. 60 ii) Beseitigung der Überschuldung................................... 61 c) Dokumentation von Sanierungsbemühungen ............ 62 d) Pflicht zur Inanspruchnahme fachlicher Beratung ............. 63 5. Die gesetzliche Sanierungsfrist ............................................. 65 a) Einführung................................. 65 b) Strikte Höchstfrist .................... 68 c) Suspendierung der Antragspflichterfüllung.......................... 69 d) Beginn der Sanierungsfrist........ 70 e) Pflichten während der Sanierungsfrist........................... 72 f) Mehrheit von Vorstandsmitgliedern................................. 73 g) Gläubigerantrag ......................... 77 h) Vertretungserfordernis ............. 78 i) Antragsrücknahme.................... 80 6. Subjektiver Tatbestand ............. 81 7. Höchstpersönlichkeit ............... 82 8. Amtsniederlegung ..................... 83 9. Faktisches Vorstandsmitglied ...................................... 84 10. Liquidatoren .............................. 85 11. Führungslosigkeit ..................... 86 12. Strafrecht ................................... 88 13. Kommanditgesellschaft auf Aktien .................................. 89

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung 14. Antragsrecht neben Antragspflicht ................................ 92 15. Rechtsfolgen der Antragspflichtverletzung ....................... 95 a) Einführung ................................ 95 b) Antragspflicht als Schutzgesetz ......................................... 96 c) Alt- und Neugläubiger.............. 97 aa) Quotenschaden der Altgläubiger .................................... 99 bb) Ausfallschaden der Neugläubiger .................................. 101 d) Schadensliquidation nach der Rechtsprechung ................ 102 e) Modell des einheitlichen Quotenschadens ..................... 103 f) Verjährung............................... 104 16. Sonderregeln während der Corona-Pandemie ................... 105 VI. Masseerhaltungspflicht .................. 110 1. Einführung .............................. 110 2. Zahlungsverbot ....................... 112 a) Grundsatz................................ 112 b) Begriff der Zahlung................. 114 c) Berücksichtigung von Gegenleistungen .......................... 116 d) Subjektiver Tatbestand ........... 118 3. Rechtfertigungsklausel ........... 119 a) Ausnahme vom Zahlungsverbot....................................... 119 b) Kollision von Zahlungsverbot und Zahlungsgebot .......... 131 4. Haftung wegen verbotener Zahlungen................................ 137 a) Ersatz verbotswidriger Zahlungen................................ 137 b) Haftungshöchstgrenze ........... 139 c) Verhältnis zur Insolvenzanfechtung ............................... 146

d) Verhältnis zu § 43 StaRUG und Geltung im Restrukturierungsverfahren.....................150 5. Zahlung durch Überweisung vom Konto der AG..................152 6. Haftung für Zahlungseingang auf debitorischem Konto der AG ..........................154 a) Grundsatz.................................154 b) Rechtsprechung im Überblick .................................156 c) Beweislast .................................157 7. Haftung wegen Zahlungen an Aktionäre.............................158 8. Geltendmachung......................160 9. Verjährung................................161 10. Sonderregeln während der Corona-Pandemie .............162 VII.Pflichten im Rahmen der Restrukturierung.............................166 1. Einführung ...............................166 2. Krisen(früh)erkennung und Dokumentation ................168 3. Sanierungsbetreibungspflicht .......................................169 4. (Allgemeine) Mitteilungspflicht .......................................172 5. Insolvenzanzeigepflicht...........173 6. Auskehr- und Verwahrungspflicht .......................................180 D. Pflichten des Aufsichtsrats...........183 I. Einführung ......................................183 II. Insolvenzantragspflicht bei Führungslosigkeit .....................186 III. Überwachungspflicht .....................189 1. Inhalt ........................................189 2. Rechtsfolgen ............................190 IV. Pflichten im Rahmen der Restrukturierung.............................194

Schrifttum: Ahrens, Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Privatinsolvenzen und Zwangsvollstreckungen, NZI 2020, 345; Altmeppen, Die fortgesetzten Irrtümer über die Zahlungsverbote, ZIP 2021, 1; Altmeppen/Wilhelm, Quotenschaden, Individualschaden und Klagebefugnis bei der Verschleppung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH, NJW 1999, 673; Altmeppen, Insolvenzverschleppungshaftung Stand 2001, ZIP 2001, 2201; Bea/Dressler, Business Judgement Rule versus Gläubigerschutz? – Praktische Erwägungen zur Organhaftung im Kontext des StaRUG, NZI 2021, 67; Bitter, § 64 GmbHG – Neustart durch den Gesetzgeber erforderlich, Beilage zu ZIP 22/2016, 6;

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Poertzgen/Böcker

§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung Bitter, Corona und die Folgen nach dem COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG), ZIP 2020, 685; Bitter, Neues Zahlungsverbot in § 15b InsO-E und Streichung des § 64 GmbHG – Überraschender Fortschritt im Regierungsentwurf eines SanInsFoG, GmbHR 2020, 1157; Bitter, Geschäftsleiterhaftung in der Insolvenz – Alles neu durch SanInsFoG und StaRUG?, ZIP 2021, 321; Bittmann/Cramer, Insolvenzantrags- und Ersatzpflichten sowie Zahlungsverbote (Teil 2) – Neuerungen durch CoVInSAG und SanInsFoG nebst StaRUG (Teil 1 und 2), wistra 2022, 93, 149; Böcker, Primär- oder Sekundäranspruch aus einem Patronatsvertrag? DZWIR 2011, 93; Böcker/Poertzgen, Kausalität und Verschulden beim künftigen § 64 Satz 3 GmbHG, WM 2007, 1203; Brinkmann, Die Haftung der Geschäftsleiter in der Krise nach dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG), ZIP 2020, 2361; Brinkmann/Schmitz-Justen, D&O-Deckungsschutz bei Verstoß gegen insolvenzrechtliche Zahlungsverbote, ZIP 2021, 24; Brünkmans, Anforderungen an eine Sanierung nach dem COVInsAG – Pflichten von Geschäftsleitern, Gesellschaftern und Kreditgebern in der Corona-Krise, ZInsO 2020, 797; Brünkmans, Geschäftsleiterpflichten und Geschäftsleiterhaftung nach dem StaRUG und SanInsFoG, ZInsO 2021, 1, 125; Desch, Der neue Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen nach dem Regierungsentwurf StaRUG in der Praxis, BB 2020, 2498; Gehrlein, Die Auslegung des § 64 GmbHG im Spannungsfeld zwischen Gesellschaftsrecht und Insolvenzanfechtungsrecht, ZInsO 2015, 477; Gehrlein, Rechtliche Stabilisierung von Unternehmen durch Anpassung insolvenzrechtlicher Vorschriften in Zeiten der Corona-Pandemie, DB 2020, 713; Gehrlein, Das Gesetz über den Stabilisierungsund Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG) – ein Überblick, BB 2021, 66; Gehrlein, Der Überschuldungsbegriff – Irrungen und Wirrungen, GmbHR 2021, 183; Geißler, Verlängerung der Dreiwochenfrist des § 15a Abs. 1 InsO bei Insolvenz der GmbH?, ZInsO 2013, 167; Habersack/Foerster, Debitorische Konten und Massezuflüsse im Recht der Zahlungsverbote, ZGR 2016, 153; Hefendehl, Der Straftatbestand der Insolvenzverschleppung und die unstete Wirtschaft – Ausländische Gesellschaftsformen – faktische Organe – Führungslosigkeit, ZIP 2011, 601; Heinrich, Quo Vadis? – Die Insolvenzantragspflicht in Zeiten der COVID-19-Pandemie, NZI 2021, 71; Hölzle, Der perfekte Sturm – Wäre eine erneute Aussetzung der Insolvenzantragspflicht das Mittel der Wahl zur Bewältigung der Energiekrise?, ZIP 2022, 1945; Hölze/Schulenberg, Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und das Eigenverwaltungsverfahren nach SanInsFoG und COVInsAG – Was gilt wann?, ZIP 2020, 633; Jahn, Verzögerte Corona-Finanzhilfen und die Auswirkungen auf die Insolvenzantragspflicht, NZI 2021, 75; Jarchow/Hölken, Das Gesetz zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten Insolvenz sowie weitere Maßnahmen des Gesetzgebers und der Bundesregierung zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie, ZInsO 2020, 730; Kuntz, §§ 2, 3 StaRUGE: Gesetzlich verordnete bad corporate governance, ZIP 2020, 2423; Kuntz, Geschäftsleiterhaftung bei drohender Zahlungsunfähigkeit nach StaRUG, ZIP 2021, 597; Madaus/ Wessels, Stellungnahme vom 20.3.2020 für den Vorstand von CERIL zur COVID-19und insolvenzbezogenen Gesetzgebung – COVID-19 drängt Gesetzgeber zur Anpassung der Insolvenzgesetze, ZInsO 2020, 965; Mock, Schrankenlose Rückgewähr von CoronaGesellschafterdarlehen bei Insolvenzreife?, NZI 2020, 405; Mock, Unlimited Growth – Besonderheiten bei der Überschuldungsprüfung bei Start-up-Unternehmen?, BB 2022, 1929; Pape, Außerkraftsetzung des Insolvenzrechts auf Zeit Allheilmittel zur Überwindung der Folgen der COVID-19-Pandemie oder Verlängerung der Krise auf unbestimmte Dauer?, NZI 2020, 393; Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung, 2006; Poertzgen, Der einheitliche Quotenschaden bei Verstoß gegen § 64 Abs. 1 GmbHG, DZWiR 2007, 101; Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung bei GmbH und GmbH & Co. KG, GmbHR 2006, 1182; Poertzgen, Die künftige Insolvenzverschleppungshaftung nach dem MoMiG, GmbHR 2007, 1258; Poertzgen, Die künftige Insolvenzverschleppungshaftung nach dem MoMiG, NZI 2007, 15; Poertzgen, Die Haftung der Geschäftsleiter gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft wegen Insolvenzverschleppung, NZI 2010, 858; Poertzgen, Vorstandshaftung wegen Insolvenzverschleppung

Poertzgen/Böcker

813

§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung (§ 42 II BGB), NZG 2010, 772; Poertzgen, Die Geschäftsführerhaftung aus § 64 GmbHG de lege ferenda, ZInsO 2006, 561; Poertzgen, Die rechtsformneutrale Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) ZInsO 2007, 574; Poertzgen, Der 3-Wochen-Zeitraum im Rahmen der Antragspflicht (§ 15a InsO), ZInsO 2008, 944; Poertzgen, Organhaftung während des 3-Wochenzeitraums (§ 15a Abs. 1 InsO), ZInsO 2008, 1196; Poertzgen, Notwendige Korrektur der Beweislastverteilung bei § 64 GmbHG – Ein Zwischenruf aus der Praxis, ZInsO 2016, 1459; Poertzgen, Quo vadis § 64 GmbHG?, ZInsO 2016, 1182; Poertzgen, Notwendige Korrektur der Beweislastverteilung bei § 64 GmbHG, ZInsO 2016, 1459; Poertzgen, Bargeschäft und Gegenleistung: BGH locuta, causa finita?, ZInsO 2017, 2056; Poertzgen, Der Zweck heiligt die Mittel – ein Zwischenruf zum COVInsAG, ZInsO 2020, 825; Poertzgen, Insolvenzverschleppung in Zeiten von COVInsAG, StaRUG und SanInsFoG – Anmerkungen aus der Perspektive von Geschäftsführern und Vorständen, ZInsO 2020, 2509; Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise – Praxiswissen und Taktik für Geschäftsführer und Vorstände, 2. Aufl., 2021; Römermann, Insolvenzrecht im MoMiG, NZI 2008, 641; Schäfer, Zur Einbeziehung der Gesellschafter in ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren nach dem Regierungsentwurf eines „StaRUG“, ZIP 2020, 2164; Schluck-Amend, Änderungen im Insolvenzanfechtungsrecht durch das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz, NZI 2020, 289; Schluck-Amend/Hefner, Das StaRUG und seine Auswirkungen auf die Geschäftsleiterhaftung, ZRI 2020, 570 A. Schmidt/Poertzgen, Geschäftsführerhaftung (§ 64 Satz 1 GmbHG) in Zeiten des ESUG, NZI 2013, 369; K. Schmidt, Aufsichtsratshaftung bei Insolvenzverschleppung, GmbHR 2010, 1319; K. Schmidt, Konkursantragspflichten bei der GmbH und bürgerliches Deliktsrecht – Sanktions- und Koordinationsprobleme um § 64 GmbHG, JZ 1978, 661; K. Schmidt, Kein Abschied vom „Quotenschaden“ bei der Insolvenzverschleppungshaftung, NZI 1998, 9; K. Schmidt, Überschuldung und Unternehmensfortführung oder: per aspera ad astra, ZIP 2013, 485; Schönfelder, Die Bedeutung der Fortführungsprognose für das StaRUG-Verfahren – auf tobenden Wellen zwischen Skylla und Charybdis?, NZI 2022, 49; Scholz, Die Krisenpflichten von Geschäftsleitern nach Inkrafttreten des StaRUG, ZIP 2021, 219; Schulz, Haftungs- und Pflichtenregime für Geschäftsleiter in der Krise – Was bringt das SanInsFoG?, NZI 2020, 1073; Schulz/Rüsing, Haftungs- und Pflichtenregime für Geschäftsleiter in der Krise – Was bringt das SanInsFoG?, NZI 2021, 76; Seibt/Bulgrin, Entwurf zum Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG) – Kritische Analyse aus gesellschaftsrechtlicher Sicht, DB 2020, 2226; Thole, Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nach dem COVID-19-InsolvenzAussetzungsgesetz und ihre weiteren Folgen, ZIP 2020, 650; Thole, Der Entwurf des Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetzes (StaRUG-RefE) ZIP 2020, 1985; Weber/Nentwig, An gesetzliche Vorgaben angepasst: IDW überarbeitet die Standards IDW S 11 (Insolvenzeröffnungsgründe), IDW S 9 (Bescheinigung nach § 270d InsO) und schafft einen neuen Standard IDW S 15 (Stabilisierungsanordnung nach § 49 StaRUG), ZInsO 2022, 85.

A.

Einführung

1 Die Aktiengesellschaft gilt aufgrund ihrer Organisationsverfassung, den vergleichsweise hohen gesetzlichen Anforderungen an Kapitalaufbringung und – erhaltung sowie Publizitätserfordernissen gemeinhin als weniger insolvenzanfällig als andere juristische Personen oder Personenhandelsgesellschaften.1) Dennoch sind Insolvenzverfahren über das Vermögen von Aktiengesellschaften keineswegs unüblich. Zeichnet sich die Krise eines Unternehmens ab, das in ___________ 1)

814

Für wertvolle Unterstützung bei Recherche und Redaktion des folgenden Textes danken die Verfasser herzlich Herrn Erkan Kahraman, Frau Mirjam Thönes und Herrn Alessandro Saitta.

Poertzgen/Böcker

B. Begriff der Krise/Insolvenz

Form einer AG verfasst ist, so treffen den Vorstand und teilweise auch den Aufsichtsrat spezifische Handlungs- und Unterlassungspflichten, deren Verletzung eine weitgehende persönliche zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit der jeweiligen Organvertreter zur Folge haben kann. Das gilt auch während der Dauer eines Restrukturierungsvorhabens nach den Regeln des Anfang 2021 in Kraft getretenen Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz vom 22.12.2020, BGBl I, 3256 – StaRUG). Das StaRUG bietet krisenbelasteten Aktiengesellschaften eine sowohl vom Insolvenzverfahren als auch von einer rein außergerichtlichen Sanierung (workout) zu unterscheidende Restrukturierungsmöglichkeit, die jedoch insbesondere für Vorstandsmitglieder mit spezifischen Pflichten sowie zivil- und auch strafrechtlichen Haftungsrisiken einhergeht (Æ Rz. 166 ff.). Im Zentrum der krisen- bzw. insolvenzbezogenen Pflichten, die nachfolgend 2 behandelt werden, stehen die Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO, Æ Rz. 25 ff.) und das Zahlungsverbot nach Eintritt der Insolvenzreife (§§ 92 Abs. 2; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, Æ Rz. 112 ff.). Daneben gibt es weitere Krisenpflichten, die Mitglieder des Vorstands (Æ Rz. 7 f., 12, 15, 18 ff.) bzw. den Aufsichtsrat (Æ Rz. 183 ff.) treffen können. B.

Begriff der Krise/Insolvenz

I.

Einführung

Es gibt keinen einheitlichen Krisenbegriff. In der betriebswirtschaftlichen Lehre 3 und den einzelnen Rechtsgebieten werden unterschiedliche Krisenbegriffe verwendet bzw. Krisenstadien unterschieden.2) Aus dem Bürgerlichen Recht ist hier beispielhaft der Begriff der „wesentlichen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse“ (§ 490 BGB) zu nennen, aus dem Kapitalgesellschaftsrecht der Verlust der Hälfte oder mehr des satzungsmäßigen Kapitals (für die AG in § 92 Abs. 1 AktG). Im insolvenzrechtlichen Sinn liegt eine Krise (erst) dann vor, wenn die AG entweder zahlungsunfähig i. S. d. § 17 InsO (Æ Rz. 33 ff.) und/ oder überschuldet i. S. d. § 19 InsO ist (Æ Rz. 52 ff.). Der Zustand der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung wird auch als „materielle Insolvenz“ bezeichnet. Eine Vorstufe zur (tatsächlich eingetretenen) Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) bildet die drohende Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO (Æ Rz. 42 ff.). Eine entsprechende systematische Vorstufe zur insolvenzrechtlichen Überschuldung (§ 19 InsO) gibt es nicht. Auch das StaRUG definiert den Begriff der für die Restrukturierung relevan- 4 ten Krise nicht. Vielmehr knüpft das StaRUG an die Definition der Insolvenzgründe aus der InsO an, insbesondere indem § 29 Abs. 1 StaRUG die Restruk___________ 2)

Gottwald/Drukarczyk/Schöntag, InsO, § 2 Rz. 1 ff.

Poertzgen/Böcker

815

§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

turierungsinstrumente des StaRUG zum Zweck der „nachhaltigen Beseitigung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit“ (Æ Rz. 166 und Rz. 174) zur Verfügung stellt. II.

Krisenstadien als Auslöser für Vorstandspflichten

5 Spezifische Krisenpflichten des Vorstands werden durch den Eintritt eines Verlusts in Höhe der Hälfte des Grundkapitals (Æ Rz. 18 ff.) sowie durch den Eintritt der materiellen Insolvenz ausgelöst: sowohl die Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25 ff.) als auch die Masseerhaltungspflicht (Æ Rz. 110 ff.) knüpfen an den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) an. 6 Eine Pflicht zur Einleitung einer Restrukturierung nach dem StaRUG besteht nicht. Eine Restrukturierung kann eingeleitet werden, solange die AG nur drohend zahlungsunfähig (Æ Rz. 42), aber noch nicht tatsächlich zahlungsunfähig (Æ Rz. 33) oder überschuldet (Æ Rz. 52) ist. Bei Vorliegen materieller Insolvenz (Æ Rz. 31) ist die Restrukturierung von vorneherein unstatthaft, dann muss über das Instrument der Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25) ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden. Tritt tatsächliche Illiquidität und/oder Überschuldung dagegen während einer zunächst statthaften Restrukturierung nach dem StaRUG ein, muss dies dem zuständigen Restrukturierungsgericht unverzüglich angezeigt werden (Æ Rz. 173). Das Restrukturierungsgericht wird die Restrukturierung dann beenden, und die Insolvenzantragspflicht – die während der Dauer einer statthaften Restrukturierung suspendiert ist (§ 42 Abs. 1 StaRUG) – lebt wieder auf (§ 42 Abs. 4 StaRUG). C.

Pflichten des Vorstands

I.

Überwachungspflicht

7 Die Mitglieder des Vorstands der AG sind zur permanenten Überwachung der Vermögens- und Finanzverhältnisse der Gesellschaft verpflichtet.3) In der Krise verdichtet sich diese Überwachungspflicht zu einer Krisenbeobachtungspflicht. Die ordnungsgemäße Erfüllung der Krisenbeobachtungspflicht dient gleichermaßen der Erfüllung der vom Vorstand wahrzunehmenden Sanierungspflicht (Æ Rz. 12, 65 ff.), als Vorstufe der zwingenden gesetzlichen Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO (Æ Rz. 25 ff.) sowie der Beachtung des Zahlungsverbots gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) (Æ Rz. 112 ff.). 8 Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG normiert diese Überwachungspflicht als Selbstprüfungspflicht hinsichtlich bestandsgefährdender Entwicklungen ausdrücklich. Danach hat der Vorstand fortlaufend über Entwicklungen ___________ 3)

816

Hüffer/Koch, § 92 Rz. 25.

Poertzgen/Böcker

C. Pflichten des Vorstands

zu wachen, welche den Fortbestand der juristischen Person gefährden können (Überwachungspflicht). Erkennen sie solche Entwicklungen, ergreifen sie geeignete Gegenmaßnahmen (Handlungs- und Sanierungspflicht (Æ Rz. 12)) und erstatten den zur Überwachung der Geschäftsleitung berufenen Organen (dem Aufsichtsrat) unverzüglich Bericht (Berichts- und Dokumentationspflicht (Æ Rz. 15)). Berühren die zu ergreifenden Maßnahmen die Zuständigkeiten anderer Organe, wirken die Geschäftsleiter unverzüglich auf deren Befassung hin. Die Überwachungspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG bleibt hinter der 9 Pflicht des § 91 Abs. 2 AktG zurück, ein Überwachungssystem einzurichten.4) Ein Normkonflikt ist damit nicht verbunden. Denn nach § 1 Abs. 3 StaRUG bleiben weitergehende Pflichten, die sich aus anderen Gesetzen ergeben, unberührt. Die Rechtsfolgen einer Verletzung des § 1 StaRUG sind selbst nicht im Sta- 10 RUG geregelt. Sie richten sich nach allgemeinen Regelungen des Gesellschaftsrechts (§ 93 Abs. 2 AktG). Die Gesellschaft ist aktivlegitimiert, den Anspruch geltend zu machen. Ob § 1 StaRUG Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der Gläubiger der Gesellschaft ist, ist noch nicht durch die Rechtsprechung entschieden. Die §§ 2, 3 StaRUG (RegE), die eine doppelte Haftung bei einer Pflichtverletzung gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den Gläubigern enthielten, sind jedenfalls nicht Gesetz geworden. Insofern bleibt es zunächst bei drohender Zahlungsunfähigkeit bei den Sorgfaltsmaßstäben für den Vorstand des Gesellschaftsrechts aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und der „business judgment rule“. Verfügen die Vorstandsmitglieder nicht selbst über ausreichende Kenntnisse 11 für die Prüfung der wirtschaftlichen Situation der AG, insbesondere das Vorliegen von Insolvenzgründen, so sind sie berechtigt und auch verpflichtet, unverzüglich sachkundigen Rat einzuholen (Æ Rz. 63 f.).5) Die entsprechende Pflicht zur Inanspruchnahme qualifizierter Beratung stellt eine Annexpflicht nicht nur zur Überwachungspflicht dar, sondern auch zu sämtlichen nachfolgend zu erläuternden Krisenpflichten. II.

Sanierungspflicht

Gesellschaftsrechtlich sind die Mitglieder des Vorstands zur vorausschauenden 12 Vermeidung von Krisen des von der AG betriebenen Unternehmens und, falls sich eine solche Krise abzeichnet, zu deren Abwendung verpflichtet. Die entsprechende Sanierungspflicht besteht im Interesse der Gesellschaft bzw. ihrer ___________ 4) 5)

Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 103; Scholz, ZIP 2021, 219 (229). BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 (Rz. 16); BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 (Rz. 16); BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (199) = ZIP 1994, 1103 (1109).

Poertzgen/Böcker

817

§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

Aktionäre. Es handelt sich um eine Ausprägung der allgemeinen organschaftlichen Sorgfaltspflicht und leitet sich dementsprechend allgemein aus § 93 Abs. 2 AktG ab (Æ Rz. 27). Die Sanierungspflicht gebietet die pflichtgemäße Prüfung sämtlicher in Betracht kommenden Sanierungsmaßnahmen und deren Umsetzung. Wird die Krise der AG im insolvenzrechtlichen Sinn relevant, sind geeignete Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Abwendung von Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung gemäß § 19 InsO (Æ Rz. 52 ff.) zu ergreifen (Æ Rz. 7 f., 12, 18 ff.). 13 Daneben wird die Sanierungspflicht in § 1 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 StaRUG ausdrücklich formuliert, die mit der Pflicht zur Ergreifung von Gegenmaßnahmen beschrieben wird. 14 Die Fragen, ob und ab welchem Stadium der Krise die Geschäftsleiter die Gläubigerinteressen zu berücksichtigen haben und ab wann ein Wandel der Interessenausrichtung in der Krise weg von den Gesellschaftern (shareholder value), der Gesellschaft und dem Unternehmensinteresse (Arbeitnehmer, Öffentlichkeit, Rentabilität, langfristige Unternehmenswertsteigerung) hin zu den Gläubigern eintritt („shift of (fiduciary) duties“), bleiben offen, da § 2 StaRUGE, der eine allgemeine Verpflichtung der Geschäftsleiter und Aufsichtsräte auf das Gläubigerinteresse bereits ab drohender Zahlungsunfähigkeit i. S. v. § 18 InsO vorsah, nicht Gesetz geworden ist.6) Lediglich ab Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache ist bei drohender Zahlungsunfähigkeit jedenfalls eine ausdrückliche Ausrichtung auf das Gläubigerinteresse erforderlich (§§ 32 Abs. 1 Satz 1, 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG). Es bleibt somit die Frage de lege lata, ob die Wahrung der Gläubigerinteressen zukünftig im Rahmen der gesellschaftsrechtlich verankerten Sanierungspflicht des § 93 AktG (ungeschrieben) zu berücksichtigen ist. Dies würde allerdings einen Bruch mit dem herkömmlichen gesellschaftsrechtlichen Verständnis bedeuten.7) Jedenfalls statuieren § 1 und § 43 StaRUG und § 276a Abs. 2 und 3 InsO tendenziell eine Vorverlagerung des Gläubigerschutzes.8) III.

Pflicht zur Information des Aufsichtsrats und anderer Organe

15 Die allgemeine Pflicht des Vorstands zur Information des Aufsichtsrats gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 AktG bezieht sich insbesondere auch auf die Krise und In___________ 6) 7)

8)

818

Bitter, ZIP 2021, 321 (322); Thole, ZIP 2020, 1985 (1987); Kuntz, ZIP 2020, 2423; ders., ZIP 2021, 597 (607); Scholz, ZIP 2021, 219 f. Gehrlein, BB 2021, 66 (67); a. A. Scholz, ZIP 2021, 219 (220). Kritisch Kuntz, ZIP 2021, 597 f. (600, 602, 610); die Streichung des § 2 StaRUG-E begründete der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz damit, dass eine etwaige Haftungslücke durch die gesellschaftsrechtlichen Pflichten und Haftungsregelungen aufgefangen würde, BT-Drucks. 19/25353, S. 6 (Vorabfassung). Poertzgen, ZInsO 2020, 2509 (2510 f.); Brünkmans, ZInsO 2021, 125 (126); Bitter, ZIP 2021, 321.

Poertzgen/Böcker

C. Pflichten des Vorstands

solvenz der AG und die damit im Zusammenhang stehenden Maßnahmen und Überlegungen des Vorstands. Die entsprechende Information des Aufsichtsrats ist die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Überwachungspflicht des Aufsichtsorgans (Æ Rz. 183); ausführlich zu den Berichtspflichten des Vorstands und korrespondierend den Informationsrechten des Aufsichtsrats im Allgemeinen (Æ § 3 Rz. 111 ff.). In § 1 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 StaRUG wird diese Pflicht ausdrücklich normiert. 16 Ohne schuldhaftes Zögern hat der Vorstand dem Aufsichtsrat über Entwicklungen, die den Fortbestand der AG gefährden können, und ggf. ergriffene Gegenmaßnahmen Bericht zu erstatten. Daneben hat der Vorstand gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 StaRUG andere Organe 17 (z. B. die Hauptversammlung), wenn die zu ergreifenden Maßnahmen die Zuständigkeiten dieser Organe berühren, unverzüglich zu informieren, damit diese sich im Rahmen ihrer Zuständigkeit damit befassen können. Weitere maßnahmenunabhängige Einberufungspflichten, insbesondere bei erheblichen Verlusten gemäß § 92 Abs. 1 AktG, bleiben nach § 1 Abs. 3 StaRUG unberührt.9) IV.

Pflicht zur Einberufung und Information der Hauptversammlung

1.

Einführung

Gemäß § 92 Abs. 1 AktG ist der Vorstand verpflichtet, bei hälftigem Verlust 18 des Grundkapitals der AG die Hauptversammlung einzuberufen (Einberufungspflicht) und ihr den Verlust anzuzeigen (Anzeigepflicht). Der Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals wirkt hier unabhängig von der konkreten Situation der jeweiligen AG als abstrakt-genereller Gradmesser für das Vorliegen bzw. die Tiefe der Krise. Anders als im Überschuldungsstatus (Æ Rz. 53 f.) kommt es insoweit auf die Ansatz- und Bewertungsregeln der Handelsbilanz an.10) Die in § 92 Abs. 1 AktG formulierte Pflicht dient der Information und War- 19 nung der Aktionäre. Diese sollen als wirtschaftliche Inhaber die Möglichkeit bekommen, Maßnahmen zur Abwendung der Krise zu beschließen.11) Die Anzeigepflicht dient nicht primär, sondern allenfalls als Reflex der Information der Öffentlichkeit bzw. des Kapitalmarkts.12) 2.

Unverzügliche Information der Aktionäre

Die Hauptversammlung muss unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern 20 i. S. d. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB einberufen werden. Die Tagesordnung der einzuberufenden Hauptversammlung muss deutlich erkennen lassen, dass in der ___________ 9) 10) 11) 12)

Dazu Scholz, ZIP 2021, 219 (230). BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 8. Hüffer/Koch, § 92 Rz. 1. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 4.

Poertzgen/Böcker

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

Hauptversammlung die Verlustanzeige gemäß § 92 Abs. 1 AktG erfolgen soll.13) Die Behandlung weiterer Tagesordnungspunkte ist zulässig. Soweit schon ein Insolvenzantrag gestellt worden ist, bedarf es der Einberufung der Hauptversammlung gemäß § 92 Abs. 1 AktG nach h. M. nicht mehr.14) 21 Die durch § 92 Abs. 1 AktG normierte Anzeigepflicht wird nicht schon durch die Bekanntmachung der Tagesordnung erfüllt.15) Vielmehr muss die Verlustanzeige in der Hauptversammlung erfolgen. 3.

Rechtsfolgen bei Pflichtverletzung

22 Eine Verletzung der Einberufungs- und Anzeigepflicht begründet eine Haftung des Vorstands gegenüber der AG, und zwar aus § 93 Abs. 2 AktG und der insoweit parallelen Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 2 BGB.16) 23 Dagegen ist § 92 Abs. 1 AktG kein Schutzgesetz zugunsten der Gläubiger der AG, da diese nicht vom Schutzzweck der Einberufungs- und Anzeigepflicht erfasst sind (Æ Rz. 19).17) 24 Es ist umstritten, ob § 92 Abs. 1 AktG ein Schutzgesetz zugunsten der Aktionäre ist. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies – entgegen prominenter Stimmen in der Literatur – im Ergebnis zu verneinen.18) Zunächst soll durch die Einberufungs- und Anzeigepflicht die Information und Handlungsfähigkeit der Hauptversammlung als Organ interner Willensbildung der AG und nicht einzelner Aktionäre sichergestellt werden. Vor allem aber dürfte der etwaige Schaden einzelner Gesellschafter Bestandteil des der AG zu ersetzenden Schadens sein (Æ Rz. 137 f.). Erst nach Eintritt der materiellen Insolvenzreife ist ein schadensrechtlicher Perspektivwechsel von der AG hin zu den Aktionären geboten (Æ Rz. 95 ff.). Solange „nur“ die Hälfte des satzungsmäßigen Kapitals verloren ist, müssen Schäden als Folge von Pflichtverletzungen des Vorstands entsprechend der gesetzlichen Grundregel (§ 93 Abs. 2 AktG) zur Vermeidung eines Gläubigerwettlaufs über das Gesellschaftsvermögen liquidiert werden. V.

Insolvenzantragspflicht

25 Die Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) ist die wichtigste insolvenzbezogene Pflicht des Vorstands. Ausnahmsweise kann die Antragspflicht gemäß § 15a ___________ 13) 14) 15) 16) 17)

MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 18. Hüffer/Koch, § 92 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 11. Hüffer/Koch, § 92 Rz. 5. Hölters/Müller-Michaels, § 92 Rz. 29. BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 211/76, BGHZ 75, 96, 110 f. = NJW 1979, 1823, 1931 „Herstatt“. 18) So auch Hölters/Müller-Michaels, § 92 Rz. 29; Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, § 92 Rz. 12; a. A. Hüffer/Koch, § 92 Rz. 26; MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 20; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 18.

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Poertzgen/Böcker

C. Pflichten des Vorstands

Abs. 3 Satz 1 InsO auch vom Aufsichtsrat zu erfüllen sein (Æ Rz. 86 f., 186 f.). Eine Verletzung der Antragspflicht kann für die antragsverpflichteten Organvertreter schwerwiegende persönliche zivil- und strafrechtliche Konsequenzen haben (Æ Rz. 88, 95 ff; zu möglichen Straftaten in der Unternehmenskrise Æ § 21 Rz. 119 ff.). 1.

Schutzzweck

Die Insolvenzantragspflicht besteht zum Schutz der Gläubiger der AG.19) Da 26 den Gläubigern als Haftungsmasse lediglich das Gesellschaftsvermögen zur Verfügung steht (§ 1 AktG), muss bei Eintritt der Insolvenzreife entweder kurzfristig die Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) oder die Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) beseitigt werden. Alternativ muss zwingend ein staatlich überwachtes Gesamtvollstreckungsverfahren eingeleitet werden. Die Insolvenzantragspflicht ist ein spezifisches Schutzinstrument an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft- und Insolvenzrecht und Ausfluss des Prinzips der Fremdorganschaft: da den Gläubigern nur ein gegenständlich beschränktes Vermögen haftet, muss bei dessen weitgehender Aufzehrung (Insolvenz) das für dieses Vermögen verantwortliche (Geschäftsführungs-)Organ im Interesse der Gläubiger tätig werden (Sanierung oder Antragstellung) und für die Erfüllung dieser Pflicht persönlich einstehen. 2.

Abgrenzung zur Sanierungspflicht

Bis zu dem Moment, in dem die Insolvenzantragspflicht zu erfüllen ist, sind die 27 Mitglieder des Vorstands gemäß § 93 Abs. 2 AktG zur Sanierung des von der AG betriebenen Unternehmens verpflichtet (Æ Rz. 12, 13). Insoweit ist dem Vorstand eine punktgenaue Abgrenzung zwischen der Erfüllung der Sanierungspflicht einerseits und der Insolvenzantragspflicht andererseits aufgebürdet. Die Stellung eines Insolvenzantrages vor Entstehung der Antragspflicht ist zwar insolvenzrechtlich bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO, Æ Rz. 42 ff.) gemäß § 15 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 18 Abs. 3 InsO zulässig, kann jedoch gemäß § 93 Abs. 2 AktG eine Haftung des Vorstands auslösen, wenn eine Sanierung der Gesellschaft auch ohne Stellung eines Insolvenzantrages möglich gewesen wäre. Die Insolvenzantragspflicht ist jedoch als zwingende gesetzliche Verpflich- 28 tung unbedingt zu erfüllen, sobald ihre tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen (Æ Rz. 31) und die tatsächliche Erfüllung der Pflicht nicht länger suspendiert ist (Æ Rz. 65 f.). Ab diesem Moment geht die Insolvenzantragspflicht der Sanierungspflicht vor. Allerdings endet der Vorrang der Insolvenzantragspflicht in dem Moment, in dem die Antragspflicht ordnungsgemäß erfüllt wird ___________ 19) Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 3 m. w. N.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

(Æ Rz. 30, 65 f.). Nach Erfüllung der Antragspflicht tritt die Pflicht zur Sanierung bzw. zur Mitwirkung an einer Sanierung im Rahmen der dann bestehenden insolvenzrechtlichen Gegebenheiten wieder in den Vordergrund. Die Pflicht zur Sanierung bzw. zur Mitwirkung an einer Sanierung umfasst die Unterstützung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters im Regelinsolvenzverfahren bzw. die (vorläufige) Eigenverwaltung bzw. das Planinsolvenzverfahren. 29 Nach modernem Verständnis kann die Erfüllung der Insolvenzantragspflicht auch bereits ein erster Sanierungsschritt sein (siehe § 1 Satz 1 2. Var. InsO sowie das Konzept des Insolvenzplans als Sanierungsinstrument, §§ 217 ff. InsO) und erfüllt damit auch eine etwaige bestehende Sanierungspflicht. Dieser Gedanke gilt erst recht seit der Einführung des Restrukturierungsverfahrens (Æ Rz. 1). 3.

Inhalt und Entstehung der Antragspflicht

30 Inhaltlich gebietet die Insolvenzantragspflicht die rechtzeitige Stellung eines der Form der §§ 13, 15 Abs. 2 InsO genügenden Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei dem gemäß § 3 InsO örtlich zuständigen Insolvenzgericht. Aufgrund des Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen vom 13. April 2017 (BGBl I 2017, 866) kann sich für Gesellschaften einer Unternehmensgruppe i. S. v. § 3e InsO eine von der Zuständigkeit gemäß § 3 InsO abweichende Gerichtszuständigkeit durch den sog. GruppenGerichtsstand gemäß §§ 3a ff. InsO ergeben. Betreibt die AG ihr Unternehmen in mehreren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, ergibt sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte aus Art. 3 EuInsVO.20) 31 Die Insolvenzantragspflicht entsteht materiell-rechtlich in dem Moment, in dem die AG zahlungsunfähig gemäß § 17 InsO und/oder überschuldet i. S. v. § 19 InsO ist. Das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) wird auch als „Insolvenzreife“ oder als „materielle Insolvenz“ bezeichnet. In der Sache handelt es sich um einen Zustand, in dem definitionsgemäß eine (Liquiditäts- und/oder Vermögens-) Insuffizienz der Gesellschaft zur kurzfristigen Befriedigung sämtlicher Verbindlichkeiten vorliegt (Æ Rz. 33). 32 Die Entstehung der Insolvenzantragspflicht bedeutet nicht zwingend, dass ein Insolvenzantrag tatsächlich unmittelbar gestellt werden muss. Denn trotz Entstehung kann die Erfüllung der Antragspflicht vorübergehend suspendiert sein (Æ Rz. 69, 72 ff.).

___________ 20) MünchKommBGB/Kindler, EuInsVO, Art. 3 Rz. 1 ff.

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C. Pflichten des Vorstands

4.

Insolvenzreife

a)

Zahlungsunfähigkeit

aa)

Einführung

Die Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO ist der allgemeine, also der für 33 Schuldner sämtlicher Rechtsformen und damit auch der für die AG maßgebliche Insolvenzgrund. Die AG ist zahlungsunfähig, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 InsO). Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO begründet die Zahlungseinstellung eine (widerlegliche) Vermutung für das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit. Das Vorliegen einer Zahlungseinstellung ist anhand objektiver Kriterien zu be- 34 urteilen.21) Eine lediglich subjektive Zahlungsunwilligkeit ist insolvenzrechtlich grundsätzlich irrelevant.22) Zeigt der Schuldner jedoch ein nach außen hervortretendes Verhalten, in dem sich typischerweise ausdrückt, dass er zur Erfüllung seiner fälligen Verbindlichkeiten nicht in der Lage ist, so kann auch dann eine Zahlungseinstellung i. S. v. § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO vorliegen, wenn der Schuldner tatsächlich nur zahlungsunwillig ist.23) Das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO ist Tatbestandsvor- 35 aussetzung sowohl für die Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO (Æ Rz. 25 ff.) als auch für das Zahlungsverbot gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) (Æ Rz. 112 ff.). bb)

Merkmal der Fälligkeit

Die Prüfung des Vorliegens von Zahlungsunfähigkeit ist ein (kurzfristiger) Li- 36 quiditätstest, bei dem auf die fälligen (und überfälligen) Verbindlichkeiten der AG abzustellen ist. Die Fälligkeit gemäß § 271 BGB ist das zentrale Kriterium für die Frage, ob die fragliche Verbindlichkeit im Rahmen des Liquiditätstests nach § 17 InsO zu berücksichtigen ist. Nicht bzw. noch nicht fällige Verbindlichkeiten sind grundsätzlich nicht im Rahmen des Tests nach § 17 InsO, sondern allenfalls im Rahmen der Prüfung drohender Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO zu berücksichtigen (Æ Rz. 42 f.). Allerdings ist im Rahmen der Prüfung nach § 17 InsO nach der Rechtsprechung des BGH (Æ Rz. 38) neben einer stichtagsbezogenen Prüfung (Finanzstatus) zusätzlich auch eine perspektivische Untersuchung der künftigen Liquiditätssituation (Finanzplan) vorzunehmen.24) ___________ 21) BGH, Urt. v. 24.3.2016 – IX ZR 242/13, ZIP 2016, 874; BGH, Urt. v. 20.11.2001 – IX ZR 48/01, BGHZ 149, 178 (184 f.) = ZIP 2002, 87 (90 f.). 22) BGH, Beschl. v. 10.7.2014 – IX ZR 287/13, ZInsO 2014, 1661 (1662). 23) BGH, Urt. v. 12.10.2017 – IX ZR 50/15, ZIP 2017, 2368. 24) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (141, 145) = ZIP 2005, 1426 (1428).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

Insoweit sind auch kurzfristig fällig werdende Verbindlichkeiten im Rahmen der Liquiditätsprüfung nach § 17 InsO zu berücksichtigen (Æ Rz. 39).25) cc)

Ernsthaftes Einfordern

37 Zusätzlich zum Merkmal der Fälligkeit muss nach der Rechtsprechung des BGH, der insoweit auf das bereits unter Geltung der Konkursordnung (bis 31.12.1998) maßgebliche Verständnis zurückgreift, die in Frage stehende Verbindlichkeit „ernsthaft eingefordert“ werden.26) Fehlt es an einem solchen „ernsthaften Einfordern“ durch den Gläubiger der Forderung, darf die Forderung trotz fortbestehender Fälligkeit bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO außer Betracht bleiben. Insoweit ist allerdings Vorsicht geboten, da die Voraussetzungen für die positive Annahme eines „ernsthaften Einforderns“ denkbar gering sind. Beispielsweise reicht das Versenden einer Rechnung über die Forderung bereits aus.27) dd)

Abgrenzung zur Zahlungsstockung

38 Nach den amtlichen Leitsätzen des Grundsatzurteils des BGH vom 24.5.200528) ist eine – insolvenzrechtlich als solche unerhebliche – bloße Zahlungsstockung anzunehmen, wenn der Zeitraum nicht überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um sich die benötigten Mittel zu leihen. Dafür erscheinen drei Wochen erforderlich, aber auch ausreichend.29) Beträgt eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners weniger als 10 % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird.30) Beträgt die Liquiditätslücke des Schuldners 10 % oder mehr, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast voll-

___________ 25) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283; BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (137 f.) = ZIP 2005, 1426 (1427 f.). 26) BGH, Beschl. v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, BGHZ 173, 286 (Rz. 14) = ZIP 2007, 1666 (Rz. 14); BGH, Urt. v. 30.4.1992 – IX ZR 176/91, BGHZ 118, 171 (174) = ZIP 1992, 778 (779). 27) BGH, Urt. v. 8.10.1998 – IX ZR 337/97, ZIP 1998, 2008 (2009). 28) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (139 ff.) = ZIP 2005, 1426 (1428). 29) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (139) = ZIP 2005, 1426 (1428). 30) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (145) = ZIP 2005, 1426 (1430); Hüffer/Koch/Koch, § 92 Rz. 11; Hölters/Müller-Michaels, § 92 Rz. 16; MünchKommAktG/ Spindler, § 92 Rz. 51.

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C. Pflichten des Vorstands

ständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.31) Bei der Prüfung des Vorliegens von Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 Abs. 2 39 Satz 1 InsO sind im Rahmen der perspektiven Prüfung (Æ Rz. 34) auch die innerhalb von drei Wochen nach dem Stichtag fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten (allgemein bezeichnet als „Passiva II“) zu berücksichtigen.32) ee)

Beweislast

Hat der Insolvenzverwalter zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit der Gesell- 40 schaft einen Liquiditätsstatus erstellt, der auf der Buchhaltung der AG basiert, so kann der Vorstand den Vortrag des Verwalters nicht mit der pauschalen Behauptung bestreiten, die Buchhaltung sei nicht ordnungsgemäß geführt worden. Vielmehr muss der Vorstand im Einzelnen darlegen und beweisen, welche der eingebuchten Verbindlichkeiten zu den fraglichen Zeitpunkten nicht fällig bzw. nicht ernsthaft eingefordert gewesen sein sollen.33) ff)

Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit

Kurzfristig kann eine Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO insbesondere 41 durch die Erklärung einer am Merkmal der Fälligkeit ansetzenden Stundung oder einem (ggf. vorübergehenden) Verzicht auf das ernsthafte Einfordern der Forderung abgewendet werden. Eine (harte) Patronatserklärung beseitigt die Zahlungsunfähigkeit dagegen nicht automatisch,34) sondern nur dann, wenn sie ausdrücklich auch liquidiätswirksam ausgestaltet ist („Liquiditätspatronat“).35) gg)

Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit

(1)

Begriff der drohenden Zahlungsunfähigkeit

Die drohende Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO ist kein eigenständiger 42 Insolvenzgrund, sondern eine Vorstufe zur Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO. Die AG ist drohend zahlungsunfähig, wenn sie voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten bei Fälligkeit zu erfüllen (§ 18 Abs. 2 InsO).

___________ 31) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rz. 10; BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (145) = ZIP 2005, 1426 (1430). 32) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283 (Rz. 33). 33) BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283. 34) BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, ZIP 2011, 1111 ff. 35) BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, ZIP 2011, 111 (Rz. 21); Böcker, DZWIR 2011, 93, Fn. 11.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

(2)

Auswirkung drohender Zahlungsunfähigkeit

43 Das Vorliegen von lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO löst als solche weder die Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO (Æ Rz. 25, 31) noch das Zahlungsverbot gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) (Æ Rz. 112 ff.) aus. Die drohende Zahlungsunfähigkeit begründet lediglich ein (Eigen-) Antragsrecht der AG gemäß § 15 InsO i. V. m. § 18 Abs. 1 InsO. Ein nicht aufgrund der Antragspflicht und trotz bestehender Sanierungsmöglichkeit gestellter Insolvenzantrag kann eine Haftung des Vorstands wegen Verletzung der Sanierungspflicht gemäß § 93 Abs. 2 AktG, § 1 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 StaRUG auslösen (Æ Rz. 27, 72). 44 Daneben stellt die drohende Zahlungsunfähigkeit gemäß § 29 Abs. 1 StaRUG das Eintrittstor bzw. die Eintrittsschwelle in das Stabilisierungs- und Restrukturierungsverfahren (Æ Rz. 93, 166) dar. Auch für die Einleitung des Restrukturierungsverfahrens ist es empfehlenswert, dass der Vorstand zuvor einen entsprechenden Beschluss der Gesellschafter herbeiführt, weil er sich anderenfalls dem Risiko einer Haftung gegenüber den Aktionären aussetzt. (3)

Prognose

45 Nach seinem Wortlaut stellt § 18 InsO allein auf die künftige Fälligkeit bestehender Verbindlichkeiten ab. Insoweit ist der Gesetzestext zu eng gefasst. Drohende Zahlungsunfähigkeit kann ebenso vorliegen, wenn Zahlungspflichten erst künftig entstehen werden und die AG bei deren Fälligwerden in der Zukunft voraussichtlich nicht zur Erfüllung in der Lage sein wird.36) 46 Das Merkmal der voraussichtlichen Unfähigkeit zur Erfüllung der Zahlungspflichten bei Fälligkeit ist erfüllt, wenn die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO (Æ Rz. 33 ff.) über 50 % liegt, wenn also der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlicher ist als der Nichteintritt.37) 47 Der Streit38) um die Länge des für die Prüfung gemäß § 18 InsO maßgeblichen Prognosezeitraums ist mit der Einführung des Satzes 2 in § 18 Abs. 1 InsO zum 1.1.2021 entfallen. Danach ist „in aller Regel“ ein Prognosezeitraum von 24 Monaten zugrunde zu legen. Dies entspricht der früheren herrschenden Meinung, die den Prognosezeitraum in Anlehnung an die Länge der Fortführungsprog-

___________ 36) BGH, Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 95/13, ZIP 2014, 1289 (Rz. 11 ff.). 37) OLG Hamm, Urt. v. 23.9.2014 – I-27 U 149/13, ZInsO 2014, 2275 (2277 f.); OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121 (1123). 38) Zum Meinungsstand vgl. Uhlenbruck/Mock, InsO, § 18 Rz. 24; K. Schmidt/K. Schmidt, InsO, § 18 Rz. 27.

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C. Pflichten des Vorstands

nose bei § 19 a. F. InsO auf zwei Jahre ab Prognoseerstellung (bzw. auf das laufende und nächste folgende Geschäftsjahr39) bemaß.40) In der Formulierung „in der Regel“ schwingt mit, dass es sich bei den 24 Monaten 48 um eine „Faustformel“ handelt, die den grundsätzlich betriebswirtschaftlich überschaubaren Zeitraum eingrenzen soll. Im Einzelfall können längere oder kürzere Zeiträume unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Schuldners oder seines Geschäftsbetriebs angezeigt sein.41) (4)

Einzelheiten

Die Vorstandsmitglieder, die wegen drohender Zahlungsunfähigkeit einen In- 49 solvenzantrag stellen, müssen nach Maßgabe des § 18 Abs. 3 InsO vertretungsbefugt sein. Im Übrigen muss der Antrag gemäß § 15 Abs. 2 InsO zulässig sein. Teilweise stellt das Gesetz für bestimmte insolvenzrechtliche Wirkungen, bei- 50 spielsweise die Einleitung eines Schutzschirmverfahrens gemäß § 270b InsO, darauf ab, dass der Schuldner noch nicht zahlungsunfähig i. S. v. § 17 InsO, sondern allenfalls drohend zahlungsunfähig gemäß § 18 InsO ist. Zur Vermeidung bzw. Abwendung drohender Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 51 InsO dienen grundsätzlich dieselben Maßnahmen wie zur Vermeidung bzw. Abwendung von Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO (Æ Rz. 7 f., 12, 18 ff.). b)

Überschuldung

aa)

Einführung

Die Überschuldung gemäß § 19 InsO ist neben dem allgemeinen Insolvenz- 52 grund der Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) ein weiterer, rechtsformspezifischer Insolvenzgrund, der gemäß § 19 Abs. 1 und 3 InsO für juristischen Personen wie die AG und teilrechtsfähige Personengesellschaften ohne eine wenigstens mittelbar akzessorisch haftende natürliche Person Anwendung findet. Eine Überschuldung der AG liegt gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, wenn das Vermögen der Gesellschaft die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des von der AG betriebenen Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Das Vorliegen einer Überschuldung gemäß § 19 InsO ist Tatbestandsvoraussetzung sowohl für die Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO (Æ Rz. 25 ff.) als auch für das Zahlungsverbot gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) (Æ Rz. 112 ff.). ___________ 39) Steffan/Solmecke, WPg 2015, 429 (433). 40) Uhlenbruck/Mock, InsO, § 18 Rz. 24; Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO § 18 Rz. 6. 41) Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 196.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

bb)

Abgrenzung zur Handelsbilanz

53 Die insolvenzrechtliche Überschuldung gemäß § 19 InsO ist von der handelsbilanziellen Überschuldung zu unterscheiden. Spätestens das Auftreten einer handelsbilanziellen Überschuldung gibt Anlass, das Vorliegen einer insolvenzrechtlichen Überschuldung gemäß § 19 InsO zu prüfen.42) cc)

Vermögenstest

54 Die Prüfung des Vorliegens einer Überschuldung gemäß § 19 InsO ist im Unterschied zum Liquiditätstest nach § 17 InsO ein Vermögenstest (allerdings Æ Rz. 36), bei dem auf das bestehende Vermögen und die entstandenen Verbindlichkeiten abzustellen ist. Auf die Fälligkeit der Verbindlichkeiten kommt es bei § 19 InsO nicht an. Bei streitigen Verbindlichkeiten ist eine Rückstellung entsprechend der Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Inanspruchnahme zu bilden.43) Forderungen, für die ein Rangrücktritt gemäß §§ 19 Abs. 2 Satz 2; 39 Abs. 2 InsO erklärt worden ist, dürfen bei der Prüfung der Überschuldung gemäß § 19 InsO außer Betracht bleiben.44) dd)

Bedeutung der Fortführungsprognose

55 Die Regelung des § 19 InsO hat ihre aktuelle Fassung durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG) von Oktober 2008 erhalten. Sie war zunächst befristet eingeführt, ist 2012 jedoch entfristet worden und seither die allein maßgebliche Formulierung des insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffs.45) Nach der früheren Gesetzesfassung (§ 19 InsO a. F.) war das Vorliegen einer Überschuldung durch eine rechnerische Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden zu ermitteln, wobei die Fortführungsprognose allein für die Art der Bewertung von Aktiva und Passiva maßgeblich war.46) War die Prognose positiv, durften Fortführungswerte (going concern) angesetzt werden; war sie dagegen negativ, mussten Liquidationswerte verwendet werden.47) Nach der aktuellen Fassung des § 19 InsO reicht dagegen bereits das Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose als solches, damit die AG nicht insolvenzrechtlich überschuldet ist.48) Das Nichtvorliegen einer Überschuldung kann aber weiterhin auch durch eine rechnerische Überschuldungsprüfung nachgewiesen werden.49) ___________ 42) 43) 44) 45) 46)

BGH, Urt. v. 15.3.2011 – II ZR 204/09, ZIP 2011, 1007 (Rz. 33). BGH, Urt. v. 22.9.2003 – II ZR 229/02, ZIP 2003, 2068 f. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 (Rz. 14) = ZIP 2015, 638 (Rz. 14). K. Schmidt/K. Schmidt, InsO, § 19 Rz. 5; Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 485 ff. OLG Naumburg, Urt. v. 20.8.2003 – 5 U 67/03, ZInsO 2004, 512, 513; HambKommInsO/Schröder, § 19 Rz. 9 f. 47) Nerlich/Römermann/Mönning, InsO, § 19 Rz. 25 ff. 48) Uhlenbruck/Mock, InsO, § 19 Rz. 41. 49) Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 489; Uhlenbruck/Mock, InsO, § 19 Rz. 42.

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C. Pflichten des Vorstands

ee)

Inhalt der Fortführungsprognose

Die AG hat eine positive Fortführungsprognose, die teilweise auch als Fortbe- 56 stehensprognose50) bezeichnet wird, wenn die Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich, also von größerer Wahrscheinlichkeit als die (insolvenzbedingte) Einstellung des Geschäftsbetriebs ist.51) Die Wahrscheinlichkeit der Unternehmensfortführung außerhalb eines Insolvenzszenarios muss also größer sein als 50 %.52) Nach ganz überwiegender Auffassung ist die Frage nach der Fortführungswahrscheinlichkeit anhand einer Zahlungsfähigkeitsprognose zu beantworten. Nach einer bislang vereinzelt gebliebenen Entscheidung des AG Hamburg soll im Rahmen der Fortführungsprognose auch eine Ertragsfähigkeitsprognose vorgenommen werden.53) Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen: dem Schutz der Gläubiger dürfte hinreichend Genüge getan sein, wenn sichergestellt ist, dass die AG bis zum Ende des Prognosezeitraums zahlungsfähig ist. Auf das in einer Ertragsfähigkeitsprognose widergespiegelte Geschäftsmodell der Gesellschaft kommt es insoweit nicht an. ff)

Prognosezeitraum

Die Dauer des Prognosezeitraums ist seit dem 1.1.2021 durch die Neufassung 57 des § 19 Abs. 2 InsO durch den Gesetzgeber verbindlich auf die nächsten zwölf Monate festgelegt worden. Damit hat der Gesetzgeber die Definition der insolvenzrechtlichen Überschuldung (wieder einmal) ausdrücklich geändert. Nach der Rechtslage bis Ende 2020 sollte mindestens das laufende sowie das folgende Geschäftsjahr der AG, aus Vorsichtsgründen praktisch demnach in der Regel zwei Jahre zu berücksichtigen sein.54) Mit der Verkürzung des Prognosezeitraums schwächt der Gesetzgeber den Überschuldungsbegriff wohl in der Regel ab.55) Denn eine positive Prognose lediglich für einen Zeitraum von zwölf Monaten wird eher begründbar und belegbar sein als eine entsprechende Prognose für einen Zeitraum von zwei Jahren. In diesem Zusammenhang darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass der Blick über den Jahreszeitraum hinaus eine gegenwärtig ungünstige Prognose in einem positiven Sinn beeinflussen kann.56) Ob damit eine Verringerung des Gläubigerschutzes einhergehen wird, bleibt abzuwarten, ist aber praktisch wohl nicht zu erwarten. Durch die Änderung wird die Abgrenzung zwischen §§ 19 und 18 InsO ausgeschärft und prak___________ K. Schmidt/K. Schmidt, InsO, 19 Rz. 46. Uhlenbruck/Mock, InsO, § 19 Rz. 221 f. Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO, § 19 Rz. 37. AG Hamburg, Beschl. v. 2.12.2011 – 67c IN 421/11, ZIP 2012, 1776 (1777 f.). Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO, § 19 Rz. 40. Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum Regierungsentwurf SanInsFoG, BT-Drucks. 19/25353, S. 6 (Vorabfassung). 56) Gehrlein, GmbHR 2021, 183 (189).

50) 51) 52) 53) 54) 55)

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

tikabler. Anders als bei § 18 Abs. 2 Satz 2 InsO fehlt die Formulierung „in der Regel“, so dass die Frist starr ist.57) 58 Die temporär geltende Sondervorschrift des § 4 COVInsAG modifizierte den Prognosezeitraum für die Überschuldungsprüfung zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.12.2021 auf einen Zeitraum von vier Monaten, wenn die Überschuldung des Schuldners auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen war (Æ Rz. 109). gg)

Verhältnis zur Zahlungsunfähigkeit

59 Nach der heutigen Fassung des § 19 InsO ist der Überschuldungstest im Verhältnis zum kurzfristigen Liquiditätstest gemäß § 17 InsO im Grunde also ein weiterer langfristiger Liquiditätstest (Æ Rz. 36, 54). Als Faustformel muss insoweit also die Liquidität der AG auf Sicht von ca. drei Wochen zu rund 90 % und auf Sicht von zwei Jahren zu mehr 50 % sichergestellt sein (Æ Rz. 38 und Rz. 57).58) Es geht somit um die Sicherstellung der dauerhaften Zahlungsfähigkeit. Solange diese anzunehmen ist, soll ein Unternehmen nicht in ein Insolvenzverfahren gezwungen werden, nur weil zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bilanziellen Gegenüberstellung die Verbindlichkeiten durch das Vermögen nicht gedeckt sind.59) hh) Verhältnis zur drohenden Zahlungsunfähigkeit 60 Durch die unterschiedliche Ausgestaltung der Prognosefenster bei drohender Zahlungsunfähigkeit (24 Monate) und bei Überschuldung (12 Monate) wird die inhaltliche Überschneidung der Begriffe nach §§ 18, 19 InsO a. F. verkleinert und die drohende Zahlungsunfähigkeit erhält mehr eigenständige Bedeutung.60) Die drohende Überschuldung ist das Eingangstor für den Restrukturierungsrahmen. Politisches Ziel ist es, eine Restrukturierung zu ermöglichen, indem selbst bei Erreichen des Prognosezeitraums von zwölf Monaten aus dem Überschuldungsbegriff die Fortführungsprognose positiv ausfallen kann, weil das Restrukturierungskonzept Erfolg verspricht.61) Bei der vorinsolvenzrechtlichen Restrukturierungsmöglichkeit nach dem StaRUG und der Anknüpfung an der drohenden Zahlungsunfähigkeit geht es darum, ob ein Unternehmen ein Restrukturierungsverfahren einleiten darf, um die Solvenz, d. h. die Fortfüh___________ 57) Anders Bitter, ZIP 2021, 321 (323) und Gehrlein, GmbHR 2021, 183 (189), die eine Anpassung des 12-Monats-Zeitraums auf die konkreten Umstände des Einzelfalles (z. B. keine Prognoseunsicherheit, weil eine Zahlungsunfähigkeit nach Ablauf der Jahresfrist schon klar absehbar ist) oder Besonderheiten des Unternehmens für möglich halten. 58) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (145) = ZIP 2005, 1426 (1428); K. Schmidt/K. Schmidt, InsO, § 19 Rz. 48. 59) K. Schmidt, AG 1978, 337 f.; Bitter, ZIP 2021, 321 (323). 60) Kuntz, ZIP 2021, 597 (601 f.). 61) Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 197; Kuntz, ZIP 2021, 597 (601).

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C. Pflichten des Vorstands

rung des Unternehmens, zu sichern. In Abgrenzung dazu geht es bei der Überschuldung darum, dass ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden muss, um Verluste zu minimieren und den Markt zu bereinigen.62) Durch die Verkürzung des Prognosezeitraums bei der Überschuldung von ca. zwei Jahren auf ca. zwölf Monate wird ein Zeitraum ab drohender Zahlungsunfähigkeit, innerhalb dessen die AG die Instrumente des Restrukturierungsrahmens in Anspruch nehmen kann, ohne dass der Vorstand fürchten muss, bei einem Fehlschlag der Sanierung wegen Insolvenzverschleppung haften zu müssen.63) In dem Zeitfenster 24-13 Monate vor dem erwarteten Eintritt der Zahlungsunfähigkeit müssen die Geschäftsleiter also nicht fürchten, sich wegen Verletzung einer Insolvenzantragspflicht straf- oder haftbar zu machen.64) Dieses Zeitfenster für den Restrukturierungsrahmen dürfte in der Praxis den Anwendungsbereich der an der Überschuldung anknüpfenden Haftungstatbestände (§ 15b Abs. 4 InsO, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO) zeitlich nach hinten verschieben.65) Während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache ruht die Insolvenzantragspflicht gemäß § 42 Abs. 1 StaRUG und wird durch eine Anzeigepflicht ersetzt. Die Antragspflicht lebt wieder auf, wenn die Anzeige der Restrukturierungssache ihre Wirkung verliert (§ 42 Abs. 4 StaRUG). ii)

Beseitigung der Überschuldung

Kurzfristig kann eine Überschuldung gemäß § 19 InsO insbesondere durch einen 61 Rangrücktritt gemäß §§ 19 Abs. 2 Satz 2, 39 Abs. 2 InsO66) oder eine (harte) Patronatserklärung67) abgewendet werden. c)

Dokumentation von Sanierungsbemühungen

Die nach der Rechtsprechung des BGH68) im Rahmen der Prüfung der Zah- 62 lungsfähigkeit bzw. Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO maßgeblichen Vermutungsregelungen sowie die Feststellung einer insolvenzrechtlichen Überschuldung bergen für die verantwortlichen Organvertreter ein erhebliches Risiko persönlicher Haftung. Zu dessen Verringerung sollten Vorstandsmitglieder ihre Bemühungen zur Prüfung und ggf. Stabilisierung bzw. Verbesserung der Liquiditäts- und Vermögenssituation der AG sorgfältig dokumentieren. Soweit ___________ 62) Kuntz, ZIP 2021, 597 (601). 63) Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 192; Guntermann, WM 2021, 214 (215). 64) Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2362). 65) Guntermann, WM 2021, 214 (215). 66) Grundsätzlich zu den Anforderungen an einen Rangrücktritt BGH, Urt. v. 5.5.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 ff. = ZIP 2015, 638 ff. 67) BGH, Urt. v. 13.7.2021 – II ZR 84/20, BGHZ 230, 255. 68) BGH, Urt. v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 (138) = ZIP 2005, 1426 (1428).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

Gläubiger zu Stundungen, einem (einstweiligen) Verzicht auf das ernsthafte Einfordern von Forderungen, einem Rangrücktritt oder der Übernahme eines Patronats bereit sind, sollte der Vorstand immer auf einer entsprechenden schriftlichen Erklärung bestehen. d)

Pflicht zur Inanspruchnahme fachlicher Beratung

63 Verfügen die Vorstandsmitglieder nicht selbst über ausreichende Kenntnisse für die Prüfung der Insolvenzreife oder der sich aus der Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung ergebenden Konsequenzen, so haben sie professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen.69) Die Inanspruchnahme solcher Beratung führt dazu, dass den Vorstandsmitgliedern kein Verschuldensvorwurf gemacht werden kann,70) jedoch nur unter den Voraussetzungen, dass dem Berater sämtliche erforderlichen Informationen zugänglich gemacht werden, dass weiterhin auf eine unverzügliche Vorlage der Prüfungsergebnisse hingewirkt wird und dass die Prüfungsergebnisse einer Plausibilitätskontrolle durch den Vorstand standhalten71) (ausführlich zur Inanspruchnahme qualifizierter Rechtsberatung im Falle mangelnder persönlicher Sachkunde bzw. bei unklarer Sachlage Æ § 2 Rz. 58 ff.). 64 Der dem Berater zu erteilende Prüfungsauftrag sollte so präzise wie möglich beschrieben werden. Nach § 102 StaRUG haben Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer und Rechtsanwälte bei der Erstellung eines Jahresabschlusses für die AG diese auf das Vorliegen eines möglichen Insolvenzgrundes nach den §§ 17 bis 19 InsO und die sich daran anknüpfenden Pflichten des Vorstandes und Aufsichtsrates hinzuweisen, wenn entsprechende Anhaltspunkte offenkundig sind und die Berater annehmen müssen, dass der AG die mögliche Insolvenzreife nicht bewusst ist. Eine Rechtsprechung aus Zeiten vor Inkrafttreten des StaRUG, nach der mit der Erstellung des Jahresabschlusses der AG beauftragte Steuerberater nicht ohne Weiteres auch zur Prüfung der Voraussetzungen der Insolvenzantragspflicht verpflichtet waren,72) ist gegenstandslos geworden. ___________ 69) BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 (Rz. 16); BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 (Rz. 16); BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (199) = ZIP 1994, 1103 (1109); KG Berlin, Urt. v. 28.4.2022 – 2 U 39/18, GmbHR 2022, 794 bezogen auf eine Konzern-GmbH und ein für den Gesamtkonzern eingeholtes Insolvenzgutachten. 70) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 44, 55. 71) BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, ZIP 2016, 1119 (Rz. 34), m. Anm. Poertzgen, GmbHR 2016, 705 ff.; BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 (Rz. 16); BeckOK GmbHG/Mätzig, § 64 Rz. 114. 72) OLG Köln, Urt. v. 23.2.2012 – 8 U 45/11, NZG 2012, 504, 506. Vgl. auch Verhoeven, GmbH-StB 2022, 52 ff.

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C. Pflichten des Vorstands

5.

Die gesetzliche Sanierungsfrist

a)

Einführung

Nach § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO ist der Eröffnungsantrag spätestens drei Wo- 65 chen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. spätestens sechs Wochen nach Eintritt der Überschuldung zu stellen. Damit differenziert der Gesetzgeber bezüglich der Sanierungsfrist zwischen der Insolvenzreife wegen Zahlungsunfähigkeit und der Insolvenzreife wegen Überschuldung. Dies war vor dem 1.1.2021 anders. Bis dahin galt für beide Insolvenzgründe eine Sanierungsfrist von drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung. Nicht geändert hat sich die Formulierung des § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO, wonach ein Insolvenzantrag ohne schuldhaftes Zögern, d. h. „unverzüglich“ nach Eintritt der Insolvenzreife gestellt werden muss (oft auch bezeichnet als maximale „Antrags- oder Sanierungsfrist“). Das Gesetz räumt dem Vorstand somit keine in jedem Fall auszuschöpfende prozessuale Frist für die Antragstellung ein.73) Vielmehr handelt es sich um Höchstfristen, die nur solange und soweit in Anspruch genommen werden dürfen, als erfolgversprechende Sanierungsverhandlungen geführt bzw. Sanierungsmaßnahmen umgesetzt werden.74) Keinesfalls darf eine Antragstellung unterbleiben, selbst wenn am letzten Tag der Frist Sanierungsmaßnahmen zwar noch andauern, jedoch die Insolvenzreife noch nicht beseitigt ist (Æ Rz. 68). Umgekehrt muss ein Insolvenzantrag ohne weitere Inanspruchnahme der jeweiligen Frist ohne weiteres Zuwarten gestellt werden, wenn absehbar ist, dass materielle Insolvenz der Gesellschaft nicht (bzw. nicht rechtzeitig vor dem Ende der Sanierungsfrist) zu beseitigen ist. Mit der Differenzierung der Sanierungsfristen bringt der Gesetzgeber eine 66 Gewichtung der Insolvenzgründe zum Ausdruck. Wenn Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, muss sofort, maximal binnen drei Wochen, Eröffnungsantrag gestellt werden. Wenn „nur“ eine Überschuldung eingetreten ist, hat der Vorstand mehr Zeit, um eine Sanierung zu bewerkstelligen, weil ja „nur“ langfristig die Liquidität der AG gefährdet ist. Letztlich geht es bei der Insolvenzreife immer um ein Liquiditätstest, der, wenn er sich wie bei der Zahlungsunfähigkeit kurzfristig als negativ erweist, zu sofortigem Handeln Veranlassung gibt; wenn er hingegen wie bei der Überschuldung längerfristig angelegt ist, mehr Zeit für Gegenmaßnahmen lässt (Æ Rz. 59). Die Überschuldung stellt somit im Verhältnis zur Zahlungsunfähigkeit den eher abstrakteren Insolvenzgrund mit einem längeren Zeithorizont dar. Durch die Verkürzung des Prognosezeitraums und der damit verbundenen „Schwächung“ des Überschuldungsbegriffs (Æ Rz. 57) wird dieser Unterschied seit dem 1.1.2021 weiter betont und ausgebaut. Ein damit ggf. faktisch einhergehender verringerter Gläubigerschutz ___________ 73) Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 50; Poertzgen, ZInsO 2008, 944 (946). 74) BGH, Beschl. v. 30.7.2003 – 5 StR 221/03, BGHSt 48, 307 (309) = ZIP 2003, 2213 (2213); Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 50; Poertzgen, ZInsO 2008, 944, 946.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

dürfte vom Gesetzgeber jedoch nicht beabsichtigt gewesen sein, jedenfalls aber verhältnismäßig sein. Auch während der Corona-Pandemie zeigte sich in den Übergangsregelungen des COVInsAG bereits die Differenzierung des Gesetzgebers zwischen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 107, 109): In der vom 1.10. bis zum 31.12.2020 geltenden Regelung wurde die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, die zunächst befristet bis zum 30.9.2020 galt, bis zum 31.12.2020 verlängert, dies aber nur für Unternehmen, die überschuldet, aber nicht zahlungsunfähig waren. 67 Nach der Gesetzesbegründung soll die Verlängerung der Insolvenzantragspflicht bei der Überschuldung es dem Schuldner ermöglichen, laufende Sanierungsbemühungen außergerichtlich noch zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen oder ggf. eine Sanierung im präventiven Restrukturierungsrahmen oder auf der Grundlage eines Eigenverwaltungsverfahrens ordentlich und gewissenhaft vorzubereiten.75) b)

Strikte Höchstfrist

68 Nach einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung des OLG Hamburg soll die maximale Dauer der Sanierungsfrist als bloßer Richtwert bzw. lediglich als eine Regelfrist anzusehen sein. Im Einzelfall solle eine „maßvolle“ Verlängerung der Sanierungsfrist um bis zu einer weiteren Woche auf dann insgesamt vier Wochen (so die Entscheidung des OLG Hamburg zu der bis Ende 2020 geltenden (einheitlichen) Sanierungsfrist) als noch zulässig erachtet werden können.76) Dem ist ausdrücklich nicht zu folgen.77) Angesichts der persönlichen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Haftung des Vorstands für eine Verletzung der Antragspflicht ist die Sanierungsfrist unbedingt als strikte, also unter keinen Umständen zu verlängernde Höchstfrist zu verstehen. Die Entscheidung des OLG Hamburg ist unter den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und des Gläubigerschutzes problematisch. c)

Suspendierung der Antragspflichterfüllung

69 Während der (berechtigten) Inanspruchnahme der Sanierungsfrist besteht die Insolvenzantragspflicht bereits, jedoch ist das Gebot zu ihrer tatsächlichen Erfüllung suspendiert.78) Dieses rechtstechnische Verständnis ist erforderlich, um auch während des Laufs der Sanierungsfrist eine Haftung des Vorstands aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO wegen anderer Pflichtverletzungen als ___________ 75) Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 193. 76) OLG Hamburg, Urt. v. 25.6.2010 – 11 U 133/06, ZIP 2010, 2448 (2450); kritisch Geißler, ZInsO 2013, 167, 167; ebenso A. Schmidt/Poertzgen, NZI 2013, 369 (372). 77) So insbesondere Geißler, ZInsO 2013, 167; ebenso A. Schmidt/Poertzgen, NZI 2013, 369 (372). 78) Poertzgen, ZInsO 2008, 1196 (1196).

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C. Pflichten des Vorstands

der verspäteten oder unterlassenen Stellung eines Insolvenzantrags konstruieren zu können79) (zur parallelen Haftung aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) (Æ Rz. 146 f., 154, 184). Andere, die Haftung des Vorstands auslösende Pflichtverletzungen können etwa in Ausgaben liegen, die nicht zur Umsetzung von Sanierungsmaßnahmen erforderlich sind. d)

Beginn der Sanierungsfrist

Die Sanierungsfrist beginnt nach einer älteren Entscheidung des BGH erst mit 70 positiver Kenntnis des Vorstands von der Insolvenzreife der AG.80) Solange der Vorstand lediglich aufgrund von Fahrlässigkeit verkenne, dass die Gesellschaft zahlungsunfähig und/oder überschuldet sei, könne zwar eine Verletzung der Antragspflicht vorliegen, die Sanierungsfrist habe jedoch noch nicht zu laufen begonnen.81) Demgegenüber wird in der Literatur zum einen die Auffassung vertreten, der Lauf der Sanierungsfrist beginne bereits mit objektiver Insolvenzreife der Gesellschaft.82) Zum anderen wird auch die Auffassung vertreten, der Beginn der Sanierungsfrist werde ausgelöst, wenn dem Vorstand Fahrlässigkeit in Bezug auf die Insolvenzreife der Gesellschaft zur Last falle.83) Der Auffassung des BGH84) ist nicht zu folgen, da sie zu hohe Anforderungen 71 an den Beginn der Sanierungsfrist stellt. Unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes darf die Insolvenzverschleppungsphase nicht unnötig zerstückelt werden. Auf der anderen Seite darf die Sanierungsfrist aber auch nicht schon mit dem Eintritt der materiellen Insolvenz zusammenfallen, da sonst die vom Gesetzgeber gewollte Möglichkeit eines letzten Versuchs für eine Sanierung außerhalb eines Insolvenzverfahrens leerliefe. Zu folgen ist daher der Auffassung, nach der die Sanierungsfrist auch durch fahrlässige Unkenntnis des Vorstands in Bezug auf die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft ausgelöst wird.85) Auf diese Weise kann eine Synchronisierung des Beginns der Sanierungsfrist und der Erfüllung des subjektiven Tatbestands der Insolvenzantragsfrist erreicht werden, die für die praktische Handhabung des § 15a Abs. 1 InsO insgesamt wertungsgerecht ist. ___________ 79) Poertzgen, ZInsO 2008, 1196 (1197). 80) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96 (110 f.) = NJW 1979, 1823 (1827) „Herstatt“. 81) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96 (110 f.) = NJW 1979, 1823 (1827) „Herstatt“. 82) K. Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, 15a Rz. 32; Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 14. 83) BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184 (186) = ZIP 2000, 184 (185). 84) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96 (110 f.) = NJW 1979, 1823 (1827) „Herstatt“. 85) Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung (2006), S. 166 f.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

e)

Pflichten während der Sanierungsfrist

72 Während der zulässigen Inanspruchnahme der Sanierungsfrist ist das Gebot zur Erfüllung der Insolvenzantragspflicht suspendiert.86) Insoweit besteht für die Vorstandsmitglieder also kein Risiko der Begehung einer Insolvenzverschleppung. Allerdings sind auch während des Laufs der Sanierungsfrist das Zahlungsverbot (Æ Rz. 112 ff.) sowie steuer- und sozialversicherungsrechtliche Pflichten (Æ Rz. 131) zu beachten.87) Unter diesem Gesichtspunkt kann den Vorstandsmitgliedern also auch während des Laufs der Sanierungsfrist ein persönliches Haftungsrisiko drohen. Nach einer in der Literatur stärker werdenden Meinung sei die gesamte Insolvenzverschleppungshaftung de lege ferenda unter Aufgabe der Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen ausschließlich auf die deliktische Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO zu stützen.88) In der Konsequenz kann sich eine Haftung des Vorstands für Ausgaben, die im Hinblick auf eine angestrebte Sanierung nicht erforderlich sind, bereits während der Sanierungsfrist aus der Außenhaftung ergeben, auch wenn zu diesem Zeitpunkt eben noch kein Insolvenzantrag zu stellen ist.89) f)

Mehrheit von Vorstandsmitgliedern

73 Die Antragspflicht ist vom Vorstand insgesamt zu erfüllen.90) Besteht der Vorstand aus mehreren Mitgliedern, so obliegt jedem von ihnen die Erfüllung der Antragspflicht.91) Eine vorstands- oder gesellschaftsinterne Regelung zur Geschäftsverteilung, nach der etwa nur das für Finanzangelegenheiten der AG zuständige Vorstandsmitglied zur Beachtung und Erfüllung der Antragspflicht berufen wäre, ist nach außen unbeachtlich. Eine solche Regelung ist allenfalls im Rahmen eines Gesamtschuldnerinnenausgleichs zu berücksichtigen, wenn mehrere Vorstandsmitglieder aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO in Anspruch genommen werden.92) 74 Die nach einer etwaigen internen Geschäftsverteilungsregelung nicht für Finanzangelegenheiten bzw. die Stellung eines Insolvenzantrages zuständigen Mitglieder des Vorstandes müssen aufgrund ihrer Überwachungspflicht darauf hinwirken, dass das nach der internen Zuständigkeitsverteilung zuständige Vor___________ 86) Poertzgen, ZInsO 2008, 1196, 1197. 87) BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 ff. 88) Karsten Schmidt, JZ 1978, 661; Karsten Schmidt, GmbHR 2010, 1319 (1325); Poertzgen, NZI 2008, 9 (12); Poertzgen ZInsO 2008, 1196 (1197); a. A. Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 64 Rz. 146. 89) MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 26 f. 90) MünchKommInsO/Klöhn, § 15a Rz. 70 f. 91) Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 22. 92) Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 22.

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C. Pflichten des Vorstands

standsmitglied die Antragspflicht beachtet und ggf. erfüllt.93) Eine Verletzung dieser Überwachungspflicht hat letztlich dieselben Folgen wie eine Verletzung der Antragspflicht selbst. Der von einem Vorstandsmitglied zum Zweck der Erfüllung der Antragspflicht 75 gestellte Insolvenzantrag wirkt grundsätzlich auch für und gegen alle anderen Mitglieder des Vorstands, sofern der Antrag „für den Vorstand“ und nicht ausdrücklich nur für das unterzeichnende Vorstandsmitglied gestellt wird.94) Praktisch sollte bei der Formulierung des Insolvenzantrages darauf geachtet werden, dass der Antrag entweder von allen Vorstandsmitgliedern unterzeichnet bzw. zumindest im Namen aller Vorstandsmitglieder gestellt wird. Wird der Insolvenzantrag nicht von allen Mitgliedern des Vorstands gemein- 76 sam gestellt, so ist die Glaubhaftmachung des Insolvenzgrundes – Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung der AG (Æ Rz. 52 ff.) – weitere Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrags, § 15 Abs. 2 Satz 1 InsO. In diesem Fall hat das Insolvenzgericht die nicht an der Antragstellung beteiligten Vorstandsmitglieder anzuhören, § 15 Abs. 2 Satz 3 InsO. g)

Gläubigerantrag

Der von einem Gläubiger der AG gestellte Insolvenzantrag (sog. Fremdantrag 77 gemäß § 14 InsO) entlastet den Vorstand nicht in Bezug auf die Pflicht zur Stellung eines (Eigen-)Antrags gemäß § 15a InsO.95) Solange der Vorstand also im Fall eines Fremdantrags nicht auch einen Eigenantrag stellt, besteht die Antragspflicht gemäß § 15a InsO fort. h)

Vertretungserfordernis

Zur Stellung eines Insolvenzantrages in Erfüllung der Antragspflicht gemäß 78 § 15a InsO ist jedes einzelne Vorstandsmitglied berechtigt, selbst wenn dieses Vorstandsmitglied im Übrigen nur zur Vertretung der AG mit einem Dritten (Gesamtvertretung) berechtigt ist. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO („jedes Mitglied des Vertretungsorgans“) sowie als Umkehrschluss aus § 15 Abs. 2 InsO i. V. m. § 18 Abs. 2 InsO.96) Anders als bei Stellung eines Insolvenzantrages in Erfüllung der Antragspflicht 79 kommt es für die etwaige Rücknahme des Insolvenzantrages (§ 13 Abs. 2 InsO) darauf an, ob das den Antrag zurücknehmende Vorstandsmitglied zur Allein___________ 93) BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94, ZIP 1994, 891 (892); Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 22. 94) Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung (2006), S. 159. 95) BGH, Beschl. v. 28.10.2008 – 5 StR 166/08, BGHSt 53, 24 (Rz. 22) = ZInsO 2008, 1385 (Rz. 22). 96) MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 62; MünchKommInsO/Klöhn, § 15a Rz. 70.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

vertretung berechtigt ist. Die AG muss bei der Antragsrücknahme hinreichend vertreten sein, entweder indem alle Vorstandsmitglieder die Antragsrücknahme betreiben oder einem Gesamtvertretungserfordernis Genüge getan ist. Im Fall einer Rücknahme ist es jedenfalls nicht erforderlich, dass die Rücknahme durch den ursprünglichen Antragsteller oder unter dessen Mitwirkung erfolgt.97) i)

Antragsrücknahme

80 Generell ist die nach Maßgabe von § 13 Abs. 2 InsO mögliche Rücknahme bis zur Eröffnung des Verfahrens oder der Abweisung des Insolvenzantrags wegen mangelnder Masse angesichts der drohenden Haftung wegen Insolvenzverschleppung mit hohen Risiken verbunden. Grundsätzlich wirkt nämlich die Rücknahme wie die Antragstellung für und gegen sämtliche Vorstandsmitglieder. Gegebenenfalls lebt als Folge der Antragsrücknahme die ursprüngliche Antragspflicht wieder auf, wenn deren Voraussetzungen (insbesondere die Insolvenzreife der AG) noch vorliegen. Sofern die Rücknahme eines Antrags daher nicht von allen Vorstandsmitgliedern betrieben wird und infolgedessen auch nicht allen Vorstandsmitgliedern zugerechnet werden kann – etwa weil einzelne Vorstandsmitglieder nach der ursprünglichen Antragstellung ihr Amt niedergelegt haben – ist zugunsten dieser (unbeteiligten) Vorstandsmitglieder von fehlendem Verschulden in Bezug auf eine durch die Antragsrücknahme und die wiederauflebende Antragspflicht ausgelöste Insolvenzverschleppung auszugehen. Insoweit bestehen allerdings hohe Hürden für den Ausschluss des Verschuldensvorwurfs. Vorstandsmitglieder müssen ggf. im Wege ihrer Überwachungspflicht in Bezug auf ihre Vorstandskollegen auf die Unterlassung der Antragsrücknahme bzw. die Stellung eines neuen Insolvenzantrages hinwirken. 6.

Subjektiver Tatbestand

81 In subjektiver Hinsicht setzt eine Verletzung der Insolvenzantragspflicht Verschulden in Form von Vorsatz oder Fahrlässigkeit in Bezug auf das Vorliegen der Insolvenzreife der Gesellschaft voraus.98) Nach der (problematischen) Auffassung des BGH beginnt die Sanierungsfrist nur bei positiver Kenntnis des Vorstands von der materiellen Insolvenz zu laufen99) (Æ Rz. 70 f.). Es ist daher denkbar, dass dem Vorstand zunächst eine fahrlässige Verletzung der Antragspflicht zur Last fällt, diese mit Gewinnung von positiver Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit und oder Überschuldung der AG für die Dauer der berechtigten Inanspruchnahme der Sanierungsfrist unterbrochen wird und dass nach ___________ 97) Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15 Rz. 6. 98) Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 78 ff. 99) BGH, Urt. v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, BGHZ 75, 96 (110 f.) = NJW 1979, 1823 (1827) „Herstatt“.

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C. Pflichten des Vorstands

dem Ende der Sanierungsfrist eine weitere vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung der Antragspflicht stattfindet. 7.

Höchstpersönlichkeit

Die Beachtung und Erfüllung der Insolvenzantragspflicht durch den Vorstand 82 unterliegt keinen Weisungen anderer Gesellschaftsorgane oder einzelner Aktionäre.100) Die entsprechende Weisungsfreiheit in Bezug auf die Beachtung des § 15a InsO ergibt sich im Aktienrecht bereits aus § 76 Abs. 1 AktG sowie im Übrigen aus dem Charakter der Antragspflicht als höchstpersönlicher Pflicht des zur Geschäftsführung berufenen Gesellschaftsorgans. Weder kann das Ob noch der Zeitpunkt einer Antragstellung Gegenstand einer zulässigen bzw. wirksamen Weisung sein. Vielmehr handeln die Vorstandsmitglieder in Bezug auf die Erfüllung der Antragspflicht ausschließlich in eigener Verantwortung. 8.

Amtsniederlegung

Eine Niederlegung des Vorstandsamts kann die Antragspflicht für das fragliche 83 Vorstandsmitglied allenfalls für die Zukunft (ex nunc) entfallen lassen.101) Im Übrigen kann das Vorstandsmitglied auch für Zeiträume bzw. Vorgänge nach der Amtsniederlegung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO haftbar werden. Eine entsprechende Haftung kommt in Betracht, wenn die Niederlegung des Vorstandsamtes zur Unzeit erfolgt.102) Eine Amtsniederlegung zur Unzeit liegt vor, wenn das Vorstandsmitglied durch sein Ausscheiden zurechenbar das Risiko erhöht, dass als Folge einer fehlenden kontinuierlichen und sachgemäßen Leitung der AG ein gemäß § 15a Abs. 1 InsO zu stellender Antrag verspätet oder gar nicht gestellt wird. 9.

Faktisches Vorstandsmitglied

Das faktische Vorstandsmitglied ist wie das im Handelsregister eingetragene 84 Vorstandsmitglied zur Beachtung und Erfüllung der Antragspflicht und bei deren Verletzung zum Schadensersatz verpflichtet.103) Gegen eine Ausdehnung der strafrechtlichen Haftung gemäß § 15a Abs. 4 und 5 InsO auch auf das faktische Organ bestehen unter dem Gesichtspunkt des verfassungsrechtlich verankerten Analogieverbots gemäß Art. 103 Abs. 2 GG Bedenken.104) ___________ Gogger, in: Insolvenzgläubiger-Handbuch, § 3 Rz. 563. Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO, § 15 Rz. 8. Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO, § 15 Rz. 8. BGH, Urt. v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61 (69) = ZIP 2002, 848 (851); Kübler/ Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 26 ff.; K. Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 16. 104) Hefendehl, ZIP 2011, 601 (605).

100) 101) 102) 103)

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

10.

Liquidatoren

85 Den bzw. die Abwickler (Liquidatoren) der AG treffen dieselben Pflichten wie die Vorstandsmitglieder, §§ 264, 265 AktG. 11.

Führungslosigkeit

86 Im Fall der Führungslosigkeit der AG ist gemäß § 15a Abs. 3 InsO neben dem Vorstand auch jedes Mitglied des Aufsichtsrats zur Erfüllung der Insolvenzantragspflicht verpflichtet.105) Der Zustand der Führungslosigkeit ist nach der Legaldefinition in § 10 Abs. 2 Satz 2 InsO das Fehlen organschaftlicher Vertreter, also in Bezug auf die Antragspflicht im Fall einer AG das (effektive) Fehlen eines Vorstands. Die Führungslosigkeit der AG liegt nicht bereits dann vor, wenn dem Aufsichtsrat der Aufenthaltsort des Vorstands unbekannt ist.106) Zur Vermeidung einer Haftung nach § 117 AktG wegen Aufsichtspflichtverletzung kann es für den Aufsichtsrat aber unter Umständen geboten sein, das Vorliegen etwaiger Insolvenzreife der AG zu prüfen. Außerdem kann der Aufsichtsrat zur Haftungsvermeidung den Aufenthaltsort des Vorstands ermitteln bzw. den Vorstand durch öffentliche Zustellung gemäß § 132 Abs. 2 BGB abberufen.107) 87 Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 15a Abs. 3 InsO setzt eine Verletzung der Antragspflicht durch die im Fall der Führungslosigkeit der AG verpflichteten Aufsichtsratsmitglieder deren positive Kenntnis sowohl der Führungslosigkeit als auch der Insolvenzreife der Gesellschaft voraus. 12.

Strafrecht

88 Zur strafrechtlichen Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht Æ § 21 Rz. 122 und 137. Zur strafrechtlichen Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat wegen Verletzung der Insolvenzanzeigepflicht gemäß § 42 Abs. 3 StaRUG (Æ Rz. 172, 177, 178). 13.

Kommanditgesellschaft auf Aktien

89 Bei der KGaA besteht zwar gemäß § 283 Nr. 14 AktG für die persönlich haftenden Gesellschafter eine Antragspflicht wie für Vorstandsmitglieder der AG. Haftungsrechtlich eigenständige Bedeutung hat diese Ausprägung der Antragspflicht jedoch nicht, da die persönlich haftenden Gesellschafter der KGaA ohnehin unbeschränkt akzessorisch für sämtliche Verbindlichkeiten der KGaA einstehen müssen, § 278 Abs. 2 AktG i. V. m. §§ 161 Abs. 2, 128 HGB. ___________ 105) BGH, Urt. v. 21.3.1988 – II ZR 194/87, BGHZ 104, 44 ff. = ZIP 1988, 771 ff. 106) Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO § 15a Rz. 33; Römermann, NZI 2008, 641 (645 f.). 107) HambKomm-InsO/Linker, § 15a Rz. 21.

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C. Pflichten des Vorstands

Die für die führungslose AG in § 15 Abs. 3 InsO bestimmte Antragspflicht des 90 Aufsichtsrats soll im Fall der führungslosen KGaA nicht zur Anwendung kommen.108) Im Fall einer führungslosen GmbH, welche die einzige persönlich haftende 91 Gesellschafterin einer GmbH & Co. KGaA ist, ist die Antragspflicht nach § 15 Abs. 3 InsO von den Gesellschaftern der GmbH und nicht vom Aufsichtsrat der GmbH & Co. KGaA zu erfüllen.109) 14.

Antragsrecht neben Antragspflicht

Unabhängig vom Bestehen der Antragspflicht gemäß § 15a Abs. 1 InsO ist der 92 Vorstand nach Maßgabe des § 15 InsO zur Stellung eines Insolvenzantrages berechtigt. Eigenständige Bedeutung hat das (bloße) Antragsrecht lediglich im Fall drohender Zahlungsunfähigkeit der AG gemäß § 18 InsO, bei der – anders als im Fall tatsächlicher Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) – noch keine Antragspflicht ausgelöst ist. Ein trotz bestehendem Antragsrecht zu früh, also vor Entstehung der Antragspflicht und insbesondere bei Bestehen aussichtsreicher Sanierungschancen gestellter Insolvenzantrag, kann eine Haftung des Vorstands gemäß § 93 Abs. 2 AktG auslösen (Æ Rz. 137 ff.). Das Haftungsrisiko wegen verfrühtem Insolvenzantrag bei drohender Zah- 93 lungsunfähigkeit hat sich mit der Einführung des Stabilisierungs- und Restrukturierungsverfahrens seit dem 1.1.2021 vergrößert. Denn gemäß § 29 Abs. 1 StaRUG ist die drohende Zahlungsunfähigkeit das Eingangstor zum präventiven Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (Æ Rz. 44, 166). Wenn stattdessen bei bestehenden aussichtsreichen Restrukturierungschancen zu früh ein Insolvenzantrag gestellt wird, liegt eine Pflichtverletzung des Vorstands gegenüber der Gesellschaft nahe. Während der Rechtshängigkeit einer Restrukturierungssache trifft den Vor- 94 stand gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG die strafbewehrte Pflicht, dem Restrukturierungsgericht den Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit oder einer Überschuldung ohne schuldhaftes Zögern anzuzeigen (Æ Rz. 173, 177, 178). Die Insolvenzantragspflicht ruht (§ 42 Abs. 1 Satz 1 StaRUG) und ist durch eine Insolvenzanzeigepflicht ersetzt. 15.

Rechtsfolgen der Antragspflichtverletzung

a)

Einführung

Die zivilrechtlichen Rechtsfolgen einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht 95 ergeben sich aus dem Umstand, dass der § 15a InsO nach ganz herrschender ___________ 108) HambKomm-InsO/Linker, § 15a Rz. 24. 109) HambKomm-InsO/Linker, § 15a Rz. 24.

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Meinung als deliktisches Schutzgesetz anzusehen ist.110) Die sich hieraus ergebende Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO wird in Abgrenzung zur Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen (Æ Rz. 137 ff.) als deliktische Außenhaftung wegen Antragspflichtverletzung bezeichnet. Im Unterschied zur Innenhaftung, die große praktische Relevanz hat, kommt der Außenhaftung derzeit nur geringe Bedeutung in der Haftungspraxis zu. Das liegt vor allem an der vom BGH vertretenen gespaltenen Liquidationsbefugnis111) (Æ Rz. 102), aber auch an tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Schadensermittlung (Æ Rz. 100, 103).112) b)

Antragspflicht als Schutzgesetz

96 Die Qualifizierung der Antragspflicht als Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB stellt eine gerade noch zulässige Rechtsfortbildung praeter legem dar.113) Nach der ursprünglichen Konzeption des Gesetzgebers sollte die Innenhaftung die ausschließliche Regelung für eine Haftung der Organvertreter an der Schnittstelle zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht darstellen. Wegen der systematischen Schwächen der Innenhaftung hat sich aber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rechtsprechung und Literatur die Ansicht entwickelt, dass Vorstandsmitglieder unabhängig von der Verantwortlichkeit für verbotene Zahlungen auch unmittelbar wegen einer Verletzung der Antragspflicht aus § 823 Abs. 2 BGB haftbar werden können.114) c)

Alt- und Neugläubiger

97 Im Rahmen der Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. der Antragspflicht ist zwischen den bei Entstehung der Antragspflicht bereits vorhandenen Gläubigern („Altgläubiger“) und den erst nach entstandener Antragspflicht, also in der sog. Verschleppungsphase neu hinzukommenden Gläubigern („Neugläubiger“) zu unterscheiden.115) Die Gläubiger, deren Ansprüche erst innerhalb der Sanie___________ 110) Nerlich/Römermann/Mönning, InsO, § 15a Rz. 42a; Poertzgen, ZInsO 2007, 574 (575); Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 64 Rz. 145; MünchKommGmbHG/H.-F. Müller, § 64 Rz. 199 f., a. A. Altmeppen/Wilhelm; NJW 1999, 673 (679); Altmeppen ZIP 2001, 2201 (2205). 111) BGH, Urt. v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46 (Rz. 12) = ZIP 2007, 676 (Rz. 12); BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 (215 ff.) = ZIP 1998, 776 (777 ff.). 112) Altmeppen/Wilhelm, NJW 1999, 673 (674 f.); Poertzgen, NZG 2010, 772 (775). 113) Poertzgen, NZI 2010, 858 (858). 114) Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung (2006), S. 185 ff. (219 ff., 246 ff.); Poertzgen, GmbHR 2006, 1182 (1183, 1885); Poertzgen, ZInsO 2006, 561 (566). 115) BGH, Urt. v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46 (Rz. 13) = ZIP 2007, 676 (Rz. 13); BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 (224 ff.) = ZIP 1998, 776 (776 ff.); BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (191) = ZIP 1994, 1103 (1108).

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C. Pflichten des Vorstands

rungsfrist entstehen, sind anders wie die bei Beginn der Sanierungsfrist bereits vorhandenen Gläubiger Neugläubiger.116) Ein Inhaber mehrerer Forderungen gegen die Gesellschaft kann insoweit teilweise Alt- und teilweise Neugläubiger sein. Alt- und Neugläubiger sind in einem späteren Insolvenzverfahren über das 98 Vermögen der AG gleichermaßen Insolvenzgläubiger i. S. d. § 38 InsO.117) In Bezug auf die ihnen aus § 823 Abs. 2 BGB zu ersetzenden Schäden ist jedoch wie folgt zu differenzieren: aa)

Quotenschaden der Altgläubiger

Altgläubiger hätten selbst bei pflichtgemäßer, also rechtzeitiger Antragstellung 99 lediglich eine anteilige (quotale) Erfüllung ihrer jeweiligen Forderungen erwarten können. Der diesen Forderungsinhabern aus § 823 Abs. 2 BGB zu ersetzende Schaden besteht in der Verschlechterung ihrer Quotenerwartung. Die bei rechtzeitiger Antragstellung hypothetisch aus dem Insolvenzverfahren zu erzielende Quote ist regelmäßig höher als die tatsächliche Quote, die aus dem als Folge der Verletzung der Insolvenzantragspflicht verspätet eröffneten Insolvenzverfahren erzielt werden kann. Die in dieser Quotendifferenz zum Ausdruck kommende Vermögenseinbuße wird, wenn sie sich als adäquat-kausale Folge der Verletzung der Antragspflicht darstellt, als Quotenschaden der Altgläubiger bezeichnet.118) Der Quotenschaden bildet also für die Altgläubiger einen Teil ihres Nichterfüllungsschadens als positives Interesse ab. Die konkrete Berechnung des Quotenschadens der Altgläubiger muss vielfältige 100 Faktoren berücksichtigen und gilt daher gemeinhin als schwierig.119) Die Hauptschwierigkeit besteht allerdings in der Abgrenzung der Gruppe der Altgläubiger von der Gruppe der Neugläubiger anhand des Zeitpunkts des Eintritts der Insolvenzreife zuzüglich des Ablaufs der Sanierungsfrist.120) Im Übrigen kann das Instrument der richterlichen Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO ein wichtiges Hilfsmittel zur betragsmäßigen Annäherung an den Altgläubigerschaden darstellen.121) bb)

Ausfallschaden der Neugläubiger

Der den Neugläubigern durch die verspätete Antragstellung entstehende Scha- 101 den besteht gerade in der Begründung ihrer angesichts der Insolvenz der Ge___________ 116) Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung (2006), S. 260. 117) MünchKommHGB/Schmidt, § 130a Rz. 17 f. 118) BGH, Urt. v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46 (Rz. 13) = ZIP 2007, 676 (Rz. 13); BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 ff. = ZIP 1998, 776 ff.; BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (190) = ZIP 1994, 1103 (1107). 119) Uhlenbruck/Hirte, InsO § 15a Rz. 42. 120) BeckOK InsO/Wolfer, § 15a Rz. 34. 121) K. Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15 Rz. 42.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

sellschaft wertlosen Forderung.122) Sie sind auf der Grundlage von § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO so zu stellen, als wären sie nicht Inhaber einer Forderung gegen die insolvente AG geworden. Die Neugläubiger werden durch die Insolvenzantragspflicht also gerade vor dem Kontakt mit der insolventen Gesellschaft geschützt. Insoweit ersetzt die deliktische Außenhaftung keinen Vertrauensschaden, sondern vielmehr den gesamten jeweiligen Ausfallschaden in Form des negativen Interesses des konkreten Neugläubigers. Unerheblich dabei ist, ob die Neugläubigerforderung eine gesetzliche oder eine rechtsgeschäftliche Natur hat.123) d)

Schadensliquidation nach der Rechtsprechung

102 Nach der Rechtsprechung des BGH wird der Quotenschaden der Altgläubiger gemäß § 92 Satz 1 InsO vom Insolvenzverwalter der AG geltend gemacht, wohingegen jeder einzelne Neugläubiger seinen individuellen Ausfallschaden selbst geltend machen muss.124) Diese gespaltene Liquidationsbefugnis ist in der Praxis die eigentliche Ursache für die geringe Anzahl von Fällen, in denen erfolgreich Alt- oder Neugläubigerschäden auf der Grundlage von § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO geltend gemacht werden.125) e)

Modell des einheitlichen Quotenschadens

103 Entgegen der Auffassung des BGH erleiden sämtliche Alt- und Neugläubiger nach richtiger Ansicht tatsächlich einen einheitlichen Quotenschaden, der als Gesamtschaden i. S. d. § 92 Satz 1 InsO vom Insolvenzverwalter der AG über die Insolvenzmasse zu liquidieren ist.126) Nur die Forderungsinhaber, die als Neugläubiger zu qualifizieren sind, können ihren über den Quotenschaden hinausgehenden Ausfallschaden anschließend bzw. zusätzlich individuell gegen die Vorstandsmitglieder, denen eine Verletzung der Antragspflicht zur Last fällt, geltend machen. Nach diesem Modell des einheitlichen Quotenschadens ändert sich weder für die Alt- noch für die Neugläubiger die absolute Höhe der ihnen aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO zu ersetzenden Schäden.127) Es ändert sich lediglich die für die Liquidation der einzelnen Schäden maßgebliche Aktivlegitimation. So ist im Unterschied zu dem vom BGH vertretenen Abwicklungsmodell bei der Abwicklung des einheitlichen Quotenschadens der ___________ 122) BGH, Urt. v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46 (Rz. 13) = ZIP 2007, 676 (Rz. 13); BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 (214) = ZIP 1998, 776 (778); BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 (191) = ZIP 1994, 1103 (1107). 123) Uhlenbruck/Hirte, InsO § 15a Rz. 40. 124) BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 (214) = ZIP 1998, 776 (777). 125) Karsten Schmidt, NZI 1998, 9 ff. 126) K. Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 42. 127) Poertzgen, DZWiR 2007, 101 (104).

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C. Pflichten des Vorstands

Insolvenzverwalter für sämtliche Insolvenzgläubiger in Bezug auf einen „Schadenssockel“ (den Quotenschaden) einziehungsbefugt.128) Die schwierige Einteilung der Forderungsinhaber in die Gruppen der Alt- und Neugläubiger bleibt dem Verwalter erspart: lediglich die Gläubiger, die meinen, dass sich ihre Forderungen als Neugläubigeransprüche darstellen, müssen dann individuell selbst wegen ihres weitergehenden Ausfallschadens gegen den bzw. die Organvertreter vorgehen.129) f)

Verjährung

Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO verjähren gemäß §§ 195, 104 199 BGB. Die besondere Verjährungsregelung des § 93 Abs. 6 AktG findet keine analoge Anwendung, und zwar weder für Neugläubiger noch für Altgläubiger.130) 16.

Sonderregeln während der Corona-Pandemie

Während der Corona-Pandemie (COVID-19-Pandemie) in den Jahren 2020 105 und 2021 gab es verschiedene Anpassungen zur Regelung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO: Das im März 2020 verkündete Gesetz zur Abmilderung der Folgen der 106 COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht131) sah in Art. 1 § 1 COVInsAG (COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz)132) zunächst eine Aussetzung der haftungsbewehrten und teilweise auch strafbewehrten Insolvenzantragspflicht bis zum 30.9.2020 vor. Die Aussetzung galt nur für Fälle, in denen die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung auf den Folgen der COVID-19-Pandemie beruhte. Zudem war bei einer Zahlungsunfähigkeit erforderlich, dass Aussichten auf deren Beseitigung bestehen. Antragspflichtige Unternehmen sollten die Gelegenheit erhalten, ein Insolvenzverfahren durch ___________ 128) Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung (2006), S. 322 ff.; Poertzgen, DZWiR 2007, 101 ff.; grundsätzlich bereits zum einheitlich Quotenschaden: Karsten Schmidt, NZI 1998, 9 ff.; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 64 Rz. 201 (203); weiterhin K. Schmidt/ K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 42; zuletzt auch Ulmer/Casper, GmbHG, § 64 Rz. 169 ff. 129) K. Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, § 15a Rz. 42. 130) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, BGHZ 203, 218 (Rz. 19 ff.) = ZIP 2015, 71 (Rz. 19 ff.); BGH, Urt. v. 15.3.2011 – II ZR 204/09, ZIP 2011, 1007 (Rz. 17 ff.); OLG München, Urt. v. 18.5.2017 – 23 U 5003/16, GmbHR 2017, 1090 ff. = ZInsO 2018, 177 (Rz. 23 ff.); OLG Saarbrücken, Urt. v. 6.5.2008 – 4 U 484/07, NJW-RR 2008, 1621 (1622 f.). 131) Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.3.2020, BGBl I 2020, 569. 132) Gesetz zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten Insolvenz (COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz – COVInsAG), vom 27.3.2020 (BGBl I, 569).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

Inanspruchnahme staatlicher Hilfen, gegebenenfalls aber auch im Zuge von Sanierungs- oder Finanzierungsvereinbarungen, abzuwenden. 107 Nachfolgend wurde die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis zum 31.12.2020 verlängert, dies aber nur für Unternehmen, die überschuldet, aber nicht zahlungsunfähig waren (§ 1 Abs. 2 COVInsAG). 108 Mit § 1 Abs. 3 COVInsAG wurde die Insolvenzantragspflicht vom 1.1.2021 bis zum 30.4.2021 weiter ausgesetzt. Voraussetzung für diese Aussetzung war, dass die Aktiengesellschaft im Zeitraum vom 1.11.2020 bis zum 28.2.2021 einen Antrag auf die Gewährung finanzieller Hilfeleistungen im Rahmen staatlicher Hilfsprogramme zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie gestellt hatte. War eine Antragstellung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen innerhalb des Zeitraums nicht möglich, galt dies auch für Schuldner, die nach den Bedingungen des staatlichen Hilfsprogramms in den Kreis der Antragsberechtigten fielen. Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht galt nicht, wenn offensichtlich keine Aussicht auf Erlangung der Hilfeleistung bestand oder die erlangbare Hilfeleistung für die Beseitigung der Insolvenzreife unzureichend war. Sobald während des Aussetzungszeitraums nicht mehr alle Aussetzungsvoraussetzungen gegeben waren, setzte die Insolvenzantragspflicht unmittelbar wieder ein (und nicht etwa erst zum 1.5.2021). D. h., Geschäftsleiter mussten kontinuierlich prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Aussetzung weiterhin vorlagen. 109 Die Vorschrift des § 4 COVInsAG modifizierte darüber hinaus den Prognosezeitraum für die Überschuldungsprüfung: Abweichend von § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO war zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.12.2021 anstelle des Zeitraums von zwölf Monaten ein Zeitraum von vier Monaten zugrunde zu legen, wenn die Überschuldung des Schuldners auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen war (Æ Rz. 58). Dies wurde vermutet, wenn die AG am 31.12.2019 nicht zahlungsunfähig war und sie in dem letzten, vor dem 1.1.2020 abgeschlossenen Geschäftsjahr ein positives Ergebnis aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit erwirtschaftet hatte und der Umsatz aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit im Kalenderjahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 30 Prozent eingebrochen war. VI.

Masseerhaltungspflicht

1.

Einführung

110 Die neben der Insolvenzantragspflicht wichtigste Pflicht des Vorstands in der Krise der Gesellschaft ist die in § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) geregelte Pflicht zum Erhalt des verbliebenen Gesellschaftsvermögens (Masseerhaltungspflicht). Die Masseerhaltungspflicht ist wie die Insolvenzantragspflicht eine höchstpersönliche Pflicht des Vorstands. Konkret besteht die Masseerhaltungspflicht aus dem Zahlungs-

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C. Pflichten des Vorstands

verbot gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO (Æ Rz. 112 ff.), der Rechtfertigungsklausel gemäß § 15b Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 3 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG) (Æ Rz. 119 ff.) und der Pflicht zum Ersatz des durch verbotene Zahlungen entstandenen Schadens gemäß § 15b Abs. 4 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) (Æ Rz. 137 f.). Eine besondere Ausprägung der Masseerhaltungspflicht ist das in § 15b Abs. 5 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 3 AktG) formulierte Verbot von Zahlungen an Aktionäre, soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der AG führen (Æ Rz. 158 f.). Diese Regelung gilt rechtsformneutral und ersetzt § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F. und § 64 GmbHG a. F. Durch die Streichung der bisherigen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften wird deutlich, dass diese Haftung gesetzessystematisch als insolvenzrechtlich zu qualifizieren ist.133) Mit der rechtsformneutralen Fassung von Zahlungsverbot und Innenhaftung 111 und der „Ansiedelung“ im neu eigefügten § 15b InsO rückt die Masseerhaltungspflicht wieder in die örtliche Nähe der Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25 ff.), welche bereits seit 2008 in Form von § 15a InsO rechtsformneutral formuliert ist. Bis 2008 waren Antragspflicht und Masseerhaltungspflicht für die AG in § 92 Abs. 2 AktG a. F. bzw. §§ 92 Abs. 2 bzw. 3; 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F. verortet. Auch wenn die Haftung wegen verbotener Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife keine Sanktionierung einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht darstellt, ist es sinnvoll und angemessen, dass Antragspflicht und Masseerhaltung gleichermaßen rechtsformneutral in der Insolvenzordnung angesiedelt sind, um den insolvenzrechtlichen Charakter dieser zentralen Krisenpflichten deutlich hervorzuheben. 2.

Zahlungsverbot

a)

Grundsatz

Nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschul- 112 dung (Æ Rz. 52 ff.) muss das verbliebene Vermögen der AG erhalten bleiben. Das ist die Kernaussage des in § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO (bis zum 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG) nunmehr rechtsformneutral formulierten Zahlungsverbots. Insoweit geht es um einen wertmäßigen, nicht um einen gegenständlichen Erhalt des restlichen Gesellschaftsvermögens. Der Erhalt des noch vorhandenen Vermögens erfolgt in Erwartung des kurzfristig – und wegen der Antragspflicht (Æ Rz. 25 ff.) obligatorisch – zu beantragenden Insolvenzverfahrens und damit zur Sicherstellung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Gläubiger in einem solchen Insolvenzverfahren (par conditio creditorum).134) ___________ 133) Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2366); EuGH, Urt. v. 4.12.2014 – C-295/13, ZIP 2015, 196; EuGH, Urt. v. 10.12.2015 – C-594/14, ZIP 2015, 2468; Böcker, DZWIR 2016, 174. 134) BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184 (186) = ZIP 2000, 184 (185); BeckOK GmbHG/Mätzig, § 64 Rz. 53.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

113 Der Verweis auf die „nach § 15a Absatz 1 Satz 1 antragspflichtigen Mitglieder des Vertretungsorgans“ bedeutet nicht, dass das Zahlungsverbot zeitgleich mit der Antragspflicht zu beachten bzw. erfüllen wäre, also ggf. erst mit Ablauf der im Einzelfall maßgeblichen Sanierungsfrist (Æ Rz. 65 ff.). Vielmehr kommt es für die Einschlägigkeit des Zahlungsverbotes lediglich auf den objektiven Eintritt der Insolvenzreife an. Mit der Formulierung wollte der Gesetzgeber lediglich klarstellen, dass bei Vereinen und Stiftungen keine Zahlungsverbote – trotz der rechtsformneutralen Verankerung des Zahlungsverbots in der Insolvenzordnung – gelten.135) b)

Begriff der Zahlung

114 Im Zentrum der Masseerhaltungspflicht steht der Begriff der „Zahlung“. Hierunter sind sämtliche Verringerungen des Aktivvermögens der AG zu verstehen.136) Erfasst sind also nicht nur Barzahlungen und bargeldlose Zahlungen, sondern ebenso jede sonstige Weggabe von Aktiva, der kein wenigstens gleichwertiger Zufluss anderer Aktiva gegenübersteht.137) Keine Zahlung ist nach ganz herrschender Meinung die Begründung einer Verbindlichkeit zulasten der AG.138) Es ist richtig, dass die Vergrößerung der Passiva der Gesellschaft nicht unter den Zahlungsbegriff subsumiert werden kann. Allerdings stellt die Begrenzung des Schutzzwecks der Masseerhaltungspflicht auf die Aktivseite des Vermögens der AG auch die (große) systematische Schwäche des Zahlungsverbots dar. Denn die Gläubiger der AG – auf deren Perspektive es angesichts der Insolvenzreife allein ankommt – werden durch das Hinzutreten weiterer Forderungsinhaber (Vergrößerung der Passiva) letztlich ebenso geschädigt wie durch die Verringerung des Aktivvermögens. Schließlich sind die neuen Gläubiger ebenso wie die vorhandenen (Alt-) Gläubiger im späteren Insolvenzverfahren als Insolvenzgläubiger i. S. d. § 38 InsO anteilig zu befriedigen (Insolvenzquote).139) 115 Auf der Grundlage des geltenden Rechts kann die Begründung neuer Forderungen nach Eintritt der Insolvenzreife jedoch nach herrschender Meinung nur im Rahmen der deliktischen Schadensersatzregelung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO sanktioniert werden (Æ Rz. 97 ff., 101, 114) und nicht auch als Verletzung der Masseerhaltungspflicht.140) ___________ 135) Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drucks. 19/25353, S. 11 (Vorabfassung); Bitter, ZIP 2021, 321 (324). 136) MünchKommGmbHG/H.-F. Müller, § 64 Rz. 148. 137) MünchKommGmbHG/H.-F. Müller, § 64 Rz. 144. 138) Poertzgen, GmbHR 2007, 1258 (1262); MünchKommGmbHG/H.-F. Müller, § 64 Rz. 48. 139) Poertzgen, GmbHR 2006, 1182 (1184). 140) Poertzgen, ZInsO 2006, 561 (564 ff.).

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C. Pflichten des Vorstands

c)

Berücksichtigung von Gegenleistungen

Soweit der Gesellschaft eine Gegenleistung zufließt, kann hierdurch eine Haf- 116 tung gemäß § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) ausgeschlossen sein, da das Gesellschaftsvermögen dann per saldo im Umfang des Werts der Gegenleistung nicht verringert wird. Hierbei macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob man im Umfang der Gegenleistung bereits das Vorliegen einer Zahlung verneint oder ob die zur Gegenleistung führende Zahlung jedenfalls gemäß § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG) erlaubt ist (Æ Rz. 114 f., 119). Allerdings ist eine Gegenleistung nur dann haftungsausschließend zu berücksichtigen, wenn sie der AG in zeitlich unmittelbarem Zusammenhang mit der Zahlung zufließt.141) Zugunsten des Vorstands wirkt sich aus, dass es für die Berücksichtigung der Gegenleistung allein auf den Moment ihres Zuflusses ankommt.142) Dagegen muss die Gegenleistung nicht bei Eröffnung eines späteren Insolvenzverfahrens noch vorhanden sein.143) Anhaltspunkt für die haftungsausschließende Wirkung einer Gegenleistung 117 kann sein, ob die Gegenleistung im Verhältnis zur fraglichen Zahlung die Voraussetzungen eines Bargeschäfts i. S. d. § 142 InsO erfüllt.144) Der BGH vertritt insoweit jedoch eine einschränkende Auffassung, wonach die insolvenzrechtlichen Grundsätze des Bargeschäfts im Rahmen der Masseerhaltungspflicht gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) keine Anwendung finden sollen.145) Insbesondere muss die in die Masse gelangende Gegenleistung für eine Verwertung durch die Gläubiger geeignet sein, um nach Ansicht der Rechtsprechung eine Haftung des Vorstandsmitglieds wegen Verletzung der Masseerhaltungspflicht entfallen lassen zu können; Arbeits- und Dienstleistungen sind in diesem Zusammenhang also in der Regel keine tauglichen Gegenleistungen.146)

___________ 141) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, BGHZ 203, 218 (Rz. 10) = ZIP 2015, 71 (Rz. 10). 142) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, BGHZ 203, 218 (Rz. 11) = ZIP 2015, 71 (Rz. 11). 143) BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, BGHZ 203, 218 (Rz. 11) = ZIP 2015, 71 (Rz. 11). 144) BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, ZIP 2017, 1619 (Rz. 10 ff.); OLG München, Urt. v. 22.6.2017 – 23 U 3769/16, ZIP 2017, 1368 (Rz. 64); Gehrlein, ZInsO 2015, 477 (482 f.). 145) BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, ZIP 2017, 1619; kritisch hierzu Poertzgen, ZInsO 2017, 2056. 146) BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, ZIP 2017, 1619; OLG München, Urt. v. 22.6.2016 – 23 U 3769/16, ZIP 2017, 1368 m. Anm. Poertzgen, NZI 2017, 727; anders dagegen OLG Düsseldorf, Urt. v. 1.10.2015 – I-6 U 169/14, NZI 2016, 642 m. Anm. Poertzgen, NZI 2016, 646; kritisch zur Rechtsprechung des BGH Poertzgen, ZInsO 2017, 2056.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

d)

Subjektiver Tatbestand

118 Eine Verletzung des Zahlungsverbots setzt als subjektiven Tatbestand Verschulden des einzelnen Vorstandsmitglieds voraus, also positive Kenntnis oder zumindest Fahrlässigkeit in Bezug auf die Insolvenzreife und die Vornahme der betreffenden Zahlung. Die Inanspruchnahme fachlicher Beratung kann das Verschulden entfallen lassen (Æ Rz. 63 f., 185). 3.

Rechtfertigungsklausel

a)

Ausnahme vom Zahlungsverbot

119 Vom Zahlungsverbot ausdrücklich ausgenommen sind gemäß § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG) solche Zahlungen, die auch in Ansehung der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung der AG mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind. 120 § 15b Abs. 2, 3 und 8 InsO differenzieren die Kasuistik der in § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO normierten Rechtfertigungsklausel – im Wesentlichen anhand der bis zum 31.12.2020 bestehenden Rechtsprechung – weiter aus, indem der Sorgfaltsmaßstab entweder in Bezug auf die Gegenleistung für die Zahlung oder im Hinblick auf den Zeitpunkt der Zahlung konkretisiert wird. Daneben enthält § 89 Abs. 3 StaRUG eine eigene Rechtfertigungsklausel für Zahlungen im Restrukturierungsverfahren (Æ Rz. 151). 121 Nach § 15b Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 InsO wird fingiert, dass insbesondere solche Zahlungen, die der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen, vorbehaltlich des Absatzes 3 als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind. Allgemein stellt das Gesetz auf eine Zahlung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang (§ 15b Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 InsO) ab. Hierunter fallen insbesondere Zahlungen, die zur Aufrechterhaltung bzw. Wahrnehmung erfolgversprechender Sanierungschancen bzw. Umsetzung von Sanierungsmaßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind.147) Der Begriff „der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen“ geht grundsätzlich jedoch weiter als der der Rechtsprechung des BGH zur sog. „Notgeschäftsführung“.148) Es kommt primär auf die Unterscheidung zwischen pflichtgemäßem und pflichtwidrigem Handeln der Geschäftsleitung an149): Im Insolvenzeröffnungsverfahren und in der Phase der Drei- bzw. Sechs-Wochenfrist werden alle Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, privilegiert, um ___________ 147) Hüffer/Koch, § 92 Rz. 34. 148) BGH, Urt. v. 5.11.2007 – II ZR 262/06, ZIP 2008, 72 (Rz. 6); BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, ZIP 2017, 1619 (Rz. 21); BGH, Urt. v. 24.9.2019 – II ZR 248/17, ZIP 2020, 1239 (Rz. 19). 149) Bitter, ZIP 2021, 321 (325).

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C. Pflichten des Vorstands

auf diese Weise eine Betriebsfortführung zur Erhaltung der vorhandenen Masse im Interesse der Gläubigergesamtheit zu ermöglichen. Es kommt nicht mehr zwingend auf die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes an, um diesen für eine Sanierung im Insolvenzverfahren am Leben zu erhalten, etwa durch die Leistung von Zahlungen für Strom, Wasser oder Gas, um die Produktion vorzuführen. Nunmehr kann auch die Bezahlung von Löhnen, Mieten oder Versicherungen zur Vermeidung von Kündigungen der Vertragspartner, oder auch die Bestellung neuer Waren und Dienstleistungen aus Sicht eines objektiv denkenden Gläubigers im Interesse einer vorläufigen, die Werte erhaltenen Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs sein. Während des Laufs der Sanierungsfrist (Æ Rz. 65 ff.) gilt dies nur, wenn der 122 Vorstand Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags gewissenhaft betreibt (§ 15b Abs. 2 Satz 2 InsO). D. h. die Zahlungen müssen, während die Sanierungsfrist läuft, inhaltlich im Einklang mit dem Sanierungszweck und -ziel stehen. Die Alternative der „Vorbereitung eines Insolvenzantrags“ dürfte darüber hinaus zeitlich nur sehr kurze Zeiträume von wenigen Tagen umfassen.150) Der in Bezug genommene Abs. 3 des § 15b InsO definiert die Sorgfalt eines or- 123 dentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zeitpunktbezogen in Bezug auf die Insolvenzantragspflicht: Ist der für eine rechtzeitige Eröffnungsantrag maßgebliche Zeitpunkt verstrichen (Ablauf der Sanierungsfrist) und hat der Vorstand keinen Antrag gestellt, sind die Zahlungen „in der Regel“ nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters vereinbar. Nach Ablauf der Sanierungsfrist sind praktisch keine Zahlungen mehr mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar. In diesem Stadium muss mit höchster Priorität der Insolvenzantrag gestellt werden. Eine Fortsetzung der (erlaubten) Geschäftstätigkeit ist dann grundsätzlich ausgeschlossen.151) Gesetzestechnisch enthält Abs. 3 eine Vermutung, die Auswirkung für die Dar- 124 legung und Beweislast hat. Umstritten ist, ob aus der Formulierung „in der Regel“ des Absatzes 3 geschlossen werden kann, dass es auch Ausnahmefälle zulässiger Zahlungen trotz eingetretener Insolvenzverschleppung geben kann.152) Dafür spricht zwar der Wortlaut. In der Praxis sollte man auf eine solche Ausnahme jedoch nicht vertrauen.153) Denn § 15b Abs. 2 und 3 InsO unterscheiden bei der Privilegierung einer Zahlung maßgeblich danach, ob der Geschäftsleiter pflichtgemäß oder pflichtwidrig handelt. Wenn er die Insolvenz verschleppt, dürften auch Zahlungen für Strom, Gas und Wasser oder die Feuerversicherung mit der Begründung, das Unternehmen solle „lebend“ an den Insolvenzverwal___________ 150) 151) 152) 153)

Gehrlein, DB 2020, 2393 (2394 f.); Bitter, ZIP 2021, 321 (326). Hüffer/Koch, § 92 Rz. 34. So Gehrlein, DB 2020, 2393 (2396). Kritisch auch Bitter, ZIP 2021, 321 (326).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

ter übergeben werden, verboten sein. Der Geschäftsleiter hätte vielmehr Insolvenzantrag rechtzeitig stellen müssen. Im Eröffnungsverfahren hätte entschieden werden können, welche Beträge im Interesse einer Verwertung zugunsten der Gläubiger fortgezahlt werden sollen. 125 § 15b Abs. 2 Satz 3 InsO fingiert für den Zeitraum zwischen Stellung des Antrags und der Eröffnung des Verfahrens durch das Gericht, dass Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind, wenn diese mit der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters vorgenommen werden. In diesem Fall entfällt im Eröffnungsverfahren die zusätzliche Prüfung, ob jene Zahlung „im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgte“.154) Sollten durch eine derartige Maßnahme Gläubigerinteressen verletzt worden sein, haftet allein der vorläufige Verwalter.155) Eine Haftung des Geschäftsleiters kommt in dieser Konstellation nur in Betracht, wenn er kollusiv mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter insolvenzzweckwidrig handelt.156) 126 Der zeitliche Anwendungsbereich des § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO endet jedenfalls mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Einsetzung eines Insolvenzverwalters, weil die Geschäftsleiter dann die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verlieren (§§ 80 Abs. 1, 81 Abs. 1 Satz 1 InsO). Ebenso ist es bereits im Eröffnungsverfahren, wenn ein starker vorläufiger Verwalter eingesetzt wurde (§ 22 Abs. 1 InsO).157) Für den Fall der Einsetzung eines schwachen vorläufigen Verwalters mit Zustimmungsvorbehalt gilt § 15b Abs. 2 Satz 3 InsO (Æ Rz. 125). 127 Auch nach Stellung eines Insolvenzantrages, also im Eröffnungsverfahren, ist eine Haftung wegen verbotener Zahlungen gemäß § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) somit denkbar, und auch wenn der Vorstand im Rahmen eines Schutzschirmverfahrens (§ 270b InsO) oder eines vorläufigen Eigenverwaltungsverfahrens (§ 270a InsO) zu einer Fortführung des Geschäftsbetriebs der AG unter der Aufsicht eines vorläufigen Sachwalters ermächtigt ist. In diesen Konstellationen sind der Zahlungsbegriff und die Rechtfertigungsklausel im Rahmen der zugelassenen Eigenverwaltung entsprechend dem gesetzlichen Ziel einer Massesicherung durch Betriebsfortführung spezifisch zu interpretieren.158) ___________ 154) 155) 156) 157) 158)

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Bitter, ZIP 2021, 321 (326). Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 195. Bitter, ZIP 2021, 321 (326). Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2367). A. Schmidt/Poertzgen, NZI 2013, 369 (373 f., 374 ff.); zu beachten ist, dass die Geschäftsleiter im eröffneten Eigenverwaltungsverfahren nach jüngster Rechtsprechung des BGH in entsprechender Anwendung der §§ 60, 61 InsO direkt gegenüber (verfahrensbeteiligten) Dritten haftbar werden können, BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, ZIP 2018, 977 m. Anm. Bitter.

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C. Pflichten des Vorstands

Bei der vorläufigen Eigenverwaltung übernehmen die Organe der Aktienge- 128 sellschaft mehr oder weniger die Aufgaben des Insolvenzverwalters, insbesondere kommt ihnen die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das gesellschaftliche Vermögen zu. Nach der Rechtsprechung des BGH159) haftet der eigenverwaltende Geschäftsführer den Beteiligten des Insolvenzverfahrens wie ein Insolvenzverwalter. Die für den Insolvenzverwalter geltenden Haftungsnormen (§§ 60, 61 InsO) sind analog auf die eigenverwaltenden Geschäftsleiter anwendbar. § 276a Abs. 2, 3 InsO ordnen dies nun ausdrücklich an. Dabei können sich die Geschäftsleiter im Rahmen der Haftung nach § 60 InsO nicht auf die „business judgment rule“ und ein unternehmerisches Ermessen berufen.160) In der Begründung hat der Gesetzgeber161) klargestellt, dass die Haftung aus § 276a Abs. 2, 3 InsO im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren und bei der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach § 270c Abs. 3 InsO der Haftung aus § 15b Abs. 4 InsO vorgeht. Die Voraussetzungen der Rechtfertigungsklausel müssen in Bezug auf jede in- 129 dividuelle Zahlung im konkreten Einzelfall vorliegen, damit diese nicht zu einer Haftung des Vorstands führt. Es ist daher nicht ausreichend (weil nicht hinreichend bestimmt), wenn der Vorstand eine Anweisung erlässt, wonach „nur noch unbedingt notwendige Zahlungen auszuführen sind“.162) Unter die Rechtfertigungsklausel fallen auch Zahlungen, die zur Erfüllung von 130 Aus- oder Absonderungsrechten bzw. allgemein zur Befriedigung besicherter Ansprüche geleistet werden.163) Denn insoweit hätte das für die Zahlung verwendete Vermögen der AG in einem Insolvenzverfahren ohnehin nicht zur Befriedigung der ungesicherten Gläubiger zur Verfügung gestanden. Die Erfüllung besicherter Ansprüche ist also für den Vorstand auch nach Eintritt der Insolvenzreife möglich. Mit derselben Begründung – also keine Verkürzung der allgemeinen Insolvenzmasse und damit keine Gläubigerbenachteiligung i. S. d. § 129 InsO – wird im Übrigen auch eine Insolvenzanfechtung der in Form der Zahlung bewirkten Leistung auf den Aus- oder Absonderungsanspruch bzw. die besicherte Forderung ausscheiden.164)

___________ 159) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, BGHZ 218, 290 = ZIP 2018, 977. 160) BGH, Urt. v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, BGHZ 225, 90 = ZIP 2020, 1080; Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2368). 161) Gesetzentwurf der Bundesregierung, SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 190. 162) OLG Brandenburg, Urt. v. 12.1.2016 – 6 U 123/13, ZIP 2016, 923, Rz. 3.5; Poertzgen, ZWH 2016, 367 f. 163) A. Schmidt/Poertzgen, NZI 2013, 369, Fn. 9; Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung (2006), S. 218. 164) MünchKommInsO/Kayser, § 129 Rz. 152a.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

b)

Kollision von Zahlungsverbot und Zahlungsgebot

131 Das Zahlungsverbot gemäß § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG) kollidiert systematisch grundsätzlich mit der Pflicht der Vorstandsmitglieder zur Vornahme bestimmter Zahlungen, insbesondere der Pflicht zur Abführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung (§ 266a StGB) und der Erfüllung von Steuerverbindlichkeiten der AG (§§ 34, 69 AO, dazu ausführlich § 14 Rz. 4 ff. und 174 ff.).165) Insbesondere soweit die Nichterfüllung dieser Zahlungspflichten – wie eben im Fall der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung oder der Lohnsteuer für Arbeitnehmer der AG – zu einer auch strafrechtlichen Haftung der Organvertreter führen kann, bestand bis zur Schaffung des § 15b Abs. 8 InsO für die Vorstandsmitglieder bei der Beachtung des gegenläufigen Zahlungsverbots eine Zwickmühle.166) Die bis zum 31.12.2020 geltende Rechtsprechung, nach der die Erfüllung zwingender Zahlungspflichten in Bezug auf öffentlich-rechtliche Abgaben unter die Rechtfertigungsklausel des § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. fiel,167) ist – jedenfalls hinsichtlich der Steuerzahlungspflicht – obsolet. 132 Nach § 15b Abs. 8 Satz 1 InsO liegt eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten nicht vor, wenn zwischen dem Eintritt der Insolvenzreife und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden. Diese haftungsrechtliche Privilegierung steht unter der Bedingung, dass der Vorstand seinen Verpflichtungen nach § 15a InsO nachkommt. Der Konflikt des Geschäftsleiters zwischen Zahlungsverbot nach § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO und steuerlicher Zahlungspflicht nach §§ 34, 69 AO wird nunmehr, wenn sich der Geschäftsleiter pflichtgemäß verhält, zugunsten des Massesicherungsgebots durch § 15b Abs. 8 Satz 1 InsO jedenfalls für den Zeitraum zwischen Antragstellung und Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag gelöst. Die straf- und steuerrechtliche Pflicht zur Leistung von Steuerzahlungen ist dann suspendiert. 133 Für den Zeitraum vor Antragstellung enthält das Gesetz keine ausdrückliche Festlegung. Somit stellt sich die Frage, ob die Pflichtenkollision in dieser Konstellation entsprechend der bisherigen Rechtsprechung,168) dass die Erfüllung von Steuerschulden dem Zahlungsverbot vorgehen, gelöst wird,169) oder aber der Konflikt nicht aufgelöst wird und der Geschäftsleiter persönlich haftet.170) Dann ___________ 165) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 38. 166) Hüffer/Koch, § 93 Rz. 34. 167) BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 (Rz. 11); BFH, Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BFHE 222, 228 = ZIP 2009, 122 (124). 168) Nachweise in Fußnote 167. 169) So wohl Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2366). 170) So wohl Bitter, ZIP 2021, 321 (327).

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C. Pflichten des Vorstands

würde, wenn entgegen der Verpflichtung nach § 15a InsO ein Insolvenzantrag verspätet gestellt wird, die Privilegierung des Geschäftsleiters nach § 15b Abs. 8 Satz 2 InsO nur geltem für die nach Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung fällig werdenden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Für die zuletzt genannte Ansicht spricht neben dem Umkehrschluss aus dem Satz 2 Folgendes: Wenn der Geschäftsleiter die Insolvenz pflichtwidrig verschleppt, hat er sich selbst in die Pflichtenkollision aus insolvenzrechtlichem Zahlungsverbot (§ 15b Abs. 3 InsO) und straf-/steuerrechtlichem Abführungsgebot begeben, und ist insofern nicht schutzwürdig, ihn aus der einen (§ 15b Abs. 4 Satz 1 InsO) oder der anderen Haftung (§§ 34, 69 AO) zu entlassen, mit Ausnahme für die nach Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung begründeten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 15b Abs. 8 Satz 2 InsO). Dieses Verständnis setzt voraus, dem § 15b InsO eine generelle differenzierende Unterscheidung zwischen pflichtgemäßen und pflichtwidrigen Verhalten der Geschäftsleitung zugrunde zu legen. Schutzwürdig ist der Geschäftsleiter – bei einem solchen Verständnis – somit nur, wenn kein Fall einer Insolvenzverschleppung vorliegt.171) Die Pflichtenkollision kann der Geschäftsleiter durch die Stellung eines Insolvenzantrags selbst vermeiden und nur nach Antragstellung tritt die Pflicht zur Erfüllung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis hinter die Massesicherungspflicht zurück. Wird das Insolvenzverfahren nicht eröffnet und ist dies auf eine Pflichtverlet- 134 zung der Antragspflichtigen zurückzuführen, gilt der Dispens der steuerrechtlichen Pflichten nicht (§ 15b Abs. 8 Satz 3 InsO). Vorteil dieser Klarstellung in § 15b Abs. 8 InsO und Aufgabe der an der Recht- 135 sprechung des BGH zu § 266a StGB angelehnten Rechtsprechung des BFH172) ist, dass es nunmehr nicht mehr erforderlich ist, die Steuerbeträge im Eröffnungsverfahren zunächst zu zahlen, den Fiskus auf den Insolvenzantrag hinzuweisen und die Beträge dann im eröffneten Insolvenzverfahren über die Insolvenzanfechtung zurück zur Masse zu holen.173) Offen ist, was für die Pflichtenkollision im Fall des § 266a StGB hinsichtlich 136 der Abführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung gilt. Denkbar ist, dagegen steht jedoch der Wortlaut des § 15b Abs. 8 InsO, die Norm analog bei diesem Zahlungsgebot anzuwenden.174) Die andere Denkmöglichkeit ist, ___________ 171) Bitter, ZIP 2021, 321 (327). 172) BFH, Urt. v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BFHE 222, 228 = ZIP 2009, 122; BFH, Urt. v. 26.9.2017 – VII R 40/16, BFHE 259, 423 = ZIP 2018, 22; BFH, Urt. v. 22.10.2019 – VII R 30/18, ZIP 2020, 911. 173) Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drucks. 19/25353, S. 12 (Vorabfassung). 174) Dafür Bitter, ZIP 2021, 321 (328).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

das Zahlungsverbot des § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO in diesem Fall – wie es die Rechtsprechung des BGH nahelegt,175) gegenüber dem Zahlungsgebot zu suspendieren und somit den Konflikt zulasten der Gläubiger der Masse und zugunsten der Sozialversicherungsträger zu lösen. Gegen diese Interessenausgleich schaffende Rechtsprechung könnte eingewandt werden, dass sich aus den Absätzen 2 und 3 des § 15b InsO mit der Unterscheidung zwischen pflichtgemäßen und pflichtwidrigen Handeln des Vorstands bereits ergibt, dass der Vorstand grundsätzlich nur schutzwürdig ist, wenn er pflichtgemäß handelt, und sich in allen anderen Konstellationen in die entstandene Pflichtenkollision selbst durch pflichtwidriges Verhalten hineinbegeben hat. 4.

Haftung wegen verbotener Zahlungen

a)

Ersatz verbotswidriger Zahlungen

137 Verbotswidrige Zahlungen sind von den Vorstandsmitgliedern, denen die Leistung der Zahlungen zugerechnet werden kann, zu erstatten (§ 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG). Der Anspruch besteht zugunsten der AG und wird daher im Unterschied zur deliktischen Außenhaftung (Æ Rz. 95) als „Innenhaftung“ bezeichnet. Mehrere Vorstandsmitglieder haften als Gesamtschuldner.176) Der Verweis in dem weggefallenen § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F. („sind namentlich zum Ersatz verpflichtet“) auf die Schadensersatzregelung des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG a. F. bedeutete, dass – anders als im GmbH-Recht, wo gemäß § 64 Satz 1 GmbHG a. F. lediglich der Wert der geleisteten Zahlungen zu ersetzen war177) – im Aktienrecht der durch die Leistung der verbotswidrigen Zahlungen entstandene Schaden zu ersetzen ist.178) Diese Haftung wegen des entstandenen Schadens umfasst auch entgangenen Gewinn (§ 252 BGB), soweit etwa als Folge verbotener Zahlungen gewinnbringende Geschäfte unterbleiben mussten.179) 138 Die Geltendmachung des Anspruchs aus § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO setzt tatbestandlich kein eröffnetes Insolvenzverfahren voraus.180) Praktisch werden Ansprüche wegen verbotener Zahlungen aber dennoch nur nach Verfahrenseröffnung vom Insolvenzverwalter zugunsten der Insolvenzmasse der AG geltend gemacht.181) ___________ 175) BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265; BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, ZIP 2008, 1275. 176) Hüffer/Koch, § 93 Rz. 57. 177) BeckOK GmbHG/Mätzig, § 64 Rz. 65. 178) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 171. 179) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 171. 180) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 283. 181) Hüffer/Koch, § 93 Rz. 48.

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C. Pflichten des Vorstands

b)

Haftungshöchstgrenze

Eine echte Neuregelung enthält die in § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO formulierte 139 Haftungsobergrenze, mit deren Einführung der Gesetzgeber der seit langem von der Beratungspraxis geäußerten Kritik an den finanziellen Auswüchsen der Innenhaftung (Æ Rz. 137 ff.) bzw. deren systematischer Schwäche (Æ Rz. 72, 96) Rechnung getragen hat.182) Nach § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO beschränkt sich die Haftung des Vorstands für verbotene Zahlungen betragsmäßig auf den Umfang des im Rahmen einer Differenzhypothese (§§ 249 ff. BGB) zu ermittelnden Schadens, der den Gläubigern der AG der juristischen Person durch die Vornahme der verbotenen Zahlungen tatsächlich entstanden ist. Die Haftungsbegrenzung greift ein, wenn die Summe der zu erstattenden 140 (Einzel-) Zahlungen den Umfang des tatsächlichen entstandenen Schadens übersteigt. Dann ist nur der real eingetretene Schaden zu ersetzen. Bleibt die Summe der zu erstattenden Zahlungen dagegen hinter dem von der Gesamtheit der Gläubiger erlittenen Schäden zurück, müssen nur die verbotswidrig geleisteten Zahlungen geleistet werden. Nach § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO ist mit dem tatsächlich entstandenen Schaden 141 nur die Summe solcher Zahlungen zu vergleichen, die als solche tatsächlich erstattungspflichtig sind. Von vorneherein außer Betracht bleiben also Zahlungen, für die eine relevante Gegenleistung (Æ Rz. 114) in das Gesellschaftsvermögen fließt, die auf eine besicherte Forderung geleistet werden (Æ Rz. 130) oder die aus anderen Gründen von der Rechtfertigungsklausel (Æ Rz. 119 ff.) erfasst werden. Der als Vergleichsgröße heranzuziehende Schaden kann im Einzelfall schwierig 142 zu ermitteln sein. Es geht hier nicht um die Vermögenseinbuße(n) als Folge einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 95 ff.), sondern um den Vergleich der Vermögenslagen nach Vornahme der verbotenen Zahlungen einerseits und ohne die verbotswidrigen Zahlungen andererseits. Nach dem Gesetzeswortlaut soll die Vermögenseinbuße aus der Perspektive der Gläubiger bemessen werden; insoweit können verschiedene Gruppen von Gläubigern – wie im Parallelfall einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht – jedoch unterschiedlich umfangreiche Einbußen erleiden. Die Untergrenze des für die Anwendung von § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO zu ermittelnden Schadens dürfte durch den Quotenschaden im Rahmen der Insolvenzverschleppung (Æ Rz. 99 ff. und 103) definiert werden, bezogen jedoch nur auf den Zeitraum zwischen der ersten und der letzten verbotenen Zahlung. Die Beweislast dafür, dass ein Schaden entstanden ist, der niedriger als die 143 Summe der verbotenen Zahlungen ist, trägt der aus § 15b InsO in Anspruch genommene Vorstand. ___________ 182) Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2367).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

144 Gesetzestechnisch wird mit § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO auch insoweit „Neuland“ betreten, als hier eine Summe von Verringerungen des Aktivvermögens (nämlich die verbotenen Zahlungen, Æ Rz. 114) mit einem Schaden, also dem Vergleich von Vermögenslagen, die jeweils durch das Verhältnis von Aktiva zu Passiva definiert werden, verglichen werden soll. Dogmatisch überzeugend ist das nicht, es werden die sprichwörtlichen „Äpfel und Birnen“ vermengt. Besser wäre es gewesen, wenn der Gesetzgeber die der Innenhaftung zugrunde liegende prinzipielle Fokussierung auf die Aktivseite des Gesellschaftsvermögens grundsätzlich aufgegeben hätte. 145 Für Vorstände, die wegen verbotener Zahlungen in Anspruch genommen werden, dürften solche wissenschaftlichen Kritikpunkte an der Ausgestaltung des § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO jedoch deutlich von den praktischen Vorteilen überlagert werden, die sich aus § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO ergeben. Allein der Umstand, dass der Gesetzgeber jetzt eine Haftungsobergrenze ausdrücklich eingeführt hat, stellt unbeschadet des Einzelfalls ein deutliches Signal dar: Vorstandsmitglieder sollen durch die bereits im Ansatz problematische Innenhaftung (Æ Rz. 96, 139) jedenfalls nicht schematisch (und folglich oft existenzbedrohend), sondern unbedingt wertungsgerecht und mit juristischen Augenmaß belastet werden. c)

Verhältnis zur Insolvenzanfechtung

146 In vielen Fällen kann die in Frage stehende Zahlung i. S. d. § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG) auch die Voraussetzungen der Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO erfüllen, soweit über das Vermögen der AG das Insolvenzverfahren eröffnet wird. Grundsätzlich kann der Insolvenzverwalter insoweit nach eigenem Ermessen entscheiden, ob er gegen das Vorstandsmitglied aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) oder gegen den Empfänger der Zahlung gemäß §§ 129 ff. InsO vorgeht.183) Auch wenn insoweit kein Gesamtschuldverhältnis im technischen Sinn vorliegt, sind die Haftung wegen verbotener Zahlung und die Insolvenzanfechtung in aller Regel auf dasselbe wirtschaftliche Interesse gerichtet.184) Deshalb kann der Insolvenzverwalter nicht kumulativ gegen den Organvertreter und den Anfechtungsgegner vorgehen.185) In wirtschaftlicher Hinsicht bzw. unter Wertungsgesichtspunkten muss in aller Regel auch eher der Zahlungsempfänger als das Vorstandsmitglied letztlich für die Erstattung des Wertes der Zahlung an die Insolvenzmasse einstehen. Schließlich ist der Zahlungsempfänger und nicht das Vorstandsmitglied durch die Zahlung bereichert worden. Vor diesem Hintergrund kann der Vorstand, der vom Insolvenzverwalter gemäß ___________ 183) OLG Oldenburg, Urt. v. 10.5.2004 – 15 U 13/0, ZInsO 2004, 984 ff. 184) BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325 (328) = ZIP 1996, 420 (421). 185) HambKomm/A. Schmidt, Anhang zu § 35 InsO Abschnitt H Rz. 26.

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C. Pflichten des Vorstands

§ 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) erfolgreich in Anspruch genommen wird, entsprechend § 255 BGB die Abtretung des Anfechtungsanspruchs gegen den Zahlungsempfänger verlangen.186) Lässt der Insolvenzverwalter die nach §§ 195, 199 BGB verjährende Anfech- 147 tungsmöglichkeit verstreichen, um dann die gemäß § 15b Abs. 7 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 6 AktG) später verjährende Haftung wegen verbotener Zahlungen geltend zu machen (Æ Rz. 137 ff.), kann der Vorstand bereits aus zeitlichen Gründen keinen Regress mehr beim Anfechtungsgegner nehmen.187) Auch die in Form von § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO eingeführte Haftungsober- 148 grenze (Æ Rz. 139 ff.) kann das für den Vorstand problematische Verhältnis zwischen Insolvenzanfechtung und Haftung wegen verbotener Zahlungen nicht grundsätzlich auflösen. Durch die betragsmäßige Deckelung der Innenhaftung werden die Folgen einer unterbliebenen Anfechtung allein praktisch abgemildert, wenn den Gläubigern der Gesellschaft durch die Fortführung des Geschäftsbetriebs nach Eintritt der Insolvenzreife kein oder nur ein geringer Schaden entstanden ist (Æ Rz. 140 ff.). Eine Haftung des Insolvenzverwalters wegen eines Verstreichenlassens der An- 149 fechtungsmöglichkeit wird in aller Regel nicht anzunehmen sein.188) Im Einzelfall kann es daher für den Vorstand, der eine Inanspruchnahme aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) erwartet, ratsam sein, vor Ablauf der Verjährungsfrist gemäß §§ 195, 199 BGB auf eine Geltendmachung des Anfechtungsanspruchs zu drängen. d)

Verhältnis zu § 43 StaRUG und Geltung im Restrukturierungsverfahren

§ 15b InsO ist ab Eintritt der materiellen Insolvenz grundsätzlich neben § 43 150 StaRUG anwendbar.189) Nach § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO im Umkehrschluss wird der Gesamtschaden der Gläubiger in Höhe der Summe der einzelnen Zahlungen zunächst vermutet. Insofern ist die Beweissituation für die Gläubiger zum Nachteil des Vorstands bei § 15b Abs. 4 InsO günstiger, so dass § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG daneben in der Praxis weniger bedeutend sein dürfte.190) Beide Normen begründen Innenhaftungen. Nach dem Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung greift auch 151 im Rahmen eines Restrukturierungsverfahrens grundsätzlich die Haftung aus § 15b Abs. 4 InsO für Schäden wegen verbotener Zahlungen. Allerdings kann ___________ 186) 187) 188) 189) 190)

BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, ZIP 2011, 1114 (Rz. 8). BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325 ff. = ZIP 1996, 420 ff. BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325 (331) = ZIP 1996, 420 (422). Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2368); Desch, BB 2020, 2498 (2501). Bitter, ZIP 2021, 321 (334).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

sich ein Geschäftsleiter auf § 89 Abs. 3 StaRUG berufen, wenn er die Anzeigepflicht (§ 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG) erfüllt hat. Danach gilt bis zur Aufhebung der Restrukturierungssache durch das Restrukturierungsgericht (§ 33 Abs. 2 StaRUG) jede Zahlung im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs als grundsätzlich mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters vereinbar. Darunter fallen insbesondere Zahlungen, die für die Fortführung der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und der Vorbereitung und Umsetzung des angezeigten Restrukturierungsvorhabens erforderlich sind. § 89 Abs. 3 Satz 2 StaRUG nimmt Zahlungen davon aus, die bis zu einer Entscheidung des Restrukturierungsgerichts zurückgehalten werden können, ohne dass damit Nachteile für eine Fortsetzung des Restrukturierungsvorhabens verbunden sind. Diese Rechtfertigungsklausel ist besonders dann wichtig, wenn das Restrukturierungsgericht nach der Anzeige der Zahlungsunfähigkeit nicht von der Möglichkeit Gebrauch macht, das Restrukturierungsverfahren aufzuheben. Die Geschäftsleiter können dann trotz der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit das Restrukturierungsverfahren fortsetzen und hierfür notwendige Zahlungen leisten, ohne eine Haftung fürchten zu müssen.191) 5.

Zahlung durch Überweisung vom Konto der AG

152 Wird eine Überweisung vom Konto der AG getätigt, so kommt es für das Vorliegen einer Zahlung i. S. d. § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG) darauf an, ob das Konto im Haben oder im Soll geführt wird. Wird zulasten eines im Plus geführten Kontos der AG eine Überweisung getätigt, liegt grundsätzlich eine unzulässige Zahlung i. S. d. § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO vor, da das Aktivvermögen der Gesellschaft durch die Überweisung verringert wird. Etwas anderes gilt wiederum dann, wenn mit der Überweisung eine besicherte Forderung erfüllt wird (Æ Rz. 130): eine solche Zahlung unterfällt der Rechtfertigungsklausel und löst keine Haftung des Vorstands aus.192) 153 Wird dagegen zulasten eines im Soll befindlichen Kontos der AG überwiesen, liegt in der Überweisung keine verbotene Zahlung, sondern ein im Hinblick auf § 15b Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 InsO unerheblicher Gläubigerwechsel.193) 6.

Haftung für Zahlungseingang auf debitorischem Konto der AG

a)

Grundsatz

154 Praktisch häufig zur Haftung von Organvertretern gemäß § 15b Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 1, Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) führt die Konstellation des Zahlungseingangs auf einem debitorischen Konto der AG ___________ 191) Brinkmann, ZIP 2020, 2361 (2368). 192) HambKomm/A. Schmidt, Anhang zu § 35 InsO H Rz. 16. 193) BGH, Urt. v. 26.3.2007 – II ZR 310/05, ZIP 2007, 1006 (Rz. 8).

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C. Pflichten des Vorstands

als Folge einer Überweisung an die Gesellschaft. Obwohl eine solche Überweisung in aller Regel nichts anderes ist als das Ergebnis der pflichtgemäßen Bemühung des Vorstands um die Realisierung von Forderungen der AG gegen Dritte, stellt die Gutschrift auf dem debitorischen Konto wirtschaftlich eine Verringerung der Forderung der kontoführenden Bank gegen die AG dar. Damit liegt eine Zahlung i. S. d. § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG) zugunsten der Bank vor. In einer Grundsatzentscheidung von 1999 hat der BGH im Hinblick auf das 155 berechtigte Bestreben des Vorstands an einer Vermeidung persönlicher Haftung aufgrund des Forderungsmanagements den (problematischen) Rechtssatz formuliert, dass der Vorstand dann eben die Forderung auf ein im Haben geführtes Konto einziehen müsse.194) b)

Rechtsprechung im Überblick

Seit 2015 hat der BGH in einer Reihe von Entscheidungen die Haftungsfol- 156 gen für Vorstandsmitglieder wegen des Eingangs von Zahlungen auf einem debitorischen Konto der AG abgemildert.195) Hiernach scheidet eine Haftung des Vorstands wegen Zahlungseingängen auf einem debitorischen Konto aus, wenn der Zahlungseingang Folge der Erfüllung einer besicherten Forderung ist.196) Das ist vor allem der Fall, wenn die durch den Zahlungseingang erfüllte Forderung an die kontoführende Bank im Rahmen einer Globalzession abgetreten gewesen ist.197) Damit ist eine wesentliche Ausnahme zur Grundregel formuliert, wonach der Zahlungseingang auf dem debitorischen Konto eine verbotene Zahlung darstellt: war die durch den Zahlungseingang erfüllte Forderung an die Bank zur Sicherheit abgetreten, so stellt der Zahlungseingang auf dem debitorischen Konto keine zur Haftung des Vorstandsmitglieds führende Zahlung dar, da der mit der Überweisung bewirkte Zufluss zum Gesellschaftsvermögen angesichts des Sicherheitsrechts nicht für die allgemeine Gläubigerbefriedigung zur Verfügung steht (Æ Rz. 130).198) Allerdings gibt es zu dieser Ausnahme auch wieder eine wichtige Gegenausnahme: ist das Sicherungsrecht der Bank erst nach Eintritt der Insolvenzreife der AG entstanden bzw. werthaltig geworden, so liegt doch wieder eine zur Haftung des Vorstands führende Zah___________ 194) BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184 ff. = ZIP 2000, 184 ff. 195) BGH, Urt. v. 3.5.2016 – II ZR 318/15; BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, ZIP 2016, 1119 ff.; BGH, Urt. v. 8.12.2015 – II ZR 68/14, ZIP 2016, 364 ff.; BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 ff. = ZIP 2015, 1480 ff. 196) BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 (Rz. 21 ff.) = ZIP 2015, 1480, (Rz. 21 ff.). 197) BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 ff. = ZIP 2015, 1480 ff. 198) BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 (Rz. 18) = ZIP 2015, 1480 (Rz. 18).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

lung vor.199) Insgesamt liegt kein geschlossenes Regel-Ausnahme-System vor, da es auch zu der Gegenausnahme wieder Rückausnahmen gibt (wiederum keine haftungsrelevante Zahlung bei bloßem Gläubiger- oder Sicherheitentausch).200) Vor diesem Hintergrund wird die neue Rechtsprechung gemeinhin als kompliziert und für rechtliche Laien kaum mehr nachvollziehbar kritisiert.201) Sie ist aber auf der Grundlage der gegenwärtigen gesetzlichen Konzeption der Masseerhaltung konsequent und – mit Ausnahme der problematischen Beweislastregelung (Æ Rz. 157) – begrüßenswert.202) c)

Beweislast

157 Problematisch ist die neue Rechtsprechung203) jedoch im Hinblick auf die Ansicht des BGH zur Verteilung der Beweislast. So soll das Vorstandsmitglied die Darlegungs- und Beweislast für den Umstand tragen, dass eine Forderung, die zu einem Zahlungseingang auf dem debitorischen Konto geführt hat, bereits vor Eintritt der Insolvenzreife an die Bank abgetreten war und werthaltig geworden ist.204) Diese Rechtsprechung bedeutet eine nicht gerechtfertigte Abweichung von den allgemeinen Regeln der Beweislastverteilung205) und stellt die Vorstandsmitglieder praktisch vor vielfach kaum zu überwindende Probleme.206) Richtigerweise sollte der Organvertreter allein für das Bestehen des Absonderungsrechts beweisbelastet sein.207) Entgegen der Auffassung des BGH sollte dann der Insolvenzverwalter den Nachweis erbringen müssen, dass die effektive Belastung des Gesellschaftsvermögens durch das Absonderungsrecht zeitlich erst nach Eintritt der Insolvenzreife entstanden ist.208) 7.

Haftung wegen Zahlungen an Aktionäre

158 Die Haftung des Vorstands gemäß § 15b Abs. 5 InsO (bis 31.12.2020: §§ 92 Abs. 2 Satz 3, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) für Zahlungen an die Aktionäre, die zur Zahlungsunfähigkeit der AG führen mussten, spielt praktisch kaum eine nen___________ 199) BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 (Rz. 19) = ZIP 2015, 1480 (Rz. 19). 200) Poertzgen, ZInsO 2016, 1182 (1184 f.). 201) Poertzgen, NZI 2016, 272 (275). 202) Poertzgen, ZInsO 2016, 1459 f. 203) BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, ZIP 2016, 1119 ff.; BGH, Urt. v. 3.5.2016 – II ZR 318/15; BGH, Urt. v. 8.12.2015 – II ZR 68/14, ZIP 2016, 364 ff.; BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 ff. = ZIP 2015, 1480 ff. 204) BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, BGHZ 206, 52 (Rz. 34) = ZIP 2015, 1480 (Rz. 34). 205) Poertzgen, ZInsO 2016, 1459 (1460); Habersack/Foerster, ZGR 153, 168. 206) Poertzgen, ZInsO 2016, 1459 (1460 f.). 207) Poertzgen, ZInsO 2016, 1459 (1461). 208) Poertzgen, ZInsO 2016, 1459 (1461).

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C. Pflichten des Vorstands

nenswerte Rolle. Es handelt sich um einen Fall der Insolvenzverursachungshaftung für Organvertreter, welche die an die Gesellschafterposition anknüpfende Existenzvernichtungshaftung flankiert.209) Der Begriff der Zahlung i. S. d. § 15b Abs. 5 Satz 1 InsO ist identisch mit dem Zahlungsbegriff i. S. d. § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO. Erfasst werden allerdings nur Zahlungen, die für die spätere Zahlungsunfähigkeit der AG kausal sind.210) Insoweit muss sich der aus § 15b Abs. 5 InsO in Anspruch genommene Vorstand entlasten. Der Vorstand erhält durch § 15b Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 InsO (bis 31.12.2020: 159 § 92 Abs. 2 Satz 3 a. E. AktG) ein Leistungsverweigerungsrecht. Die Vorschrift hat die Wirkung einer Ausschüttungssperre.211) 8.

Geltendmachung

Der Anspruch auf Ersatz verbotswidriger Zahlungen wird typischerweise vom 160 Insolvenzverwalter der AG geltend gemacht, auch wenn die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der AG keine Tatbestandsvoraussetzung der Haftung aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) ist.212) Da die Verantwortlichkeit wegen verbotener Zahlungen jedoch praktisch nur aus einem Insolvenzverfahren heraus geltend gemacht wird, spielt das besondere Recht der Gläubiger auf Verfolgung von Ansprüchen gegen den Vorstand gemäß § 93 Abs. 5 AktG insoweit keine Rolle. 9.

Verjährung

Der Anspruch auf Ersatz verbotswidriger Zahlungen verjährt gemäß § 15b 161 Abs. 7 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 6 Halbs. 2 AktG) fünf Jahre (taggenau) nach der Leistung der jeweiligen Zahlung. War die AG im Zeitpunkt der Zahlung börsennotiert, beträgt die Verjährungsfrist 10 Jahre (§ 15b Abs. 7 Satz 2 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 6 Halbs. 1 AktG)). 10.

Sonderregeln während der Corona-Pandemie

Während der Corona-Pandemie (COVID-19-Pandemie) in den Jahren 2020 162 und 2021 waren die Regelungen zur Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO (Æ Rz. 105) durch § 1 COVInsAG flankiert durch Sonderregeln zur Reduzierung von Haftungs- und Anfechtungsrisiken in § 2 COVInsAG:

___________ 209) MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 39. 210) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 44. 211) BGH, Urt. v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, BGHZ 195, 42 (Rz. 18) = ZIP 2012, 2391 (Rz. 18); Hüffer/Koch, § 92 Rz. 40. 212) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 283.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

163 Die Vorschrift des § 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 COVInsAG erweiterte die Rechtfertigungsklausel des § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO im Rahmen des Zahlungsverbots nach Satz 1, indem die Normen bestimmten, dass Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgten, insbesondere solche Zahlungen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebes oder der Umsetzung eines Sanierungskonzepts dienten, als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters i. S. d. § 92 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F. (ab dem 1.1.2021: § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO) vereinbar galten. 164 Darüber hinaus waren nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG Rechtshandlungen, die dem anderen Teil eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hatten, die dieser in der Art und zu der Zeit beanspruchen konnte, in einem späteren Insolvenzverfahren nicht anfechtbar gemäß §§ 129 ff. InsO. Dies galt nicht, wenn dem anderen Teil bekannt war, dass die Sanierungs- und Finanzierungsbemühungen des Schuldners nicht zur Beseitigung einer eingetretenen Zahlungsunfähigkeit geeignet gewesen waren. Entsprechendes galt für Leistungen an Erfüllungs statt oder erfüllungshalber, Zahlungen durch einen Dritten auf Anweisung des Schuldners, die Bestellung einer anderen als der ursprünglich vereinbarten Sicherheit, wenn diese nicht werthaltiger war und die Verkürzung von Zahlungszielen. 165 Neben der Einschränkung der Insolvenzanfechtung regelten § 2 Abs. 1 Nr. 2 COVInsAG temporär Privilegierungen von Sanierungsdarlehen und Gesellschafterdarlehen. VII. Pflichten im Rahmen der Restrukturierung 1.

Einführung

166 Die Anfang 2021 in Umsetzung der EU-Restrukturierungsrichtlinie 2019/1023 durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts vom 22.12.2020, BGBl I, 3256 – SanInsFoG) eingeführte Restrukturierung nach den Vorschriften des StaRUG (Æ Rz. 1) ist im zeitlichen und systematischen Vorfeld eines Insolvenzverfahrens angesiedelt und soll dieses im Einzelfall durch Realisierung einer finanzwirtschaftlichen Sanierung der Gesellschaft obsolet machen. Eine Pflicht zur Einleitung einer Restrukturierung nach den Vorschriften des StaRUG besteht nicht. Eine Restrukturierung kann bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 42) eingeleitet werden (§ 29 Abs. 1 StaRUG). Liegt dagegen bereits tatsächliche Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) vor, ist eine Restrukturierung nicht mehr statthaft. Vielmehr greift dann die Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25 ff.) ein, die auf die Einleitung eines Insolvenzverfahrens abzielt (vgl. § 42 Abs. 4 i. V. m. §§ 31 Abs. 4, 32 Abs. 3, 33 Abs. 2 StaRUG). Treten Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung dagegen während einer laufenden Restrukturierung ein, müssen die Vorstandsmitglieder diesen Umstand dem Restrukturierungs-

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C. Pflichten des Vorstands

gericht anzeigen (Anzeigepflicht, § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Die Restrukturierung wird dann früher oder später enden, und die während der Restrukturierung ruhende Insolvenzantragspflicht (§ 42 Abs. 1 Satz 1 StaRUG) lebt wieder auf. Die noch im Regierungsentwurf des StaRUG vorgesehene Einführung eines 167 spezifischen Pflichtenspektrums für Geschäftsleiter im Stadium drohender Zahlungsunfähigkeit („shift of fiduciary duties“) ist zu Recht nicht in die in Kraft getretene Fassung des StaRUG übernommen worden (Æ Rz. 14). Auch im Zustand drohender Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 42) bzw. während der Restrukturierung gilt also weiter der gesellschaftsrechtliche Haftungsmaßstab (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG bzw. business judgment rule). Allerdings sind die „Interessen der Gesamtheit der Gläubiger“ im Rahmen des für die Sanierungsbetreibungspflicht (Æ Rz. 169) maßgeblichen Sorgfaltsmaßstabs (§ 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG) ausdrücklich erwähnt.213) 2.

Krisen(früh)erkennung und Dokumentation

Die Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG formuliert für Vorstandsmitglieder 168 eine ausdrückliche Pflicht zur kontinuierlichen Prüfung, ob sich die AG in einer Krise befindet (Selbstprüfungspflicht). Für den Krisenfall normiert das Gesetz in § 1 Abs. 1 Satz 2 eine Pflicht zur Einleitung geeigneter Sanierungsmaßnahmen (Sanierungspflicht) sowie eine Pflicht zur Berichterstattung an den Aufsichtsrat (§ 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG), gegebenenfalls auch der Hauptversammlung oder eines eventuell bestehenden Beirates (§ 1 Abs. 1 Satz 3 StaRUG). Weder die Prüfungs- noch die Sanierungs- oder die Dokumentationspflicht sind durch das StaRUG neu eingeführt worden. Das Bestehen dieser Pflichten an der Schnittstelle zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht entspricht bereits seit langem einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum214) (Æ Rz. 7 ff. und 12 ff.). 3.

Sanierungsbetreibungspflicht

Nach der in § 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG formulierten Sanierungsbetreibungs- 169 pflicht muss der Vorstand zum einen die Restrukturierung, sobald sie eingeleitet worden ist, mit der Sorgfalt eines gewissenhaften und ordentlichen Geschäftsleiters betreiben und zum anderen die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger der AG wahren. Die im Gesetz ausdrücklich erwähnte Verantwortung des Vorstands nicht nur gegenüber der AG, sondern auch gegenüber den Gläubigen der Gesellschaft ist deshalb wertungsgerecht, weil die Restrukturierung vor dem Hintergrund drohender Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 42) erfolgt ___________ 213) Scholz, ZIP 2021, 219 (224); Kuntz, ZIP 2021, 597 (603 f.) kritisch zur Anwendung der „business judgment rule“ i. R. d. § 43 StaRUG (S. 598, 607 f.). 214) Avoine/Michels, NZI 2022, 1 ff.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

(§ 29 Abs. 1 StaRUG) und damit definitionsgemäß in einer Phase, in der für Gläubiger das Risiko besteht, dass sie mit ihren Forderungen gegen die Gesellschaft ganz oder teilweise ausfallen. In diesem Stadium sind die Interessen von Gesellschaft und Gläubigern nicht zwingend identisch. Das Gesetz verlangt also dem Vorstand ab, eine Balance zwischen den Interessen der Gesellschaft einerseits und denen der Gläubiger andererseits zu finden, auch wenn das StaRUG in der in Kraft getretenen Fassung abweichend noch vom RegE ausdrücklich keine spezifischen Pflichten nach Eintritt drohender Zahlungsunfähigkeit vorsieht (Æ Rz. 14 und 167). 170 Wird die Sanierungsbetreibungspflicht verletzt, haften die schuldhaft handelnden Vorstandsmitglieder gegenüber der AG auf Ersatz des Schadens, der den Gläubigern der Gesellschaft entstanden ist (§ 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG, „Innenhaftung“). Bei dieser Regelung handelt es sich um eine gesetzlich angeordnete Form der Drittschadensliquidation.215) Zwar soll der Schaden zur Vermeidung eines Gläubigerwettlaufs über das Gesellschaftsvermögen abgewickelt werden, materiell-rechtlich bzw. nach seinem Umfang soll der Schaden aber aus der Perspektive der Gläubiger der AG bemessen werden. Dieses Abstellen auf den Blickwinkel der Forderungsinhaber ist richtig, weil in der Krise (oder Insolvenz) der Gesellschaft primär die Vermögensinteressen der Gläubiger auf dem Spiel stehen. Das Vermögen der Gesellschaft ist dann typischerweise komplett aufgezehrt oder zumindest für bestimmte Gläubiger in Form von Sicherungsrechten „reserviert“, für die Gesamtheit der Gläubiger könnte es aber – sei es durch weitere Verringerung des Aktivvermögens oder eine weitere Vermehrung der Passiva – wirtschaftlich noch schlimmer kommen. Deshalb muss sich die Sorgfalt des Vorstands letztlich an den Gläubigerinteressen orientieren. Mit § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG trägt der Gesetzgeber diesem richtigen Ansatz, mit dem eine verkürzte ältere Sichtweise (Æ Rz. 14) überholt wird, heute ebenso wie mit § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO (Æ Rz. 139 ff.) Rechnung. 171 Der Schadensersatzanspruch aus § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG unterliegt nur mit deutlichen Einschränkungen der Disposition der Gesellschaft, § 43 Abs. 2 StaRUG. Diese entsprechende Vorschrift ist an § 93 Abs. 4 Satz 3 und 4 AktG angelehnt. Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs tritt nach fünf Jahren, bei Börsenzulassung der Gesellschaft im Zeitpunkt der Pflichtverletzung nach zehn Jahren ein. Insoweit entspricht § 43 Abs. 3 StaRUG wiederum § 93 Abs. 6 AktG. 4.

(Allgemeine) Mitteilungspflicht

172 Gemäß § 32 Abs. 2 StaRUG muss der Vorstand für die AG als Restrukturierungsschuldner dem Restrukturierungsgericht alle wesentlichen Änderung mittei___________ 215) Scholz, ZIP 2021, 219 (224).

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C. Pflichten des Vorstands

len, die den Gegenstand des angezeigten Restrukturierungsvorhabens und den Stand der Verhandlungen mit den Restrukturierungsbeteiligten betreffen. Insbesondere müssen die Vorstandsmitglieder gemäß § 32 Abs. 4 StaRUG dem Gericht unverzüglich anzeigen, wenn das Restrukturierungsvorhaben keine Aussicht auf Umsetzung hat, etwa wenn infolge einer ernsthaften und endgültigen Ablehnung des Restrukturierungsplans durch Planbetroffene nicht davon ausgegangen werden kann, dass die für eine Planannahme erforderlichen Mehrheiten erreicht werden können. Eine konkrete Sanktionierung für eine Verletzung der Mitteilungspflicht kennt das Gesetz – mit Ausnahme von der strafrechtlichen Regelung in § 42 Abs. 3 StaRUG bei Verletzung der Insolvenzanzeigepflicht (Æ Rz. 173, 177) – nicht. Allerdings kann ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht eine Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht im Rahmen der Restrukturierung darstellen, die im Fall schuldhaften Handelns gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG einen direkten Schadensersatzanspruch der geschädigten Gläubiger begründet (Æ Rz. 170). 5.

Insolvenzanzeigepflicht

Eine besondere Ausprägung der allgemeinen Mitteilungspflicht (Æ Rz. 172) ist 173 die Pflicht zur Anzeige des Eintritts von Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und/oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.). Die Anzeige muss gemäß § 32 Abs. 3 StaRUG von der Gesellschaft und zusätzlich gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG von den Vorstandsmitgliedern persönlich ohne schuldhaftes Zögern an das zuständige Restrukturierungsgericht (§ 34 StaRUG) erfolgen, sobald die materielle Insolvenz objektiv eingetreten ist. Ob der Vorstand das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung rechtzeitig erkennt, ist – wie bei der Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO (Æ Rz. 25 ff.) – eine Frage des Verschuldens. Die Notwendigkeit der Anzeigepflicht erklärt sich durch den Umstand, dass eine 174 Restrukturierung nach § 29 Abs. 1 StaRUG nur statthaft ist, solange die AG höchstens drohend zahlungsunfähig (Æ Rz. 42) ist. Bei einer tieferen Krise – also bei Vorliegen von eingetretener Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) – darf die Restrukturierung nicht eingeleitet werden, vielmehr greift dann die Insolvenzantragspflicht des § 15a InsO (Æ Rz. 25 ff.) ein. Deshalb formuliert die Vorschrift des § 42 Abs. 1 Satz 1 StaRUG, wonach die Antragspflicht während der Rechtshängigkeit der Restrukturierung ruht, keine konstitutive Regelung: Denn die Restrukturierung setzt ja gerade voraus, dass noch keine materielle Insolvenz vorliegt. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass die Antragspflicht bei vorzeitigem Ende der Restrukturierung wieder auflebt (§ 42 Abs. 4 StaRUG). Erfüllt wird die Anzeigepflicht durch eine formlose (schriftliche) Mitteilung an 175 das Restrukturierungsgericht – oder durch Stellung eines Insolvenzantrages (§ 42 Abs. 2 StaRUG). Das ist konsequent, da die Anzeige der materiellen InsolPoertzgen/Böcker

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

venz ohnehin zur Beendigung der Restrukturierung und dem Wiederaufleben der Antragspflicht (§ 15a InsO) führen würde (§ 42 Abs. 4 StaRUG). 176 Ist die Restrukturierung der AG bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit zulässigerweise eingeleitet worden, vertieft sich die Krise der Gesellschaft aber während der Restrukturierung und liegt schließlich Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) oder Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) vor, so wird die Erfüllung der Anzeigepflicht folgenden Ablauf auslösen: Infolge der Anzeige entscheidet das Gericht über die Aufhebung der Restrukturierungssache (§ 33 Abs. 2 StaRUG), so dass die ursprüngliche Anzeige des Restrukturierungsvorhabens, die Voraussetzung für eine Inanspruchnahme der Instrumente des StaRUG ist, ihre Wirkung verliert (§ 31 Abs. 4 Nr. 3 i. V. m. § 33 Abs. 1 StaRUG). Sieht das Gericht ausnahmsweise (zunächst) von der Aufhebung einer zuvor erlassenen Stabilisierungsanordnung ab, endet die Restrukturierung dennoch, wenn auch erst nach einer Frist von bis zu drei Wochen, innerhalb derer die Gesellschaft bzw. ihr Vorstand die Beantragung eines Insolvenzverfahrens nachweisen muss (§§ 33 Abs. 3, 59 Abs. 3 StaRUG). 177 Die Rechtsfolgen einer schuldhaften Verletzung der Anzeigepflicht entsprechen den Rechtsfolgen einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25 ff.), und zwar sowohl in zivilrechtlicher wie in strafrechtlicher Hinsicht. 178 Ein Vorstandsmitglied, das den Eintritt der Insolvenzreife dem Gericht gar nicht oder verspätet anzeigt, macht sich gemäß § 42 Abs. 3 StaRUG strafbar. Bei vorsätzlicher Begehung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe verhängt werden; wird die Anzeigepflicht durch Fahrlässigkeit verletzt, wird eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe verwirkt. Der Strafrahmen bei Verletzung der Anzeigepflicht entspricht also exakt dem Strafrahmen der Verletzung der Antragspflicht (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO) (Æ Rz. 88). Das ist wertungsgerecht, weil die Anzeigepflicht durch den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Æ Rz. 33 ff.) und Überschuldung (Æ Rz. 52 ff.) ausgelöst wird und damit auf denselben Insolvenzgründen beruht, die auch tatbestandliche Voraussetzung für die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrages sind (Æ Rz. 30 ff.). 179 Zivilrechtlich führt eine Verletzung der Anzeigepflicht zu einem direkten Anspruch jedes geschädigten Gläubigers gegen den bzw. die schuldhaft handelnden Vorstandsmitglieder, und zwar entweder aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 42 Abs. 1 StaRUG oder alternativ (inhaltsgleich) aus § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG. Denn die Verletzung der Anzeigepflicht ist jedenfalls keine gewissenhafte und sorgfältige Betreibung der Restrukturierungssache. Beim Umfang des dem jeweiligen Gläubiger zu leistenden Schadensersatzes wird wie bei einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht danach zu differenzieren sein, ob die Forderung des betroffenen Gläubigers bereits vor der Verletzung der Anzeigepflicht begründet war (Quotenschaden, Æ Rz. 99 f., 103) oder ob sie erst entstanden

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Poertzgen/Böcker

D. Pflichten des Aufsichtsrats

ist, nachdem die materielle Insolvenz der Gesellschaft eingetreten ist und die Anzeigepflicht verletzt wurde (Ausfallschaden, Æ Rz. 101). 6.

Auskehr- und Verwahrungspflicht

Eine über die (allgemeine) Sorgfaltspflicht und Haftung für die Erfüllung der 180 Sanierungsbetreibungspflicht gemäß § 43 StaRUG (Æ Rz. 169) hinausgehende Verantwortlichkeit ordnet § 57 StaRUG für den Fall an, dass das Restrukturierungsgericht eine Stabilisierungsanordnung in Form einer Vollstreckungssperre (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG) bzw. Verwertungssperre (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG) erlassen hat. Im Fall einer Stabilisierungsanordnung haften Vorstandsmitglieder zum einen 181 für Schäden, die Gläubigern als Folge der Stabilisierungsanordnung entstehen, wenn die Anordnung aufgrund vorsätzlich oder fahrlässig falscher Angaben erwirkt worden ist (§ 57 Satz 1 StaRUG). Aus § 57 Satz 2 StaRUG ergibt sich, dass die in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieder für fehlendes Verschulden beweisbelastet sind. Zum anderen sind Vorstandsmitglieder auch für den Ersatz des Schadens per- 182 sönlich verantwortlich, der einem Gläubiger im Fall einer Stabilisierungsanordnung aus einer nicht ordnungsgemäßen Auskehrung oder Verwahrung von Erlösen (§ 54 Abs. 2 StaRUG) entsteht. Auch insoweit tragen die Vorstandsmitglieder die Beweislast für fehlendes Verschulden. D.

Pflichten des Aufsichtsrats

I.

Einführung

Spezifische bzw. ausdrückliche krisen- bzw. insolvenzbezogene Pflichten des 183 Aufsichtsrats formuliert das Gesetz nicht. Eine Ausnahme bildet nur die von den Mitgliedern des Aufsichtsrats bei Führungslosigkeit der AG zu erfüllende Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a Abs. 3 InsO (Æ Rz. 86 f.). Abgesehen von dieser Ausnahmeregelung ergibt sich das Pflichtenspektrum des Aufsichtsrats in Krise und Insolvenz der AG vor allem aus der Pflicht zur Überwachung der Geschäftsführung durch den Vorstand (§ 111 AktG). Konkret bedeutet dies, dass der Aufsichtsrat überwachen und darauf hinwirken muss, dass der Vorstand die ihm obliegenden Pflichten in Krise und Insolvenz der Gesellschaft erfüllt.216) (Æ Rz. 7 f., 12 f.). Die aus § 112 AktG abzuleitende Pflicht des Aufsichtsrats zur Verfolgung von 184 Ersatzansprüchen spielt bei Ersatzansprüchen wegen eines Fehlverhaltens des Vorstands in Krise und Insolvenz keine praktische Rolle, da Ansprüche wegen der Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25 ff.) nicht von der AG, ___________ 216) BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, ZIP 2009, 860 (Rz. 15).

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

sondern von ihrem Insolvenzverwalter bzw. einzelnen Gläubigern geltend gemacht werden (Æ Rz. 102). Ansprüche wegen der Verletzung der Masseerhaltungspflicht könnten zwar theoretisch von der AG, die gemäß § 112 AktG vom Aufsichtsrat vertreten würde, geltend gemacht werden. Praktisch werden Ansprüche aus § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (bis 31.12.2020: § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG) aber nur aus einem eröffneten Verfahren vom Insolvenzverwalter geltend gemacht. 185 Die den Vorstand treffende Pflicht zur Inanspruchnahme fachlicher Beratung bei fehlender eigener Sachkenntnis (Æ Rz. 63 f.) gilt entsprechend für die Mitglieder des Aufsichtsrats217) (dazu Æ § 3 Rz. 46). II.

Insolvenzantragspflicht bei Führungslosigkeit

186 Gemäß § 15a Abs. 3 InsO sind im Fall der Führungslosigkeit der AG auch die Mitglieder des Aufsichtsrats zur Stellung des Insolvenzantrags (Æ Rz. 86 f.) verpflichtet. Dies gilt nicht, sofern das betreffende Mitglied nachweisen kann, dass es keine Kenntnis von einer Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO (Æ Rz. 33 ff.) oder Überschuldung gemäß § 19 InsO (Æ Rz. 52 ff.) und der Führungslosigkeit der AG hatte. 187 Führungslosigkeit liegt vor, wenn kein Vorstandsmitglied als zur Geschäftsführung der AG berufener Organvertreter tatsächlich vorhanden ist, um sich um die Geschicke der Gesellschaft zu kümmern.218) Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn sämtliche Vorstandsmitglieder ihre Ämter ausdrücklich oder konkludent niedergelegt haben.219) Das Vorhandensein faktischer Vorstandsmitglieder steht der Führungslosigkeit der AG nicht entgegen.220) Die bloße Nichterreichbarkeit des Vorstands genügt als solche jedoch nicht, damit Führungslosigkeit angenommen werden kann.221) 188 Die Regelung des § 15a Abs. 3 InsO gilt auch für den Aufsichtsrat der KGaA. Bei dieser Rechtsform hat der Aufsichtsrat aber – anders als im Fall der AG – keine juristische Handhabe zur Beseitigung der Führungslosigkeit durch die Aufnahme eines Komplementärs.222) III.

Überwachungspflicht

1.

Inhalt

189 Die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats (§ 111 AktG) besteht nicht in Bezug auf sämtliche, sondern nur auf die wesentlichen Aufgaben des Vorstands223) ___________ 217) 218) 219) 220) 221) 222) 223)

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MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 35. Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 32. Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 32. Kübler/Prütting/Bork/Preuß, InsO, § 15a Rz. 34. AG Hamburg, Beschl. v. 27.11.2008 – 67c IN 478/08. K. Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, 15a Rz. 21. Hüffer/Koch, § 111 Rz. 2 f.

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D. Pflichten des Aufsichtsrats

(dazu Æ § 3 Rz. 104). Die Insolvenzantragspflicht (Æ Rz. 25 ff.) und die Masseerhaltungspflicht (Æ Rz. 110 ff.) gehören zu diesen wesentlichen Aufgaben des Vorstands. Umfang und Instrumente der Überwachung richten sich nach allgemeinen Regeln (Æ Rz. 7). Da die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats jedoch der konkreten Risikosituation der Gesellschaft anzupassen ist, wird im Stadium der drohenden oder eingetretenen Insolvenz der AG eine intensive Überwachung erforderlich.224) 2.

Rechtsfolgen

Für Verletzungen der Überwachungspflicht haftet der Aufsichtsrat nach allge- 190 meinen Regeln, § 116 Satz 1 AktG i. V. m. § 93 AktG (dazu ausführlich Æ § 4). In Bezug auf die Insolvenzantragspflicht des Vorstands bedeutet dies, dass der 191 Aufsichtsrat bei schuldhafter Verletzung seiner Überwachungspflicht nur insoweit haftet, als der AG ein Schaden entsteht.225) Das wird in aller Regel kein großes Haftungsrisiko für die Mitglieder des Aufsichtsrats bedeuten, da die als Folge einer Verletzung der Antragspflicht eintretenden Schäden nicht aus der Perspektive der Gesellschaft, sondern nur aus der Perspektive der Gläubiger schadensersatzrechtlich korrekt „sichtbar“ werden (zu den unterschiedlichen Schäden der Alt- und Neugläubiger Æ Rz. 97 ff.). Die AG erleidet als Verletzung der Antragspflicht kaum je einen eigenständigen Schaden. Allerdings können die Mitglieder des Aufsichtsrats im Fall der Verletzung der Überwachungspflicht auch unter dem Gesichtspunkt der Gehilfenhaftung nach § 830 Abs. 2 BGB gesamtschuldnerisch neben den Vorstandsmitgliedern einstandspflichtig werden.226) Zu unterscheiden ist eine solche Verletzung der Überwachungspflicht in Bezug auf die Antragspflicht des Vorstands von der originären Haftung des Aufsichtsrats wegen einer Verletzung der ihm bei Führungslosigkeit der AG selbst obliegenden Antragspflicht (Æ Rz. 86 f.). In Bezug auf die Masseerhaltungspflicht des Vorstands bedeutet dies, dass der 192 Aufsichtsrat bei schuldhafter Verletzung seiner diesbezüglichen Überwachungspflicht selbst auf Ersatz des durch die verbotenen Zahlungen entstandenen Schadens haftet. Der § 116 Satz 1 AktG verweist insgesamt auf § 93 AktG (mit Ausnahme des Absatzes 2 Satz 3) und eigenständig auf § 15b InsO und damit insbesondere auch auf § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO. Insoweit besteht ein auch schon vom BGH behandelter Unterschied zur Haftung der Mitglieder eines fakultativen Aufsichtsrats der GmbH.227) Denn § 52 Abs. 1 GmbHG verwies über § 116 AktG i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG eben nicht ausdrücklich auf § 93 ___________ 224) OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.5.2012 – I-16 U 176/10, ZInsO 2013, 85 (Rz. 34). Gleißner/ Romeike, AR 2022. 2 ff. 225) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 67. 226) Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 39; Gottwald/Haas/Mock, InsO, § 93 Rz. 10. 227) BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 78/09, BGHZ 187, 60 ff. = ZIP 2010, 1988 ff. „Doberlug“.

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§ 12 Krise, Insolvenz und Restrukturierung

Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F.228) Im Fall des fakultativen Aufsichtsrats hafteten dessen Mitglieder bei Verletzung der Überwachungspflicht in Bezug auf die Masseerhaltungspflicht des Vorstands nur insoweit, als der AG durch die Zahlungen ein im Wege der Differenzhypothese zu bemessender Schaden entstanden ist. Die Mitglieder des fakultativen Aufsichtsrats hafteten dagegen nicht per se auf Ersatz der verbotenen Zahlungen.229) 193 Ob es bei dieser Haftungsdifferenzierung zwischen gesetzlich verpflichtendem und freiwilligem Aufsichtsrat bleibt, ist offen. § 52 Abs. 1 GmbHG verweist weiterhin auf § 116 AktG, der seinerseits aber ab 1.1.2021 den Bezug zu § 15b InsO herstellt. Aus der Begründung des Rechtsausschusses ergibt sich kein Wille des Gesetzgebers zur Änderung der bisherigen Differenzierung. Entscheidend ist, ob § 52 Abs. 1 GmbHG § 116 AktG vollständig in Bezug nimmt oder aber einschränkend so gelesen werden muss, dass „§ 116 des Aktiengesetzes in Verbindung mit § 93 Abs. 1 und 2 Satz 1 und 2 des Aktiengesetzes“ nur in Bezug genommen wird. Da eine Änderung des Willens des Gesetzgebers nicht erkennbar ist, sollte der einschränkenden Auslegung gefolgt werden.230) IV.

Pflichten im Rahmen der Restrukturierung

194 Das StaRUG formuliert keine ausdrücklichen Pflichten für die Mitglieder des Aufsichtsrates. Diese werden lediglich in § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG als Adressaten der Berichtspflicht des Vorstands erwähnt. Hierdurch wird bestätigt, dass sich die (allgemeine) Überwachungspflicht des Aufsichtsrats naturgemäß auch auf die Pflichten des Vorstands nach dem StaRUG bezieht.

___________ 228) BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 78/09, BGHZ 187, 60 (Rz. 21) = ZIP 2010, 1988 (Rz. 21) „Doberlug“. 229) BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 78/09, BGHZ 187, 60 (Rz. 26) = ZIP 2010, 1988 (Rz. 26) „Doberlug“. 230) So auch Bitter, ZIP 2021, 321 (332).

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

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Übersicht A. Einleitung........................................... 1 B. Private M&A...................................... 4 I. Veräußererseite................................... 5 1. Transaktionsprozess.................... 6 a) Verkaufsgegenstand .................... 7 b) Verfahren ................................... 10 c) Beraterauswahl........................... 12 d) Due Diligence ............................ 16 aa) Gestattung einer Buyer Due Diligence .................................... 17 bb) Durchführung einer Vendor Due Diligence ............................ 21 e) Feasibility................................... 24 2. Kaufvertrag ................................ 26 a) Verkaufspreis ............................. 27 b) Weitere Vertragsbedingungen .... 31 3. Pflichten des Aufsichtsrats ....... 32 a) Überwachungs- und Beratungspflicht................................ 33 b) Übermittlung von Informationen .................................... 37 c) Sorgfaltsmaßstab ....................... 38 4. Hauptversammlung................... 41 5. Publizitätspflichten ................... 45 a) Ad-hoc-Publizität...................... 46 b) Aktienrecht................................ 50 II. Zielgesellschaft ................................. 52 1. Due Diligence ............................ 53 a) Gestattung der Buyer Due Diligence .................................... 54 b) Durchführen einer eigenen Due Diligence ............................ 58 2. Übernahme von Transaktionskosten ................................ 59 III. Erwerberseite .................................... 61 1. Entscheidungsfindung .............. 61 a) Beraterauswahl........................... 62 b) Due Diligence ............................ 63 c) Feasibility................................... 66 2. Kaufvertrag ................................ 67

a) Kaufpreis.................................... 68 b) Vertragsbedingungen ................ 70 3. Aufsichtsrat ............................... 72 4. Hauptversammlung................... 73 5. Publizitätspflichten ................... 74 a) Ad-hoc Publizität...................... 74 b) Aktienrecht................................ 75 C. Public M&A..................................... 76 I. Veräußererseite................................. 77 1. Vertragsverhältnis mit einem Erwerber im Zusammenhang mit einem Übernahmeangebot................... 79 2. Publizitätspflichten ................... 83 a) Meldungen zur Beteiligung ..... 84 b) Ad-hoc Publizität...................... 86 II. Zielgesellschaft ................................. 87 1. Buyer Due Diligence................. 88 2. Begründete Stellungnahme nach § 27 WpÜG....................... 90 3. Neutralitätspflicht..................... 95 4. Feindliches Übernahmeangebot ...................................... 98 5. Publizitätspflichten und weitere kapitalmarktrechtliche Pflichten.......................... 101 III. Erwerberseite.................................. 103 1. Entscheidungsfindung ............ 104 2. Pflichten und Haftungsrisiken im Übernahmeverfahren ................................. 111 a) Pflichten im laufenden Übernahmeverfahren .............. 111 b) Haftungsrisiken im Zusammenhang mit der Angebotsunterlage............ 114 3. Publizitätspflichten ................. 116 a) Beteiligungsschwellen ............. 116 b) Ad-hoc Meldepflichten........... 117

Schrifttum: Assmann, Unternehmenszusammenschlüsse und Kapitalmarktrecht, ZHR 172 (2008), 635; Bader, Iudex non calculat sed inspicet tabula pretiorum, AG 2016, 239;

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen Bachmann, Kapitalmarktrecht im Kodex, WM 2013, 2009; Badtke, Die Bedeutung des Kartellrechts bei M&A Transaktionen, KSzW 2011, 418; Baneria, Due Diligence beim Erwerb von Aktien über die Börse, ZIP 2003, 1730; Bank, Das Insiderhandelsverbot in M&A-Transaktionen, NZG 2012, 1337; Baron/Trebing, Umgang mit Kartellrechtsrisiken in M&A Transaktionen – aktuelle Fragestellungen und Entwicklungen, BB 2016, 131; Barth/dos Santos Goncalves, Rechtsentwicklungen in der Investitionskontrolle 2020 in Deutschland, DB 2020, 2506 Beck/Klar, Asset Deal versus Share Deal – Eine Gesamtbetrachtung unter expliziter Berücksichtigung des Risikoaspekts, DB 2007, 2819; Becker/ Sachs, Die Investitionsprüfung nach Änderung AWV – offene Fragen aus Perspektive der Transaktionspraxis, NZG 2017, 1336; Behnke, Erste praktische Erfahrungen mit dem Ausschluss ausländischer Anteilsinhaber nach § 24 WpÜG, WM 2002, 2229; Behrens/ Wagner, Verschärfung des GrEStG für Share Deals ab dem 01.07.2021, DB 2021, 866; Besen/ Gronemeyer, Informationsaustausch im Rahmen von Unternehmenskäufen – Kartellrechtliche Entwicklungen und Best Practice, CCZ 2013, 137; Bierwagen/von Wistinghausen, Novellierung des Außenwirtschaftsgesetzes aus europarechtlicher Perspektive, BB 2020, 1986; Bingel, Die „Insiderinformation“ in zeitlich gestreckten Sachverhalten und die Folgen der jüngsten EuGH-Rechtsprechung für M&A-Transaktionen, AG 2012, 685; Borcherding/ Schwertschlag, Green and more: Welche Bedeutung hat eine ESG-Due-Diligence?, WPg 2021, 252; Böttcher, Verpflichtung des Vorstands einer AG zur Durchführung einer Due Diligence, NZG 2005, 49; Böttcher, Organpflichten beim Unternehmenskauf, NZG 2007, 481; Bühren, Auswirkungen des Insiderhandelsverbots der EU-Marktmissbrauchsverordnung auf M&A-Transaktionen, NZG 2017, 1172; Bünning, Berücksichtigung von ESG-Regeln bei M&A-Transaktionen, BB 2021, 235; Bürgers/Holzborn, Haftungsrisiken der Organe einer Zielgesellschaft im Übernahmefall, insbesondere am Beispiel einer Abwehrkapitalerhöhung, ZIP 2003, 2273; Cahn, Aufsichtsrat und Business Judgement Rule, WM 2013, 1293; Boucsein/Schmiady, Aktuelle Entwicklungen bei der Durchführung von Übernahmeangeboten nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG), AG 2016, 597; Broemel/Mörwald, Auslegungs- und Anwendungsfragen zur Grunderwerbsteuerreform, DStR 2021, 1624; Brüggemann/Moser, Corona and beyond – weitere Verschärfung des Prüfregimes für ausländische Direktinvestitionen, DB 2020, 1443; Brüggemann/Moser, Erneute Ausweitung und Verschärfung des deutschen Investitionsprüfregimes, DB 2021, 1250; Busch, Die Frist für den Bedingungsverzicht gemäß § 21 Abs. 1 WpÜG – Wie lange ist ein Werktag?, ZIP 2003, 102; Busch, Bedingungen in Übernahmeangeboten, AG 2002, 145; Cannivé, Die Legal Vendor Due Diligence – Marktstandard oder Modeerscheinung?, ZIP 2009, 254; Cannivé/Suerbaum, Die Fairness Opinion bei Sachkapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften: Rechtliche Anforderungen und Ausgestaltung nach IDW S 8, AG 2011, 317; Dammann de Chapto/Brüggemann, Investitionskontrollrecht: AWG-Novelle plant strafbewehrtes Vollzugsverbot, NZKart 2020, 374; Decher, Mitwirkungsrechte der Aktionäre beim Kauf von Unternehmen?, in: Festschrift Schneider, 2011, S. 261; Decher, Die Fairness Opinion in der aktien- und übernahmerechtlichen Praxis, Liber Amicorum Martin Winter, 2011, 99; Derlin, „BGH schließt ‚Schlupflöcher‘: Auch durch den derivativen Erwerb von Wandelschuldverschreibungen im maßgeblichen Zeitraum kann sich der Mindestangebotspreis erhöhen“, BB 2018, 212; Ebke, Die zivilrechtliche Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für fehlerhafte Stellungnahmen nach § 27 WpÜG, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, S. 161; Ekkenga/Kuntz, Grundzüge eines Kollisionsrechts für grenzüberschreitende Übernahmeangebote, WM 2004, 2427; Fatemi, Beteiligungstransparenz und der Verlust von Aktionärsrechten – Überblick über die Mitteilungspflichten nach § 20 AktG, DB 2013, 2195; Feldhaus, Der Verkauf von Unternehmensteilen einer Aktiengesellschaft und die Notwendigkeit einer außerordentlichen Hauptversammlung, BB 2009, 562; Fest, Bedingungen in Pflichtangeboten, ZBB 2017, 178; Fischer, Neuregelungen bei der Grunderwerbsteuer: Gestaltungsbegrenzungen bei “Share Deals” – eine Fortsetzung des Wettlaufs zwischen Gestaltung und Gesetzgebung?, BB 2021, 1566; Fleischer, Zur Leitungsaufgabe des Vorstands im Aktienrecht, ZIP 2003, 1; Fleischer, Aktuelle Entwicklungen der Managerhaftung, NJW 2009, 2337; Fleischer, Zulässigkeit und Grenzen von Break-Fee-Vereinbarungen im

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Illert/Weiß

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen Aktien- und Kapitalmarktrecht, AG 2009, 345; Fleischer, Die Fairness Opinion bei M&A Transaktionen zwischen Markt und Recht, in: Festschrift Hopt, 2010, S. 2753; Fleischer, Zur rechtlichen Bedeutung der Fairness Opinion im deutschen Aktien- und Übernahmerecht, ZIP 2011, 201; Fonk, Zustimmungsvorbehalte des AG-Aufsichtsrats, ZGR 2006, 841; Fuhrmann/Heinen/Schilz, Gesetzliche Beurteilungs- und Ermessensspielräume als „spezial-gesetzliche Business Judgement Rule“, NZG 2020, 1368; Gei/Kiesewetter, Praxisrelevante Aspekte öffentlicher Übernahmen in Zeiten volatiler Märkte, AG 2012, 741; Georgieff/Hauptmann, Die Finanzierungsbestätigung nach § 13 WpÜG: Rechtsfragen in Zusammenhang mit überwiegend fremdfinanzierten öffentlichen Barangeboten, AG 2005, 277; Goette, AG: Beteiligungsveräußerung ist kein Fall ungeschriebener Mitwirkungszuständigkeit der Hauptversammlung, DStR 2007, 586; Goette, „Zur ARAG/GARMENBECK-Doktrin“, Liber amicorum Winter, 2011, 153; Goette, Managerhaftung: Handeln auf Grundlage angemessener Information DStR 2014, 1776; Gömöry, Grundwissen zum Ablauf von M&A Transaktionen, ZJS 2015, 153; Götze, „Gelatine“ statt „Holzmüller“ – Zur Reichweite ungeschriebener Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung, NZG 2004, 585; Goj, Ungeschriebenes Hauptversammlungserfordernis beim Beteiligungserwerb? Eine Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung des Beteiligungserwerbs der Commerzbank an der Dresdner Bank sowie rechtsvergleichenden und rechtsökonomischen Aspekten, Diss. 2015; Gran, Abläufe bei Mergers & Acquisitions, NJW 2008, 1409; Grunewald, Europäisierung des Übernahmerechts, AG 2001, 288; Haak/Brakalova/Thiemann, Kuka war gestern – Neue Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen in Deutschland, CB 2020, 357; Hahn/Reiswich, Haftungsrisiken im strukturierten Bieterverfahren, ZAP 2012, 1187; Harder/Kaplan, Rechtsentwicklungen bei M&A Transaktionen 2017, Der Betrieb Sonderdruck – Unternehmensrelevante Rechtsentwicklungen 2017 – Bedeutung für 2018, 32; Hasselbach, Taking Private – aktuelle Themen bei der Übernahme börsennotierter Unternehmen, BB 2015, 1033; Hasselbach/Stepper, Entwicklung des Übernahmerechts 2020, BB 2021, 771; Heer, Sorgfaltspflichten der Geschäftsleitung vor dem Hintergrund beschränkter Verkäuferhaftung in Unternehmenskaufverträgen, GWR 2018, 125; Heider/Hirte, Ad hoc-Publizität bei zeitlich gestreckten Vorgängen, GWR 2012, 429; Heinrich/Jalinous, Betrachtungen zu Investitionskontrollverfahren durch das Committee on Foreign Investment in the United States (CFIUS), AG 2017, 526; Heinrich/ Kiesewetter, Praxisrelevante Aspekte des Stimmrechtsverlusts nach § 28 WpHG i. d. F. des Risikobegrenzungsgesetzes, Der Konzern 2009, 137; Hemeling, Gesellschaftsrechtliche Fragen der Due Diligence beim Unternehmenskauf, ZHR 169 (2005), 274; Hensel/ Dörstling, Grenzen der Offenlegung im Rahmen der Due Diligence, DStR 2021, 170; Hippeli, Novelle der Außenwirtschaftsverordnung zum besseren Schutz vor ausländischen Unternehmensübernahmen vom 12./17.7.2017, jurisPR-HaGesR 8/2017 Anm. 1; Hippeli/Diesing, Business Combination Agreements bei M&A-Transaktionen, AG 2015, 185; Hippeli/Hofmann, Die Stellungnahme des Vorstands und Aufsichtsrats der Zielgesellschaft nach § 27 WpÜG in der Anwendungspraxis der BaFin, NZG 2014, 850; Hitzer, Zum Begriff der Insiderinformation, NZG 2012, 860; Hofmeister, Veräußerung und Erwerb von Beteiligungen bei der Aktiengesellschaft: Denkbare Anwendungsfälle der Gelatine-Rechtsprechung?, NZG 2008, 47; Hopt, Grundsatz- und Praxisprobleme nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, ZHR 166 (2002), 383; Holzborn, Ausschluss ausländischer Aktionäre nach § 24 WpÜG, BKR 2002, 67; Hüffer, Die leitungsbezogene Verantwortung des Aufsichtsrats, NZG 2007, 47; Hüffer, Erwerb der Dresdner Bank AG durch die Commerzbank AG, WuB (April 2011) II. A. Nr. 1.11; Ihrig, Ad-hoc-Pflichten bei gestreckten Geschehensabläufen – Praxisfragen aus dem „Geltl“-Urteil des EuGH, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, 113; Jungkind/Bormann, Verschärfung des Außenwirtschaftsrechts vor dem Hintergrund der COVID-19 Pandemie, NZG 2020, 619; Keßler, Datenschutz als Bestandteil der M&A Due Diligence, CCZ 2020, 158; Kiefner, Investorenvereinbarungen zwischen Aktien- und Vertragsrecht, ZHR 178 (2014), 547; Kiehm, Investorenvereinbarungen im Lichte des Aktien- und Übernahmerechts, AG 2009, 301; Kiethe, Vorstandshaftung aufgrund fehlerhafter Due Diligence beim Unternehmenskauf, NZG 1999, 976; Klein, Abwehrmöglichkeiten gegen feindliche Übernah-

Illert/Weiß

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen men in Deutschland, NJW 1997, 2085; Klein, Die Änderungen des Deutschen Corporate Governance Kodex 2013 aus der Sicht der Unternehmenspraxis, AG 2013, 733; Klöhn, Ad-hoc-Publizität und Insiderverbot im neuen Marktmissbrauchsrecht, AG 2016, 423; Klöhn, Das deutsche und europäische Insiderrecht nach dem Geltl-Urteil des EuGH – Zugleich Besprechung EuGH v. 28.6.2012 – Rs C-19/11, ZIP 2012, 1885; Körber, Geschäftsleitung der Zielgesellschaft und due diligence bei Paketerwerb und Unternehmenskauf, NZG 2002, 263; Kocher/Widder, Die Bedeutung von Zwischenschritten bei der Definition von Insiderinformationen, BB 2012, 2837; Korch, Der Unternehmenskauf – Eine Einführung in Theorie und Praxis, JuS 2018, 521; Kossmann, Bewertungspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat nach § 27 WpÜG unter Berücksichtigung von IDW ES 8, NZG 2011, 46; Krämer/Kiesewetter, Rechtliche und praktische Aspekte einer Due Diligence aus öffentlich zugänglichen Informationsquellen einer börsennotierten Gesellschaft, BB 2012, 1679; Krieger, Wie viele Rechtsberater braucht ein Geschäftsleiter?, ZGR 2012, 496; Kropff, Informationspflichten des Aufsichtsrats, in: Festschrift Raiser, 2005, S. 225; Kuntz, Die Auslegung von Material Adverse Change (MAC)-Klauseln in Unternehmenskaufverträgen, DStR 2009, 377; Kuthe/Lingen, Neuer BaFin-Emittentenleitfaden zur Ad-hoc-Publizität und Directors‘ Dealings, CB 2020, 270; Land/Schmoll, Neutrale Stellungnahmen nach § 27 WpÜG, NZG 2021, 185; Lange, „Material Adverse Effect“ und „Material Adverse Change“-Klauseln in amerikanischen Unternehmenskaufverträgen, NZG 2005, 454; Lebherz, Publizitätspflichten bei der Übernahme börsennotierter Unternehmen, WM 2010, 154; Leitzen, Mitteilungspflichten nach § 21 AktG und die notarielle Praxis im Gesellschaftsrecht, MittBayNot 2012, 183; Leyendecker-Langner/Läufer, Transaktionssicherheit und übernahmerechtliche Meldepflichten, NZG 2014, 161; Liekefett, Bietergleichbehandlung bei öffentlichen Übernahmeangeboten – Zugleich ein Beitrag zur Konkretisierung des Gesellschaftsinteresses in Übernahmesituationen –, AG 2005, 802; Liese/Theusinger, Zur Frage der Geschäftsführerhaftung aufgrund einer Fehlinvestition, ZIP 2007, 71; Linke/Fröhlich, Gestaltungsoptionen für Vertraulichkeitsvereinbarungen bei Unternehmenstransaktionen, GWR 2014, 449; Lorenz/Pospiech, Holzmüller Reloaded – Hauptversammlungskompetenz beim Beteiligungserwerb?, DB 2010, 1925; Lutter, Due diligence des Erwerbers beim Kauf einer Beteiligung, ZIP 1997, 613; Lutter, Der Erwerb der Dresdner Bank durch die Commerzbank – ohne ein Votum ihrer Hauptversammlung?, ZIP 2012, 351; Mayer-Uellner, Die Finanzierung öffentlicher Übernahmen im Lichte des Vollangebotsgrundsatzes, AG 2012, 399; Mayer-Uellner, From Public to Private: Öffentliche Übernahmen durch Private Equity-Investoren, AG 2013, 828; Meincke, Geheimhaltungspflichten im Wirtschaftsrecht, WM 1998, 749; Mertens, Die Information des Erwerbers einer wesentlichen Unternehmensbeteiligung an einer Aktiengesellschaft durch deren Vorstand, AG 1997, 541; Möllers/Leisch, Haftung von Vorständen gegenüber Anlegern wegen fehlerhafter Ad-hoc-Meldungen nach § 826 BGB, WM 2001, 1648; Müller-Eising, Berücksichtigung von Wandelanleihen für Angemessenheit der Gegenleistung bei Aktien-Übernahmeangeboten („Celesio AG“), EWiR 2016, 589; Nauheim/ Goette, Managerhaftung im Zusammenhang mit Unternehmenskäufen – Anmerkungen zur Business Judgment Rule aus der M&A-Praxis, DStR 2013, 2520; Nikoleyczik/Gubitz, Erwerb der Dresdner-Bank durch die Commerzbank – Beteiligungserwerb kein „Holzmüller“-Fall, NZG 2011, 91; Nodoushani, Verbotene Einlagenrückgewähr und bilanzielle Betrachtungsweise, ZIP 2012, 97; Oppenhoff/Illert, Rechtsentwicklungen im Übernahmerecht 2017, Der Betrieb Sonderdruck – Unternehmensrelevante Rechtsentwicklungen 2017 – Bedeutung für 2018, 24; Priester, Aktionärsentscheid zum Unternehmenserwerb, AG 2011, 654; Reichling/Corsten/Borgel, M&A-Transaktionen und das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht (Teil I): Risiken für die Verkäuferseite, BB 2021, 1545; Reysen/ Jaspers, Kartellrechtliche Vorgaben für die Transaktions- und Integrationsplanung im M&A Geschäft, WuW 2006, 602; von Riegen, Rechtsverbindliche Zusagen zur Annahme von Übernahmeangeboten (sog. »irrevocable undertakings«), ZHR 167 (2003), 702; Riegger, Kapitalgesellschaftsrechtliche Grenzen der Finanzierung von Unternehmensübernahmen durch Finanzinvestoren, ZGR 2008, 233; Rothenfußer/Friese-Dormann/Rieger, Rechtsprobleme konkurrierender Übernahmeangebote nach dem WpÜG, AG 2007, 137;

876

Illert/Weiß

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen Säcker/Rehm, Grenzen der Mitwirkung des Aufsichtsrats an unternehmerischen Entscheidungen in der Aktiengesellschaft, DB 2008, 2814; Schall, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 28.6.2012, Rs. C-19/11 – Insiderinformationen und Publizitätspflichten in gestreckten Entscheidungsprozessen, ZIP 2012, 1286; Sander/Schneider, Wie viele Rechtsberater braucht ein Geschäftsleiter?, ZGR 2013, 725; Schanz, Feindliche Übernahmen und Strategien der Verteidigung, NZG 2000, 337; Schiessl, ECLR Fairness Opinions im Übernahme- und Gesellschaftsrecht, ZGR 2003, 814; Schiffer/Bruß, Due Diligence beim Unternehmenskauf und vertragliche Vertraulichkeitsvereinbarungen, BB 2012, 847; Schneider, Die Zielgesellschaft nach Abgabe eines Übernahme- oder Pflichtangebots, AG 2002, 125; Schirrmacher/Hildebrandt, Die Business Judgment Rule bei der Übernahmeverteidigung, AG 2021, 220; Schönhaar, Verfahrensabläufe bei Unternehmenskaufverträgen im Mittelstand, GWR 2014, 273; Schnorbus, Rechtsschutz im Übernahmeverfahren – Teil II, WM 2003, 657; Schudlo/Kersten, Kenntnis im Haftungssystem des Unternehmenskaufs, BB 2021, 1154; Seibt/Bulgrin, Mandatierung von Finanzberatern durch die Seite der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, AG 2018, 471; Seibt/ Kuhlenkamp, CFIUS-Verfahren und Folgen für M&A-Transaktionen mit Beteiligung deutscher Unternehmen – und als Modell für die Weiterentwicklung des deutschen Außenwirtschaftsrechts, ZIP 2017, 1345; Selter, Haftungsrisiken von Vorstandsmitgliedern bei fehlendem und von Aufsichtsratsmitgliedern bei vorhandenem Fachwissen, AG 2012, 11; Sieger/Hasselbach, Break Fee-Vereinbarung bei Unternehmenskäufen, BB 2000, 625; Sigle/Zinger, Die Übernahme von Transaktionskosten durch die Aktiengesellschaft, NZG 2003, 301; Slobodenjuk, Verschärfte Investitionskontrolle nach der Außenwirtschaftsverordnung – ein Überblick, BB 2017, 2306; Stephan, Das übernahmerechtliche Verhinderungsverbot, Der Konzern 2019, 473; Stoffels, Grenzen der Informationsweitergabe durch den Vorstand einer Aktiengesellschaft im Rahmen einer „Due Diligence“, ZHR 165 (2001), 362; Strohn, Beratung der Geschäftsführung durch Spezialisten als Ausweg aus der Haftung?, ZHR 176 (2012), 137; Strohn, Zur Zuständigkeit der Hauptversammlung bei Zusammenschlussvorhaben unter Gleichen, ZHR 182 (2018), 114; Unger/ Witzel, § 24 WpÜG-Ausschluss australischer Aktionäre? Australischer Lösungsansatz für das WpÜG?, RIW 2005, 429; Verannemann/Gärtner, Grenzüberschreitende Tauschangebote nach WpÜG, AG 2009, 648; Vetter, Die Gegenleistung für den Erwerb einer Aktie bei Ausübung einer Call Option, AG 2003, 478; Vogel, Finanzierung von Übernahmeangeboten – Testat und Haftung des Wertpapierdienstleistungsunternehmens nach § 13 WpÜG, ZIP 2002, 1421; Walter, Die neuen Regelungen zu Unternehmenserwerben, RIW 2017, 650; Weilep/Dill, Vendor Due Diligence bei der Private-Equity-Finanzierung mittelständischer Unternehmen, BB 2008, 1946; Werner, Earn-Out-Klauseln – Kaufpreisanpassung beim Unternehmenskauf, DStR 2012, 1662; Wieneke/Schulz, Durchführung eines Delistings, AG 2016, 809; A. Wilhelm, Kein eindeutiger Gesetzesverstoß durch Vorstand und Aufsichtsrat durch unterlassene Beteiligung der Hauptversammlung an der Übernahme der Dresdner Bank AG; Entlastungsbeschluss; Holzmüller-Grundsätze, WuB (Juni 2012) II. A. Nr. 1.12; Wilsing/Goslar, Anfechtbarkeit der Entlastung von Commerzbank-Vorstand und -Aufsichtsrat wegen Nichteinbeziehung der Hauptversammlung bei Übernahme der Dresdner Bank, EWiR 2010, 201; Winter/Harbarth, Verhaltenspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft bei feindlichen Übernahmeangeboten nach dem WpÜG, ZIP 2002, 1; Ziemons, Die Weitergabe von Unternehmensinterna an Dritte durch den Vorstand einer Aktiengesellschaft, AG 1999, 492; Zientek, Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen bei Unternehmensakquisitionen einer Aktiengesellschaft: eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung einer etwaigen ungeschriebenen Zuständigkeit der Hauptversammlung beim Beteiligungserwerb, Diss. 2016.

A.

Einleitung

M&A Transaktionen stellen für die beteiligten Gesellschaften und ihre Organe 1 meist eine Ausnahmesituation dar. Die Tragweite der Entscheidungen in einem Illert/Weiß

877

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

solchen Prozess gehen regelmäßig weit über die von gewöhnlichen Geschäftsentscheidungen hinaus. Erschwerend für die Beteiligten kommt hinzu, dass das Tagesgeschäft während der Transaktion in geregelten Bahnen weiterlaufen muss. M&A Transaktionen erfordern daher sowohl auf Veräußerer- und Erwerberseite als auch auf Seiten der Zielgesellschaft einen außerordentlichen Einsatz der handelnden Vorstandsmitglieder und ggfs. auch des Aufsichtsrats. 2 Daraus folgt häufig auch, dass die mit einer solchen Transaktion verbundenen, von Prognosen und Unsicherheiten geprägten Entscheidungen unter großem (Zeit-)Druck getroffen werden müssen. Damit in einem Umfeld von zunehmenden Haftungsrisiken die Handelnden nicht in ihren Entscheidungen gelähmt werden, ist unbestritten, dass Entscheidungen im Rahmen von M&A Transaktionen als unternehmerische Entscheidung nicht vollumfänglich justiziabel sind. Vielmehr ist die Business Judgement Rule auch im Rahmen von Unternehmenstransaktionen grundsätzlich anwendbar (ausführlich zur zur Business Judgement Rule Æ § 2 Rz. 25 ff.). 3 In diesem Zusammenhang stellen sich für die handelnden Organe im Einzelfall vielfältige und komplexe Fragestellungen, etwa im Hinblick auf den Umfang der Entscheidungsgrundlage, Risiken für das Unternehmen oder etwaige Veröffentlichungspflichten. Nachfolgend sollen ausgewählte Fragestellungen überblicksartig und unterteilt in Private M&A (Zielgesellschaft ist nicht börsennotiert, Æ Rz. 4 ff.) und Public M&A (Zielgesellschaft ist börsennotiert, Æ Rz. 77 ff.) dargestellt werden. B.

Private M&A

4 Bei dem Großteil aller Unternehmenstransaktionen ist die Zielgesellschaft nicht börsennotiert. Der Bereich des Private M&A zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es in geringerem Umfang zwingendes Recht zu beachten gilt und beide Parteien in der vertraglichen Ausgestaltung der Transaktion deutlich freier sind als bei einer Public M&A-Transaktion. I.

Veräußererseite

5 Vor dem Start des eigentlichen Transaktionsprozesses hat die veräußernde Partei häufig bereits zumindest eine grundsätzliche Entscheidung über einen möglichen Verkauf getroffen. Die grundsätzliche Entscheidung über einen Verkauf ist durch prognostische Elemente geprägt und unterliegt damit naturgemäß gewissen Unsicherheiten, so dass sie eine unternehmerische Entscheidung i. S. v. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist.1) ___________ 1)

878

BR-Drucks. 3/05, S. 18 f. (UMAG); Koch, § 93 Rz. 39; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 48; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rz. 17. Nach BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 89 und GroßKomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 87 sind M&A-Transaktionen aller Art typische Beispiele für unternehmerische Entscheidungen.

Illert/Weiß

B. Private M&A

1.

Transaktionsprozess

Ist die Entscheidung zum Verkauf gefallen, gilt es den Verkaufsprozess zu ges- 6 talten. Hier steht das Management vor wichtigen Weichenstellungen. Oberste Handlungsmaxime für die Geschäftsleitung ist die bestmögliche Förderung des Gesellschaftsinteresses.2) Dabei stellt die Erzielung des maximalen Verkaufspreises nicht den ausschließlichen Gradmesser für erfolgreiches Handeln des Vorstands dar, stets müssen auch die weiteren Umstände und das Vertragswerk insgesamt berücksichtigt werden.3) Die Ausgestaltung des Transaktionsprozesses steht dabei im unternehmerischen Ermessen der Geschäftsleitung. a)

Verkaufsgegenstand

Ein Unternehmen ist niemals nur Sache oder Recht, sondern ein sich ständig 7 wandelnder Organismus bestehend aus Sachen, Rechten, Mitarbeitern, Knowhow, tatsächlichen Beziehungen und Geschäftschancen. Beim Verkauf eines Unternehmens gilt es diese Einheit zu erfassen und zu übertragen. Im Bereich des Private M&A ist der Veräußerer dabei in der vertraglichen Ausgestaltung der Transaktion weitgehend frei. Die Wahl des Verkaufsgegenstandes hängt dabei maßgeblich von den Absichten des Veräußerers ab. Zur Wahl stehen grundsätzlich zwei Grundtypen des Unternehmenskaufs, der sog. Share Deal sowie der sog. Asset Deal.4) Beim Share Deal wird das Unternehmen veräußert, indem der das Unterneh- 8 men haltende Rechtsträger durch Übertragung der Gesellschaftsanteile übertragen wird. Beim Asset Deal werden die einzelnen Wirtschaftsgüter des Unternehmens veräußert. Ausschlaggebend für die Wahl des Verkaufsgegenstandes einer M&A Transka- 9 tion sind stets die Umstände des Einzelfalls, wobei im Normalfall ein besonderes Augenmerk auf steuerliche Implikationen5), Haftungsthemen, Übertragungsbeschränkungen und die Einbindung Dritter zu legen sein wird.6) Je nach Verhandlungsstand werden manchmal zu Anfang einer Transaktion sowohl ein Verkauf als auch ein IPO und ggfs. noch ein sog. Spin-off (Abspaltung nach ___________ 2) 3) 4) 5)

6)

KK-AktG/Mertens/Cahn, § 76 Rz. 22; Böttcher, NZG 2007, 481 (482). Beck’sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 91. Vgl. eingehend hierzu: Beck’sches Handbuch Unternehmenskauf im Mittelstand/Jaques, Ziffer A Rz. 27 ff.; Beck/Klar, DB 2007, 2819 ff. Zu berücksichtigen ist beispielsweise das kürzlich verschärfte Regime der Grunderwerbsteuer bei Share Deals. Mit dem am 1.7.2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes wurde unter anderem der steuerauslösende Schwellenwert für Anteilsübertragungen von 95 % auf 90 % abgesenkt und gleichzeitig die Haltefrist von fünf auf zehn Jahre erhöht, vgl. hierzu Broemel/Mörwald, DStR 2021, 1624 ff.; Fischer, BB 2021, 1566 ff.; Behrens/Wagner, DB 2021, 866 ff. Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Engelhardt, Rz. 14; Saenger/Aderhold/Lenkaitis/ Speckmann/Bergjan, § 11 Rz. 9 ff.

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879

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

Umwandlungs-Gesetz) in einem mehrgleisigen Ansatz parallel verfolgt (sog. Triple oder Dual Track-Verfahren).7) b)

Verfahren

10 Im Bereich des Private M&A lässt sich das Verkaufsverfahren auf unterschiedliche Art und Weise gestalten.8) Die Gestaltung steht dabei grundsätzlich im unternehmerischen Ermessen des Vorstands. Größere Transaktionen werden oft im sog. Auktions- oder Bieterverfahren durchgeführt. Dies ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass die Geschäftsleitung sich hiervon eine Ertragsmaximierung, aber auch die größte strategische Bieterauswahl verspricht.9) Zwingend ist eine solche Verfahrensweise allerdings selbst bei großen Transaktionen nicht. Insbesondere bei großer Eilbedürftigkeit eines Verkaufs kann auf eine solche Vorgehensweise verzichtet werden.10) 11 Weitere Umstände, welche die Ausgestaltung des Verfahrens beeinflussen können, sind die Absichten des Erwerbers, etwaige regulatorische Restriktionen (insbesondere in fusionskontrollrechtlicher Hinsicht) und auch die Art der Gegenleistung. So kann ein niedrigeres Barangebot attraktiver sein als eine mögliche Beteiligung am Unternehmen des Erwerbers. Bei der Gestaltung des Verfahrens ist zudem auch die Transaktionssicherheit zu berücksichtigen.11) c)

Beraterauswahl

12 Aufgrund zunehmender Regulierung und steigender Haftungsrisiken stellt sich für Vorstände gerade im Hinblick auf M&A Transaktionen vermehrt die Frage, inwieweit sie sich auf den eigenen Sachverstand verlassen dürfen und wann und in welchem Umfang sie externe Expertise an Bord holen müssen. 13 Im Rahmen von M&A Transaktionen kommen als Berater auf Veräußererseite insbesondere Investmentbanker, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer in Frage. Das Aufgabenspektrum der jeweiligen Experten umfasst dabei u. a. die Identifikation von Erwerbsinteressenten, eine etwaige Unternehmensbewertung oder ___________ 7) Gran, NJW 2008, 1409 (1409); Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Haberstock, Rz. 1338 ff. (zu Dual Track-Verfahren); Habersack/Mülbert/Schlitt/Maassen/Wilczek, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 4 Rz. 1 ff.; Beck‘sches M&A-Hdb/Clauss/Jäckle/Strehle, § 57 Rz. 111 f.; Harrer/Carbonare/Fritsche, BKR 2013, 309 (315); Marsch-Barner/Schäfer/ Drinkuth, § 62 Rz. 51. 8) Beisel/Klumpp/Beisel, § 1 Rz. 55 f.; Gömöry, ZJS 2015, 153 ff.; Schönhaar, GWR 2014, 273 ff.; Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions/Seibt, Teil A. VI. 9) Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 92; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/ Haberstock, Rz. 1339; Frodermann/Jannott/Wuntke/Richter, § 13 Rz. 152; Schulz/Ullrich, § 18 Rz. 5. 10) Beck’sches M&A-Hdb/Rieckers, § 23 Rz. 92. 11) Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 91; Habersack/Mülbert/Schlitt/Albrecht/Kolodinski, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 1 Rz. 152.

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B. Private M&A

sonstige Unterstützung bei der Kaufpreisfindung, die Strukturierung des Transaktionsverfahrens, die Vorbereitung und Pflege des Datenraums sowie die (rechtliche) Begleitung der Verhandlungen.12) Bei der Beauftragung externer Berater ist zu berücksichtigen, dass das AktG 14 die Gesamtverantwortlichkeit für die Geschicke der Gesellschaft dem Vorstand zuschreibt. Eine Übertragung von Leitungsaufgaben auf einzelne Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter oder externe Berater wird hierdurch ausgeschlossen. Arbeitsteilung und -delegation sind jedoch grundsätzlich zulässig, soweit die dem Vorstand in § 76 Abs. 1 AktG zugewiesene Leitungsaufgabe bei diesem verbleibt (Æ § 1 Rz. 91 ff.).13) Im Hinblick auf M&A Transaktionen bedeutet das, dass Maßnahmen und Geschäfte von außergewöhnlicher Bedeutung zum Kernbereich der Leitungsaufgabe des Vorstands gehören.14) Mithin hat der Vorstand zumindest über die Durchführung bedeutender M&A Transaktionen im Gesamtvorstand zu entscheiden. Vorbereitungs- und Ausführungshandlungen sind jedoch delegierbar. Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang auf externe Expertise zurück- 15 gegriffen wird, obliegt der Geschäftsleitung. Von einer generellen Pflicht zur Mandatierung von Beratern ist grundsätzlich nicht auszugehen.15) Maßgeblich ist vielmehr eine am Gesellschaftsinteresse abgewogene Einzelfallbetrachtung. Der Vorstand kann dabei verpflichtet sein, externe Berater zu engagieren, wenn er selbst nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt.16) Vor diesem Hintergrund kann und wird eine komplexe Unternehmenstransaktion regelmäßig externen Rat erfordern17) (ausführlich zu den Anforderungen an den Rat externer Berater und eine Enthaftung nach den Grundsätzen der ISION-Rechtsprechung des BGH Æ § 2 Rz. 58 ff.). d)

Due Diligence

Due Diligence bedeutet so viel wie „gebotene Sorgfalt“. Der Begriff entstammt 16 dem US-amerikanischen Recht und bezeichnet den Vorgang der Ermittlung und Beschaffung von Informationen im Vorfeld einer Unternehmenstransaktion.18) ___________ 12) Ek/von Hoyenberg, S. 9 ff.; Hölters/Rempp, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 1.21 ff. 13) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 77 Rz. 22 ff.; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 31; Hölters/ Weber/Weber, § 76 AktG Rz. 12. 14) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 36; MünchKommAktG/Spindler, § 76 Rz. 18. 15) Sander/Schneider, ZGR 2013, 725 (731 ff.); Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 4 Rz. 46; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 94. 16) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, ZIP 2011, 2097, Rz. 18 („ISION-Rechtsprechung“); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 44 ff.; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 75. 17) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Dörrwächter, § 4 Rz. 46; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 77. 18) Böttcher, NZG 2005, 49 (49); Körber, NZG 2002, 263 (263).

Illert/Weiß

881

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

Terminologisch wird zwischen der Unternehmensprüfung durch die Erwerberseite (Buyer Due Diligence) und die Veräußererseite (Vendor Due Diligence) unterschieden. Die Due Diligence dient auf beiden Seiten grundsätzlich der Ermittlung einer umfassenden Informationsgrundlage und zielt darauf ab, für die Entscheidung der Geschäftsleitung eine belastbare Informationsgrundlage zu schaffen.19) aa)

Gestattung einer Buyer Due Diligence

17 Mit der Durchführung einer Unternehmensprüfung zielt der Erwerber darauf ab, sich eine eigene und angemessene Informationsgrundlage im Hinblick auf das Zielunternehmen zu schaffen.20) Eine Due Diligence ist zwar für den Käufer grundsätzlich gesetzlich nicht vorgeschrieben.21) Ohne eine solche wird die Geschäftsleitung jedoch selten eine ausreichend informierte Kaufentscheidung treffen können und sich somit möglicherweise außerhalb des sicheren Hafens der Business Judgement Rule bewegen.22) 18 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es für eine Buyer Due Diligence zwar keine positive Gesetzesregelung gibt,23) eine M&A Transaktion ohne sie jedoch kaum vorstellbar ist. Problematisch hieran ist, dass auf Veräußererseite weder die Zielgesellschaft noch die veräußernde Gesellschaft verpflichtet sind, eine Due Diligence Prüfung durch den Erwerber zu ermöglichen. Vielmehr stehen der Gestattung die gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht des Vorstands aus § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG, sowie unter Umständen weitere datenschutzrechtliche, arbeitsrechtliche und wettbewerbsrechtliche Geheimhaltungspflichten entgegen.24) Zum Beispiel um eine Transaktion überhaupt erst zu ermöglichen bzw. dem Käufer die Informationen zu gewähren, die er für die Vereinbarung eines aus Sicht des Käufers angemessenen Vertragswerks benötigt, ist überwiegend anerkannt, dass die Gestattung einer Buyer Due Diligence unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen zulässig ist.25) 19 Die Entscheidung des Vorstands, eine Unternehmensprüfung durch den Erwerber zuzulassen, ist eine unternehmerische und somit nicht in vollem Umfang justizia___________ 19) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 699; Cannivé, ZIP 2009, 254 (255); Körber, NZG 2002, 263 (264); Heer, GWR 2018, 125 (126). 20) Böttcher, NZG 2007, 481 (483); Gran, NJW 2008, 1409 (1410 f.). 21) Zur Diskussion, ob sich die Due Diligence bereits als Verkehrssitte etabliert hat: Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 742 m. w. N. 22) Vgl. Nauheim/Goette, DStR 2013, 2520 (2524 f.); Böttcher, NZG 2005, 49 (52 f.). 23) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 700; Gran, NJW 2008, 1409 (1410 f.). 24) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 164; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/ Funk, Rz. 790; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 95. 25) Banerja, ZIP 2003, 1730 (1730); Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 790; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 95.; vgl. auch Heer, GWR 2018, 125 (126)

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bel. Maßgeblich sind die Umstände der jeweiligen Transaktion.26) Wesentlich hierbei ist, ob die Transaktion als Asset- oder als Share Deal ausgestaltet ist. Im Falle eines Asset Deals obliegt die Gestattung der Due Diligence regelmäßig dem Veräußerer selbst. Im Rahmen eines Share Deals kommen jedoch noch die, für die Gestattung der Due Diligence oft maßgeblichen, Pflichten und Interessen der Zielgesellschaft hinzu.27) Sofern es sich bei der Zielgesellschaft um eine Aktiengesellschaft handelt und diese nicht durch einen Beherrschungsvertrag mit dem Veräußerer verbunden ist, hat der Veräußerer meist weder selbst die erforderlichen Informationen für eine Due Diligence,28) noch kann er die Zielgesellschaft (außerhalb des Konzernrechts) zu einer solchen Prüfung anhalten.29) Wird eine Due Diligence zugelassen, haben die Geschäftsleitungen des Veräuße- 20 rers und der Zielgesellschaft durch eine angemessene Verfahrensgestaltung, z. B. durch Vertraulichkeitsvereinbarungen,30) dafür Sorge zu tragen, dass die weitergegebenen Informationen vertraulich bleiben. Ferner ist sicherzustellen, dass die Erwerbsinteressenten nur Zugang zu den Informationen erhalten, die für die jeweilige Phase der Transaktion erforderlich sind. Daher wird eine Due Diligence häufig so gestaltet, dass Informationen nur in einem abgestuften Prozess zugänglich gemacht werden. Insbesondere im Rahmen von Auktionsverfahren oder Transaktionen mit mehreren Interessenten bietet es sich an, erst bei abnehmender Zahl der Interessenten und steigender Erfolgswahrscheinlichkeit der Transaktion sensitive Daten zugänglich zu machen.31) Zudem kann es sich anbieten oder auch eine rechtliche Verpflichtung bestehen, besonders vertrauliche oder wettbewerbsrelevante Dokumente in einen separaten Teil des Datenraums (sog. Roter Datenraum) zur Verfügung zu stellen, zu dem nur zur Berufsverschwiegenheit verpflichtete Personen, bzw. von den wettbewerbsrelevanten Entscheidungen separierte Mitarbeiter des Erwerbers (sog. Clean Team) Zugang haben.32) bb)

Durchführung einer Vendor Due Diligence

Im Rahmen einer Vendor Due Diligence prüft der Veräußerer das Verkaufsun- 21 ternehmen selbst. Dies dient zuvörderst zwei Zielen: Zum einen kann eine eigene ___________ 26) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 165 f.; Körber, NZG 2002, 263 (269); vgl. auch Fuhrmann/ Heinen/Schilz, NZG 2020, 1368 (1370). 27) Lutter, ZIP 1997, 613 (617); Körber, NZG 2002, 263 (269). 28) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 789; Körber, NZG 2002, 263 (265); Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (369 f.). 29) Lutter, ZIP 1997, 613 (616); zur Frage, ob die Möglichkeit zur Anweisung im Konzern besteht: Körber, NZG 2002, 263 (265); Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (370 f.) jeweils m. w. N. 30) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 166; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 98; Gran, NJW 2008, 1409 (1410). 31) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 791; vgl. auch BeckOGKAktG/Fleischer, § 93 Rz. 2013. 32) Besen/Gronemeyer, CCZ 2013, 137 (143 f.); Linke/Fröhlich, GWR 2014, 449 (451 f.); Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 99.

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Prüfung des Verkaufsgegenstandes für die Schaffung einer ausreichenden Informationsgrundlage der handelnden Geschäftsleitung sinnvoll und im Einzelfall erforderlich sein; zum anderen verspricht sich der Veräußerer hiervon oft eine Beschleunigung der Transaktion auf Grund der Verbesserung der Datenraumqualität.33) Zu bedenken ist jedoch auch hier, dass die Zielgesellschaft (außerhalb des Vertrags-Konzerns) grundsätzlich nicht verpflichtet ist, eine Due Diligence durch den Veräußerer zuzulassen. 22 Eine umfassende Entscheidungsgrundlage ist auch für die handelnden Vorstände der veräußernden Gesellschaft von elementarer Bedeutung, da die Entscheidung zur Desinvestition unternehmerischer Natur und somit Gegenstand der Business Judgement Rule ist. Für den Veräußerer besteht grundsätzlich keine Pflicht, eine eigene Due Diligence durchzuführen. Eine solche kann sich nur ergeben, soweit dies erforderlich ist, um für den Verkaufsprozess wesentliche Informationen zu gewinnen.34) 23 Weiterhin ist es für den Verkaufsprozess, insbesondere die Kaufpreisverhandlungen, häufig zielführend, wenn der Veräußerer auch Risiken und Schwächen des Verkaufsunternehmens kennt und ggfs. frühzeitig selbst aufdeckt.35) In diesem Fall kann er selbstständig Maßnahmen ergreifen, um Missständen und zu erwartenden Einwendungen entgegen zu wirken (z. B. Nachholung von gesellschaftsrechtlichen Beschlüssen, Anmeldungen oder Mitteilungen).36) e)

Feasibility

24 Vor der Durchführung der Transaktion sollte sich der Veräußerer auch mit der (rechtlichen) Machbarkeit (sog. feasibility) der Transaktion auseinandersetzen. So können potenzielle Stolpersteine frühzeitig erkannt und ggfs. behoben werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere an eine erforderliche Fusionskontrollfreigabe37) oder sonstige regulatorische Zustimmungserfordernisse ___________ 33) Vgl. Hahn/Reiswich, ZAP 2012, 1187 (1190); Cannivé, ZIP 2009, 254 (255 f.); Beck’sches Mandatshandbuch Due Diligence/Andreas, § 2 Rz. 20. 34) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 174; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 102. 35) Zu den Aufklärungspflichten im M&A Prozess siehe auch Schudlo/Kersten, BB 2021, 1154 (1157 ff.); zu den strafrechtlichen Betrugsrisiken wegen falscher oder unvollständiger Informationsweitergabe siehe Reichling/Corsten/Borgel, BB 2021, 1545 (1546 ff.). 36) Cannivé, ZIP 2009, 254 (255 f.); Weilep/Dill, BB 2008, 1946 (1946 f.); Schiffer/Bruß, BB 2012, 847 (851). 37) Z. B. nach §§ 35 – 43a GWB (Deutschland), der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“) (EU), Section 7 und 7A des Clayton Act (kodifiziert in 15 U.S.C. § 18 und 18a), dem Hart-Scott-Rodino Antitrust Improvements Act, Section 1 und 2 des Sherman Act (kodifiziert unter 15 U.S.C. § 1 und 2), Section 5 des FTC Act (kodifiziert unter 15 U.S.C. § 45) (USA), Part 3 des Enterprise Act 2002 und Part 4 Chapter 1 Enterprise and Regulatory Reform Act 2013 (UK) und dem Föderalen Gesetz Nr. 135-FZ „Über den Schutz des Wettbewerbs“ (RUS).

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(wie z. B. ein Zustimmungserfordernis nach AWG38) oder nach ausländischen Investitionskontrollgesetzen39)) zu denken, ohne die eine Transaktion ggf. nicht zulässigerweise durchgeführt werden kann. Im Kaufvertrag werden etwa erforderliche Genehmigungen meist als Vollzugs- 25 bedingungen aufgenommen, so dass etwaigen Vollzugsverboten40) bzw. rechtlich zwingenden Anforderungen genügt werden kann. 2.

Kaufvertrag

Als unternehmerische Entscheidung kommt dem Vorstand bei der Verhand- 26 lung und Ausgestaltung des Kaufvertrages eine weite Einschätzungsprärogative zu. Wie der gesamte Prozess werden auch die Vertragsverhandlungen von der Handlungsmaxime der bestmöglichen Förderung der Gesellschaftsinteressen gekennzeichnet. Als Hauptindikator für die Angemessenheit des Vertrages mag der Kaufpreis dienen, ausschlaggebend sind jedoch auch der Vertrag in seiner Gesamtheit und andere relevante Begleitumstände der Transaktion. a)

Verkaufspreis

Die Festlegung des Verkaufspreises ist als unternehmerische Handlung grund- 27 sätzlich von der Business Judgement Rule umfasst. Die Entscheidung muss jedoch den Anforderungen der Business Judgement Rule gerecht werden, also ___________ 38) Vgl. Hippeli, jurisPR-HaGesR 8/2017 Anm. 1; Becker/Sachs, NZG 2017, 1336 ff.; Slobodenjuk, BB 2017, 2306 ff.; Walter, RIW 2017, 650 ff.; Haak/Brakalova/Thiemann, CB 2020, 357 ff.; Bierwagen/von Wistinghausen, BB 2020, 1986 ff.; Dammann de Chapto/Brüggemann, NZKart 2020, 374 ff.; Jungkind/Bormann, NZG 2020, 619 ff.; Brüggemann/Moser, DB 2020, 1443 ff.; Brüggemann/Moser, DB 2021, 1250 ff.; Barth/dos Santos Goncalves, DB 2020, 2506 ff. 39) So z. B.: Gesetzliche Grundlage des CFIUS-Verfahrens in den USA ist der Defense Production Act von 1950 (50 U.S.C. App. 2170), der durch die Verordnung 31 CFR Part 800 konkretisiert wird, vgl. zum CFIUS-Verfahren in den USA: Heinrich/Jalinous, AG 2017, 526 ff.; Seibt/Kuhlenkamp, ZIP 2017, 1345; für Russland gelten insbesondere das Föderale Gesetz Nr. 57-FZ „Über das Verfahren der Durchführung ausländischer Investitionen in Wirtschaftsgesellschaften mit strategischer Bedeutung für die Landesverteidigung und die Sicherheit des Staates“, das Föderale Gesetz Nr. 160-FZ „Über ausländische Investitionen in der Russischen Föderation“, das Föderale Gesetz Nr. 2124-1 „Über Massenmedien“; zuständig ist in Russland die Federal Antimonopoly Service of the Russian Federation (FAS); in Frankreich muss nach Art. L.151-3 des Währungs- und Finanzgesetzes (Code monétaire et financier) eine vorherige Genehmigung des Wirtschaftsministeriums eingeholt werden, wenn die Zielgesellschaft bestimmte sensible Tätigkeiten ausübt. 40) Neben einem Verstoß gegen das Vollzugsverbot durch den Vollzug der Transaktion selbst drohen auch Verstöße z. B. durch Conduct of Business Klauseln bzw. Integrationsplanung; vgl. hierzu insgesamt: Europäische Kommission gegen Altice (Erwerb von PT Portugal), M.7993, ALTICE/PT PORTUGAL (Art. 14.2 proc.), Entsch. v. 24.4.2018; EuG in Sachen Marine Harvest ASA gegen Europäische Kommission (Erwerb von Morpol), Rechtssache T 704/14, Urt. v. 26.10.2017, veröffentlicht unter: http://curia.europa.eu/juris/document/ document.jsf?text=&docid=196102&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ= first&part=1&cid=582112 (letzter Abruf: 22.11.2022); Baron/Trebing, BB 2016, 131 (132); Reysen/Jaspers, WuW 2006, 602 ff.; Badtke, KSzW 2011, 418 ff.

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insbesondere auf einer umfassenden Informationsgrundlage getroffen worden sein. Um späteren Beweisschwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, sollte der Vorstand seine Erwägungsgründe schriftlich festhalten. 28 Der Ausgangspunkt für die Festlegung des Verkaufspreises des Zielunternehmens ist in der Regel die Bewertung durch Käufer und Verkäufer.41) Dabei ist keine bestimmte Methode zur Bestimmung des Wertes gesetzlich vorgeschrieben. Häufig zur Anwendung kommen das Ertragswertverfahren, das Discounted Cash-Flow-Verfahren und das Multiplikatorverfahren.42) 29 Die Organe auf der Veräußererseite können im Rahmen ihres unternehmerischen Ermessens darüber entscheiden, welcher Preis letztlich vereinbart werden soll. Entscheidend sind dabei stets die Umstände des Einzelfalls.43) 30 Zur Absicherung der eigenen Kaufpreisbestimmung kann die Geschäftsleitung eine sog. „Fairness Opinion“ von einem Dritten, meist einer Investment Bank, einholen. Hierzu besteht grundsätzlich keine Pflicht. Gerade im Rahmen von großen Transaktionen kann die Einholung einer Fairness Opinion jedoch sinnvollerweise angezeigt sein.44) b)

Weitere Vertragsbedingungen

31 Bei der Verhandlung und Vereinbarung der weiteren Vertragsbedingungen ist eine Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände vorzunehmen.45) Insbesondere sind die Ergebnisse einer durchgeführten (Vendor oder Buyer) Due Diligence zu beachten, z. B. im Rahmen von Gewährleistungen und/oder Freistellungen; auch ist eine hohe Transaktionssicherheit (z. B.: wenige Vollzugsbedingungen, keine Material Adverse Change-Klausel,46) Risiken aus regulatorischen Verfahren (z. B. Verkauf von Unternehmensteilen zum Erhalt einer Fusionskontrollfrei___________ 41) Beisel/Klumpp/Schindler, § 3 Rz. 1, 3 ff.; vgl. eingehend zur Kaufpreisfindung: Holzapfel/ Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Bergjan, Rz. 802 ff.; Knott/Matzen, Rz. 179 ff. 42) Beisel/Klumpp/Schindler, § 3 Rz. 11. 43) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Bergjan, Rz. 798; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 52 f.; Beisel/Klumpp/Beisel, § 11 Rz. 3; liegt der Kaufpreis weit unterhalb einer angemessenen Bandreite des Unternehmenswerts oder wurden sachfremde Erwägungen berücksichtigt, kann der Veräußererseite unter Umständen sogar das strafrechtliche Risiko der Untreue gemäß § 266 StGB drohen: Reichling/Corsten/Borgel, BB 2021, 1545 (1549). 44) Eingehend hierzu: Fleischer, in: Festschrift Hopt, S. 2753 ff.; ders., ZIP 2011, 201 ff.; Schiessl, ZGR 2003, 814 ff.; Decher, Liber Amicorum Martin Winter, 2011, S. 99 ff.; zur Fairness Opinion bei Sachkapitalerhöhungen: Cannivé/Suerbaum, AG 2011, 317 ff. 45) Korch, JuS 2018, 521 (525 f.); Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 57, 59; siehe auch die tabellarische Übersicht über typische Interessenlagen und Argumentationslinien von Käufern und Verkäufern sowie Kompromisslösungen bei Vertragsverhandlungen bei Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions/Schrader/Seibt, Teil C. I. 1. 46) Zu den MAC-Klauseln siehe auch Beisel/Klumpp/Beisel, § 9 Rz. 144; Holzapfel/Pöllath/ Bergjan/Engelhardt/Engelhardt/Farkas, Rz. 1230 ff.; Knott/Becker/Voß, Rz. 1345 ff.

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gabe) aus Sicht des Verkäufers im Idealfall vom Käufer zu tragen (sog. hell or high water Klausel47))) grundsätzlich im Interesse des Verkäufers. 3.

Pflichten des Aufsichtsrats

Die Entscheidung über die Durchführung von Unternehmenstransaktionen 32 fällt als unternehmerische Entscheidung, vorbehaltlich etwaiger Zustimmungserfordernisse nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG, grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich des Vorstands. Zumindest größere Transaktionen werden jedoch regelmäßig der Zustimmung des Aufsichtsrats bedürfen. a)

Überwachungs- und Beratungspflicht

Zentrale Aufgabe des Aufsichtsrats ist gemäß § 111 Abs. 1 AktG die Überwa- 33 chung des Vorstands. Dieser Aufgabe hat der Aufsichtsrat auch und gerade während einer Unternehmenstransaktion nachzukommen. Die Entscheidungen des Vorstands werden dabei nicht bloß nachgelagert kontrolliert,48) sondern der Aufsichtsrat hat auch präventiv zu agieren, indem er dem Vorstand beratend zur Seite steht (allgemein zur Beratungspflicht des Aufsichtsrats Æ § 3 Rz. 133).49) Die Art und das Ausmaß der erforderlichen Überwachung durch den Auf- 34 sichtsrat sind anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen.50) Die Anforderungen an die Überwachung des Vorstands erhöhen sich mit steigender Bedeutung der Unternehmenstransaktion und der mit ihr verbundenen Risiken (zur Intensität der Überwachung durch den Aufsichtsrat Æ § 3 Rz. 170 ff.).51) Die Überwachung durch den Aufsichtsrat erfolgt sowohl hinsichtlich der 35 Rechtmäßigkeit als auch, insbesondere im Rahmen von Unternehmenstransaktionen, im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit des Vorstandshandelns.52) ___________ 47) Zu den hell or high water Klauseln siehe auch Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/ Engelhardt/Farkas, Rz. 1203; Kästle/Oberbracht, Erläuterungen zu Ziffer 14. 3. 48) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 29 ff.; vgl. Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 111 Rz. 11; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 12; Arbeitshdb Aufsichtsratsmitglieder/ v. Schenck, § 6 Rz. 173. 49) Vgl. BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 130; Hölters/Weber/GroßBölting/Rabe, § 111 Rz. 29; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 12; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 50 ff. 50) Vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, AG 2012, 1965 (1967 f.); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 55 ff.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 29 f.; K. Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 22 ff. 51) OLG Stuttgart, Urt. v. 15.3.2006 – 20 U 25/05, ZIP 2006, 756; OLG Hamburg, Urt. v. 12.1.2001 – 11 U 162/00, DB 2001, 583 (584). 52) BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, NZG 2009, 550; BGH, Urt. v. 12.7.1979 – III ZR 154/77, NJW 1979, 1879; BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, NJW 1991, 1830; OLG Düsseldorf, Urt. v. 31.5.2012 – I 16 U 176/10, ZIP 2012, 2299; OLG Karlsruhe, Urt. v. 4.9.2008 – 4 U 26/06, AG 2008, 900; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 53.

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36 Die Aufsicht über den Vorstand ist gemäß § 111 Abs. 1 AktG eine grundsätzlich nicht delegierbare Aufgabe des Gesamtaufsichtsrats.53) Zur Unterstützung des Gesamtaufsichtsrats darf dieser auch im Rahmen von Unternehmenstransaktionen die Überwachung oder die Zustimmung zu einer bestimmten Unternehmenstransaktion an Ausschüsse übertragen.54) Der Gesamtaufsichtsrat ist allerdings verpflichtet, an einen Ausschuss übertragene Maßnahmen zu überwachen (Æ § 3 Rz. 289 ff.).55) b)

Übermittlung von Informationen

37 Um den Aufsichtsrat in die Lage zu versetzen seiner gesetzlichen Überwachungspflicht nachzukommen, hat der Vorstand gemäß § 90 AktG dem Aufsichtsrat gegenüber Bericht zu erstatten (ausführlich zur Berichterstattung durch den Vorstand Æ § 3 Rz. 112 ff.).56) Insbesondere bei Unternehmenstransaktionen kann es sich um Geschäfte handeln, die eine entsprechende Berichtspflicht des Vorstands auslösen.57) Ferner bestimmt § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG die allgemeine Pflicht des Vorstandes, dem Aufsichtsratsvorsitzenden aus sonstigen wichtigen Anlässen zu berichten.58) Dies wird gerade bei großen Transaktionen eine regelmäßige Kommunikation zwischen Vorstand und Aufsichtsrat erforderlich machen. Der Aufsichtsrat darf sich dabei auf Grund des vorausgesetzten Vertrauensverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat grundsätzlich darauf verlassen, dass die Berichte bzw. die übermittelten Informationen des Vorstands richtig, vollständig und zutreffend sind,59) es sei denn, es besteht ein hinreichender Anlass, an der Richtigkeit und Vollständigkeit, so z. B. bei erkennbar unvollständigen oder widersprüchlich Informationen, zu zweifeln (Æ § 3 Rz. 273).60) ___________ 53) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 37; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 60. 54) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 110; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 60; BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 38. 55) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 38; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 60; Koch, § 111 Rz. 32; Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 84. 56) Hüffer, NZG 2007, 47 (48); Säcker/Rehm, DB 2008, 2814 (2815); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 90 Rz. 1; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 1. 57) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 29; Koch, § 90 Rz. 7; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 39. 58) Vgl. Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 5: größere M&A-Transaktionen haben regelmäßig einen wesentlichen Einfluss auf die Geschäftspolitik und die Unternehmensplanung, sodass diese die Berichtspflicht nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG auslösen. Ebenso seien größere M&A-Transaktionen Geschäfte von erheblicher Bedeutung nach § 90 Abs. 1 Nr. 4 AktG (Hölters/Weber/Müller-Michaels, § 90 Rz. 9); Æ § 3 Rz. 117. 59) OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.6.2008 – I-9 U 22/08, WM 2008, 1829 (1830) = ZIP 2008, 1922; Säcker/Rehm, DB 2008, 2814 (2819). 60) BGH, Urt. v. 11.12.2006 – II ZR 243/05, WM 2007, 259 (260) = ZIP 2007, 224; BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, AG 2009, 404 = ZIP 2009, 860; Cahn, WM 2013, 1293 (1298).

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c)

Sorgfaltsmaßstab

Für den Aufsichtsrat und seine Mitglieder gilt der auch für den Vorstand maßgeb- 38 liche Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gemäß § 116 Satz 1 AktG entsprechend. Die Business Judgement Rule gemäß § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG findet auch zugunsten der Aufsichtsratsmitglieder bei Zustimmungsentscheidungen zu M&A Transaktionen Anwendung, da diese Zustimmungsentscheidungen über die Recht- und Zweckmäßigkeit typischerweise von Unsicherheiten und Prognoseelementen geprägt sind und somit der erforderliche Ermessensspielraum eröffnet ist.61) Ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab kommt für Aufsichtsratsmitglieder in Betracht, welche aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung über spezielle Kenntnisse verfügen.62) Der erhöhte Sorgfaltsmaßstab greift dabei nur in dem Fall, in dem die zugrundeliegende Sachfrage inhaltlich das Fachgebiet des entsprechenden Aufsichtsratsmitglieds berührt (Æ § 4 Rz. 17 f.).63) Wie für den Vorstand gilt auch für den Aufsichtsrat, dass er nur für eine Ver- 39 letzung der von ihm geschuldeten konkreten Sorgfaltspflichten haftet, nicht aber für ein Scheitern oder den Misserfolg von unternehmerischen Entscheidungen wie dem Eingehen einer M&A Transaktion. Nach den Grundsätzen der ARAG/Garmenbeck Entscheidung des BGH ergibt sich eine Haftung somit nicht daraus, dass Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Entscheidung keine glückliche Hand beweisen.64) Entscheidend ist allein, dass der Aufsichtsrat auf der Grundlage angemessener Information vernünftigerweise annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln und dadurch keine unvertretbaren unternehmerischen Risiken eingegangen werden (Æ § 3 Rz. 284 ff.). Die Abgrenzung zwischen einem noch vertretbaren unternehmerischen Risiko und einem nicht mehr vom Unternehmenswohl gedeckten unverantwortlichen Überschreiten zulässiger Ermessensgrenzen (z. B. anhand Kriterien wie Eintrittswahrscheinlichkeit, Absicherung, Auswirkungen von Risiken) kann nur anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Hinsichtlich des Vorliegens einer „angemessenen Informationsgrundlage“ gilt 40 aufgrund des Nebenamtscharakters des Aufsichtsratsmandats ein anderer Maßstab als bei Vorstandsmitgliedern.65) Mithin treffen den Aufsichtsrat nicht die ___________ 61) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (254 f.) = ZIP 1997, 883; Kropff, in: Festschrift Raiser, S. 225 (228); Marsch-Barner/Schäfer/Vetter, § 27 Rz. 39. 62) BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NZG 2011, 1271 = ZIP 2011, 2097; BGH, Urt. v. 2.4.2007 – II ZR 325/05, NZG 2007, 516; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 28; Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 116 Rz. 10; Arbeitshdb Aufsichtsratsmitglieder/ v. Schenck, § 6 Rz. 229.; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 19. 63) Koch, § 116 Rz. 4; BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 19. 64) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 (253) = ZIP 1997, 883; Goette, Liber Amicorum Winter, S. 153 ff. 65) Koch, § 116 Rz. 6; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 144; Beck’sches M&AHdb/Rieckers, § 26 Rz. 88; Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 310.

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gleichen Informationsobliegenheiten wie den Vorstand.66) Vor dem Hintergrund, dass ein Unternehmensverkauf eine Flut an Informationen hervorbringt, ist es nicht erforderlich, dass der Aufsichtsrat die Verhandlung aller Vertragsdokumente überprüft, überwacht und über die einzelnen Dokumente beschließt. Es reicht aus, wenn dem Aufsichtsrat die erforderlichen Informationen zur Verfügung stehen, um eine sachgemäße Beurteilung über die wesentlichen Umstände der Transaktion treffen und ggfs. auch einen Zustimmungsbeschluss fassen zu können.67) Hierfür wird meist eine zusammenfassende Darstellung, z. B. in Form einer umfassenden Präsentation, mit den relevanten Eckpunkten ausreichend, aber auch erforderlich sein. Die Konzentration auf die zentralen Informationen ermöglicht es dem Aufsichtsrat, seiner Überwachungspflicht gerecht zu werden.68) 4.

Hauptversammlung

41 Gemäß § 76 Abs. 1 AktG leitet der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung; dies gilt auch für M&A Maßnahmen. Die Hauptversammlung besitzt demgegenüber keinerlei originäre Geschäftsführungskompetenz. Grundsätzlich kann nur durch ein Verlangen des Vorstands nach § 119 Abs. 2 AktG eine Entscheidungsbefugnis der Hauptversammlung über eine M&A Transaktion als Geschäftsführungsmaßnahme begründet werden. Ob der Vorstand von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, liegt grundsätzlich in seinem (freien) Ermessen.69) 42 Bei Transaktionen, die das ganze Gesellschaftsvermögen betreffen, ist das Erfordernis einer etwa erforderlichen Hauptversammlungszustimmung gemäß § 179a AktG zu berücksichtigen.70) 43 Daneben bedürfen nach den Grundsätzen der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung71) des BGH solche Geschäftsführungsmaßnahmen zwingend der Zustimmung der Hauptversammlung, die „so tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe sie in ausschließlich eigener Verantwortung treffen, ohne die Hauptversammlung zu beteiligen. In solchen Fällen verletzt der Vorstand seine Sorgfaltspflicht, wenn er von der Möglichkeit des § 119 Abs. 2 AktG keinen Gebrauch macht.“

___________ 66) Fonk, ZGR 2006, 841 (862); MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 144. 67) Fonk, ZGR 2006, 841 (862); Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 88. 68) Cahn, WM 2013, 1293 (1297 ff.); Fonk, ZGR 2006, 841 (862); Beck’sches M&A-Hdb/ Rieckers, § 26 Rz. 88; Arbeitshdb Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 6 Rz. 56. 69) MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 18, 22; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 14, 17. 70) OLG Düsseldorf, Urt. v. 9.12.1993 – 6 U 2/93, WM 1994, 337 (343); OLG München, Urt. v. 10.11.1994 – 24 U 1036/93, AG 1995, 232; OLG Stuttgart, Urt. v. 13.7.2005 – 20 U 1/05, AG 2005, 693 (695) = ZIP 2005, 1415. 71) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993.

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B. Private M&A

Eine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung nach den Grundsätzen der 44 Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung kommt bei Unternehmensverkäufen mangels Mediatisierung grundsätzlich nicht in Betracht.72) Trotz dessen sollte im Einzelfall und insbesondere je nach (Gesamt-)Transaktionsstruktur die mögliche Relevanz einer Zustimmungspflicht der Hauptversammlung (vorsorglich) geprüft werden.73) 5.

Publizitätspflichten

Bei einer privaten M&A Transaktion kommen im Hinblick auf die (nicht bör- 45 sennotierte) Zielgesellschaft insbesondere die folgenden Publizitätspflichten in Betracht: a)

Ad-hoc-Publizität

Ist der Veräußerer eine börsennotierte Gesellschaft, können sich im Zusammen- 46 hang mit einer Private M&A-Transaktion Ad-hoc-Meldepflichten aus der MAR ergeben. Da eine M&A Transaktion typischerweise einen gestreckten Geschehensablauf darstellt, können sowohl das Endereignis (z. B. Abschluss eines Kaufvertrages) als auch Zwischenschritte74) (z. B. Unterzeichnung eines Letter of Intent, Einigung beider Parteien auf den Kaufpreis) als eine ad-hoc pflichtige Insiderinformation einzuordnen sein (zu den grundsätzlichen Voraussetzungen der Ad-hoc-Pflicht Æ § 10 Rz. 7 ff.). Besondere Bedeutung kommt bei der Beurteilung, ob das Endereignis oder 47 Zwischenschritte einer M&A Transaktion eine ad-hoc pflichtige Insiderinformation darstellen, der Frage zu, welcher Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Bewertung künftiger Umstände anzulegen ist (hierzu auch Æ § 10 Rz. 11). Folgende, für eine M&A Transaktion typische Schritte sind nach Auffassung der 48 BaFin75) Ereignisse, bei denen sie (noch) nicht von der hinreichenden Wahr___________ 72) BGH, Beschl. v. 20.11.2006 – II ZR 226/05, ZIP 2007, 24; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/ Engelhardt/Bergjan/Stenzel, Rz. 93; Hofmeister, NZG 2008, 47 (49 f.). In diesem Sinne auch Goette, DStR 2007, 586, der im für einen Abdruck der Entscheidung redaktionell zusammengefassten Sachverhalt folgendes vermerkt hat: „Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kl. hat der II. Zivilsenat wie folgt zurückgewiesen und damit klargestellt, dass bereits mit dem „Gelatine“Urteil der Sache nach ausgesprochen worden ist, dass eine unter der Schwelle des § 179a AktG bleibende Veräußerung nicht zur Heranziehung der nur in besonderen Ausnahmefällen einschlägigen Grundsätze über eine ungeschriebene Mitwirkungsbefugnis der Hauptversammlung führt: Die Beteiligungsveräußerung ist das Gegenteil der Mediatisierung.“ Differenzierend im Hinblick auf die Größe der veräußerten Beteiligung: BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 43 f. 73) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Bergjan/Stenzel, Rz. 90; vgl. hierzu zuletzt und insbesondere zum Business Combination Agreement Strohn, ZHR 182 (2018), 114 ff.; Feldhaus, BB 2009, 562 (567); Götze, NZG 2004, 585 (588); OLG München, Urt. v. 14.10.2020 – 7 U 448/19 = BeckRS 2020, 48212 Rz. 89 und LG München I, Urt. v. 20.12.2018 – 5 HK O 15236/17 = ZIP 2019, 266 (270). 74) BaFin, Emittentenleitfaden, 5. Aufl., Stand: 25.3.2020, Modul C., Ziff. I.2.1.4.3 S. 13 f. 75) BaFin, Emittentenleitfaden, 5. Aufl., Stand: 25.3.2020, Modul C, Ziff.: I.2.1.5.6, S. 18 f.

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scheinlichkeit des Eintritts des Endereignisses ausgeht: Entscheidung, mit einer potenziellen Zielgesellschaft Vorgespräche aufzunehmen; Beauftragung von Beratern (wie z. B. Rechtsanwälten, Banken, Unternehmensberatern); Übermittlung eines unverbindlichen Angebotsschreibens.76) Auch der Abschluss einer Vertraulichkeitsvereinbarung per se stellt keinen relevanten Zwischenschritt dar.77) Der Eintritt eines Zwischenschritts wird jedoch nach Auffassung der BaFin bei bilateralen Treffen mit konkretem Hintergrund, wenn bereits Vorbereitungshandlungen vorgenommen und wesentliche Eckpunkte besprochen werden, dem Abschluss eines Letter of Intent, der den ernsthaften Einigungswillen der Verhandlungspartner manifestiert, der Übersendung von Term Sheets, dem Einsetzen von Arbeitsgruppen zur Umsetzbarkeit einer Fusion, einer grundsätzlichen Einigung durch wesentliche Entscheidungsträger über zentrale Punkte, dem Ausräumen wesentlicher Hindernisse und der Durchführung einer Due Diligence zu prüfen sein.78) 49 Im Hinblick auf (eingetretene oder bevorstehende) Zwischenschritte vertritt die BaFin die Auffassung, dass ein Kursbeeinflussungspotential umso eher anzunehmen sei, je gewichtiger und wahrscheinlicher das Endereignis ist.79) Da die Wahrscheinlichkeit des Endereignisses (sowie auch wesentliche Parameter ___________ 76) Vgl. auch Kuthe/Lingen, CB 2020, 270 (273). 77) Kuthe/Lingen, CB 2020, 270 (273). 78) BaFin, Emittentenleitfaden, 5. Aufl., Stand: 25.3.2020, Modul C, Ziff.: I.2.1.5.6, S. 19; Kuthe/Lingen, CB 2020, 270 (273). 79) BaFin, Emittentenleitfaden, 5. Aufl., Stand: 25.3.2020, Modul C., Ziff. I.2.1.4.3 S. 14; die BaFin führt weiter aus, dass ein Kursbeeinflussungspotenzial umso eher anzunehmen sei, je gewichtiger und wahrscheinlicher das Endereignis sei und eine Gesamtbetrachtung der eingetretenen und zukünftigen Umstände unter Berücksichtigung der jeweiligen Marktsituation nahelege, dass ein verständiger Anleger bereits diesen Zwischenschritt für sich nutzen werde. Soweit das erstrebte Endergebnis noch unwahrscheinlich sei, werde es einem Zwischenritt regelmäßig an der Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung fehlen. Auch die herrschende Auffassung in Literatur und Rechtsprechung fordert mit überzeugenden Argumenten ein relevanten Wahrscheinlichkeitsgrad: EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – RS C-19/11, ZIP 2012, 1282 (1286 Tz. 55): „Sie müssen somit nicht nur (…) in Betracht ziehen, sondern auch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieses Ereignisses. Anhand solcher Erwägungen lässt sich jedoch ermitteln, ob eine Information geeignet ist, den Kurs … spürbar zu beeinflussen.“ und BGH, Urt. v. 23.4.2013 – II ZB 7/09, NZG 2013, 708 (711 Tz. 25): „Da danach bei der Kursrelevanz generell davon auszugehen ist, dass ein Anleger den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts des zukünftigen Ereignisses in Betracht zieht, muss dies auch gelten, wenn eine präzise Information über einen eingetretenen Umstand vorliegt, der auf ein künftiges Ereignis hinweist, und der Anleger insoweit den möglichen künftigen Verlauf abschätzen muss.“; in diesem Sinne auch die kapitalmarktrechtliche Literatur, die zwar keine Mindestwahrscheinlichkeit des Endereignisses im Sinne eines bestimmten bezifferbaren Wahrscheinlichkeitsgrads verlangt, aber davon ausgeht, dass ein verständiger (nicht: spekulativer) Anleger eine Information über einen Zwischenschritt bei seiner Anlageentscheidung regelmäßig vernachlässigen wird, wenn sich der Sachverhalt noch in einem so frühen Stadium befindet, dass lediglich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Endereignisses besteht (vgl. hierzu Bingel, AG 2012, 685 (691, 694); KK-WpHG/ Klöhn, § 13 Rz. 321; ders., ZIP 2012, 1885 (1891); Ihrig, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2012, 2013, S. 122 f.; Hitzer, NZG 2012, 860 (862); Herfs, DB 2013, 1650, 1653; Habersack/ Mülbert/Schlitt/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, § 38 Rz. 22 f.).

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B. Private M&A

wie z. B. der Kaufpreis) aus Sicht eines verständigen, aber auch von spekulativen Motiven beeinflussten Anlegers (zumindest mit-)entscheidend für die Frage sein wird, ob und wenn ja in welche Richtung sich der Kurs des betroffenen Finanzinstruments auch bei Zwischenschritten bewegen könnte, muss der Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses dann bei den weiteren Merkmalen der präzisen Information80) und dem Kursbeeinflussungspotential wesentliche Bedeutung zukommen. b)

Aktienrecht

Gemäß § 20 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 AktG hat der Veräußerer der Zielgesell- 50 schaft unverzüglich schriftlich mitzuteilen, sobald seine Beteiligung ein Viertel der Aktien der Zielgesellschaft unterschreitet. Sobald dem Veräußerer keine Mehrheitsbeteiligung i. S. v. § 16 Abs. 1 AktG mehr gehört, hat er auch dies der Zielgesellschaft gemäß § 20 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 AktG AktG unverzüglich schriftlich mitzuteilen. Bei der Berechnung der Beteiligungsquote werden gemäß § 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 16 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 AktG die Beteiligungen von Tochterunternehmen umfassend zugerechnet.81) Während sich die Mitteilungspflicht des § 20 AktG lediglich auf Zielgesell- 51 schaften mit der Rechtsform einer AG, KGaA oder SE bezieht, existiert mit § 21 AktG eine Parallelvorschrift, die auch für alle Kapitalgesellschaften (AG, GmbH, KGaA, SE) mit Sitz im Inland gilt, sofern der Erwerber selbst eine AG, KGaA oder SE ist.82) II.

Zielgesellschaft

Erfolgt ein Unternehmenskauf im Wege eines Share Deals, ist neben den Par- 52 teien des Kaufvertrags auch die Zielgesellschaft Teil der Transaktion. Die Rolle der Zielgesellschaft wird dadurch charakterisiert, dass sie nicht Partei, sondern der Kaufgegenstand der Unternehmenstransaktion ist. Insbesondere das Verhalten des Vorstands der Zielgesellschaft im Rahmen der Buyer Due Diligence und eine Übernahme von Transaktionskosten durch die Zielgesellschaft werfen rechtliche Fragen auf. 1.

Due Diligence

Die Durchführung einer Buyer Due Diligence ist häufig notwendige Bedin- 53 gung für einen Unternehmenskauf. Vor diesem Hintergrund ist der Veräußerer ___________ 80) BaFin, Emittentenleitfaden, 5. Aufl., Stand: 25.3.2020, Modul C., Ziff. I.2.12 S. 10 stellt darauf ab, dass die Informationen spezifisch genug sein müssen, „um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung auf die Kurse der betroffenen Finanzinstrumente zuzulassen“. 81) BeckOGK-AktG/Petersen, § 20 Rz. 41; Emmerich/Habersack/Emmerich, § 16 Rz. 16a; OLG Stuttgart, Beschl. v. 1.12.2008 – 20 W 12/08, AG 2009, 204 (206); Fatemi, DB 2013, 2195 (2196); BeckOGK-AktG/Schall, § 16 Rz. 26. 82) MünchKommAktG/Bayer, § 20 Rz. 3; Hölters/Weber/Krebs, § 20 Rz. 1 f.; Grigoleit/ Rachlitz, § 20 Rz. 2; Leitzen, MittBayNot 2012, 183.

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

darauf bedacht, dem Erwerber eine solche zu ermöglichen. Als Gesellschafter der Zielgesellschaft ist er allerdings wie oben dargelegt in der Informationsbeschaffung beschränkt und daher auf die Kooperation der Geschäftsleitung der Zielgesellschaft angewiesen. Für diese stellt sich daher die Frage, in welchem Ausmaß sie im Rahmen der Buyer Due Diligence kooperieren darf bzw. muss. a)

Gestattung der Buyer Due Diligence

54 Die Entscheidung, ob die Geschäftsleitung der Zielgesellschaft einer Due Diligence durch den Erwerber zustimmen kann, liegt grundsätzlich in ihrem unternehmerischen Ermessen.83) Der Gestattung stehen jedoch die gesellschaftsrechtliche Verschwiegenheitspflicht des Vorstands aus § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG, sowie unter Umständen weitere datenschutzrechtliche, arbeitsrechtliche und wettbewerbsrechtliche Geheimhaltungspflichten entgegen.84) Einzelne Stimmen in der Literatur leiten aus der Verschwiegenheitspflicht des Vorstands den grundsätzlichen Ausschluss einer Due Diligence ab.85) Die Verschwiegenheitspflicht aus § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG ist jedoch bloßer Ausfluss der organschaftlichen Treuepflicht und besteht folglich nicht absolut, sondern ist im Lichte des Gesellschaftsinteresses zu bewerten.86) Der Vorstand hat sich bei seiner Entscheidung zur Gestattung der Due Diligence insbesondere am Interesse der Zielgesellschaft an einem Eigentümerwechsel zu orientieren. Die Entscheidung hängt dabei ganz maßgeblich von strategischen Erwägungen, wie etwa der Integrierbarkeit in den Konzern des Erwerbers und damit verbundenen Rationalisierungs- und Synergieeffekten, der Risiken des Eigentümerwechsels, einer möglichen Konkurrentenstellung des Erwerbers oder kartellrechtlichen Bedenken ab.87) 55 Kommt die Geschäftsleitung der Zielgesellschaft zu dem Schluss, dass ein Eigentümerwechsel oder bereits die Offenlegung von Informationen im Rahmen einer Due Diligence abträglich für deren Interessen sind, darf sie der Durchführung einer Buyer Due Diligence nicht zustimmen. In diesem Fall bleibt dem Veräußerer nur die Option, die Gestattung anzuweisen (sofern und soweit konzernrechtlich möglich). In Ausnahmefällen, wie z. B. einer existenzbedrohenden Situation, ist der Vorstand gezwungen, eine Due Diligence durch den Veräußerer zuzulassen.88) ___________ 83) Beisel/Klumpp/Beisel, § 2 Rz. 24; Hölters/Hölters/Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 11.26; Knott/Becker/Voß, Rz. 117. 84) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 164; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/ Funk, Rz. 789. 85) Ziemons, AG 1999, 492 (495); Lutter, ZIP 1997, 613 (617). 86) Koch AktG § 93 Rz. 62; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (278); Banerja, ZIP 2003, 1730 (1730). 87) Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (372); Beck’sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 97. 88) Koch, § 93 Rz. 67; Körber, NZG 2002, 263 (270).

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B. Private M&A

Wie oben bereits ausgeführt, hat die Geschäftsleitung jedoch stets dafür Sorge 56 zu tragen, dass im Zuge einer Due Diligence weitergegebenen Informationen vertraulich bleiben (z. B. durch Vertraulichkeitsvereinbarungen und gestufte Informationsweitergabe, Æ Rz. 20). Der aktienrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 53a AktG erfordert 57 nicht, dass der Vorstand einer Ziel-Aktiengesellschaft im Rahmen einer Due Diligence zugänglich gemachte Informationen allen Aktionären gewähren muss.89) Das aktienrechtliche Gleichbehandlungsgebot gewährt eine Gleichbehandlung nur bei Vorliegen gleicher Voraussetzungen. Da ein potentieller Erwerber der Gesellschaft in einer anderen Rolle als ein nicht an einem Kauf interessierter Aktionär gegenübertritt, kann eine Informationsweitergabe nur an ihn gerechtfertigt sein. Eine Auskunft an einen Aktionär begründet mithin nur die Verpflichtung des Vorstandes, anderen Aktionären gegenüber eine Informationserteilung am gleichen Prüfungsmaßstab zu messen.90) b)

Durchführen einer eigenen Due Diligence

Auch aus Sicht der Zielgesellschaft kann es sinnvoll sein und im Unterneh- 58 mensinteresse liegen, zur Beurteilung von Risiken und Chancen eine (auf einzelne Bereiche fokussierte) eigene Due Diligence durchzuführen. Ein besonderes Augenmerk sollte bei der Prüfung daraufgelegt werden, ob wichtige Vereinbarungen mit Dritten sog. Change of Control-Klauseln enthalten, die den Dritten im Falle eines Eigentümerwechsels zur Kündigung berechtigen oder sonstige Rechte für diesen Fall gewähren.91) 2.

Übernahme von Transaktionskosten

Veräußerer und Erwerber sind oft versucht, der Zielgesellschaft zumindest einen 59 Teil der Transaktionskosten aufzubürden. Soll die Zielgesellschaft Transaktionskosten übernehmen, sind das Verbot der Einlagenrückgewähr aus § 57 Abs. 1 AktG, welches auch bei Leistungen gegenüber dem Erwerbsinteressenten als zukünftigem Aktionär greift,92) sowie das Verbot der finanziellen Unterstützung beim Aktienerwerb aus § 71a Abs. 1 Satz 1 AktG zu beachten. Denkbar ist eine Übernahme von Transaktionskosten durch die Zielgesellschaft 60 nur in Fällen, in denen die Zielgesellschaft ein eigenes (betriebliches) Interesse

___________ 89) 90) 91) 92)

Mertens, AG 1997, 541 (547); Meincke, WM 1998, 749 (751). Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 165; Körber, NZG 2002, 263 (266). Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 102. BGH, Urt. v. 13.11.2007 – XI ZR 294/07, AG 2008, 120 (121); MünchKommAktG/ Bayer, § 57 Rz. 113; Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 179; Fleischer, AG 2009, 345 (351).

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

am Eigentümerwechsel hat.93) Darüber hinaus hat der BGH in seiner Deutsche Telekom III-Rechtsprechung ausgeführt, dass eine Übernahme von Transaktionskosten nur gegen eine Gegenleistung des begünstigten Aktionärs und nur dann, wenn diese Gegenleistung des Aktionärs in Form einer konkreten, bilanziell messbaren Leistung besteht, zulässig ist.94) Von der Übernahme von Transaktionskosten verspricht sich die Zielgesellschaft meist jedoch insbesondere bilanziell nicht messbare strategische Vorteile, wie etwa die Eröffnung neuer Vertriebsmöglichkeiten oder die Übertragung von Know-how.95) Eine Übernahme von Transaktionskosten wäre somit grundsätzlich ausgeschlossen. Eine solche enge Betrachtungsweise überzeugt im Bereich von Unternehmenskäufen jedoch nicht, allein schon deshalb, weil der BGH auch bei der Bestimmung der an den Aktionär fließenden Leistung nicht auf die bilanzielle Messbarkeit abstellt.96) III.

Erwerberseite

1.

Entscheidungsfindung

61 Die Entscheidung zum Erwerb eines Unternehmens(-teils) ist in der Regel noch stärker von Unsicherheit gekennzeichnet als die Entscheidung zum Unternehmensverkauf. Auch der Erwerbsprozess ist durch Wertungen, Prognosen und Unsicherheiten geprägt.97) Die Entscheidung auf Erwerberseite stellt (wie auch die Entscheidung auf Veräußererseite) eine unternehmerische Entscheidung dar, bei der sich der Erwerber bei Vorliegen der Voraussetzungen auf den Schutz der Business Judgement Rule verlassen kann.98) a)

Beraterauswahl

62 Eine komplexe Unternehmenstransaktion wird auch auf Erwerberseite in aller Regel externen Rat erfordern.99) Die Hinzuziehung ist dabei auf Erwerberseite im selben Maße zulässig und geboten wie auf Veräußererseite (Æ Rz. 12 ff.). Teilweise mandatiert der Aufsichtsrat (zu einzelnen Themenkomplexen) eigene Berater; eine Pflicht hierzu kann sich jedoch nicht aus der ISION-Recht___________ 93) Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (302); Sieger/Hasselbach, BB 2000, 625 (628); a. A. die Übernahme von Transaktionskosten gänzlich ablehnend: Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 180. 94) BGH, Urt. v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 (12 ff.) = ZIP 2011, 1306. 95) Sigle/Zinger, NZG 2003, 301 (304 f.). 96) Nodoushani, ZIP 2012, 97 (103 f.); Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 105. 97) Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (276); Fuhrmann/Heinen/Schilz, NZG 2020, 1368 (1370). 98) Hölters/Weber/Hölters/Hölters, § 93 Rz. 161; Böttcher, NZG 2007, 481 (482); Nauheim/ Goette, DStR 2013, 2520 (2520 ff.); siehe auch Verweise in Fußnote 1 oben. 99) Vgl. Ek/von Hoyenberg, S. 9 ff.; Hölters/Rempp, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 1.117 ff.; Gran, NJW 1409 (1409); ausführlich: Beck’sches M&A-Hdb/Schiessl, § 2 Rz. 1 ff.) Hopt/ Kumpan, ZGR 2017, 765 (770).

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Illert/Weiß

B. Private M&A

sprechung ergeben, sondern allenfalls in Ausnahmesituationen zur Plausibilisierung und eigenen Beurteilung der Handlungen des Vorstandes sinnvoll sein.100) b)

Due Diligence

Eine Hauptvoraussetzung der Anwendbarkeit der Business Judgement Rule ist, 63 dass unternehmerische Entscheidungen auf Grundlage einer angemessenen Informationsgrundlage getroffen werden. Somit stellt sich für die Geschäftsleitung eines Erwerbsinteressenten die Frage, aus welchen Quellen sie Informationen zur Zielgesellschaft gewinnen kann. Der Vorstand des Erwerbers kann sich dabei öffentlich zugänglicher Quellen bedienen wie etwa dem Unternehmensregister. Die so gewonnenen Erkenntnisse können jedoch nicht ausreichend sein (und werden dies bei nicht-börsennotierten Zielgesellschaften in der Regel auch nicht sein), um eine fundierte Investitionsentscheidung treffen zu können.101) Um sich ein umfassendes Bild über die Zielgesellschaft bilden zu können, ist der 64 Erwerber daher häufig auf die Durchführung einer Due Diligence angewiesen.102) Aus diesem Anlass ist die Durchführung einer Prüfung der Zielgesellschaft zwar gesetzlich nicht zwingend, jedoch Marktstandard und ihr Unterlassen wird von Stimmen in der Literatur als evidente, haftungsauslösende Pflichtverletzung der Organe der Käufergesellschaft angesehen.103) Dies mag in vielen Fällen, jedoch nach hier vertretener Auffassung nicht in dieser Pauschalität, zutreffend sein. Sollte die Zielgesellschaft eine Due Diligence gänzlich ablehnen, kann der Vor- 65 stand ggfs. sogar von der Unternehmenstransaktion insgesamt absehen müssen.104) In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, dass die Entscheidung zur Durchführung einer Due Diligence, oder das Absehen von einer solchen, bereits an sich eine unternehmerische Entscheidung ist und somit im Ermessen des Vorstands des Erwerbers steht.105) Mithin ist eine Unternehmenstransaktion auch ausnahmsweise ohne eine Due Diligence zulässigerweise möglich. Ent___________ 100) Zur Mandatierung von Beratern durch den Aufsichtsrat siehe auch Semler/v. Schenck/ v. Schenck, § 116 AktG Rz. 96; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 159; Seibt/Bulgrin, AG 2018, 471 (419 f.). 101) Körber, NZG 2002, 263; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 789. 102) Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (276 f.); Böttcher, NZG 2007, 481 (482 ff.); Heer, GWR 2018, 125 (126). Zur Due Diligence siehe auch Beisel/Klumpp/Beisel, § 2; Hölters/Hölters/ Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 11.11 ff.; Knott/Becker/Voß, Rz. 42 ff.; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 699 ff.; beispielhafte Due Diligence Request Lists finden sich bei Beck’sches M&A-Hdb/Meurer, § 10 Rz. 7 und Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions/Seibt, Teil B. VI.3 ff. 103) OLG Oldenburg, Urt. v. 22.6.2006 – 1 U 34/03, NZG 2007, 434 (436); Holzapfel/ Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Greitemann/Funk, Rz. 743; Cannivé, ZIP 2009, 254 (255); Kiethe, NZG 1999, 976 (983); Böttcher, NZG 2005, 49 (54); Werner, ZIP 2000, 989 (996). 104) Großkomm-AktG/Kort, § 76 Rz. 162; Goette, DStR 2014, 1776 (1777 f.). 105) MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 119; Fleischer, NJW 2009, 2337, (2338); Liese/ Theusinger, BB 2007, 71, (72).

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

scheidend sind die Umstände der Transaktion.106) Die wirtschaftlichen Chancen des Unternehmenskaufs müssen die Risiken überwiegen. In Betracht kommt hier z. B., dass der Zeitrahmen keine (vollständige) Unternehmensprüfung zulässt, etwa weil ein konkurrierender Bieter Interesse hat, die Gelegenheit zum Erwerb jedoch eine überragende wirtschaftliche Gelegenheit oder gar die einzige Chance zum wirtschaftlichen Überleben des Erwerbers darstellt.107) Teil der Risikoanalyse sollte insbesondere aber auch die Berücksichtigung von möglichen Bußgeldern im Anschluss an die Unternehmensübernahme sein, die im Bereich der Datenschutzgrundverordnung zuletzt an Bedeutung gewonnen haben.108) Zu berücksichtigen sind auch ESG-Aspekte, deren Einbeziehung im Unternehmen auch bei Investoren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Diesbezüglich kann sich die Durchführung einer ESG-Due-Diligence, die die Analyse und Bewertung nachhaltigkeitsbezogener Risiken in den Fokus stellt, anbieten.109) Einheitliche Standards für die Durchführung einer ESG-Due-Diligence und die Abbildung der ESG-Risiken haben sich allerdings noch nicht herausgebildet, sodass ein auf den Einzelfall zugeschnittener, risikoadäquater Ansatz erforderlich ist.110) c)

Feasibility

66 Auch den Erwerber trifft die Pflicht, sich ein Bild von der rechtlichen Durchführbarkeit der Transaktion und etwaigen Risiken (insbesondere regulatorische ___________ 106) Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 212; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (276 f.); Böttcher, NZG 2007, 481 (484). 107) Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 46; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274 (276 f.); Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 212. 108) Etwa im Fall der Übernahme der Starwood Hotelgruppe durch Marriott kündigte die UK Information Commissioner (die Datenschutzbeauftragte des Vereinigten Königreichs) 2019 ein Rekordbußgeld in Höhe von 99 Mio. Pfund an, obgleich der gerügte Datenschutzverstoß im Jahr 2014 und damit mehrere Jahre vor der Übernahme stattfand. Die UK Information Commissioner erklärte hierzu, Marriott Hotels solle als Erwerber zur Verantwortung gezogen werden, da sie einen „ordentlichen Due Diligence Prozess hätten durchführen müssen“. Das Bußgeld wurde letztlich auf 18,4 Mio. Pfund beschränkt, doch der Fall zeigt, dass die Durchführung eines ordentlichen Due Diligence-Prozesses Haftungsrisiken zumindest reduzieren kann. Vgl. hierzu auch Keßler, CCZ 2020, 158 f. Nach dem Urteil des EuGH vom 16.7.2020 in der Rechtssache C-311/18 („Schrems II“) sind Verantwortliche im Sinne des Datenschutzrechts dazu verpflichtet, bei einer Übermittlung personenbezogener Daten in EU-Drittländer, insb. in die USA, mit zusätzlichen Maßnahmen sicherzustellen, dass die übermittelten Daten im jeweiligen Drittland einen angemessenen Schutz erfahren. Das bisher angewendete Privacy Shield erklärte der EuGH für unwirksam. Eine Zusammenstellung der Kernaussaugen des Schrems II-Urteils ist auf der Website des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit abrufbar (https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/EU_UN/KernaussagenSchrems-II.pdf?__blob=publicationFile&v=4; letzter Abruf: 22.11.2022). Zu den datenschutzrechtlichen Risiken, die die bei der Due Diligence bereitgestellten personenbezogenen Daten bergen, siehe Reichling/Corsten/Borgel, BB 2021, 1545 (1548 f.). 109) Borcherding/Schwertschlag, WPg 2021, 252 (253 f.); Bünning, BB 2021, 235 (236 ff.). 110) Borcherding/Schwertschlag, WPg 2021, 252 (253 f.); Bünning, BB 2021, 235 (239).

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B. Private M&A

Freigabeerfordernisse) in diesem Zusammenhang zu machen (zu den vergleichbaren Anforderungen auf Seiten des Veräußerers Æ Rz. 24). 2.

Kaufvertrag

Der Vorstand des Erwerbers ist verpflichtet, zum Wohle des Unternehmens einen 67 den Umständen des Einzelfalls angemessenen Kaufvertrag zu verhandeln.111) a)

Kaufpreis

Im Prinzip gelten für den Erwerber vergleichbare rechtliche Maßstäbe für die 68 Bestimmung des Kaufpreises wie für den Verkäufer, so dass stets die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind (hierzu Æ Rz. 27).112) Der Erwerber muss und darf bei der Kaufpreisbestimmung berücksichtigen, dass das Zielunternehmen aus strategischen, wirtschaftlichen (z. B. Hebung von Synergien) oder wettbewerblichen Gründen für ihn besonders wertvoll sein kann, so dass ein über den üblichen Bewertungsmethoden liegender Kaufpreis gerechtfertigt sein kann.113) Durch eine gutachterliche Stellungnahme eines externen Dritten, wie z. B. 69 einer Investmentbank, kann die Entscheidung über den Kaufpreis abgesichert und überprüft werden (hierzu Æ Rz. 28). b)

Vertragsbedingungen

Bei den konkret auszuhandelnden Vertragsbedingungen ist eine Gesamtwürdi- 70 gung aller relevanten Umstände des Unternehmenskaufs vorzunehmen. Die im Rahmen der Vorbereitungen geschaffene Informationsgrundlage ist bei der konkreten Verhandlung des Vertrages zu berücksichtigen. Durch die Vereinbarung von Gewährleistungen oder Freistellungen können Ri- 71 siken auf Erwerberseite verringert werden.114) Je weniger aussagekräftige Informationen in Bezug auf das Zielunternehmen gewonnen werden konnten, desto umfangreicher sollten Gewährleistungen und Freistellungen vereinbart werden. Im Vorfeld der Transaktion unerkannt gebliebene Risiken können so, zumindest teilweise, auf den Verkäufer verlagert werden.115) Gewährleistungen ___________ 111) Zu den Anforderungen an den Kaufvertrag allgemein siehe Beisel/Klumpp/Beisel, § 4 Rz. 1 ff.; Beck’sches M&A-Hdb/Meyer-Sparenberg, § 43; Hölters/Weber/Schulz, Handbuch Unternehmenskauf, Kapitel 9; Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions/Seibt, Teil C. 112) Beck‘sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 52 f.; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/ Bergjan, Rz. 806 ff. 113) Beisel/Klumpp/Schindler, § 3 Rz. 3; Hölters/Lenckner/Müller, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 3.15; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Bergjan, Rz. 806. 114) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Engelhardt, Rz. 967; Knott/Becker/Voß, Rz. 93; Heer, GWR 2018, 125 (127); Schudlo/Kersten, BB 2021, 1154 (1155). 115) Beck’sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 58.

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

oder Kaufpreisanpassungsklauseln können überdies die dem Erwerb zugrunde gelegte Bewertung des Unternehmens absichern.116) Durch ein Rücktrittsrecht in Gestalt einer „Material Adverse Change-Klausel“ lässt sich das Risiko einer wesentlichen wirtschaftlichen Verschlechterung des Zielunternehmens auffangen.117) Über Vollzugsbedingungen, meist in Verbindung mit Regelungen, wie die Risiken aus diesen Verfahren auf Käufer und Verkäufer verteilt werden, kann sich der Käufer gegen Vollzugsverbote oder anderweitige Vollzugshindernisse absichern.118) Um eine Haftungslücke zu vermeiden, kann sich der ergänzende Abschluss einer W&I-Versicherung, deren Schutz nahtlos an die im Kaufvertrag zu Gunsten der Verkäuferseite vereinbarten Haftungsbeschränkungen angepasst werden sollte, für den Erwerber als vorteilhaft erweisen.119)) 3.

Aufsichtsrat

72 Für den Aufsichtsrat gelten auch auf Erwerberseite im Grundsatz dieselben Grundsätze wie für den Aufsichtsrat des Veräußerers (Æ Rz. 32 ff.). Die Entscheidung zum Unternehmenskauf obliegt als unternehmerische Entscheidung grundsätzlich dem Vorstand. In Betracht kommt auch hier, dass der Aufsichtsrat bei einem entsprechenden Vorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG einer Unternehmenstransaktion zustimmen muss oder der Aufsichtsrat die Transaktion im Einzelfall unter einen Zustimmungsvorbehalt stellt. 4.

Hauptversammlung

73 Auch auf der Erwerberseite gibt es grundsätzlich keine geschriebene Hauptversammlungskompetenz, so dass grundsätzlich auch hier nur durch ein Verlangen des Vorstands nach § 119 Abs. 2 AktG eine Entscheidungsbefugnis der Hauptversammlung über eine M&A Transaktion oder durch eine ungeschriebene Kompetenz nach den Grundsätzen der Holzmüller/Gelatine-Rechtsprechung120) des BGH begründet werden kann. Wie auf der Verkäuferseite ist auch auf der Erwerberseite im Ergebnis davon auszugehen, dass der Erwerb einer Unternehmensbeteiligung eine autonome Geschäftsführungsentscheidung des Vorstands darstellt, die keiner ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenz unterliegt, sofern die Satzung der betreffenden Gesellschaft den Erwerb von Unternehmensbeteiligungen gestattet, da mit dem Erwerb einer Unternehmens___________ 116) Werner, DStR 2012, 1662 (1663); Bauer, VGR Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2014, 2015, S. 195 (209 f.). 117) Holzapfel/Pöllath/Bergjan/Engelhardt/Engelhardt, Rz. 964; ausführlich zur MAC-Klausel Kuntz, DStR 2009, 377 ff.; Lange, NZG 2005, 454 ff. 118) Beck’sches M&A-Hdb/Meyer-Sparenberg, § 46 Rz. 4 ff.; Holzapfel/Pöllath/Bergjan/ Engelhardt/Engelhardt/Farkas, Rz. 1199 ff.; Knott/Matzen, Rz. 83 ff. 119) Heer, GWR 2018, 125 (128 ff.). 120) BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568; BGH, Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = ZIP 2004, 993.

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B. Private M&A

beteiligung ein Mediatisierungs- oder Verwässerungseffekt nicht verbunden ist.121) Vielmehr kommt durch den Erwerb einer Unternehmensbeteiligung neue Unternehmenstätigkeit hinzu, auf die das erwerbende Unternehmen durch sein Leitungsorgan Einfluss im Sinne einer unternehmerischen Führung dieser Aktivitäten nehmen kann. Es kommt somit nach hier vertretener Auffassung nicht darauf an, welche Kriterien entscheidend dafür sind, ob der Abschluss einer M&A Transaktion eine „wesentliche“ Geschäftsführungsmaßnahme im Sinne der Holzmüller/Gelatine-Grundsätze darstellt, insbesondere welche Relevanz dem Kaufpreis zukommt.122) 5.

Publizitätspflichten

a)

Ad-hoc Publizität

Auch für den Erwerber kann eine Private M&A-Transaktion zu Ad-hoc Publi- 74 zitätspflichten nach der MAR führen (hierzu Æ Rz. 46 ff. und § 10 Rz. 7 ff.). b)

Aktienrecht

Für den Erwerber sind bei einer Private M&A-Transaktion die Beteiligungs- 75 meldepflichten der §§ 20, 21 AktG von Bedeutung (hierzu Æ Rz. 50 f.). ___________ 121) In diesem Sinne: OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, AG 2011, 173 f., Rz. 64 f.; siehe bereits OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 21.6.2007 – 5 U 34/07, AG 2008, 862 (864). Siehe auch OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 15.2.2005 – 20 W 1/05, AG 2005, 442 (444); in diesem Sinne im Ergebnis auch bei Vorliegen einer Konzernöffnungsklausel: MünchKommAktG/Kubis, § 119 Rz. 71; Marsch-Barner/Schäfer/Marsch-Barner/von der Linden, § 33 Rz. 44; MünchHdb. GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 10; Beisel/Klumpp/Beisel, § 8 Rz. 82; MünchHdb. GesR IV/Bungert, § 35 Rz. 68; Hölters/Weber/Drinhausen, § 119 Rz. 21; Hölters/Weber/Hölters/ Hölters, § 93 Rz. 203; Heidel/Krenek/Pluta, § 119 Rz. 49; Beck’sches Hdb. der AG/Reichert, § 5 Rz. 32; Decher, in: Festschrift Schneider, S. 261 (267 ff., 273); Nikoleyczik/Gubitz, NZG 2011, 91 (93); offengelassen: vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2012 – II ZR 253/10, AG 2012, 248 = ZIP 2012, 515– Dresdner Bank/Commerzbank; a. A. (bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen nach den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen): LG Frankfurt/M., Urt. v. 15.12.2009 – 3-5 O 208/09, AG 2010, 416 (417) = ZIP 2010, 429 – Dresdner Bank/ Commerzbank; LG Stuttgart, Urt. v. 8.11.1991 – 2 KfH O 135/91, AG 1992, 236 (237) (obiter dictum); LG Duisburg, Urt. v. 27.6.2002 – 21 O 106/02, AG 2003, 390 (391) (obiter dictum); Emmerich/Habersack/Habersack, Vor § 311 Rz. 42; Grigoleit/Herrler, § 119 Rz. 28; BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 119 Rz. 38 f.; Koch, § 119 Rz. 21; Schmidt/Lutter/Spindler, § 119 Rz. 34; Goj, Ungeschriebenes Hauptversammlungserfordernis beim Beteiligungserwerb?, 2017, S. 120 ff.; Hüffer, WuB (April 2011) II A. § 119 AktG 1.11; A. Wilhelm, WuB (Juni 2012) II A. § 120 AktG 1.12; Wilsing/Goslar, EWiR 2010, 201 (202); Hofmeister, NZG 2008, 47 (50 f.); Lutter, ZIP 2012, 351; Priester, AG 2011, 654 (658); Lorenz/Pospiech, DB 2010, 1925 (1928); Zientek, Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen bei Unternehmensakquisitionen einer Aktiengesellschaft, 2016, S. 270 ff. 122) Vgl. zu verschiedenen Ansätzen nur: OLG Frankfurt/M., Urt. v. 7.12.2010 – 5 U 29/10, AG 2011, 173 (174) Rz. 73 – Dresdner Bank/Commerzbank; Nikoleyczik/Gubitz, NZG 2011, 91 (93); MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 11; Wilsing/Goslar, EWiR 2010, 201 (202); Priester, AG 2011, 654 (661); Großkomm-AktG/Mülbert, § 119 Rz. 68 ff.; Zientek, Ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen bei Unternehmensakquisitionen einer Aktiengesellschaft, 2016, S. 238 ff.

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901

§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

C.

Public M&A

76 In Abgrenzung zu Private M&A bezeichnet der Begriff Public M&A-Transaktionen, bei denen die Wertpapiere der Zielgesellschaft zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind (vgl. § 1 Abs. 1 WpÜG). Ein Erwerb dieser Wertpapiere unterfällt dann dem Anwendungsbereich des Wertpapiererwerbsund Übernahmegesetzes („WpÜG“). Dieses sieht zum Schutz der Aktionäre strenge Regeln für die Abgabe und Durchführung von auf den Erwerb von an einem organisierten Markt zugelassenen Aktien vor (öffentliche Angebote). Die im WpÜG angeordneten Schutzmaßnahmen führen in vielerlei Hinsicht zu Besonderheiten gegenüber Private M&A-Transaktionen, die bei der Planung und Durchführung zu beachten sind. Während das WpÜG als Gegenleistung neben einer Leistung in Geld auch grundsätzlich liquide, an einem organisierten Markt zum Handel zugelassene Aktien als Gegenleistung zulässt, sind als Kaufgegenstand einer öffentlichen Übernahme nur die Aktien der Zielgesellschaft vorgesehen. Mithin kennt das WpÜG nur den Share Deal. Grundlegende Unterschiede ergeben sich zudem zwischen einem auf den Kontrollerwerb gerichteten freiwilligen Übernahmeangebot (Überschreiten der 30 %-Schwelle, vgl. §§ 29, 34, 10 WpÜG), einem aufgrund des Überschreitens der Kontrollschwelle abzugebenden Pflichtangebot (vgl. § 35 WpÜG) und einem auf Zuerwerb von Aktien unterhalb bzw. oberhalb der Kontrollschwelle erfolgenden einfachen Erwerbsangebots (vgl. § 10 WpÜG). Neben den im WpÜG geregelten Angebotsarten ist noch das in § 39 BörsenG angeordnete Delistingangebot zu erwähnen.123) Aufgrund des Verweises in das WpÜG folgt das Delistingangebot im Wesentlichen den für das Übernahmeangebot geltenden Regeln, wobei die Gegenleistung in bar erfolgen muss und das Angebot nicht von Bedingungen abhängig gemacht werden darf (auch nicht von regulatorischen Freigaben). I.

Veräußererseite

77 Während der Bereich des Private M&A durch Verkaufsverhandlungen geprägt ist und die Initiative für eine Transaktion sowohl von Verkäufer als auch Käufer ausgehen kann, geht diese im Bereich des Public M&A auf Grund der Aktionärsstruktur der Zielgesellschaft meist vom Bieter aus. Ausnahmen hiervon bilden Transaktionen, bei denen die Übernahme eines börsennotierten Unternehmens als Teil der Transaktionsstruktur vorab von beiden Seiten gewählt und in einer Vereinbarung (z. B. Business Combination Agreement, Investment Agreement) abgestimmt wird. Hierbei verständigen sich typischerweise die beteiligten Gesellschaften selbst im Vorfeld des Angebots auf den Ablauf des Angebots und die zukünftige Zusammenarbeit.124) ___________ 123) Grundlegend zu den Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat im Delistingverfahren, Wieneke/Schulz, AG 2016, 809 ff. 124) Ausführlich: Kiem, AG 2009, 301; Beisel/Klumpp/Beisel, § 1 Rz. 109 ff.

902

Illert/Weiß

C. Public M&A

Der Pflichtenkreis des Vorstandes und des Aufsichtsrats eines veräußernden 78 Paket-Aktionärs an einer börsennotierten Gesellschaft ist im Wesentlichen identisch mit dem bei einer Private M&A-Transaktion. Folgende Besonderheiten sollen hervorgehoben werden: 1.

Vertragsverhältnis mit einem Erwerber im Zusammenhang mit einem Übernahmeangebot

Um die Erfolgswahrscheinlichkeit eines öffentlichen Übernahmeangebots zu 79 erhöhen, ist der Bieter regelmäßig geneigt, sich vor Abgabe des Angebots ein Aktienpaket von einem Großaktionär zu sichern.125) Das Vertragsverhältnis zwischen einem veräußernden Paket-Aktionär und einem Erwerber wird meist als Aktienkaufvertrag (in der Praxis auch unter der englischen Bezeichnung Share Purchase Agreement, kurz SPA, bekannt)126) oder als sog. Irrevocable Undertaking ausgestaltet. Soweit die Parteien einen Aktienkaufvertrag abschließen, muss dieser nicht 80 zwingend die gleichen Bedingungen aufweisen wie das Übernahmeangebot. In diesem Fall sind jedoch die jeweiligen gesetzlichen Wechselwirkungen eingehend zu prüfen, z. B. im Hinblick auf den Mindestpreis (§ 31 WpÜG, auch in Verbindung mit der WpÜG-AngebVO), die Art der Gegenleistung (§ 31 Abs. 3 WpÜG) oder die Pflicht zur Abgabe eines Pflichtangebots (§ 35 WpÜG, insbesondere auch Abs. 3). Ferner sind die insiderrechtlichen Implikationen zu betrachten. Erhält der Erwerber z. B. im Rahmen einer Due Diligence Insiderinformationen, die er in seine Kaufentscheidung einfließen lässt, liegt dann kein Insidergeschäft gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR vor, wenn der Verkäufer ebenfalls über diese Insiderinformation verfügt; beide also den gleichen Kenntnisstand haben.127) Als Irrevocable Undertaking bezeichnet man eine Vereinbarung, in der sich der 81 Aktionär der Zielgesellschaft im Vorfeld eines Übernahmeangebots einseitig verpflichtet, das Übernahmeangebot des Erwerbers bezüglich der von ihm gehaltenen Aktien an der Zielgesellschaft anzunehmen.128) Irrevocable Undertakings können inhaltlich so ausgestaltet sein, dass sie für den veräußernden Ak___________ 125) Leyendecker-Langner/Läufer, NZG 2014, 161 (162). 126) Vgl. hierzu: Beisel/Klumpp/Beisel, § 4 Rz. 1 ff; Beck’sches M&A-Hdb/Meyer-Sparenberg, § 43; Hölters/Weber/Schulz, Handbuch Unternehmenskauf, Kapitel 9; Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions/Schrader/Seibt, Teil C., S. 207 ff. 127) Bühren, NZG 2017, 1172 (1175); Paschos/Fleischer/Kiesewetter, § 8 Rz. 127; MarschBarner/Schäfer/Drinkuth, § 62 Rz. 46. 128) Schwark/Zimmer/Noack/Holzborn, § 10 WpÜG Rz. 6; Paschos/Fleischer/Kiesewetter, § 8 Rz. 162; Holzapfel/Pöllath/Horcher, Rz. 1909; Marsch-Barner/Schäfer/Drinkuth, § 62 Rz. 74; Hasselbach, BB 2015, 1033 (1034); Leyendecker-Langner/Läufer, NZG 2014, 161 (163); Krause, AG 2011, 469 (479); Johannsen-Roth/Illert, ZIP 2006, 2157 (2158); von Riegen, ZHR 167 (2003), 702 (711).

Illert/Weiß

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

tionär unwiderruflich sind (sog. Hard Irrevocable Undertakings) oder diesem unter bestimmten Voraussetzungen (etwa bei der Veröffentlichung eines konkurrierenden Angebots mit höherer Gegenleistung) ein Lösungsrecht einräumen (sog. Soft Irrevocable Undertakings).129) Denkbar ist auch die Ausgestaltung als zweiseitige Verpflichtung, sodass der Erwerber zur Abgabe eines Übernahmeangebots verpflichtet wird.130) 82 Daneben gibt es auch noch weitere, wenn auch praktisch nicht so relevante Strukturierungsoptionen.131) Die genaue (Vertrags-)Struktur kann in der Regel nur im Einzelfall anhand einer umfassenden Abwägung der Vor- und Nachteile sowie der Ziele der beteiligten Parteien bestimmt werden.132) 2.

Publizitätspflichten

83 Ein öffentliches Angebot kann auf Veräußererseite anlassbezogene Publizitätspflichten aus dem WpHG oder der MAR mit sich bringen, bei deren Missachtung Bußgelder und der zeitweilige Verlust der Rechte aus den Aktien drohen.133) a)

Meldungen zur Beteiligung

84 Den Veräußerer eines Aktienpakets können insbesondere Meldepflichten nach §§ 33 f., 37 und 38 WpHG treffen (zu den Einzelheiten einschließlich der Rechtsfolgen im Falle einer nicht ordnungsgemäßen Meldung Æ § 10 Rz. 102 ff. und zu den aktienrechtlichen Meldepflichten nach §§ 20, 21 AktG Æ Rz. 50 f.). 85 Je nach Vereinbarung zwischen Paket-Veräußerer und Erwerber ist im Zusammenhang mit den Meldepflichten zu prüfen, ob ein sog. acting in concert gemäß § 34 Abs. 2 WpHG bzw. § 30 Abs. 2 WpÜG vorliegt.134) b)

Ad-hoc Publizität

86 Im Falle eines Paketverkaufs im Zusammenhang mit einem öffentlichen Übernahmeangebot können den Veräußerer Ad-hoc Pflichten gemäß Art. 17 MAR ___________ 129) Assmann/Pötzsch/Schneider/Seiler, WpÜG, § 39a Rz. 77; Hasselbach, BB 2015, 1033 (1034); Hasselbach/Stepper, BB 2021, 771 (772); Leyendecker-Langner/Läufer, NZG 2014, 161 (163); von Riegen, ZHR 167 (2003), 702 (712 f.). 130) Steinmeyer/Santelmann/Steinhardt, § 10 WpÜG Rz. 10; Paschos/Fleischer/Kiesewetter, § 8 Rz. 164; von Riegen, ZHR 167 (2003), 702 (712). 131) Eine Auflistung der typischen Gestaltungsformen und Instrumente findet sich bei Paschos/ Fleischer/Kieswetter, § 8 Rz. 147 ff. 132) Vgl. auch Paschos/Fleischer/Goslar/Witte, § 4 Rz. 7. 133) Zur möglichen Höhe der Bußgelder siehe auch die Leitlinien zur Festsetzung von Geldbußen im Bereich des Wertpapierhandelsgesetzes („WpHG-Bußgeldleitlinien II“) der BaFin, Stand: Januar 2018, die auf der Website der BaFin abrufbar sind. 134) Zum acting in concert siehe auch Holzapfel/Pöllath/Horcher, Rz. 1933 ff., 2039; Hölters/ Müller-Michaels, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 12.116; Knott/Tielmann/Heinemann, Rz. 786 ff.; Paschos/Fleischer/Rothenfußer, § 11 Rz. 298 ff.; Semler/Volhard/Thiel, § 53 Rz. 9.

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Illert/Weiß

C. Public M&A

treffen, sofern der Veräußerer den Pflichten der MAR unterfällt (hierzu Æ Rz. 101 und zu den Voraussetzungen des ggfs. zu berücksichtigenden Tatbestandes des Insiderhandels gemäß Art. 14 MAR Æ Rz. 102). II.

Zielgesellschaft

Die Zielgesellschaft muss in einem öffentlichen Angebots- bzw. Übernahmever- 87 fahren zusätzlich übernahme- und kapitalmarktrechtliche Pflichten beachten. 1.

Buyer Due Diligence

Besondere Bedeutung kommt bei öffentlichen Angeboten der Frage zu, ob 88 und, wenn ja, in welchem Umfang der Vorstand der Zielgesellschaft eine Due Diligence zulassen darf bzw. muss. Auch bei einem öffentlichen Angebot fällt die Entscheidung, ob einer Due Diligence durch den Erwerber zugestimmt werden kann, in das unternehmerische Ermessen des Vorstands. Anders als bei einer Private M&A-Transaktion sind auf Grund der Publizitätsanforderungen an einem organisierten Markt jedoch ohnehin umfassende Informationen über die Zielgesellschaft öffentlich bekannt. Eine Due Diligence kann daher in der Regel deutlich fokussierter erfolgen. Bei seiner Entscheidung hat der Vorstand neben den ohnehin schon bestehenden Geheimhaltungspflichten auch kapitalmarktrechtliche Geheimhaltungspflichten zu beachten. Eine etwaige Offenlegung von Insiderinformationen an den Bieter im Rah- 89 men einer Due Diligence ist nach hier vertretener Auffassung zulässig und verstößt nicht gegen das strafbewährte Verbot der unbefugten Offenlegung von Insiderinformationen nach Art. 14 lit. c) MAR (dazu Æ § 10 Rz. 46 ff.). Nach der alten Gesetzeslage gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 WpHG a. F. war es überwiegende Ansicht, dass die Offenlegung von Insiderinformationen im Rahmen einer Due Diligence bei Paketverkäufen außerhalb der Börse nicht als „unbefugt“ anzusehen war.135) In der Vorauflage ihres Emittentenleitfadens hat die BaFin auch noch ausdrücklich ausgeführt, dass keine unbefugte Weitergabe von Insiderinformationen vorliegt, wenn die Due Diligence der Absicherung einer Investitionsentscheidung bei einem Paket- oder Kontrollerwerb dient.136) Im Rahmen der Due Diligence musste sichergestellt werden, dass die Vertraulichkeit der Informationen gewahrt wurde.137) Nichts anderes kann für die Beurteilung der „Unrechtmäßigkeit“ i. S. v. Art. 14 lit. c) MAR gelten.138) An der Verwaltungspraxis der BaFin dürfte sich nichts geändert haben. Zwar wird die Zuläs___________ 135) Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, 6. Aufl., 2012, § 14 Rz. 113; Koch, § 93 Rz. 67; Assmann, ZHR 172 (2008), 635 (651); Stoffels, ZHR 165 (2001), 362 (380). 136) Emittentenleitfaden der BaFin, 4. Aufl., 2013, III.2.2.2.1, S. 41. 137) Emittentenleitfaden der BaFin, 4. Aufl., 2013, III.2.2.2.1, S. 41. 138) Vgl. MünchKommAktG/Schlitt, § 35 WpÜG Rz. 249; Beck’sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 101.

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sigkeit der Offenlegung von Insiderinformationen im Rahmen einer Due Diligence nicht mehr ausdrücklich in der 5. neu gefassten Auflage des Emittentenleitfadens erwähnt. Eine ausdrückliche Änderung der Verwaltungspraxis ging damit allerdings nicht einher. Hierfür spricht auch, dass sie die Zulässigkeit eines Paketerwerbs nach Durchführung einer Due Diligence als zulässig erachtet.139) Voraussetzung hierzu ist vorlaufend denklogisch die zulässige Durchführung der Due Diligence.140) 2.

Begründete Stellungnahme nach § 27 WpÜG

90 Nachdem eine Angebotsunterlage nach § 14 WpÜG veröffentlicht worden ist, sind Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft nach § 27 WpÜG dazu verpflichtet, eine sog. begründete Stellungnahme zur Schaffung von Markttransparenz für die Beteiligten eines Angebotsverfahrens141) abzugeben. Meist werden die Stellungnahmen von Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft als gemeinsame Stellungnahme abgegeben, was zulässig ist.142) Eine Stellungnahme der Arbeitnehmer bzw. des Betriebsrats ist der Stellungnahme von Vorstand und Aufsichtsrat beizufügen, § 27 Abs. 2 WpÜG. 91 Die begründete Stellungnahme ist unverzüglich nach Veröffentlichung der Angebotsunterlage u. a. auf der Homepage der Zielgesellschaft zu veröffentlichen (vgl. auch zu den weiteren Anforderungen §§ 27 Abs. 3, 14 Abs. 3 WpÜG), wobei in der Praxis zumindest vorsorglich von einem Gleichlauf des Beginns der Frist für Vorstand und Aufsichtsrat ausgegangen werden sollte.143) Eine Höchst- bzw. Mindestfrist hat der Gesetzgeber nicht festgelegt, so dass unverzüglich nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu bemessen ist; im Regelfall darf eine Frist von zwei Wochen nicht überschritten werden.144) Sollte es zu Angebotsänderungen kommen, ist die begründete Stellungnahme ebenfalls zu aktualisieren, § 27 Abs. 1 Satz 1 WpÜG. 92 Im Rahmen der Stellungnahme müssen die Organe gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 WpÜG insbesondere eingehen auf: die Art und Höhe der Gegenleistung (Nr. 1), die voraussichtlichen Folgen eines erfolgreichen Angebots für die Zielgesellschaft, die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen, die Beschäftigungsbedingungen und ___________ 139) 140) 141) 142)

Emittentenleitfaden der BaFin, 5. Aufl., 2020, Modul C I.4.2.5.2.2.1. Vgl. Hensel/Dörstling, DStR 2021, 170 (176). Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (851). RegBegr. zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unternehmensübernahmen, BT-Drucks. 14/7043, S. 52; Schwark/Zimmer/Noack/Holzborn, § 27 WpÜG Rz. 19. 143) Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (856). 144) Vgl. hierzu insgesamt: OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 8.12.2005 – WpÜG 1/05 (OWi), ZIP 2006, 428 ff.; Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (855).

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die Standorte der Zielgesellschaft (Nr. 2), die Ziele, die der Bieter mit dem Angebot verfolgt (Nr. 3), sowie die Absicht der Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrats, sofern sie Inhaber von Wertpapieren der Zielgesellschaft sind, das Angebot anzunehmen (Nr. 4).145) Dabei müssen alle dem Vorstand und Aufsichtsrat bekannten Informationen, welche für die Beurteilung des Angebots und dessen Rechtmäßigkeit von Belang sein könnten, in der Stellungnahme Niederschlag finden.146) Von besonderer Bedeutung sind weiter ggf. bestehende Interessenkonflikte der Organmitglieder der Zielgesellschaft.147) Die begründete Stellungnahme sollte in der Regel einen ablehnenden oder zustimmenden Charakter haben.148) Anderenfalls droht sie ihrem Informationszweck nicht ausreichend gerecht zu werden.149) Im Einzel- und begründeten Ausnahmefall kann hiervon jedoch auch abgesehen werden und eine sog. neutrale Stellungnahme abgegeben werden.150) In der Praxis ist eine Zunahme von neutralen Stellungnahmen, durchaus auch mit allgemeingehaltenen Begründungen, zu beobachten.151) Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine neutrale Stellungnahme Ausnahmecharakter aufweist und einer besonderen Begründung bedarf, die sich auf den konkreten Einzelfall beziehen muss.152) Für die Erstellung ihrer begründeten Stellungnahme(n) sind die Organe grund- 93 sätzlich nicht verpflichtet, sich externer Berater zu bedienen. Vielmehr richtet sich die Pflicht zur Hinzuziehung von externem Sachverstand nach allgemeinen Grundsätzen.153) Gleichwohl ist es gängige Praxis im öffentlichen Übernahmerecht, dass sich die Organe der Zielgesellschaft rechtlich sowie im Hinblick auf die Angemessenheit/Unangemessenheit der gebotenen Angebotsgegenleistung (meist durch eine Investmentbank) beraten lassen154) und den Opinion Letter ___________ 145) KK-WpÜG/Hirte § 27 Rz. 36; MünchKommAktG/Wackerbarth, § 27 WpÜG Rz. 12; vgl. zu materiellen Einzelfragen Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (851 ff.). 146) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch, WpÜG, § 27 Rz. 54; KK-WpÜG/Hirte, § 27 Rz. 32. 147) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch, WpÜG, § 27 Rz. 58; Angerer/Geibel/ Süßmann/Louven, WpÜG, § 27 Rz. 21. 148) Vgl. Begr RegE WpÜG, BT-Drucks. 14/7034, S. 52. 149) Hasselbach/Stepper, BB 2021, 771 (773); Land/Schmoll, NZG 2021, 185 (189). 150) Hippeli/Hofmann, NZG 2014, 850 (854); kritisch zum Ausnahmecharakter der neutralen Stellungnahme Land/Schmoll, NZG 2021, 185 ff. 151) Land/Schmoll, NZG 2021, 185 (189); Hasselbach/Stepper, BB 2021, 771 (773). 152) Drinhausen/Eckstein/Oppenhoff Beck’sches Hdb. d. AG, § 23 Rz. 93; Hasselbach/Stepper, BB 2021, 771 (773); Land/Schmoll, NZG 2021, 185 (191). 153) MünchKommAktG/Wackerbarth, § 27 WpÜG Rz. 14.; Beck’sches M&A-Hdb/Rieckers, § 26 Rz. 115. 154) Vgl. hierzu eingehend: Fleischer, in: Festschrift Hopt, S. 2753 ff.; Fleischer, ZIP 2011, 201 ff.; Decher, in: Liber Amicorum Winter, 2011, 99 ff.; Schiessl, ZGR 2003, 814 ff.; Kossmann, NZG 2011, 46 ff.

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einer solchen Fairness/Inadequacy Opinion auch ihrer begründeten Stellungnahme beifügen. 94 Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat für eine möglicherweise fehlerhafte begründete Stellungnahme richtet sich im Innenverhältnis zur Gesellschaft nach §§ 93, 116 AktG.155) Eine direkte Haftung gegenüber den Aktionären dürfte in der Regel schon mangels Anspruchsgrundlage ausscheiden.156) Ferner sieht § 60 Abs. 1 Nr. 1 b), Nr. 2 c) und Nr. 5 WpÜG bei vorsätzlichen oder leichtfertig fehlerhaften oder unvollständigen Angaben bzw. einer nicht ordnungsgemäßen Veröffentlichung/Weiterleitung Bußgelder vor. 3.

Neutralitätspflicht

95 Grundsätzlich gelten für Entscheidungen des Vorstands der Zielgesellschaft auch während eines laufenden öffentlichen Übernahmeprozesses die aktienrechtlichen Pflichten und die Business Judgement Rule. Die aktienrechtlichen Pflichten werden jedoch im Zeitraum zwischen der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe des Angebots gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 WpÜG bis zur Veröffentlichung des Ergebnisses nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG durch die Neutralitätspflicht aus § 33 WpÜG überlagert.157) In diesem Zeitraum darf der Vorstand keine Handlungen vornehmen, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte (§ 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG). Durch das Verbot soll gewährleistet werden, dass die Aktionäre ihre Entscheidung in Bezug auf das Angebot frei treffen können,158) insbesondere auch frei von Handlungen eines Vorstandes, der im Zusammenhang mit einer öffentlichen Übernahme einem potentiellen Interessenkonflikt ausgesetzt ist.159) Handlungen, die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nicht von einem Übernahmeangebot betroffen ist, vorgenommen hätte, die Suche nach einem konkurrierenden Angebot sowie Handlungen, denen der Aufsichtsrat der Zielgesellschaft zugestimmt hat, sind vom Handlungsverbot ausgenommen (§ 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG).

___________ 155) Angerer/Geibel/Süßmann/Louven, WpÜG, § 27 Rz. 52; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 121. 156) Vgl. eingehend dazu: Ebke, in: Festschrift Hommelhoff, S. 161 ff.; a. A. Angerer/Geibel/ Süßmann/Louven, WpÜG, § 27 Rz. 49 ff. 157) Auf § 33a WpÜG wird aufgrund mangelnder Relevanz für die Praxis nicht eingegangen, siehe nur Stephan, Der Konzern 2019, 473 (475). 158) MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 6; Bürgers/Körber/Lieder/Bürgers, AktG, Anhang zu § 76 AktG, § 33 WpÜG Rz. 1; Grunewald, AG 2001, 288 (289) (zum Neutralitätsgebot nach dem Referentenentwurf des WpÜG). 159) BT-Drucks. 14/7034, S. 57; Schirrmacher/Hildebrandt, AG 2021, 220 (221 ff.), MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 6 ff.; Angerer/Geibel/Süßmann/Brandi, WpÜG, § 33 Rz. 1; Semler/Volhard/Richter, § 52 Rz. 25.

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Präventive Maßnahmen im Vorfeld eines Angebots sind in den Grenzen des 96 § 93 AktG zulässig, da in diesem Zeitraum die Neutralitätspflicht des § 33 WpÜG (noch) nicht einschlägig ist.160) Ferner kann die Hauptversammlung den Vorstand vor der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots zur Vornahme von Handlungen ermächtigen, welche grundsätzlich der Zustimmung der Hauptversammlung obliegen, um den Erfolg von Übernahmeangeboten zu verhindern (sog. Vorratsermächtigung). Die praktische Bedeutung solcher Vorratsermächtigungen ist gering.161) Die Ermächtigung darf gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 WpÜG für höchstens 18 Monate erteilt werden und hat die erlaubten Handlungen der Art nach zu bestimmen. Soweit der Vorstand von einer solchen Ermächtigung Gebrauch machen möchte, benötigt er die Zustimmung des Aufsichtsrats. Beide Organe sind dabei an ihre aktienrechtlichen Pflichten aus §§ 93, 116 AktG gebunden. Der Vorstand darf darüber hinaus in den Grenzen seiner aktienrechtlichen Pflichten auch allgemeine, also nicht ausdrücklich zur Abwehr von Übernahmeangeboten erteilte, Ermächtigungen der Hauptversammlung (z. B. genehmigtes Kapital) ausnutzen, auch wenn dies Auswirkungen auf ein laufendes Übernahmeverfahren hat.162) Die Haftung für Verstöße gegen § 33 WpÜG richtet sich im Verhältnis zur 97 Gesellschaft nach § 93 AktG.163) Ferner sieht § 60 Abs. 1 Nr. 8 WpÜG bei vorsätzlichen oder leichtfertigen Verstößen Bußgelder vor. 4.

Feindliches Übernahmeangebot

Die Neutralitätspflicht gemäß § 33 WpÜG gilt in dem unter Rz. 95 f. beschrie- 98 benen Umfang auch im Rahmen von sog. feindlichen Übernahmeangeboten. Ein feindliches Übernahmeangebot liegt dann vor, wenn es gegen den Willen der Verwaltung der Zielgesellschaft (d. h. Vorstand und/oder Aufsichtsrat) abgegeben wird,164) z. B. weil der Vorstand der Auffassung ist, dass sich eine Übernahme nachteilig auf die Umsetzung der geplanten Strategie auswirken kann, dass die angebotene Gegenleistung nicht angemessen ist und/oder ein erfolgreiches Übernahmeangebot nachteilige Folgen für die Mitarbeiter hat.165) ___________ 160) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 244 f.; GroßkommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 212. 161) Vgl. hierzu: MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 208; Angerer/Geibel/Süßmann/ Brandi, WpÜG, § 33 Rz. 80; Emmerich/Habersack/Habersack, vor § 311 Rz. 21; Arbeitshdb. für die Hauptversammlung/Ott, § 37 Rz. 18; LG München I, Urt. v. 23.12.2004 – 5 HK O 15081/04, ZIP 2005, 352; dazu Drinkuth, AG 2005, 597. 162) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 281 ff.; Angerer/ Geibel/Süßmann/Brandi, WpÜG, § 33 Rz. 55. 163) KK-WpÜG/Hirte, § 33 Rz. 158; MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 248 ff. 164) Steinmeyer/Steinmeyer, WpÜG, § 33 Rz. 1; Paschos/Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 1; Fleischer/ Fleischer, § 22 Rz. 4; Semler/Volhard/Richter, § 52 Rz. 28. 165) Vgl. Paschos/Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 2.

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99 Typische Maßnahmen, die im Vorfeld eines Übernahmeverfahrens (auch) zum Schutz gegen eine potentielle Übernahme getroffen werden können, können etwa sein: schuldrechtliche Vereinbarungen mit Ankaufs- und Vorkaufsrechten zu Gunsten von Aktionären,166) Vinkulierung von Aktien gemäß § 68 AktG,167) Suchen nach einem Ankeraktionär,168) wechselseitige Beteiligungen mit einem anderen Unternehmen,169) Staffelung der Amtszeiten der Aufsichtsratsmitglieder,170) Festlegung von erhöhten Zustimmungsquoren in der Satzung,171) oder Vereinbarung von Change-of-Control Klauseln in wichtigen Verträgen, die der anderen Vertragspartei im Fall einer Übernahme bestimmte Gestaltungsrechte (z. B. Kündigungsrecht) zugestehen.172) 100 Als mögliche zulässige Maßnahmen nach der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots gemäß § 10 Abs. 1 WpÜG bis zur Veröffentlichung des Ergebnisses nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG können in Betracht kommen: die Ausgabe neuer Aktien,173) die Veräußerung wesentlicher Vermögensgegenstände (sog. Crown Jewel Defense),174) die Zahlung einer Sonderdividende175) sowie das Übernahmeangebot erläuternde Werbemaßnahmen des Vorstands gegenüber den Aktionären (z. B. im Rahmen der Stellungnahme ___________ 166) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 250; KK-WpÜG/ Hirte, § 33 Rz. 173; Paschos/Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 18; Krause, AG 2002, 133 (137). 167) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 252; Steinmeyer/ Steinmeyer, WpÜG, § 33 Rz. 79; MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 268; Angerer/Geibel/Süßmann/Brandi, WpÜG, § 33 Rz. 64; Paschos/Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 22; Semler/Volhard/Richter, § 52 Rz. 61; Krause, AG 2002, 133 (138). 168) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, § 33 WpÜG Rz. 253; KK-WpÜG/ Hirte, § 33 Rz. 181; Paschos/Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 25; Schiessl, AG 2009, 385 (386); Krause, AG 2002, 133 (138). 169) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 256; MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 281; KK-WpÜG/Hirte, § 33 Rz. 181; Paschos/ Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 36; Angerer/Geibel/Süßmann/Brandi, WpÜG, § 33 Rz. 64; Semler/Vollhard/Richter, § 52 Rz. 85 ff.; Krause, AG 2002, 133 (140). 170) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 269; MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 288; KK-WpÜG/Hirte, § 33 Rz. 177; Paschos/ Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 31 ff.; Semler/Volhard/Richter, § 52 Rz. 139 ff.; Bachmann, WM 2013, 2009, (2009); Krause, AG 2002, 133 (142). 171) MünchKommAktG/Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 286; KK-WpÜG/Hirte, § 33 Rz. 178; Paschos/ Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 50 ff. 172) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 279; Semler/Vollhard/ Richter, § 52 Rz. 79; Krause, AG 2002, 133 (143). 173) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 88; Paschos/Fleischer/ Paschos, § 24 Rz. 172 ff. 174) Steinmeyer/Steinmeyer, WpÜG, § 33 Rz. 83; Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/ Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 103 ff.; Paschos/Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 195 ff.; Semler/ Vollhard/Richter, § 52 Rz. 168 ff. 175) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 123; Paschos/ Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 207 f.

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C. Public M&A

gemäß § 27 WpÜG [Æ Rz. 90 ff.]).176) Darüber hinaus wird die Suche nach einem konkurrierenden Bieter (sog. White Knight oder, im Falle einer Minderheitsbeteiligung, White Squire) grundsätzlich als zulässig erachtet, da dieses Vorgehen sich nicht gegen eine Übernahme an sich richtet und geeignet ist, attraktivere Angebotskonditionen für die Aktionäre zu bewirken.177) 5.

Publizitätspflichten und weitere kapitalmarktrechtliche Pflichten

Bei einer öffentlichen Übernahme hat die Zielgesellschaft eigene Informations- 101 pflichten u. a. gemäß Art. 17 MAR ggfs. schon sehr früh im Verfahren zu beachten (zu den näheren Details Æ § 10 Rz. 7 ff.). Will der Erwerber etwa vor Abgabe eines öffentlichen Übernahmeangebots eine Due Diligence bei der Zielgesellschaft durchführen, ist das Vorliegen einer Insiderinformation auf Grund des gezeigten Erwerbsinteresses schon zu diesem frühen Zeitpunkt vorsorglich zu prüfen.178) Je nach den Umständen des Einzelfalls kann der Vorstand der Zielgesellschaft auch die Voraussetzungen einer Selbstbefreiung nach Art. 17 Abs. 4 MAR prüfen. Daneben werden Vorstand und Aufsichtsrat im Falle des Handelns mit Aktien 102 der Gesellschaft, z. B. in Form von Annahmen des Angebots durch Organmitglieder für von ihnen gehaltene Aktien, aber auch z. B. im Falle eines (laufenden) Aktienrückkaufprogramms, das Insiderhandelsverbot gemäß Art. 14 MAR, Handelsverbote gemäß Art. 19 Abs. 11 MAR und etwaige Meldepflichten gemäß Art. 19 MAR zu beachten haben (hierzu Æ § 10 Rz. 63 ff.). III.

Erwerberseite

Im Vergleich zu einer Private M&A-Transaktion treffen den Erwerber umfassen- 103 de zusätzliche rechtliche Pflichten in einem Übernahmeverfahren nach WpÜG: 1.

Entscheidungsfindung

Auch der Bieter eines öffentlichen Angebots muss seine Entscheidung zur Ab- 104 gabe eines Angebots auf einer angemessenen Informationsgrundlage treffen, (Æ § 2 Rz. 36 ff.). Dies kann bedeuten, dass ein Erwerber z. B. im Falle einer sog. feindlichen Über- 105 nahme allein auf öffentlich zugängliche Informationen angewiesen ist. Dies ist als Informationsgrundlage, anders als in einer Private M&A-Transaktion (hierzu Æ Rz. 63 f.), häufig aufgrund der weitreichenden Publizitätsanforderun___________ 176) Assmann/Pötzsch/Schneider/Krause/Pötzsch/Stephan, WpÜG, § 33 Rz. 121a; Paschos/ Fleischer/Paschos, § 24 Rz. 221 ff. 177) BT-Drucks. 14/7034, S. 58; Steinmeyer/Steinmeyer, WpÜG, § 33 Rz. 95; MünchKommAktG/ Schlitt, § 33 WpÜG Rz. 154 ff.; Paschos/Fleischer/Paschos, § 20 Rz. 32; Semler/Volhard/ Richter, § 52 Rz. 44, 187 ff.; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (804). 178) Emittentenleitfaden der BaFin, 5. Aufl., 2020, Modul C I.2.1.5.6; Hasselbach/Stepper BB 2020, 203 (207).

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

gen im Falle der Zulassung von Wertpapieren zum Handel an einem organisierten Markt i. S. v. § 1 Abs. 1 WpÜG ausreichend, auch vor dem Hintergrund, dass die Preisfindung in einer Public M&A-Transaktion nicht gleichermaßen verhandelbar ist, sondern vielmehr vornehmlich durch den Börsenkurs und etwaige strategische Überlegungen zu einer Prämie bestimmt werden. 106 Bei einer börsennotierten Zielgesellschaft unterliegt der Vorstand der Erwerbsgesellschaft ferner auch kapitalmarktrechtlichen Verpflichtungen. Im Zusammenhang mit der Due Diligence179) ist dabei das Verbot des Insiderhandels aus Art. 14 lit. a) Var. 1 MAR zu beachten. 107 Entscheidend für die Frage, ob ein verbotenes Insidergeschäft gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR vorliegen kann, ist dabei zum einen der Zeitpunkt, zu dem der Erwerber Kenntnis von der möglichen Insiderinformation erlangt, und zum anderen der Umgang mit der erhaltenen Information. 108 Der eigene Entschluss, ein Übernahmeangebot abzugeben, stellt oft für den Erwerber und in der Regel für die Zielgesellschaft eine Insiderinformation dar.180) Jedoch nimmt Art. 9 Abs. 5 MAR Transaktionen (z. B. Vorerwerbe), durch die eine solche Entscheidung umgesetzt wird, von der Nutzung i. S. v. Art. 8 Abs. 1 MAR aus, sodass kein verbotenes Insidergeschäft vorliegt.181) Das mögliche Übernahmeverfahren an sich hindert folglich nicht den Kauf von Aktien der Zielgesellschaft. Entscheidend ist dabei, dass die Transaktionen zur Umsetzung der Entscheidung, ein Übernahmeangebot abzugeben, getätigt werden. Den bloßen Aufbau einer Beteiligung nimmt Art. 9 Abs. 4 MAR nicht von der Nutzung einer Insiderinformation gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR aus. 109 Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass der Erwerber im Rahmen einer Due Diligence Kenntnis von einer die Zielgesellschaft betreffenden Insiderinformation erlangt. Verfolgt er seine Absicht, ein Übernahmeangebot abzugeben, unverändert weiter, kann die Ausnahme des Art. 9 Abs. 4 MAR greifen, wenn u. a. zum Zeitpunkt der Genehmigung des Unternehmenszusammenschlusses oder der Annahme des Angebotes durch die Anteilseigner des betreffenden Unternehmens sämtliche Insiderinformationen öffentlich gemacht worden sind oder auf andere Weise ihren Charakter als Insiderinformationen verloren haben.182) 110 Zusätzliche Käufe von Wertpapieren, die über den im zuvor gefassten Erwerbsplan beschlossenen Umfang hinausgehen (sog. Alongside-Käufe), sind dagegen ___________ 179) Die Durchführung einer Due Diligence ist ein typischer Fall in dieser Phase, eine Insiderinformation kann jedoch auch unabhängig von der Due Diligence bekannt werden, vgl. Klöhn/Klöhn, MAR, Art. 9 Rz. 122; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (793). 180) Marsch-Barner/Schäfer/Drinkuth, § 62 Rz. 42; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (791). 181) Erwägungsgrund 31 Satz 2 MAR; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (777); Paschos/Fleischer/ Kiesewetter, § 8 Rz. 131; Ellenberger/Bunte/Hopt/Kumpan, BankR-HdB, § 86 Rz. 93; Klöhn, AG 2016, 423 (433); Fromm-Russenschuck/Banerjea, BB 2004, 2425 (2427). 182) Klöhn/Klöhn, MAR, Art. 9 Rz. 121; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (785).

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C. Public M&A

nicht von der Ausnahme des Art. 9 Abs. 4 MAR gedeckt.183) Dementsprechend ist es in der Praxis wichtig, seinen Erwerbsplan früh zu fassen und genau zu dokumentieren.184) Auch eine Änderung des ursprünglichen Erwerbsplans gefolgt von einem entsprechend angepassten Erwerbsverhalten kann ein Nutzen einer Insiderinformation und mithin ein verbotenes Insidergeschäft gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR darstellen.185) Ebenso liegt ein verbotenes Insidergeschäft gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR vor, sofern der Erwerber seinen Erwerbsplan nach Erhalt einer Insiderinformation im Rahmen der Due Diligence aufgibt, die Insiderinformation ihn jedoch trotzdem zum Kauf weiterer Aktien veranlasst.186) Dies ergibt sich daraus, dass Art. 9 Abs. 4 MAR die Nutzung zum Zwecke eines Beteiligungsaufbaus ausdrücklich nicht gestattet. Schließlich sind auch Verkäufe, die der Erwerber im Rahmen eines Abstandnehmens von seinem Erwerbsplan als Folge der erlangten Insiderinformation,187) sowie die Stornierung eines Kaufvertrags188) im Zuge dessen als verbotenes Insidergeschäft gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR zu qualifizieren. Nicht erfasst wird hingegen das grundsätzliche Abstandnehmen von der Übernahme, ansonsten wäre die Due Diligence nicht nur widersinnig, sondern sogar schädlich. 2.

Pflichten und Haftungsrisiken im Übernahmeverfahren

a)

Pflichten im laufenden Übernahmeverfahren

Im laufenden Übernahmeverfahren treffen den Bieter eine Vielzahl von Ver- 111 pflichtungen: So muss der Bieter zunächst seine Entscheidung zur Abgabe eines Angebots gemäß § 10 WpÜG unverzüglich veröffentlichen;189) im Anschluss ___________ 183) Emittentenleitfaden der BaFin, 5. Aufl., 2020, Modul C I.4.2.5.2.1.5; Beisel/Klumpp/ Beisel, § 2 Rz. 17; Hopt, in: Festschrift Goette, S. 181 (185); Marsch-Barner/Schäfer/ Drinkuth, § 62 Rz. 47; Ellenberger/Bunte/Hopt/Kumpan, BankR-HdB, § 86 Rz. 100; Bank, NZG 2012, 1337 (1338); Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (800). 184) Emittentenleitfaden der BaFin, 5. Aufl., 2020, Modul C I.4.2.5.2.1.6; Ellenberger/Bunte/ Hopt/Kumpan, BankR-HdB, § 86 Rz. 91; Marsch-Barner/Schäfer/Drinkuth, § 62 Rz. 49; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (791); Cascante/Topf, AG 2009, 53 (55 f.); vgl. zu den Anforderungen (vollständige Dokumentation der Entscheidungsgrundlage im Erwerbsplan, keine Ermessensspielräume des Erwerbers bei der Erwerbsentscheidung, Erwerb entsprechend der Vorgaben des Erwerbsplans) an einen Erwerbsplan, um die Kausalität der Insiderinformation für den Erwerb plausibel in Frage stellen zu können: Klöhn/Klöhn, MAR, Art. 8 Rz. 175 ff.; Meyer/Veil/Rönnau/Veil, § 7 Rz. 89 ff.; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (791) m. w. N.; Bank, NZG 2012, 1337 (1342). 185) Marsch-Barner/Schäfer/Drinkuth, § 62 Rz. 48; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (793); Brandi/Süßmann, AG 2004, 642 (646). 186) Ellenberger/Bunte/Hopt/Kumpan, BankR-HdB, § 86 Rz. 89; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (785). 187) Ellenberger/Bunte/Hopt/Kumpan, BankR-HdB, § 86 Rz. 92; Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (800). 188) Hopt/Kumpan, ZGR 2017, 765 (777, 800); Klöhn, AG 2016, 423 (432). 189) Angerer/Geibel/Süßmann/Geibel/Louven, § 10 Rz. 38; MünchKommAktG/Wackerbarth, § 10 WpÜG Rz. 28 ff.; Steinmeyer/Santelmann/Steinhardt, WpÜG, § 10 Rz. 20 f.; Assmann/ Pötzsch/Schneider/Assmann, WpÜG, § 10 Rz. 43 ff.

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

hat der Bieter die Angebotsunterlage unter Berücksichtigung der Anforderungen von §§ 11, 18, 31190) und innerhalb der (ggfs. verlängerten) Frist gemäß § 14 Abs. 1 WpÜG zu erstellen und nach Freigabe durch die BaFin gemäß § 14 Abs. 2 und 3 WpÜG zu veröffentlichen sowie an die Zielgesellschaft und seinen Betriebsrat bzw. die Arbeitnehmer zu übermitteln, vgl. § 14 Abs. 4 WpÜG; die Finanzierung des Angebots hat der Bieter entsprechend den Anforderungen des § 13 WpÜG (bei Bar-Angeboten einschließlich einer sog. Finanzierungsbestätigung, § 13 Abs. 1 Satz 2 WpÜG) sicherzustellen;191) während und nach der (weiteren) Annahmefrist muss der Erwerber sog. Wasserstandsmeldungen gemäß § 23 Abs. 1 WpÜG und im Falle von sog. Nacherwerben gemäß § 23 Abs. 2 WpÜG veröffentlichen.192) 112 Je nach Transaktionsstruktur und Verlauf des Übernahmeverfahrens können hierneben weitere Pflichten des Bieters treten, so z. B. im Falle einer Einberufung einer Hauptversammlung der Zielgesellschaft (§ 16 Abs. 3 und 4 WpÜG),193) einer Änderung des Angebots (§ 21 WpÜG),194) eines konkurrierenden Angebots (§ 22 WpÜG),195) eines grenzüberschreitenden Angebots (§ 24 WpÜG),196) eines Angebots unter der Bedingung eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung des Bieters (§ 25 WpÜG)197) oder von Werbe___________ 190) Zu Erstellung und Inhalt der Angebotsunterlage siehe Paschos/Fleischer/Paschos/Goslar, § 14 Rz. 8 ff.; König/Wilken/Felke, Rz. 154 ff.; Holzapfel/Pöllath/Engelhardt/Horcher, Rz. 1881 ff.; Beisel/Klumpp/Beisel, § 14 Rz. 32 ff.; zur Angebotsgegenleistung siehe MayerUellner, AG 2013, 828 (832 ff.); Gei/Kiesewetter, AG 2012, 741 (743 f.) (zur Festlegung des Angebotspreises bei fehlender Aussagekraft des Börsenkurses); Derlin, BB 2018, 212; Bader, AG 2016, 239 ff. und Müller-Eising, EWiR 2016, 589 f. zum Mindestangebotspreis bei derivativem Erwerb von Wandelschuldverschreibungen im maßgeblichen Zeitraum; siehe auch die „Liste der veröffentlichten Angebote nach § 14 WpHG“, die auf der Website der BaFin abzurufen ist. Auf der Website der BaFin finden sich ebenso Ausführungen zu Inhalt und Prüfung der Angebotsunterlage unter dem Stichwort „Aufsicht über Wertpapiererwerbs-, Übernahme- und Pflichtangebote nach dem WpÜG“. 191) Vgl. hierzu: Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (607 ff.); Gei/Kiesewetter, AG 2012, 741 (744 ff.); Mayer-Uellner, AG 2012, 399 ff.; Riegger, ZGR 2008, 233 ff.; Georgieff/ Hauptmann, AG 2005, 277 ff.; Vogel, ZIP 2002, 1421 ff. 192) Vgl. hierzu: Leyendecker-Langner/Läufer, NZG 2014, 161 ff.; Lebherz, WM 2010, 154 (162 f.). 193) Vgl. hierzu: Schneider, AG 2002, 125 (131); Bachmann, WM 2013, 2009 (2011); Klein, AG 2013, 733 (742); Paschos/Fleischer/Goslar/Wilsing, § 23 Rz. 25. 194) Vgl. hierzu: Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (600); Busch, ZIP 2003, 102 ff. (zur Frist für den Bedingungsverzicht); Rothenfußer/Friese-Dormann/Rieger, AG 2007, 137 (138 ff.); Paschos/Fleischer/Paschos/Goslar, § 14 Rz. 161 ff. 195) Vgl. hierzu: Rothenfußer/Friese-Dormann/Rieger, AG 2007, 137 ff.; Liekefett, AG 2005, 802 ff. (zur Bietergleichbehandlung); Paschos/Fleischer/Apfelbacher/Niggemann, § 18 Rz. 70. 196) Vgl. hierzu: Holzborn, BKR 2002, 67 ff.; Behnke, WM 2002, 2229 ff.; zu grenzüberschreitenden Tauschangeboten: Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (606 f.); Verannemann/Gärtner, AG 2009, 648 ff.; zum Ausschluss ausländischer Aktionäre am Beispiel australischer Aktionäre siehe Unger/Witzel, RIW 2005, 429 ff.; zum Kollisionsrecht für grenzüberschreitende Übernahmeangebote siehe Ekkenga/Kuntz, WM 2004, 2427 ff. 197) Vgl. hierzu: Busch, AG 2002, 145 (148); Marsch-Barner/Schäfer/Drinkuth, § 62 Rz. 109.

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maßnahmen des Bieters (aber auch der Zielgesellschaft) (§ 28 WpÜG).198) Zudem können Vor-, Parallel- und Nacherwerbe zu prüfen sein.199) Im Falle eines Pflichtangebots gemäß § 35 WpÜG gelten die oben aufgeführ- 113 ten Verpflichtungen im Grundsatz, wenn auch mit einigen wesentlichen Unterschieden, fort (vgl. im Einzelnen die Verweise in § 39 WpÜG),200) insbesondere zur Bedingungsfeindlichkeit eines Pflichtangebots, vgl. §§ 39, 18 Abs. 1 WpÜG (Ausnahme: Bedingungen, die erforderlich sind, damit nicht gegen zwingende gesetzliche Bestimmungen verstoßen wird).201) b)

Haftungsrisiken im Zusammenhang mit der Angebotsunterlage

Gemäß § 12 Abs. 1 WpÜG können Aktionäre, die das Angebot aufgrund von 114 fehlerhaften wesentlichen Angaben202) angenommen haben, ihren Schaden vom Bieter und von denjenigen, von denen der Erlass der Angebotsunterlage ausgeht,203) ersetzt verlangen, falls diese sich nicht gemäß § 12 Abs. 2 WpÜG exkulpieren können204) oder ein Anspruch aus anderen Gründen gemäß § 12 Abs. 3 ___________ 198) Vgl. Bürgers/Holzborn, ZIP 2003, 2273 (2277); Hopt, ZHR 166 (2002), 383 (409); Winter/ Harbarth, ZIP 2002, 1 (16); Paschos/Fleischer/Technau/Berrar, § 13 Rz. 114 f. 199) Vgl. Boucsein/Schmiady, AG 2016, 597 (601 ff.) (zu den Bewertungsstichtagen); MayerUellner, AG 2013, 828 (832) (zum Angebotspreis); Vetter, AG 2003, 478 ff. (zur Gegenleistung für den Erwerb einer Aktie bei Ausübung einer Call-Option); Paschos/Fleischer/ Reinhardt/Kocher, § 15 Rz. 131 ff. (zur Gegenleistung). 200) Vgl. zu Strukturierungsfragen im Hinblick auf diese Unterschiede, aber auch §§ 35 Abs. 3, 37 WpÜG: Paschos/Fleischer/Rothenfußer, § 11 Rz. 390 ff. 201) Paschos/Fleischer/Rothenfußer, § 11 Rz. 370 ff. und 395 ff.; Fest, ZBB 2017, 178 ff.; Holzapfel/Pöllath/Horcher, Rz. 1954; Hölters/Müller-Michaels, Handbuch Unternehmenskauf, Rz. 12.118; König/Wilken/Felke, Rz. 447 ff. 202) Vgl. zum Begriff der fehlerhaften wesentlichen Angaben Assmann/Pötzsch/Schneider/ Assmann, WpÜG, § 12 Rz. 11 ff.; KK-WpÜG/Möllers, § 12 Rz. 84; Paschos/Fleischer/ Paschos/Goslar, § 14 Rz. 187; entscheidender Zeitpunkt für die Richtigkeit und Vollständigkeit ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Angebotsunterlage, OLG Frankfurt/M., Urt. v. 18.4.2007 – 21 U 72/06, AG 2007, 749 (751). 203) Als Angebotsveranlasser haften z. B. diejenigen, die ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Übernahme haben wie mit dem Bieter gemeinsam handelnde Personen (§ 2 Abs. 5 Satz 1 WpÜG) sowie ggfs. weitere übergeordnete Konzerngesellschaften oder Gesellschafter des Bieters, die nicht bereits gemeinsam handelnde Personen sind. Mangels eines eigenen wirtschaftlichen Interesses an der Übernahme haften Berater wie Investmentbanken, Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer, die bei Erstellung der Angebotsunterlage oder der Transaktion beraten haben, nicht aus § 12 Abs. 1 WpÜG; vgl. Assmann/Pötzsch/Schneider/ Assmann, WpÜG, § 12 Rz. 35 ff.; KK-WpÜG/Möllers, § 12 Rz. 105 ff.; Schwark/Zimmer/ Noack/Holzborn, § 12 WpÜG Rz. 5 f.; Frankfurter Komm. WpÜG/Renner, § 12 Rz. 14 ff. 204) Die Regelung ist zum einen Beweislastregel – die Anspruchsschuldner müssen sich exkulpieren –, zum anderen aber auch Haftungsmilderung, Assmann/Pötzsch/Schneider/Assmann, WpÜG, § 12 Rz. 49 ff.; Paschos/Fleischer/Paschos/Goslar, § 14 Rz. 193; Habersack/Mülbert/ Schlitt/van Aerssen, Hdb. der Kapitalmarktinformation, § 30 Rz. 28; ob die Voraussetzungen von § 12 Abs. 2 WpÜG vorliegen, ist für jeden etwaigen Anspruchsschuldner – unter Berücksichtigung der allgemeinen Regeln der Wissenszurechnung – gesondert zu prüfen.

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§ 13 M&A und öffentliche Übernahmen

WpÜG nicht besteht.205) Aktionäre, die das Angebot nicht angenommen haben, oder Dritte206) haben keine Ansprüche aus § 12 Abs. 1 WpÜG. Bei fehlerhaften Angebotsangaben sind Ansprüche aus zivilrechtlicher Prospekthaftung im engeren Sinne neben § 12 Abs. 1 WpÜG ausgeschlossen.207) 115 Daneben sind Ansprüche z. B. aus einem (in der Praxis mangels eines auf individuellem Vertrauen basierenden Schuldverhältnisses meist fehlendem) vorvertraglichen Schuldverhältnis208) oder einer deliktischen Haftung für Fehler in der Angebotsunterlage gemäß § 826 BGB209) sowie gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz210) (insb. § 263 StGB und § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG) denkbar, wenn auch praktisch in der Regel nicht relevant, vgl. § 12 Abs. 6 WpÜG. 3. Publizitätspflichten a) Beteiligungsschwellen 116 Der Bieter muss die Mitteilungspflichten des § 33 WpHG beachten, sobald die dort vorgesehenen Schwellenwerte überschritten werden (hierzu Æ § 10 Rz. 108 ff.). ___________ 205) Nach Nr. 3 scheiden Ansprüche aus, wenn die unrichtigen oder unvollständigen Angaben der Angebotsunterlage in einer Ad-hoc-Mitteilung nach Art. 17 MAR oder einer vergleichbaren Bekanntmachung deutlich berichtigt wurden. Die Berichtigung hat keine Rückwirkung, sondern gilt nur in die Zukunft. Es entfallen daher nur Ansprüche für nach der Berichtigung erfolgende Angebotsannahmen, durch Annahmen vor der Berichtigung bereits entstandene Ersatzansprüche bleiben unberührt, vgl. Assmann/Pötzsch/Schneider/ Assmann, WpÜG, § 12 Rz. 46; KK-WpÜG/Möllers, § 12 Rz. 134 ff.; Paschos/Fleischer/ Paschos/Goslar, § 14 Rz. 190. 206) Dies sind z. B. die Zielgesellschaft und ihre Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmervertretungen, da die Angebotsunterlage für sie einen rein informativen Charakter hat, KK-WpÜG/Möllers, § 12 Rz. 88 ff.; Schwark/Zimmer/Noack/Holzborn, WpÜG, § 12 Rz. 4; Frankfurter Komm. WpÜG/Renner, § 12 Rz. 20. 207) Ganz herrschende Auffassung, wenn auch mit teils unterschiedlichen Begründungen: Assmann/Pötzsch/Schneider/Assmann, WpÜG, § 12 Rz. 68; Angerer/Geibel/Süßmann/Louven, WpÜG, § 12 Rz. 39; KK-WpÜG/Möllers, § 12 Rz. 163; Frankfurter Komm. WpÜG/Renner, § 12 Rz. 70; Paschos/Fleischer/Paschos/Goslar, § 14 Rz. 200 jeweils m. w. N.; a. A. Schwark/ Zimmer/Noack/Holzborn, WpÜG, § 12 Rz. 35; MünchKommAktG/Wackerbarth, § 11 WpÜG Rz. 113 f. 208) Erforderlich ist ein individueller vorvertraglicher Kontakt, in dessen Rahmen persönliches Vertrauen in Anspruch genommen wird, vgl. Schwark/Zimmer/Noack/Holzborn, § 12 WpÜG Rz. 35; Frankfurter Komm. WpÜG/Renner, § 12 Rz. 69 f.; Paschos/Fleischer/ Paschos/Goslar, § 14 Rz. 199; vgl. allgemein Grüneberg/Grüneberg, BGB, § 311 Rz. 22. 209) Nicht jeder Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften verstößt zugleich gegen die guten Sitten, vielmehr muss eine gesteigerte, besondere Verwerflichkeit vorliegen. Im Jahr 2004 hat der II. Zivilsenat des BGH in dem zentralen, wenn auch nicht eine Angebotsunterlage betreffenden Infomatec-Urteil entschieden, die direkt vorsätzliche unlautere Beeinflussung der Anleger durch wiederholte grob unrichtige Ad-hoc-Mitteilungen indiziere eine solche Verwerflichkeit, BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 217/03, NJW 2004, 2668, 2671; bestätigt durch BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02, NJW 2005, 2450, 2451 (EM.TV). 210) § 11 WpÜG ist kein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB, Frankfurter Komm. WpÜG/ Renner, § 12 Rz. 71; Baums/Thoma/Verse/Thoma, WpÜG, § 12 Rz. 85; Schnorbus, WM 2003, 657 (663); a. A. Paschos/Fleischer/Paschos/Goslar, § 14 Rz. 203 (bzgl. etwaiger Ansprüche von Aktionären der Zielgesellschaft, die das Angebot nicht angenommen haben).

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b)

Ad-hoc Meldepflichten

Im Hinblick auf die Ad-hoc-Publizitätspflichten gemäß Art. 17 MAR Æ Rz. 46 ff. 117 Zu beachten ist, dass die in der Regel ad-hoc pflichtige Entscheidung zur Ab- 118 gabe eines öffentlichen Angebots gemäß § 10 Abs. 6 WpÜG von der Ad-hoc Pflicht ausgenommen wird, da die nach § 10 WpÜG vorgesehene Veröffentlichung dem Zweck der Publizität genügt.211)

___________ 211) MünchKommAktG/Wackerbarth, § 10 WpÜG, Rz. 13 f.; Klöhn/Klöhn, MAR, Art. 17 Rz. 49.

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Übersicht Vorbemerkung.......................................... 1 A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat ....... 4 I. Verpflichtung des Vorstands gemäß § 34 AO .................................. 4 1. Bedeutung des Grundsatzes der Gesamtverantwortung ......... 4 2. Horizontale Delegation – Pflichten der Vorstandsmitglieder bei Ressortverteilung ...... 9 a) Grundsätzliche Möglichkeit der Ressortverteilung .................. 9 b) Formale Anforderungen .......... 12 c) Pflichten der Vorstandsmitglieder anlässlich der vorstandsinternen Geschäftsverteilung ................................... 14 aa) Pflicht zur gehörigen Auswahlsorgfalt......................... 15 bb) Pflichten bei Übertragung von nicht delegierbaren Gesamtvorstandsaufgaben ........ 17 cc) Pflichten bei formloser Geschäftsverteilung................... 18 d) Pflichten des zuständigen Vorstandsmitglieds bei wirksamer Geschäftsverteilung (sog. Ressortverantwortung) ............................... 19 aa) Pflicht zur unmittelbar geschäftsführenden Tätigkeit ....... 20 bb) Pflicht zur Unterrichtung......... 22 e) Pflichten der übrigen Vorstandsmitglieder bei wirksamer Geschäftsverteilung (sog. Restverantwortung) ......... 23 aa) Aufsichts- und Überwachungspflichten ......................... 24 bb) Reichweite der Aufsichtsund Überwachungspflichten ... 25 (1) Grundsätze der laufenden Überwachung ............................ 25

(2) Einrichtung eines vorstandsinternen Überwachungssystems – Informationsanspruch.... 29 (3) Interventionspflicht bei Verdachtsmomenten ................. 30 (4) Gesteigerte Überwachungspflichten..................................... 32 f) Bedeutung einer wirksamen Geschäftsverteilung für steuerliche Pflichten.................. 35 3. Vertikale Delegation – Pflichten der Vorstandsmitglieder bei Delegation auf die Steuerabteilung.............. 38 a) Überblick ................................... 38 b) Pflichten des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds ........ 41 aa) Auswahlsorgfalt......................... 44 bb) Einweisungssorgfalt .................. 45 cc) Überwachung ............................ 46 (1) Grundsätze der laufenden Überwachung ............................ 47 (2) Organisationspflichten ............. 52 (3) Interventionspflicht bei Verdachtsmomenten ................. 54 (4) Gesteigerte Überwachungspflichten..................................... 55 c) Pflichten der übrigen Vorstandsmitglieder.................. 57 II. Mitwirkungspflichten gemäß § 90 AO ............................................ 58 1. Allgemeine Mitwirkungspflichten gemäß § 90 Abs. 1 AO.................................. 58 2. Erweiterte Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten gemäß § 90 Abs. 2 AO.................................. 59 3. Dokumentationspflichten bei Geschäftsbeziehungen mit nahestehenden Unternehmen mit Auslandsbezug gemäß § 90 Abs. 3 AO.............. 61

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§ 14 Steuerrecht a) Überblick .................................. 61 b) Stammdokumentation ............. 64 c) Landesspezifische und unternehmensbezogene Dokumentation ........................ 66 d) Sanktionen ................................ 69 III. Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten bei Geschäftsvorgängen mit Bezug zu Steueroasen – § 12 StAbwG ................................. 71 IV. Auskunftspflicht gemäß § 93 AO ............................................ 73 V. Anzeigepflichten gemäß §§ 137 bis 139 AO ....................................... 76 1. Steuerliche Erfassung der AG – § 137 AO ......................... 76 2. Anzeigen über die Erwerbstätigkeit der AG – § 138 AO.... 78 a) Inlandstätigkeiten ..................... 78 b) Auslandstätigkeiten .................. 81 3. Länderbezogener Bericht – § 138a AO ................................. 84 a) Erfasste Unternehmen.............. 84 b) Inhalte........................................ 85 c) Besondere Mitwirkungspflichten bei ausländischen Konzernen ................................. 86 d) Erweiterung von Steuererklärungspflichten ...................... 87 e) Datenaustausch ......................... 88 f) Sanktionen................................. 89 g) Einführung einer öffentlichen länderbezogenen Berichterstattung (EU public CbCR) ....................................... 90 4. Grenzüberschreitende Steuergestaltungen – §§ 138d ff. AO ....91 a) Pflicht zur Mitteilung ............... 91 b) Verfahren der Mitteilung, § 138f f. AO .............................. 92 c) Angabe in Steuererklärung, § 138k AO ................................. 93 d) Sanktionen................................. 94 5. Anmeldung von Betrieben in besonderen Fällen – § 139 AO ................................... 95

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VI. Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten gemäß §§ 140 bis 148 AO ........................................98 VII.Abgabe der Steuererklärungen gemäß §§ 149 bis 152 AO ..............104 1. Adressat der Steuererklärungspflicht .............................104 2. Form und Inhalt der Steuererklärung ..................................108 a) Steuererklärung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck (§ 150 Abs. 1 Satz 1 AO) .......108 b) Elektronische Steuererklärung (§ 150 Abs. 1 Satz 2 AO)..........109 c) Vollständigkeit und Wahrheitspflicht ..............................112 3. Bedeutung der eigenhändigen Unterschrift auf Steuererklärungen für die Pflichten des Vorstands...........117 a) Grundsatz.................................117 b) Eigenhändige Unterschrift durch ressortzuständiges Vorstandsmitglied....................118 c) Eigenhändige Unterschrift durch nicht ressortzuständiges Vorstandsmitglied .............120 4. Bedeutung des fehlenden Erfordernisses der eigenhändigen Unterschrift bei elektronischen Steuererklärungen für die Pflichten des Vorstands........................................121 VIII. Berichtigung von Erklärungen gemäß § 153 AO .............................122 1. Regelungsinhalt........................122 2. Abgrenzung zur Selbstanzeige gemäß § 371 AO ............128 a) Berichtigung eines schlichten Fehlers ....................129 b) Fristversäumnis nach Fehlerentdeckung ....................130 c) Grob fahrlässige oder bedingt vorsätzliche Fehler.........133 d) Absichtliche oder wissentliche Fehler...............................135

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§ 14 Steuerrecht

IX.

X. B. I. II.

e) Steuerverkürzung durch Mitarbeiter oder Dritte ........... 137 3. Konkretisierung der Indizien für/gegen eine vorwerfbare Steuerverkürzung durch die Finanzverwaltung ............. 139 a) Vorgaben in § 10 Betriebsprüfungsordnung .................... 140 b) Vorgaben in Nr. 130 ff. AStBV (St) 2023 ..................... 141 4. Abgrenzung unterschiedlicher Formen der Vorwerfbarkeit ..................................... 144 a) Bedingter Vorsatz.................... 146 b) Leichtfertigkeit (grobe Fahrlässigkeit) ......................... 148 c) Einfluss externer steuerrechtlicher Beratung auf Vorwerfbarkeit ....................... 149 5. Zeitpunkt der Anzeige und Berichtigung ............................ 150 a) Sonderfall: Bloße Anzeigepflicht gemäß § 153 Abs. 2 AO ............................... 155 b) Verhältnis zu spezialgesetzlichen Korrekturvorschriften .... 156 c) Konsequenzen für Aufsichtsrat.................................... 157 Exkurs: Pflicht zur Implementierung eines Tax CMS? ..................... 158 1. Neuer Anwendungserlass zu § 153 AO ........................... 159 2. IDW Praxishinweis 1/2016..... 161 3. Hinweise der Bundessteuerberaterkammer zum SteuerIKS............................................ 164 4. Stand der Diskussion in steuer-(straf-)rechtlicher Literatur ................................... 165 Mitwirkung im Rahmen der Außenprüfung gemäß § 200 AO........ 167 Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat .... 172 Anknüpfungspunkt ........................ 172 Persönliche Haftung nach § 69 AO........................................... 174 1. Grundsatz ................................ 174

2. 3.

III.

IV.

V. C. I. II.

III. IV.

Voraussetzungen ..................... 177 Keine Enthaftung aufgrund besonderer wirtschaftlicher Umstände ................................ 178 4. Haftungsschaden und Haftungsumfang ..................... 179 5. Geltendmachung der Haftung – Verfahrensfragen ......... 183 Haftung der AG nach § 70 AO..... 184 1. Haftungsvoraussetzungen nach § 70 Abs. 1 AO............... 185 2. Exkulpationsmöglichkeit nach § 70 Abs. 2 Satz 2 AO.... 188 Persönliche Haftung nach § 71 AO .......................................... 190 1. Haftungsvoraussetzungen nach § 71 AO........................... 191 2. Besonderheiten für Schadensbegriff und Verfahren...... 193 Exkurs: Haftung für Sozialversicherungsbeiträge ............................ 197 Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS............... 199 Tax CMS – Aufgaben und Struktur.......................................... 199 Aufbau von Tax CMS .................... 200 1. Tax-Compliance-Kultur ......... 204 2. Tax-Compliance-Ziele ............ 205 3. Tax-ComplianceOrganisation............................ 206 4. Tax-Compliance-Risiken........ 208 5. Tax-Compliance-Programm... 210 6. Tax-ComplianceKommunikation ...................... 212 7. Tax-ComplianceÜberwachung und Verbesserung ................................. 213 Externe Prüfung des Tax CMS...... 215 Umfang der Prüfung eines Tax CMS ............................................... 219 1. Grundsätzliches....................... 220 2. Angemessenheitsprüfung ....... 223 3. Wirksamkeitsprüfung ............. 224 4. Wesentliche Verstöße nach IDW PS 980 .................... 225 a) Fokus auf sog. wesentliche Fehler ....................................... 226

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§ 14 Steuerrecht b) Bestimmung wesentlicher Fehler in der Tax CMSBeschreibung ........................... 227 c) Bestimmung wesentlicher Mängel des Tax CMS.............. 228

d) Gesamtschau bei Bestimmung der Wesentlichkeit von Fehlern des Tax CMS.......230 5. Zweckmäßige Prüfungsdichte (Angemessenheits- vs. Wirksamkeitsprüfung) ............233

Schrifttum: Steuerliche Pflichten Aichberger/Schwartz, Tax Compliance – Der Vorstand im Fokus? (Teil I), DStR 2015, 1691; dies., Tax Compliance – Der Vorstand im Fokus? (Teil II), DStR 2015, 1758; Bachmann/Seifert, Einführung eines public Country-by-Country Reportings – Kritische Anmerkungen zum Gesetzentwurf –, DB 2023, 1175; Ball/Papasikas, Überlegungen bei Einführung eines innerbetrieblichen steuerlichen Kontrollsystems – Überwachungsaufgaben der Steuerabteilung, BB 2016, 1495; Benz/Böhmer, Das Steueroasen-Abwehrgesetz, DB 2021, 1630; Bezzenberger, Der Vorstandsvorsitzende der Aktiengesellschaft, ZGR 1996, 661; Birkemeyer/Koch, Die Steuerfunktion im Wandel, Ubg 2016, 90; Blumenberg/ Hundeshagen, Viele offene Fragen, DATEV magazin 02/2020, 17; dies., Unklare Rechtslage, DATEV magazin 04/2020, 23; Bruschke, Unrichtige Angaben in der Steuererklärung – grundsätzlich ein Fall der Selbstanzeige?, DStZ 2011, 210; Creed/Link, Tax Compliance Management – nur wichtig für kapitalmarktorientierte Unternehmen oder auch für den Mittelstand?, BB 2016, 983; Demuß, Aufbau eines Tax-Compliance-Management-Systems in mittelständischen Unternehmen, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 84; Erdbrügger/Jehke, Das BMF-Schreiben vom 23.5.2016 zu § 153 AO – strafrechtliche Haftungsentlastung bei Einrichtung eines Tax-Compliance-Managements-Systems, BB 2016, 2455; Esterer, Der Anwendungserlass zu § 153 AO ist da – Wichtiger Schritt zur Entkriminalisierung im Steuerrecht, DB 21/2016, M5; Fleischer, Vorstandsverantwortlichkeit und Fehlverhalten von Unternehmensangehörigen – Von der Einzelüberwachung zur Errichtung einer Compliance-Organisation, AG 2003, 291; Fleischer, Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung im Aktienrecht, NZG 2003, 449; Fleischer, Zur Leitungsaufgabe des Vorstands im Aktienrecht, ZIP 2003, 1; Geberth/Welling, Abgrenzung zwischen einfacher Berichtigung und strafbefreiender Selbstanzeige, DB 31/2015, 1742; Götz, Die Überwachung der Aktiengesellschaft im Lichte jüngerer Unternehmenskrisen, AG 1995, 337; Hein, Vom Vorstandsvorsitzenden zum CEO?, ZHR 166 (2002), 464; Jehke/Dreher, Was bedeutet „unverzüglich“ i. S. von § 153 AO?, DStR 2012, 2467; Jesse, Anzeige- und Berichtigungspflichten nach § 153 AO (§ 153 AO), BB 2011, 1431; Menner/Bexa, Praktische Vorgehensweise bei der Einführung eines Tax Compliance Management Systems im Unternehmen, CCZ 2019, 129; Neuling, Tax Compliance im Unternehmen: schlichte Anzeige (§ 153 AO) vs. Selbstanzeige, DStR 2015, 558; Nieland, Steuerhinterziehung bei Berichtigungserklärung gegenüber unzuständigem Finanzamt? AO-StB 2008, 151; Seer, Berichtigung nach § 153 AO oder Selbstanzeige nach §§ 371, 398a AO, DB 38/2016, 2192; Tipke/Spindler/Rödder, Steuerzentrierte Rechtsberatung, in: Festschrift Schaumburg, 2009, S. 1255; Turiaux/Knigge, Vorstandshaftung ohne Grenzen? – Rechtssichere Vorstandsund Unternehmensorganisation als Instrument der Risikominimierung, DB 2004, 2199; Werthebach, Erste Anmerkungen zum Entwurf eines Steueroasen-Abwehrgesetzes (StAbwG), IStR 2021, 338; Wolfersdorff/Hey, Was kann ein Tax-Compliance-Management-System leisten?, WPg 2016, 934. Steuerliche Haftung Bruschke, Die Haftung des Vertretenen nach § 70 AO, StB 2012, 359; Casper, Hat die grundsätzliche Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats im Sinne des ARAG/GarmenbeckUrteils ausgedient?, ZHR 176 (2012), 617; Fehrenbach, Beschränkte Vorstandshaftung? – Zur Frage, ob sich aus dem geltenden Recht Regeln zur Haftungsverschonung oder Haf-

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Vorbemerkung tungsbegrenzung zugunsten von Vorstandsmitgliedern ableiten lassen, AG 2015, 761; Fehsenfeld, Die Reichweite der Haftung des Vertretenen nach § 70 AO, DStZ 2012, 852; Gehm, Die Haftung der Vertreter gemäß § 69 AO, StBp 2017, 135; Gehm, Haftung der gesetzlichen Vertreter, Vermögensverwalter und Verfügungsberechtigten für Abgabenverbindlichkeiten nach §§ 69, 34 und 35 AO, BuW 1999, 894; Habersack, Perspektiven der aktienrechtlichen Organhaftung, ZHR 177 (2013), 782; Paeffgen, Die Inanspruchnahme pflichtvergessener Vorstandsmitglieder als unternehmerische Ermessensentscheidung des Aufsichtsrats, AG 2008, 761; Reichert, Existenzgefährdung bei der Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen, ZHR 177 (2013), 756; Steinhauff, Die Haftung des Vertretenen nach § 70 AO, AO-StB 2013, 181; Talaska, Tax Compliance in Unternehmen – Organhaftung, BB 2012, 1195; Ulmer, Die Aktionärsklage als Instrument zur Kontrolle des Vorstands- und Aufsichtsratshandelns, ZHR 163 (1999), 290; Werder/Rudolf, Drohende Konsequenzen bei lückenhafter Tax Compliance, BB 2016, 1433. Tax Compliance Management System Erdbrügger/Kaiser, Neuer Anwendungserlass zu § 153 AO zu Tax Compliance Management Systemen – Auswirkungen für Unternehmen am Beispiel des Umsatzsteuer- und Zollrechts, Ubg 2016, 412; Esterer, Der Anwendungserlass zu § 153 AO ist da – Wichtiger Schritt zur Entkriminalisierung im Steuerrecht, DB 21/2016, M5; Geuenich/Ludwig, Tax-Compliance-Management-Systeme (Tax CMS) – Einordnung durch Finanzbehörden und Gerichte, BB 2018, 1303; Hiller/Straub, Vermeidung von Organisationsverschulden in Unternehmen – Anforderungen an Steuerprozesse am Praxisbeispiel § 37b EStG, BB 2015, 791; IDW PS 980, Grundsätze ordnungsmäßiger Prüfung von Compliance Management Systemen, Stand: 11.03.2011, WPg Supplement 2/2011, S. 78 ff., FNIDW 4/2011, S. 203 ff.; IDW Praxishinweis 1/2016: Ausgestaltung und Prüfung eines Tax Compliance Management Systems gemäß IDW PS 980 (IDW Praxishinweis 1/2016), IDWLife 2017, 837; Kluge/Geißler, Verwaltungsgrundsätze 2020 – Praxishinweise zur Erfüllung von Mitwirkungspflichten, WPg 2021, 737; Kowallik, Vom IKS für Steuern zum Tax CMS: Aktueller Stand sowie Anpassungsbedarf bei IT-Lösungen, DB 35/2017, 1994; Menner/Bexa, Praktische Vorgehensweise bei der Einführung eines Tax Compliance Management Systems im Unternehmen, CCZ 2019, 129; Nowroth, Tax Compliance im Konzern, NWB 2015, 3406; Risse, Tax Compliance und steuerliches Risikomanagement in der aktuellen Diskussion, Ubg 2015, 9; Schwedhelm/Talaska, ifst-Schrift Nr. 513 (2016): Was kann ein Tax Compliance Management System leisten? – Zur Änderung des AEAO zu § 153 AO durch das BMF vom 23.5.2016; Werder/Rudolf, Drohende Konsequenzen bei lückenhafter Tax Compliance, BB 2016, 1433.

Vorbemerkung Steuerrechtliche Risiken sind nicht nur ein zentrales Thema in den Steuerabtei- 1 lungen, sondern sind mittlerweile auch auf der Vorstandsebene in den Fokus gerückt. Dies liegt allein schon daran, dass der Vorstand als gesetzlicher Vertreter für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten der Aktiengesellschaft verantwortlich ist. Hinzu kommt, dass die Finanzbehörden in den letzten Jahren nicht nur in kritischen Fällen, sondern auch bei einfachen Fehlerkorrekturen (zu) schnell an die Bußgeld- und Strafsachenstellen („BuStra“) bzw. die Staatsanwaltschaft abgeben. Es ist deshalb (nicht nur) für Vorstände unerlässlich, die steuerlichen Pflichten zu kennen und darauf aufbauend den eigenen Pflichtenkreis richtig abzugrenzen. Aber nicht nur die strafrechtlichen Konsequenzen, auf die nachfolgend nicht weiter eingegangen werden soll, machen es erforderlich, sich mit den Steuerpflichten zu befassen. Für Vorstände bestehen als gesetzliche Vertre-

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§ 14 Steuerrecht

ter der Aktiengesellschaft umfangreiche Haftungsrisiken, deren Existenz ein Vorstand sich bewusst sein muss. 2 Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der nachfolgenden Abschnitte, den steuerrechtlichen Pflichtenkreis des Vorstands zu umreißen, steuerrechtliche Haftungsrisiken zu erörtern und aufzuzeigen, wie steuerrechtliche Risiken durch die Implementierung eines Tax Compliance Management Systems („Tax CMS“) minimiert werden können. Nicht besprochen werden die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Konsequenzen für Vorstand und Aufsichtsrat, die sich in Fällen der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) bzw. leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) ergeben können, sowie die Konsequenzen für die Aktiengesellschaft bei ordnungswidrigem Verhalten nach §§ 30, 130 OWiG. 3 Der vorliegende § 14 widmet sich deshalb zunächst einer Bestimmung des steuerrechtlichen Pflichtenkreises von Vorstand und Aufsichtsrat (Æ Rz. 4 ff.). Sodann werden die steuerlichen Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat dargestellt (Æ Rz. 172 ff.). Die Ausführungen werden durch einen Abschnitt zu Tax CMS abgerundet (Æ Rz. 199 ff.), mit deren Hilfe die steuerrechtlichen Risiken reduziert werden können. A.

Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

I.

Verpflichtung des Vorstands gemäß § 34 AO

1.

Bedeutung des Grundsatzes der Gesamtverantwortung

4 Die gesetzlichen Vertreter einer juristischen Person haben deren steuerliche Pflichten zu erfüllen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie haben insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten. Die Vorstandsmitglieder als gesetzliche Vertreter der AG müssen die steuerlichen Pflichten, die der AG auferlegt sind, umfassend erfüllen.1) Da der Aufsichtsrat nicht als gesetzlicher Vertreter i. S. d. § 34 AO tätig wird, treffen ihn diese Pflichten nicht, solange er nicht ausnahmsweise als Verfügungsberechtiger i. S. d. § 35 AO tätig wird. Fraglich ist allerdings, inwiefern die einzelnen Vorstandsmitglieder Adressaten der steuerlichen Pflichten vor dem Hintergrund der gesellschaftsrechtlich verankerten Gesamtverantwortung des Vorstands sowie der üblichen Ressortverteilung im Vorstand sind. 5 Das Aktienrecht statuiert den Grundsatz der Gesamtverantwortung für die Mitglieder des Vorstands.2) Dieser wird zum Teil aus § 76 Abs. 1 AktG abgeleitet, wonach der Vorstand unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten hat;3) teilweise wird er als ein generell für Kollegialorgane geltender Rechts___________ 1) 2) 3)

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Vgl. Aichberger/Schwartz, DStR 2015, 1691. Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 ff.; Hüffer/Koch, § 77 Rz. 14 f. Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (450) m. w. N.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

grundsatz verstanden.4) Bei einem mehrköpfigen Vorstand trägt nach dem Grundsatz der Gesamtverantwortung grundsätzlich jedes Vorstandsmitglied die Pflicht für die Geschäftsführung im Ganzen5) (zum Grundsatz der Gesamtverantwortung ausführlich Æ § 1 Rz. 91 ff.). Kein Vorstandsmitglied darf eigenmächtig Kompetenzen an sich ziehen, die dem Vorstand in seiner Gesamtheit zustehen (Prinzip der Gesamtleitung). Jedes Vorstandsmitglied muss – bei entsprechender Aufgabenteilung – über seinen eigenen Aufgabenbereich hinaus „durch umrisshafte Begleitung“ an der gesamten Geschäftsleitung mitwirken (Prinzip der gegenseitigen Überwachung).6) Der BFH folgert aus dem Grundsatz der Gesamtverantwortung eine solidari- 6 sche Verantwortung aller Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder für die ordnungsgemäße Erfüllung der steuerlichen Pflichten, die der juristischen Person obliegen.7) Da es sich bei diesen Pflichten um öffentlich-rechtliche Pflichten handelt, sind diese nicht durch privatrechtliche Vereinbarungen abdingbar.8) Im Innenverhältnis kann zwar durch interne Geschäftsverteilungsvereinbarungen bestimmt werden, wer die steuerlichen Pflichten der AG erfüllen soll.9) Derartige interne Vereinbarungen bewirken allerdings nicht, dass die nach der internen Geschäftsverteilungsvereinbarung nicht zuständigen Vorstandsmitglieder von der Erfüllung der steuerlichen Pflichten befreit sind.10) Es verbleibt vielmehr für sämtliche Vorstandsmitglieder bei ihrer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung, die steuerlichen Pflichten der juristischen Person, die sie gesetzlich vertreten, zu erfüllen. Das Finanzamt kann sich hinsichtlich der Erfüllung der steuerlichen Pflichten 7 grundsätzlich an jedes Vorstandsmitglied wenden.11) Unabhängig vom Bestehen einer internen Geschäftsverteilungsvereinbarung und gemäß dem Grundsatz der Gesamtverantwortung obliegt die (primäre) Pflicht zur Erfüllung der steuerlichen Pflichten sämtlichen Vorstandsmitgliedern. Eine hiervon zu unterscheidende Fragestellung ist diejenige, welche Pflichtver- 8 letzungen den einzelnen Vorstandsmitgliedern in Abhängigkeit von den durch eine interne Geschäftsverteilungsvereinbarung festgelegten Zuständigkeiten im ___________ 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11)

Vgl. Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (507). Vgl. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl II 1984, 776; Fleischer, NZG 2003, 449. So Fleischer, NZG 2003, 449 (450) m. w. N. Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761; BFH, Urt. v. 17.5.1988 – VII R 90/85, BFH/NV 1989, 4; BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl II 1984, 776. Vgl. Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16 m. w. N. Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761; Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16; Schwarz/Pahlke/Schwarz, § 34 AO Rz. 10. Vgl. Schwarz/Pahlke/Schwarz, § 34 AO Rz. 10. Vgl. Schwarz/Pahlke/Schwarz, § 34 AO Rz. 15; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Boeker, § 34 AO Rz. 52.

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§ 14 Steuerrecht

Rahmen ihrer (Haftungs-)Verantwortlichkeit zum Vorwurf gemacht werden können.12) Dies ist Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte. 2.

Horizontale Delegation – Pflichten der Vorstandsmitglieder bei Ressortverteilung

a)

Grundsätzliche Möglichkeit der Ressortverteilung

9 Der Grundsatz der Gesamtverantwortung steht einer vorstandsinternen Geschäftsverteilung nicht entgegen.13) In einem mehrköpfigen Vorstand kann bereits aus praktischen Gründen eine Arbeitsteilung durch Zuweisung bestimmter Tätigkeitsbereiche an einzelne Mitglieder oder Ausschüsse verwirklicht und anerkannt werden (sog. horizontale Delegation).14) Zu beachten ist allerdings, dass das in § 76 Abs. 1 AktG zum Ausdruck kommende Prinzip der Gesamtleitung15) sowie der Grundsatz der Gesamtverantwortung jeder (zulässigen) Geschäftsverteilung Grenzen setzen.16) 10 Bestimmte Aufgaben des Gesamtvorstands dürfen als nicht delegierbarer Kernbereich nicht im Rahmen einer internen Geschäftsverteilung einem einzelnen oder mehreren Vorstandsmitgliedern zugeordnet werden (Æ Rz. 17). Soweit eine Geschäftsverteilung zulässig und aufgrund der zu erfüllenden Formerfordernisse wirksam ist (Æ Rz. 12 f.), ist der Umfang der Pflichten der ressortzuständigen und der übrigen Vorstandsmitglieder zu bestimmen (Æ Rz. 19 ff. und Rz. 23 ff.). So bewirken zulässige interne Geschäftsverteilungsvereinbarungen nicht die Aufhebung, wohl aber die Begrenzung der den nicht zuständigen Vorstandsmitgliedern obliegenden Pflichten auf Überwachungs- und Aufsichtspflichten.17) 11 Die Erfüllung der steuerlichen Pflichten gemäß § 34 AO zählt zu den Gesamtvorstandsaufgaben, da es sich insoweit um nicht abdingbare Pflichten öffentlich-rechtlicher Natur handelt.18) Allerdings wird eine Delegation an einzelne Vorstandsmitglieder anerkannt.19) Die Qualifikation als Gesamtvorstandsaufgabe erlangt jedoch im Rahmen der (primären) Erfüllungspflichten Bedeutung, da das Finanzamt ungeachtet einer Delegation von jedem Vorstandsmitglied die Erfüllung der jeweiligen Verpflichtung verlangen kann; mithin kann jedes Vorstandsmitglied Adressat der steuerlichen Pflichten sein (Æ Rz. 6). ___________ 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19)

926

Vgl. Schwarz/Pahlke/Schwarz, § 34 AO Rz. 15; Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16. Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (551). So MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 37; Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 f. § 76 Abs. 1 AktG: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten.“ So Fleischer, NZG 2003, 449 (451) m. w. N; Fleischer, ZIP 2003, 1 (7). Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761; Hüffer/Koch, § 77 Rz. 15. Vgl. Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16. Vgl. Schwarz/Pahlke/Schwarz, § 34 AO Rz. 15; Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

b)

Formale Anforderungen

Rechtliche Anerkennung findet eine Geschäftsverteilung nur, wenn sie in for- 12 maler Hinsicht bestimmten Mindestanforderungen entspricht20) (zu den formalen Anforderungen einer Geschäftsverteilung Æ § 1 Rz. 63 ff.). Die steuerrechtliche Rechtsprechung stellt strenge Anforderungen an die Form- 13 erfordernisse einer internen Geschäftsverteilungsvereinbarung. Der BFH verlangt eine eindeutige und schriftliche Klarstellung der Ressortverteilung.21) Die interne Geschäftsverteilung muss eindeutig durch Gesellschaftsvertrag, Gesellschafterbeschluss, Geschäftsordnung oder sonst schriftlich geregelt sein, um Wirksamkeit zu entfalten.22) Eine wirksame interne Geschäftsverteilung bewirkt eine Begrenzung der Verantwortlichkeit von nicht zuständigen Vorstandsmitgliedern, da diese fortan lediglich Überwachungs- bzw. Aufsichtspflichten treffen. Fehlt es hingegen an einer klaren Geschäftsverteilung, tritt diese Begrenzung der Verantwortlichkeit nicht ein; jedes Vorstandsmitglied hat in diesem Fall die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft zu erfüllen.23) c)

Pflichten der Vorstandsmitglieder anlässlich der vorstandsinternen Geschäftsverteilung

Die Vorstandsmitglieder haben bei der Geschäftsführung die Sorgfalt eines or- 14 dentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG (ausführlich dazu Æ § 1 Rz. 226 ff.). Dieser von den Vorstandsmitgliedern in Erfüllung der ihnen jeweils obliegenden Pflichten anzuwendende Sorgfaltsmaßstab ist nachfolgend im Hinblick auf den steuerlichen Pflichtenkreis zu konkretisieren. aa)

Pflicht zur gehörigen Auswahlsorgfalt

Die Vorstandsmitglieder haben bei der internen Geschäftsverteilung eine gehö- 15 rige Auswahlsorgfalt walten zu lassen. Wird ein Vorstandsmitglied mit einem Arbeitsgebiet betraut, obwohl es erkennbar nicht die erforderlichen persönlichen oder fachlichen Voraussetzungen besitzt, um die betreffenden Aufgaben auszuführen, begründet dies eine Pflichtverletzung der Vorstandsmitglieder.24) Ein steuerlich vollkommen unbedarftes Vorstandsmitglied sollte deshalb nicht 16 mit der Erfüllung der steuerlichen Pflichten der AG betraut werden. Eine Qualifikation als Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer ist allerdings ___________ 20) Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (452 f.). 21) Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761; BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl II 1984, 776; BFH, Beschl. v. 4.3.1986 – VII S 33/85, BStBl II 1986, 384. 22) Vgl. Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16a. 23) Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761. 24) Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (453).

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§ 14 Steuerrecht

ebenfalls nicht notwendig. Es dürfte vielmehr ausreichen, wenn das Vorstandsmitglied über entsprechende fachliche Erfahrung (z. B. vergleichbare Geschäftsleitungspositionen, Leiter Steuern/Recht o. ä.) verfügt und die steuerlichen Pflichten des jeweiligen Unternehmens in der Vergangenheit ordnungsgemäß erfüllt hat, mithin vertrauenswürdig ist. bb)

Pflichten bei Übertragung von nicht delegierbaren Gesamtvorstandsaufgaben

17 Eine Übertragung von Aufgaben auf einzelne Vorstandsmitglieder, die zu den nicht delegierbaren Gesamtvorstandsaufgaben zählen, ist unwirksam (Æ Rz. 5 ff., 10). Die übrigen Vorstandsmitglieder werden nicht von ihrer Verantwortung befreit. Alle Vorstandsmitglieder haften vielmehr solidarisch, wenn sie Aufgaben aus der Hand geben, die zwingend dem Gesamtvorstand zugewiesen sind.25) cc)

Pflichten bei formloser Geschäftsverteilung

18 Fehlt es an einer klaren Geschäftsverteilungsvereinbarung, die die Ressortverteilung eindeutig und schriftlich klarstellt, hat jedes Vorstandsmitglied die (steuerlichen) Pflichten der Gesellschaft zu erfüllen (Æ Rz. 13).26) d)

Pflichten des zuständigen Vorstandsmitglieds bei wirksamer Geschäftsverteilung (sog. Ressortverantwortung)

19 Bei einer wirksamen Geschäftsverteilung hat das ressortzuständige Vorstandsmitglied folgende Pflichten zu erfüllen: aa)

Pflicht zur unmittelbar geschäftsführenden Tätigkeit

20 Bei Vorliegen einer wirksamen internen Geschäftsverteilungsvereinbarung trägt jedes Vorstandsmitglied die volle Handlungsverantwortung für sein ihm zugewiesenes Arbeitsgebiet (Ressortverantwortung).27) Das jeweils ressortverantwortliche Vorstandsmitglied hat in seinem jeweiligen Arbeitskreis (hier: Steuern) die Pflicht zur unmittelbar geschäftsführenden Tätigkeit.28) Die steuerlichen Pflichten treffen in erster Linie das zuständige Vorstandsmitglied (zur Verantwortung der anderen Vorstandsmitglieder Æ Rz. 23 ff.).29) ___________ 25) Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (453). 26) Im Bereich der nicht-steuerlichen Pflichten kann eine fehlende schriftliche Fixierung der Geschäftsverteilung als Indiz für eine mangelhafte Organisation der Vorstandsarbeit anzusehen sein; insoweit liegt die Beweislast gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG bei den Vorstandsmitgliedern. Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 77 Rz. 46. 27) Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 185; Fleischer, NZG 2003, 449 (452). 28) Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 170. 29) Vgl. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl II 1984, 776.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

In diesem durch die Ressortverantwortung abgrenzbaren Verantwortungsbe- 21 reich hat das zuständige Vorstandsmitglied bei einer Delegation von Aufgaben an nachgeordnete Unternehmensebenen (sog. vertikale Delegation, Æ Rz. 38 ff.) durch geeignete organisatorische Maßnahmen für ein rechtmäßiges Verhalten der nachgeordneten Mitarbeiter zu sorgen.30) bb)

Pflicht zur Unterrichtung

Das ressortzuständige Vorstandsmitglied hat die anderen Vorstandsmitglieder 22 zu unterrichten. Diese Pflicht zur Unterrichtung resultiert aus den allgemeinen Überwachungs- und Aufsichtspflichten, die den übrigen Vorstandsmitgliedern obliegen.31) Es muss sichergestellt werden, dass das jeweils ressortzuständige Vorstandsmitglied die übrigen Vorstandsmitglieder über die Angelegenheiten, vor allem über bedeutsame Entscheidungen, in seinem Zuständigkeitsbereich unterrichtet.32) Mit dieser Pflicht zur Unterrichtung korrespondiert ein entsprechender Informationsanspruch der übrigen Vorstandsmitglieder (Æ Rz. 29). Es ist sicherzustellen, dass das ressortzuständige Vorstandsmitglied seinen Pflichten, die gegenüber den nicht ressortzuständigen Vorstandsmitgliedern bestehen, nachkommen kann. e)

Pflichten der übrigen Vorstandsmitglieder bei wirksamer Geschäftsverteilung (sog. Restverantwortung)

Bei Vorliegen einer wirksamen Geschäftsverteilung bestehen nachfolgende 23 Sorgfaltspflichten für die übrigen Vorstandsmitglieder: aa)

Aufsichts- und Überwachungspflichten

Die Ressortverantwortung des zuständigen Vorstandsmitglieds führt nicht dazu, 24 dass die übrigen Vorstandsmitglieder von jeglicher Verantwortung befreit sind.33) Vielmehr wandelt sich die Pflicht zur unmittelbar geschäftsführenden Tätigkeit in eine Pflicht zur allgemeinen Aufsicht und Überwachung.34) Mithin bleiben die übrigen Vorstandsmitglieder verpflichtet, den Gang der Geschäfte über die Ressortgrenzen hinweg fortlaufend zu beobachten (Restverantwortung).35)

___________ Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Götz, AG 1995, 337 (338). Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203). Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203). Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 187. Vgl. MünchKommAktG/Spindler § 93 Rz. 187; Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Tipke/ Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16. 35) So Fleischer, NZG 2003, 449 (452). 30) 31) 32) 33) 34)

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§ 14 Steuerrecht

bb)

Reichweite der Aufsichts- und Überwachungspflichten

(1)

Grundsätze der laufenden Überwachung

25 Nach dem Grundsatz der Gesamtverantwortung tragen alle Vorstandsmitglieder auch bei einer wirksamen Geschäftsverteilung die Pflicht und die Verantwortung für die Geschäftsführung im Ganzen (Æ § 1 Rz. 91 ff.). Die Reichweite der Aufsichts- und Überwachungspflichten, die die nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder treffen, ist allerdings vom Einzelfall abhängig (Æ § 1 Rz. 104 ff.).36) Folgende Faktoren sollten hier grundsätzlich maßgebend sein:37) 

Größe und Gegenstand des Unternehmens;



Bedeutung der Geschäfte;



Art der übertragenen Aufgaben;



Risikoträchtigkeit einer Funktion oder eines Produkts;



Persönliche Befähigung des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds, seine Erfahrung und Bewährung auf dem jeweiligen Gebiet.

26 Die Intensität der Aufsicht und Überwachung des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds richtet sich nach der jeweiligen Gewichtung des vorerwähnten Faktors: Je mehr Gewicht einem der Faktoren zukommt, umso sorgfältiger hat die Aufsicht und Überwachung zu erfolgen. Die nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder dürfen dem ressortzuständigen Vorstandsmitglied kein blindes Vertrauen entgegenbringen.38) 27 Die Anforderungen an die laufende Überwachung durch die Vorstandsmitglieder dürfen allerdings auch nicht überspannt werden. Eine kontinuierliche Verfolgung der Aktivitäten und Vorkommnisse in den Sitzungen des Gesamtvorstands wird – vorbehaltlich etwaiger Interventions- (Æ Rz. 30 f.) oder gesteigerter Überwachungspflichten (Æ Rz. 32 ff.) – als ausreichend angesehen.39) 28 Die Berichterstattung der Vorstandskollegen darf keine wesentlichen Bereiche aussparen.40) Etwaige Lücken sind durch Nachfragen zu schließen. Nicht geboten ist allerdings eine umfassende Überwachungspflicht hinsichtlich jeder einzelnen Handlung eines Vorstandskollegen, da ein vernünftiges Miteinander in einem Kollegialorgan ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen voraussetzt.41) Fehlentwicklungen in einem Nachbarressort, die auch bei sorgfältiger und kritischer

___________ 36) 37) 38) 39) 40) 41)

930

Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 190. Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 190; Fleischer, NZG 2003, 449 (453 f.). Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (454). Vgl. Hüffer/Koch, § 77 Rz. 15; Fleischer, NZG 2003, 449 (455) m. w. N. Vgl. Götz, AG 1995, 337 (339). Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (455).

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

Begleitung der gesamten Geschäftsführung nicht erkennbar waren, stellen jedenfalls keine Pflichtverletzung der übrigen Vorstandsmitglieder dar.42) (2)

Einrichtung eines vorstandsinternen Überwachungssystems – Informationsanspruch43)

Sämtlichen nicht zuständigen Vorstandsmitgliedern steht zur Wahrnehmung 29 der Aufsichts- und Überwachungspflichten – korrespondierend zur Unterrichtungspflicht des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds – ein Informationsanspruch zu.44) Ein vorstandsinternes Überwachungssystem trägt der Informationsverantwortung als nicht delegierbarer Gesamtvorstandsaufgabe (Æ Rz. 10) Rechnung und stellt den Informationsfluss zwischen dem ressortzuständigen Vorstandsmitglied und den übrigen Vorstandsmitgliedern sicher (Æ § 1 Rz. 97). Es besteht allerdings keine generelle Pflicht, die anderen Vorstandsmitglieder ständig aktiv durch Einholung von Informationen und Erkundigungen, z. B. durch ein Management-Informationssystem, zu überwachen.45) (3)

Interventionspflicht bei Verdachtsmomenten46)

Bei konkreten Anhaltspunkten für eine sorgfaltswidrige bzw. nicht rechtmäßi- 30 ge Geschäftsführung durch ein anderes Vorstandsmitglied besteht für die übrigen Vorstandsmitglieder die Pflicht zum unverzüglichen Einschreiten.47) Bei Hinweisen auf Fehlentwicklungen oder Unregelmäßigkeiten in einem fremden Ressort ist dem – ungeachtet dessen, woher die Informationen stammen – unverzüglich nachzugehen. Die pflichtgemäße Neugier beginnt also spätestens dort, wo greifbare Anhaltspunkte für eine pflichtwidrige Amtsführung eines Vorstandskollegen vorliegen.48) Gegebenenfalls muss sich das Vorstandsmitglied durch Befragen von Vorstandskollegen oder Mitarbeitern oder durch stichprobenartige Kontrollen Gewissheit verschaffen und – falls sich der Verdacht bestätigt – Maßnahmen zur Beendigung des Missstandes ergreifen.49) Über die fragliche Angelegenheit ist der Gesamtvorstand zu informieren, so- 31 dass eine neue gemeinsame Willensbildung beginnen kann. Der Gesamtvorstand ___________ 42) Vgl. OLG Köln, Urt. v. 31.8.200 – 18 U 42/00, NZG 2001, 135; Fleischer, NZG 2003, 449 (455). 43) In Anlehnung an Fleischer, NZG 2003, 449 (454 ff.). 44) Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (452); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203); MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 198. 45) Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 198; Fleischer, NZG 2003, 449 (452). 46) In Anlehnung an Fleischer, NZG 2003, 449 (454 ff.). 47) Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203). 48) Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761; Fleischer, NZG 2003, 449 (454). 49) Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (454); BGH, Urt. v. 20.3.1986 – II ZR 114/85, ZIP 1987, 1050.

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§ 14 Steuerrecht

hat sodann für das betroffene Vorstandsmitglied eine verbindliche Kollegialentscheidung zu treffen, die auch darin bestehen kann, dass der Gesamtvorstand sich dem Standpunkt des intervenierenden Vorstandsmitgliedes nicht anschließt (Æ § 1 Rz. 149 ff.).50) (4)

Gesteigerte Überwachungspflichten51)

32 In bestimmten Situationen können gesteigerte Überwachungspflichten erforderlich sein. Dies gilt vor allem in finanziellen Krisenzeiten, in denen es zu Unregelmäßigkeiten in der Erklärung der Steuern oder der Erfüllung der Steuerschulden kommen kann.52) 33 Gesteigerte Überwachungspflichten bestehen auch, wenn es um Gesamtvorstandsaufgaben geht, die zulässigerweise einem Vorstandsmitglied übertragen werden.53) Da es sich bei den steuerlichen Pflichten als öffentlich-rechtliche Pflichten grundsätzlich um delegationsfähige Gesamtvorstandsaufgaben handelt, ist insoweit von einer gesteigerten Überwachungspflicht auszugehen. Zudem kann nach der Rechtsprechung in sonstigen „Ausnahmesituationen“ von gesteigerten Überwachungspflichten auszugehen sein.54) Eine Ausnahmesituation kann z. B. die Abgabe von Steuererklärungen bei eingeleiteten Steuerstrafverfahren gegen das zuständige Vorstandsmitglied sein. Ferner können mögliche Interessenkollisionen und verdeckte Gewinnverlagerungen Anlass zu einer erhöhten Kontrolle geben.55) 34 Schließlich wird in der Literatur diskutiert, ob den Vorstandsvorsitzenden eine gesteigerte Pflicht zur Überwachung der gesamten Unternehmensleitung trifft. Nach einer Ansicht soll dies der Fall sein, da die Gesamtüberwachung der Unternehmensleitung für den Vorstandsvorsitzenden zur Primärpflicht gesteigert ___________ 50) So Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2203); zu Handlungsempfehlungen und Folgen für ein in diesem Rahmen überstimmtes Vorstandsmitglied vgl. zudem MünchKommAktG/ Spindler, § 93 Rz. 30 sowie Fleischer/Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, § 11 Rz. 41 ff. 51) In Anlehnung an Fleischer, NZG 2003, 449 (454 ff.). 52) Vgl. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl II 1984, 776; BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370 (379); BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, BGH DStR 2001, 633, 634. 53) Vgl. BGH, Urt. v. 26.6.1995 – II ZR 109/94, NJW 1995, 2850 (2851) zur Buchführung, wonach die übrigen Geschäftsführer für eine sachgerechte Auswahl des zuständigen Geschäftsführers zu sorgen haben und ihn vor allem kontinuierlich und angemessen zu überwachen haben. 54) Vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (124), zum Rückruf gesundheitsgefährdender Produkte. 55) Vgl. BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 61/92, NJW 1994, 2149 (2150) zur Verlagerung der finanztechnischen Abwicklung in das Büro einer vom Mehrheitsgesellschafter und Mitgeschäftsführer (GmbH) beherrschten Auslandstochter.

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sei und den Schwerpunkt seines Amtes bilde.56) Dem Vorstandsvorsitzenden obliege die besondere Amtspflicht zur vorstandsinternen Koordination und Überwachung über die allen Vorstandsmitgliedern obliegende allgemeine Überwachungspflicht hinaus.57) Unseres Erachtens erschöpft sich die Rolle des Vorstandsvorsitzenden mangels umfassender Beschreibung seiner Rechtsstellung im Aktiengesetz in der Koordination der Vorstandsarbeit und der Sitzungsleitung. Darüberhinausgehende Sonderrechte und -pflichten, wie etwa eine gesteigerte Überwachungspflicht hinsichtlich der übrigen Vorstandsmitglieder, stehen ihm nicht zu.58) f)

Bedeutung einer wirksamen Geschäftsverteilung für steuerliche Pflichten

Hat der Gesellschaftsvertrag oder ein förmlicher Beschluss der Gesellschafter 35 die Wahrnehmung der steuerlichen Belange der Gesellschaft einem von mehreren Geschäftsführern zugewiesen (§ 37 Abs. 1 GmbHG) oder ist dies kraft Zulassung in dem Gesellschaftsvertrag oder durch Beschluss der Gesellschafter in einer Geschäftsordnung des Vorstands festgelegt (vgl. § 77 Abs. 2 AktG), treffen die steuerlichen Pflichten in erster Linie diesen Geschäftsführer bzw. das entsprechende Vorstandsmitglied. Die Verantwortung der anderen Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder wird dadurch aber nicht gänzlich aufgehoben (vgl. § 37 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 2 AktG). Vielmehr tritt der Umfang ihrer Pflichten nur insoweit und so lange zurück, wie für sie unter den Maßstäben der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes bzw. eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) kein Anlass für die Annahme besteht, die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft würden nicht exakt erfüllt. Die Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer wird spätestens dann wirksam, wenn die laufende Erfüllung aller Verbindlichkeiten nicht mehr gewährleistet ist und infolgedessen Unregelmäßigkeiten in der Erklärung der Steuern oder der Erfüllung der Steuerschulden drohen, oder wenn die Person des für die steuerlichen Belange primär zuständigen Geschäftsführers bzw. Vorstandsmitglieds diese Besorgnis rechtfertigt.59) Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, ein vorstandsinternes Informations- 36 system zu etablieren, welches den Informationsfluss zwischen den Vorstandsmitgliedern sicherstellt, sodass die nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder ihrer Aufsichts- und Überwachungspflicht gegenüber dem ressortzuständigen Vorstandsmitglied nachkommen können, und umgekehrt das ressortzu___________ 56) Vgl. Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (670 ff.); Wellhöfer in: Wellhöfer/Peltzer/Müller, Haftung von Vorstand, Aufsichtsrat und Wirtschaftsprüfer, § 4 Rz. 70. 57) So MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 125. 58) Vgl. Fleischer, NZG 2003, 449 (455); Hein, ZHR 166 (2002), 464, (488 ff.). 59) Vgl. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BStBl II 1984, 776.

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§ 14 Steuerrecht

ständige Vorstandsmitglied seiner Unterrichtungspflicht (Æ Rz. 22). Die Etablierung eines Systems regelmäßiger Berichterstattung sollte gewährleisten, dass sich die nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder jederzeit über die steuerlichen Themen und Fragestellungen informieren und bei Vorliegen von Verdachtsmomenten intervenieren können. Hierzu sind entsprechende Zuständigkeitsregelungen und Prozesse zu etablieren, die diesen Anforderungen gerecht werden. 37 Eine ausdrückliche (schriftliche oder protokollierte) Zustimmung der nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder zur Abgabe einer Steuererklärung der AG sollte grundsätzlich nicht erforderlich sein. Anders ist dies, wenn die Entscheidungsbefugnis für die Abgabe der betreffenden Steuererklärung dem Gesamtvorstand obliegt. 3.

Vertikale Delegation – Pflichten der Vorstandsmitglieder bei Delegation auf die Steuerabteilung

a)

Überblick

38 Die Delegation von Aufgaben des Vorstands auf nachgeordnete Unternehmensebenen (sog. vertikale Delegation) ist vor dem Hintergrund anerkannt, dass der Vorstand als Leitungsorgan weder tatsächlich in der Lage noch rechtlich verpflichtet ist, alle Aufgaben der AG selbst zu erfüllen.60) Bei der vertikalen Delegation ist zu unterscheiden zwischen einer Delegation auf Mitarbeiter (sog. unternehmensinterne Delegation) und der Delegation auf unternehmensfremde Dritte (sog. unternehmensexterne Delegation/Outsourcing).61) 39 Allerdings können Aufgaben, die als Gesamtvorstandsaufgaben nicht horizontal delegierbar sind, auch nicht Gegenstand einer vertikalen Delegation sein.62) Da es sich bei den steuerlichen Pflichten aber als öffentlich-rechtliche Pflichten grundsätzlich um delegierbare Gesamtvorstandsaufgaben handelt, sind diese Pflichten grundsätzlich auch vertikal delegierbar. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann im Einzelfall vorliegen, wenn die Steuererklärung für die AG von besonderer Bedeutung ist oder ein außergewöhnliches Risiko darstellt. 40 Bei vertikaler Delegation ist der Umfang der (Überwachungs-)Pflichten der einzelnen Vorstandsmitglieder – getrennt nach ressortzuständigem Vorstandsmitglied und übrigen Vorstandsmitgliedern – zu bestimmen.

___________ 60) Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). 61) Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). 62) Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205).

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

b)

Pflichten des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds

Mit vertikaler Delegation auf die Mitarbeiter der Steuerabteilung verwandelt sich 41 die dargestellte Pflicht zur unmittelbar geschäftsführenden Tätigkeit des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds (Æ Rz. 20) in eine Auswahlsorgfalts-, Einweisungssorgfalts- (auch Instruktionssorgfalts-) und Überwachungssorgfaltspflicht.63) Diesen Pflichten vorgelagert ist allerdings die Pflicht, die erforderliche personelle und sachliche Ausstattung aufzubauen und auf Dauer zu gewährleisten. Bezüglich der Mitarbeiter der Steuerabteilung, die z. B. für die Erstellung der 42 Steuererklärungen zuständig sind, sind die dargestellten Grundsätze auf jeder Ebene zu berücksichtigen. Das ressortzuständige Vorstandsmitglied darf insoweit grundsätzlich auf die ihm von der letzten Organisationsebene mitgeteilten Informationen vertrauen. Die dem ressortzuständigen Vorstandsmitglied obliegenden Auswahl-, Einweisungs- und Überwachungssorgfaltspflichten machen es dabei nicht erforderlich, die jeweils abzugebenden elektronischen Steuererklärungen schriftlich freizugeben. Die schriftliche Freigabe empfiehlt sich jedoch, da so zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht wird, dass sich das ressortzuständige Vorstandsmitglied der insoweit bestehenden Handlungsverantwortung bewusst ist und dies auf diese Weise – auch zum Schutz der weisungsgebundenen Mitarbeiter – dokumentiert wird. Die gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG bestehenden Sorgfaltspflichten haben 43 nachfolgenden Umfang: aa)

Auswahlsorgfalt

Die Auswahlsorgfalt kommt bei der erstmaligen Übertragung neuer Aufgaben 44 an Unternehmensangehörige zum Tragen.64) Die betreffenden Mitarbeiter sind sorgfältig auszuwählen. Sie müssen die erforderlichen persönlichen und fachlichen Qualifikationen besitzen, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen zu können.65) Zudem erscheint es empfehlenswert, Informationen über Vorstrafen einzuholen, die im Zusammenhang mit der auszuübenden Tätigkeit stehen. Allgemein gilt, dass die Sorgfaltspflichten umso höher sind, je mehr Verantwortung auf den Mitarbeiter übertragen wird.66)

___________ 63) Vgl. BFH, Beschl. v. 26.11.2008 – V B 210/07, BFH/NV 2009, 362; Fleischer, AG 2003, 291 (293); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). 64) Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (293). 65) Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (293); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). 66) Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (293).

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§ 14 Steuerrecht

bb)

Einweisungssorgfalt

45 Die Einweisungssorgfalt verpflichtet den Geschäftsleiter, die betreffenden Mitarbeiter in ihren Verantwortungsbereich einzuweisen und ihnen die übertragenen Aufgaben zu erläutern. Ihnen muss mitgeteilt werden, an wen sie berichten müssen (reporting lines) und wie die unternehmensinterne Aufbau- und Ablauforganisation erfolgt. In einem dynamischen Unternehmensumfeld wird sich die Einweisungssorgfalt zu einer ständigen Schulungs- und Fortbildungspflicht wandeln, was gerade im Rahmen der Steuererklärungspflichten im Hinblick auf Rechtsänderungen im Steuerrecht von besonderer Relevanz ist.67) Im Übrigen gilt im Hinblick auf die Qualifikation der betreffenden Mitarbeiter, dass die Einweisungspflicht umso geringer ist, je qualifizierter der Mitarbeiter ist.68) cc)

Überwachung

46 Das ressortzuständige Vorstandsmitglied hat die mit den delegierten Aufgaben betrauten Mitarbeiter laufend dahingehend zu überwachen, dass diese den ihnen übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß nachkommen.69) Im Grundsatz gelten für die Reichweite der Überwachungspflichten die oben im Bereich der horizontalen Delegation für die nicht ressortzuständigen Vorstandsmitglieder dargestellten Grundsätze (Æ Rz. 25 ff.). (1)

Grundsätze der laufenden Überwachung

47 Die Reichweite der laufenden Überwachung ist eine Frage des Einzelfalls. Bei der Beurteilung der Überwachungsintensität sind folgende Faktoren zu berücksichtigen:70) 

Größe und Gegenstand des Unternehmens;



Bedeutung der übertragenen Aufgabe;



Umstände in der Person des jeweiligen Mitarbeiters.

48 Die Intensität der Überwachung richtet sich nach der jeweiligen Relevanz der vorerwähnten Faktoren. Bei großen Unternehmen wird ein Berichtssystem zu etablieren sein, das sich über mehrere Unternehmensebenen erstreckt und schließlich bei dem ressortzuständigen Vorstandsmitglied mündet (Æ Rz. 19 ff.). Im Hinblick auf die Person des Mitarbeiters dürfte es insbesondere auf dessen Unternehmenszugehörigkeit sowie seine Qualifikation ankommen: Je länger eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Unternehmen besteht und je qualifi___________ 67) 68) 69) 70)

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Vgl. zur Einweisungssorgfalt: Fleischer, AG 2003, 291 (293). Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (293). Vgl. Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (293).

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

zierter der betreffende Mitarbeiter ist, umso geringere Anforderungen dürften an die Überwachungsintensität zu stellen sein und umgekehrt.71) Um der Verpflichtung zur laufenden Kontrolle nachzukommen, dürften Kon- 49 trollen in Gestalt stichprobenartiger Prüfungen erforderlich und regelmäßig auch ausreichend sein.72) Allerdings kann es im Einzelfall geboten sein, überraschend umfassendere Geschäftsprüfungen durchzuführen. Grenzen findet die Überwachungspflicht jedenfalls dann, wenn sie die Würde der Unternehmensangehörigen missachtet oder das Betriebsklima durch überzogene und von zu starkem Misstrauen geprägte Aufsichtsmaßnahmen gefährdet wird.73) Überwachungsmaßnahmen können je nach Größe und Organisationsform des 50 Unternehmens auf mehreren Ebenen erforderlich sein. In diesem Fall ergeben sich auf den einzelnen Ebenen inhaltlich unterschiedliche Leitungs-, Organisations- und Überwachungspflichten. Die „Oberaufsicht“ verbleibt indes beim Vorstand.74) Um seiner Verpflichtung zur laufenden Kontrolle nachzukommen, sollte das 51 ressortzuständige Vorstandsmitglied dafür sorgen, dass die Arbeiten an der Steuererklärung durch Einrichtung eines sog. „Mehraugenprinzips“ von mehreren Organisationsebenen kontrolliert werden (Æ Rz. 38). Dies kann stichprobenartig erfolgen, z. B. indem eine konkret abzugebende Steuererklärung als Gegenstand der Kontrolle vom ressortzuständigen Vorstandsmitglied bestimmt wird. (2)

Organisationspflichten75)

Das Unternehmen ist so zu organisieren, dass Pflichtverletzungen und Schädi- 52 gungen Dritter weitestgehend vermieden werden. Die erforderliche personelle und sachliche Ausstattung ist zu schaffen und zu gewährleisten sowie Organisations- und Dienstanweisungen zu erlassen und die Verantwortlichkeiten unter den Mitarbeitern präzise festzulegen. Das ressortzuständige Vorstandsmitglied muss aufgrund seiner vollen Hand- 53 lungsverantwortung für das ihm zugewiesene Gebiet und die damit einhergehende Organisationspflicht sicherstellen, dass die für die Erstellung der Steuererklärungen zuständigen Mitarbeiter über sämtliche relevanten Informationen verfügen, um eine ordnungsgemäße Steuererklärung erstellen zu können. Eine Unterrichtung ist folglich nicht nur von „unten nach oben“, sondern auch von „oben nach unten“ vorzusehen (Æ Rz. 41). ___________ 71) 72) 73) 74) 75)

So Fleischer, AG 2003, 291 (293). Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (294); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205). Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (294) m. w. N. So Fleischer, AG 2003, 291 (295). Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (294); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205).

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§ 14 Steuerrecht

(3)

Interventionspflicht bei Verdachtsmomenten76)

54 Bei Vorliegen von Verdachtsmomenten im Hinblick auf Gesetzesverletzungen oder Unregelmäßigkeiten von Unternehmensangehörigen ist der Vorstand verpflichtet, einzuschreiten und dem unverzüglich nachzugehen. Im Übrigen gelten obige Ausführungen zur horizontalen Delegation entsprechend (Æ Rz. 30 f.). (4)

Gesteigerte Überwachungspflichten77)

55 Gesteigerte Überwachungspflichten gelten stets dann, wenn es in einem Unternehmen in der Vergangenheit zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. 56 Darüber hinaus ergeben sich insbesondere in finanziellen Krisensituationen gesteigerte Überwachungspflichten. c)

Pflichten der übrigen Vorstandsmitglieder

57 Für die übrigen, nicht ressortzuständigen, Vorstandsmitglieder bleibt es bei den oben dargestellten Aufsichts- und Überwachungspflichten gegenüber dem ressortzuständigen Vorstandsmitglied (Æ Rz. 23 ff.). II.

Mitwirkungspflichten gemäß § 90 AO

1.

Allgemeine Mitwirkungspflichten gemäß § 90 Abs. 1 AO

58 Das ressortzuständige Vorstandsmitglied bzw. die im Rahmen der zulässigen vertikalen Delegation betrauten Mitarbeiter der Steuerabteilung (Æ Rz. 38 ff.) sind zur Mitwirkung bei der Ermittlung der durch die AG verwirklichten Sachverhalte verpflichtet. Sie haben dafür Sorge zu tragen, dass die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offengelegt und die bekannten Beweismittel dem Finanzamt bekannt gegeben werden. 2.

Erweiterte Mitwirkungspflichten bei Auslandssachverhalten gemäß § 90 Abs. 2 AO

59 Bei Sachverhalten, die sich auf Vorgänge außerhalb Deutschlands beziehen (sog. Auslandssachverhalte), ist der Sachverhalt gemäß § 90 Abs. 2 AO aufzuklären und sind die erforderlichen Beweismittel zu beschaffen. Es sind alle bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Der Vorstand kann sich allerdings nicht darauf berufen, dass er Sachverhalte nicht aufklären oder Beweismittel nicht beschaffen kann, wenn er sich nach Lage des Falls bei der Gestaltung des Sachverhalts die Möglichkeit hätte beschaffen oder

___________ 76) Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (294). 77) Vgl. Fleischer, AG 2003, 291 (295).

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einräumen lassen können (§ 90 Abs. 2 Satz 3 AO). Er hat schon bei der Gestaltung der Verhältnisse Beweisvorsorge zu treffen.78) Kommt der Vorstand seiner Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO nicht 60 nach und ist der Sachverhalt nicht anderweitig aufklärbar, so kann die Finanzbehörde zum Nachteil der AG von einem Sachverhalt ausgehen, für den unter Berücksichtigung der erbrachten Beweise und der Verantwortung des Vorstands für die Aufklärung des Sachverhalts eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht.79) Für den Fall, dass die fehlenden Tatsachen und Beweismittel nur durch die AG selbst erbracht werden können bzw. aus dem Verantwortungsbereich des Vorstands stammen, können aus einer Pflichtverletzung für die AG nachteilige Schlussfolgerungen durch die Finanzbehörden gezogen werden.80) Eine Mitwirkungspflicht besteht allerdings nur, soweit diese zur Sachaufklärung geeignet, notwendig, erfüllbar, verhältnismäßig und zumutbar ist.81) 3.

Dokumentationspflichten bei Geschäftsbeziehungen mit nahestehenden Unternehmen mit Auslandsbezug gemäß § 90 Abs. 3 AO

a)

Überblick

Das ressortzuständige Vorstandsmitglied bzw. die im Rahmen der zulässigen 61 vertikalen Delegation betrauten Mitarbeiter der Steuerabteilung (Æ Rz. 38 ff.) sind darüber hinaus verpflichtet, über die Art und den Inhalt der Geschäftsbeziehungen der AG mit nahestehenden ausländischen Unternehmen bzw. der Geschäftsvorfälle mit ausländischen Betriebsstätten der AG Aufzeichnungen zu erstellen (sog. Verrechnungspreisdokumentation). Nahestehend in diesem Sinne sind insbesondere Unternehmen, an denen die AG zu einem Viertel unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist („wesentlich beteiligt“) oder auf die die AG unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann.82) Die Aufzeichnungen müssen das ernsthafte Bemühen belegen, die Geschäftsbeziehungen unter Beachtung des Fremdvergleichsgrundsatzes zu gestalten (§ 2 Abs. 1 Satz 3 GAufzV).83) Die Aufzeichnungen sind regelmäßig nur für die Durchführung einer Außen- 62 prüfung zu verlangen (§ 90 Abs. 3 Satz 5 AO) und auf Anforderung durch die Finanzbehörde grundsätzlich innerhalb von 60 Tagen vorzulegen (§ 90 Abs. 3 ___________ 78) Vgl. BFH, Beschl. v. 18.2.2008 – II B 109/06, BFH/NV 2008, 1163; BFH, Beschl. v. 19.2.2009 – II B 120/08, BFH/NV 2009, 965; Tipke/Kruse/Seer, § 90 AO Rz. 26. 79) Vgl. BFH, Urt. v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl II 1989, 462; Klein/Rätke, AO, § 90 Rz. 31. 80) Vgl. Verwaltungsgrundsätze 2020, BMF-Schreiben v. 3.12.2020, BStBl I 2020, 1325 Rz. 23; BFH, Beschl. v. 17.3.1997 – I B 123/95, BFH/NV 1997, 730. 81) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 90 AO Rz. 13 m. w. N. 82) Nahestehende Unternehmen sind in § 1 Abs. 2 AStG definiert. 83) Vgl. Verwaltungsgrundsätze-Verfahren, BMF-Schreiben v. 12.4.2005, BStBl I 2005, 570, Rz. 3.4.12.3.

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§ 14 Steuerrecht

Satz 7 AO). Ab dem 1. Januar 2025 kann die Finanzbehörde die Vorlagen jederzeit verlangen. Die Vorlagefrist verkürzt sich auf 30 Tage (§ 90 Abs. 4 AO). Außergewöhnliche Geschäftsvorfälle, wie z. B. der Abschluss oder die Änderung signifikanter langfristiger Verträge, Vermögensübertragungen im Zuge von Umstrukturierungen, Funktionsverlagerungen, sind spätestens sechs Monate nach Ablauf des Wirtschaftsjahres zu dokumentieren, in dem sich der Geschäftsvorfall ereignet hat (§ 3 GAufzV). Die entsprechenden Aufzeichnungen sind innerhalb von 30 Tagen nach Anforderung durch die Finanzbehörde vorzulegen (§ 90 Abs. 3 Satz 8 AO). Die Verrechnungspreisdokumentation ist grundsätzlich in deutscher Sprache zu erstellen. In berechtigten Ausnahmefällen kann die Finanzbehörde auf Antrag auch eine Dokumentation z. B. in englischer Sprache akzeptieren.84) 63 Eine Verrechnungspreisdokumentation besteht typischerweise aus einer Stammdokumentation (Æ Rz. 64 f.) und einer landesspezifischen, unternehmensbezogenen Dokumentation (Æ Rz. 66 ff.). Zum länderbezogenen Bericht (sog. „Country-by-Country-Report“ – „CbCR“) (Æ Rz. 84 ff.). b)

Stammdokumentation

64 Aktiengesellschaften sind als gewerbliche Unternehmen verpflichtet, eine Stammdokumentation (sog. Master File, § 90 Abs. 3 AO i. V. m. § 5 GAufzV) über das Unternehmen zu erstellen, falls sie einer multinationalen Unternehmensgruppe angehören und einen Vorjahresumsatz von mindestens 100 Mio. € erzielt haben. Die Stammdokumentation soll einen Überblick über die Art der weltweiten Geschäftstätigkeit der Unternehmensgruppe und über die von ihr angewandte Systematik der Verrechnungspreisbestimmung geben (§ 90 Abs. 3 Satz 3 AO). Darzustellen sind: 

der Organisationsaufbau (Rechts- und Eigentumsstruktur) und die geografische Verteilung der Gesellschaften und Betriebsstätten,



die Geschäftstätigkeit,



die Gesamtstrategie für die Nutzung von immateriellen Werten in der Wertschöpfungskette, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung, des Eigentums und der Verwertung, sowie



die Art und Weise der Finanzierung.

65 Eine multinationale Gruppe in diesem Sinne besteht aus mindestens zwei in verschiedenen Staaten ansässigen Gesellschaften oder aus einer Gesellschaft, die über mindestens eine Betriebsstätte in einem anderen Staat tätig wird (§ 90 Abs. 3 Satz 4 AO). ___________ 84) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 90 AO Rz. 52 ff.

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c)

Landesspezifische und unternehmensbezogene Dokumentation

Die landesspezifische und unternehmensbezogene Dokumentation (sog. Local 66 File, § 90 Abs. 3 AO i. V. m. § 4 GAufzV) soll in eine Sachverhaltsdokumentation und eine Angemessenheitsdokumentation unterteilt werden. Im Rahmen der Sachverhaltsdokumentation hat der Steuerpflichtige insbeson- 67 dere Aufzeichnungen über Art, Inhalt und Umfang der Geschäftsvorfälle zu nahestehenden Personen zu erstellen. Neben der deskriptiven Darstellung sind zudem eine Funktions- und Risikoanalyse durchzuführen, die Wertschöpfungskette zu beschreiben und die Wertschöpfungsbeiträge darzustellen. Im Rahmen der Angemessenheitsdokumentation sind neben den vereinbarten Ver- 68 rechnungspreisen und Bedingungen sowie deren wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlagen auch der Zeitpunkt der Verrechnungspreisbestimmung, die Auswahl und Anwendung der verwendeten Verrechnungspreismethoden und die dabei verwendeten Fremdvergleichsdaten zu dokumentieren (§ 90 Abs. 3 Satz 2 AO). d)

Sanktionen

Genügen die Aufzeichnungen den gesetzlichen Anforderungen nicht oder 69 kommt der Vorstand als gesetzlicher Vertreter der AG seiner Mitwirkungsund Aufzeichnungspflicht nicht nach, kann die Finanzbehörde von der sog. erweiterten Schätzbefugnis nach § 162 Abs. 3 AO zulasten des Steuerpflichtigen Gebrauch machen. Die Finanzverwaltung ist dann z. B. berechtigt, Korrekturbandbreiten zu Lasten der AG auszunutzen und insoweit höhere inländische Steuern festzusetzen. Darüber hinaus drohen Strafzuschläge in Höhe von mindestens 5 % und 70 höchstens 10 % des von der Finanzbehörde ermittelten Mehrbetrags der Einkünfte (§ 162 Abs. 4 Satz 2 AO). Der in § 162 Abs. 4 Satz 1 AO genannte Betrag von 5.000 € ist in Wirklichkeit ein absoluter Mindestbetrag.85) Bei verspäteter Vorlage von verwertbaren Aufzeichnungen beträgt der Zuschlag bis zu 1.000.000 €, mindestens jedoch 100 € für jeden vollen Tag der Fristüberschreitung (§ 162 Abs. 4 Satz 4 AO). III.

Mitwirkungs- und Dokumentationspflichten bei Geschäftsvorgängen mit Bezug zu Steueroasen – § 12 StAbwG

Mit Wirkung zum 1.1.2022 bzw. 1.1.202386) können den Steuerpflichtigen – 71 über § 90 AO hinaus – gesteigerte Mitwirkungspflichten treffen. Nach diesen ___________ 85) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 162 AO Rz. 75. 86) Der Zeitpunkt der ersten Anwendung ist davon abhängig, ob das entsprechende Steuerhoheitsgebiet im Vorjahr in der gemäß § 3 Abs. 2 StAbwG vorgesehenen Verordnung als nicht kooperatives Steuerhoheitsgebiet geführt worden ist und im betreffenden Kalenderjahr noch geführt wird; Besonderheiten gelten wenn der Steuerpflichtige über ein abweichendes Wirtschaftsjahr verfügt (§ 3, 13 StAbwG).

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hat er im Falle von Geschäftsbeziehungen oder Beteiligungsverhältnissen in oder mit Bezug zu einem sog. nicht kooperativen Steuerhoheitsgebiet i. S. d. § 2 Abs. 1 StAbwG („Steueroase“) eine Reihe von umfangreichen, wenn nicht ausufernden87) Aufzeichnungen binnen Jahresfrist nach Ablauf des betreffenden Kalender- bzw. Wirtschaftsjahres zu erstellen und diese unaufgefordert der örtlich zuständigen Finanzbehörde sowie ggf. dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) zu übermitteln (§ 12 Abs. 2 StAbwG).88) 72 Kommt der Steuerpflichtige diesen Pflichten nicht nach, wird widerlegbar vermutet, dass seine in Deutschland steuerpflichtigen Einkünfte im Zusammenhang mit nicht kooperativen Steuerhoheitsgebieten nicht in ausreichendem Maße erklärt wurden (§ 162 Abs. 2 Satz 3 AO) und insofern geschätzt werden können.89) Dies gilt sowohl für unbeschränkt wie auch beschränkt Steuerpflichtige. Nach § 162 Abs. 4a AO ist in diesem Fall zusätzlich ein Zuschlag von ebenfalls mindestens 5.000 € festzusetzen. Das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters wird dem Steuerpflichtigen zugerechnet (§ 162 Abs. 4a Satz 3 AO). Außerdem kann ein solcher Verstoß eine Außenprüfung begründen (§ 193 Abs. 2 Nr. 3 AO). IV.

Auskunftspflicht gemäß § 93 AO

73 Der Vorstand hat als gesetzlicher Vertreter der AG die Auskunftspflicht gemäß § 93 AO gegenüber der Finanzbehörde zu erfüllen. Er hat die Auskünfte, die zur Feststellung eines für die Besteuerung der AG erheblichen Sachverhalts erforderlich sind, zu erteilen. Er hat sein Wissen über steuererhebliche Tatsachen mitzuteilen. Vermutungen und Werturteile zählen nicht dazu; Rechtsauffassungen nur, wenn das Gesetz es ausdrücklich vorsieht.90) Auskunftsersuchen „ins Blaue hinein“ sind unzulässig und müssen nicht erfüllt werden.91) 74 Die Auskünfte sind wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu erteilen. Die Finanzbehörde kann den Vorstand auffordern, die Wahrheit zu beeiden (§ 94 AO) oder an Eides statt zu versichern (§ 95 AO).92) Kann sich der Vorstand nicht mehr erinnern, hat er Bücher, Aufzeichnungen, Geschäftspapiere und andere Urkunden, die ihm zur Verfügung stehen, einzusehen. Soweit zur Erfüllung der Auskunftspflicht nötig, hat er Aufzeichnungen aus den eingesehenen Unterlagen zu entnehmen. Die Auskunft kann zwar grundsätzlich ___________ 87) Vgl. Werthebach, IStR 2021, 338 (343) zum Regierungsentwurf v. 15.2.2021. 88) Zu den weiteren (Abwehr-)Maßnahmen und Vorschriften des StAbwG vgl. Benz/Böhmer, DB 2021, 1630. 89) Vgl. BeckOK AO/Matthes, § 162 Rz. 150 ff. 90) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 93 AO Rz. 6. 91) Vgl. BFH, Urt. v. 23.10.1990 – VIII R 1/86, BStBl II 1991, 277. 92) Vgl. Koenig/Haselmann, AO, § 93 Rz. 4.

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mündlich oder fernmündlich erteilt werden, allerdings ist es empfehlenswert, die Auskunft schriftlich oder elektronisch zu geben. Dem Auskunftsersuchen muss nur nachgekommen werden, wenn es geeignet, 75 erforderlich, verhältnismäßig, erfüllbar und zumutbar ist.93) Ein berechtigtes Auskunftsersuchen kann nach §§ 328 ff. AO erzwungen werden. Daneben besteht für die Finanzbehörde die Möglichkeit, ein Verzögerungsgeld von 2.500 € bis 250.000 € festzusetzen, sofern die jeweiligen weiteren Tatbestandsvoraussetzungen ebenfalls erfüllt sind (§ 146 Abs. 2c AO). Das Unterlassen einer Auskunft kann, wie auch eine falsche Auskunft, den Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) oder bei Vorsatz der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) erfüllen. V.

Anzeigepflichten gemäß §§ 137 bis 139 AO

1.

Steuerliche Erfassung der AG – § 137 AO

Dem nach § 20 AO örtlich zuständigen Finanzamt und der zuständigen Ge- 76 meinde sind nach § 137 AO die Umstände anzuzeigen, die für die steuerliche Erfassung der AG von Bedeutung sind. Hierzu zählen insbesondere die Gründung der AG, der Erwerb der Rechtsfähigkeit, die Änderung der Rechtsform, die Verlegung der Geschäftsleitung oder des Sitzes sowie die Auflösung der AG. Die Mitteilung ist innerhalb eines Monats seit dem meldepflichtigen Ereignis zu erstatten. Die Verletzung der Anzeigepflicht nach § 137 AO ist keine Ordnungswidrigkeit. 77 Es kann auch kein Verspätungszuschlag nach § 152 AO festgesetzt werden.94) 2.

Anzeigen über die Erwerbstätigkeit der AG – § 138 AO

a)

Inlandstätigkeiten

Eröffnet die AG einen Betrieb oder eine Betriebsstätte i. S. d. § 12 AO ist dies 78 der Gemeinde mitzuteilen, in der der Betrieb oder die Betriebsstätte eröffnet wird (§ 138 Abs. 1 Satz 1 AO). Es besteht indes keine Verpflichtung, das zuständige Finanzamt zu informieren. Das Finanzamt ist nämlich von der Gemeinde unverzüglich zu unterrichten. Bei der Gemeinde anzuzeigen sind auch die Verlegung und die Aufgabe eines Betriebs bzw. einer Betriebsstätte (§ 138 Abs. 1 Satz 4 AO). Aktiengesellschaften, die Unternehmer i. S. d. § 2 UStG sind, können die Anzeige alternativ in elektronischer Form gegenüber dem für die Umsatzbesteuerung zuständigen Finanzamt erstatten (§ 138 Abs. 1a AO). Die Meldefrist beträgt einen Monat nach dem meldepflichtigen Ereignis (§ 138 79 Abs. 4 AO). Mit einer Anzeige gemäß § 14 GewO gegenüber dem zuständigen ___________ 93) Vgl. AEAO zu § 93 Rz. 1.1.1.; Tipke/Kruse/Seer, § 93 AO Rz. 14 ff. 94) Vgl. Beermann/Gosch/Schmieszek, § 137 AO Rz. 14.

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Ordnungs- bzw. Gewerbeamt wird gleichzeitig die steuerliche Anzeigepflicht nach § 138 Abs. 1 AO erfüllt.95) Eine separate steuerliche Anzeige ist insoweit entbehrlich. 80 Ein Verstoß gegen die Meldepflicht nach § 138 Abs. 1 AO ist für sich genommen keine Ordnungswidrigkeit. Es kann sich allerdings um eine Ordnungswidrigkeit handeln, soweit gegen die Bestimmungen der GewO verstoßen wurde.96) b)

Auslandstätigkeiten

81 Dem für die AG zuständigen Finanzamt sind nach § 138 Abs. 2 AO die folgenden Auslandsengagements der AG mitzuteilen:97) 1. die Gründung und der Erwerb von Betrieben und Betriebsstätten i. S. d. § 12 AO im Ausland, 2. der Erwerb einer Beteiligung an ausländischen Personengesellschaften oder deren Aufgabe oder Änderung, 3. der Erwerb oder die Veräußerung von Beteiligungen an einer Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 KStG, wenn –

damit eine Beteiligung von mindestens 10 % am Kapital oder am Vermögen der Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse erreicht wird oder



die Summe der Anschaffungskosten aller Beteiligungen mehr als 150.000 € beträgt. Dies gilt jedoch nicht für den Erwerb und die Veräußerung von Beteiligungen von weniger als 1 % am Kapital oder am Vermögen der Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse, wenn mit der Hauptgattung der Aktien der ausländischen Gesellschaft an einer qualifizierten Börse98) wesentlich und regelmäßig gehandelt wird.99)

Unmittelbare und mittelbare Beteiligungen sind bei der Ermittlung der maßgeblichen Beteiligungsquote zusammenzurechnen. 4. die Tatsache, dass sie allein oder zusammen mit nahestehenden Personen i. S. d. § 1 Abs. 2 AStG erstmals unmittelbar oder mittelbar einen beherr___________ 95) 96) 97) 98)

Vgl. AEAO zu § 138 Rz. 1. Vgl. Beermann/Gosch/Grotherr, § 138 AO Rz. 64. Zu Inhalt und Form der Anzeigen vgl. BMF-Schreiben v. 26.4.2022, BStBl I 2022, 576. Erfasst werden Börsen in einem EU- oder EWR-Staat und solche Börsen, die in einem anderen Staat nach § 193 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 4 KAGB von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zugelassen sind. 99) Für die Ermittlung der Beteiligungshöhe sind alle gehaltenen Beteiligungen zu berücksichtigen. Nach dieser Regelung nicht mitteilungsbedürftige Erwerbe bzw. Veräußerungen sind sodann bei der Ermittlung der Summe der Anschaffungskosten unberücksichtigt zu lassen (§ 138 Abs. 2 Nr. 3 lit. b) Satz 2, 3 AO).

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schenden oder bestimmenden Einfluss auf die gesellschaftsrechtlichen, finanziellen oder geschäftlichen Angelegenheiten einer Drittstaat-Gesellschaft ausüben können; 5. die Art der wirtschaftlichen Tätigkeit des Betriebs, der Betriebstätte, der Personengesellschaft, Körperschaft, Personenvereinigung, Vermögensmasse oder der Drittstaat-Gesellschaft. Drittstaat-Gesellschaft ist eine Personengesellschaft, Körperschaft, Personen- 82 vereinigung oder Vermögensmasse mit Sitz oder Geschäftsleitung in Staaten oder Territorien, die nicht Mitglieder der Europäischen Union oder der Europäischen Freihandelsassoziation sind (§ 138 Abs. 3 AO). Die Mitteilung hat zusammen mit der Einkommen-, Körperschaftsteuer- oder 83 Feststellungserklärung für den Besteuerungszeitraum, in den das mitzuteilende Ereignis fällt, zu erfolgen. Die Mitteilung ist allerdings spätestens vierzehn Monate nach Ablauf dieses Besteuerungszeitraums vorzunehmen (§ 138 Abs. 5 AO). Die Anzeigepflicht kann mit Zwangsmitteln nach §§ 328 ff. AO durchgesetzt werden. Der Verstoß gegen die Anzeigepflichten nach § 138 Abs. 2 AO kann eine Ordnungswidrigkeit darstellen (§ 379 Abs. 2 Nr. 1 AO), die mit einer Geldbuße bis zu 25.000 € geahndet werden kann (§ 379 Abs. 7 AO). Führt der Verstoß zu einer leichtfertigen Steuerverkürzung, kann das Bußgeld bis zu 50.000 € betragen (§ 378 Abs. 2 AO). Die Finanzämter sind angehalten, bei Verstößen gegen die Anzeigepflichten nach § 138 Abs. 2 AO die zuständige Bußgeld- und Strafsachenstelle einzuschalten.100) 3.

Länderbezogener Bericht – § 138a AO

a)

Erfasste Unternehmen

In Deutschland ansässige Unternehmen, die die Konzernobergesellschaft einer 84 multinationalen Unternehmensgruppe mit einem konsolidierten Umsatz von mehr als 750 Mio. € sind, haben zusätzlich zur Master File und Local File (Æ Rz. 64, 66) einen länderbezogenen Bericht (sog. „Country-by-CountryReport“ – „CbCR“) zu erstellen, der an das BZSt zu übermitteln ist (§ 138a Abs. 1 AO).101) Gehört eine in Deutschland ansässige AG zu einem ausländischen Konzern, so ist diese AG grundsätzlich weder verpflichtet, einen CbCR für den Gesamtkonzern zu erstellen, noch einen solchen zu übermitteln. Etwas anderes gilt allerdings, wenn eine deutsche Konzerngesellschaft von einer ausländischen Konzernobergesellschaft beauftragt wird (sog. beauftragte Gesellschaft), den CbCR des ausländischen Konzerns an das BZSt zu übermitteln (§ 138a Abs. 3 AO), oder sie besonderen Mitwirkungspflichten unterliegt (§ 138a Abs. 4 AO, siehe unten). Die Übermittlung hat grundsätzlich spätestens ein Jahr ___________ 100) Vgl. BMF-Schreiben v. 26.4.2022, BStBl I 2022, 576, Nr. 39. 101) Vgl. zu Einzelheiten BMF-Schreiben v. 11.7.2017, BStBl I 2017, 974.

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nach Ablauf des Wirtschaftsjahres zu erfolgen, für das der CbCR zu erstellen ist (§ 138a Abs. 6 Satz 1 AO). Im Einzelnen: b)

Inhalte

85 Der Report gliedert sich in drei Abschnitte. In einer Übersicht ist darzustellen, wie sich die Geschäftstätigkeiten des Konzerns auf die Staaten verteilen, in denen der Konzern tätig ist. Daneben sind zehn verschiedene Kennzahlen darzustellen, u. a. Umsatzerlöse und sonstige Erträge mit Dritten und – getrennt davon – mit nahestehenden Unternehmen, Jahresergebnis vor Ertragsteuern und im Wirtschaftsjahr gezahlte Ertragsteuern (§ 138a Abs. 2 Nr. 1 AO). In einem zweiten Abschnitt sollen alle Unternehmen und Betriebsstätten nach Staaten getrennt aufgelistet werden, die in der Übersicht enthalten sind. Für die Unternehmen und Betriebsstätten sollen die wichtigsten Geschäftstätigkeiten angegeben werden (§ 138a Abs. 2 Nr. 2 AO). Im dritten und letzten Abschnitt sind solche Informationen darzustellen, die nach Auffassung der Konzernobergesellschaft für das Verständnis der beiden vorgenannten Abschnitte erforderlich sind (§ 138a Abs. 2 Nr. 3 AO). c)

Besondere Mitwirkungspflichten bei ausländischen Konzernen

86 Erhält das BZSt den CbCR eines Konzerns mit einer ausländischen Konzernobergesellschaft nicht, sind – vereinfacht – alle inländischen Konzerngesellschaften zur Übermittlung verpflichtet (sog. „secondary mechanism“). Soweit der CbCR einer inländischen Konzerngesellschaft nicht vorliegt und diese auch die entsprechenden Informationen nicht beschaffen kann, hat sie dies dem BZSt mitzuteilen und alle verfügbaren und beschaffbaren Informationen innerhalb der Jahresfrist von § 138a Abs. 6 Satz 1 AO zu übermitteln. Die Übermittlungsfrist verlängert sich für die inländische Konzerngesellschaft auf einen Monat nach Bekanntwerden der Nichtübermittlung, wenn die inländische Konzerngesellschaft davon ausgehen konnte, dass der CbCR fristgerecht übermittelt wurde und der CbCR ohne Verschulden der inländischen Konzerngesellschaft nicht übermittelt wurde (§ 138a Abs. 4 Satz 4, Abs. 6 Satz 2 AO). d)

Erweiterung von Steuererklärungspflichten

87 Um der Finanzverwaltung die Identifikation der zur Abgabe des CbCR verpflichteten Gesellschaft zu ermöglichen, sind zusätzliche steuerliche Erklärungspflichten zu erfüllen (§ 138a Abs. 5 Satz 1 AO). Inländische Unternehmen mit einer ausländischen Konzernobergesellschaft müssen angeben, bei welcher Finanzbehörde und von welchem Unternehmen der CbCR abgegeben wird (§ 138a Abs. 5 Satz 2 AO). Andernfalls ist die betreffende deutsche Konzerngesellschaft selbst zur fristgerechten Übermittlung des CbCR verpflichtet (§ 138a Abs. 5 Satz 3 AO).

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e)

Datenaustausch

Die Übermittlung des länderbezogenen Berichts an das BZSt hat nach amtlich 88 vorgeschriebenem Datensatz per Datenfernübertragung zu erfolgen (§ 138a Abs. 6 Satz 3 AO). f)

Sanktionen

Ein Verstoß gegen die Mitteilungspflichten nach § 138a AO qualifiziert als 89 Steuerordnungswidrigkeit (§ 379 Abs. 2 Nr. 1c AO), die mit einer Geldbuße bis zu 10.000 € geahndet werden kann (§ 379 Abs. 5 AO). g)

Einführung einer öffentlichen länderbezogenen Berichterstattung (EU public CbCR)

Durch eine am 19.6.2023 in Kraft getretene Änderung der HGB-Publizitäts- 90 pflichten ist eine konzernverbundene AG, die bestimmte Größenkriterien erfüllt und von keiner Ausnahme Gebrauch machen kann, verpflichtet, für alle nach dem 21.6.2024 beginnenden Geschäftsjahre bestimmte Ertragsteuerinformationen offenzulegen. Es handelt sich hierbei um eine buß- und ordnungsgeldbewehrte Verpflichtung des Vorstands der AG (§§ 342o, 342p HGB).102) 4.

Grenzüberschreitende Steuergestaltungen – §§ 138d ff. AO

a)

Pflicht zur Mitteilung

Soweit eine Aktiengesellschaft eine grenzüberschreitende Steuergestaltung i. S. d. 91 § 138d Abs. 2 AO vermarktet, für Dritte konzipiert, organisiert oder zur Nutzung bereitstellt oder ihre Umsetzung durch Dritte verwaltet, hat sie als sog. Intermediär diese grenzüberschreitende Steuergestaltung dem BZSt mitzuteilen (§ 138d Abs. 1 AO).103) Die gleiche Pflicht trifft in entsprechender Anwendung eine Aktiengesellschaft als Nutzer einer grenzüberschreitenden Steuergestaltung, wenn sie diese für sich selbst konzipiert hat (§ 138d Abs. 6 AO). Die Mitteilungspflicht geht zudem auf die Aktiengesellschaft als Nutzer über, wenn der Intermediär einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt und von dieser nicht entbunden wird (138f Abs. 6 AO). Darüber hinaus ist eine Aktiengesellschaft als Nutzer nach § 138g AO auch dann zur Mitteilung verpflichtet, wenn der eigentlich zur Mitteilung verpflichtete Intermediär aufgrund des Orts seines Wohnsitzes, gewöhnlichen Aufenthalts, seiner Geschäftsleitung oder seines Sitzes von dieser Pflicht befreit ist (§ 138f Abs. 7 AO). ___________ 102) Vgl. für eine kristische Betrachtung Bachmann/Seifert, DB 2023, 1175. 103) Für Fallbeispiele siehe Blumenberg/Hundeshagen, DATEV magazin 02/2020, 17 sowie 04/2020, 23. Zur Interpretation der Mitteilungspflichten durch die Finanzverwaltung vgl. BMF-Schreiben v. 29.3.2001, BStBl I 2021, 582.

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§ 14 Steuerrecht

b)

Verfahren der Mitteilung, § 138f f. AO

92 Die Mitteilung über eine grenzüberschreitende Steuergestaltung ist dem BZSt nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch den Intermediär bzw. Nutzer über die amtlich bestimmte Schnittstelle zu übermitteln (§ 138f Abs. 1 AO), und zwar innerhalb von 30 Tagen nach Ablauf des Tages, an dem die grenzüberschreitende Steuergestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, der Nutzer zur Umsetzung der Steuergestaltung bereit ist oder mindestens ein Nutzer der Steuergestaltung den ersten Schritt der Umsetzung unternommen hat (§ 138f Abs. 2 AO). Die mitzuteilenden Informationen richten sich nach § 138f Abs. 3 AO. Für sog. marktfähige grenzüberschreitende Steuergestaltungen gelten weitergehende Anforderungen (§ 138h AO).104) c)

Angabe in Steuererklärung, § 138k AO

93 Im dem Falle, dass ein Nutzer eine grenzüberschreitende Steuergestaltung verwirklicht, hat er diese in der Steuererklärung für die Steuerart und den Besteuerungszeitraum oder den Besteuerungszeitpunkt, in der sich der steuerliche Vorteil der entsprechenden Steuergestaltung zum ersten Mal auswirken soll, anzugeben (§ 138k AO). d)

Sanktionen

94 Ein Verstoß gegen die Mitteilungspflichten nach §§ 138d ff. AO kann eine Steuerordnungswidrigkeit (§ 379 Abs. 2 Nr. 1e, 1f und 1g AO) begründen, die mit einer Geldbuße bis zu 25.000 € pro Fall geahndet werden kann (§ 379 Abs. 7 AO).105) Hinzuweisen ist auch auf eine mögliche Abschöpfung der durch die Ordnungswidrigkeit erlangten Vorteile gemäß § 29a OWiG. 5.

Anmeldung von Betrieben in besonderen Fällen – § 139 AO

95 Soweit die AG verbrauchsteuerpflichtige Waren herstellen oder gewinnen wird, ist dies vor Eröffnung des entsprechenden Betriebs beim zuständigen Hauptzollamt anzumelden (§ 139 Abs. 1 Satz 1 AO). Fallen beim Betrieb besondere Verkehrssteuern an, ist dies bei der sachlich zuständigen Finanzbehörde (Finanzamt oder Bundeszentralamt für Steuern) anzumelden (§ 139 Abs. 1 Satz 2 AO). 96 Verbrauchsteuern sind z. B. die Biersteuer, die Branntweinsteuer, die Energiesteuer, die Tabaksteuer und die Schaumweinsteuer. Zu den Verkehrssteuern zählen z. B. die Versicherungssteuer, die Feuerschutzsteuer und die Rennwett-

___________ 104) Vgl. Tipke/Kruse/Brandis, § 138f AO Rz. 2. 105) Vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Münch, § 138d AO Rz. 65 ff.

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und Lotteriesteuer. Nicht erfasst werden z. B. die Grunderwerbsteuer und die Umsatzsteuer.106) Die Anmeldung kann gemäß §§ 328 ff. AO erzwungen werden. Ein Verstoß 97 stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, soweit das jeweilige Verbrauchsteuergesetz auf § 381 AO verweist. Die Geldbuße kann bis zu 5.000 € betragen. Qualifiziert der Verstoß als leichtfertige Steuerverkürzung, kann das Bußgeld bis zu 50.000 € betragen (§ 378 Abs. 2 AO). VI.

Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten gemäß §§ 140 bis 148 AO

Eine AG ist nach § 140 AO i. V. m. §§ 238 ff. HGB zur Führung von Büchern 98 und Aufzeichnungen verpflichtet. Das ressortzuständige Vorstandsmitglied bzw. die im Rahmen der zulässigen vertikalen Delegation betrauten Mitarbeiter der Steuerabteilung (Æ Rz. 38 ff.) haben dafür Sorge zu tragen, dass die Buchführung der AG ordnungsgemäß ist. Die Buchführung muss so beschaffen sein, dass sie einem sachverständigen Dritten innerhalb angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und über die Lage der AG vermitteln kann (§ 145 Abs. 1 AO). Die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung sind zu beachten.107) Die Erfüllung der außersteuerlichen Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten nach §§ 238 ff. HGB kann durch das zuständige Finanzamt nach §§ 328 ff. AO erzwungen werden. Darüber hinaus muss die Buchführung der AG insbesondere folgenden gesetz- 99 lichen Vorgaben genügen:  Buchungen und die sonst erforderlichen Aufzeichnungen sind einzeln, vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorzunehmen (§ 146 Abs. 1 Satz 1 AO).  Handelsbücher und die sonst erforderlichen Aufzeichnungen sind grundsätzlich in Deutschland zu führen und aufzubewahren (§ 146 Abs. 2 Satz 1 AO). Ausnahmen bestehen bei ausländischer Buchführungspflicht für ausländische Betriebsstätten (§ 146 Abs. 2 Satz 2 AO). In diesen Fällen sind die Ergebnisse der ausländischen Buchführung in die inländische Buchführung zu übernehmen.  Elektronische Bücher und sonstige erforderliche elektronische Aufzeichnungen oder Teile davon können in einem anderen Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union geführt und aufbewahrt werden (§ 146 Abs. 2a AO). Macht der Steuerpflichtige von dieser Befugnis Gebrauch, hat er sicherzustellen, dass der Datenzugriff nach § 146b Abs. 2 Satz 2, § 147 Abs. 6 und § 27b Abs. 2 Satz 2 und 3 des Umsatzsteuergesetzes in vollem Umfang möglich ist. ___________ 106) Vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Schallmoser, § 139 AO Rz. 6; Koenig/Haselmann, AO, § 139 Rz. 4 und 6. 107) Vgl. Tipke/Kruse/Drüen, § 145 AO Rz. 4 ff.

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Die elektronische Buchführung kann darüber hinaus in einem oder mehreren Drittstaat(en) durchgeführt werden, wenn dies vom zuständigen Finanzamt bewilligt wurde (§ 146 Abs. 2b AO).



Die Buchungen und Aufzeichnungen sind in einer lebenden Sprache vorzunehmen (§ 146 Abs. 3 Satz 1 AO). Auf Verlangen der Finanzverwaltung ist eine Übersetzung in die deutsche Sprache notwendig.



Buchungen und Aufzeichnungen dürfen nicht in einer Weise verändert werden, dass der ursprüngliche Inhalt nicht mehr feststellbar ist (§ 146 Abs. 4 AO).

100 Der Vorstand hat sicherzustellen, dass die Aufbewahrungspflichten nach § 147 AO durch die AG erfüllt werden. Zu den aufzubewahrenden Unterlagen zählen insbesondere: 1. Bücher und Aufzeichnungen, Inventare, Jahresabschlüsse, Lageberichte, die Eröffnungsbilanz sowie die zu ihrem Verständnis erforderlichen Arbeitsanweisungen und sonstigen Organisationsunterlagen, 2. empfangene Handels- und Geschäftsbriefe, 3. Wiedergaben der abgesandten Handels- und Geschäftsbriefe sowie 4. Buchungsbelege. 101 Die Aufbewahrungsfristen betragen grundsätzlich zehn Jahre in den Fällen der Nr. 1 und 4 sowie sechs Jahre in den Fällen der Nr. 2 und 3. 102 Genügt die Buchführung den gesetzlichen Anforderungen nicht, kann die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlage gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO schätzen und hierbei ihren Beurteilungsspielraum zu Lasten der AG ausnutzten. Die Schätzung muss allerdings eine noch mögliche Besteuerungsgrundlage darstellen.108) Gehen die Buchführungsunterlagen der AG durch höhere Gewalt (z. B. Hochwasser und Brand), durch Diebstahl oder ohne Verschulden verloren, ist zwar die Buchführung nicht mehr ordnungsgemäß, es kommt allerdings ein Billigkeitserlass nach §§ 163, 227 AO in Betracht.109) Die fehlende maschinelle Auslesbarkeit von elektronisch gespeicherten Daten allein eröffnet noch nicht die Schätzbefugnis gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO, wenn die Buchführung im Übrigen ordnungsgemäß ist.110) 103 Die Nichterfüllung bzw. fehlerhafte Erfüllung der Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten kann eine Ordnungswidrigkeit nach § 379 AO darstellen, die mit einem Bußgeld von bis zu 25.000 € geahndet wird. Darüber hinaus kann ___________ 108) Vgl. Koenig/Gercke, AO, § 162 Rz. 66. 109) Vgl. BFH, Urt. v. 27.10.1977 – V R 34/75, BStBl II 1978, 169; BFH, Urt. v. 19.6.1985 – I R 79/82, BFH/NV 1987, 279; GemSOGB, Beschl. v. 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603. 110) Vgl. Tipke/Kruse/Drüen, § 147 AO Rz. 64.

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es sich um eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder eine leichtfertige Steuerverkürzung (§ 378 AO) handeln. VII. Abgabe der Steuererklärungen gemäß §§ 149 bis 152 AO 1.

Adressat der Steuererklärungspflicht

Der Adressat der Steuererklärungspflichten wird gemäß § 149 Abs. 1 Satz 1 104 AO durch die Steuergesetze bestimmt. Nach den Steuergesetzen liegen die Steuererklärungspflichten regelmäßig beim Steuerrechtssubjekt – vorliegend bei der AG. Da die AG als juristische Person durch ihren Vorstand vertreten wird, hat der Vorstand die Steuererklärungspflichten zu erfüllen. Nach der Rechtsprechung des BFH gilt für steuerliche Pflichten, zu denen ge- 105 mäß §§ 149 ff. AO auch die Steuererklärungspflichten gehören, dass bei einem mehrköpfigen Vorstand die Vorstandsmitglieder im Innenverhältnis bestimmen können, wer die Pflichten gemäß § 34 AO erfüllen soll (Æ Rz. 4).111) Dies hat zur Folge, dass die Verantwortlichkeit eines Vorstandsmitglieds für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten, die diesem nicht zugewiesen sind, begrenzt wird, da die (wirksame) interne Geschäftsverteilung auf den Umfang der gegenseitigen Kontrollpflichten im Innenverhältnis wirkt (Æ Rz. 5, 24).112) Mithin gehören die Steuererklärungspflichten grundsätzlich zu den innerhalb des Vorstands delegierbaren Aufgaben, für die die Entscheidungsbefugnis einem Vorstandsmitglied oder mehreren Vorstandsmitgliedern übertragen werden kann (Æ Rz. 6). Eine Steuererklärungspflicht kann sich zu einer nicht delegierbaren Gesamtvor- 106 standsaufgabe wandeln, wenn die einzelne Erklärung für die Gesellschaft von besonderer Bedeutung ist oder ein außergewöhnliches Risiko für die Gesellschaft bedeutet. Soweit ersichtlich, wurde dieser Bereich bislang nicht abschließend von Literatur oder Rechtsprechung behandelt, sodass im Einzelfall zu entscheiden ist, ob sich die Abgabe einer konkreten Steuererklärung zu einer Gesamtvorstandsaufgabe wandelt. Handelt es sich im konkreten Einzelfall um eine nicht delegierbare Gesamtvorstandsaufgabe, obliegt die Entscheidungsverantwortung für die Abgabe der Steuererklärung insoweit sämtlichen Vorstandsmitgliedern. Die Vorbereitungs- und Ausführungsmaßnahmen in Gestalt der Vorbereitung der Steuererklärung, des Ausfüllens des Formulars sowie des Versendens an das zuständige Finanzamt können hingegen weiterhin delegiert werden.113)

___________ 111) Vgl. BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BStBl II 1998, 761. 112) Vgl. Tipke/Kruse/Loose, § 34 AO Rz. 16. 113) Vgl. Fleischer, ZIP 2003, 1 (6); Turiaux/Knigge, DB 2004, 2199 (2205).

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§ 14 Steuerrecht

107 Die Unterrichtungspflicht (Æ Rz. 22) verlangt, dass die übrigen Vorstandsmitglieder jedenfalls in den Vorstandssitzungen über die Abgabe der Steuererklärungen unterrichtet und die jeweils mit der Steuererklärung erklärten wesentliche Sachverhalte dargestellt werden. Eine detailliertere Unterrichtung in Gestalt von schriftlichen Voraberläuterungen dürfte insbesondere im Zusammenhang mit in der Vergangenheit erhobenen steuerstrafrechtlichen Vorwürfen, bei mit Abgabe der Steuererklärung drohenden steuerstrafrechtlichen Risiken oder wesentlichen Zahlungsrisiken geboten sein. Da es sich insoweit nach den oben dargestellten Grundsätzen um eine Gesamtvorstandsaufgabe handeln sollte, müsste die Unterrichtung der übrigen Vorstandsmitglieder insoweit vor Abgabe der betroffenen Steuererklärung erfolgen. Das ressortzuständige Vorstandsmitglied hat sicherzustellen, dass ihm diese Informationen von den Mitarbeitern der Steuerabteilung zur Verfügung gestellt werden. 2.

Form und Inhalt der Steuererklärung

a)

Steuererklärung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck (§ 150 Abs. 1 Satz 1 AO)

108 Nach § 150 Abs. 1 Satz 1 AO sind Steuererklärungen grundsätzlich nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck abzugeben. In diesen Fällen können die Steuergesetze anordnen, dass der Steuerpflichtige die Steuererklärung eigenhändig zu unterschreiben hat (vgl. § 150 Abs. 3 AO). Nach derzeitigem Rechtsstand sehen die Einzelsteuergesetze teilweise noch das Eigenhändigkeitserfordernis vor. So ist z. B. weiterhin für die nach § 18 Abs. 3 Satz 6 AStG abzugebenden Erklärungen zur gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen die eigenhändige Unterschrift des Steuerpflichtigen oder der gesetzlichen Vertreter gemäß § 34 AO erforderlich. b)

Elektronische Steuererklärung (§ 150 Abs. 1 Satz 2 AO)

109 Nach § 150 Abs. 1 Satz 2 AO i. V. m. § 87a AO ist eine elektronische Übermittlung von Steuererklärungen nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck zulässig, soweit dies aufgrund eines Gesetzes oder einer nach § 150 Abs. 6 AO erlassenen Rechtsverordnung erlaubt ist. 110 Ab dem Veranlagungszeitraum 2011 sind insbesondere die Körperschaftsteuer-, Gewerbesteuer- und Umsatzsteuererklärungen elektronisch nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung zu übermitteln (§ 31 Abs. 1a KStG, § 14a Satz 1 GewStG, § 18 Abs. 3 UStG). Die eigenhändige Unterschrift des Steuerpflichtigen ist nach diesen Vorschriften nicht mehr erforderlich. 111 Die eigenhändige Unterschrift wurde durch ein Authentifizierungsverfahren des Datenübermittlers ersetzt (§ 87a Abs. 6 AO). Bei der Datenübermittlung ist ein sicheres Verfahren zu verwenden, welches eine Authentifizierung des

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Datenübermittlers und die Vertraulichkeit und Integrität des elektronisch übermittelten Datensatzes gewährleistet. Das ELSTER-Verfahren reicht zur Erfüllung dieser Voraussetzungen aus.114) c)

Vollständigkeit und Wahrheitspflicht

Das Ausfüllen des amtlich vorgeschriebenen Vordrucks, mittels dessen die 112 Steuererklärungen gemäß § 150 Abs. 1 Satz 1 AO abzugeben sind, verlangt ein vollständiges Beantworten der im Vordruck gestellten Fragen in deutscher Sprache (§ 87 Abs. 1 AO).115) Mithin haben Steuererklärungen dem Vollständigkeitsgebot zu entsprechen und sind vollständig abzugeben. Zudem unterliegen die Steuererklärungen der Wahrheitspflicht. Nach § 150 Abs. 2 AO sind die Angaben in der Steuererklärung wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen.116) Die Wahrheitspflicht erstreckt sich auf Tatsachen und nicht auf Rechtsauffassungen.117) Die Frage, in welchem Umfang eine Erläuterungs- und ggf. Offenlegungs- 113 pflicht im Rahmen der Steuererklärung besteht, ist im Einzelnen umstritten. Zum einen wird vertreten, dass § 150 AO nur die wahrheitsgemäße Darstellung von Tatsachen verlange, aber dem Steuerpflichtigen die – vertretbare und nicht offenzulegende – Subsumtion unter das Recht gestatte. Zum anderen wird verlangt, dass eine Darstellungs- und Erläuterungspflicht bestehe, wenn eine Abweichung von der Rechtsprechung, den Richtlinien und der regelmäßigen Verwaltungspraxis erfolgt.118) Nach der Rechtsprechung des BGH119) dürfen der Finanzverwaltung keine 114 Tatsachen verschwiegen werden, die aus dem Empfängerhorizont der Finanzbehörden, der in Verwaltungsvorschriften und den im Bundessteuerblatt Teil II von der Verwaltung zu beachtenden Präjudizien nach außen hin erkennbar wird, entscheidungserheblich sind (sog. Lehre vom typisierten Empfängerhorizont).120) Es besteht eine Offenbarungspflicht für diejenigen Sachverhaltselemente, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die von dem Steuerpflichtigen vertretene Auffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen ___________ 114) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 27. 115) Vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Heuermann, § 150 AO Rz. 16. 116) Vgl. hierzu ausführlich Hübschmann/Hepp/Spitaler/Heuermann, § 150 AO Rz. 17 ff.; Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 43 ff. 117) So Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 44. 118) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 47; Randt, in: Festschrift Schaumburg, S. 1255, 1257 f. 119) Vgl. BGH, Urt. v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, NStZ 2000, 203. 120) Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 153 AO Rz. 11 und § 150 AO Rz. 47; Rolletschke/Kemper/ Rolletschke, § 370 AO Rz. 76 f.

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von der Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht. In einem derartigen Fall kann es ausreichend sein, die abweichende Rechtsauffassung mitzuteilen, wenn deren Schilderung die erforderliche Tatsachenmitteilung enthält. Ansonsten würde der Finanzbehörde die Möglichkeit genommen, die eigene, als richtig (gesetzmäßig) angesehene Rechtsansicht, bei der Steuerfestsetzung zu vertreten.121) 115 Der BGH hat in seinem Urteil vom 8. September 2011122) klar zum Ausdruck gebracht, dass eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen begangen wird, wenn es der Täter für möglich hält, dass er die Finanzbehörde über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dass durch sein Verhalten Steuern verkürzt werden oder dass er oder ein anderer nicht gerechtfertigte Vorteile erlangen. Hält der Täter die Existenz eines Steueranspruchs für möglich und lässt er die Finanzbehörden über die Besteuerungsgrundlagen gleichwohl in Unkenntnis, findet er sich also mit der Möglichkeit der Steuerverkürzung ab, handelt er mit bedingtem Tatvorsatz. 116 Aus dieser BGH-Entscheidung folgt, dass alle Tatsachen offenzulegen sind, die möglicherweise für die Finanzverwaltung zu einer von der Ansicht des Steuerpflichtigen abweichenden Beurteilung der Steuerpflicht führen können. Maßstab hierfür sind die Rechtsprechung, die Richtlinien der Verwaltung sowie die tatsächliche Verwaltungspraxis. Inwieweit es auch darüber hinaus in Fällen, in denen es keine Verwaltungspraxis, keine Rechtsprechung und keine Verlautbarungen der Verwaltung gibt, zu einer Offenlegungspflicht kommen kann, hat die Rechtsprechung bisher nicht entschieden, sondern bewusst offengelassen. Es ist allerdings empfehlenswert, die für die Beurteilung des Sachverhalts notwendigen Tatsachen offenzulegen, wenn aus fachkundiger Sicht Zweifel an der eigenen Rechtsauffassung bestehen könnten. Angesichts der BGH-Rechtsprechung ist zu empfehlen, dass die Tatsachen und die (abweichende) Rechtsansicht in einer Anlage wenigstens kurz dargestellt werden.123) Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei nach §§ 150 Abs. 7 Satz 1, 155 Abs. 4 AO elektronisch zu übermittelnden Steuererklärungen im Formular das Feld „Ergänzende Angaben zur Steuererklärung“ nach Auffassung der Finanzverwaltung auch dann auszufüllen ist, wenn bei den in der Steuererklärung erfassten Angaben bewusst eine „von der Verwaltungsauffassung abweichende Rechtsauffassung“ zugrunde gelegt wurde.124) Die Finanzverwaltung lässt zwar offen, wie weit dieser Begriff zu interpretieren ist. Jedenfalls dürften aber die in den sog. Amtlichen Handbüchern des Bundesfinanzministeriums125) veröffentlichten ___________ 121) 122) 123) 124) 125)

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Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 47. Vgl. BGH, Urt. v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160 (161). Vgl. Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 17; Klein/Rätke, AO, § 150 Rz. 23 f. Vgl. z. B. BMF-Schreiben v. 4.10.2016, BStBl I 2016, 1059. Abrufbar unter https://amtliche-handbuecher.bundesfinanzministerium.de/Home/home.html.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

Richtlinien, Hinweise und die in den Anlagen zu den Handbüchern aufgeführten BMF-Schreiben hierunter fallen. 3.

Bedeutung der eigenhändigen Unterschrift auf Steuererklärungen für die Pflichten des Vorstands

a)

Grundsatz

Nach der BFH-Rechtsprechung soll mit der Unterzeichnung die Verantwor- 117 tung für die tatsächlichen Angaben in der Erklärung übernommen werden.126) Durch die auf dem Erklärungsvordruck geleistete Unterschrift werde sichergestellt, dass sich der Steuerpflichtige über die Lückenlosigkeit und die Richtigkeit der gegebenenfalls von einer dritten Person vorgenommenen Eintragungen und den Umfang der im Vordruck vorgesehenen Angaben vergewissern könne.127) Schließlich soll die Eigenhändigkeit der Unterschriftsleistung dem Steuerpflichtigen die Bedeutung seiner Steuererklärung als Wissenserklärung bewusst machen.128) Insoweit erlangt die Erklärungspflicht durch das Unterschriftserfordernis den Charakter einer höchstpersönlichen Pflicht.129) Das Erfordernis der Abgabe einer vom Steuerpflichtigen eigenhändig unterschriebenen Steuererklärung durch § 150 Abs. 3 Satz 1 AO stellt eine vom Steuerpflichtigen höchstpersönlich zu erfüllende Verpflichtung dar, mit der er die persönliche Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Steuererklärung übernimmt (§ 150 Abs. 2 AO).130) b)

Eigenhändige Unterschrift durch ressortzuständiges Vorstandsmitglied

Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze zur Bedeutung der eigenhändigen 118 Unterschrift unter einer Steuererklärung ist zunächst festzuhalten, dass das ressortzuständige Vorstandsmitglied (auch)131) aufgrund der internen Geschäftsverteilung zur Unterschrift verpflichtet ist. Mit der Unterschrift übernimmt es sodann die Verantwortung für die in der Erklärung gemachten tatsächlichen Angaben. ___________ 126) Vgl. BFH, Urt. v. 14.1.1998 – X R 84/95, BStBl II 1999, 203. 127) Vgl. BFH, Urt. v. 14.1.1998 – X R 84/95, BStBl II 1999, 203; BFH, Urt. v. 8.7.1983 – VI R 80/81, BStBl II 1984, 13; BFH, Urt. v. 8.6.1971 – VII R 75/68, BStBl II 1971, 726; BFH, Beschl. v. 25.6.1997 – VIII B 35/96, BFH/NV 1998. 128) Vgl. BFH, Urt. v. 14.1.1998 – X R 84/95, BStBl II 1999, 203; BFH, Urt. v. 8.7.1983 – VI R 80/81, BStBl II 1984, 13. 129) Vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Heuermann, § 150 AO Rz. 36; Tipke/Kruse/Seer, § 150 AO Rz. 12, die beide die Unterschrift nicht als „höchstpersönliche Pflicht“, sondern als „Autorisationsakt“ verstehen wollen, die die Erklärung letztlich dem Erklärenden zuordnet. 130) So BFH, Beschl. v. 15.12.2008 – VII B 155/08, BFH/NV 2009, 715. 131) Die Erfüllung der steuerlichen Pflichten kann aufgrund des Grundsatzes der Gesamtverantwortung ungeachtet einer etwaigen Geschäftsverteilungsvereinbarung von sämtlichen Vorstandsmitgliedern verlangt werden.

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119 Damit sollte aus der eigenhändig geleisteten Unterschrift eine eigenständige Verantwortung des betreffenden Vorstandsmitglieds für die erklärten tatsächlichen Angaben erwachsen, die neben die oben dargestellte Ressortverantwortung tritt (Æ Rz. 19 ff.). c)

Eigenhändige Unterschrift durch nicht ressortzuständiges Vorstandsmitglied

120 Mit der Unterschrift einer Steuererklärung durch ein nicht ressortzuständiges Vorstandsmitglied übernimmt dieses nach der dargestellten Rechtsprechung des BFH ebenfalls die Verantwortung für die in der Erklärung gemachten tatsächlichen Angaben. Diese Verantwortung sollte sodann eigenständig neben die oben dargestellte Restverantwortung treten (Æ Rz. 19 ff.). 4.

Bedeutung des fehlenden Erfordernisses der eigenhändigen Unterschrift bei elektronischen Steuererklärungen für die Pflichten des Vorstands

121 Wie oben dargestellt (Æ Rz. 111), sieht das Gesetz bei einer elektronisch abzugebenden Steuererklärung nicht mehr das Erfordernis einer eigenhändigen Unterschrift vor. Demzufolge dürfte die Steuererklärungspflicht mit Wegfall des Unterschriftserfordernisses den bislang von der Rechtsprechung anerkannten Charakter einer höchstpersönlichen Pflicht verlieren. Dies bedeutet, dass durch die Abgabe einer elektronischen Steuererklärung keine zusätzliche eigenständige Verantwortlichkeit sämtlicher Vorstandsmitglieder begründet werden sollte, die neben den oben dargestellten Verantwortlichkeiten im Rahmen der Ressort- und der Restverantwortung tritt. VIII. Berichtigung von Erklärungen gemäß § 153 AO 1.

Regelungsinhalt

122 Die steuerliche Pflicht zur Berichtigung von Steuererklärungen folgt aus § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Hiernach ist ein Steuerpflichtiger bzw. dessen gesetzlicher Vertreter gemäß § 34 AO verpflichtet, dies unverzüglich anzuzeigen und die erforderliche Richtigstellung vorzunehmen, wenn er nachträglich vor Ablauf der Festsetzungsfrist erkennt, dass eine von ihm oder für ihn abgegebene Erklärung unrichtig oder unvollständig ist und dass es dadurch zu einer Verkürzung von Steuern kommen kann oder bereits gekommen ist.132) Die gleiche Pflicht trifft sog. Verfügungsberechtige gemäß § 35 AO. 123 Bei steuergesetzlichen Pflichten der AG trifft die Berichtigungspflicht daher in erster Linie den Vorstand als gesetzlichen Vertreter der AG. ___________ 132) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 1 Satz 1.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

Objektiv unrichtig bzw. unvollständig ist eine Erklärung, wenn sie entgegen 124 § 90 Abs. 1 Satz 2, § 150 Abs. 2 AO nicht alle steuerlich erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegt.133) Die Berichtigungspflicht gemäß § 153 Abs. 1 AO tritt in dem Zeitpunkt ein, in 125 dem der Berichtigungspflichtige positiv weiß, also „erkennt“, dass die Unrichtigkeit einer abgegebenen Erklärung zu einer Steuerverkürzung führen kann oder bereits geführt hat.134) In § 153 Abs. 2 AO ist daneben eine schlichte Anzeigepflicht – jedoch keine 126 Berichtigungspflicht – angeordnet, wenn eine Steuerbefreiung, Steuerermäßigung oder sonstige Steuervergünstigung nachträglich wegfällt. Die Finanzverwaltung hat ihre Auffassung zur Interpretation der Berichtigungs- 127 pflicht in AEAO zu § 153 AO detailliert dargelegt. Nachfolgend werden für Vorstand und Aufsichtsrat der AG besonders praxisrelevante Fragestellungen näher dargestellt. 2.

Abgrenzung zur Selbstanzeige gemäß § 371 AO

Wird im Unternehmensalltag eine möglicherweise fehlerhaft getätigte steuerliche 128 Erklärung nachträglich entdeckt, so ist vom Vorstand einer AG zunächst die Frage zu klären, ob tatsächlich eine unrichtige bzw. unvollständige Erklärung vorliegt. Liegt eine solche vor, ist zu klären, ob diese gemäß § 153 AO zu berichtigen ist oder ob eine leichtfertige Steuerverkürzung (Steuerordnungswidrigkeit) gemäß § 378 AO bzw. – noch gravierender – eine zumindest bedingt vorsätzlich begangene Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO im Raum steht, bei der eine Straflosigkeit der Beteiligten nur unter den deutlich weitergehenden Voraussetzungen einer wirksamen Berichtigung gemäß § 378 Abs. 3 AO oder einer wirksamen Selbstanzeige gemäß § 371 AO eintreten kann. Insoweit lassen sich im Wesentlichen die vier folgenden Konstellationen unterscheiden. a)

Berichtigung eines schlichten Fehlers

Ergibt die Prüfung, dass die Zuständigen im Vorstand die Unrichtigkeit der 129 abgegebenen steuerlichen Erklärung erst im Nachhinein erkannt und auch vorher nicht billigend in Kauf genommen haben, so bleiben sie straflos, wenn sie ihrer Anzeige- und Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO unverzüglich nachkommen (zum Kriterium der Unverzüglichkeit Æ Rz. 150 ff.).135)

___________ 133) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.1 Satz 2. 134) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.4. 135) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.8.

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b)

Fristversäumnis nach Fehlerentdeckung

130 Ergibt die Prüfung demgegenüber, dass die Zuständigen im Vorstand zwar bei Abgabe der steuerrechtlichen Erklärung die Unrichtigkeit nicht gekannt und auch nicht billigend in Kauf genommen haben, jedoch nach Erkennen der Unrichtigkeit in nicht vertretbarer Weise zugewartet haben und die abzugebende Anzeige gemäß § 153 AO durch die Verpflichteten daher nicht mehr unverzüglich i. S. v. § 153 AO wäre, so droht eine Strafbarkeit der Beteiligten gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, da diese die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen haben. 131 In einem solchen Fall ist zu prüfen, ob zugunsten der betroffenen Vorstandsmitglieder die Sonderregelung des § 371 Abs. 4 Satz 1 AO genutzt werden kann, die ein Verfolgungshindernis für den Betroffenen anordnet. Danach wird ein Verpflichteter, der die in § 153 AO bezeichnete Erklärung abzugeben unterlassen oder unrichtig oder unvollständig abgegeben hat, strafrechtlich nicht verfolgt, wenn (i) ein anderer Erklärungspflichtiger die in § 153 AO vorgesehene Anzeige rechtzeitig und ordnungsgemäß erstattet hat und (ii) dem Verpflichteten oder seinem Vertreter nicht vorher die Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens wegen der Tat bekannt gegeben worden ist. Nach § 371 Abs. 4 Satz 2 bestehen zudem für den Eintritt der Straflosigkeit die zusätzlichen Entrichtungspflichten nach § 371 Abs. 3 AO, wenn der Verpflichtete zum eigenen Vorteil gehandelt hat. 132 Im konkreten Fall ist daher zu erwägen, ob ein ressortfremdes Vorstandsmitglied, das selbst noch keine (Überwachungs-)Pflichtverletzung in Bezug auf den betreffenden steuerrechtlichen Sachverhalt begangen hat, oder ein neu zu bestellendes Vorstandsmitglied über den Berichtigungsbedarf informiert wird. Dieses Vorstandsmitglied gibt sodann unmittelbar nach Erhalt der betreffenden Information eine Anzeige gemäß § 153 AO aufgrund seiner nun bestehenden eigenen Verpflichtung ab, die zugunsten der Vorstandsmitglieder wirkt, die zuvor die Frist des § 153 AO versäumt haben. c)

Grob fahrlässige oder bedingt vorsätzliche Fehler

133 Ergibt die Prüfung demgegenüber, dass die Verpflichteten grob fahrlässig i. S. v. § 378 AO oder sogar bedingt vorsätzlich i. S. v. § 370 AO unrichtige Angaben in steuerrechtlichen Erklärungen gegenüber der Finanzverwaltung gemacht haben, so bleibt die Berichtigungspflicht gemäß § 153 Abs. 1 AO trotz dieses ordnungswidrigkeitenrechtlichen bzw. strafrechtlichen Vorwurfs bestehen.136) In diesem Fall haben der Steuerpflichtige bzw. seine gesetzlichen Vertreter zunächst nur mit der Unrichtigkeit der Angaben gerechnet und diese i. S. v. § 153 AO erst erkannt, wenn sie später positiv erfahren, dass die Angaben tatsächlich unrichtig waren.137) ___________ 136) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.6, 5.2. 137) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 1, 2.2.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

Um allerdings dem strafrechtlichen Nemo-tenetur-Grundsatz138) Rechnung zu 134 tragen, gelten – auch nach Auffassung der Finanzverwaltung – Besonderheiten bei der Bestimmung der Unverzüglichkeit: Danach ist eine Anzeige nach § 153 AO solange als unverzüglich zu werten, wie dem Verpflichteten noch eine angemessene Zeit zur Aufbereitung einer Selbstanzeige gemäß § 371 AO oder einer Berichtigung gemäß § 378 Abs. 3 AO zuzugestehen wäre.139) Maßgebend sind insoweit naturgemäß die Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Um die steuerstrafrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, die an solche Anzeigen und Berichtigungen geknüpft sind, wird ein Vorstand regelmäßig (steuer-)strafrechtlichen Rechtsrat einholen müssen. d)

Absichtliche oder wissentliche Fehler

Keine Verpflichtung zur Anzeige gemäß § 153 AO besteht für solche Vor- 135 standsmitglieder, die wissentlich oder absichtlich eine fehlerhafte Erklärung abgeben haben.140) In diesem Fall ist ein „nachträgliches Erkennen“ der Fehlerhaftigkeit bereits begrifflich ausgeschlossen.141) Allerdings sind in einem solchen Fall die übrigen Vorstandsmitglieder ver- 136 pflichtet, eine Anzeige gemäß § 153 AO zu tätigen, wenn sie hiervon Kenntnis erlangen. Gleichzeitig liegen die Voraussetzungen für eine drittbegünstigende Fremdanzeige gemäß § 371 Abs. 4 AO nicht vor. Dritter im Sinne dieser Vorschrift kann nämlich nur sein, wer Pflichten aus § 153 AO verletzt hat, folglich zur nachträglichen Anzeige verpflichtet war.142) e)

Steuerverkürzung durch Mitarbeiter oder Dritte

Schließlich führt die Erfüllung der steuerrechtlichen Anzeige- und Berichti- 137 gungspflichten gemäß § 153 AO zu einem besonderen Spannungsverhältnis, wenn sich abzeichnet, dass zwar nicht der Vorstand, jedoch Mitarbeiter oder andere Dritte (z. B. Kunden oder Lieferanten) zumindest grob fahrlässige Verstöße gegen steuerrechtliche Vorschriften begangen haben. Abhängig vom Einzelfall ist in solchen Fällen zu klären, ob und in welcher Form den Dritten Gelegenheit gegeben werden kann, eine Berichtigungserklärung gemäß § 378 Abs. 3 AO oder eine strafbefreiende Selbstanzeige gemäß § 371 AO parallel zur Anzeige nach § 153 AO abzugeben. ___________ 138) Es besteht keine Pflicht zur Selbstbelastung, verankert in Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 1 Abs. 1 GG. Vgl. BVerfG, 13.1.1981 – 1 BvR 116/77; speziell zur AO: BVerfG, 21.4.1988 – 2 BvR 330/88. 139) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 5.2. 140) Vgl. BGH, Urt. v. 17.3.2009 – 1 StR 479/08, NJW 2009, 1984 (1986). 141) Vgl. BGH, Urt. v. 17.3.2009 – 1 StR 479/08, NJW 2009, 1984 (1986). 142) Vgl. Klein/Jäger, AO, § 371 Rz. 242.

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138 Obgleich eine solche Koordinierung wünschenswert ist, erweist sie sich oft als außerordentlich komplex und darf nicht dazu führen, dass der Vorstand gegen seine eigene Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige gemäß § 153 AO verstößt. Eine solche Koordinierung der Anzeige gemäß § 153 AO mit den Nacherklärungen Dritter scheidet zudem aus, wenn ein Informationsaustausch dem Vorstand der AG spezialgesetzlich verboten ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Vorstand der AG dem Verbot der Informationsweitergabe gemäß § 47 GwG nach einer erfolgten Geldwäscheverdachtsanzeige gemäß § 43 Abs. 1 GwG unterliegt. 3.

Konkretisierung der Indizien für/gegen eine vorwerfbare Steuerverkürzung durch die Finanzverwaltung

139 Im Anwendungserlass zu § 153 AO erläutert die Finanzverwaltung, welche Indizien für bzw. gegen das Vorliegen bedingten Vorsatzes oder Leichtfertigkeit in Bezug auf die Abgabe unrichtiger oder unvollständiger steuerrechtlicher Erklärungen sprechen. Unabhängig von der Bewertung dieser Einordnung durch die Beratungspraxis handelt es sich um Leitlinien, die Vorstand und Aufsichtsrat beachten sollten, weil die Schwelle zur Abgabe steuerlicher Erklärungen an die BuStra in den letzten Jahren kontinuierlich durch verwaltungsinterne Vorgaben gesenkt wurde. a)

Vorgaben in § 10 Betriebsprüfungsordnung

140 In § 10 Betriebsprüfungsordnung (BpO 2000) ist sinngemäß geregelt, dass eine Unterrichtung der BuStra unverzüglich durch den Außenprüfer zu erfolgen hat, wenn sich während einer Außenprüfung (i) zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Steuerstraftat ergeben oder (ii) wenn lediglich die Möglichkeit besteht, dass ein Strafverfahren durchgeführt werden muss. b)

Vorgaben in Nr. 130 ff. AStBV (St) 2023

141 In Nr. 130 Abs. 1 der Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren (Steuer) vom 4.1.2023 („AStBV (St) 2023“) ist geregelt, dass Finanzbeamte die BuStra und – sofern noch weitere Ermittlungen erforderlich sind – die Steuerfahndung bereits dann unverzüglich zu unterrichten haben, wenn sich der Verdacht einer Steuerstraftat ergibt. Besteht der Verdacht einer Steuerordnungswidrigkeit, so gilt das Gleiche mit der Einschränkung, dass eine Unterrichtungspflicht entfällt, wenn von der Durchführung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens gemäß § 47 OWiG abgesehen werden kann (Nr. 130 Abs. 2 AStBV (St) 2023).143) Darüber hinaus sieht Nr. 130 Abs. 3 Satz 1 AStBV (St) ___________ 143) Nach Nr. 130 Abs. 2 Satz 2 AStBV (St) 2023 kann trotz des Verdachts einer Steuerordnungswidrigkeit bei einem steuerlichen Mehrergebnis von unter 5.000 € in der Regel eine Unterrichtung der BuStra unterbleiben, solange nicht besondere Umstände hinsichtlich des vorwerfbaren Verhaltens für die Durchführung des Bußgeldverfahrens sprechen.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

2023 vor, dass eine Unterrichtung der BuStra durch die Finanzbeamten regelmäßig auch dann angezeigt ist, wenn sich bloß die Möglichkeit ergibt, dass ein Straf- oder Bußgeldverfahren durchgeführt werden muss. Die Schwelle, ab der eine solche Möglichkeit bestehen soll, ist denkbar niedrig 142 angesiedelt: Die Möglichkeit soll bereits dann bestehen, wenn für eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit Anhaltspunkte sprechen, die – auch ohne so verdichtet zu sein, dass sie einen Verdacht begründen – eine Untersuchung des Falles durch die BuStra geboten erscheinen lassen (Nr. 130 Abs. 3 Satz 2 AStBV (St) 2023). Allenfalls bei sog. vagen Vermutungen schuldhaften Verhaltens soll regelmäßig keine Unterrichtung der BuStra erforderlich sein (Nr. 130 Abs. 1 Satz 2 AStBV (St) 2023). Für den Bereich steuerrechtlicher Nacherklärungen wird in Nr. 132 AStBV (St) 143 2023 schließlich angeordnet, dass – mit Ausnahme gewisser Erleichterungen im Bereich der Nacherklärung von Umsatz- und Lohnsteuer – lediglich dann keine Vorlagepflicht an die BuStra besteht, wenn die betreffende Erklärung zweifelsfrei als Anzeige i. S. v. § 153 AO zu werten ist und auf nachträglichen Erkenntnissen des Steuerpflichtigen beruht. 4.

Abgrenzung unterschiedlicher Formen der Vorwerfbarkeit

Ein Fehler des Anzeige- und Berichtigungspflichtigen i. S. d. § 153 AO ist straf- 144 bzw. bußgeldrechtlich nur vorwerfbar, wenn er vorsätzlich (dann potentielle Steuerstraftat) bzw. leichtfertig (dann potentielle Steuerordnungswidrigkeit) begangen wurde.144) Bei der Bestimmung von bedingtem Vorsatz und grober Fahrlässigkeit (Leichtfertigkeit) gelten die allgemeinen Regelungen des Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrechts (§ 369 Abs. 2 AO, § 377 Abs. 2 AO).145) Hieraus folgt nach Auffassung der Finanzverwaltung, dass nicht jede objektive 145 Unrichtigkeit den Verdacht einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit nahelegt. Ob der Anfangsverdacht einer vorsätzlichen oder leichtfertigen Steuerverkürzung gegeben ist, ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen. Zu begrüßen ist, dass inzwischen auch nach den verwaltungsinternen Vorgaben nicht automatisch vom Vorliegen eines Anfangsverdachts allein aufgrund der Höhe der steuerlichen Auswirkung der Unrichtigkeit der abgegebenen Erklärung oder aufgrund der Anzahl der abgegebenen Berichtigungen ausgegangen werden soll. a)

Bedingter Vorsatz

Die Finanzverwaltung geht davon aus, dass ein bedingter Vorsatz im Hinblick 146 auf eine Steuerhinterziehung in Betracht kommt, wenn der Täter die Tatbe___________ 144) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.5. 145) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.5.

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standsverwirklichung für möglich hält.146) Es ist nicht erforderlich, dass der Täter die Tatbestandsverwirklichung anstrebt oder für sicher hält. Nach der BGHRechtsprechung ist für die Annahme des bedingten Vorsatzes neben dem FürMöglich-Halten der Tatbestandsverwirklichung zusätzlich erforderlich, dass der Eintritt des Taterfolges billigend in Kauf genommen wird.147) Für die billigende Inkaufnahme reicht es aus, dass dem Täter der als möglich erscheinende Handlungserfolg gleichgültig ist.148) 147 Hat der Steuerpflichtige allerdings ein innerbetriebliches Kontrollsystem (Æ Rz. 199 ff.) eingerichtet, das der Erfüllung der steuerlichen Pflichten dient, kann dies nach Auffassung der Finanzverwaltung ggf. ein Indiz gegen das Vorliegen eines Vorsatzes oder der Leichtfertigkeit darstellen. Ein solches Kontrollsystem befreit allerdings nicht von einer Prüfung des jeweiligen Einzelfalls.149) b)

Leichtfertigkeit (grobe Fahrlässigkeit)

148 Die Finanzverwaltung definiert Leichtfertigkeit als eine besondere Form der Fahrlässigkeit. Diese liegt vor, wenn jemand in besonders großem Maße gegen Sorgfaltspflichten verstößt und ihm dieser Verstoß besonders vorzuwerfen ist, weil er den Erfolg leicht hätte vorhersehen oder vermeiden können. Wurde leichtfertig eine unrichtige oder unvollständige Erklärung abgegeben, ist ein nachträgliches Erkennen dieses Fehlers möglich.150) c)

Einfluss externer steuerrechtlicher Beratung auf Vorwerfbarkeit

149 Bei Mandatierung eines Steuerberaters hat dieser den Mandanten (hier: AG, vertreten durch ihren Vorstand) umfassend zu beraten und ungefragt über alle steuerlich bedeutsamen Einzelheiten und deren Folgen zu unterrichten.151) Kommt der Steuerberater diesen Pflichten nicht nach, sind die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten der Steuerpflichtigen und damit auch der Rechtsschluss auf bedingten Vorsatz zur Begehung einer Steuerhinterziehung nach Auffassung des BFH überspannt, wenn man vom Steuerpflichtigen die Überwachung seiner Berater bei der Abgabe der Steuererklärungen verlangen würde.152) Vielmehr vertritt der BFH die Ansicht, dass der Steuerpflichtige mit der Beauf___________ 146) 147) 148) 149) 150) 151)

Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.6. Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.6. Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.6. Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.6. Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.7. Vgl. BGH, Urt. v. 11.5.1995 – IX ZR 140/94, BGHZ 129, 386; BGH, Urt. v. 16.12.1993 – IX ZR 30/93, WM 1994, 602. 152) Vgl. BFH, Urt. v. 16.1.1973 – VIII R 52/69, BStBl II 1973, 273; ähnlich insoweit auch Kohlmann/Ransiek, § 370 AO Rz. 626; Hübschmann/Hepp/Spitaler/Peters, § 370 AO Rz. 447 f.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

tragung eines Steuerberaters gerade zum Ausdruck bringt, dass er seine steuerlichen Verpflichtungen umfassend erfüllen will, sodass aus der Nichtabgabe einer Steuererklärung nicht geschlossen werden kann, dass der Steuerpflichtige damit die Möglichkeit einer Steuerverkürzung billigt und in Kauf nimmt.153) Ob es sich bei der betreffenden Steuererklärung um deren erstmalige Abgabe oder um deren Berichtigung handelt, kann nach unserer Auffassung keinen Unterschied machen. 5.

Zeitpunkt der Anzeige und Berichtigung

In der Praxis kommt der Frage, ob eine Anzeige nach § 153 AO noch unver- 150 züglich ist, aus den o. g. Gründen eine entscheidende Bedeutung zu. In § 153 AO wird der Begriff der Unverzüglichkeit nicht normspezifisch definiert. Nach Auffassung der Finanzverwaltung ist eine Anzeige nach § 153 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AO dann unverzüglich, wenn sie ohne schuldhaftes Zögern gegenüber der zuständigen Finanzbehörde erstattet wird.154) Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Verpflichtete tatsächlich erkennt, 151 dass eine in der Vergangenheit getätigte Erklärung unrichtig oder unvollständig ist. Ein bloßes Erkennen-können bzw. Erkennen-müssen führt dem gegenüber nicht zum Fristanlauf.155) Die Zeitspanne, die einem Steuerpflichtigen oder – im Fall der Aktiengesellschaft – dem Vorstand als gesetzlichem Vertreter zugestanden wird, um noch unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, die gebotene Anzeige zu tätigen, ist einzelfallabhängig. Nach der wohl h. M. richtet sich die Zeitspanne danach, ob es sich um einen einfachen oder komplizierten Sachverhalt handelt. Zu berücksichtigen sei auch, welchen Schwierigkeitsgrad die inzident regelmäßig erforderliche steuerrechtliche Würdigung habe und ob diese rechtssicher durch den Vorstand und die zuständigen Mitarbeiter der AG erfolgen könne oder zusammen mit externen Beratern erfolgen müsse.156) Unabhängig von der gebotenen Einzelfallprüfung sollten Vorstand und Auf- 152 sichtsrat einer AG die in der Literatur und Beratungspraxis hierzu aktuell vertretenen Auffassungen im Rahmen möglicher Anzeigen gemäß § 153 AO berücksichtigen. In der Literatur und der Beratungspraxis werden insoweit unterschiedliche Auffassungen vertreten: Einfacher Sachverhalt: In der Fachliteratur wird vertreten, dass bei einem als einfach einzuschätzenden Sachverhalt, dessen unrichtige bzw. unvollständige Darlegung gegenüber der Finanzverwaltung nachträglich erkannt ___________



153) Vgl. BFH, Urt. v. 16.1.1973 – VIII R 52/69, BStBl II 1973, 273; LG Hannover, Urt. v. 13.3.1990 – 17 O 415/89, DStR 1990, 678. 154) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 5.1. 155) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.4, Rz. 4. 156) Vgl. Schulz/Schwartz/Stürzl-Friedlein, Compliance Management im Unternehmen, 25. Kapitel Rz. 19.

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§ 14 Steuerrecht

wird, eine Anzeige innerhalb von (i) einem Tag,157), (ii) zehn Tagen158) und (iii) fünf Tagen bis zwei Wochen159) noch als unverzüglich zu qualifizieren ist. 

Sachverhalt von mittlerem Schwierigkeitsgrad: Im Hinblick auf einen (offenbar) durchschnittlichen Sachverhalt bzw. Sachverhalt von mittlerem Schwierigkeitsgrad wird in der Fachliteratur ganz überwiegend vertreten, dass die Anzeige eines Steuerpflichtigen noch unverzüglich ist, wenn diese innerhalb einer Frist von zwei Wochen erfolgt.160) Nur vereinzelt wird insoweit vertreten, dass eine deutlich kürzere Frist zu beachten sei, nämlich eine Frist von drei Tagen.161)



Schwieriger Sachverhalt: Bei als komplex begriffenen Sachverhalten wird in der Literatur zum Teil ebenfalls eine Frist von (nur) zwei Wochen als akzeptabel angesehen.162) Zum Teil wird auch vertreten, dass eine Frist von drei Wochen zu gewähren ist.163)



Beratungspraxis: Zum Teil wird in der Beratungspraxis ohne nähere Fundstellen und unabhängig vom Einzelfall vertreten, dass es für eine unverzügliche Anzeige ausreichend sei, wenn diese innerhalb von zehn Tagen erfolgt. Ein solcher Beratungsansatz wird vom Vorstand einer AG regelmäßig kritisch zu hinterfragen sein, wenn er nicht auf die individuellen Verhältnisse des Einzelfalls eingeht und sich nicht mit der o. g. Diskussion in der Fachliteratur auseinandersetzt.

153 Die vorgenannten Literaturauffassungen zeichnen ein differenziertes Bild, dessen sich der Vorstand einer AG im Rahmen der Organisation der betrieblichen Abläufe, die auf die Abgabe von Anzeigen nach § 153 AO gerichtet sind, bewusst sein muss. Es sollte allerdings stets im Auge behalten werden, dass allein die Zeitspanne zwischen dem Vermuten einer fehlerhaften Erklärung und dem Zeitpunkt des Fehlererkennens von der Schwierigkeit des Sachverhalts abhängen kann. Die Zeit nach Erkennen des Fehlers bis zur Anzeige gegenüber den Finanzbehörden im Anschluss an das Erkennen ist allerdings ein formaler Prozess, dessen Schwierigkeiten insbesondere in der richtigen Formulierung der Korrekturanzeige – die ggf. als Selbstanzeige i. S. d. § 371 AO zu verfassen ist – liegen. Soweit die Abstimmung mit internen Gremien oder im Konzern erforderlich ist, ist zu beachten, dass die steuerrechtlichen Pflichten des Vorstands ___________ 157) 158) 159) 160)

Vgl. Klein/Rätke, AO, § 153 Rz. 20. Vgl. Neuling, DStR 2015, 558 (562). Vgl. Beermann/Gosch/Schindler, § 153 AO Rz. 27; Jehke/Dreher, DStR 2012, 2467 (2470). Vgl. Neuling, DStR 2015, 558 (562); Nieland, AO-StB 2008, 151 (152); Jesse, BB 2011, 1431 (1439); Hübschmann/Hepp/Spitaler/Heuermann, AO/FGO, § 153 AO Rz. 15. 161) Vgl. Bruschke, DStZ 2011, 210 (212). 162) Vgl. Klein/Rätke, AO, § 153 Rz. 20. 163) Vgl. Bruschke, DStZ 2011, 210 (212).

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

im Außenverhältnis unabhängig von internen Organisationsreglements zu erfüllen sind. Das sich an eine Fehleranzeige anschließende Ermitteln der nötigen Korrekturen 154 ist strikt zu unterscheiden. Die hierfür notwendige Zeit dürfte wiederum von der Komplexität des Sachverhalts abhängen. Es empfiehlt sich deshalb, den Kontakt mit der Finanzbehörde zu suchen und Zeitspanne, Art und Umfang der Sachverhaltsaufklärung und die Formalien (ggf. Abgabe korrigierter Formulare etc.) zu erörtern bzw. transparent zu machen. a)

Sonderfall: Bloße Anzeigepflicht gemäß § 153 Abs. 2 AO

Eine Sonderstellung nimmt die Anzeigepflicht gemäß § 153 Abs. 2 AO ein. 155 Denn nach dieser Norm besteht zwar eine Anzeigepflicht, jedoch keine Berichtigungspflicht, wenn die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung, eine Steuerermäßigung oder eine sonstige Steuervergünstigung nachträglich ganz oder teilweise wegfallen.164) b)

Verhältnis zu spezialgesetzlichen Korrekturvorschriften

Schließlich führt die Finanzverwaltung im Anwendungserlass zu § 153 AO weiter 156 aus, dass spezialgesetzliche Verpflichtungen zur Nacherklärung der Regelung des § 153 AO vorgehen.165) Diese systematisch richtige Aussage der Finanzverwaltung schafft die nötige Rechtssicherheit für die Praxis. Denn der Vorstand der AG hat insoweit nur die Verfahrensvoraussetzungen (insbesondere Fristen) des jeweiligen Spezialgesetzes zu beachten. c)

Konsequenzen für Aufsichtsrat

Steht eine Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit durch Vorstandsmit- 157 glieder im Raum, so ist darüber hinaus der Aufsichtsrat einer AG gehalten, eine eigene Untersuchung durchzuführen, um mögliche Pflichtverstöße durch den Vorstand aufzuklären. IX.

Exkurs: Pflicht zur Implementierung eines Tax CMS?

Die Anforderungen an die Tax Compliance-Funktion von Unternehmen sind 158 in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Gründen gestiegen. Hintergrund hierfür sind neben dem unternehmensinternen Bedürfnis, komplexe Prozesse gesetzeskonform und effizient zu strukturieren, die zunehmende Regelungsdichte im Steuerrecht166) und die abnehmende Fehlertoleranz der Finanzbehör___________ 164) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.3. 165) Vgl. AEAO zu § 153 AO Rz. 2.3. 166) Vgl. Geberth/Welling, DB 31/2015, 1742 (1742).

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§ 14 Steuerrecht

den.167) Für den Vorstand einer AG stellt sich heute mehr denn je die Frage, wie er das Unternehmen und sich selbst vor Bußgeldern oder strafrechtlichen Sanktionen schützen kann. In diesem Zusammenhang hat eine Diskussion darüber eingesetzt, ob Unternehmen ein spezielles innerbetriebliches Kontrollsystem, ein sogenanntes Tax CMS, unterhalten müssen. Ein solches ist jedenfalls geeignet, die steuerstraf- und steuerordnungswidrigkeitenrechtlichen Risiken für die Unternehmensverantwortlichen, die Mitarbeiter und das Unternehmen selbst erheblich zu minimieren.168) Dies gilt umso mehr angesichts des neuen Anwendungserlasses zu § 153 AO. 1.

Neuer Anwendungserlass zu § 153 AO

159 Die Finanzverwaltung hat, wie oben unter (Æ Rz. 127 ff.) dargestellt, die praktische Bedeutung der Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen bloßem Versehen, Leichtfertigkeit und Vorsatz bei der Nacherklärung erkannt. Im Anwendungserlass wird insbesondere eine Abgrenzung der steuerlichen Anzeige- und Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO und der strafrechtlich relevanten Selbstanzeige nach § 371 AO vorgenommen. 160 Aus diesem Grund enthält der Anwendungserlass zu § 153 AO in Rz. 2.6 den Hinweis, dass ein Tax CMS als ein Indiz dafür zu werten sein könne, dass eine tatsächlich gegebene Steuerverkürzung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig war. Fällt dieser Vorwurf im konkreten Fall weg, drohen weder straf- noch bußgeldrechtliche Sanktionen für AG und Vorstand. Diese neue Entwicklung begünstigt eine Verlagerung unternehmerischer Pflichten von der bloßen Abgabe fristgerechter Erklärungen oder der pflichtgemäßen Abwicklung von Betriebsprüfungen hin zu einer umfassenden Organisation steuerlicher Verpflichtungen sowie einer aktiven Kontrolle steuerlicher Risiken etwa durch die Sensibilisierung bereichsfremder Mitarbeiter für steuerrechtliche Problematiken.169) Die Bedeutung innerbetrieblicher Kontrollinstrumente nimmt zu, was zu einer Entlastung der Finanzverwaltung bei der steuerlichen Außenprüfung und einer Verlagerung in Richtung eines „Horizontal Monitoring“ führen soll.170) Daneben begrenzt die Änderung des Anwendungserlasses auch die stetig fortschreitende Kriminalisierung des Steuerrechts und wirkt der Rechtsunsicherheit in Bezug auf das Zusammenspiel der Berichtigungspflicht nach § 153 AO und der Selbstanzeige nach §§ 371, 398a AO entgegen.171)

___________ 167) 168) 169) 170) 171)

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Vgl. Geberth/Welling, DB 31/2015, 1742 (1743). Vgl. Aichberger/Schwartz, DStR 2015, 1758 (1764). Vgl. Birkemeyer/Koch, Ubg 2016, 90 (90). Vgl. Ball/Papasikas, BB 2016, 1495 (1495). Vgl. Seer, DB 2016, 2192 (2196); vgl. auch Esterer, DB 21/2016, M5.

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A. Steuerrechtliche Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

2.

IDW Praxishinweis 1/2016

Auf Anregung des BMF hat das Institut der Wirtschaftsprüfer am 31. Mai 2017 161 den „IDW Praxishinweis 1/2016: Ausgestaltung und Prüfung eines Tax Compliance Management Systems gemäß IDW PS 980“ (im Folgenden: „PH 1/2016“) verabschiedet,172) der die im IDW Standard PS 980 zu den Grundsätzen der Prüfung von Compliance Management Systemen173) niedergelegten Grundsätze für Tax CMS konkretisiert. Beim PH 1/2016 konnte das IDW bei vielen Regelungen auf die Prüfungssys- 162 tematik in IDW PS 980 verweisen, soweit keine steuerspezifischen Besonderheiten zu regeln waren, wie z. B. die Einordnung der Prüfung eines Tax CMS als Systemprüfung, die Prüfungstiefe (Angemessenheits- oder Wirksamkeitsprüfung) oder die Qualifizierung von wesentlichen Fehlern. Wegen der großen Praxisrelevanz werden Aufgaben und Struktur des Tax CMS 163 in C. „Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS“ mit typischen Praxisbeispielen näher dargestellt (Æ Rz. 199 ff.). 3.

Hinweise der Bundessteuerberaterkammer zum Steuer-IKS

Im Juli 2018 hat zudem die Bundessteuerberaterkammer Hinweise für ein steuer- 164 liches innerbetriebliches Kontrollsystem (Steuer-IKS) veröffentlicht, die insbesondere Steuerberatern den Umgang mit einem Tax CMS erleichtern sollen.174) Die Hinweise betreffen allerdings kleine und mittelständische Unternehmen,175) sodass hier nur der Vollständigkeit halber auf diese hingewiesen wird. 4.

Stand der Diskussion in steuer-(straf-)rechtlicher Literatur

Die Veröffentlichung des Entwurfs des PH 1/2016 im Juli 2016 hat einen breiten 165 Diskurs in der steuer-(straf-)rechtlichen Fachliteratur zu der Frage ausgelöst, in welchem Umfang sich aus einem Tax CMS tatsächlich eine strafrechtliche Entlastungswirkung im Einzelfall ergibt.176) Diese Frage hat unseres Erachtens vor allem eine rechtstheoretische Relevanz, denn in der Praxis dürften Finanzbeamte aufgrund der Ausführungen in Rz. 2.6 AEAO zu § 153 AO bei Vorhandensein eines funktionsfähigen Tax CMS bei Fehlerberichtigungen im Bereich der Unternehmensbesteuerung zukünftig deutlich seltener Ermittlungen wegen möglicher Steuerordnungswidrigkeiten oder -straftaten veranlassen. Diese Ent___________ 172) Vgl. IDWLife 2017, 837 ff. 173) Vgl. IDW Prüfungsstandard, Grundsätze ordnungsmäßiger Prüfung von Compliance Management Systemen (IDW PS 980), WPg Supplement 2/2011, S. 78 ff. 174) Vgl. Menner/Bexa, CCZ 2019, 129 (131). 175) Vgl. Hinweise der Bundessteuerberaterkammer zum Steuer-IKS, Rz. 10, 12 (abrufbar unter: https://www.stbvsh.de/static/content/e3/e23645/e124826/e131002/issues5/downloads1/ file/ger/Hinweise%20der%20Bundessteuerberaterkammer.pdf?checksum= 09f61d7e4a6626531bdac922dad46b60e526bf7e). 176) Vgl. hierzu insbes. Erdbrügger/Jehke, BB 2016, 2455 ff.

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§ 14 Steuerrecht

wicklung kann zudem durch die Begutachtung des bestehenden Tax CMS durch einen unabhängigen Experten noch begünstigt werden.177) 166 Eine steuergesetzliche Pflicht zur Implementierung eines Tax CMS existiert (bisher) in Deutschland allerdings nicht.178) Dieser Umstand, verbunden mit der fehlenden Bindungswirkung der Auffassung der Finanzverwaltung, könnte die praktische Relevanz des Tax CMS zwar schmälern.179) Allerdings kann sich die gesteigerte Erwartungshaltung der Finanzverwaltung an die steuerliche Eigenorganisation der Unternehmen auch ohne konkrete Rechtspflicht zu einer faktischen Verpflichtung verdichten.180) Auch wenn die praktische Notwendigkeit eines Tax CMS ansteigen dürfte, je größer und je komplexer ein Unternehmen ist,181) betrifft die neue Entwicklung nicht nur kapitalmarktorientierte Unternehmen. Angesichts der zunehmenden Komplexität steuerrechtlicher Regelungen sowie der Gefahr der nachhaltigen Reputationsschädigung und ungeplanter bzw. zu hoher Zahlungsabflüsse sind auch mittelständische Unternehmen gut beraten, wenn sie sich um ein aktives Steuermanagement durch Errichtung eines Tax CMS bemühen.182) X.

Mitwirkung im Rahmen der Außenprüfung gemäß § 200 AO

167 Das für Steuern zuständige Vorstandsmitglied hat dafür Sorge zu tragen, dass die Mitwirkungspflichten der AG zur Feststellung der für die Besteuerung erheblichen Sachverhalte im Rahmen von Außenprüfungen (§ 200 AO) erfüllt werden. Es können zwar Auskunftspersonen formlos benannt werden (z. B. der Leiter der Steuerabteilung oder der Leiter der Buchhaltung). Die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds erlöschen hierdurch allerdings nicht (§ 8 Abs. 1 BpO).183) 168 Der Außenprüfer ist grundsätzlich verpflichtet, sich mit seinen Anfragen und Auskunftsersuchen an die benannten Personen zu wenden. Sind die benannten Personen allerdings nicht in der Lage oder nicht willens, die Auskünfte zu erteilen, wird der Außenprüfer an das ressortzuständige Vorstandsmitglied herantreten. Dieses kann dann die entsprechenden Auskünfte erteilen oder andere geeignete Auskunftspersonen benennen. Wenn weder das ressortzuständige Vorstandsmitglied noch die benannten Personen in der Lage sind, die geforderten Auskünfte zu erteilen, darf sich der Außenprüfer an andere (nicht benannte) Betriebsangehörige wenden.184) ___________ 177) 178) 179) 180) 181) 182) 183) 184)

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Vgl. Erdbrügger/Jehke, BB 2016, 2455 (2460). Vgl. Wolfersdorff/Hey, WPg 2016, 934 (939). Vgl. Wolfersdorff/Hey, WPg 2016, 934 (940). Vgl. Erdbrügger/Jehke, BB 2016, 2455 (2460). Vgl. Erdbrügger/Jehke, BB 2016, 2455 (2460). Vgl. Creed/Link, BB 2016, 983, (983). Vgl. Betriebsprüfungsordnung (BpO) v. 15.3.2000, BStBl I 2000, 368. So auch Tipke/Kruse/Seer, § 200 AO Rz. 18.

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B. Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat

Im Rahmen der Mitwirkung sind insbesondere Auskünfte zu erteilen, Auf- 169 zeichnungen, Bücher, Geschäftspapiere und andere Urkunden zur Einsicht und Prüfung vorzulegen, die zum Verständnis der Aufzeichnungen erforderlichen Erläuterungen zu geben und die Finanzbehörde bei der Prüfung der in den Datenverarbeitungssystemen der AG vorgehaltenen Daten (sog. digitale Außenprüfung, § 147 Abs. 6 AO) zu unterstützen. Auf Anforderung sind vorhandene Aufzeichnungen und Unterlagen vorzulegen, die nach Einschätzung der Finanzbehörde für eine ordnungsgemäße und effiziente Abwicklung der Außenprüfung erforderlich sind. Einer zusätzlichen Begründung bedarf es hinsichtlich der steuerlichen Bedeutung hierfür nicht.185) Die Anforderung muss allerdings notwendig, zumutbar, erfüllbar und verhältnismäßig sein.186) Der Abschlussprüfer darf grundsätzlich auch Aufsichtsrats- und Vorstandsprotokolle anfordern.187) Erklärt ein Vertreter der AG nach Durchsicht allerdings, dass einzelne Protokolle keine steuerlich erheblichen Informationen enthalten, soll eine Einsichtnahme in diese Protokolle nur bei berechtigten Zweifeln an der Aussage des Vertreters zulässig sein.188) Die Unterlagen sind grundsätzlich in den Geschäftsräumen der AG oder an 170 Amtsstelle vorzulegen. Ein anderer Prüfungsort kommt nur ausnahmsweise in Betracht (§ 6 BpO). Dem Außenprüfer sind ein zur Durchführung geeigneter Raum oder Arbeitsplatz sowie die erforderlichen Hilfsmittel unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Die Außenprüfer sind berechtigt, Grundstücke und Betriebsräume zu betreten und zu besichtigen. Von Hinhalte- und Verzögerungstaktiken ist abzuraten.189) Die Finanzbehörde 171 kann Zwangsmittel androhen und festsetzen (§§ 328 ff. AO), Verzögerungsgeld festsetzen (§ 146 Abs. 2c AO) oder von den Schätzungsmöglichkeiten des § 162 AO Gebrauch machen. B.

Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat

I.

Anknüpfungspunkt

Sind Steuerschuldner nicht in der Lage, fällige Steuerschulden zu entrichten, 172 können andere Personen nach den §§ 69 ff. AO als sog. Haftungsschuldner von den Finanzbehörden in Anspruch genommen werden. Die Haftungsschuldner ___________ 185) Vgl. AEAO zu § 200 AO Rz. 1. 186) Vgl. BFH, Beschl. v. 11.9.1996 – VII B 176/94, BFH/NV 1997, 166; BFH, Beschl. v. 4.4.2005 – VII B 305/04, BFH/NV 2005, 1226; Klein/Rüsken, AO, § 200 Rz. 2; Koenig/ Intemann, AO, § 200 Rz. 6. 187) Vgl. BFH, Beschl. v. 13.2.1968 – GrS 5/67, BStBl II 1968, 365. 188) Vgl. BFH, Urt. v. 27.6.1968 – VII 243/63, BStBl II 1968, 592; BFH, Beschl. v. 13.2.1968 – GrS 5/67, BStBl II 1968, 365; kritisch gegenüber dieser Einschränkung der Vorlagepflichten Koenig/Intemann, AO, § 200 Rz. 19. 189) So auch Tipke/Kruse/Seer, § 200 AO Rz. 5.

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§ 14 Steuerrecht

stehen neben dem Steuerschuldner mit dem eigenen Vermögen für eine fremde Steuerschuld ein. Neben den allgemeinen Haftungstatbeständen der §§ 69 ff. AO existieren spezialgesetzliche Haftungstatbestände, wie z. B. die Haftung für Lohnsteuern nach § 42d EStG, für Kapitalertragsteuer nach § 44 Abs. 5 EStG, für die sog. Aufsichtsratsteuer nach § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG oder für nicht entrichtete Steuern aus einer Lieferung, die mittels einer elektronischen Schnittstelle unterstützt wurde (§ 25e UStG). Im Übrigen ist auch eine Inanspruchnahme nach zivilrechtlichen Grundsätzen (z. B. bei Erwerb eines Handelsgewerbes nach § 25 HGB oder bei Bürgschaften nach § 765 BGB) möglich. 173 Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, etwaigen Haftungsrisiken durch eine ordnungsgemäße Organisation der Aufgabenverteilung auf Vorstandsebene und zwischen Vorstand und Steuerabteilung (Æ Rz. 38 ff.) sowie durch die Implementierung eines wirksamen Tax CMS (Æ Rz. 199 ff.) entgegenzuwirken. II.

Persönliche Haftung nach § 69 AO

1.

Grundsatz

174 Der Vorstand haftet für Steuern der AG nach § 69 AO, soweit Steueransprüche infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der dem Vorstand auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind.190) Gleiches gilt für den Fall, dass aufgrund der vorgenannten Pflichtverletzungen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Das größte Risiko ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Verantwortlichkeit nicht auf den eigenen Tätigkeitsbereich beschränkt, sondern auch Aufgaben außerhalb dieses Rahmens umfasst.191) Diese Gefahr kann nur durch straffe interne Organisation und intensiven Informationsaustausch relativiert werden.192) Die Haftung umfasst nach § 69 Satz 2 AO auch die zu zahlenden Säumniszuschläge, auch wenn diese erst nach der die Haftung begründenden Pflichtverletzung entstanden sind.193) 175 Steuerschuldner und Haftungsschuldner haften grundsätzlich als Gesamtschuldner gemäß § 44 AO. Einschränkungen dieses Grundsatzes sind nur in engen Ausnahmefällen möglich.194) 176 Die Haftung nach § 69 AO hat zwar Schadensersatzcharakter, sie kann allerdings aufgrund ihrer öffentlich-rechtlichen Natur im Außenverhältnis nicht wirksam ___________ 190) Aufgrund der schuldhaften Nichterfüllung dieser Pflichten kann der Vorstand unter anderem auch für die für einen anderen einzubehaltenden und abzuführenden Steuern (z. B. die Lohnsteuer oder Kapitalertragsteuer) haften, vgl. Tipke/Kruse/Drüen, § 37 AO Rz. 7. 191) Vgl. Talaska, BB 2012, 1195 (1200). 192) Vgl. Talaska, BB 2012, 1195 (1198 f.). 193) Vgl. BFH, Urt. v. 22.2.1980 – VI R 185/79, BStBl II 1980, 375. 194) Vgl. hierzu anhand von Beispielen Gehm StBp 2017, 135 (141).

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B. Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat

abbedungen werden.195) Bei der Prüfung und Minimierung des Haftungsrisikos nach § 69 AO sind die folgenden Punkte von praktischer Bedeutung. 2.

Voraussetzungen

Die Haftung nach § 69 AO ist an folgende kumulative Voraussetzungen ge- 177 bunden: a) Der Haftungsschuldner muss zunächst zu einem in den §§ 34 und 35 AO genannten Personenkreis gehören, sprich gesetzlicher Vertreter oder Vermögensverwalter oder aber Verfügungsberechtigter sein. Der Vorstand einer AG fällt somit anders als der Aufsichtsrat regelmäßig in den persönlichen Anwendungsbereich der Norm. Maßgeblich für die Haftung nach § 69 AO ist allein die Stellung als Vorstand im Zeitpunkt der Pflichtverletzung (vgl. § 35 AO). Hieraus folgt, dass die Haftung nach § 69 AO nicht dadurch entfällt, dass der Vorstand sein Amt niederlegt oder abberufen wird.196) Der Aufsichtsrat ist als Aufsichtsorgan nicht gesetzlicher Vertreter i. S. v. § 34 AO.197) b) Eine Pflichtverletzung liegt vor, wenn gegen eine durch Steuergesetze auferlegte Pflicht verstoßen wird. Eine bloße Verletzung handelsrechtlicher Pflichten genügt daher nicht.198) Umfasst sind neben der Pflicht zur rechtzeitigen Entrichtung der Steuer sowie der pünktlichen Abgabe der Steuererklärung etwa auch Buchführungs-, Erklärungs-, Mitwirkungs- und Auskunftspflichten.199) c) Zwischen dem eingetretenen Schaden und der festgestellten Pflichtverletzung muss ein Kausalzusammenhang im Sinne der zivilrechtlichen Adäquanztheorie200) bestehen. Wäre der Steuerschaden auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten eingetreten, ist die Kausalität zu verneinen.201) Generell sind jedoch hypothetische Kausalverläufe nach Ansicht der Rechtsprechung nicht zu berücksichtigen.202) d) Das Verschulden ist grundsätzlich sowohl bei vorsätzlichem als auch bei grob fahrlässigem Verhalten zu bejahen.203) Wichtig für die Praxis ist, dass die Pflichtverletzung nach ständiger Rechtsprechung das Verschulden indi___________ Vgl. Gehm, StBp 2017, 135 (135); Gehm, BuW 1999, 894 m. w. N. Vgl. Gehm, StBp 2017, 135 (137). Vgl. Koenig/Koenig, AO, § 34 Rz. 11. Vgl. Klein/Rüsken, AO, § 69 Rz. 25. Vgl. AEAO zu § 34 AO Rz. 1. Vgl. zur Adäquanztheorie: MünchKommBGB/Oetker, § 249 Rz. 109 ff.; BeckOK BGB/ Flume, § 249 Rz. 284 ff. m. w. N. 201) Vgl. BFH, Urt. v. 29.11.2006 – I R 103/05, BFH/NV 2007, 1067. 202) Vgl. BFH, Urt. v. 5.6.2007 – VII R 65/05, BFH/NV 2007, 1942, BStBl II 2008, 273. 203) Vgl. hierzu ausführlich Klein/Rüsken, AO, § 69 Rz. 145 ff.

195) 196) 197) 198) 199) 200)

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§ 14 Steuerrecht

ziert.204) Diesem weiten Verschuldensmaßstab folgend, treffen den Haftungsschuldner auch Überwachungspflichten sowie ein Übernahmeverschulden für Alt-Steuerschulden. Der grundsätzlich subjektive Sorgfaltsmaßstab wird auf objektive Gesichtspunkte verlagert und der Haftungsmaßstab somit ausgedehnt.205) Der Vorstand hat demzufolge bei seiner Bestellung zu prüfen, ob offene Steuerverbindlichkeiten aus der Zeit vor seiner Bestellung bestehen. Ist dies der Fall, so hat der Vorstand die betreffenden Steuerschulden grundsätzlich nach dem Grundsatz der anteiligen Tilgung zu begleichen.206) 3.

Keine Enthaftung aufgrund besonderer wirtschaftlicher Umstände

178 Wurde ein Vorstand formell bestellt, kann er seine Haftung nach § 69 AO nicht unter Hinweis auf seine Einbindung in eine Konzernstruktur oder die Überlassung der tatsächlichen Geschäftsführung an dritte Sanierungsexperten vermeiden.207) 4.

Haftungsschaden und Haftungsumfang

179 Eine Haftung kommt nur infrage, soweit durch die haftungsbegründende Handlung ein tatsächlicher Vermögensschaden verursacht wurde. Die Haftungssumme erstreckt sich neben den durch die Pflichtverletzung verkürzten Steuern (im Vergleich zu denjenigen, die der Haftende tatsächlich zu entrichten verpflichtet war) und den unrechtmäßig gezahlten Steuervergütungen bzw. -erstattungen auch auf steuerliche Nebenleistungen i. S. d. § 3 Abs. 4 AO soweit sie nach Kausalitätserwägungen auf der Pflichtverletzung beruhen.208) Dabei wird die Haftung zudem der Höhe nach durch den Vorsatz bzw. die grobe Fahrlässigkeit des Haftenden begrenzt, sodass entsprechend nur für diejenigen Steuern gehaftet wird, die auch vom Vorsatz bzw. von der groben Fahrlässigkeit umfasst sind. Das Verschulden bezieht sich daher nicht nur auf die Pflichtverletzung, sondern auch auf die Folgen der Pflichtverletzung. 180 Die Haftung des Vorstands nach § 69 AO besteht für Steuerschulden grundsätzlich nur, wenn die betreffenden Steuerschulden (z. B. USt, GewSt, KSt) bei Fälligkeit – im Verhältnis zu den anderen Verbindlichkeiten der AG – nachrangig bedient werden (sog. Grundsatz der Gleichbehandlung).209) Eine Haftung ___________ 204) Vgl. etwa Beschluss v. 5.3.1998 – VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325. 205) Vgl. Werder/Rudolf, BB 2016, 1433 (1437). 206) BFH, Beschl. v. 9.12.2005 – VII B 124-125/05, BFH/NV 2006, 897; BFH, Beschl. v. 16.2.2006 – VII B 122/05, BFH/NV 2006, 1051. 207) Vgl. Gehm, StBp 2017, 135 (135); BFH, Beschl. v. 19.11.2002 – VII B 191/01, BFH/NV 2003, 442; BFH, Beschl. v. 12.5.2009 – VII B 266/08, BFH/NV 2009, 1589. 208) Vgl. Gehm, StBp 2017, 135 (137). 209) Vgl. Gehm, StBp 2017, 135 (138); vgl. BFH, Urt. v. 17.7.1985 – I R 205/80, BStBl II 1985, 702; BFH, Urt. v. 7.11.1989 – VII R 34/87, BStBl II 1990, 201.

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B. Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat

kommt deshalb nur in Höhe des Differenzbetrages in Betracht, mit dem die errechnete Tilgungsquote unterschritten wird (sog. Differenzhaftung). Im Rahmen der Bestimmung der Haftungshöhe gelangen somit die Grundsät- 181 ze über die anteilige Tilgung210) zur Anwendung. Danach entfällt die Haftung für solche Beträge, für deren Zahlung keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Folglich haftet der Betroffene nur für diejenigen Steuern, die ohne das pflichtwidrige Verhalten hätten beglichen werden können. Eine Ausnahme vom Grundsatz der anteiligen Tilgung von Steuerschulden be- 182 steht allerdings für Abzugsteuern, z. B. Lohnsteuer nach §§ 38, 41a EStG. Es handelt sich hier um treuhänderische Fremdgelder, die mit Vorrang gegenüber anderen Verbindlichkeiten der AG an das Finanzamt abzuführen sind.211) Die AG behält mit dem Lohnsteuerabzug fremdnützig Gelder der Arbeitnehmer zurück, die zur Begleichung von deren Steuerschuld bestimmt sind. Aus diesem Grund hat die AG die betreffenden Beträge auch vorrangig zur Zahlung der Lohnsteuerverbindlichkeit gegenüber dem Finanzamt einzusetzen. Verfügt die AG hingegen nur über Mittel in Höhe der ausgezahlten Nettolöhne, besteht ein Verschulden des Vorstands dann, wenn er die Löhne nicht zum Zweck der anteiligen Befriedigung des Finanzamtes wegen der Lohnsteuer nach § 38 Abs. 4 EStG entsprechend gekürzt an die Arbeitnehmer auszahlt.212) Da es sich bei der pauschalen Lohnsteuer nicht um eine Abzugsteuer, sondern um eine Unternehmensteuer eigener Art nach §§ 40–40b EStG handelt, greift hier der o. g. Grundsatz der Gleichbehandlung. 5.

Geltendmachung der Haftung – Verfahrensfragen

Der Haftungsanspruch wird durch die Finanzbehörde mittels Haftungsbe- 183 scheids i. S. v. § 191 AO geltend gemacht, wobei die Festsetzungsfrist zehn Jahre beträgt, § 191 Abs. 3 Satz 2 AO. § 191 AO stellt hierbei nicht die materiell-rechtliche Grundlage der Inanspruchnahme dar, sondern schafft lediglich die formellen Voraussetzungen für die Geltendmachung der Haftung.213) Voraussetzung für den Erlass ist neben der tatbestandlichen Erfüllung einer Haftungsnorm auch, dass die Steuerschuld zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung nicht erloschen ist.214) Dieselben Verfahrensregelungen finden auch für die Haftungstatbestände der §§ 70, 71 AO Anwendung.

___________ 210) 211) 212) 213) 214)

Vgl. dazu: Klein/Rüsken, AO, § 69 Rz. 58 ff. Vgl. BFH, Urt. v. 26.3.1985 – VII R 139/81, BStBl II 1985, 539. Vgl. BFH, Urt. v. 26.7.1988 – VII R 83/87, BStBl II 1988, 859. Vgl. Klein/Rüsken, AO, § 191 Rz. 1. Vgl. Klein/Rüsken, AO, § 191 Rz. 11.

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§ 14 Steuerrecht

III.

Haftung der AG nach § 70 AO

184 Neben die persönliche Haftung der gesetzlichen Vertreter gemäß § 69 AO kann darüber hinaus eine Haftung der AG im Rahmen der sog. Vertretenenhaftung nach § 70 AO treten. Zwischen beiden Haftungstatbeständen besteht dabei aus unterschiedlichen Gründen kein zwingender Gleichlauf: Die Voraussetzungen für die Vertretenenhaftung des § 70 sind enger als die nach § 69 AO: Zum einen muss der jeweilige Mitarbeiter die haftungsbegründende Tat (Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung) in Ausübung seiner Obliegenheit begehen.215) Zum andern kann sich die AG unter den Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 Satz 2 AO von der Haftung exkulpieren (Æ Rz. 188 f.).216) 1.

Haftungsvoraussetzungen nach § 70 Abs. 1 AO

185 Nach § 70 Abs. 1 AO haftet der Vertretene (hier die AG) für hinterzogene bzw. leichtfertig verkürzte Steuern, sofern seine gesetzlichen Vertreter oder Verfügungsberechtigten bei Ausübung ihrer Obliegenheiten eine Steuerhinterziehung bzw. leichtfertige Steuerverkürzung begehen bzw. an einer Steuerhinterziehung teilgenommen haben und hierdurch Steuerschuldner oder Haftende werden.217) Eine Haftung der AG scheidet aus, soweit sie selbst Steuerschuldner für die durch die Tat verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile ist. 186 Gesetzliche Vertreter der AG sind nur ihre Vorstände. Der Begriff der „verfügungsberechtigten Personen“ ist weniger eindeutig. Nach der Rechtsprechung ist eine Person als Verfügungsberechtigte anzusehen, die „rechtlich und wirtschaftlich, d. h. nach ihrer tatsächlichen Stellung, über fremde Wirtschaftsgüter verfügen kann und als solche nach außen“ auftritt.218) Hierzu dürften jedenfalls Prokuristen gehören, die im Rahmen ihrer rechtlichen Verfügungsmacht handeln.219) Die Kommentierung in der Fachliteratur fokussiert sich insoweit neben Prokuristen insbesondere auf faktische Geschäftsführer, Generalbevollmächtigte, beherrschende Gesellschafter, Testamentsvollstrecker, Insolvenzverwalter etc., also einen Personenkreis mit umfassender Verfügungsmacht.220) Nach der o. g. sehr weiten Formel der Rechtsprechung wäre u. E. aber nicht auszuschließen, dass unter bestimmten Umständen auch Mitarbeiter als Verfügungsberechtigte angesehen werden könnten, die nicht formell als solche bestellt worden sind oder sich über interne Beschränkungen hinwegsetzen.221) ___________ 215) 216) 217) 218) 219) 220) 221)

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Vgl. Tipke/Kruse/Loose, § 70 AO Rz. 16. Vgl. Kühn/v. Wedelstädt/Blesinger/Viertelhausen, § 70 AO Rz. 11. Vgl. Klein/Rüsken, AO, § 70 Rz. 3. Vgl. FG Hamburg, Urt. v. 24.6.2008 – 4 K 191/06, Rz. 9. Vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Boeker, § 70 AO Rz. 13, § 35 AO Rz 8, 19. Vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler/Boeker, § 70 AO Rz. 13, § 35 AO Rz. 8 f. Vgl. Bruschke, StB 2012, 359 (361).

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B. Steuerliche Haftungsrisiken für Vorstand und Aufsichtsrat

Die Vertreter und Verfügungsberechtigten müssten zudem „bei Ausübung ihrer 187 Obliegenheiten“ an der Steuerhinterziehung teilgenommen haben. Das erfordert, dass die Steuerstraftat des Organs bzw. Mitarbeiters in unmittelbarer Beziehung zu seiner Stellung und seinen Aufgaben stehen muss. Um diesen weiten Anwendungsbereich einzuschränken, wird von zahlreichen Stimmen in der Literatur gefordert,222) dass nur solche Mitarbeiter den Tatbestand verwirklichen können sollen, die aufgrund ihrer Stellung im Unternehmen gerade steuerliche Pflichten des Vertretenen zu erfüllen haben. Dies wird auch von der Rechtsprechung regelmäßig mitgeprüft, allerdings nicht in jedem Fall.223) Wissenswert ist insoweit, dass auch ein Vertreter der Finanzverwaltung in einem Literaturbeitrag aus 2012 ebenfalls gefordert hat, dass die betroffenen Personen „aufgrund ihrer Stellung im Unternehmen steuerliche Pflichten des Vertretenen zu erfüllen hatten,“ als sie die Steuerverfehlung begangen haben.224) 2.

Exkulpationsmöglichkeit nach § 70 Abs. 2 Satz 2 AO

§ 70 Abs. 2 Satz 2 AO sieht für die AG eine Exkulpationsmöglichkeit vor. Die 188 AG kann danach einer Haftung nach § 70 AO entgehen, wenn sie nachweist, dass sie (i) den betreffenden Mitarbeiter sorgfältig ausgesucht und beaufsichtigt hat und ihr (ii) aus der Tat des Mitarbeiters kein Vermögensvorteil erwachsen ist. Die letzte Voraussetzung ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut, wird in ständiger Rechtsprechung aber aufgrund des Zusammenhangs mit dem Wortlaut des § 70 Abs. 2 Satz 1 AO gefordert.225) Vereinzelt wird darüber hinaus gefordert, dass der Vermögensvorteil des Vertre- 189 tenen unmittelbar in der hinterzogenen Steuer bestehen müsse.226) Nach h. M. ist der Begriff des Vermögensvorteils allerdings weiter, sodass ein schädlicher Vermögensvorteil bereits vorliegt, wenn eine „Verbesserung der Vermögenslage, gleich aus welcher Quelle sie stammt, wenn sie nur durch die Tat erlangt ist“ vorliegt.227) Dies wäre nach der Rechtsprechung aber dann nicht der Fall, wenn keine Gewinne außerhalb der üblichen Handelsspannen erzielt wurden.228) IV.

Persönliche Haftung nach § 71 AO

Derjenige, der eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begeht oder an einer 190 solchen Tat teilnimmt, haftet gemäß § 71 AO für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile sowie für die Zinsen nach § 235 und ___________ 222) 223) 224) 225) 226) 227) 228)

Vgl. Tipke/Kruse/Loose, § 70 AO Rz. 16; Fehsenfeld, DStZ 2012, 852 (859). Vgl. Hessisches Finanzgericht, Urt. v. 26.5.2011 – 7 V 2951/10, Rz. 34. Vgl. Steinhauff, AO-StB 2013, 181. Vgl. FG Münster, Urt. v. 10.12.2013 – 2 K 4490/12, Rz. 26. Vgl. Klein/Rüsken, AO, § 70 Rz. 10. Vgl. FG Baden-Württemberg, Urt. v. 23.9.2014 – 11K 2762/10, Rz. 30. Vgl. BFH, Urt. v. 2.5.1991 – VII R 7/89, BFH/NV 1992, 219, Rz. 17.

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§ 14 Steuerrecht

§ 233a AO, soweit diese gemäß § 235 Abs. 4 AO auf die Hinterziehungszinsen angerechnet werden. 1.

Haftungsvoraussetzungen nach § 71 AO

191 Der Haftende muss demnach eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO) oder eine Steuerhehlerei (§ 374 AO) begangen haben (§ 25 StGB) oder sich an einer solchen Tat beteiligt haben (§§ 26, 27 StGB). Vor dem Hintergrund, dass Haftung als das Einstehenmüssen für eine fremde Schuld definiert wird, ist in praktischer Hinsicht wichtig, dass Steuerschuldner und Haftender nicht identisch sein können. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Wahlfeststellung sowohl zwischen den Delikten als auch zwischen Täterschaft und Teilnahme für die Begründung einer Haftung ausreicht. 192 Demgegenüber scheidet eine Haftung nach § 71 AO aus, wenn z. B. dem Vorstand der AG nur eine Steuerordnungswidrigkeit (§ 377 AO) vorgeworfen werden kann. 2.

Besonderheiten für Schadensbegriff und Verfahren

193 Bleibt eine Steuerstraftat daher im Versuchsstadium stecken, entfällt die Haftung mangels Schadens. 194 Für die Inanspruchnahme ist nicht erforderlich, dass der Täter wegen der Tat verurteilt wurde. Wurde der Täter hingegen bereits verurteilt, ist die Behörde nicht an das strafgerichtliche Urteil gebunden. Sie kann sich jedoch die Feststellungen des Urteils zu eigen machen. 195 Die Feststellungslast für die Erfüllung des objektiven und subjektiven Tatbestands des jeweiligen Delikts trifft die Finanzbehörde. Für die Bestimmung der Höhe der verkürzten Steuern erscheint dem BGH zufolge eine Schätzung (§ 162 AO) zulässig zu sein, vorausgesetzt der strafrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo“ gelangt zumindest im Ergebnis im Haftungsverfahren zur Anwendung. 196 Das Auswahlermessen der Behörde ist dahingehend vorgeprägt, dass vorrangig gegen den Straftäter vorzugehen ist, sodass die Ermessensentscheidung nicht besonders begründet werden muss. V.

Exkurs: Haftung für Sozialversicherungsbeiträge

197 Ebenfalls nicht außer Acht zu lassen ist die Tatsache, dass sich gemäß § 266a StGB i. V. m. § 263 StGB strafbar macht, wer als Arbeitgeber dafür sorgt, dass der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung vorenthalten werden. 198 Die Verwirklichung von § 266a StGB i. V. m. § 263 StGB stellt darüber hinaus eine Schutzgesetzverletzung i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB dar und führt dement-

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C. Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS

sprechend zu einer persönlichen Haftung des Vorstands mit dem gesamten Vermögen.229) Die sozialversicherungsrechtliche Haftung umfasst allerdings nur den Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung.230) Der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung ist demgegenüber eine Schuld des Arbeitgebers, für die keine Haftung des Vorstands besteht.231) C.

Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS

I.

Tax CMS – Aufgaben und Struktur

Vorab ist festzuhalten, dass der Verzicht auf ein Tax CMS bzw. ein nicht wirk- 199 sames Tax CMS weder eine Steuerhinterziehung noch eine leichtfertige Steuerverkürzung indiziert. Ein funktionsfähiges Tax CMS kann Unternehmen allerdings nicht nur effektiv vor Fehlern schützen, sondern trägt auch dazu bei, die Konsequenzen bei möglichen Verstößen gegen steuerliche Pflichten zu minimieren.232) Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend erläutert, wie ein Tax CMS grundlegend aufgebaut werden kann und welche Punkte im Rahmen einer externen Prüfung durch einen Wirtschaftsprüfer relevant sein können. II.

Aufbau von Tax CMS

In der Praxis orientieren sich Unternehmen, die sich vor dem Hintergrund der 200 Rz. 2.6 AEAO zu § 153 AO für die Einrichtung eines neuen bzw. Anpassung eines bestehenden Tax CMS entscheiden, oft weitgehend an den Vorgaben des IDW in IDW PH 1/2016 i. V. m. IDW PS 980. Während die konkrete Ausgestaltung eines Tax CMS unternehmensindividuell 201 zu erfolgen hat und insbesondere233) von der Größe des Unternehmens,234) Art und Umfang der Geschäftstätigkeit sowie von der Branche und der nationalen oder internationalen Ausrichtung des Unternehmens abhängt, zeichnet sich ein angemessenes Tax CMS, das entsprechend der Konzeption des IDW ausgestaltet ist, stets durch die gleiche Grundstruktur aus. Neben der Errichtung eines innerbetrieblichen Kontrollsystems anhand der 202 nachfolgenden Elemente ist auch ihre tatsächliche Umsetzung sowie ihre effek___________ 229) Vgl. MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 365; Beck’sches Handbuch der AG/Liebscher, § 6 Rz. 156. 230) Vgl. BGH Urt. v. 18.11.1997 – VI ZR 11/97, ZIP 1998, 31; BGH, Urt. v. 21.1.1997 – VI ZR 338/95, BGHZ 134, 304. 231) Vgl. Beck’sches Handbuch der AG/Liebscher, § 6 Rz. 156 m. w. N. 232) Vgl. Werder/Rudolf, BB 2016, 1433 (1442); Menner/Bexa, CCZ 2019, 129 (129); Kluge/ Geißler, WPg 2021, 737 (743). 233) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 24 für weitere Faktoren, die ebenfalls Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung eines Tax CMS haben können. 234) Vgl. zum Aufbau eines Tax CMS in mittelständischen Unternehmen: Demuß, DBSonderausgabe 02/2017, 84 ff.

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§ 14 Steuerrecht

tive Kontrolle und Dokumentation unverzichtbar für die Wirksamkeit des Tax CMS.235) Um die Effizienz des Systems zu gewährleisten muss jedoch sichergestellt werden, dass der Aufwand und die Kosten im Verhältnis zu den Steuerrisiken angemessen sind.236) 203 Gemäß IDW PS 980 basiert ein angemessenes Tax CMS auf sieben Grundelementen237) (Æ Rz. 204 bis 214). In IDW PH 1/2016 werden diese Grundelemente in Bezug auf ein Tax CMS näher konkretisiert:238) 1.

Tax-Compliance-Kultur

204 Die Tax-Compliance-Kultur239) betrifft die steuerrechtliche Grundeinstellung der AG, seines Vorstands und der leitenden Mitarbeiter sowie des Aufsichtsrats. Dies umfasst insbesondere die Bedeutung, die der Beachtung von steuerlichen Regeln und der ordnungsgemäßen Erfüllung steuerlicher Pflichten beigemessen wird; diese wiederum kann z. B. dadurch zum Ausdruck gebracht werden, wie Verstöße von Mitarbeitern gegen solche steuerlichen Regeln und Pflichten sanktioniert werden. 2.

Tax-Compliance-Ziele

205 Die Tax-Compliance-Ziele240) werden typischerweise aus der Unternehmensstrategie abgeleitet. Im Rahmen der Tax-Compliance-Ziele legt der Vorstand den Rahmen und die Aufgaben für die Steuerfunktion (d. h. insbesondere die Steuerabteilung) fest, d. h. beispielsweise ob diese sich darin erschöpfen, Steuererklärungen ordnungsgemäß (d. h. rechtzeitig, vollständig und inhaltlich richtig) abzugeben, oder ob darüber hinaus weitere steuerliche Ziele (z. B. Optimierung der Steuerbelastung oder der Erhalt steuerlicher Verluste auch bei Anteilseignerwechsel) erreicht werden sollen. Die Tax-Compliance-Ziele stellen darüber hinaus die Grundlage für die Beurteilung von Tax-Compliance-Risiken dar. 3.

Tax-Compliance-Organisation

206 Die Tax-Compliance-Organisation241) ist Bestandteil der Unternehmensorganisation. Hierbei werden durch den Vorstand insbesondere steuerrechtlich relevante Aufgaben verteilt (was sowohl die vertikale als auch die horizontale Delegation umfasst) sowie die jeweiligen Rollen und Verantwortlichkeiten gere___________ 235) 236) 237) 238) 239) 240) 241)

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Vgl. Nowroth, NWB 2015, 3406 (3413). Vgl. Risse, Ubg 2015, 9 (13). Vgl. IDW PS 980, Rz. 23. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 22 ff. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 26 ff. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 31 ff. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 35 ff.

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C. Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS

gelt. Insbesondere an den Schnittstellen zwischen der Steuerabteilung und anderen Fachbereichen ist festzulegen, wer wem welche Informationen zur Verfügung stellen muss bzw. wer welche Informationen an wen weitergeben muss. Ebenfalls Teil der Tax-Compliance-Organisation ist es, die erforderlichen Res- 207 sourcen zur Realisierung des Tax CMS bereitzustellen. Im Bereich der TaxCompliance-Organisation ist schließlich auch die strukturierte Information neu eintretender Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder über das Bestehen und die Funktionsweise eines implementierten Tax CMS sowie die Dokumentation des bei ausscheidenden Vorständen und Aufsichtsratsmitgliedern vorhandenen Sonderwissens mit Bezug zum Tax CMS zu verorten. 4.

Tax-Compliance-Risiken

Als sog. Tax-Compliance-Risiken242) werden (unter Berücksichtigung der Tax- 208 Compliance-Ziele, Æ Rz. 205) Risiken für Verstöße gegen einzuhaltende steuerrechtliche Regeln definiert. Dies erfolgt im Rahmen eines für die jeweilige Unternehmensorganisation angemessenen Verfahrens, bei dem steuerliche Risiken identifiziert, in Risikoklassen eingeordnet und im Hinblick auf ihre Eintrittswahrscheinlichkeit sowie mögliche Folgen analysiert werden. Typische Risikobereiche bei Aktiengesellschaften sind etwa Aufnahme und Über- 209 gabe steuererheblicher Daten innerhalb der Unternehmensprozesse aber auch der Wechsel von Zuständigkeiten bei Tax-Compliance-relevanten Prozessen im Rahmen von Urlaubsvertretungen, im Krankheitsfall oder beim plötzlichen Ausscheiden von Wissensträgern. 5.

Tax-Compliance-Programm

Auf Basis der identifizierten und analysierten Tax-Compliance-Risiken werden 210 im Rahmen des Tax-Compliance-Programms243) Grundsätze definiert und Maßnahmen eingeführt, die den Eintritt der erkannten Risiken und damit Compliance-Verstöße verhindern sollen (sog. präventive Maßnahmen). Daneben werden Maßnahmen für die Fälle festgelegt, in denen sich ein (steuer- 211 liches) Risiko realisiert oder ein sonstiger Compliance-Verstoß festgestellt wird (sog. detektive Maßnahmen). 6.

Tax-Compliance-Kommunikation

Im Rahmen der Tax-Compliance-Kommunikation244) werden die zuständigen 212 Mitarbeiter (und ggf. Dritte, die in die Erfüllung der steuerlichen Pflichten des ___________ 242) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 40 f. 243) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 42 ff. 244) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 47 ff.

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§ 14 Steuerrecht

Unternehmens eingebunden sind) über das Tax-Compliance-Programm sowie über die festgelegten Rollen und Verantwortlichkeiten informiert. Um die Mitarbeiter für die Notwendigkeit der Umsetzung und Einhaltung des ComplianceProgramms zu sensibilisieren, sind etwa Compliance-Handbücher, InhouseSchulungen, externe Fortbildungen zum Thema „Tax Compliance“ oder Webinare geeignet.245) Ebenfalls im Rahmen der Kommunikation wird festgelegt, wie Tax-Compliance-Risiken oder Hinweise auf Regelverstöße an die zuständigen Stellen im Unternehmen berichtet werden. 7.

Tax-Compliance-Überwachung und Verbesserung

213 Unter Tax-Compliance-Überwachung und Verbesserung246) werden unternehmensinterne Kontrollen gefasst. Werden durch Kontrollen und praktische Erfahrungen Mängel im Tax CMS oder Regelverstöße festgestellt, sind diese an den Vorstand oder sonstige zuständige Stellen im Unternehmen zu berichten. Sodann sind Maßnahmen zu treffen, um die Mängel im Tax CMS zu beseitigen bzw. zukünftige Regelverstöße möglichst zu vermeiden. 214 Hierzu bieten sich in vielen Fällen IT-gestützte Lösungen an, die an den unternehmensspezifischen Bedürfnissen ausgerichtet werden sollten, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insoweit Rechnung zu tragen.247) III.

Externe Prüfung des Tax CMS

215 Ebenso wenig wie eine gesetzliche Verpflichtung existiert, überhaupt ein Tax CMS einzurichten (Æ Rz. 199), gibt es auch keine rechtliche Verpflichtung ein bestehendes Tax CMS durch einen Dritten prüfen zu lassen. 216 Für die Prüfung eines Tax CMS durch einen Wirtschaftsprüfer („WP“) spricht unseres Erachtens allerdings, dass die in Rz. 2.6 AEAO zu § 153 AO vorgesehene positive Indizwirkung, die sich aus der Einrichtung eines funktionierenden Tax CMS im Unternehmen ergibt, hierdurch weiter erhöht wird.248) 217 Insbesondere ein Tax CMS, das erfolgreich einer sog. Wirksamkeitsprüfung (Æ Rz. 224) unterzogen worden ist, dürfte unseres Erachtens eine besonders hohe Entlastungswirkung entfalten. Zunächst ist zu beachten, dass das IDW ein Tax CMS in IDW PH 1/2016 als Unterfall eines Compliance Management Systems i. S. v. IDW PS 980 einordnet. In IDW PS 980 ist insoweit sinngemäß ausgeführt, dass die erfolgreich bestandene Wirksamkeitsprüfung eines CMS durch einen unabhängigen WP nach dem Standard IDW PS 980 als objektivier___________ 245) Vgl. Erdbrügger/Kaiser, Ubg 2016, 412 (414). 246) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 51 ff. 247) Vgl. zur Detaillierung IT-gestützter Lösungen: Kowalik, DB 35/2017, 1994 (1997), vgl. auch zum Praxisbeispiel zu § 37b EStG bei Hiller/Straub, BB 2015, 791. 248) So nun auch Geuenich/Ludwig, BB 2018, 1303 (1306).

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C. Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS

ter Nachweis dafür dienen kann, dass der Vorstand einer AG seine Leitungspflichten in Bezug auf die Sicherstellung der Gesetzeskonformität des Unternehmens ermessensfehlerfrei ausgeübt hat.249) Diese Einschätzung wird aktuell noch dadurch verstärkt, dass inzwischen gesi- 218 chert erscheint, dass die Finanzverwaltung Tax CMS im Einzelfall nicht vorab „zertifizieren“ wird.250) IV.

Umfang der Prüfung eines Tax CMS

Aus PH 1/2016 ergibt sich, dass nach Auffassung des IDW die Prüfung eines Tax 219 CMS nach den in IDW PS 980 niedergelegten Grundsätzen zu erfolgen hat.251) Unbeschadet der in der Fachliteratur zu Recht geäußerten Zweifel an der Eignung des IDW PS 980 als Prüfungsmaßstab252) sollten Unternehmen daher bei der Konzeption von Tax CMS in der Praxis dessen Anforderungen uneingeschränkt berücksichtigen. Hieraus folgt, dass sich die Ausgestaltung des Tax CMS zweckmäßigerweise an den Vorgaben für dessen Prüfung gemäß IDW PS 980 i. V. m. PH 1/2016 orientieren sollte. Nachfolgend sind daher dessen inhaltliche Anforderungen näher erläutert. Die Darstellung orientiert sich bewusst an den Anforderungen, die im Rahmen der Prüfung typischerweise gestellt werden: 1.

Grundsätzliches

Das Prüfungsziel ist bei der Prüfung eines Tax CMS eine Systemprüfung, nicht 220 das Erkennen von Regelverstößen im Einzelfall.253) In Bezug auf den Umfang einer solchen Prüfung des Tax CMS ist gemäß PH 1/2016 sowohl eine sog. Angemessenheitsprüfung254) als auch eine sog. Wirksamkeitsprüfung255) möglich.256) Die Wirksamkeitsprüfung schließt stets eine Angemessenheitsprüfung mit ein. Bei beiden Prüfungen ist zu beachten, dass auch die Konzeption des Tax CMS entsprechend der Regelung im IDW PS 980 in die Prüfung einzubeziehen ist.257) ___________ 249) Vgl. IDW PS 980, Rz. 1. 250) Vgl. Nayin, in: Schwedhelm/Talaska, ifst-Schrift 513 (2016), S. 30: hier wird MD Michael Sell (Leiter der Steuerabteilung im BMF) entsprechend mit der Aussage zitiert, dass die Ausgestaltung eines Tax CMS und wie ein solches gelebt werden müsse, nicht von der Finanzverwaltung vorgeschrieben werden könne. 251) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 57. 252) Vgl. Esterer, DB 21/2016, M5. 253) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 58. 254) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 61, 15. 255) Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 61, 16. 256) Zum Umgang damit in der Praxis vgl. Geuenich/Ludwig, BB 2018, 1303 (1304). 257) Vgl. IDW PS 980, Rz. 5.4.1.2, wonach im Rahmen der Angemessenheits- oder bei einer Wirksamkeitsprüfung die Beschreibung der Konzeption des Tax CMS Grundlage für die Feststellung und Analyse der Risiken für wesentliche Fehler und damit Ausgangspunkt weiterer Prüfungshandlungen ist.

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§ 14 Steuerrecht

221 Beide Prüfungen gleichen sich zunächst insoweit, als dass zu beurteilen ist, ob (i) die in der Tax CMS-Beschreibung enthaltenen Aussagen über die Grundsätze und Maßnahmen des Tax CMS in allen wesentlichen Belangen angemessen dargestellt sind und (ii) ob die dargestellten Grundsätze und Maßnahmen in Übereinstimmung mit den angewandten Tax CMS-Grundsätzen geeignet sind, mit hinreichender Sicherheit sowohl Risiken für wesentliche Regelverstöße rechtzeitig zu erkennen als auch solche Regelverstöße zu verhindern.258) 222 Die Angemessenheitsprüfung unterscheidet sich allerdings insoweit von der Wirksamkeitsprüfung, als dass bei ihr im Weiteren „nur“ zu prüfen ist, ob die vorgenannten Grundsätze und Maßnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich implementiert waren,259) während im Rahmen der Wirksamkeitsprüfung darüberhinausgehend auch zu prüfen ist, ob die Grundsätze und Maßnahmen während eines bestimmten Zeitraums überdies wirksam waren.260) 2.

Angemessenheitsprüfung

223 Die in der Tax CMS-Beschreibung enthaltenen Aussagen sind gemäß PH 1/2016 angemessen dargestellt, wenn sie auf sämtliche Grundelemente eines Tax CMS (Æ Rz. 203) eingehen und keine wesentlich falschen Angaben sowie keine unangemessenen Verallgemeinerungen oder unausgewogenen und verzerrenden Darstellungen enthalten, die eine Irreführung der Berichtsadressaten zur Folge haben können.261) Daneben zeichnet sich ein angemessenes Tax CMS dadurch aus, dass es geeignet ist, mit hinreichender Sicherheit sowohl Risiken für wesentliche Regelverstöße rechtzeitig zu erkennen als auch solche Regelverstöße zu verhindern.262) 3.

Wirksamkeitsprüfung

224 Die Wirksamkeit des Tax CMS ist dann gegeben, wenn – über die o. g. Anforderungen hinaus, die sich bereits aus der Angemessenheitsprüfung des Tax CMS ergeben – die Grundsätze und Maßnahmen des Tax CMS auch in den laufenden Geschäftsprozessen von den hiervon Betroffenen nach Maßgabe ihrer Verantwortung zur Kenntnis genommen und beachtet werden.263) 4.

Wesentliche Verstöße nach IDW PS 980

225 Ob die Regelungen in einem bestimmten Tax CMS angemessen oder sogar wirksam i. S. v. IDW PS 980 i. V. m. PH 1/2016 sind, lässt sich am ehesten klä___________ 258) 259) 260) 261) 262) 263)

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Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 12, 13. Vgl. IDW PS 980, Rz. 17; IDW PH 1/2016, Rz. 13. Vgl. IDW PS 980, Rz. 14; IDW PH 1/2016, Rz. 12. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 14. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 15. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 16.

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C. Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS

ren, wenn sich der Vorstand der betreffenden AG vergegenwärtigt, welche Aspekte bei einer (gedachten) Prüfung des Tax CMS gemäß IDW PS 980 i. V. m. PH 1/2016 als sog. wesentliche Verstöße264) bzw. in wesentlichen Belangen unzutreffende Darstellungen265) qualifizieren würden, die zu einer Einschränkung oder Versagung des (positiven) Prüfungsurteils führen können. Die notwendigen Detaillierungen enthält IDW PS 980: a)

Fokus auf sog. wesentliche Fehler

Der Prüfer hat seine Überlegungen zur Wesentlichkeit von Fehlern im Einzel- 226 fall in allen Schritten der Prüfung zu berücksichtigen. Er muss diese Erwägungen bereits bei der Planung von Art, Umfang und Zeitpunkt der Prüfungshandlungen, anschließend bei der Auswertung von Prüfungsfeststellungen, d. h. bei der Beurteilung, ob die Aussagen in der Tax CMS-Beschreibung wesentliche Fehler enthalten, und abschließend bei der Würdigung von anlässlich der Tax CMS-Prüfung festgestellten Regelverstößen einbeziehen.266) b)

Bestimmung wesentlicher Fehler in der Tax CMS-Beschreibung

Ein wesentlicher Fehler kann in den Aussagen der Tax CMS-Beschreibung z. B. 227 dann vorliegen, wenn die Tax CMS-Beschreibungen (a) einen vorhandenen wesentlichen Mangel des Tax CMS (dazu sogleich) nicht erkennen lassen, (b) falsche Angaben enthalten, die für die Adressaten entscheidungsrelevant sein können, oder (c) sie unangemessene Verallgemeinerungen oder unausgewogene und verzerrende Darstellungen enthalten, die eine Irreführung der Adressaten zur Folge haben können.267) Für die Prüfung von Tax CMS ist insoweit wichtig, dass die Mitarbeiter des Unternehmens und nicht etwa die Finanzverwaltung ausweislich PH 1/2016 die Adressaten der Tax CMS-Beschreibungen sind.268) c)

Bestimmung wesentlicher Mängel des Tax CMS

Ein wesentlicher Mangel des Tax CMS liegt nach Auffassung des IDW vor, 228 wenn das Tax CMS nicht geeignet ist, mit hinreichender Sicherheit sowohl Risiken für wesentliche Regelverstöße (hierzu sogleich Æ Rz. 229) rechtzeitig zu erkennen, als auch solche wesentlichen Regelverstöße zu verhindern. Ein wesentlicher Mangel des Tax CMS soll schließlich auch bei einer Kumula- 229 tion von nicht rechtzeitig erkannten Risiken und nicht vom Tax CMS verhin___________ 264) 265) 266) 267) 268)

Vgl. IDW PS 980, Rz. 73, A25 ff. Vgl. IDW PS 980, Anlage 2.3, B. Vgl. IDW PS 980, Rz. 73, A24. Vgl. IDW PS 980, Rz. A25. Vgl. IDW PH 1/2016, Rz. 67.

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983

§ 14 Steuerrecht

derten Regelverstößen vorliegen können, die jeweils einzeln betrachtet nicht wesentlich sind.269) d)

Gesamtschau bei Bestimmung der Wesentlichkeit von Fehlern des Tax CMS

230 In IDW PS 980 wird im Hinblick auf das oben bereits mehrfach erwähnte Merkmal eines „wesentlichen Fehlers“ ausgeführt, dass bei der Bestimmung der Wesentlichkeit von (möglichen) Regelverstößen insbesondere folgende Fragestellungen von Bedeutung sein sollen:270) 

Bedeutung der verletzten Regel: Maßgeblich soll zunächst sein, ob es sich um einen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gegen interne Richtlinien handelt.



Folgen des Regelverstoßes: Weiter soll die Wesentlichkeit sich auch danach bestimmen, ob mit dem sog. Regelverstoß ein hoher finanzieller oder sonstiger Schaden für das Unternehmen verbunden ist.



Motivation für den Regelverstoß: Daneben soll es darauf ankommen, ob der Regelverstoß beabsichtigt war und ob dieser mit einer persönlichen Bereicherung oder einem sonstigen Vorteil für einen Einzelnen verbunden war.



Tragweite des Regelverstoßes: Als letztes Kriterium soll es im Rahmen dieser Gesamtschau darauf ankommen, ob der Regelverstoß auf eine systemimmanente Schwachstelle im Tax CMS zurückzuführen ist oder ob es sich um eine einmalige Durchbrechung des Systems handelt. Von besonderer Bedeutung ist nach Auffassung des IDW zudem, ob der Regelverstoß (auch) daher rührt, dass interne Kontrollen durch Mitglieder des Managements außer Kraft gesetzt wurden.

231 Auch im Bereich von Tax CMS sollte die Prüfung der Wesentlichkeit von Fehlern in der Tax CMS-Beschreibung oder von Mängeln im Tax CMS auf Basis der vorgenannten Gesamtschau erfolgen. Diese wird ergänzt durch eine Reihe von Fallgruppen, in denen nach IDW PS 980 das Risiko eines wesentlichen Mangels in Bezug auf ein Compliance Management System (und damit unseres Erachtens auch eines Tax CMS) besteht. Ist ein solches Risiko gegeben, droht zumindest eine Einschränkung des (positiven) Prüfungsurteils durch den Prüfer. In IDW PS 980 werden insoweit folgende Fallgruppen aufgelistet:271) 

Es werden keine angemessenen Tax CMS-Grundsätze verwendet.



Die Konzeption des Tax CMS weist Lücken auf, die dazu führen können, dass nicht alle Risiken für wesentliche Regelverstöße berücksichtigt werden.

___________ 269) Vgl. IDW PS 980, Rz. A26. 270) Vgl. IDW PS 980, Rz. 37, A27. 271) Vgl. IDW PS 980, Rz. A28.

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C. Minimierung steuerrechtlicher Risiken durch Tax CMS



Der Prozess zur systematischen Erfassung von Compliance-Risiken weist Schwachstellen auf.



Die Grundsätze und Maßnahmen des Tax CMS werden nicht regelmäßig auf Anpassungsbedarf wegen geänderter Rahmenbedingungen überprüft und ggf. geändert.



Im Tax CMS werden keine ausreichenden Ressourcen eingesetzt.



Das Tax CMS wird im Unternehmen nicht ausreichend kommuniziert und überwacht.



Das Tax CMS wird nicht konsequent durchgesetzt, z. B. wenn bei aufgedeckten Regelverstößen die Nichtbeachtung des Tax CMS durch die Mitarbeiter keine wirksamen Konsequenzen hat.

Die vorgenannten Fallgruppen stellen für Aktiengesellschaften bei der Struktu- 232 rierung von Tax CMS wichtige Hilfestellungen dar, weil sie deutlich erkennen lassen, welcher Grad an Leistungsfähigkeit bei einem Tax CMS gefordert ist, damit dieses sicher die Angemessenheits- und sogar die Wirksamkeitsprüfung gemäß IDW PS 980 i. V. m. PH 1/2016 besteht. 5.

Zweckmäßige Prüfungsdichte (Angemessenheits- vs. Wirksamkeitsprüfung)

Es fragt sich schließlich, ob die Angemessenheits- oder die Wirksamkeitsprü- 233 fung aus Sicht der AG vorzugswürdig ist. Unseres Erachtens spricht für eine Wirksamkeitsprüfung, dass das IDW in IDW PS 980 nur einer erfolgreichen Wirksamkeitsprüfung die Eignung zugesprochen hat, als objektivierter Nachweis für die ermessensfehlerfreie Ausübung der Leitungspflicht durch die gesetzlichen Vertreter im vom Tax CMS umfassten Bereich zu dienen.272) Demgegenüber enthalten weder IDW PS 980 noch PH 1/2016 einen Hinweis darauf, dass die erfolgreich bestandene Angemessenheitsprüfung in Bezug auf ein bestimmtes Tax CMS eine entsprechend große Entlastungwirkung für die betreffende Geschäftsleitung entfalte. Zu beachten ist jedoch andererseits auch, dass der Vorstand in der Praxis mit Implementierung eines Tax CMS – auch ohne dessen Prüfung – bereits die Bedeutung und Qualität der Steuerfunktion innerhalb der AG deutlich verbessert, sodass steuerliche Haftungsrisiken und strafrechtliche Risiken messbar reduziert werden. Klar ist aber auch, dass der Verzicht auf ein Tax CMS bzw. ein nicht wirksames Tax CMS im Einzelfall und generell weder eine Steuerhinterziehung noch eine leichtfertige Steuerverkürzung indiziert. Ein Tax CMS kann nur entlastend, niemals jedoch belastend wirken, da in jedem Einzelfall Vorsatz bzw. Leichtfertigkeit von den Finanzbzw. Strafverfolgungsbehörden nachzuweisen sind. Pauschale Rückschlüsse verbieten sich. ___________ 272) IDW PS 980, Rz. 1.

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§ 15 Kartellrecht

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Übersicht Vorbemerkung ......................................... 1 A. Kartellverbot...................................... 8 I. Adressaten des Verbots...................... 8 II. Maßnahmen/Mittel der Wettbewerbsbeschränkung.............. 13 1. Vereinbarung ............................. 14 2. Beschluss.................................... 18 3. Abgestimmte Verhaltensweisen......................................... 20 III. Wettbewerbsbeschränkung.............. 23 1. Bewirkte und bezweckte Wettbewerbsbeschränkung....... 24 2. Spürbarkeit................................. 27 3. Horizontale Wettbewerbsbeschränkungen......................... 29 a) Kernbeschränkungen ................ 30 b) Andere horizontale Wettbewerbsbeschränkungen ........... 32 aa) Produktions- und Spezialisierungsvereinbarungen ............ 35 bb) Einkaufsvereinbarungen............ 36 cc) Vermarktungsvereinbarungen .... 37 dd) Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen ................. 38 c) Freistellung ................................ 39 4. Vertikale Wettbewerbsbeschränkungen......................... 43 a) Kernbeschränkungen ................ 47 b) Andere vertikale Wettbewerbsbeschränkungen und Freistellung ................................ 51 aa) Meistbegünstigungs- bzw. Bestpreisklauseln ....................... 52 bb) Selektiver Vertrieb..................... 54 cc) Ausschließlichkeitsvereinbarung .............................. 57 dd) Franchiseverträge ...................... 64 c) Freistellung ................................ 65 IV. Verfahren .......................................... 67 V. Rechtsfolgen und Verantwortlichkeit............................................... 73 1. Nichtigkeit................................. 73 2. Risikoverteilung ........................ 75

Bußgelder................................... 77 Zivilrechtliche Schadensersatzansprüche ............................ 80 5. Ausschluss von öffentlichen Aufträgen................................... 82 B. Missbrauchsverbot .......................... 83 I. Einleitung ......................................... 83 II. Adressaten des Verbots ................... 84 1. Marktabgrenzung ...................... 85 2. Marktbeherrschende Stellung ...................................... 89 III. Missbrauch........................................ 93 1. Ausbeutungsmissbrauch........... 94 2. Behinderungsmissbrauch .......... 97 a) Kopplung und Bündelung......... 98 b) Kampfpreisstrategien ............. 100 c) Rabattsysteme ......................... 102 d) Liefer- und Geschäftsverweigerung ........................... 105 e) Kosten-Preis-Schere ............... 107 f) Diskriminierung ...................... 109 IV. Missbrauchsverbot für Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb ....................... 110 1. Überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb ............................. 111 2. Verbotsverfügung.................... 113 a) Nummer 1 ............................... 114 b) Nummer 2 ............................... 115 c) Nummer 3 ............................... 116 d) Nummer 4 ............................... 117 e) Nummer 5 ............................... 118 f) Nummer 6 ............................... 119 g) Nummer 7 ............................... 120 V. Missbrauchsverbot für Unternehmen mit relativer und überlegener Marktmacht .......................... 121 VI. Verbot sonstigen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens ........... 127 VII. Rechtsfolgen .................................. 131

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3. 4.

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§ 15 Kartellrecht C. Fusionskontrolle........................... 133 I. Einleitung ...................................... 133 II. Anmeldepflichtige Vorhaben ........ 137 1. Europäische Fusionskontrolle......................................... 138 2. Deutsche Fusionskontrolle .... 152 3. Internationale Fusionskontrolle......................................... 167

III. Materiell-rechtliche Prüfung..........170 IV. Verfahren.........................................175 1. Europäische Fusionskontrolle .........................................179 2. Deutsche Fusionskontrolle.....182 3. Internationale Fusionskontrolle ...................................185 4. Sanktionen................................186

Schrifttum: Barth/Budde, Die Implementierung des SIEC-Tests im GWB und ihre Folgen für die nationale Fusionskontrolle, BB 2011, 1859, 1923; Barth/dos Santos Goncalves, Die neue Transaktionswert-Schwelle in der deutschen Fusionskontrolle, GWR 2017, 289; Beck, Zum Verstoß gegen das Vollzugsverbot durch Teilvollzug, NZKart 2017, 426; Bodenstein, Intel und Post Danmark II – Die Weichen für die zukünftige Bewertung von Rabatten nach Art. 102 AEUV sind so gut wie gestellt, ZWeR 2015, 403; Bischke/Brack, Neuere Entwicklungen im Kartellrecht, NZG 2021, 191; Brettel/Thomas, Der Vorschlag einer bußgeldrechtlichen „Konzernhaftung“ nach § 81 IIIa RefE 9. GWB-Novelle, WuW 2016, 336; von Brevern, Praxisfragen zum Setzen eines „Markers“ beim Bundeskartellamt und der Europäischen Kommission, NZKart 2016, 399; Cetintas, Gefährlicher („Tipping“-)Gefährdungstatbestand?, WuW 2020, 446; Dose/von Wangenheim, Die Ministererlaubnis im GWB als strategisches Instrument, WuW 2017, 182; Fiebig, Neues vom EuGH zur bezweckten Wettbewerbsbeschränkung, WuW 2016, 270; Fritzsche/Klöppner/Schmidt, Die Praxis der privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Deutschland, NZKart 2016, 412, 501; Galle/Burdinski, Neuste Entwicklung bei vertikalen Beschränkungen, EuZW 2021, 439; Gaßner, The EU Commission‘s settlement practice, ZWeR 2016, 258; Heinrich/Eckel, Distanzierung von kartellrechtswidrigen Absprachen – Aussteigen aber wie?, NZKart 2017, 106; Hieber/Cetintas, Same, same, but different? Das Urteil des EuGH in Sachen Post Danmark II zu Rabattsystemen marktbeherrschender Unternehmen, NZKart 2016, 220; Kahlenberg/Rahlmeyer/Giese, Die 10. GWB-Novelle: Mehr als eine Digitalisierungsnovelle, BB 2021, 579; Kersting/Podszun, Die 9. GWB-Novelle, 2017; Könen, Beschlagnahmeanordnungen im Rahmen kartellbehördlicher Durchsuchungen, WuW 2016, 12; Köster, Das Kartellvergleichsverfahren der Europäischen Kommission, EuZW 2015, 575; Kruse/Maturana, Die Zukunft der Marktabgrenzung – Evaluierungsergebnisse der Kommission zur Bekanntmachung über die Marktdefinition, NZKart 2021, 449; Kühling, Beschleunigte Missbrauchskontrolle bei Gatekeepern – nun wird es ernst, WuW 2021, 137; Lettl, Abstimmung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB, WuW 2017, 422; Lettl, Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften nach § 41 I 2 GWB bei Verstoß gegen das Vollzugsverbot, WuW 2009, 249; Mäger/von Schreitter, Die kartellrechtliche Bußgeldhaftung nach der 9. GWB Novelle – Überblick und Kritik, NZKart 2017, 264; Mesch, Die Zulässigkeit vertikaler Ausschließlichkeitsvereinbarungen im europäischen Kartellrecht, WuW 2017, 62; Pukropski, Fusionskontrolle in Bonn und Brüssel – Eine Datenanalyse, WuW 2020, 512; Mörsdorf, Im Bermudadreieck zwischen Datenschutz und Kartellrecht – Das Geschäftsmodell der digitalen Plattformökonomie auf dem Prüfstand, ZIP 2020, 2259; Seeliger/Gürer, Kartellrecht und Nachhaltigkeit: Neue Regeln für Umweltschutzvereinbarungen von Wettbewerbern?, BB 2021, 2050; Steinvorth/Gasser, Der neue § 39a GWB – Instrument für eine flexiblere Fusionskontrolle?, WuW 2021, 155; Thomas, Die Bindungswirkung von Mitteilungen, Bekanntmachungen und Leitlinien der EGKommission, EuR 2009, 423; Thomas, Konzernprivileg und Gemeinschaftsunternehmen, ZWeR 2005, 236; Walzel/Simon, Sonderkooperationen in der Corona-Krise CB 2020, 374; Wilson, Legal Professional Privilege in der EU-Fusionskontrolle, NZKart 2017, 352; Wurmnest, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten, EuZW 2012, 933; Ylinen, Die Wahrheitspflicht in der Fusionskontrolle, NZKart 2017, 421.

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Vorbemerkung

Vorbemerkung Das Kartellrecht ist für die unternehmerische Praxis von großer Relevanz, da es 1 Grenzen betreffend das erlaubte Verhalten eines Unternehmens im Wettbewerb aufstellt bzw. in der Fusionskontrolle behördliche Genehmigungserfordernisse stipuliert. Verstöße gegen all diese Vorschriften können mit empfindlichen Geldbußen geahndet werden.1) Für Unternehmen können solche Geldbußen bis zu 10 % des Konzernjahresumsatzes betragen. Darüber hinaus besteht in Deutschland (aber auch in anderen Jurisdiktionen) die Möglichkeit Geldbußen unmittelbar gegen verantwortliche Leitungspersonen des Unternehmens zu verhängen.2) In jüngerer Zeit treten schließlich verstärkt zivilrechtliche Schadensersatzansprüche – insbesondere im Nachgang zu einer behördlichen Kartellbußgeldentscheidung – neben die verhängten Bußen.3) Schließlich können Verstöße gegen das Kartellrecht auch im Zivilprozess als Einwendung gegen die Wirksamkeit eines Vertrages geltend gemacht werden. Ein Vorstand oder Geschäftsführer eines Unternehmens ist aus der aktien- bzw. GmbH-rechtlichen Sorgfaltspflicht eines „ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ bzw. eines „ordentlichen Geschäftsmannes“ heraus regelmäßig verpflichtet, nicht zuletzt wegen des erheblichen Sanktionspotentials des Kartellrechts, geeignete Compliance-Maßnahmen einzuführen, um Verstöße zu verhindern.4) Das Kartellverbot (§§ 1 ff. GWB und Art. 101 AEUV) gilt im Kontakt mit 2 Wettbewerbern sowie in anderen geschäftlichen Beziehungen, z. B. mit Kunden oder Lieferanten. Sofern ein Unternehmen über eine herausgehobene Marktstellung verfügt, stellt das Missbrauchsverbot (§§ 19 f. GWB und Art. 102 AEUV) Beschränkungen des erlaubten Verhaltens auf, um den in einem konzentrierten Markt verbleibenden Restwettbewerb zu schützen. Schließlich können Transaktionen im Rahmen der Fusionskontrolle einer Vorabprüfung durch Kartellbehörden unterliegen, um Wettbewerbsproblemen durch exogenes Wachstum ex ante zu begegnen. Das Kartellrecht bezweckt zum einen den Schutz des Wettbewerbs als solchen 3 (sog. Institutionsschutz) und zum anderen den Schutz anderer Marktteilnehmer (sog. Individualschutz).5) Der Begriff des Wettbewerbs gilt einer allgemeinen Definition als nicht zugänglich, weil eine solche Definition nicht alle seine Bedingungen, Wirkungsweisen und Folgen erfassen kann. Es ist aller___________ 1)

2) 3) 4) 5)

Siehe z. B. die festgesetzte Rekordbuße der EU-Kommission gegen Google LLC und Alphabet Inc. i. H. v. 4,3 Milliarden Euro, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-184581_en.htm. Zu den Rechtsfolgen von Kartellrechtsverstößen Æ § 21. Ausführlich dazu Æ § 20 ff. Fritzsche/Klöppner/Schmidt, NZKart 2016, 412 ff.; 501 ff. Ausführlich dazu Æ § 17. Siehe nur EuGH, Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-501/06 P u. a., EuZW 2009, 912, Rz. 63 – GlaxoSmithKline u. a./Kommission u. a.

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§ 15 Kartellrecht

dings allgemein anerkannt, dass Wettbewerb entsteht, wenn Rechtssubjekte von ihrer Handlungsfreiheit im Wirtschaftsverkehr, d. h. von ihrer Privatautonomie, Gebrauch machen können. 4 Die in Deutschland maßgeblichen Vorschriften des Kartellrechts finden sich einerseits auf europäischer Ebene im Primärrecht in Art. 101 und 102 AEUV und im Sekundärrecht in verschiedenen Verordnungen (z. B. der Kartellverfahrensordnung6) und der Fusionskontrollverordnung7), Richtlinien, Empfehlungen, Leitlinien und Mitteilungen der Europäischen Kommission8) sowie andererseits auf nationaler (deutscher) Ebene im GWB9) und ergänzenden Konkretisierungen des Bundeskartellamtes. Insbesondere im internationalen Wirtschaftsverkehr treten allerdings andere nationale und supranationale Kartellrechtsregime gleichberechtigt neben das europäische und deutsche Kartellrecht. 5 Die Abgrenzung zwischen deutschem und europäischem Kartellrecht erfolgt auf Grundlage des sog. Auswirkungsprinzips.10) Ist eine Verhaltensweise geeignet, zu einer Beeinträchtigung des Handels zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu führen, so findet europäisches Kartellrecht Anwendung. Diese Regelung wird vom EuGH weit ausgelegt.11) Vereinbarungen oder Maßnahmen, die sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder sogar nur auf ein bestimmtes Gebiet12) erstrecken, sind von der Zwischenstaatlichkeitsklausel erfasst. 6 Das Verhältnis zwischen dem europäischen und dem nationalen Kartellrecht regelt die Kartellverfahrensverordnung. Danach sind europäisches und nationales Kartellrecht grundsätzlich parallel anwendbar. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VO 1/2003 führt im Rahmen des Kartellverbots zu einer Vollharmonisierung. Das nationale Kartellrecht ist nicht mehr selbstständig anzuwenden, wenn ___________ 6) Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl L 1 v. 4.1.2003, S. 1 ff.). 7) Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl L 24 v. 29.1.2004, S. 1 ff.). 8) Zur Bindungswirkung von Mitteilungen, Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission: Thomas, EuR 2009, 423 ff. 9) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.6.2013 (BGBl I, 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 10 Absatz 2 des Gesetzes vom 27.7.2021 (BGBl. I, 3274) geändert worden ist. 10) Zur internationalen Zuständigkeit und dem anwendbaren Recht bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten: Wurmnest, EuZW 2012, 933 ff. 11) Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, (ABl C 101 v. 27.4.2004, S. 81–96). 12) Der EuGH hat bspw. in Suike Unie entschieden, dass die Region Süddeutschland/Baden ein wesentlicher Teil des Binnenmarkts ist, EuGH, Urt. v. 16.12.1975 – Rs. C-40/73, u. a. NJW 1976, 470, Rz. 441/442 ff. – Suiker Unie u. a./Kommission.

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A. Kartellverbot

Art. 101 AEUV anwendbar ist. Dies führt dazu, dass die Anwendung des nationalen Kartellrechts auf eine Verhaltensweise nur dann verboten ist, wenn sie auch nach Art. 101 AEUV verboten ist (level playing field).13) Im Rahmen des Missbrauchsverbots führt Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO 1/2003 demgegenüber zu einer Mindestharmonisierung. Das nationale Kartellrecht kann auch dann weiterhin selbstständig anwendbar sein, wenn Art. 102 AEUV nicht anwendbar ist. Den Mitgliedstaaten verbleibt insofern ein Gestaltungsspielraum strengere Vorschriften als Art. 102 AEUV vorzusehen, von dem Deutschland Gebrauch gemacht hat. Neben dem europäischen und deutschen Kartellrecht kann im internationalen 7 Rechtsverkehr auch das Kartellrecht anderer Regime zur Anwendung kommen. Während innerhalb von Europa die Rechtsanwendungspraxis in vielen Fällen gleichen dogmatischen Grundsätzen folgt und sich oftmals eng an das europäische Recht anlehnt, so sind doch nationale Besonderheiten zu berücksichtigen. Außerhalb von Europa können Abweichungen größer sein und auch außerwettbewerbliche Erwägungen spielen bei der Anwendung des Kartellrechts in vielen Fällen eine Rolle (z. B. Arbeitnehmerinteressen bei Anwendung des Kartellrechts in Südafrika und Industriepolitik in China). A.

Kartellverbot § 1 GWB [Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen] Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, sind verboten. § 2 GWB [Freigestellte Vereinbarungen] (1) Vom Verbot des § 1 freigestellt sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen 1.

Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder

2.

Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.

(2) Bei der Anwendung von Absatz 1 gelten die Verordnungen des Rates oder der Europäischen Kommission über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen (Gruppenfreistellungsverordnungen) entsprechend. Dies gilt auch, soweit die dort genannten Vereinbarungen, Be-

___________ 13) Vgl. auch Erwägungsgrund 8 der VO (EG) Nr. 1/2003.

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§ 15 Kartellrecht schlüsse und Verhaltensweisen nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu beeinträchtigen. Artikel 101 AEUV (1) Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, insbesondere a) die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen Beschränkungen; b) die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen; c) die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen; d) die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden; e) die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. (2) Die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse sind nichtig. (3) Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden auf –

Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen,



Beschlüsse oder Gruppen von Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen,



aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen von solchen,

die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen a) Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder b) Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.

I.

Adressaten des Verbots

8 Adressaten des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB sind Unternehmen und Unternehmensvereinigungen.14) Dem Europäischen Kartellrecht liegt ein einheitlicher sog. funktionaler Unternehmensbegriff zugrunde. Dieser ist im Lichte des Ziels des Kartellrechts, die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs umfassend zu gewährleisten, auszulegen. Danach ist jede eine ___________ 14) Wiedemann/Lübbig, § 8 Rz. 1 ff.

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A. Kartellverbot

wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit ein Unternehmen i. S. d. Kartellrechts.15) Wirtschaftlich in diesem Sinne ist dabei „jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“.16) Hierbei ist die Rechtsform, die Absicht der Gewinnerzielung, eine etwaige Gemeinnützigkeit als auch die Frage, ob es sich um öffentliche oder private Unternehmen handelt, unerheblich. Zudem ist der Unternehmensbegriff relativ, d. h. dieselbe Einheit kann in einen Fall unternehmerisch und in einem anderen Fall nicht-unternehmerisch tätig sein. Praxishinweis: Es fallen bspw. Sozialversicherungsträger, die freien Berufe, künst- 9 lerische bzw. geistige Tätigkeiten, wenn deren Ergebnisse vermarktet werden, und auch sportliche Tätigkeiten, wenn sie unternehmerischer Art sind, unter den Unternehmensbegriff. Der bloße Besitz und das Halten von Beteiligungen an anderen Unternehmen stellt keine wirtschaftliche Tätigkeit dar, solange damit nur die Ausübung der Rechte, die mit der Eigenschaft eines Anteilsinhabers verbunden sind (insbesondere Dividendenbezug), einhergeht. Die tatsächliche Ausübung der Kontrolle durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahme auf die Verwaltung der Gesellschaft ist hingegen eine wirtschaftliche Tätigkeit. Der Unternehmensbegriff im deutschen Kartellrecht entspricht weitestgehend 10 dem europäischen. Der wesentliche Unterschied ist, dass hier auch die Nachfragetätigkeit als unternehmerisch betrachtet wird. Neben Unternehmen sind auch Unternehmensvereinigungen Adressaten des 11 Kartellverbots. Der Begriff der Unternehmensvereinigung wird ebenfalls weit ausgelegt und umfasst auch öffentlich-rechtliche Verbände und Kammern freier Berufe. Nicht vom Kartellverbot erfasst sind indes konzerninterne Wettbewerbsbe- 12 schränkungen. Dieses sog. Konzernprivileg17) gilt für alle Unternehmen, die Teil derselben wirtschaftlich tätigen Einheit sind. II.

Maßnahmen/Mittel der Wettbewerbsbeschränkung

Maßnahmen zur Beschränkung des Wettbewerbs können Vereinbarungen, Be- 13 schlüsse oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sein. Diesen unterschiedlichen Maßnahmen ist gemein, dass sie dem Ausschluss von Ungewissheiten über das zukünftige Verhalten im Wettbewerb dienen. Danach ist jede Art der Koordination verboten, die eine praktische Zusammenarbeit zwischen Unternehmen an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt (sog. Selbstständigkeitspostulat).18) Eine solche Koordination ist im Üb___________ 15) Siehe nur EuGH, Urt. v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90, NJW 1991, 2891, Rz. 21 – Höfner u. Elsner/Macrotron. 16) Siehe z. B. EuGH, Urt. v. 12.9.2000, C-180/98 bis C-184/98, Rz. 75 – Pavlov u. a. 17) Thomas, ZWeR 2005, 236. 18) GA Kokott, Schlussanträge v. 19.2.2009 – Rs. C-8/08, Rz. 52 – T-Mobile Netherlands u. a./Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit.

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§ 15 Kartellrecht

rigen auch nicht mit dem tradierten Verständnis des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren vereinbar. Erfasst werden sowohl horizontale Verhaltensabstimmungen, d. h. solche zwischen Wettbewerbern, als auch vertikale, d. h. solche zwischen Abnehmern und Lieferanten. 1.

Vereinbarung

14 Der Begriff der Vereinbarung wird in der kartellrechtlichen Praxis weit ausgelegt. Man versteht hierunter den gemeinsamen Willen, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten.19) Es ist dabei unerheblich, ob ein rechtlicher, tatsächlicher oder moralischer Wille zur Bindung besteht (gentlemen’s agreement).20) 15 Praxishinweis: Ein „klassisches“ Beispiel einer kartellrechtlich relevanten Vereinbarung ist z. B. die mündliche Vereinbarung zwischen Herstellern, eine bestimmte Preiserhöhung umzusetzen. 16 In der Praxis ist in diesem Zusammenhang die Abgrenzung zu einseitigen Maßnahmen im Vertikalverhältnis problematisch, denn einseitige Maßnahmen fallen grundsätzlich lediglich unter das Missbrauchsverbot und setzen insoweit eine marktbeherrschende Stellung voraus. Eine dem Kartellverbot unterfallende Vereinbarung erfordert demgegenüber zumindest eine stillschweigende Zustimmung.21) 17 Praxishinweis: Beobachten Unternehmen nur das wettbewerbliche Verhalten eines Konkurrenten (z. B. öffentlich zugängliche Verkaufspreise) und richten ihr eigenes Verhalten hieran aus, so fehlt es an einer Vereinbarung. Die eigenständige Orientierung am Marktverhalten von Wettbewerbern ist grundsätzlich erlaubt. 2.

Beschluss

18 Unter den Begriff des Beschlusses fällt jeder Akt der Willensbildung eines Unternehmens. Ein Beschluss kann daher durch ein Organ (auch ein unzuständiges Organ22)) oder die Mitglieder selbst gefasst werden. Es ist unerheblich, in welcher Form der Beschluss ergeht oder ob er nach innerstaatlichem Recht wirksam ist.23) 19 Praxishinweis: Relevante Beschlüsse, die dem Kartellverbot unterfallen können, sind zum Beispiel Empfehlungen oder Rundschreiben von Unternehmensvereini___________ 19) EuGH, Urt. v. 15.7.1970 – Rs. C-41/69, Rz. 110 – ACF Chemiefarma/Kommission. 20) Walzel/Simon, CB 2020, 374 ff. 21) EuGH, Urt. v. 6.1.2004 – Rs. C-2/01 P und C-3/01 P, EuZW 2004, 309, Rz. 102 – Bundesverband der Arzneimittel-Importeure u. Kommission/Bayer; EuGH, Urt. v. 13.7.2006 – Rs. C-74/04 P, BB 2006, 697, Rz. 40 ff. – Kommission/Volkswagen. 22) EuGH, Urt. v. 27.1.1987 – Rs. C-45/85, NJW 1987, 2150, Rz. 32 – Verband der Sachversicherer/Kommission. 23) EuGH, Urt. v. 29.10.1980 – Rs. C-209/78, Rz. 85 ff. – van Landewyck u. a./Kommission.

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A. Kartellverbot

gungen, insbesondere wenn die Empfänger bei Nichtbefolgung Nachteile rechtlicher, wirtschaftlicher oder anderer Art befürchten müssen. Da der Begriff des Beschlusses (ebenso wie der Begriff der Vereinbarung) in der kartellbehördlichen Praxis weit ausgelegt wird, ist es für Unternehmen wichtig sich in Fällen, in denen eine solche Maßnahme kartellrechtlich bedenklich ist, deutlich hiervon zu distanzieren. Ein bloßer innerer Vorbehalt (sog. Mentalreservation) genügt indes nicht, ebenso wenig eine Stimmenenthaltung oder sogar Gegenstimmen im Falle einer Abstimmung, wenn das Unternehmen den in Rede stehenden Beschluss gleichwohl für verbindlich erachtet. An die Distanzierung werden strenge Anforderungen gestellt. Auch ist es unzureichend, wenn ein Unternehmen eine getroffene Entscheidung nicht umsetzt.24) Wird z. B. im Rahmen einer Verbandssitzung ein kartellrechtlich verbotenes Verhalten erörtert, so ist es empfehlenswert unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, dass man mit diesem Verhalten nicht einverstanden ist, einen entsprechenden Vermerk in ein Protokoll aufzunehmen oder in anderer Weise den Widerspruch aktenkundig zu machen. Aus praktischer Sicht ist es zudem empfehlenswert die Verbandssitzung unverzüglich zu verlassen, da Kartellbehörden regelmäßig eine deutliche und offene Distanzierung von einem Verstoß erwarten. 3.

Abgestimmte Verhaltensweisen

Der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise hat Auffangcharakter und er- 20 fasst Koordinierungen unterhalb der Schwelle einer Vereinbarung oder eines Beschlusses.25) Maßgeblich ist hierbei jede Abweichung vom Selbstständigkeitspostulat, d. h. vom Grundsatz, dass Unternehmen ihr Verhalten am Markt selbstständig zu bestimmen haben. Danach ist jede unmittelbare oder mittelbare Fühlungnahme zwischen Unternehmen erfasst, durch die entweder aktuelles Marktverhalten beeinflusst oder über künftiges Marktverhalten informiert werden soll. Praxishinweis: Ein Beispiel für eine abgestimmte Verhaltensweise kann ein selbst- 21 ständiges Marktinformationssystem sein. Gibt etwa ein Verband Daten zu Umsätzen und Absatzzahlen seiner Mitglieder heraus und lässt die Aufstellung Rückschlüsse auf Marktanteile einzelner Marktteilnehmer zu, so kann die Veröffentlichung kartellrechtlich bedenklich sein. Werden hingegen nur aggregierte Ergebnisse veröffentlicht, die keine Rückschlüsse auf individuelle Marktstrategien zulassen, so ist die Veröffentlichung grundsätzlich zulässig. In der Praxis ist vielfach die Abgrenzung zwischen einer verbotenen abge- 22 stimmten Verhaltensweise und einem erlaubten bloßen Parallelverhalten problematisch. Nach der Rechtsprechung haben Unternehmen das Recht, sich „mit wachem Sinn“ dem erwarteten oder festgestellten Verhalten der Wettbewerber anzupassen.26) Ein solches Parallelverhalten könne jedoch ein Indiz für ___________ 24) EuGH, Urt. v. 7.1.2004 – Rs. C-204/00 P u. a, Rz. 81 ff. – Aalborg Portland u. a./ Kommission. 25) Instruktiv Lettl, WuW 2017, 422 ff. 26) EuGH, Urt. v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95, Rz. 86 ff. – John Deere/Kommission.

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§ 15 Kartellrecht

eine abgestimmte Verhaltensweise sein, wenn keine anderen sachlichen Gründe für das Verhalten bestehen.27) III.

Wettbewerbsbeschränkung

23 Vereinbarungen, Beschlüsse oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen unterfallen nur dann dem Kartellverbot, wenn sie geeignet sind, die wettbewerbliche Handlungsfreiheit eines Beteiligten einzuschränken. Eine solche Wettbewerbsbeschränkung ist anzunehmen bei jeder Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs. Da der Begriff des Wettbewerbs nicht determiniert ist, stehen für die Frage, ob eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, nicht Marktergebnisse im Vordergrund, sondern die Bedingungen, unter denen Wettbewerbsfreiheit und damit die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs (workable competition) gewährleistet ist. 1.

Bewirkte und bezweckte Wettbewerbsbeschränkung

24 Verboten ist jede bezweckte (restriction by object) oder bewirkte (restriction by effect) Wettbewerbsbeschränkung. (sog. Alternativität zwischen Zweck und Wirkung28). Eine Handlung kann dabei sowohl bezweckt als auch bewirkt sein.29) Ob eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, ist objektiv zu bestimmen.30) Es ist insofern zu untersuchen, ob die der Vereinbarung objektiv innewohnende Tendenz, die angesichts der konkreten Marktgegebenheiten objektiv wahrscheinlichen Folgen oder den der Abstimmung zugrundeliegenden rationalen Unternehmensplan geeignet ist, eine Wettbewerbsbeschränkung herbeizuführen. Eine solche bezweckte Wettbewerbsbeschränkung liegt regelmäßig bei den sog. Kernbeschränkungen vor (Æ Rz. 30). 25 Im Gegensatz zu bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen sind im Falle einer bewirkten Wettbewerbsbeschränkung die tatsächlichen und potentiellen Auswirkungen auf den Wettbewerb im konkreten wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext zu ermitteln. Es bedarf insofern einer umfangreichen Prüfung der Auswirkungen auf den Wettbewerb und der Begründung einer plausiblen Schadenstheorie („theory of harm“).31) Zu berücksichtigen sind hierbei z. B. die Art der Vereinbarung und die Marktstellung der Beteiligten sowie die ihrer Wett___________ 27) EuGH, Urt. v. 31.3.1993 – Rs. C-89/85, Rz. 71 f. – Ahlström Osakeyhtiö u. a./ Kommission. 28) Kling/Thomas, § 5 Rz. 97. 29) EuGH, Urt. v. 2.4.2020 – Rs. C-228/18, Rz. 44 – Gazdasági Versenyhivatal/Budapest Bank Nyrt. ua. 30) EuGH, Urt. v. 11.9.2014 – Rs. C-67/13 P, EuZW 2014, 901, Rz. 88. – Cartes Bancaires/ Kommission; zum Stand der Diskussion zur streitigen Frage der Abgrenzung bezweckter und bewirkter Wettbewerbsbeschränkungen im Einzelfall siehe Fiebig, WuW 2016, 270 ff. 31) Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Grave/Nyberg, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rz. 232.

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A. Kartellverbot

bewerber und Abnehmer. Dies erfolgt durch einen Vergleich der Marktsituation mit und ohne die Wettbewerbsbeschränkung, d. h. anhand fiktiver Wettbewerbsverhältnisse (sog. Als-Ob-Wettbewerb). Es ist in diesem Zusammenhang nicht lediglich auf die Wirkung der einzelnen 26 Vereinbarungen abzustellen, sondern auf die Wirkung einer Gesamtheit gleicher Vereinbarungen (sog. Bündeltheorie)32). 2.

Spürbarkeit

Eine festgestellte Wettbewerbsbeschränkung ist jedoch nur sanktionabel, wenn 27 sie spürbar ist.33) Bei bezweckten Beschränkungen ist die Spürbarkeit im konkreten Fall nicht zu prüfen, da sie sich regelmäßig aus der Natur der Vereinbarung ergibt, unabhängig von der Wirkung.34) Demgegenüber ist bei bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen die Spürbarkeit 28 gesondert zu festzustellen. Danach ist eine Gesamtwürdigung der Vereinbarung und der tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten vorzunehmen. Diese erfolgt sowohl anhand qualitativer Kriterien als auch anhand quantitativer Kriterien. Unter qualitative Kriterien fallen z. B. die Natur der betroffenen Waren und Dienstleistungen und die Marktgegebenheiten. In der deminimis-Bekanntmachung der Europäischen Kommission35) sowie den Horizontalleitlinien36) und den Vertikalleitlinien37) wird als quantitatives Kriterium insbesondere der Marktanteil des Unternehmens genannt. So sind bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen zwischen Unternehmen mit einem Marktanteil von bis zu 10 % bei Horizontalvereinbarungen bzw. 15 % bei Vertikalvereinbarungen nicht spürbar. Ebenso hat das BKartA in seiner Bagatellbekanntma___________ 32) EuGH, Urt. v. 28.2.1991 – Rs. C-234/89, EuZW 1991, 376 – Stergios Delimitis/Henninger Bräu. 33) EuGH, Urt. v. 30.6.1966 – Rs. C-56/65 – Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm. 34) EuGH, Urt. v. 13.12.2012 – Rs. C-226/11, EuZW 2013, 113, Rz. 37 – Expedia/Autorité de la concurrence u. a. 35) Mitteilung der Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (ABl C 291 v. 30.8.2014, S. 1 – 4). 36) Mitteilung der Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit (ABl C 11 v. 14.1.2011, S. 1 – 72) – Horizontalleitlinien. Die derzeitig gültigen Horizontalleitlinien laufen bis Ende 2022 aus. Die Europäische Kommission hat im März 2022 überarbeitete Entwürfe der Horizontal-GVO und der Horizontalleitlinien veröffentlicht, vgl. Kommission, Pressemitteilung v. 1.3.2022. Allerdings hat die Europäische Kommission vom 14.10.2022 bis zum 11.11.2022 ein Konsultationsverfahren zur Verlängerung der derzeitigen Horizontal-GVO bis zum 30.6.2023 durchgeführt, damit für den Erlass der neuen Horizontal-GVO ausreichend Zeit bleibt. 37) Mitteilung der Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen (ABl C 248 v. 30.6.2022, S. 1 – 85).

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§ 15 Kartellrecht

chung38) ausgeführt, dass es auf die Einleitung eines Verfahrens regelmäßig verzichtet, wenn die vorstehenden Marktanteilsschwellenwerte nicht überschritten sind. 3.

Horizontale Wettbewerbsbeschränkungen

29 Vereinbarungen zwischen selbstständigen, regelmäßig auf derselben Marktstufe tätigen, Unternehmen sind dann kartellrechtlich relevant und möglicherweise verboten, wenn sie geeignet sind, die wettbewerbliche Handlungsfreiheit eines Beteiligten einzuschränken. a)

Kernbeschränkungen

30 Manche Vereinbarungen sind aufgrund ihrer besonders nachteiligen Wirkungen per se verboten, ohne dass es auf die Frage der Spürbarkeit (Æ Rz. 27) ankommt. Auch sind solche Vereinbarungen einer Freistellung (Æ Rz. 39) regelmäßig nicht zugänglich. Es handelt sich dabei insbesondere um Beschränkungen des Wettbewerbs hinsichtlich der wesentlichen Wettbewerbsparameter wie Preis, Menge oder Qualität. Entsprechende Beschränkungen werden als sog. Kernbeschränkungen bezeichnet. 31 Praxishinweis: Als Kernbeschränkungen per se verboten sind etwa die Festsetzung von Preisen beim Verkauf von Erzeugnissen an Dritte, die Beschränkung der Produktion oder des Absatzes oder die Aufteilung von Kunden oder Gebieten. b)

Andere horizontale Wettbewerbsbeschränkungen

32 Sofern eine horizontale Wettbewerbsbeschränkung keine Kernbeschränkung darstellt, sind jeweils die Wirkungen im Einzelfall zu betrachten. In Fällen des Informationsaustausches zwischen Wettbewerbern ist etwa zu prüfen, ob dieser die Ungewissheit über das Verhalten der am Austausch beteiligten Unternehmen beseitigt oder erheblich verringert. 33 Praxishinweis: Regelmäßig zulässig ist etwa der Austausch von Informationen, die keine Rückschlüsse auf zukünftiges geschäftliches Verhalten ermöglichen, z. B. Informationen ohne Marktbezug, öffentliche Informationen, die für alle Marktteilnehmer gleichermaßen zugänglich sind, historische Informationen, die für zukünftige Verhaltensweisen irrelevant sind, hinreichend aggregierte Informationen, die keine Rückschlüsse auf unternehmensindividuelle Angaben ermöglichen. In allen anderen Fällen besteht ein erhöhtes Risiko, dass ein Informationsaustausch kartellrechtlich unzulässig ist. 34 Zahlreiche Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern bedürfen einer Einzelfallprüfung, da vielfach anerkannt ist, dass auch solche Vereinbarungen wettbewerbsförderlich sein können. ___________ 38) Bundeskartellamt, Bekanntmachung über die Nichtverfolgung von Kooperationsabreden mit geringer wettbewerbsbeschränkender Bedeutung, Nr. 18/2007, Rz. 7 ff.

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A. Kartellverbot

aa)

Produktions- und Spezialisierungsvereinbarungen

Unter Spezialisierung wird die Arbeitsteilung zwischen Unternehmen bei der 35 Produktion von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen verstanden. Solche Vereinbarungen haben oft positive Auswirkungen auf Forschung und Entwicklung und können daher nach der VO 1218/2010 (Spezialisierungs-GVO)39) freigestellt sein, wenn (i) der Marktanteil der beteiligten Unternehmen höchstens 20 % beträgt und (ii) keine Kernbeschränkungen vorliegen. Problematisch ist regelmäßig, wenn ein bestimmtes Produkt gezielt nicht erzeugt oder vermarktet werden soll. bb)

Einkaufsvereinbarungen

Einkaufsgemeinschaften können ihren Mitgliedern ermöglichen, ein Gegen- 36 gewicht gegenüber Lieferanten zu schaffen und können in dem hierfür erforderlichen Umfang kartellrechtlich zulässig sein.40) Nicht notwendig und daher unzulässig ist oftmals ein Bezugszwang der Mitglieder (d. h. eine Verpflichtung den Bedarf vollständig oder teilweise über den gemeinsamen Einkauf zu decken), da ein solcher Zwang den Zweck verfolgen kann zu verhindern, dass die Mitglieder ihre Nachfrage bei anderen Lieferanten decken. In ihren Horizontalleitlinien erkennt die Kommission aber an, dass auch ein Bezugszwang notwendig sein kann, um Abnahmevolumina zu erreichen, die für die Erzielung von Größenvorteilen (economies of scale) erforderlich sind.41) Dies ist regelmäßig der Fall, wenn der Marktanteil der beteiligten Unternehmen sowohl auf den Einkaufsmärkten als auch auf den Verkaufsmärkten 15 % nicht übersteigt. Anderenfalls ist eine Einkaufsgemeinschaft im Detail (insbes. mit Blick auf die existierende Marktstruktur) zu prüfen.

___________ 39) Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission vom 14.12.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen (ABl L 335 v. 18.12.2010, S. 43 ff.). Die derzeitig gültige Spezialisierungs-GVO läuft ebenfalls Ende 2022 aus. Der überarbeitete Entwurf der Spezialisierungs-GVO sieht eine geringfügige Ausweitung des Anwendungsbereichs der Spezialisierungs-GVO, z. B. auf Vereinbarungen über einseitige Spezialisierung zwischen mehr als zwei Parteien, vor. Allerdings hat die Europäische Kommission vom 14.10.2022 bis zum 11.11.2022 ein Konsultationsverfahren zur Verlängerung der derzeitigen Spezialisierungs-GVO bis zum 30.6.2023 durchgeführt, damit für den Erlass der neuen Spezialisierungs-GVO ausreichend Zeit bleibt. 40) EuGH, Urt. v. 15.12.1994 – Rs. C-250/92, Rz. 34 – Gøttrup-Klim u. a./Dansk Landbrugs Grovvareselskab. 41) Kommission, Horizontalleitlinien, Rz. 218; Kommission, Entwurf Horizontalleitlinien 2022, Rz. 345.

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cc)

Vermarktungsvereinbarungen

37 Vermarktungsvereinbarungen werden grundsätzlich kritischer gesehen42), insbes. da sie zu einer Vereinheitlichung von Preisen und Konditionen führen können.43) Dennoch können auch Vermarktungsvereinbarungen positive Effekte haben und zu Effizienzgewinnen führen. In ihren Horizontalleitlinien nennt die Kommission mehrere Arten der Zusammenarbeit, die regelmäßig keine wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen haben, wenn die beteiligten Unternehmen gemeinsam einen Marktanteil von unter 15 % aufweisen.44) dd)

Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen

38 Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen führen regelmäßig zu Effizienzgewinnen, wie bspw. der Einsparung von Kosten und der schnelleren Entwicklung und Durchsetzung von neuen Technologien.45) Solche Vereinbarungen können nach der VO 1217/2010 (Forschungs- und EntwicklungsGVO)46) freigestellt sein (save harbour), wenn (i) der gemeinsame Marktanteil der beteiligten Unternehmen unter 25 % liegt und sie (ii) keine Kernbeschränkung enthalten. c)

Freistellung

39 Auch wenn eine horizontale Vereinbarung im Ergebnis spürbar den Wettbewerb beschränkt, so kann sie unter den Voraussetzungen des § 2 GWB bzw. Art. 101 Abs. 3 AEUV vom Kartellverbot freigestellt sein. Das System der ___________ 42) Kommission, Horizontalleitlinien, Rz. 230 ff.; Kommission, Entwurf Horizontalleitlinien 2022, Rz. 260 ff. 43) Kommission, Horizontalleitlinien, Rz. 234; Kommission, Entwurf Horizontalleitlinien 2022, Rz. 364. 44) Kommission, Horizontalleitlinien, Rz. 240; Kommission, Entwurf Horizontalleitlinien 2022, Rz. 378. 45) Kommission, Horizontalleitlinien, Rz. 141; Kommission, Entwurf Horizontalleitlinien 2022, Rz. 188. 46) Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung (ABl L 225 v. 18.12.2010, S. 36–42). Die derzeitige Forschungs- und Entwicklungs- GVO läuft bis Ende 2022 aus. Die Europäische Kommission hat im März 2022 einen überarbeiteten Entwurf veröffentlicht, vgl. Kommission, Pressemitteilung v. 1.3.2022. Nach diesem werden Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, die völlig neue Produkte, Technologien und Verfahren betreffen, und Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen, die auf ein spezifisches Ziel, aber noch nicht konkret auf ein Produkt oder eine Technologie ausgerichtet sind, nur dann von den EU-Wettbewerbsvorschriften ausgenommen werden, wenn genügend vergleichbare konkurrierende Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen bestehen. Allerdings hat die Europäische Kommission vom 14.10.2022 bis zum 11.11.2022 ein Konsultationsverfahren zur Verlängerung der derzeitigen Forschungs- und Entwicklungs-GVO bis zum 30.6.2023 durchgeführt, damit für den Erlass der neuen Forschungs- und Entwicklungs-GVO ausreichend Zeit bleibt.

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A. Kartellverbot

Freistellung basiert auf einer Selbsteinschätzung der betreffenden Unternehmen, die jeweils zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen erfüllt sind.47) Behördliche Testate, dass eine Vereinbarung trotz Wettbewerbsbeschränkung nicht rechtswidrig ist, gibt es nicht. Praxishinweis: In der Praxis empfiehlt es sich regelmäßig die Bewertung einer Ko- 40 operation zu verschriftlichen und ein Verständnis mit dem Kooperationspartner über die kartellrechtliche Bewertung zu erzielen. Um die Anwendung der Freistellungsregelung zu erleichtern und für mehr 41 Rechtssicherheit zu sorgen sind auf europäischer Ebene bestimmte typische vertragliche Regelungen, die trotz Wettbewerbsbeschränkung unter bestimmten Voraussetzungen nicht rechtswidrig sind, in sog. Gruppenfreistellungsverordnungen aufgeführt. Diese Gruppenfreistellungen gelten über § 2 Abs. 2 GWB auch im deutschen Kartellrecht. Für Horizontalvereinbarungen sind die maßgeblichen Regelungen: 

Technologietransfer-GVO48)



Spezialisierungs-GVO



Forschungs- und Entwicklungs-GVO.

Ist eine Vereinbarung nicht in den Anwendungsbereich der Gruppenfreistel- 42 lungsverordnungen einbezogen, so kann eine Einzelfreistellung in Betracht kommen. In den Horizontalleitlinien hat die Europäische Kommission für viele typische Kooperationen ihre Anwendungspraxis und die Voraussetzungen, unter denen eine Kooperation kartellrechtlich statthaft ist, näher dargelegt. In jedem Fall ist zu prüfen, ob Effizienzvorteile bestehen, die die Wettbewerbsbeschränkung überkompensieren. Die Voraussetzungen sind im Einzelnen49): (i) Die Vereinbarung muss zu Effizienzgewinnen führen, d. h. zu einer Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts. (ii) Es muss eine angemessene Beteiligung des Verbrauchers an den Effizienzgewinnen vorliegen. (iii) Die Wettbewerbsbeschränkung darf zur Erreichung der Ziele nicht unerlässlich sein, d. h. die Wettbewerbsbeschränkung muss im Einzelfall erforderlich sein. (iv) Die Beschränkung darf nicht zur Ausschaltung wesentlichen Wettbewerbs führen.50) ___________ 47) Seeliger/Gürer. BB 2021, 2050 ff. 48) Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21.3.2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen (ABl L 93 v. 28.2.2014, S. 17 – 23). 49) Vertiefend Wiedemann/Lübbig, § 8 Rz. 71 ff. 50) Sowohl der Entwurf der Forschungs- und Entwicklungs-GVO als auch der Spezialisierungs-GVO sowie der Horizontalleitlinien zielen insbesondere darauf ab, Aspekte der Digitalisierung und die Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen zu berücksichtigen, vgl. Kommission, Pressemitteilung v. 1.3.2022.

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§ 15 Kartellrecht

4.

Vertikale Wettbewerbsbeschränkungen

43 Das Kartellverbot gilt nicht nur im Umgang zwischen Wettbewerbern, sondern auch wenn es um Vereinbarungen mit Lieferanten oder Kunden geht und wenn solche Vereinbarungen den Geschäftspartner in seiner Handlungsfreiheit in Bezug auf Dritte beschränken. Es ist zwar anerkannt, dass vertikale Vereinbarungen oftmals weniger schädlich für den Wettbewerb sind51), allerdings gelten auch hier vielfältige kartellrechtliche Restriktionen, die von den Behörden zunehmend mit erheblichen Bußgeldern geahndet werden. 44 Praxishinweis: Eine Beschränkung kann z. B. darin liegen, dass ein Geschäftspartner betreffend bestimmter vertraglicher Inhalte, wie z. B. Verkaufspreise, gebunden wird. 45 Vertikalvereinbarungen können einerseits den Wettbewerb zwischen den Produkten unterschiedlicher Hersteller (interbrand competition) und andererseits den Wettbewerb zwischen den Anbietern von Produkten eines Herstellers (intrabrand competition) beschränken. 46 Beschränkungen im Vertikalverhältnis können zum einen in der Vertriebskette zwischen Hersteller und Händler (downstream) vereinbart werden und zum anderen in der Produktionskette zwischen Zulieferer und Hersteller (upstream).52) Allerdings können vertikale Vereinbarungen auch den Wettbewerb fördern. Positive Auswirkungen von Vertikalvereinbarungen sind z. B. (i) die Schaffung von Anreizen für größere Vertriebsanstrengungen; (ii) die Verhinderung von Trittbrettfahren; (iii) der Schutz vor hold-ups bei vertragsspezifischen Investitionen; (iv) der Schutz des signaling von Qualität (z. B. Markenimage) und (v) die Vermeidung von double marginalisation bei Marktmacht.53) Zudem steht es einem Unternehmen grundsätzlich frei, wie es seinen Vertrieb bzw. Produktion gestalten möchte. Dies ergibt sich bereits aus dem Grundsatz der Privatautonomie. Zwischen dieser Freiheit der Vertriebs- bzw. Produktionsgestaltung und der Gewährleistung eines funktionsfähigen Wettbewerbs besteht ein Spannungsverhältnis. Hierbei haben die unterschiedlichen Marktteilnehmer, wie der Hersteller, der Händler und die Verbraucher, unterschiedliche Interessen. a)

Kernbeschränkungen

47 Ebenso wie bei horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen sind bestimmte Typen an vertikalen Bindungen grundsätzlich verboten. Entsprechende negative Marktauswirkungen werden z. B. bei der sog. Preisbindung der zweiten Hand

___________ 51) EuGH, Urt. v. 14.3.2013 – Rs. C-32/11, EuZW 2013, 716, Rz. 43 – Allianz Hungária Biztosító u. a./Gazdasági Versenyhivatal. 52) Bischke/Brack, NZG 2021, 191 ff. 53) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 313 ff.

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A. Kartellverbot

stets angenommen. In diesen Fällen wird bezweckt, einen Abnehmer in der Möglichkeit zu beschränken, seine Verkaufspreise selbst festzusetzen. Als Preisbindung der zweiten Hand wird z. B. die Vereinbarung von Fixpreisen 48 oder Mindestpreisen für den Weiterverkauf einer Ware angesehen. Eine Preisbindung der zweiten Hand liegt jedoch nicht vor, wenn der gebundene Abnehmer ein Handelsvertreter ist, der nicht auf eigene Rechnung handelt, sondern im Wege der Absatzvermittlung den Anbieter beim Verkauf unterstützt. Die kartellrechtlichen Anforderungen an die Annahme eines Handelsvertreterverhältnisses sind allerdings hoch und erfordern, dass die gebundene Partei keine oder nur unbedeutende verkäufertypische Risiken und Kosten trägt, insbesondere darf ein Handelsvertreter kein Absatzrisiko tragen.54) Die neuen Vertikalleitlinien stellen außerdem klar, dass im Rahmen von Fulfilment-Konstellationen55) die Festsetzung des Weiterverkaufspreises in einer vertikalen Vereinbarung zwischen einem Lieferanten und einem Abnehmer zum Zweck der Erfüllung eines zuvor zwischen dem Lieferanten und einem bestimmten Endverbraucher geschlossenen Liefervertrags, keine Preisbindung der zweiten Hand darstellt, wenn der Endverbraucher auf sein Recht verzichtet hat, das Unternehmen zu wählen, das die Vereinbarung ausführen soll.56) Rein unverbindliche Preisempfehlungen oder Höchstpreisbindungen sind hingegen kartellrechtlich zulässig, sofern sie sich nicht infolge der Ausübung von Druck bzw. Anreizen tatsächlich wie Fest- oder Mindestpreise auswirken (sog. faktische Preisbindung).57) Ebenso werden Kunden- bzw. Gebietsbeschränkungen als Kernbeschränkung 49 angesehen. Praxishinweis: Sofern ein Hersteller seine Produkte in unterschiedlichen Mitglied- 50 staaten mit unterschiedlichen Preisniveaus vertreibt, bestehen für Händler aus Niedrigpreisländern Anreize, die Produkte in Hochpreisländern zu exportieren (sog. Parallelhandel). Gleichzeitig haben der Hersteller und die Händler aus den Hochpreisländern ein Interesse, die Mitgliedstaaten mit höherem Preisniveau gegen den Parallelhandel abzuschirmen.58) Hierunter fällt die Aufteilung des Absatzgebietes räumlich oder nach bestimmten Kundengruppen (absoluter Gebietsschutz). Demgegenüber können Vereinbarungen über Verkaufs- und Absatzmodalitäten zulässig ___________ 54) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 34; ferner gelten nach der neuen Vertikal-GVO Online-Vermittlungsdienste als Anbieter von Waren und Dienstleistungen, sodass auf diese das Handelsvertreterprivileg keine Anwendung mehr findet. 55) In einer Fulfilment-Konstellation verhandelt ein Lieferant die Konditionen direkt mit dem Endverbraucher, führt die Bestellung jedoch nicht selbst aus. Die Ausführung wird von dem Abnehmer übernommen, der vom Lieferanten die vereinbarten Konditionen erfährt. 56) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 193. 57) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 185 ff.; Bundeskartellamt, Hinweise zum Preisbindungsverbot im Bereich des stationären Lebensmitteleinzelhandels, Juli 2017. 58) Nach ständiger Rechtsprechung stellt eine Einschränkung des Parallelhandels eine Aufteilung von Märkten oder Versorgungsquellen dar und ist damit ein Verstoß gegen das Kartellverbot und zugleich eine Kernbeschränkung, siehe nur EuGH, Urt. v. 18.9.2003 – Rs. C-338/00 P – Volkswagen/Kommission.

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§ 15 Kartellrecht

sein. Erfasst werden indes nur Beschränkungen zu Lasten des Abnehmers, nicht jedoch Beschränkungen zu Lasten des Anbieters. b)

Andere vertikale Wettbewerbsbeschränkungen und Freistellung

51 Ihre Anwendungspraxis betreffend der Beurteilung zahlreicher anderer Typen vertikaler Vereinbarungen hat die Europäische Kommission in ihren Vertikalleitlinien dargelegt. aa)

Meistbegünstigungs- bzw. Bestpreisklauseln

52 Umstritten ist, ob auch sog. Meistbegünstigungs- bzw. Bestpreisklauseln (most favoured costumer clause) eine Kernbeschränkung darstellen. Nach Ansicht des BKartA in seiner HRS59) Entscheidung sollen Meistbegünstigungsklauseln in ihrer wettbewerblichen Wirkung mit Kernbeschränkungen vergleichbar sein, allerdings konnte die Frage wegen hoher Marktanteile in diesem Fall offenbleiben.60) Es sprechen aber gute Argumente gegen die Annahme einer Kernbeschränkung, insbesondere dass es sich in den meisten Fällen um eine Beschränkung zu Lasten des Anbieters handeln wird. 53 Die Rechtsprechung hat die Frage der kartellrechtlichen Zulässigkeit sog. enger und weiter Bestpreisklauseln61) nunmehr geklärt. Sowohl enge als auch weite Bestpreisklauseln sind verboten, wenn sie aufgrund der Marktanteile der Unternehmen nicht in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO62) fallen.63) Zu berücksichtigen ist, dass nach der neuen Vertikal-GVO nunmehr weite Bestpreisklauseln vom Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ausgenommen sind. Der BGH sah in einer entsprechenden engen Bestpreisklausel keine unerlässliche Nebenabrede zu einem Vermittlungsvertrag, die nicht vom Kartellverbot erfasst sei. Er stellte insbesondere fest, dass ein potenzielles TrittbrettfahrerProblem nicht die Effizienz einer Plattform gefährde.64)

___________ 59) BKartA, Beschl. v. 20.12.2013 – B9-66/10 – HRS; bestätigt durch: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.1.2015 – VI-Kart. 1/14 (V), NZKart 2015, 148 – HRS. 60) BKartA, Beschl. v. 20.12.2013 – B9-66/10, Rz. 187 f. – HRS. 61) Bei sog. weiten Bestpreisklauseln dürfen Unternehmen wie z. B. Hotels weder auf ihrer eigenen Seite noch bei anderen Portalen einen besseren Preis anbieten. Enge Bestpreisklauseln untersagen es Unternehmen, auf ihrer eigenen Internetseite Leistungen oder Produkte günstiger anzubieten als auf der von ihnen ebenfalls genutzten Plattform. 62) Verordnung (EU) 2022/720 der Kommission vom 10.5.2022 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (ABl L 134 v. 11.5.2022, S. 4 – 13). 63) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.1.2015 – VI Kart 1/14 (V), BB 2015, 593; BGH, Urt. v. 18.5.2021 – KVR 54/20 – Booking.com, GRUR 2021, 1213. 64) BGH, Urt. v. 18.5.2021 – KVR 54/20 – Booking.com, GRUR 2021, 1213.

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A. Kartellverbot

bb)

Selektiver Vertrieb

Bei selektiven Vertriebssystemen stellt der Hersteller an den Weiterverkauf 54 seiner Waren bestimmte Anforderungen. Hierbei geht es nicht um das „Ob“ des Weiterverkaufs, sondern lediglich um das „Wie“. Es kann zwischen qualitativer Selektion, bei der nur solche Händler, die bestimmte, objektiv formulierte Anforderungen (z. B. Anforderungen in Bezug auf Verkäuferschulungen; Service in der Verkaufsstätte; vorzuhaltendes Spektrum der angebotenen Produkte) erfüllen, in das Vertriebssystem aufgenommen werden und quantitativer Selektion, bei der der Lieferant die Zahl der in Frage kommenden Händler unmittelbar begrenzt (unabhängig von ihrer fachlichen Eignung, beispielsweise durch Vorgabe eines Mindest- oder Höchstumsatzes, oder durch ausdrückliche Beschränkung der Zahl der Händler) unterschieden werden.65) Bei qualitativer Selektion ist eine Wettbewerbsbeschränkung regelmäßig abzu- 55 lehnen, wenn die Auswahl der Händler aufgrund objektiver qualitativer Kriterien erfolgt und diese Kriterien ohne Diskriminierungen auf alle Händler angewendet werden. Demgegenüber stellen nach älterer Rechtsprechung quantitative selektive Vertriebssysteme eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung dar.66) Mittlerweile ist indes ein Wertungswandel67) zu verzeichnen, sodass auch quantitative selektive Vertriebssysteme nach der Vertikal-GVO freigestellt werden können.68) Praxishinweis: Umstritten war bislang, ob ein teilweiser oder vollständiger Aus- 56 schluss des Internetvertriebs im Rahmen eines qualitativen selektiven Vertriebssystems zulässig ist. In der Entscheidung Pierre Fabre69) hat der EuGH dies für einen vollständigen Ausschluss des Internetvertriebs verneint. Die neue Vertikal-GVO enthält nunmehr eine Kernbeschränkung für die Beschränkung des Internetvertriebs. Danach ist die Verhinderung der wirksamen Nutzung des Internets zum Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden verboten. Davon ausgenommen sind (i) andere Beschränkungen des Online-Verkaufs sowie (ii) Beschränkungen der Online-Werbung, die nicht darauf abzielen, die Nutzung eines ganzen Online-Werbekanals zu verhindern. Vor Inkrafttreten der neuen Vertikal-GVO haben sich insbesondere das BKartA und deutsche Gerichte mit bestimmten Formen der Beschränkung des Internetvertriebs beschäftigt. Danach sind neben (i) dem vollständigen Ausschluss des Internetvertriebs, insbesondere (ii) Doppelpreissysteme70) (dual pricing systems), die zwischen ___________ 65) 66) 67) 68) 69)

Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 143 ff. EuGH, Urt. v. 25.10.1977 – Rs. C-26/76, GRUR Int. 1978, 254, Rz. 39 – Metro/Kommission. Immenga/Mestmäcker/Zimmer, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rz. 284. Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 151. EuGH, Urt. v. 13.10.2011 – Rs. C-439/09, EuZW 2012, 28, Rz. 41 – Pierre Fabre DermoCosmétique/Autorité de la concurrence. 70) BKartA, Beschl. v. 28.11.2013 – B5-144/13 – Gardena; Beschl. v. 23.12.2013 – B7-11/13 – BSH; Beschl. v. 13.12.2011 – B5-100/10 – Dornbracht.

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stationären und online Vertrieb unterscheiden und (iii) Plattformverbote71) (platform bans), bei denen bestimmte Internetplattformen (z. B. Ebay oder Amazon) vom Vertrieb ausgeschlossen werden, grundsätzlich verboten. Nach der neuen Vertikal-GVO stellen jedoch Doppelpreissysteme keine Kernbeschränkung mehr da, sofern sie darauf abzielen, Anreize für angemessene Investitionen im Online- bzw. Offline-Bereich zu schaffen oder diese zu belohnen. Anders ist dies zu beurteilen, wenn dadurch eine effektive Nutzung des Internets ausgeschlossen ist. Insbesondere darf der Unterschied im Großhandelspreis den Online-Verkauf nicht unrentabel oder finanziell nicht tragbar werden lassen.72) Hinsichtlich der Plattformverbote hat der EuGH in der Entscheidung Coty73) jedoch festgestellt, dass innerhalb qualitativ-selektiver Vertriebssysteme für Luxuswaren zur Wahrung des Markenimages ein Drittplattformverbot zulässig sein kann, soweit nicht der Internetvertrieb insgesamt untersagt wird. Die Erwägungen des EuGH zum Nichtvorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung bei der von Coty verwandten Klausel sowie zur Freistellungsmöglichkeit nach Artikel 2 der Vertikal-GVO sind jedoch, aufgrund der vom BKartA bereits angekündigten engen Auslegung dieser Entscheidung, nicht zwingend auf Vertriebssysteme übertragbar, die keine Luxuswaren zum Gegenstand haben. Die Kommission hat ihre Auffassung nun in den neuen Vertikalleitlinien konkretisiert: Vereinbarungen, die den Vertrieb über Online-Marktplätze verbieten, sind unabhängig vom betroffenen Produkt oder Vertriebssystem freistellungsfähig, wenn sie nicht zu einer vollständigen Beschränkung des Internetvertriebs führen.74) Es bleibt abzuwarten, wie sich das BKartA diesbezüglich in Zukunft positionieren wird. cc)

Ausschließlichkeitsvereinbarung

57 Ausschließlichkeitsvereinbarungen lassen sich in unmittelbare (Alleinbezug, Alleinbelieferung und Alleinvertrieb) und mittelbare Ausschließlichkeitsvereinbarungen (z. B. englische Klauseln oder Treuerabatte) unterteilen. Die Gemeinsamkeit liegt in der marktabschottenden Wirkung, die beide im Einzelfall entfalten können.75) 58 Alleinbezugsvereinbarungen sind Verpflichtungen des Abnehmers seinen Bedarf vollständig oder zum großen Teil (mehr als 80 %) beim Anbieter zu decken. Solche Vereinbarungen sind bei Einhaltung der Voraussetzungen der Vertikal-GVO (insbes. 30 %-Marktanteilsschwelle) zulässig, sofern die Laufzeit nicht 5 Jahre übersteigt oder unbegrenzt ist bzw. sich automatisch still___________ 71) Hierbei gibt es eine unterschiedliche Einschätzung einerseits vom BKartA, Beschl. v. 24.10.2013, B7-1/13-35 – Sennheiser; Beschl. v. 19.8.2014 – B3-137/12 – Adidas; Beschl. v. 26.8.2015 – B2-98/11 – ASICS und den Gerichten andererseits KG, Urt. v. 19.9.2013 – 2 U 8/09, EuZW 2013, 873 – Scout; OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 5.6.2014 – 16 U 154/13, NJW 2014, 3104 – Casio; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 22.12.2015 – 11 U 84/14, GRUR-RR 2016, 372 – Deuter. 72) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 209. 73) EuGH, Urt. v. 6.12.2017 – Rs. C-230/16, NJW 2018, 281, Rz. 58 – Coty Germany GmbH/Parfümerie Akzente GmbH. 74) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 208, 337 ff. 75) Mesch, WuW 2017, 62 ff.

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A. Kartellverbot

schweigend verlängert (z. B. evergreen-Klauseln76)). Bei Überschreitung der Marktanteilsschwelle der Vertikal-GVO ist eine Einzelfallprüfung77) unter Berücksichtigung der Marktstellung des Anbieters, der Laufzeit der Vereinbarung, des Umfangs der Bindung und der Bindungsquote des Absatzes auf dem relevanten Markt erforderlich. Bei Alleinvertriebsvereinbarungen verpflichtet sich der Anbieter dazu, das 59 Produkt nur an bis zu fünf Abnehmern pro Gebiet oder Kundengruppe zu liefern. Gleichzeitig sichert der Anbieter dem Abnehmer zu, dass dieser in dem ihm zugewiesenen Gebiet bzw. der ihm zugewiesenen Kundengruppe vor aktiven Verkäufen anderer Abnehmer geschützt ist.78) Eine solche Vereinbarung ist freigestellt, sofern keine Kernbeschränkung nach Art. 4 Buchst. b) der Vertikal-GVO vorliegt. Nach der neuen Vertikal-GVO können Anbieter auch von ihren Abnehmern verlangen, das Verbot des aktiven Verkaufs an ihre Kunden weiterzureichen. Ferner eröffnet diese die Möglichkeit, den aktiven und passiven Verkauf an nicht zugelassene Händler in einem Gebiet des Selektivvertriebs effektiver zu beschränken. Bei Alleinbelieferungsvereinbarungen verpflichtet sich der Anbieter dazu, das 60 Produkt nur an einen Abnehmer zu liefern.79) Die Alleinbelieferungsvereinbarung unterscheidet sich von der Alleinvertriebsvereinbarung daher mit Blick auf die Stufe, auf der die Beschränkung stattfindet (Beschränkung auf Herstellerstatt auf Händlerebene). Hier kommt eine Freistellung in Betracht, wenn die Voraussetzungen der Vertikal-GVO eingehalten sind. Englische Klauseln gestatten es dem Abnehmer, die Waren trotz einer Allein- 61 bezugsvereinbarung von einem Dritten zu beziehen, sofern dieser günstiger ist als der Anbieter und der Anbieter nicht bereit ist, zu diesem günstigeren Preis zu liefern. In den Vertikalleitlinien führt die Kommission aus, dass englische Klauseln die gleiche Wirkung haben könnten wie eine Alleinbezugsvereinbarung.80) Die Zulässigkeit hängt insofern von den oben genannten Kriterien ab. Treuerabatte werden vom Anbieter regelmäßig dann gewährt, wenn der Ab- 62 nehmer freiwillig, d. h. ohne rechtliche Verpflichtung, seinen vollständigen oder große Teile seines Bedarfs beim Anbieter deckt. Rabatte können daher die gleiche Wirkung wie eine Alleinbezugsvereinbarung entfalten. Sofern ein Treuerabatt, der für die Deckung des vollständigen Bedarfs beim Anbieter gewährt wird, vollständig entfällt, wenn der Abnehmer lediglich einen Auftrag an einen ___________ 76) Evergreen-Klauseln, sind jedoch von der neuen Vertikal-GVO umfasst, sofern der Abnehmer die Vereinbarung mit angemessener Kündigungsfrist und Kosten wirksam neu aushandeln oder kündigen und nach Ablauf der Frist von 5 Jahren den Lieferanten wirksam wechseln kann. 77) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 301 ff. 78) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 122. 79) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 321. 80) Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 298.

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§ 15 Kartellrecht

Konkurrenten des Anbieters erteilt, dann hat dieser Treuerabatt die gleiche Wirkung wie eine Alleinbezugsvereinbarung. Mithin gelten die gleichen Regeln. 63 Überlange Belieferungs- und Bezugsverträge81) können als zeitlich überschießende Vereinbarung ebenfalls gegen das Kartellverbot verstoßen. dd)

Franchiseverträge

64 Unter Franchising versteht man die Befugnis eines Unternehmens (Franchisenehmer), die Firma oder die Marke eines anderen Unternehmens (Franchisegeber) im Geschäftsverkehr, d. h. insbesondere in der Herstellung oder dem Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen, gegen Entgelt zu verwenden. Nach der Rechtsprechung sind Klauseln in Franchiseverträgen dann zulässig, wenn sie notwendige Nebenabreden (ancillary restrains) sind, d. h. Vertragsklausen, die zwar die Handlungsfreiheit im Wettbewerb beschränken, aber gleichzeitig der Durchführung eines kartellrechtlich unproblematischen Vertrags dienen. Zulässig sind regelmäßig insbesondere Wettbewerbsverbote, Verbote das Geschäft ohne Zustimmung des Franchisegebers zu übertragen und – im Einzelfall – auch die Verpflichtung das Sortiment beim Franchisegeber zu beziehen. Verboten sind hingegen Vereinbarungen, die zur Aufteilung von Märkten zwischen dem Franchisegeber und dem Franchisenehmer sowie zwischen einzelnen Franchisenehmern führen. Ebenso unzulässig sind Preisbindungen. c)

Freistellung

65 Auch bei vertikalen Vereinbarungen besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB (Æ Rz. 39 f.). Um die Anwendung der Freistellungsregelung auch bei Vertikalvereinbarungen zu erleichtern und für mehr Rechtssicherheit zu sorgen, wurde auf europäischer Ebene die Vertikal-GVO eingeführt.82) Diese gilt über § 2 Abs. 2 GWB auch im deutschen Kartellrecht. 66 Die Vertikal-GVO nennt in Art. 4 VO 2022/720 abschließend mehrere Kernbeschränkungen (schwarze Klauseln), die den Regelbeispielen aus Art. 101 Abs. 1 AEUV entsprechen. Liegt eine solche Kernbeschränkung vor, ist die VertikalGVO unanwendbar (sog. Alles-oder-Nichts-Prinzip). Die Vertikal-GVO sieht die Möglichkeit einer Freistellung vor, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Anbieter und Abnehmer überschreiten nicht die Marktanteils___________ 81) Wiedemann/Kirchhoff, § 11 Rz. 286 ff. 82) Zu beachten ist hierbei, dass die neue Vertikal-GVO strengere Regelungen für duale Vertriebssysteme vorsieht. Auch sind Online-Vermittlungsdienste vom Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ausgenommen, wenn sie eine hybride Funktion haben, d. h. der Anbieter der Online-Vermittlungsdienste auch Wettbewerber auf dem relevanten Markt für den Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen ist, vgl. Kommission, Vertikalleitlinien, Rz. 104 ff.

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A. Kartellverbot

schwelle von 30 % und es darf keine Kernbeschränkung vorliegen.83) Bei Unanwendbarkeit der Vertikal-GVO gelten die allgemeinen Regeln zur Einzelfreistellung (Æ Rz. 42). IV.

Verfahren

Neben einer Geltendmachung von Verstößen gegen das Kartellrecht im Zivil- 67 verfahren (etwa mit Blick auf eine Nichtigkeit eines kartellrechtswidrigen Vertrages, dazu Æ Rz. 73) werden Verstöße gegen das Kartellrecht vor allem behördlich verfolgt, in Deutschland durch das Bundeskartellamt und auf europäischer Ebene durch die Kommission.84) Die Einleitung eines Verfahrens steht im Ermessen der Behörde (Opportunitätsprinzip). Vielfach werden Kartellverfahren durch die Stellung von Kronzeugenanträgen 68 ausgelöst, mit denen Unternehmen incentiviert werden, Verstöße freiwillig bei den Behörden anzuzeigen. Nach der Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie85) im Rahmen der 9. GWB-Novelle im Jahr 2017 ist die Anzahl der Kronzeugenanträge jedoch spürbar zurückgegangen.86) Überwiegend wird der enorme Anstieg privater Schadensersatzforderungen für den Rückgang verantwortlich gemacht. Da die drohenden Schadensersatzzahlungen die Höhe der drohenden Bußgelder bei Aufdeckung des Kartells oftmals erheblich übersteigen, überlegen sich viele Unternehmen, ob sie den Kronzeugenantrag stellen wollen. Die Voraussetzungen, unter denen ein Antragsteller einen Erlass der Geldbuße oder eine erhebliche Reduktion einer Buße erreichen kann, sind in § 81h ff. GWB und den Kronzeugenregelungen von Bundeskartellamt und der Kommission geregelt.87) Erforderlich für einen vollständigen Bußgelderlass ist, dass 

der Antragsteller sich als erster Kartellbeteiligter an die Behörde wendet, bevor diese über ausreichende Beweismittel verfügt, um einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken,

___________ 83) Siehe dazu z. B. Galle/Burdinski, EuZW 2021, 439 ff. 84) Daneben sieht der am 5.4.2023 beschlossene Regierungsentwurf der 11. GWB Novelle u. a. weitreichende behördliche Eingriffsbefugnisse im Anschluss an Sektoruntersuchungen unabhängig von etwaigen Kartellverstößen vor. 85) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl L 349, S. 1 ff. v. 5.12.2014. 86) Das Bundeskartellamt erreichten im Jahr 2020 nur 13 Kronzeugenanträge. Seit 2016 (59 Anträge) sinkt die Zahl kontinuierlich. 87) Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 14/2021 über allgemeine Verwaltungsgrundsätze über die Ausübung des Ermessens bei der Gestaltung des Verfahrens und der Anwendung des kartellrechtlichen Kronzeugenprogramms nach §§ 81h–81n GWB (Leitlinien zum Kronzeugenprogramm) vom 23.8.2021; Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl C 298 vom 8.12.2006, S. 17 ff. mit Ergänzungen in ABl C 256 v. 5.8.2015, S. 1).

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§ 15 Kartellrecht



die Behörde mündlich oder schriftlich und durch Beweismittel in die Lage versetzt wird einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken,



der Antragsteller nicht alleiniger Anführer des Kartells war oder andere Unternehmen zur Teilnahme oder zum Verbleib im Kartell gezwungen hat und

der Antragsteller für die Dauer des Verfahrens ununterbrochen und uneingeschränkt mit der Behörde zusammenarbeitet. 69 Praxishinweis: Da nur der erste Antragsteller einen vollen Geldbußenerlass erreichen kann und spätere Antragsteller allenfalls einen hohen Rabatt auf die Geldbuße erhalten, ist eine frühe Antragstellung, ggfs. über einen sog. „Marker“ erforderlich, um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Behörde zu erklären. Ein solcher „Marker“ wahrt den Rang und muss nur rudimentäre Angaben zum Verstoß enthalten – weitere Erklärungen und Beweismittel sind dann nachzureichen.88) Sofern ein Kartellverstoß einen Bezug zu Ländern hat, in denen umfassende Offenlegungspflichten bestehen können, z. B. in Zivilverfahren in den USA (Discovery), ist bei der Stellung des Kronzeugenantrages und im Rahmen der nachfolgenden Kooperation mit der Behörde darauf zu achten, dass eingereichte Informationen und Beweismittel vor einer Offenlegung geschützt sind. Während des laufenden Verfahrens bestehen regelmäßig umfassende Geheimhaltungspflichten für den Antragsteller, deren Verletzung zu einem Entzug des Rangs im Kronzeugenprogramm führen kann. Aus diesem Grund ist bei börsennotierten Gesellschaften eine ad hoc Mitteilung regelmäßig nicht angezeigt, ggfs. kann aber eine Selbstbefreiung des Vorstandes erforderlich sein. 

70 Im Verfahren haben die Kartellbehörden umfassende Ermittlungsbefugnisse, die beim Bundeskartellamt u. a. die Möglichkeit der Beschlagnahme von Gegenständen (§ 58 GWB), bestimmte Auskunftsrechte (§ 59 GWB), die Prüfung von geschäftlichen Unterlagen (§ 59a GWB), Durchsuchungen (sog. Dawn Raids gemäß § 59b GWB) und den Erlass von einstweiligen Anordnungen (§ 60 GWB) umfassen. Durchsuchungen seitens des Bundeskartellamtes erfolgen regelmäßig auf Basis eines gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses, der einen Anfangsverdacht für einen Kartellrechtsverstoß voraussetzt. Die Befugnisse der Europäischen Kommission nach der Kartellverfahrensverordnung (Art. 17 ff. VO 1/2003) weichen teilweise hiervon ab und beinhalten z. B. keine Befugnis zur Beschlagnahme. Bei Durchsuchungen erlässt die Kommission den zugrundeliegenden Beschluss selbst.89) 71 Praxishinweis: Es empfiehlt sich eine Dawn Raid Policy zu erarbeiten, in der betroffenen Mitarbeitern der Ablauf einer kartellbehördlichen Untersuchung und die wesentlichen Schritte erläutert werden. Auch ist in einer solchen Policy zu regeln, ___________ 88) v. Brevern, NZKart 2016, 399 ff. 89) Ein richterlicher Beschluss ist nur nötig, wenn die Kommission auf die Unterstützung nationaler Behörden zurückgreift, z. B. in Fällen eines Widerstandes gegen die Durchsuchung oder bei Durchsuchungen in Privaträumen der Mitarbeiter.

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A. Kartellverbot

welche internen Stellen im Durchsuchungsfall unverzüglich zu informieren sind, typischerweise sind dies die Rechtsabteilung und Geschäftsführung und welche externen Anwälte hinzuzuziehen sind. Auch sind die teilweise unterschiedlichen Befugnisse der Behörden und Pflichten der Mitarbeiter darzulegen, damit Mitarbeiter im Durchsuchungsfall nicht unbeabsichtigt Fehler begehen. Einen weiteren Anreiz zur Kooperation im Verfahren und Bußgeldreduktion 72 setzen die Kartellbehörden durch Verfahrensabschlüsse im Vergleichswege (Settlement), die typischerweise zu einer weiteren Bußgeldreduktion führen.90) Der Rechtsweg gegen Entscheidungen des Bundeskartellamtes geht zum OLG Düsseldorf (dort Kartellsenate) und BGH, bei Entscheidungen der Kommission zum Gericht und Gerichtshof. V.

Rechtsfolgen und Verantwortlichkeit

1.

Nichtigkeit

Die Rechtsfolge von Verstößen gegen das Kartellverbot ist nach § 134 BGB 73 bzw. Art. 101 Abs. 2 AEUV grundsätzlich die Nichtigkeit des betreffenden Rechtsgeschäfts. Nichtige Rechtsgeschäfte können nach deutschem Recht nicht durch den Wegfall des Nichtigkeitsgrundes geheilt werden (sie können aber ggfs. nach § 141 Abs. 1 BGB bestätigt werden). Zu beachten ist ferner, dass § 139 BGB bei Teilnichtigkeit eines Rechtsgeschäfts die Nichtigkeit des gesamten Vertrags vorsieht, wenn nicht nach dem Willen der Vertragsparteien (§§ 133, 157 BGB) anzunehmen ist, dass sie den Vertrag auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen hätten. In Betracht kommt indes eine „geltungserhaltende Reduktion überschießender Bindungen“. Insbesondere bei der Beurteilung überlanger Bindungen geht die Rechtsprechung91) davon aus, dass nur ein Teil der Regelung (z. B. des Wettbewerbsverbotes oder der Bezugsbindung) nichtig ist, die Regelung indes beschränkt auf eine angemessene Zeit, weiterhin wirksam bleiben kann.92) Praxishinweis: Bei Verträgen im kartellrechtlichen Graubereich ist eine ex ante 74 Prüfung wichtig, um spätere Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit einer möglichen Nichtigkeit zu vermeiden. Regelungen in der Präambel des Vertrages zur Einhaltung der Voraussetzungen bestimmter kartellrechtlicher Voraussetzungen für die Wirksamkeit (z. B. Marktanteilsschwellen nach der Vertikal-GVO) können ___________ 90) Bundeskartellamt, Das Settlement-Verfahren des Bundeskartellamtes in Bußgeldsachen, Februar 2016; Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen (ABl C 167 v. 2.7.2008, S. 1; C 256 v. 5.8.2015, S. 2); zu Settlements von Kartellverfahren und verfahrensrechtlichen Fragen Gaßner, ZWeR 2016, 258 ff.; Köster, EuZW 2015, 575 ff. 91) BGH, Urt. v. 10.12.2008 – KZR 54/08, NJW 2009, 1751 – Subunternehmervertrag II; BGH, Urt. v. 19.10.1993 – KZR 3/92, NJW 1994, 384 – Ausscheidender Gesellschafter. 92) Langen/Bunte/Krauß, § 1 GWB Rz. 362 ff.

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§ 15 Kartellrecht

zumindest im Verhältnis zwischen den Vertragspartnern eine weitergehende Rechtssicherheit bewirken und bei einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung hilfreich sein. 2.

Risikoverteilung

75 Der Gesetzgeber hat das Risiko eines Kartellrechtsverstoßes ausschließlich den handelnden Marktteilnehmern auferlegt. Unternehmen sind damit zu einer Selbsteinschätzung („Selbstveranlagung“) ihres Verhaltens verpflichtet.93) 76 Praxishinweis: Mit Einführung der 10. GWB-Novelle besteht gemäß § 32c Abs. 4 Satz 1 GWB nun jedoch unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Entscheidung des Bundeskartellamts bezüglich der Feststellung, dass in Bezug auf bestimmte Verhalten kein Anlass zum Tätigwerden besteht. Dafür gilt eine „SollFrist“ von 6 Monaten. Erforderlich ist, dass im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit Wettbewerbern ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse an einer solchen Entscheidung besteht. Dieses ist insbesondere bei komplexen neuen Rechtsfragen und außergewöhnlich hohem Investitionsvolumen und -aufwand anzunehmen. Begrenzt ist der Anspruch jedoch auf horizontale Beschränkungen, die etwa der Realisierung von Netzwerkeffekten, der gemeinsamen Nutzung von Daten oder dem Aufbau von Plattformen im Bereich der Industrie 4.0 dienen können.94) 3.

Bußgelder

77 Neben der Relevanz in der zivilrechtlichen Durchsetzung ist regelmäßig eine behördliche Verfolgung von Kartellverstößen und eine Ahndung mit Geldbußen die praktisch oft bedeutendste Konsequenz. Die Europäische Kommission knüpft bei der Sanktionierung an der wirtschaftlichen Einheit an, der ein Verstoß zuzurechnen ist, während in Deutschland bis zur 9. GWB-Novelle ausschließlich eine Sanktionierung des Rechtsträgers erfolgen konnte, dem ein Verstoß zugerechnet werden konnte (Rechtsträgerprinzip). Begeht ein Mitglied der Unternehmensleitung einen Verstoß, so haftet die betreffende Gesellschaft für dessen aktives Tun.95) Seit der 9. GWB-Novelle 2017 besteht insoweit auch eine verschuldensunabhängige Konzernhaftung (die bereits zuvor schon auf europäischer Ebene bestand). Diese Regelung ist verfassungsrechtlich aufgrund eines möglichen Verstoßes gegen das konzernrechtliche Trennungsprinzip kritisch zu beurteilen.96) Vorschriften über die Höhe und Zumessung des Bußgeldes durch das Bundeskartellamt finden sich in §§ 81c ff. GWB. Darüber hinaus haben das Bundeskartellamt97) und die Europäische ___________ 93) 94) 95) 96) 97)

Galle/Burdinski, EuZW 2021, 439 ff. BT-Drucks. 19/23492, S. 87. Zur Zurechnung im deutschen Recht siehe die Darstellung von Cordes in Teil V, § 1, § 2. Mäger/von Schreitter, NZKart 2017, 264 ff.; Brettel/Thomas, WuW 2016, 336 ff. Bundeskartellamt, Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren vom 11.10.2021.

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A. Kartellverbot

Kommission98) Leitlinien herausgegeben, die Methodik und Ermessensspielräume erläutern und Anhaltspunkte für eine zu erwartende Strafe geben. Handelt ein Mitarbeiter kartellrechtswidrig und hat die Unternehmensleitung 78 nicht alles Erforderliche getan, um einen Verstoß zu vermeiden, so kann zudem eine Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG vorliegen, die das Bundeskartellamt allerdings bislang nur in wenigen Fällen mit Geldbußen belegt hat. Neben der Geldbuße kann auch gegen kartellbeteiligte oder aufsichtspflichtige 79 Mitarbeiter unter bestimmten Voraussetzungen ein persönliches Bußgeld verhängt werden.99) So sieht etwa im deutschen Kartellrecht § 81c Abs. 1 Satz 1 GWB ausdrücklich die Verhängung einer Geldbuße i. H. v. bis zu EUR 1 Mio. gegenüber Personen vor, die nicht Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen sind. Im europäischen Kartellrecht sind hingegen nur die Unternehmen selbst Adressaten der Bußgeldhaftung. Unternehmensmitarbeiter können dann aber ggfs. im Rahmen von Schadensersatzklagen in Anspruch genommen werden. 4.

Zivilrechtliche Schadensersatzansprüche

Schon seit einigen Jahren incentiviert der Gesetzgeber Kartellgeschädigte zu- 80 nehmend Schadensersatzansprüche, die ihre Grundlage in einem Kartellrechtsverstoß haben, im Klagewege geltend zu machen.100) In solchen Verfahren sind die Feststellungen der Behörde im Bußgeldbescheid im Zivilverfahren bindend, sodass sich bei zivilrechtlicher Durchsetzung insbesondere Fragen im Zusammenhang mit Schadenshöhe und Kausalität der Schadensverursachung stellen.101) Praxishinweis: Für Kartellgeschädigte sind regelmäßig Fragen des Informationszu- 81 gangs zur erfolgreichen Anspruchsdurchsetzung von Bedeutung. Mit der 9. GWBNovelle 2017 wurde insoweit ein eigenes Klageinstrument eingeführt (§ 33g GWB), sodass Geschädigte komplexere Stufenklagen in Zukunft oft werden verhindern können. Die wesentliche Entscheidungspraxis des Amtsgerichts Bonn zur Einsichtnahme Dritter in die behördliche Verfahrensakte veröffentlicht das Bundeskartellamt auf seiner Webseite (in der Rubrik Kartellverbot unter Materialien, Akteneinsicht). ___________ 98) Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (ABl C 2010 v. 1.9.2006, S. 2 ff.). 99) Zu Einzelheiten Æ § 23 Rz. 61 f.; § 25 Rz. 78 ff. 100) Zusammenfassend zum Stand der Entwicklung siehe nur Fritzsche/Klöppner/Schmidt, NZKart 2016, 412 ff.; 501 ff. Siehe auch Sonderheft WuW zur 9. GWB Novelle zu den wesentlichen Änderungen in Folge der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl L 349 v. 5.12.2014, S. 1 ff.), WuW 2017, 225 ff. 101) Der Regierungsentwurf der 11. GWB-Novelle sieht hierbei eine Erleichterung der Abschöpfung von Vorteilen aus Kartellrechtsverstößen vor.

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§ 15 Kartellrecht

5.

Ausschluss von öffentlichen Aufträgen

82 Hinzu tritt der fakultative Ausschluss von öffentlichen Aufträgen gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Dessen Durchsetzung soll durch das neue bundeweite elektronische Wettbewerbsregister, das beim Bundeskartellamt geführt wird, noch verstärkt werden.102) So sind öffentliche Auftraggeber seit Juni 2022 gemäß § 6 Abs. 1 WRegG ab einem Auftragsvolumen von 30.000 € verpflichtet, im Vorfeld einer Auftragsvergabe das Wettbewerbsregister einzusehen. Ferner haben Unternehmen und natürliche Personen die Möglichkeit, auf Antrag eine Auskunft über den sie betreffenden Inhalt des Wettbewerbsregisters (Selbstauskunft) zu erhalten. Das Register soll dabei für mehr Transparenz sorgen und „sicherstellen, dass öffentliche Aufträge und Konzessionen nur an solche Unternehmen vergeben werden, die keine erheblichen Rechtsverstöße begangen haben und die sich im Wettbewerb fair verhalten“.103) Da Kartellverstöße gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 WRegG bereits ab einer Geldbuße von 50.000 € eintragungspflichtig sind, ist hiervon die Mehrzahl der geahndeten Verstöße erfasst. Eine Eintragung bedeutet indes nicht zwingend eine Vergabesperre, sondern führt nur zur Kenntnisnahme des öffentlichen Auftraggebers, der dann nach pflichtgemäßem Ermessen über einen Ausschluss entscheiden muss.104) Eine einmal erfolgte Eintragung wird gemäß § 7 Abs. 1 WRegG von Amts wegen – je nach Art der Verfehlung – nach drei oder fünf Jahren gelöscht. Außerdem besteht die Möglichkeit der vorzeitigen Löschung unter den Voraussetzungen der in § 125 GWB geregelten „Selbstreinigung“ (§ 8 WRegG).105) Im Ergebnis kann der drohende Ausschluss von der öffentlichen Auftragsvergabe bei Unternehmen, die sich auf öffentliche Auftraggeber konzentrieren, besonders schwer wiegen. B.

Missbrauchsverbot § 19 GWB [Verbotenes Verhalten von marktbeherrschenden Unternehmen] (1) Der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten. (2) Ein Missbrauch liegt insbesondere vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen

___________ 102) Wettbewerbsregistergesetz vom 18.7.2017 (BGBl I, 2739) und die Wettbewerbsregisterverordnung vom 16.4.2021 (BGBl I, 809). Seit dem 1.6.2022 ist das Wettbewerbsregister im vollen Wirkbetrieb, d. h. inkl. der Abfragepflicht sowie verschiedener Auskunftsrechte. 103) BT-Drucks. 18/12583, S. 1. 104) Beck’scher Vergaberechtskommentar/Opitz, § 124 GWB Rz. 14. 105) Das Bundeskartellamt hat am 25.11.2021 auf seiner Internetseite Leitlinien zur vorzeitigen Löschung einer Eintragung aus dem Wettbewerbsregister wegen Selbstreinigung sowie praktische Tipps veröffentlicht.

1014

Barth

B. Missbrauchsverbot 1.

ein anderes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar unbillig behindert oder ohne sachlich gerechtfertigten Grund unmittelbar oder mittelbar anders behandelt als gleichartige Unternehmen;

2.

Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, die von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würden; hierbei sind insbesondere die Verhaltensweisen von Unternehmen auf vergleichbaren Märkten mit wirksamem Wettbewerb zu berücksichtigen; ungünstigere Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordert, als sie das marktbeherrschende Unternehmen selbst auf vergleichbaren Märkten von gleichartigen Abnehmern fordert, es sei denn, dass der Unterschied sachlich gerechtfertigt ist;

3.

4.

sich weigert, ein anderes Unternehmen gegen angemessenes Entgelt mit einer solchen Ware oder gewerblichen Leistung zu beliefern, insbesondere ihm Zugang zu Daten, zu Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, und die Belieferung oder die Gewährung des Zugangs objektiv notwendig ist, um auf einem vor- oder nachgelagerten Markt tätig zu sein und die Weigerung den wirksamen Wettbewerb auf diesem Markt auszuschalten droht, es sei denn, die Weigerung ist sachlich gerechtfertigt;

5.

andere Unternehmen dazu auffordert, ihm ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu gewähren; hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Aufforderung für das andere Unternehmen nachvollziehbar begründet ist und ob der geforderte Vorteil in einem angemessenen Verhältnis zum Grund der Forderung steht.

(3) Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 und Nummer 5 gilt auch für Vereinigungen von miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen im Sinne der §§ 2, 3 und 28 Absatz 1, § 30 Absatz 2a, 2b und § 31 Absatz 1 Nummer 1, 2 und 4. Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 gilt auch für Unternehmen, die Preise nach § 28 Absatz 2 oder § 30 Absatz 1 Satz 1 oder § 31 Absatz 1 Nummer 3 binden. § 19a GWB Missbräuchliches Verhalten von Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb (1) Das Bundeskartellamt kann durch Verfügung feststellen, dass einem Unternehmen, das in erheblichem Umfang auf Märkten im Sinne des § 18 Absatz 3a tätig ist, eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Bei der Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung eines Unternehmens für den Wettbewerb sind insbesondere zu berücksichtigen: 1.

seine marktbeherrschende Stellung auf eine oder mehreren Märkten,

2. 3.

seine Finanzkraft oder sein Zugang zu sonstigen Ressourcen, seine vertikale Integration und seine Tätigkeit auf in sonstiger Weise miteinander verbundenen Märkten, sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten,

4. 5.

die Bedeutung seiner Tätigkeit für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten sowie sein damit verbundener Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter. Die Verfügung nach Satz 1 ist auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft zu befristen.

Barth

1015

§ 15 Kartellrecht (2) Das Bundeskartellamt kann im Falle einer Feststellung nach Absatz 1 den Unternehmen untersagen, 1.

beim Vermitteln des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten die eigenen Angebote gegenüber denen von Wettbewerbern bevorzugt zu behandeln, insbesondere a) die eigenen Angebote bei der Darstellung zu bevorzugen; b) ausschließlich eigene Angebote auf Geräten vorzuinstallieren oder in anderer Weise in Angebote des Unternehmens zu integrieren;

2.

Maßnahmen zu ergreifen, die andere Unternehmen in ihrer Geschäftstätigkeit auf Beschaffungs- oder Absatzmärkten behindern, wenn die Tätigkeit des Unternehmens für den Zugang zu diesen Märkten Bedeutung hat, insbesondere a) Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer ausschließlichen Vorinstallation oder Integration von Angeboten des Unternehmens führen; b) andere Unternehmen daran zu hindern, oder es ihnen zu erschweren, ihre eigenen Angebote zu bewerben oder Abnehmer auch über andere als die von den Unternehmen bereitgestellten oder vermittelten Zugänge zu erreichen;

3.

Wettbewerber auf einem Markt, auf dem das Unternehmen seine Stellung, auch ohne marktbeherrschend zu sein, schnell ausbauen kann, unmittelbar oder mittelbar zu behindern, insbesondere a) die Nutzung eines Angebots des Unternehmens mit einer dafür nicht erforderlichen automatischen Nutzung eines weiteren Angebots des Unternehmens zu verbinden, ohne dem Nutzer des Angebots ausreichende Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Umstands und der Art und Weise der Nutzung des anderen Angebots einzuräumen; b) die Nutzung eines Angebots des Unternehmens von der Nutzung eines anderen Angebots des Unternehmens abhängig zu machen;

4.

durch die Verarbeitung wettbewerbsrelevanter Daten, die das Unternehmen gesammelt hat, Marktzutrittsschranken zu errichten oder spürbar zu erhöhen, oder andere Unternehmen in sonstiger Weise zu behindern, oder Geschäftsbedingungen zu fordern, die eine solche Verarbeitung zulassen, insbesondere a) die Nutzung von Diensten davon abhängig zu machen, dass Nutzer der Verarbeitung von Daten aus anderen Diensten des Unternehmens oder eines Drittanbieters zustimmen, ohne den Nutzern eine ausreichende Wahlmöglichkeit hinsichtlich des Umstands, des Zwecks und der Art und Weise der Verarbeitung einzuräumen; b) von anderen Unternehmen erhaltene wettbewerbsrelevante Daten zu anderen als für die Erbringung der eigenen Dienste gegenüber diesen Unternehmen erforderlichen Zwecken zu verarbeiten, ohne diesen Unternehmen eine ausreichende Wahlmöglichkeit hinsichtlich des Umstands, des Zwecks und der Art und Weise der Verarbeitung einzuräumen;

5.

1016

die Interoperabilität von Produkten oder Leistungen oder die Portabilität von Daten zu verweigern oder zu erschweren und damit den Wettbewerb zu verhindern;

Barth

B. Missbrauchsverbot 6.

andere Unternehmen unzureichend über den Umfang, die Qualität oder den Erfolg der erbrachten oder beauftragten Leistung zu informieren oder ihnen in anderer Weise eine Beurteilung des Wertes dieser Leistung zu erschweren;

7.

für die Behandlung von Angeboten eines anderen Unternehmens Vorteile zu fordern, die in keinem angemessenen Verhältnis zum Grund der Forderung stehen, insbesondere a) für deren Darstellung die Übertragung von Daten oder Rechten zu fordern, die dafür nicht zwingend erforderlich sind; b) die Qualität der Darstellung dieser Angebote von der Übertragung von Daten oder Rechten abhängig zu machen, die hierzu in keinem angemessenen Verhältnis stehen.

Dies gilt nicht, soweit die jeweilige Verhaltensweise sachlich gerechtfertigt ist. Die Darlegungs- und Beweislast obliegt insoweit dem Unternehmen. § 32a Absatz 2 und 3, die §§ 32a und 32b gelten entsprechend. Die Verfügung nach Absatz 2 kann mit der Feststellung nach Absatz 1 verbunden werden. (3) Die §§ 19 und 20 bleiben unberührt. (4) Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie berichtet den gesetzgebenden Körperschaften nach Ablauf von vier Jahren nach Inkrafttreten der Regelungen in den Absätzen 1 und 2 über die Erfahrungen mit der Vorschrift. § 20 GWB [Verbotenes Verhalten von Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht] (1) § 19 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 gilt auch für Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen, soweit von ihnen andere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen und ein deutliches Ungleichgewicht zur Gegenmacht der anderen Unternehmen besteht (relative Marktmacht). § 19 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 gilt ferner auch für Unternehmen, die als Vermittler auf mehrseitigen Märkten tätig sind, soweit andere Unternehmen mit Blick auf den Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten von ihrer Vermittlungsleistung in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten nicht bestehen. Es wird vermutet, dass ein Anbieter einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen von einem Nachfrager abhängig im Sinne des Satzes 1 ist, wenn dieser Nachfrager bei ihm zusätzlich zu den verkehrsüblichen Preisnachlässen oder sonstigen Leistungsentgelten regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleichartigen Nachfragern nicht gewährt werden. (1a) Eine Abhängigkeit nach Absatz 1 kann sich auch daraus ergeben, dass ein Unternehmen für die eigene Tätigkeit auf den Zugang zu Daten angewiesen ist, die von einem anderen Unternehmen kontrolliert werden. Die Verweigerung des Zugangs zu solchen Daten gegen angemessenes Entgelt kann eine unbillige Behinderung nach Absatz 1 in Verbindung mit § 19 Absatz 2 Nummer 1 darstellen. Dies gilt auch dann, wenn ein Geschäftsverkehr für diese Daten bislang nicht eröffnet ist. (2) § 19 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 5 gilt auch für Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen im Verhältnis zu den von ihnen abhängigen Unternehmen.

Barth

1017

§ 15 Kartellrecht (3) Unternehmen mit gegenüber kleinen und mittleren Wettbewerbern überlegener Marktmacht dürfen ihre Marktmacht nicht dazu ausnutzen, solche Wettbewerber unmittelbar oder mittelbar unbillig zu behindern. Eine unbillige Behinderung im Sinne des Satzes 1 liegt insbesondere vor, wenn ein Unternehmen 1.

Lebensmittel im Sinne des § 2 Absatz 2 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches unter Einstandspreis oder

2.

andere Waren oder gewerbliche Leistungen nicht nur gelegentlich unter Einstandspreis oder

3.

von kleinen oder mittleren Unternehmen, mit denen es auf dem nachgelagerten Markt beim Vertrieb von Waren oder gewerblichen Leistungen im Wettbewerb steht, für deren Lieferung einen höheren Preis fordert als es selbst auf diesem Markt

anbietet, es sei denn, dies ist jeweils sachlich gerechtfertigt. Einstandspreis im Sinne des Satzes 2 ist der zwischen dem Unternehmen mit überlegener Marktmacht und seinem Lieferanten vereinbarte Preis für die Beschaffung der Ware oder Leistung, auf den allgemein gewährte und im Zeitpunkt des Angebots bereits mit hinreichender Sicherheit feststehende Bezugsvergünstigungen anteilig angerechnet werden, soweit nicht für bestimmte Waren oder Leistungen ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist. Das Anbieten von Lebensmitteln unter Einstandspreis ist sachlich gerechtfertigt, wenn es geeignet ist, den Verderb oder die drohende Unverkäuflichkeit der Waren beim Händler durch rechtzeitigen Verkauf zu verhindern sowie in vergleichbar schwerwiegenden Fällen. Werden Lebensmittel an gemeinnützige Einrichtungen zur Verwendung im Rahmen ihrer Aufgaben abgegeben, liegt keine unbillige Behinderung vor.106) (3a) Eine unbillige Behinderung im Sinne des Absatzes 3 Satz 1 liegt auch vor, wenn ein Unternehmen mit überlegener Marktmacht auf einem Markt im Sinne des § 18 Absatz 3a die eigenständige Erzielung von Netzwerkeffekten durch die Wettbewerber behindert und hierdurch die ernstliche Gefahr begründet, dass der Leistungswettbewerb in nicht unerheblichem Maße eingeschränkt wird. (4) Ergibt sich auf Grund bestimmter Tatsachen nach allgemeiner Erfahrung der Anschein, dass ein Unternehmen seine Marktmacht im Sinne des Absatzes 3 ausgenutzt hat, so obliegt es diesem Unternehmen, den Anschein zu widerlegen und solche anspruchsbegründenden Umstände aus seinem Geschäftsbereich aufzuklären, deren Aufklärung dem betroffenen Wettbewerber oder einem Verband nach § 33 Absatz 4 nicht möglich, dem in Anspruch genommenen Unternehmen aber leicht möglich und zumutbar ist. (5) Wirtschafts- und Berufsvereinigungen sowie Gütezeichengemeinschaften dürfen die Aufnahme eines Unternehmens nicht ablehnen, wenn die Ablehnung

___________ 106) § 20 Absatz 3 gilt gemäß Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 7 Satz 2 des Gesetzes vom 26.6.2013 (BGBl I, 1738) ab 1.1.2018 in folgender Fassung: „(3) Unternehmen mit gegenüber kleinen und mittleren Wettbewerbern überlegener Marktmacht dürfen ihre Marktmacht nicht dazu ausnutzen, solche Wettbewerber unmittelbar oder mittelbar unbillig zu behindern. Eine unbillige Behinderung im Sinne des Satzes 1 liegt insbesondere vor, wenn ein Unternehmen 1. Waren oder gewerbliche Leistungen nicht nur gelegentlich unter Einstandspreis anbietet oder 2. von kleinen oder mittleren Unternehmen, mit denen es auf dem nachgelagerten Markt beim Vertrieb von Waren oder gewerblichen Leistungen im Wettbewerb steht, für deren Lieferung einen höheren Preis fordert, als es selbst auf diesem Markt anbietet, es sei denn, dies ist jeweils sachlich gerechtfertigt.“

1018

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B. Missbrauchsverbot eine sachlich nicht gerechtfertigte ungleiche Behandlung darstellen und zu einer unbilligen Benachteiligung des Unternehmens im Wettbewerb führen würde.

I.

Einleitung

§ 19 GWB und die korrespondierende Regelung in Art. 102 AEUV verbieten 83 marktbeherrschenden Unternehmen den Missbrauch ihrer Marktstellung. Das deutsche Missbrauchsverbot sieht ferner in §§ 19a, 20 GWB weitergehende Regelungen vor und legt auch Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb und relativer Marktmacht entsprechende Verhaltensrestriktionen auf. Zwar ist die Erlangung einer starken (oder auch marktbeherrschenden) Marktstellung nicht verboten, allerdings tragen solche Unternehmen nach der ratio legis eine besondere Verantwortung für den noch bestehenden Restwettbewerb, weil sie der Kontrolle durch funktionierenden Wettbewerb nur noch in eingeschränktem Maße ausgesetzt sind. Zudem ist mit dem Digital Markets Act (DMA),107) dem Gesetz über digitale Märkte, eine Europäische Verordnung zur Regulierung von digitalen Plattformen in Kraft getreten. Der DMA ergänzt das Kartellrecht und beschränkt die Macht marktbeherrschender Digitalkonzerne, indem es von Torwächtern betriebenen zentralen Plattformdiensten unmittelbar anwendbare Verhaltenspflichten auferlegt. Die vom Anwendungsbereich erfassten zentralen Plattformdienste sind im DMA abschließend aufgeführt.108) Sog. Torwächter sind Unternehmen, welche die Kommission als solche benannt hat.109) Der DMA sieht zwei Kataloge mit insgesamt 21 Verhaltenspflichten sowie eine Interoperabilitätspflicht für Kommunikationsdienste und eine Verpflichtung zur Unterrichtung der Kommission über Zusammenschlüsse vor.110) II.

Adressaten des Verbots

Das Missbrauchsverbot richtet sich an Unternehmen (Æ Rz. 8), die eine her- 84 ausragende Marktstellung innehaben. Die Abgrenzung des relevanten Marktes ist deswegen in der Praxis regelmäßig erforderlich, um den Anwendungsbereich der Norm zu bestimmen. ___________ 107) Verordnung (EU) 2022/1925 des Europäischen Parlaments und des Rates über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/1937 und (EU) 2020/1828 (ABl L 265 v. 12.10.2022, S. 1 – 66). Das DMA ist zum 1.11.2022 in Kraft getreten und gilt ab dem 2.5.2023. 108) Aktuell sind davon 10 Dienste betroffen. 109) Ein Unternehmen wird nach Art. 3 Abs. 1 DMA als Torwächter benannt, wenn es eine gefestigte und dauerhafte Position innehat oder absehbar erreicht, einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt hat und einen zentralen Plattformdienst betreibt, der gewerblichen Nutzern als wichtiges Zugangstor zu Endnutzern dient. 110) Mit Hilfe der 11. GWB Novelle soll dem Bundeskartellamt die Möglichkeit gegeben werden die Kommission bei der Durchsetzung des DMA nachhaltig zu unterstützen. Die Kompetenz verbleibt nach wie vor bei der Kommission, allerdings erhält das Bundeskartellamt Untersuchungskompetenzen bei Missachtung der Regeln.

Barth

1019

§ 15 Kartellrecht

1.

Marktabgrenzung

85 Für die Abgrenzung des relevanten Marktes kann sowohl auf qualitative als auch auf quantitative Methoden zurückgegriffen werden. Nach dem etablierten Bedarfsmarktkonzept111) umfasst der relevante Markt sämtliche Erzeugnisse bzw. Dienstleistungen, die aus Sicht eines durchschnittlichen Nachfragers hinsichtlich ihres Preises, der Eigenschaften und des vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar angesehen werden.112) Dieser konzeptionelle Ansatz, der auf den durchschnittlichen Nachfrager abstellt, führt jedoch nicht immer zu sachgerechten Ergebnissen und es ist richtigerweise auf den marginalen Nachfrager abzustellen. 86 Zur Bestimmung der Nachfragesubstituierbarkeit ist die Reaktion der Nachfrager auf eine kleine, dauerhafte Preiserhöhung (5 – 10 %) eines Produkts oder einer Produktgruppe zu ermitteln (sog. Kreuzpreiselastizität der Nachfrage). Weichen Nachfrager bei einer solchen Preiserhöhung in einem Maße auf andere Produkte aus, dass die Preiserhöhung unrentabel wird, so gehören diese anderen Produkte gleichfalls zum relevanten Markt. Der entsprechende Test wird solange fortgesetzt, bis eine Preiserhöhung nicht mehr durch Ausweichverhalten der Nachfrager ausgeglichen wird. Zu beachten ist allerdings, dass dieser sog. SSNIP-Test (small but significant and non-transitory increase in price-Test) bei stark innovationsgetriebenen Produkten und Dienstleistungen oft nicht aussagekräftig ist.113) 87 Mit dem Konzept der Angebotsumstellungsflexibilität wird zudem ermittelt, ob es Anbietern anderer Produkte oder Dienstleistungen möglich ist, als Reaktion auf eine kleine, dauerhafte Preiserhöhung ihr Angebot hinreichend kurzfristig umzustellen und auf den Markt zu bringen, dass sie dadurch die etablierten Anbieter in ihrem Preissetzungsspielraum beschränken. 88 Neben der Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes ist stets auch der räumlich relevante Markt (unter Heranziehung des gleichen Tests) abzugrenzen. Der relevante Markt umfasst insoweit das Gebiet, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet. 2.

Marktbeherrschende Stellung

89 Für die Beurteilung der marktbeherrschenden Stellung eines Unternehmens ist entscheidend, ob das Unternehmen einen vom Wettbewerb nicht hinreichend ___________ 111) Grdl. BGH, Urt. v. 5.10.2004 – KVR 14/03, NJW 2004, 3711 – Staubsaugerbeutelmarkt. 112) Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft (ABl C 372 v. 9.12.97, S. 5 ff., Rz. 7). Die Kommission hat am 8.11.2022 einen Entwurf einer überarbeiteten Bekanntmachung über die Marktdefinition veröffentlicht, welche im dritten Quartal 2023 in Kraft treten soll. 113) Vgl. Kruse/Maturana, NZKart 2021, 449, 452.

1020

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B. Missbrauchsverbot

kontrollierten Verhaltensspielraum besitzt (sog. Einzelmarktbeherrschung).114) Ein solcher Verhaltensspielraum liegt dann vor, wenn ein Unternehmen sich gegenüber Wettbewerbern, Verbrauchern und Abnehmern in einem nennenswerten Umfang unabhängig verhalten kann.115) Hierbei liefern besonders hohe Marktanteile (oberhalb von 40 %) regelmäßig starke Anhaltspunkte für das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung.116) Im deutschen Recht sieht § 18 Abs. 4 GWB eine Vermutungsregel für Einzelmarktbeherrschung bei Marktanteilen von mehr als 40 % vor.117) Im europäischen Recht existiert keine korrespondierende Regel und eine Marktbeherrschung ist im Einzelfall positiv festzustellen.118) Praxishinweis: In vielen Wirtschaftszweigen sind Marktanteile ein sehr grober und 90 oft unzutreffender Maßstab, um eine Marktstellung sachgerecht zu bewerten. Eine marktbeherrschende Stellung kann bereits bei wesentlich niedrigeren Marktanteilen vorliegen oder auch bei sehr hohen Marktanteilen abzulehnen sein. In der Praxis stellt die Vermutungsregel des § 18 Abs. 4 GWB Unternehmen allerdings oft vor besondere Herausforderungen, da diese Regel, auch wenn sie für Fälle eines nonliquet konzipiert ist, praktisch oft zu einer „Umkehrung der Beweislast“ führt, wenn der Schwellenwert überschritten wird. Neben der bloßen Betrachtung von Marktanteilen sind zahlreiche weitere in 91 § 18 Abs. 3 GWB benannte Kriterien zu berücksichtigen, darunter v. a. Zugang zu vor- und nachgelagerten Stufen in der Wertschöpfungskette, Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten, Unternehmensverflechtungen, Marktzutrittsschranken oder potentieller Wettbewerb. In besonders dynamischen Märkten sind weitere Kriterien von erhöhter Aussagekraft, z. B. Ausschließlichkeitsrechte, vertikale Integration, Skaleneffekte, Verbundeffekte, Differenzierungsvorteile und Nachfragemacht. Die bloße Tatsache, dass ein Unternehmen auf einem Markt hohe Umsätze bzw. Gewinne erzielt, ist hingegen kein aussage-

___________ 114) EuGH, Urt. v. 13.2.1979 – Rs. C-85/76, NJW 1979, 2460, Rz. 38 – Hoffmann-La Roche/ Kommission. 115) EuGH, Urt. v. 14.2.1978 – Rs. C-27/67, NJW 1978, 2439, Rz. 65 – United Brands/ Kommission. 116) Vgl. statt vieler nur: EuGH, Urt. v. 6.12.2012 – Rs. C-457/10 P, EuZW 2013, 400, Rz. 176 – AstraZeneca/Kommission. 117) Die Rechtsnatur dieser Vermutungsregel ist nicht abschließend geklärt. Nach zutreffender Ansicht ist zwischen Kartellverwaltungsverfahren, Kartellzivilverfahren und Kartellbußgeldverfahren zu unterschieden, vgl. hierzu: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/ Kersting/Meyer-Lindemann/Kühnen, § 18 GWB Rz. 109 ff. 118) Der Rechtsprechung des EuGH folgend besteht eine erhöhte Darlegungslast für betroffene Unternehmen, um eine marktbeherrschende Stellung bei Marktanteilen von mehr als 50 % zu widerlegen, vgl. Urt. v. 3.7.1991 – Rs. C-62/86, NJW 1992, 677– AKZO Chemie BV/ Kommission, Rz. 60.

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1021

§ 15 Kartellrecht

kräftiges Kriterium.119) Seit der 9. GWB-Novelle 2017 hat der Gesetzgeber zudem für mehrseitige Märkte und Netzwerke die Analysekriterien explizit in § 18 Abs. 3a GWB benannt. Mit der 10. GWB-Novelle 2021 wurden diese Analysekriterien mit § 18 Abs. 3b GWB um die sog. Intermediationsmacht, die Bedeutung der Vermittlungsdienstleistung für den Zugang zu vor- oder nachgelagerten Märkten, erweitert. 92 Für die Beurteilung der marktbeherrschenden Stellung mehrerer Unternehmen (sog. gemeinsame Marktbeherrschung) ist insbesondere auf drei wesentliche Kriterien abzustellen: (i) Vorliegen eines hinreichend transparenten Marktes, in dem es möglich ist, vorstoßenden Wettbewerb schnell zu identifizieren, (ii) dauerhafte stillschweigende Koordinierung des Marktverhaltens, und (iii) keine zu erwartende Störung des Oligopols durch Kunden oder Wettbewerber außerhalb des Oligopols. Entscheidend ist insofern, ob weder zwischen den Unternehmen im Innenverhältnis (sog. Innenwettbewerb) noch gegenüber anderen Unternehmen im Außenverhältnis (sog. Außenwettbewerb) wirksamer Wettbewerb besteht. Auch insoweit enthält das deutsche Recht in § 18 Abs. 5 GWB eine Vermutungsregel bei Überschreiten von 50 %-Marktanteil (durch zwei oder drei Unternehmen) bzw. 66 %-Marktanteil (durch vier oder fünf Unternehmen). III.

Missbrauch

93 Das Innehaben einer marktbeherrschenden Stellung ist grundsätzlich nicht sanktionabel. Mit Blick auf den Missbrauch einer solchen Stellung lassen sich zwei Formen des Missbrauchs unterscheiden: (i) der sog. Ausbeutungs- oder Konditionenmissbrauch und (ii) der sog. Behinderungsmissbrauch. In der Praxis sind Fälle des Behinderungsmissbrauchs weitaus relevanter, da es insoweit um den Schutz aktueller und potentieller Wettbewerber und damit den Schutz der Marktstruktur und des Wettbewerbsprozesses (sog. Restwettbewerb) geht. Der Ausbeutungsmissbrauch schützt eher die Marktgegenseite und ist somit in Zivilprozessen von Relevanz, in denen eine kartellrechtliche Nichtigkeit eines Vertrages wegen missbräuchlicher Gestaltung der Konditionen geltend gemacht wird.120)

___________ 119) Hinsichtlich der Besonderheiten der digitalen Ökonomie sind bei Plattformen und Netzwerken für die Prüfung, ob eine marktbeherrschende Stellung vorliegt, folgende Kriterien (vgl. § 18 Abs. 3a GWB) maßgeblich: (i) die Bedeutung der indirekten und direkten Netzwerkeffekte, (ii) die Größenvorteile der Plattform oder des Netzwerks, (iii) die vorherrschenden Nutzungsformen der Marktgegenseite und der Differenzierungsgrad im Markt, (iv) der Zugang zu Daten und (v) das Innovationspotenzial auf digitalen Märkten. Siehe hierzu: BKartA, B6-113/15, Arbeitspapier – Marktmacht von Plattformen und Netzwerken, Juni 2016; sowie: Kersting/Podszun/Grave, Kapitel 2. 120) Mörsdorf, ZIP 2020, 2259, 2265.

1022

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B. Missbrauchsverbot

1.

Ausbeutungsmissbrauch

Beim Preishöhenmissbrauch (excessive pricing)121) nutzt das marktbeherrschende 94 Unternehmen seine Marktstellung aus, um missbräuchliche, d. h. zu hohe Preise bzw. Konditionen zu verlangen. In der behördlichen Praxis werden solche Arten des Missbrauchs vergleichsweise selten verfolgt, da insbesondere der Nachweis einer mit einem Unwerturteil verbundenen Überhöhung des Preises schwierig ist. Konkret ist nicht nur ein höherer Preis, sondern gerade auch das Fehlen einer sachlichen Rechtfertigung für die Überhöhung sowie eine wesentliche Überschreitung eines wettbewerbsanalogen Preises nachzuweisen. Maßstab für die Überprüfung ist der hypothetische Wettbewerbspreis auf dem 95 relevanten Markt (sog. Als-Ob-Wettbewerb). Zur Bestimmung des Wettbewerbspreises werden regelmäßig zwei Methoden verwendet. Zum einen das sog. Vergleichsmarktkonzept und zum anderen das sog. Konzept der Gewinnspannenbegrenzung, das allerdings in der Praxis nur selten von Relevanz ist. Beim Vergleichsmarktkonzept wird der vom marktbeherrschenden Unter- 96 nehmen tatsächlich verlangte Preis mit einem hypothetischen Preis verglichen, welcher bei wirksamem Wettbewerb hätte entstehen können. Hierbei muss der verlangte Preis erheblich vom hypothetischen Wettbewerbspreis abweichen.122) Problematisch ist in der Regel, einen geeigneten Vergleichsmarkt zu finden, welcher als Ausgangspunkt für einen aussagekräftigen Marktvergleich dienen kann. Es kommt grundsätzlich ein sachlich, räumlich oder zeitlich vergleichbarer Markt in Betracht. 2.

Behinderungsmissbrauch

Der analytische Rahmen für Fälle des Behinderungsmissbrauchs ist von der Eu- 97 ropäischen Kommission in ihrer Prioritätenmitteilung näher beschrieben.123) Die praktisch relevantesten Fallgruppen sind Kopplungen und Bündelungen, Kampfpreisgestaltungen, Rabattsysteme, Liefer- und Geschäftsverweigerungen, Kosten-Preis-Schere und Fälle der Diskriminierung. a)

Kopplung und Bündelung

Bei der Kopplung und Bündelung (tying and bundling) bindet ein Unterneh- 98 men mit marktbeherrschender Stellung auf einem Produktmarkt die Lieferung ___________ 121) MünchKommKartellR/Wolf, § 19 GWB Rz. 83 ff. 122) BGH, Beschl. 22.7.1999 – KVR 12/98, NJW 2000, 76 – Flugpreisspaltung. Zusätzlich dazu wird ein sog. Sicherheitszuschlag vorgenommen, um Ungewissheiten bei der Ermittlung der Vergleichswerte auszugleichen. 123) Mitteilung der Kommission – Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen (ABl C 45 v. 24.2.2009, S. 7 ff.) – Prioritätenmitteilung Behinderungsmissbrauch.

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1023

§ 15 Kartellrecht

des Produktes an den gleichzeitigen Bezug eines anderen Produktes auf einem anderen Produktmarkt (Kopplung) bzw. verkauft beide Produkte nur gemeinsam (Bündelung). Das marktbeherrschende Unternehmen setzt hierbei seine Marktmacht auf einem Produktmarkt als Hebel (leverage) zur Erlangung einer stärkeren Marktstellung auf dem anderen Markt ein. Der Effekt einer solchen Strategie ist, dass es zu Ausschlusswirkungen zu Lasten der Wettbewerber auf dem anderen Markt kommen kann. 99 Kopplungsvereinbarungen können missbräuchlich sein, wenn es zu einer Verdrängungswirkung kommt. Sofern eine solche Wirkung besteht, ist aber stets weiter zu prüfen, ob eine sachliche Rechtfertigung im Einzelfall besteht, z. B. aufgrund wirtschaftlicher oder technischer Gründe (sog. Sachzusammenhang) oder aufgrund einer tatsächlich bestehenden Übung der Unternehmen im Markt (sog. Handelsbrauch). b)

Kampfpreisstrategien

100 Bei Kampfpreisstrategien (predatory pricing)124) setzt ein marktbeherrschendes Unternehmen gezielt besonders niedrige Preise, um Wettbewerber zu unterbieten und dadurch vom Markt zu verdrängen oder zu „disziplinieren“. Bei einer solchen Strategie nimmt der Marktbeherrscher bewusst Verluste (sacrifice) in Kauf in der Erwartung, diese nach erfolgreicher Verdrängung durch Monopolpreise wieder ausgleichen zu können (recoupment). 101 In der behördlichen Praxis und Rechtsprechung125) wird ein Missbrauch in zwei Fallgestaltungen angenommen: (1) Preise, die unter den durchschnittlichen variablen Kosten liegen, sind typischerweise missbräuchlich; (2) Preise die unter den durchschnittlichen Gesamtkosten liegen, sind missbräuchlich, wenn sie der Verdrängung der Wettbewerber dienen. Es ist in ständiger Entscheidungspraxis ausreichend, dass die Wettbewerbsbeschränkung bezweckt ist, unerheblich ist, ob die Verdrängung auch tatsächlich bewirkt wird. Es handelt sich mithin nicht um ein erfolgsqualifiziertes Delikt, sondern um ein Gefährdungsdelikt. Eine Rechtfertigung kann allerdings auch in solchen Fällen stets möglich sein und ist im Einzelfall zu prüfen. c)

Rabattsysteme

102 Rabattsysteme marktbeherrschender Unternehmen können kartellrechtlich verboten sein, wenn sie dazu eingesetzt werden, die marktbeherrschende Stellung zu verfestigen.126) Dies ist z. B. der Fall, wenn die Rabatte dazu dienen: ___________ 124) Siehe Kommission, Prioritätenmitteilung Behinderungsmissbrauch, Rz. 63 ff. 125) EuGH, Urt. v. 3.7.1991 – Rs. C-62/86, NJW 1992, 677– AKZO Chemie BV/Kommission, Rz. 71 f. 126) Zu der aktuellen Entscheidungspraxis instruktiv Hieber/Cetintas, NZKart 2016, 220 ff.; Bodenstein, ZWeR 2015, 403 ff.

1024

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B. Missbrauchsverbot

(i) aktuelle Wettbewerber vom Markt zu drängen; (ii) Marktzutrittsschranken für potentielle Wettbewerber zu errichten; oder (iii) den Abnehmern den Wechsel des Lieferanten zu erschweren. Grundsätzlich lassen sich drei Arten von Rabattsystemen unterscheiden: 

Treuerabatte;



Mengen- und Funktionsrabatte; und



Zielrabatte.

103

Treuerabatte dienen dazu, die Abnehmer davon abzuhalten, ihre Produkte von 104 anderen Lieferanten zu beziehen. Solche ggfs. unzulässigen Treuerabatte sind von regelmäßig zulässigen Mengen- und Funktionsrabatten zu unterscheiden. Bei Treuerabatten „belohnt“ das marktbeherrschende Unternehmen seine Abnehmer dafür, dass sie ihren Bedarf vollständig oder zu großen Teilen bei ihm decken.127) Demgegenüber werden Mengen- und Funktionsrabatte an die Abnahmemenge bzw. die Erbringung bestimmter Funktionen und Leistungen beim Absatz der Produkte geknüpft. Solche Rabatte sind dann gerechtfertigt, wenn Kosteneinsparungen beim Marktbeherrscher an die Kunden weitergereicht werden. Bei Zielrabatten erhält der Abnehmer einen Anreiz dazu, seinen Bedarf vollständig oder zu einem großen Teilen bei dem marktbeherrschenden Unternehmen zu decken. Solche Rabatte können insofern die gleiche Wirkung haben wie Treuerabatte. Die Zulässigkeit ist regelmäßig im Einzelfall zu prüfen. d)

Liefer- und Geschäftsverweigerung

Nach der behördlichen Entscheidungspraxis können Liefer- und Geschäfts- 105 verweigerungen missbräuchlich sein, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen dadurch versucht, seine Stellung auf dem vor- oder nachgelagerten Markt zu sichern, eine solche Strategie nicht durch technische oder wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt und darüber hinaus geeignet ist, den Wettbewerb auszuschalten.128) Hierunter kann sowohl der Abbruch bestehender Geschäftsbeziehungen als auch die Verweigerung neuer Geschäftsbeziehungen fallen. ___________ 127) Die rechtliche Bewertung von Treuerabatten war Gegenstand des Verfahrens in Sachen Intel, das vom EuGH an das EuG zurückverwiesen wurde (T-286/09 RENV). Der EuGH hatte zuletzt eine Analyse der Wirkungen solcher Rabatte auf Basis des sog. „ebenso effiziente Wettbewerber“-Tests gefordert. Ob ein Treuerabatt kartellrechtliche zu beanstanden ist, wird regelmäßig unter Betrachtung der Wirkungen im Vergleich zu einem solchen Wettbewerber zu beurteilen sein, EuGH, Urt. v. 6.9.2017, C-413/14 P – Intel/Kommission. Das EuG differenzierte: Sog. reine Beschränkungen (naked restrictions) verstoßen ohne Weiteres gegen Art. 102 AEUV, während im Übrigen die Auswirkungen des jeweiligen Rabattsystems zu prüfen sind. Letztlich hob das EuG die Entscheidung der Kommission auf, da diese nicht hinreichend geprüft habe, ob die Treuerabatte geeignet sind, den Wettbewerb zu beschränken (EuG, Urt. v. 26.1.2022 – T-286/09 RENV, NZKart 2022, 68). 128) Siehe zur deutschen Rechtsprechung: BGH, Urt. v. 3.3.2009 – KZR 82/07, NJW-RR 2010, 392, Rz. 35 – Reisestellenkarte; Urt. v. 29.6.2010 – KZR 24/08, K&R 2010, 586, Rz. 27 – E-Plus Mobilfunk.

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§ 15 Kartellrecht

106 Unter der essential facilities-Doktrin werden traditionell Fälle gefasst, in denen ein marktbeherrschendes Unternehmen verpflichtet wird, anderen Unternehmen Zugang zu seinen wesentlichen Einrichtungen (z. B. Netz- und Infrastruktureinrichtungen) zu gewähren. Durch die 10. GWB-Novelle wurden im Januar 2021 die Verhaltenspflichten für marktbeherrschende Unternehmen erweitert. Dies betrifft insbesondere auch die auf der essential facilities doctrine beruhenden Normen des GWB. Gegenstand einer Zugangsverweigerung können nunmehr diverse Waren oder Leistungen, insbesondere auch Daten, Plattformen oder Lizenzen von Immaterialgüterrechten sein. Der Unterschied zu den sonstigen Fällen der Liefer- und Geschäftsverweigerung liegt darin, dass es um den Zugang zu Einrichtungen geht, die für die eigenen Geschäftsaktivitäten vorgesehen sind. Besondere Bedeutung erlangte die essential facilities-Doktrin im Zusammenhang mit den regulierten Industrien (z. B. Energie und Telekommunikation) im Zuge der Liberalisierung vormals staatlicher Monopole. Ein Missbrauch kommt insbesondere dann in Betracht, wenn folgende Bedingungen vorliegen: (i) die Zugangsverweigerung muss geeignet sein, jeden Wettbewerb auf dem nachgelagerten Markt zu verhindern (nunmehr: wirksamen Wettbewerb auszuschalten droht); (ii) die Zugangsverweigerung muss objektiv ungerechtfertigt sein; (iii) die Einrichtung muss wesentlich (nicht duplizierbar) sein, d. h. es darf kein tatsächlicher oder potentieller Ersatz bestehen. Dieses Merkmal dürfte nun durch die objektive Notwendigkeit der Belieferung oder des Zugangs für die Tätigkeit auf einem vor- oder nachgelagerten Markt ersetzt worden sein. Für den Zugang zu Rechten des geistigen Eigentums besteht darüber hinaus das Erfordernis, dass durch die Zugangsverweigerung das Auftreten eines neuen Produkts verhindert wird. e)

Kosten-Preis-Schere

107 Als Kosten-Preis-Schere (margin squeeze) wird eine Preisstrategie eines vertikal integrierten marktbeherrschenden Unternehmens bezeichnet, das im vorgelagerten Markt Produkte anbietet, auf die Wettbewerber im nachgelagerten Markt angewiesen sind.129) Wenn das Unternehmen die Preisspanne zwischen den Produkten im vorgelagerten Markt und dem Vertrieb der eigenen Produkte im nachgelagerten Markt so setzt, dass ein ebenso leistungsfähiger Wettbewerber (equally efficient competitor) auf dem nachgelagerten Markt bei kostendeckenden Preisen nicht bestehen kann, so kann ein Missbrauch vorliegen. Die Besonderheit liegt insofern darin, dass die wettbewerbswidrige Wirkung auf einem anderen Markt eintritt als dem, auf dem die marktbeherrschende Stellung besteht. 108 Nach Ansicht der Kommission ist eine missbräuchliche Kosten-Preis-Schere dann anzunehmen, wenn (i) die Differenz zwischen den Endkundenentgelten ___________ 129) Kommission, Prioritätenmitteilung Behinderungsmissbrauch, Rz. 75 ff.

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B. Missbrauchsverbot

eines marktbeherrschenden Unternehmens und dem Vorleistungsentgelt für vergleichbare Leistungen an seine Wettbewerber entweder negativ ist oder (ii) nicht ausreicht, um die produktspezifischen Kosten des marktbeherrschenden Unternehmens für die Erbringung seiner eigenen Endkundendienste im nachgeordneten Markt zu decken.130) f)

Diskriminierung

Es lassen sich grundsätzlich zwei Formen der Diskriminierung unterscheiden: 109 zum einen eine Diskriminierung von Handelspartnern, die untereinander im Wettbewerb stehen (secondary line competition) und zum anderen eine unmittelbar gegen Wettbewerber gerichtete Diskriminierung (primary line competition). In der zweiten Gruppe sind insbesondere Kampfpreisstrategien von Relevanz (Æ Rz. 100 f.). Bei der Diskriminierung von Handelspartnern wird in die Wettbewerbschancen des diskriminierten Unternehmens eingegriffen. IV.

Missbrauchsverbot für Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb

Am 19.1.2021 trat das sog. GWB-Digitalisierungsgesetz in Kraft und führte 110 mit § 19a GWB zusätzliche Verhaltensregeln für Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb ein. Die Adressatenstellung besteht im Gegensatz zu §§ 19, 20 GWB nicht schon von Gesetzes wegen, sondern bedarf gemäß § 19a Abs. 1 Satz 1 GWB der Feststellung durch das Bundeskartellamt. Ist eine solche Feststellung erfolgt, kann das Bundeskartellamt dem adressierten Unternehmen bestimmte Verhaltensweisen gemäß § 19a Abs. 2 Satz 1 GWB mit Wirkung für die Zukunft untersagen. 1.

Überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb

Das Bundeskartellamt bestimmt mit einer Feststellungsverfügung, welchen Un- 111 ternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung zukommt. Die Betrachtung soll marktübergreifend stattfinden, knüpft demzufolge nicht an die Beherrschung eines Einzelmarkts als Mindestvoraussetzung an.131) Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Adressatenkreis eng begrenzt ist und eine Feststellungsverfügung insofern nur wenige Unternehmen treffen wird.132) Die Feststellungsverfügung soll regelmäßig auf zwischen 5 und 10 Jahre befristet ergehen. In § 19a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–5 GWB findet sich eine nicht-enumerative Auflis- 112 tung der Kriterien, die für die Bewertung der überragenden marktübergreifenden ___________ 130) Kommission, Entscheidung v. 21.5.2003, COMP/C-1/37.451, 37.578, 37.579, ABl. 2003 Nr. L 263/9 – Deutsche Telekom AG, Rz. 107, 179. 131) BT-Drucks. 19/23492, S. 73. Die überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb kann sich ökonomisch von der Marktbeherrschung unterscheiden, vgl. Kühling, WuW 2021, 137. 132) BT-Drucks. 19/23492, S. 74.

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§ 15 Kartellrecht

Bedeutung für den Wettbewerb heranzuziehen sind. Sie müssen nicht kumulativ vorliegen. Im Rahmen der Bewertung der Finanzkraft und sonstigen Ressourcen eines Unternehmens (Nr. 2) weist der Gesetzgeber Kriterien wie Cashflow, Umsatzrendite und Nutzerzahlen eine gegenüber den Umsätzen gleichberechtigte Rolle zu.133) Besondere Bedeutung soll dem Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten zukommen (Nr. 4). Die Intermediationsmacht (Nr. 5) wird ebenso interpretiert wie bei ihrer Berücksichtigung zur Feststellung der Einzelmarktbeherrschung (ÆRz. 91). 2.

Verbotsverfügung

113 Der Katalog von Verhaltensweisen, die qua Verfügung verboten werden können, ist abschließend. Viele aufgelistete Verhaltensweisen können einem gegen Digitalplattformen geführten Verfahren der letzten Jahre zugewiesen werden. Das Bundeskartellamt hat inzwischen gegen alle großen Digitalunternehmen (sogenannte GAFAs) Verfahren nach § 19a GWB eröffnet und bereits die marktübergreifende Bedeutung von Google, Meta und Amazon festgestellt.134) Von § 19a GWB erfasste Verhaltensweisen können zugleich unter §§ 19, 20 GWB fallen. Weitestgehend ungeklärt ist bislang das Verhältnis zwischen DMA und § 19a Abs. 2 GWB. a)

Nummer 1

114 Nummer 1 betrifft die bevorzugte Behandlung eigener Angebote bei der Vermittlung des Zugangs zu Absatz- und Beschaffungsmärkten und ist somit an das sog. Google Shopping Verfahren der Kommission angelehnt.135) Die Fallgruppe der Nummer 1 steht im Spannungsverhältnis zu dem Grundsatz, dass kein Unternehmen verpflichtet ist, Wettbewerber zum eigenen Schaden zu fördern. b)

Nummer 2

115 Nummer 2 betrifft die Behinderung anderer Unternehmen auf Beschaffungsoder Absatzmärkten und nennt als Beispiele die Vorinstallation eigener Angebote oder die Behinderung von Unternehmen, die die Abnehmer über andere Zugänge als den des Unternehmens zu erreichen versuchen. Mit der Vorinstallation eigener Angebote beschäftigte sich schon die Kommission im Google Android Verfahren.136) ___________ 133) BT-Drucks. 19/23492, S. 75. 134) BKartA, Fallbericht v. 5.1.2022 – B7-61/21 – Google; BKartA, Fallbericht v. 2.5.2022 – B6-27/21 – Meta (vormals Facebook); BKartA, Fallbericht v. 5.7.2022 – B2-55/21 – Amazon; BKartA, Pressemitteilung v. 21.6.2021 – Apple. 135) Kommission, Entscheidung v. 27.6.2017 – AT.39740 – Google Shopping. Bestätigt durch EuG, Urt. v. 10.11.2021 – T-612/17, NZKart 2021, 684. 136) Kommission, Entscheidung v. 18.7.2018 – AT.40099 – Google Android.

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B. Missbrauchsverbot

c)

Nummer 3

Nummer 3 betrifft die Behinderung von Wettbewerbern auf Märkten, auf de- 116 nen das behindernde Unternehmen nicht beherrschend ist, etwa durch Kopplung oder Bündelung verschiedener Angebote. d)

Nummer 4

Auch die Errichtung oder spürbare Erhöhung von Marktzutrittsschranken 117 durch die Verarbeitung gesammelter wettbewerbsrelevanter Daten ist gelistet. Dies betrifft etwa den Fall, dass die Nutzung von Diensten von der Zustimmung zur Verarbeitung von Nutzerdaten aus anderen Diensten abhängig gemacht wird. Insofern gießt Nummer 4 die Argumentation des Bundeskartellamts aus dem Facebook-Verfahren in Gesetzesform.137) e)

Nummer 5

Nummer 5 konstituiert ein Verbot der Behinderung des Wettbewerbs durch 118 die Verweigerung bzw. das Erschweren der Interoperabilität von Produkten und Leistungen oder der Portabilität von Daten. Erfasst sein sollen alle Maßnahmen, die verhindern, dass Produkte interagieren können.138) Bei der möglichen Rechtfertigung von Verhaltensweisen i. S. d. Nummer 5 kann insbesondere berücksichtigt werden, dass die Verhinderung von Interoperabilität die Wirkung von Netzwerkeffekten zugunsten des Adressaten verstärken bzw. der Produktgestaltung und Innovation förderlich sein kann. f)

Nummer 6

Nummer 6 dient dem Abbau von Informationsasymmetrien und gewährt die 119 Möglichkeit, die unzureichende Information anderer Unternehmen über Umfang, Qualität oder Erfolg der erbrachten oder beauftragten Leistung oder anderweitige Erschwerung der Beurteilung der Leistung zu verbieten. Gegenstand der unzureichenden Information können etwa anfallende Kosten, Klickverhalten oder Rankingkriterien sein.139) Bei der Beurteilung sind bestehende Hinderungsgründe wie der Schutz von Geschäftsgeheimnissen oder personenbezogener Daten zu berücksichtigen. g)

Nummer 7

Nummer 7 betrifft das Fordern von Vorteilen, die in keinem angemessenen 120 Verhältnis zum Grund der Forderung stehen, etwa die nicht zwingend erforderliche Übertragung von Daten oder Rechten für die Darstellung von Ange___________ 137) BKartA, Entscheidung v. 6.2.2019 – B6-22/16 – Facebook 138) BT-Drucks. 19/23492, S. 77. 139) BT-Drucks. 19/23492, S. 77.

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§ 15 Kartellrecht

boten oder das Abhängig machen der Qualität der Darstellung von der Übertragung von Daten oder Rechten. V.

Missbrauchsverbot für Unternehmen mit relativer und überlegener Marktmacht

121 Anders als im Bereich des Kartellverbots können Mitgliedsstaaten im Bereich des Missbrauchsverbots strengere Regeln aufstellen. Im deutschen Recht ist hiervon in § 20 GWB Gebrauch gemacht worden. Die dort geregelten Behinderungs- und Diskriminierungsverbote gelten für Unternehmen mit nur relativer Marktmacht (§ 20 Abs. 1, 2 GWB) bzw. überlegener Marktmacht (§ 20 Abs. 3 GWB). Voraussetzung ist daher nicht das Vorliegen einer marktbeherrschenden, wohl aber einer anderweitig herausgehobenen Marktstellung. 122 Relative Marktmacht ergibt sich nicht daraus, dass sich das marktstarke Unternehmen gegenüber seinen Wettbewerbern, d. h. im Horizontalverhältnis, unabhängig verhalten kann, sondern dass Unternehmen auf vor- oder nachgelagerten Märkten, d. h. im Vertikalverhältnis, abhängig vom Angebot oder der Nachfrage des marktstarken Unternehmens sind. § 20 Abs. 1 Satz 1 GWB enthält eine Legaldefinition des Begriffs der relativen Marktmacht. 123 Für den Begriff der Abhängigkeit haben sich in der Rechtsprechung vier Fallgruppen herausgebildet.140) Diese Fallgruppen sind: (i) die sog. sortimentsbedingte Abhängigkeit, bei der wiederum zwischen Spitzenstellungsabhängigkeit141) und Spitzengruppenabhängigkeit142) unterschieden werden kann; (ii) die unternehmensbedingte Abhängigkeit;143) (iii) die nachfragebedingte Abhängigkeit144) und (iv) die mangelbedingte Abhängigkeit. Zusätzlich normiert § 20 Abs. 1a GWB eine datenbedingte Abhängigkeit, die besteht, soweit ein Unternehmen für die eigene Tätigkeit auf den Zugang zu von einem anderen Unternehmen kontrollierten Daten angewiesen ist. Dies gilt auch, wenn ein Geschäftsverkehr für diese Daten noch nicht eröffnet wurde, es bedarf folglich keiner zumindest faktischen Beziehung wie etwa bei der unternehmensbedingten Abhängigkeit.145) 124 Nach § 20 Abs. 2 GWB gilt das Verbot der passiven Diskriminierung auch für marktstarke Unternehmen (sog. Anzapfverbot). Wie § 20 Abs. 1 GWB bezieht sich bei § 20 Abs. 2 GWB das Merkmal der Abhängigkeit nicht nur auf kleine und mittlere Unternehmen, sondern auf jedes andere Unternehmen, unabhängig von der Unternehmensgröße. 125 § 20 Abs. 3 GWB erfasst Unternehmen, die gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen als ihren Wettbewerbern, d. h. im Horizontalverhältnis, überle___________ 140) 141) 142) 143) 144) 145)

Kling/Thomas, § 20 Rz. 262 ff. BGH, Urt. v. 20.11.1975 – KZR 1/75, NJW 1976, 801 – Rossignol. BGH, Urt. v. 9.5.2000 – KZR 28/98, GRUR 2000, 1108 – Designer-Polstermöbel. BGH, Urt. v. 21.2.1995 – KZR 33/93, GRUR 1995, 765 – Kfz-Vertragshändler. BGH, Urt. v. 22.3.1994 – KZR 9/93, NJW-RR 1994, 1199 – Orthopädisches Schuhwerk. BT-Drucks. 19/23492, S. 80.

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B. Missbrauchsverbot

gene Marktmacht besitzen. Dadurch sollen insbesondere Einzelhändler vor bestimmten Verhaltensweisen von großen Unternehmen geschützt werden (sog. Mittelstandsbehinderung). Missbräuchlich ist danach: (i) das Angebot von Lebensmitteln unter Einstandspreis; (ii) das nicht nur gelegentliche Angebot anderer Waren oder gewerblicher Leistungen unter Einstandspreis; und (iii) die Praktizierung einer Kosten-Preis-Schere. § 20 Abs. 3a GWB betrifft die Behinderung der Erzielung eigener Netzwerkef- 126 fekte auf mehrseitigen Märkten und soll das „Kippen“ eines hochkonzentrierten bzw. monopolistischen Marktes verhindern (sog. Tipping). Auf Regelbeispiele wurde bewusst verzichtet, um eine möglichst (entwicklungs-)offene Eingriffsnorm zu schaffen.146) VI.

Verbot sonstigen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens

Für das deutsche Recht regelt § 21 GWB vier weitere wettbewerbsbeschrän- 127 kende Verhaltensweisen. § 21 GWB richtet sich an jedes Unternehmen, unabhängig von der Stellung im Markt. In § 21 Abs. 1 GWB ist das sog. Boykottverbot geregelt, d. h. die Aufforde- 128 rung zu einer unbilligen Beeinträchtigung Liefer- oder Bezugssperren anderer Unternehmen. Praxishinweis: Schwierig ist im Einzelfall die Unterscheidung zwischen einer zu- 129 lässigen Meinungsäußerung und einem unzulässigen Boykottaufruf. § 21 Abs. 2 GWB verbietet es Unternehmen durch Androhung oder Zufügung 130 von Nachteilen bzw. Versprechung oder Gewährung von Vorteilen, andere Unternehmen zu einem Verhalten zu veranlassen, das nach deutschem oder europäischem Kartellrecht nicht zum Gegenstand einer vertraglichen Bindung gemacht werden darf (sog. unerlaubte Veranlassung). VII. Rechtsfolgen Neben den bereits thematisierten bestehenden Konsequenzen bei Kartellrechts- 131 verstößen (u. a. Bußgelder) erhält das Bundeskartellamt auf nationaler Ebene im Rahmen der 11. GWB Novelle die Möglichkeit einer missbrauchsunabhängigen Entflechtung, § 32f Abs. 4 RegE. Dabei kann das Bundeskartellamt als ultima ratio eine missbrauchsunabhängige 132 Entflechtung von marktbeherrschenden Unternehmen zur Beseitigung einer erheblichen, andauernden oder wiederholten Störung des Wettbewerbs anordnen. Um Rechtssicherheit gewährleisten zu können, gibt es für bereits freigegebene Zusammenschlüsse oder die Ministererlaubnis einen Vertrauensschutz von zehn Jahren. ___________ 146) BT-Drucks. 19/23492, S. 83; Cetintas, WuW 2020, 446, 451.

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§ 15 Kartellrecht

C.

Fusionskontrolle § 35 GWB [Geltungsbereich der Zusammenschlusskontrolle] (1) Die Vorschriften über die Zusammenschlusskontrolle finden Anwendung, wenn im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss 1. die beteiligten Unternehmen insgesamt weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Millionen Euro und 2. im Inland mindestens ein beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 50 Millionen Euro und ein anderes beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 17,5 Millionen Euro erzielt haben. (1a) Die Vorschriften über die Zusammenschlusskontrolle finden auch Anwendung, wenn 1. die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nummer 1 erfüllt sind, 2. im Inland im letzten Geschäftsjahr vor dem Zusammenschluss a) ein beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 50 Millionen Euro erzielt hat und b) weder das zu erwerbende Unternehmen noch ein anderes beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von jeweils mehr als 17,5 Millionen Euro erzielt haben, 3. der Wert der Gegenleistung für den Zusammenschluss mehr als 400 Millionen Euro beträgt und 4. das zu erwerbende Unternehmen nach Nummer 2 in erheblichem Umfang im Inland tätig ist. (2) […] (3) Die Vorschriften dieses Gesetzes finden keine Anwendung, soweit die Europäische Kommission nach der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen in ihrer jeweils geltenden Fassung ausschließlich zuständig ist. § 37 GWB [Zusammenschluss] (1) Ein Zusammenschluss liegt in folgenden Fällen vor: 1. Erwerb des Vermögens eines anderen Unternehmens ganz oder zu einem wesentlichen Teil; das gilt auch, wenn ein im Inland tätiges Unternehmen, dessen Vermögen erworben wird, noch keine Umsatzerlöse erzielt hat; 2. Erwerb der unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle durch ein oder mehrere Unternehmen über die Gesamtheit oder Teile eines oder mehrerer anderer Unternehmen. Die Kontrolle wird durch Rechte, Verträge oder andere Mittel begründet, die einzeln oder zusammen unter Berücksichtigung aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände die Möglichkeit gewähren, einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit eines Unternehmens auszuüben, insbesondere durch a) Eigentums- oder Nutzungsrechte an einer Gesamtheit oder an Teilen des Vermögens des Unternehmens, b) Rechte oder Verträge, die einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung, die Beratungen oder Beschlüsse der Organe des Unternehmens gewähren; das gilt auch, wenn ein im Inland tätiges Unternehmen noch keine Umsatzerlöse erzielt hat;

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C. Fusionskontrolle 3.

Erwerb von Anteilen an einem anderen Unternehmen, wenn die Anteile allein oder zusammen mit sonstigen, dem Unternehmen bereits gehörenden Anteilen a) 50 vom Hundert oder b) 25 vom Hundert des Kapitals oder der Stimmrechte des anderen Unternehmens erreichen. Zu den Anteilen, die dem Unternehmen gehören, rechnen auch die Anteile, die einem anderen für Rechnung dieses Unternehmens gehören und, wenn der Inhaber des Unternehmens ein Einzelkaufmann ist, auch die Anteile, die sonstiges Vermögen des Inhabers sind. Erwerben mehrere Unternehmen gleichzeitig oder nacheinander Anteile im vorbezeichneten Umfang an einem anderen Unternehmen, gilt dies hinsichtlich der Märkte, auf denen das andere Unternehmen tätig ist, auch als Zusammenschluss der sich beteiligenden Unternehmen untereinander; 4. jede sonstige Verbindung von Unternehmen, auf Grund deren ein oder mehrere Unternehmen unmittelbar oder mittelbar einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben können. (2) […] § 39a GWB [Aufforderung zur Anmeldung künftiger Zusammenschlüsse] (1) Das Bundeskartellamt kann ein Unternehmen durch Verfügung verpflichten, jeden Zusammenschluss des Unternehmens mit anderen Unternehmen in einem oder mehreren bestimmten Wirtschaftszweigen anzumelden, wenn: 1. das Unternehmen im letzten Geschäftsjahr weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Millionen Euro erzielt hat; 2. objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass durch künftige Zusammenschlüsse der wirksame Wettbewerb im Inland in den genannten Wirtschaftszweigen erheblich behindert werden könnte und 3. das Unternehmen in den genannten Wirtschaftszweigen einen Anteil von mindestens 15 Prozent am Angebot oder an der Nachfrage von Waren oder Dienstleistungen in Deutschland hat. (2) Die Anmeldepflicht nach Absatz 1 gilt nur für Zusammenschlüsse bei denen 1. das zu erwerbende Unternehmen im letzten Geschäftsjahr Umsatzerlöse von mehr als 2 Millionen Euro erzielt hat und 2. mehr als zwei Drittel seiner Umsatzerlöse im Inland erzielt hat. (3) Eine Verfügung nach Absatz 1 setzt voraus, dass das Bundeskartellamt auf einem der betroffenen Wirtschaftszweige zuvor eine Untersuchung nach § 32e durchgeführt hat. (4) Die Anmeldepflicht nach Absatz 1 gilt für drei Jahre ab Zustellung der Entscheidung. In der Verfügung sind die relevanten Wirtschaftszweige anzugeben.

I.

Einleitung

Jede Unternehmenstransaktion kann im In- und/oder Ausland der Fusions- 133 kontrolle unterliegen, und die Missachtung fusionskontrollrechtlicher Anmeldepflichten kann Sanktionen nach sich ziehen (zivilrechtliche Unwirksamkeit, Entflechtungsanordnungen und/oder Bußgelder). Flankiert wird die Fusionskontrolle künftig von der dazu parallel laufenden DrittstaatensubventionsverBarth

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§ 15 Kartellrecht

ordnung,147) welche als Anmelde- und Freigabesystem mit Vollzugsverbot ausgestaltet ist. Diese berechtigt die Kommission, finanzielle Zuwendungen zu prüfen, die in der EU wirtschaftlich tätige Unternehmen von Behörden eines NichtEU-Staats erhalten, um wettbewerbsverzerrende Auswirkungen solcher Subventionen abzuwenden. Ziel ist damit die Schaffung eines level-playing-fields für Unternehmen aus der EU und aus Drittstaaten. 134 Zudem kann eine Transaktion, ist sie einmal umgesetzt, die Anwendung des Kartellrechts auf die beteiligten Gesellschaften verändern. Weil das Kartellrecht grundsätzlich auf das „Unternehmen“ abstellt (Æ Rz. 8), ist die wichtigste mögliche Auswirkung die Veränderung der „Gestalt“ eines Unternehmens als Adressat der kartellrechtlichen Vorschriften sowie als Bezugspunkt für Sanktionen. 135 Anders als das kartellrechtliche Missbrauchsverbot (Æ Rz. 83 f.), das bei bestehender Marktmacht eingreift, soll die Fusionskontrolle eine präventive Überprüfung von Transaktionen bewirken, um so bestehenden Restwettbewerb zu schützen. 136 Die wesentliche Rechtsgrundlage für die europäische Fusionskontrolle ist die EU-Fusionskontrollverordnung (im Folgenden: FKVO).148) Zuständig für die Fusionskontrollverfahren nach der FKVO ist grundsätzlich die Europäische Kommission. Die Kommission hat diverse Bekanntmachungen und Mitteilungen zur Fusionskontrolle veröffentlicht149); die wichtigste – gerade für die Auslegung des Begriffs des Zusammenschlusses und der Umsatzschwellen – ist die „Konsolidierte Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen“ von 2009.150) Die wesentliche Rechtsgrundlage für die deutsche Fusionskontrolle sind die §§ 35 – 42 GWB (sowie §§ 18, 130 GWB). Zuständig für die Fusionskontrollverfahren ist das Bundeskartellamt (die Landeskartellbehörden führen keine Fusionskontrollverfahren durch). Die FKVO geht der deutschen Fusionskontrolle und den korrespondierenden Regimen in anderen EU-Mitgliedsstaaten vor. Allerdings ist zu beachten, dass Fusionskontrollregime außerhalb der EU ggfs. gleich-

___________ 147) Ende Juni haben Kommission, Parlament und Rat ihre politische Einigung zur Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen (Drittstaatensubventionsverordnung) bekannt gegeben, vgl. Kommission, Pressemitteilung v. 30.6.2022. Die Verordnung wurde noch im Jahr 2022 von Rat und Parlament förmlich angenommen und ist seit dem 12.1.2023 in Kraft getreten (Anwendung seit dem 12.7.2023). 148) Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl L 24 v. 29.1.2004, S. 1). 149) Siehe http://ec.europa.eu/competition/mergers/legislation/legislation.html. 150) Berichtigung der konsolidierten Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl C 43 v. 21.2.2009, S. 10).

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C. Fusionskontrolle

berechtigt neben die FKVO (oder die Fusionskontrolle in EU-Mitgliedsstaaten) treten können. II.

Anmeldepflichtige Vorhaben

Eine Transaktion unterliegt der Fusionskontrolle, wenn sie einen Zusammen- 137 schluss darstellt und die beteiligten Unternehmen bestimmte Schwellenwerte (zumeist Umsatzschwellen, in einzelnen Ländern aber z. B. auch Vermögenswert- oder Marktanteilsschwellen) überschreiten. 1.

Europäische Fusionskontrolle

Relevante Zusammenschlussvorhaben nach der FKVO sind die Fusion (d. h. 138 der Zusammenschluss zweier unabhängiger Unternehmen, sodass sie unter einheitlicher wirtschaftlicher Leitung stehen) und der Kontrollerwerb. Ein Kontrollerwerb liegt vor, wenn ein bestimmender Einfluss auf die Tätig- 139 keit eines anderen Unternehmens erlangt wird (z. B. durch Anteilserwerb, aber auch etwa durch Vertrag). Das Wesen des bestimmenden Einflusses ist die Mitsprache bei strategischen Entscheidungen eines Unternehmens (z. B. Besetzung der Leitungsorgane, Genehmigung des Finanz- und Geschäftsplans und des Budgets oder größerer Investitionen). Praxishinweis: Für praktische Zwecke ist die Kontrolle oder der bestimmende 140 Einfluss regelmäßig gleichbedeutend mit dem beherrschenden Einfluss gemäß §§ 36 Abs. 2 GWB, 17 Abs. 1 AktG. Es genügt die Möglichkeit, einen bestimmenden Einfluss auszuüben. Ein Gesell- 141 schafter kann auf ein Unternehmen bestimmenden Einfluss ausüben, indem er bestimmte strategische Entscheidungen durchsetzt (positive Kontrolle) oder indem er bestimmte strategische Entscheidungen verhindert (negative Kontrolle), dadurch einen Einigungsdruck unter den Gesellschaftern erzeugt und die Berücksichtigung seiner Interessen erzwingt. Daher kann auch eine Minderheitsbeteiligung Kontrolle vermitteln, wenn der betreffende Gesellschafter ein Vetorecht über eine oder mehrere strategische Entscheidungen hat. Das Vetorecht eines Gesellschafters ergibt sich nicht stets aus der Rechtsform, sondern kann einem oder mehreren Gesellschaftern auch durch Konsortial- oder Stimmbindungsvertrag eingeräumt sein. Deren Prüfung kommt für die Ermittlung der Kontrollverhältnisse daher hohe praktische Bedeutung zu. Die Kontrolle über eine Gesellschaft muss – für Zwecke des Kartellrechts – 142 nicht rechtlich festgeschrieben oder abgesichert sein. Faktische Kontrolle genügt. Gerade bei börsennotierten Gesellschaften begründet daher eine vergleichsweise niedrige Beteiligung zuweilen (alleinige) Kontrolle, wenn eine stabile Mehrheit der Stimmen in der Hauptversammlung vorliegt. Das Konzept der negativen Kontrolle bedeutet, dass Kontrolle nicht nur von 143 einem Gesellschafter (alleinige Kontrolle), sondern auch von mehreren GeBarth

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§ 15 Kartellrecht

sellschaftern zugleich ausgeübt werden kann (gemeinsame Kontrolle), insbesondere wenn mehrere Gesellschafter jeweils ein Vetorecht bezüglich bestimmter strategischer Entscheidungen haben. 144 Praxishinweis: Gemeinsame Kontrolle wird regelmäßig vorliegen, wenn strategische Entscheidungen wie z. B. die Bestellung des Geschäftsführers einer besonderen Mehrheit bedürfen (wie 75 % der abgegebenen Stimmen) und mehrere Gesellschafter jeweils einen Anteil von 25 % oder mehr an der Gesellschaft halten. Diese Gesellschafter haben dann – jeder für sich – gemeinsame Kontrolle über das Zielunternehmen und der Erwerb einer 25 %-igen Beteiligung an diesem Unternehmen begründet einen Zusammenschluss. Diese Vetorechte können sich auch aus dem Konsortialvertrag ergeben, den alle oder einige Gesellschafter untereinander abgeschlossen haben. Mitkontrolle wird regelmäßig auch bei paritätischen Gemeinschaftsunternehmen vorliegen, wenn beide Gesellschafter jeweils 50 % der Anteile halten und Entscheidungen mit Mehrheit getroffen werden. Mitkontrolle wird nicht begründet durch Einstimmigkeitserfordernisse oder Vetorechte eines Minderheitsgesellschafters, die nicht strategisch sind und das Verhalten des Zielunternehmens nicht in wettbewerblich erheblicher Weise einschränken, sondern lediglich dem Schutz der gesellschaftsrechtlichen Stellung des Minderheitsgesellschafters dienen (z. B. Vetorechte bei Satzungsänderungen oder Kapitalerhöhungen). 145 Nicht nur der erstmalige Erwerb von Kontrolle über ein Unternehmen ist ein Zusammenschluss, sondern auch der Übergang von alleiniger zu gemeinsamer Kontrolle (z. B. bei Aufnahme weiterer Gesellschafter) sowie der Übergang von gemeinsamer zu alleiniger Kontrolle (z. B. bei der vollständigen Übernahme eines Gemeinschaftsunternehmens durch einen Gesellschafter). Allerdings ist bei drei (oder mehr) kontrollierenden Gesellschaftern das Ausscheiden eines Gesellschafters kein Zusammenschluss. Ein Zusammenschluss liegt erst beim Übergang zu alleiniger Kontrolle vor. Weiterhin liegt kein Zusammenschluss vor, wenn ein bereits kontrollierender oder mitkontrollierender Gesellschafter seine Einflussrechte stärkt, z. B. weil er zusätzliche Vetorechte erhält. In diesem Sinne ist Kontrolle nicht steigerbar, solange sich nicht die Natur der Kontrolle (alleinige oder gemeinsame Kontrolle) ändert. 146 Ein Gemeinschaftsunternehmen (joint venture) i. S. d. FKVO ist eine unternehmerisch tätige Gesellschaft, die von zwei (oder mehr) Gesellschaftern gemeinsam kontrolliert wird. Die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens ist nur dann ein Zusammenschluss, wenn das Gemeinschaftsunternehmen auf Dauer alle Funktionen einer selbständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllt (sog. VollfunktionsGemeinschaftsunternehmen).151) Ein Vollfunktions-Gemeinschaftsunternehmen muss „auf einem Markt tätig sein und die Funktionen ausüben […], die auch von ___________ 151) Der Gründung gleichgestellt ist auch die Umwandlung eines Unternehmens von einer alleine kontrollierten in eine gemeinsam kontrollierte Gesellschaft. Auch insoweit ist die Vollfunktionseigenschaft maßgeblich, um eine Anmeldepflicht nach der FKVO zu bestimmen. EuGH, Urt. v. 7.12.2017, C-248/16 – Austria Asphalt/Bundeskartellanwalt; GA Kokott, Schlussanträge v. 27.4.2017 in gleicher Sache.

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C. Fusionskontrolle

den anderen Unternehmen in diesem Markt wahrgenommen werden“, dies erfordert regelmäßig ein eigenes Management und ausreichende Ressourcen (finanziell aber auch personell). Die Anforderungen im Einzelfall hängen aber vom betroffenen Wirtschaftszweig und der dort üblichen Wertschöpfungstiefe ab. Erfüllt ein Gemeinschaftsunternehmen diese Voraussetzungen nicht, so kann die Gründung aber immer noch nationaler Fusionskontrolle unterfallen, z. B. in Deutschland (aber auch in Österreich oder dem Vereinigten Königreich). Für die Analyse der Schwellenwerte relevante beteiligte Unternehmen nach 147 der FKVO sind grundsätzlich das erwerbende Unternehmen und das Zielunternehmen (bei einer Fusion beide fusionierenden Unternehmen). Im Falle von Gemeinschaftsunternehmen sind dies alle gemeinsam kontrollierenden Gesellschafter (ggfs. auch bereits vor der Transaktion schon kontrollierende Gesellschaftern). Die Umsatzberechnung richtet sich nach Art. 5 FKVO. Praxishinweis: Relevanter Umsatz ist der Nettoaußenumsatz der gesamten Unter- 148 nehmensgruppe im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr, wobei der Umsatz dem Ort des Kunden zuzurechnen ist. Bei Gemeinschaftsunternehmen erfolgt eine Zurechnung nach Köpfen. Im Finanz- und Versicherungsbereich gelten Sonderregeln. Eine Anmeldepflicht besteht, wenn einer von zwei alternativen Sätzen an 149 Schwellenwerten überschritten wird: der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen übersteigt EUR 5 Mrd. und der unionsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen liegt jeweils bei mehr als EUR 250 Mio. oder  der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligter Unternehmen zusammen übersteigt EUR 2,5 Mrd., der Gesamtumsatz aller beteiligter Unternehmen in mindestens drei Mitgliedstaaten übersteigt jeweils EUR 100 Mio., in jedem von diesen mindestens drei Mitgliedstaaten beträgt der Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen jeweils mehr als EUR 25 Mio., und der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen beträgt jeweils EUR 100 Mio. Eine Rückausnahme von der Anmeldepflicht besteht bei beiden Sätzen an 150 Schwellenwerten, wenn jedes beteiligte Unternehmen mehr als zwei Drittel seines unionsweiten Umsatzes in ein und demselben Mitgliedsstaat erzielt. Sind diese Schwellenwerte nicht erfüllt, so kann es allein dann zu einer Prüfung 151 des Vorhabens durch die Kommission kommen, wenn eine nationale Kartellbehörde oder das betroffene Unternehmen (im Falle von Anmeldungen in mindestens drei Mitgliedsstaaten) einen Verweisungsantrag stellt. Ende März 2021 veröffentlichte die Kommission einen Leitfaden für Verweisungen nach Art. 22 FKVO.152) Danach seien auch Verweisungen von Zusammenschlüssen 

___________ 152) Mitteilung der Kommission, Leitfaden zur Anwendung des Verweisungssystems nach Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung auf bestimmte Kategorien von Vorhaben (ABl. C 113 v. 31.3.2021).

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§ 15 Kartellrecht

an die Kommission möglich, die in keinem Mitgliedsstaat die Schwellenwerte der nationalen Fusionskontrolle erreichen.153) Voraussetzung sei, dass der Zusammenschluss den Handel zwischen Mitgliedsstaaten beeinträchtigt und den Wettbewerb im Hoheitsgebiet eines antragstellenden Mitgliedsstaates erheblich zu beeinträchtigen droht. Diese neue Entscheidungspraxis setzte die Kommission in Illumina/GRAIL um.154) 2.

Deutsche Fusionskontrolle

152 Die Zusammenschlusstatbestände nach deutschem Recht sind in § 37 Abs. 1 GWB benannt: 

Erwerb des Vermögens eines anderen Unternehmens ganz oder zu einem wesentlichen Teil (Vermögenserwerb);



Erwerb der unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle durch ein oder mehrere Unternehmen über die Gesamtheit oder Teile eines oder mehrerer anderer Unternehmen (Kontrollerwerb). Dieser Zusammenschlusstatbestand wurde aus der FKVO übernommen und ist wie dort auszulegen (Æ Rz. 139);



Erwerb von Anteilen an einem anderen Unternehmen, wenn diese Anteile allein oder zusammen mit sonstigen, dem Unternehmen bereits gehörenden Anteilen (a) 50 % oder (b) 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte des anderen Unternehmens erreichen (Anteilserwerb);



jede sonstige Verbindung von Unternehmen, aufgrund derer ein oder mehrere Unternehmen unmittelbar oder mittelbar einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben können (Erwerb wettbewerblich erheblichen Einflusses).

153 Nach § 37 Abs. 2 GWB sind zwischen Unternehmen, die bereits durch einen Zusammenschlusstatbestand verbunden sind, weitere Zusammenschlüsse nur bei Verstärkung der bestehenden Unternehmensverbindung möglich. Nach § 37 Abs. 3 GWB („Bankenklausel“) sind bestimmte, kurzfristige Beteiligungserwerbe durch Finanzinstitute von der Fusionskontrolle ausgenommen. 154 Im Falle des Vermögenserwerbs meint der Begriff des „Vermögens“ das Aktivvermögen eines Unternehmens und umfasst alle einem Unternehmen zustehenden geldwerten Güter und Rechte. Es werden alle Erwerbstatbestände er___________ 153) Dies stellt eine Kehrtwende der Kommission von ihrer früheren Entscheidungspraxis dar: Früher hat die Kommission den Kartellbehörden von einer Verweisung abgeraten, wenn das Zusammenschlussvorhaben unterhalb der eigenen nationalen Fusionskontrollschwelle liegt. 154) Kommission, Entscheidung v. 16.6.2021, M.10188 – Illumina/GRAIL. Das vereinbarte Zusammenschlussvorhaben erreichte weder die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte in der EU noch in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Kommission gab dem Verweisungsantrag mehrerer Mitgliedsstaaten statt und übernahm die fusionskontrollrechtliche Prüfung des Zusammenschlussvorhabens. Mit Urteil vom 13.7.2022 bestätigte das EuG die Entscheidung der Kommission (EuG, Urt. v. 13.7.2022 – T-227/21- Illumina/Kommission).

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C. Fusionskontrolle

fasst, bei denen der Erwerber die Verfügungsgewalt über die betreffenden Vermögensgegenstände tatsächlich erwirbt.155) Praxishinweis: Zum Vermögen zählen auch immaterielle Güter (Lizenzen, Patente, 155 Marken etc.), der Kundenkreis, die Absatzorganisation, das Know-how, sowie alle anderen Umstände, die den Firmenwert (engl. goodwill) eines Unternehmens bilden. Ein Vermögenserwerb liegt nicht vor, wenn nur die Passiva eines Unternehmens übertragen werden. Erfasst sind z. B. Fälle der Gesamtrechtsnachfolge, z. B. bei der Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG). Ein (teilweiser) Vermögenserwerb begründet einen Zusammenschluss, wenn er die Marktstellung des Erwerbers verändert (ggfs. bereits beim Erwerb von Patenten oder Marken). Ein Anteilserwerb liegt vor, wenn 25 oder 50 % der Anteile oder Stimmrechte 156 an einem anderen Unternehmen erworben werden. Erfasst werden auch Fälle der Anteilsaufstockung, wenn die relevante Schwelle erreicht wird (z. B. bei einer Erhöhung von 24,9 % auf 25,0 %), wobei Anteile, die von verbundenen Unternehmen gehalten werden, zuzurechnen sind. Bei Treuhandkonstellationen erfolgt eine Zurechnung zum Treugeber. Ab einer Schwelle von 50 % kann es nur dann zu einem Zusammenschluss kommen, wenn ein Übergang von gemeinsamer zu alleiniger Kontrolle vorliegt. Die Schwellen von 25 und 50 % beziehen sich auf die Anteile oder Stimmrechte. Der Erwerb wettbewerblich erheblichen Einflusses ist als Auffangtatbestand 157 für Erwerbe unterhalb von 25 % der Anteile oder Stimmrechte konzipiert, wenn dieser Erwerb keine Kontrolle vermittelt. Der wettbewerblich erhebliche Einfluss muss „gesellschaftsrechtlich vermittelt“ sein, d. h. die Einflussmöglichkeit des Erwerbers auf das Zielunternehmen muss auf die Stellung des Erwerbers als Gesellschafter des Zielunternehmens zurückzuführen sein. Um eine wettbewerbliche Erheblichkeit zu begründen sind alle Umstände der Gesellschafterstellung zu analysieren (einschließlich Rechtsverhältnissen, die nicht aus dem Gesellschaftsverhältnis folgen). Relevante Faktoren sind oft Bestellungs- oder Besetzungsrechte, Vetorechte (die aber keine Kontrolle begründen), Optionen oder Informationsrechte. Praxishinweis: Ein wettbewerblich erheblicher Einfluss ohne eine Beteiligung am 158 oder Verflechtung mit dem Zielunternehmen ist daher regelmäßig ausgeschlossen. Typischerweise ist der Zusammenschlusstatbestand „wettbewerblich erheblicher Einfluss“ bei strategischen Beteiligungen eher relevant, bei reinen Finanzbeteiligungen liegt er typischerweise nicht vor. Obschon es keine allgemeinen Vermutungsregeln gibt, ist ein Zusammenschluss unterhalb einer Beteiligungsschwelle von 15 % eher unwahrscheinlich (aber im Einzelfall dennoch möglich). Nach deutschem Recht ist bei der Gründung eines Gemeinschaftsunterneh- 159 mens die Vollfunktionseigenschaft nicht erforderlich (Æ Rz. 146). Außerdem ___________ 155) KG, Beschl. v. 1.3.1989, Kart 14/88, WuW/E OLG 4379, 4380 – Schleswig-Holsteinischer Anzeigenverlag.

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§ 15 Kartellrecht

besteht die Besonderheit, dass ein Gemeinschaftsunternehmen fingiert wird, wenn mindestens zwei Gesellschafter jeweils mindestens 25 % halten. 160 Eine Transaktion kann in bestimmten Fällen auch dann eine (weitere) Anmeldepflicht begründen, wenn Unternehmen bereits zuvor zusammengeschlossen waren (Zweitzusammenschluss) und durch die Transaktion ein weiterer Zusammenschlusstatbestand verwirklich wird. 161 Besteht keine Anmeldepflicht nach der FKVO und liegt ein Zusammenschluss nach deutschem Recht vor, so besteht eine Anmeldepflicht beim BKartA, wenn die beteiligten Unternehmen die Schwellenwerte des § 35 GWB überschreiten. Beteiligt sind regelmäßig der Erwerber und das Zielgeschäft (im Falle des Vermögenserwerbs das erworbene Vermögen). In Fällen des Anteilserwerbs sind auch andere Gesellschafter beteiligt (ggfs. auch der Veräußerer), wenn sie 25 % oder mehr der Anteile am Zielgeschäft halten. Diese Fiktion eines Gemeinschaftsunternehmens (unabhängig vom Vorliegen von Kontrolle) gilt aber nicht im Fall des Erwerbs wettbewerblich erheblichen Einflusses. 162 Die Umsatzberechnung für Zwecke der deutschen Fusionskontrolle richtet sich nach handelsrechtlichen Grundsätzen (§ 38 Abs. 1 GWB i. V. m. § 277 Abs. 1 HGB), wobei die Umsätze verbundener Unternehmen voll zuzurechnen sind. Sonderregeln bestehen im Bereich des Handels, für Tätigkeiten im Pressebereich sowie im Finanz- und Versicherungssektor. Die räumliche Zuordnung erfolgt immer nach dem Sitz des Kunden. 163 Ein Vorhaben ist anmeldepflichtig, wenn einer von zwei alternativen Sätzen an Schwellenwerten erfüllt ist: 

die am Zusammenschluss beteiligten Unternehmen haben im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr weltweit insgesamt Umsatzerlöse von mehr als EUR 500 Mio. erzielt, mindestens ein beteiligtes Unternehmen hat im Inland mehr als EUR 50 Mio. und ein anderes beteiligtes Unternehmen hat im Inland mehr als EUR 17,5 Mio. erzielt, oder



die beteiligten Unternehmen haben im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr insgesamt weltweit Umsatzerlöse von mehr als EUR 500 Mio. erzielt, ein beteiligtes Unternehmen hat im Inland mehr als EUR 50 Mio. erzielt und der Wert der Gegenleistung für den Zusammenschluss beträgt mehr als EUR 400 Mio. und das zu erwerbende Unternehmen ist in erheblichem Umfang im Inland tätig.

164 Der zweite Schwellenwertsatz wurde im Jahr 2017 nach den Erfahrungen im Fall Facebook/WhatsApp neu eingeführt, um auch Fälle der Fusionskontrolle zu unterwerfen, in denen das Marktpotential des Zielgeschäfts sich nicht in Umsätzen ausdrückt. Die Bestimmung des Werts der Gegenleistung wie auch der erheblichen Inlandstätigkeit werfen noch verschiedene Fragestellungen auf156), ___________ 156) Barth/dos Santos Goncalves, GWR 2017, 289 ff.

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C. Fusionskontrolle

die in der Entscheidungspraxis zu klären sind. In einem am 9.7.2018 veröffentlichten Leitfaden hat das Bundeskartellamt zusammen mit der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde aber bereits erste Interpretationshilfen dargelegt.157) Vorhaben, die keine Inlandsauswirkungen haben, sind nach § 185 Abs. 2 165 GWB von der Anmeldepflicht ausgenommen. Das Bundeskartellamt legt dieses Tatbestandsmerkmal in der Praxis allerdings weit aus und Fälle, in denen eine Anmeldepflicht trotz Überschreiten der Schwellenwerte zu verneinen ist, sind selten. Seit dem 19.1.2021 kann das Bundeskartellamt ein Unternehmen für drei Jahre 166 verpflichten, jeden Zusammenschluss ungeachtet der o. g. Schwellenwerte in einem oder mehreren Wirtschaftszweigen anzuzeigen, vgl. § 39a GWB.158) Voraussetzung ist, dass das Unternehmen im letzten Jahr einen weltweiten Umsatzerlös von mehr als EUR 500 Mio. erzielt hat, der Umsatz des Zielunternehmens bei mehr als EUR 2 Mio. lag, von denen mehr als zwei Drittel in Deutschland erzielt wurden, der Wettbewerb in den Wirtschaftszweigen voraussichtlich behindert wird und das Unternehmen in dem Wirtschaftszweig einen Anteil von mindestens 15 % an Angebot oder Nachfrage in Deutschland hat. Einer Verfügung hat eine Sektoruntersuchung durch das Bundeskartellamt in dem betroffenen Wirtschaftszweig vorauszugehen. Mit dieser Pflicht soll Erwerbsstrategien vorgebeugt werden, bei denen etwa mehrere Erwerbsvorgänge auf denselben sachlichen Märkten stattfinden, die aber wegen unterschiedlicher Veräußerer bislang keine Anmeldepflicht auslösten.159) Inhaltlich gleicht die Prüfung einem nach § 35 GWB aufgegriffenen Zusammenschluss. ___________ 157) BKartA/BWB, Leitfaden Transaktionswert-Schwellen für die Anmeldepflicht von Zusammenschlussvorhaben (§ 35 Abs. 1a GWB und § 9 Abs. 4 KartG) von Juli 2018; siehe auch BKartA, Beschl. v. 9.12.2021 – B6-37/21 – Meta/Kustomer; in letzterem Fall hat das OLG Düsseldorf am 22.11.2022 entschieden, dass das Bundeskartellamt die neue Transaktionswert-Schwelle falsch angewendet habe und das Zusammenschlussvorhaben nicht anmeldepflichtig gewesen sei. Kustomer hat weder deutsche Tochtergesellschaften noch Vermögenswerte oder Mitarbeiter in Deutschland. Kustomer hat vorwiegend ausländische Kunden, für die sie auch Daten deutscher Endverbraucher verarbeiten. Dabei hat das OLG Düsseldorf die Transaktionswert-Schwelle eng ausgelegt: Bei Dienstleistern sei für die Beurteilung der Inlandstätigkeit der Ort, an dem seine Kunden ansässig seien, entscheidend. Nicht entscheidend sei dagegen, ob das Unternehmen im Ausland Daten über deutsche Endverbraucher für ausländische Kunden verarbeite. Außerdem sei das Verhältnis des Anteils der deutschen Tätigkeit zum weltweiten Gesamtgeschäft des Unternehmens maßgeblich. Hierbei berücksichtigte das Gericht insbesondere, dass beispielsweise im Jahr 2020 nur drei der 439 Geschäftskunden von Kustomer in Deutschland ansässig waren und der deutsche Umsatz weniger als 1 % des weltweiten Umsatzes betrug. Das Bundeskartellamt habe zu Unrecht berücksichtigt, dass Kustomer Daten deutscher Endkunden verarbeite. Es komme vielmehr nur auf die Kunden an, mit denen Kustomer ein Vertragsverhältnis habe, da diese über die Inanspruchnahme der Kustomer-Dienste entscheiden. 158) Siehe dazu auch Steinvorth/Gasser, WuW 2021, 155, 160. 159) BT-Drucks. 19/23492, S. 95.

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§ 15 Kartellrecht

3.

Internationale Fusionskontrolle

167 Bei vielen Transaktionen kommt es nicht nur zu Anmeldepflichten nach der FKVO oder dem GWB, sondern es bestehen parallele fusionskontrollrechtliche Anmeldeerfordernisse in anderen Ländern. Die meisten dieser Fusionskontrollregime sind ebenfalls verpflichtend160) und stellen ein Vollzugsverbot für die Gesamttransaktion auf. 168 Die Anmeldepflichten, der materielle Prüfungsmaßstab wie auch das Verfahren unterliegen dabei jeweils nationalem Recht in dem betreffenden Land. In einzelnen Ländern werden Zusammenschlüsse und damit anmeldepflichtige Vorhaben bereits bei vergleichsweise niedrigen Beteiligungsschwellen (z. B. Brasilien) oder in Abhängigkeit vom Transaktionswert (z. B. USA) angenommen. 169 Praxishinweis: Bei internationalen Transaktionen sind Mehrfachanmeldungen an der Tagesordnung und erfordern einen beträchtlichen Planungsaufwand, auch da Kartellbehörden im Verfahren vielfach auf den Stand der Untersuchung in anderen Ländern achten und ggfs. mit den Behörden in diesen Ländern zu spezifischen Fragen in Kontakt treten. III.

Materiell-rechtliche Prüfung

170 Die Prüfung von Fusionskontrollfällen erfolgt nach der FKVO und dem GWB auf Grundlage eines weitgehend angeglichenen Prüfungsmaßstabs.161) Untersucht wird jeweils, ob ein Vorhaben wirksamen Wettbewerb erheblich behindert (significant impediment to effective competition), insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung. 171 Bei horizontalen Zusammenschlüssen werden insbesondere die Wirkungen auf den Wettbewerb durch den entfallenden Wettbewerbsdruck zwischen den betroffenen Unternehmen geprüft (z. B. der Spielraum für Preiserhöhungen oder ein Nachlassen an Innovationsbemühungen). In Fällen vertikaler Transaktionen wird untersucht, ob sich die Bedingungen für Kunden verschlechtern oder ob die zusammengeschlossene Einheit in der Lage ist, den Marktzugang für Wettbewerber zur verschlechtern. Sind die Aktivitäten der Unternehmen komplementärer Natur, so wird geprüft, ob nach dem Zusammenschluss eine Marktstellung auf benachbarte Märkte übertragen werden kann. In allen Fällen wird regelmäßig eine Abgrenzung des relevanten Marktes erforderlich sein (Æ Rz. 85 f.) sowie eine Untersuchung der Wettbewerbsdynamik auf dem betreffenden Markt. 172 Praxishinweis: In vielen Fällen betrachten Kartellbehörden in einem ersten Analyseschritt die Marktanteile nach dem Vollzug des Vorhabens. Insoweit finden die gleichen Vermutungsregeln wie beim Missbrauchsverbot Anwendung, d. h. eine ___________ 160) Ausnahmen sind z. B. das Vereinigte Königreich, Australien, Neuseeland und einzelne weitere Länder. 161) Im Detail Barth/Budde, BB 2011, 1859 ff, 1923 ff.

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C. Fusionskontrolle

Einzelmarktbeherrschung wird bei mehr als 40 % Marktanteil vermutet, eine oligopolistische Marktbeherrschung bei mehr als 50 % bzw. 66 % (Æ Rz. 89 ff.). Bei Vorliegen der Untersagungsvoraussetzungen ausschließlich auf seit min- 173 destens fünf Jahren bestehenden Märkten, auf denen im letzten Kalenderjahr in Deutschland weniger als EUR 20 Mio. umgesetzt wurden (Bagatellmarkt), ist eine Untersagung nach deutschem Recht nicht möglich. Eine Ausnahme besteht aber, wenn es sich um Märkte handelt, auf denen eine Leistung unentgeltlich erbracht wird oder das Vorhaben aufgrund der Überschreitung des zweiten alternativen Schwellenwerts anmeldepflichtig ist (Æ Rz. 163). Der Prüfungsmaßstab ist international nicht harmonisiert und in manchen 174 Ländern (z. B. China oder Südafrika) werden auch nicht-wettbewerbliche Erwägungen im Fusionskontrollverfahren berücksichtigt. Allerdings sind die Maßstäbe wie auch der analytische Rahmen der Fusionskontrolle nach der FKVO international als ein Richtwert anerkannt und zahlreiche Behörden achten auf die Praxis der Kommission und richten ihre eigene Praxis bis zu einem gewissen Grad danach aus. IV.

Verfahren

Eine Anmeldung bei der Europäischen Kommission oder dem Bundeskartell- 175 amt ist möglich, sobald die betreffenden Unternehmen eine ernstliche Absicht haben das Vorhaben umzusetzen. Praxishinweis: Da Fusionskontrollanmeldungen eine gewisse Publizität auslösen, 176 wird eine Anmeldung vielfach erst dann vorgenommen, wenn der Kaufvertrag unterzeichnet ist. Bis zur Freigabe durch die zuständige Behörde gilt ein umfassendes Vollzugs- 177 verbot, das jeden Eingriff in den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb des Zielunternehmens untersagt. Befreiungen vom Vollzugsverbot sind möglich, aber in der Praxis sehr selten.162) Praxishinweis: Die Vorbereitung des Vollzugs ist den Unternehmen gestattet, al- 178 lerdings dürfen Maßnahmen erst nach behördlicher Freigabe umgesetzt werden. Verboten sind neben Gesellschaftermaßnahmen insbesondere eine Einwirkung auf die Geschäftsstrategie oder Kunden- oder Lieferantenbesuche. Bis zum Vollzug der Transaktion (also nicht nur bis zur Freigabeentscheidung im Fusionskontrollverfahren) bleiben die Transaktionsbeteiligten zudem getrennte Unternehmen, sodass die sonstigen kartellrechtlichen Vorschriften vollumfänglich Anwendung finden. Erst nach Vollzug der Transaktion gilt das Konzernprivileg, das konzernangehörige Unternehmen von der Anwendung des Kartellrechts ausnimmt (für Gemeinschaftsunternehmen gilt das Konzernprivileg regelmäßig nicht).

___________ 162) Zur Reichweite im Einzelfall Beck, NZKart 2017, 426 ff.

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§ 15 Kartellrecht

1.

Europäische Fusionskontrolle

179 Grundsätzlich muss die Kommission innerhalb von 25 Arbeitstagen nach Erhalt der vollständigen Anmeldung entscheiden (sog. Phase I), ob sie den Zusammenschluss freigibt oder ob sie in eine detaillierte Prüfung (sog. Phase II) eintritt. Allerdings sind sog. informelle Vorgespräche mit der Kommission üblich, diese Gespräche verlängern die Dauer des Verfahrens regelmäßig um 4 bis 6 Wochen, in schwierigen Fällen ist die Verzögerung noch erheblicher. Wird ein Verfahren in Phase II geprüft, so verlängert sich das Verfahren um bis zu 125 Arbeitstage. Abhilfemaßnahmen bei Wettbewerbsproblemen können in Phase I oder Phase II von der anmeldenden Partei angeboten werden. Etwa ein Drittel der Phase II-Verfahren vor der Kommission endete in den letzten Jahren mit einer Untersagung oder endgültigen Rücknahme der Anmeldung.163) 180 Praxishinweis: Eine Fusionskontrollanmeldung bei der Kommission ist vergleichsweise aufwändig. Die Anmeldung selbst wird vertraulich behandelt und nur eine kurze Mitteilung über das Vorhaben bei förmlicher Anmeldung (d. h. nach den Vorgesprächen) veröffentlich. In einfach gelagerten Fällen gibt es die Möglichkeit einer Anmeldung im vereinfachten Verfahren. In diesen Fällen sind weniger Informationen beizubringen und es wird auch nur ein Kurzbescheid der Freigabe veröffentlicht, während in anderen Fällen eine begründete Entscheidung ergeht, die in nicht-vertraulicher Fassung (nach Abstimmung mit dem anmeldenden Unternehmen) auf der Webseite der Kommission veröffentlicht wird. 181 Eine Entscheidung der Kommission kann innerhalb von zwei Monaten vor dem Europäischen Gericht, anschließend vor dem Gerichtshof, angefochten werden. 2.

Deutsche Fusionskontrolle

182 Im deutschen Fusionskontrollverfahren sind Vorgespräche weniger üblich und auch nur in komplexen Fällen oder bei bestimmten Rechtsfragen empfehlenswert. Die erste Prüfungsphase (Vorprüfverfahren) dauert einen Monat. In dieser Frist werden die weitaus meisten Vorhaben freigegeben. Identifiziert das Bundeskartellamt mögliche Wettbewerbsprobleme, so wird das Hauptprüfverfahren eingeleitet, das bis zu fünf Monate dauern kann. Anders als nach der FKVO können Abhilfemaßnahmen im deutschen Recht nur im Hauptprüfverfahren angeboten werden. Im Hauptprüfverfahren endete in den letzten Jahren ca. die Hälfte der geprüften Zusammenschlüsse mit einer Untersagung oder Rücknahme der Anmeldung.164) 183 Praxishinweis: Nach erfolgter Anmeldung veröffentlicht das Bundeskartellamt einen knappen Eintrag auf seiner Webseite. Dort wird auch die Tatsache der Freigabe ___________ 163) Pukropski, WuW 2020, 512, 518. 164) Pukropski, WuW 2020, 512, 519.

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C. Fusionskontrolle

veröffentlicht. Entscheidungen im Vorprüfverfahren sind unbegründet und werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Eine Entscheidung des Bundeskartellamtes (mit Ausnahme von Freigaben im 184 Vorprüfverfahren165) kann vor dem OLG Düsseldorf (und nachfolgend dem BGH) angegriffen werden. Außerdem haben Unternehmen die Möglichkeit eine Erlaubnis des Bundesministers für Wirtschaft und Energie zu beantragen (Ministererlaubnis), die dann gewährt wird, wenn überragende Gemeinwohlgründe die erwartete Wettbewerbsschädigung überkompensieren.166) Erfolgreiche Ministererlaubnisverfahren sind selten. Auch die Ministererlaubnis (oder die Verweigerung einer solchen) kann vor dem OLG Düsseldorf und dem BGH mit einer Anfechtungsbeschwerde angegriffen werden. 3.

Internationale Fusionskontrolle

Außerhalb von FKVO und GWB richtet sich die Verfahrensdauer bei anderen 185 internationalen Fusionskontrollanmeldungen nach dem jeweiligen nationalen Recht. In vielen Ländern existiert ein zweistufiger Verfahrensaufbau, d. h. einfach gelagerte Fälle werden in einer kürzeren ersten Phase und kompliziertere Fälle in einer längeren zweiten Phase bearbeitet. In einzelnen Ländern gibt es noch weitere Verfahrensabschnitte (z. B. Phase III in China, die aber nur auf Antrag der Parteien eingeleitet wird). Die Verfahrensdauer unterscheidet sich von Land zu Land deutlich, in China z. B. können auch einfach gelagerte Fälle zwei bis drei Monate Fusionskontrollverfahren nach sich ziehen, komplizierte Fälle dauern drei bis fünf Monate und in Einzelfällen nochmals länger. 4.

Sanktionen

Verstöße gegen das Vollzugsverbot (einschließlich unterlassener Fusionskon- 186 trollanmeldungen) sind bußgeldbewehrt. Widerrechtlich umgesetzte Vorhaben sind zudem zivilrechtlich schwebend unwirksam und werden erst durch eine nachträgliche Genehmigung der Behörde wirksam.167) Erfolgt eine Untersagung durch die Behörde, so sind diese Vorhaben rückabzuwickeln. Außerhalb von Europa können Verstöße z. T. auch strafrechtlich sanktioniert werden (in einzelnen Ländern sogar mit Haftstrafen).

___________ 165) Berg/Mäsch/Grave, § 73 GWB Rz. 10. 166) Dose/von Wangenheim, WuW 2017, 182 ff. 167) Lettl, WuW 2009, 249.

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Teil III Governance, Risk & Compliance

Ghassemi-Tabar

Vorbemerkung Wenn von Governance Risk & Compliance (GRC oder auch GRC-Systeme) die 1 Rede ist, so sind damit regelmäßig das Compliance Management System (CMS, ausführlich dazu Æ § 16), das Risikomanagementsystem (RMS, ausführlich dazu Æ § 17), das internes Kontrollsystem (IKS, ausführlich dazu Æ § 18) sowie das interne Revisionssystem (IRS) angesprochen.1) CMS, RMS und IKS hängen funktional eng zusammen, überschneiden sich teil- 2 weise, ergänzen sich und sind in ihrer Wirksamkeit voneinander abhängig. Für die Wirksamkeit und vor allem Wirtschaftlichkeit dieser Systeme ist daher entscheidend, dass ihre Elemente, Instrumente und Prozesse sorgfältig aufeinander abgestimmt sind. Das Erkennen und gezielte Nutzen von Synergien durch gemeinsame, integrierte Prozesse dient der Vermeidung von Lücken der Risikoerfassung, -bewertung und -steuerung sowie Redundanzen, Insellösungen, Überlappungen, Doppelarbeit und Bürokratisierung durch parallele Aktivitäten.2) Das Ziel sollte es daher sein, die GRC-Systeme so zu konzipieren, dass CMS, 3 RMS und IKS effizient und wirksam zusammenarbeiten und man so von siloartigen Teilsystemen zu einer integrierten Management-Lösung gelangt3) (sog. Combined Assurance Ansatz oder Integrated GRC). Hierbei haben sich in der Praxis zwar punktuell bestimmte Good-Practrice-Ansätze herausgebildet, so etwa die gemeinsame Berichterstattung der Governance-Funktionen oder die Bildung eines übergeordneten GRC-Committee, um die zwingend notwendige Kommunikation zwischen den Governance-Funktionen sicherzustellen. Im Übrigen belegen Unternehmens-Fallbeispiele jedoch, dass beim organisatorischen Design bzw. der konkreten Umsetzung eines integrierten GRC eine große Varianz besteht.4) Letztlich muss in jedem Unternehmen individuell entschieden werden, welcher Grad der Integration der Governance-Systeme pragmatisch und sinnvoll umgesetzt und gelebt werden kann. Das Zusammenwirken der o. g. GRC-Systeme innerhalb der Governance Struktur 4 ist der Grundgedanke des international anerkannten Modells der drei Abwehrlinien (sog. Three Lines of Defense Model). Es wurde im Juli 2020 durch das Institute of Internal Auditors (IIA5)) überarbeitet und wird seit dem unter dem ___________ 1) 2) 3) 4) 5)

Instruktiv hierzu: Soong/Ochs, CB 2021, 61 ff. Soong/Ochs, CB 2021, 61; Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 29 ff. Inderst/Bannenberg/Poppe/Inderst/Steiner, Kap. 3 Rz. 16; Soong/Ochs, CB 2021, 61. Instruktiv: AKEIÜ, DER BETRIEB 2021, 1757 ff. Das IIA mit Sitz in Lake Mary (Florida) ist eine Organisation, die Standards, Leitlinien und Zertifizierungen für den Beruf der Internen Revision entwickelt.

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Vorbemerkung

Begriff „Three Lines Model“ fortgeführt.6) Das Three Lines Model beschreibt die drei internen Verteidigungslinien eines Unternehmens gegen Regelverstöße: 

Die operativen Einheiten bilden die First Line, welche die zentrale Verantwortung für die Identifizierung, Beurteilung, Kontrolle sowie entsprechende Minimierung der Risiken im Rahmen des Tagesgeschäfts trägt.



Die Second Line bilden die Zentralfunktionen CMS, RMS und IKS welche die in der First Line konzipierten Kontrollen zu überwachen und bei Bedarf zu optimieren. Die Verantwortung für die Einrichtung dieser Funktionen liegt beim Vorstand, der wiederum vom Aufsichtsrat überwacht wird.



Die Interne Revision als unabhängige Überwachungsinstanz im Auftrag des Vorstands bildet die Third Line. Sie prüft die Wirksamkeit der ersten beiden Linien.

5 Three Lines Model Aufsichtsrat

Prüfungsausschuss

Vorstand

1st Line Einhaltung der Vorgaben aus der 2nd Line of Defense

2nd Line Compliance Management System IDW PS 980 Risikomanagementsystem IDW PS 981

Operatives Management & Steuerung

Funktionale Berichtslinie Koordination

3rd Line

Interne Revision IDW PS 983

Internes Kontrollsystem System IDW PS 982

Corporate Governance Systeme

Quelle: Deloitte 2023

6 Nachfolgend sollen die Governance-Systeme CMS (sogleich unter § 16), RMS (§ 17) und IKS (§ 18) mit Blick auf die rechtlichen Anforderungen und Ihre wirksame Umsetzung durch den Vorstand sowie die Überwachungspflichten des Aufsichtsrats mit Blick auf diese Systeme näher dargestellt werden. Abgerundet wird dieser Teil 3 durch ein Kapitel zum Thema ESG aus Sicht von Vorstand und Aufsichtsrat (§ 19). ___________ 6) Abrufbar unter: https://global.theiia.org/news/Pages/IIA-Issues-important-update-to-threelines-model.aspx (letzter Abruf: 10.10.2021).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

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Übersicht Vorbemerkung: Compliance als Bestandteil guter Corporate Governance ............................................... 1 A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung ............. 6 I. Grundlagen ......................................... 6 1. Begrifflichkeiten ......................... 6 2. Rechtspflicht zur Compliance und Folgerungen für die Praxis............................................ 9 3. Haftungsvermeidung durch Compliance................................ 20 a) Wirksames ComplianceManagement-System als Voraussetzung .......................... 20 b) Standardbasierte CMSZertifizierungen ........................ 25 c) Die Wirksamkeitsprüfung nach IDW PS 980 n. F............... 32 aa) Ziel der Wirksamkeitsprüfung....................................... 32 bb) Planung der Wirksamkeitsprüfung durch das Unternehmen....................................... 33 cc) Planung der Wirksamkeitsprüfung durch den CMSPrüfer ......................................... 37 dd) Durchführung der Wirksamkeitsprüfung und Berichterstattung .......................... 45 d) Grundsatz der Risikoindividualität beim CMS-Aufbau....... 52 4. CMS-Dokumentation und ihre essentielle Bedeutung ........ 55 5. Compliance-Management im Konzern ................................ 68 6. Compliance-Organisationspflichten und Business Judgement Rule ........................ 76 7. Wirksame Delegation der Compliance-Pflichten und ihre Grenzen .............................. 82

a) Horizontale Delegation ........... 82 b) Vertikale Delegation ................. 88 aa) Voraussetzungen einer wirksamen Delegation ...................... 88 bb) Übertragung der strafrechtlichen Garantenpflicht qua wirksamer Delegation ............... 97 cc) Garantenpflicht des Compliance Officers ....................... 102 II. Vier Grundschritte zur Umsetzung eines präventiven Compliance-Management-Systems ....... 109 1. Einleitung: Risikoanalyse als Basis ......................................... 109 2. Risikoidentifikation ............... 116 a) Sammlung von Hinweisen ...... 116 b) Audits....................................... 120 c) Risiko-Reporting..................... 123 d) Hinweisgebersysteme ............. 126 e) Meldesysteme für Verbesserungsvorschläge zum CMS..... 131 f) Informationsgespräche und Compliance-Risiko-Workshops ........................................ 134 g) Ergebnisse interner Untersuchungen ............................... 141 3. Risikobewertung und -priorisierung .................................. 142 4. Übersetzung in wirksame Risikosteuerungsmaßnahmen .................................... 156 a) Ursachenanalyse...................... 156 b) Umsetzen von Risikosteuerungsmaßnahmen ................... 157 c) Zentrale CMS-Elemente der Risikosteuerung....................... 159 aa) Compliance-Risikostrategie .... 160 bb) Autonome oder MatrixCompliance-Organisation ..... 168 cc) Compliance Committee/ Compliance Board................... 172 dd) Compliance-Programme ........ 174

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung ee) Interne Regularien .................. 177 ff) Informationsangebot für Mitarbeiter, Intranet und Trainings ................................. 186 gg) Führung, Kommunikation, Kultur ...................................... 192 5. Monitoring der Risiken und Steuerungsmaßnahmen .......... 196 III. Pflichten des Vorstands bei Hinweisen auf ComplianceVerstöße ......................................... 199 1. Pflichten im Überblick .......... 199 2. Sachverhaltsaufklärung (Interne Untersuchung) ........ 203 a) Pflicht zur Einleitung ............. 203 aa) Kein Entschließungsermessen hinsichtlich des „Ob“ ....... 203 bb) Erforderliche Verdachtsschwelle ................................... 205 cc) Grenzen der Aufklärungspflicht ...................................... 208 b) Zuständigkeit des Vorstands .. 209 c) Interne Untersuchungen im Konzern .................................. 213 3. Vorbereitet sein auf den Ernstfall .................................. 215 a) Unverzügliche Reaktion des Vorstands essentiell ............... 215 b) Sicherstellen frühestmöglicher Kenntnisnahme von Verdachtsfällen........................ 220 c) Vorabauswahl interner und/ oder externer Fachkräfte ........ 221 d) Investigation Policy ................ 224 4. Wirksame Durchführung einer internen Untersuchung ................................... 231 a) Grundsatz: Ermessen hinsichtlich des „Wie“.................. 231 b) Definition der Eckpunkte der internen Untersuchung .... 235 c) Auswertung von dienstlichen Dokumenten und Akten ........ 242 d) E-Mail-Review ........................ 246 aa) Rechtslage bei Verbot der Privatnutzung.......................... 247

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bb) Rechtslage bei erlaubter Privatnutzung .........................261 (1) Herrschende Rechtsauffassung: Anwendbarkeit des TKG..........................................262 (2) Gegenmeinung: Keine Anwendbarkeit des TKG ........266 (3) Fazit und Handlungsempfehlung...............................269 e) Befragung von Mitarbeitern....272 aa) Teilnahmepflicht......................273 bb) Aussagepflicht..........................275 cc) Belehrung ................................285 dd) Rechtsbeistand ........................287 ee) Amnestieprogramme ..............289 ff) Beteiligung des Betriebsrats ....299 5. Beschlagnahme von Erkenntnissen aus internen Untersuchungen ......................304 6. Abstellen aufgedeckter Rechtsverstöße ........................309 7. Angemessene Sanktionierung von Mitarbeitern ............312 8. Remediation ............................316 9. Dokumentation der Ergebnisse der internen Untersuchung ....................................318 a) Bedeutung der Dokumentation und Dokumentationsarten .........................................318 b) Inhalt und Aufbau des Abschlussberichts ........................324 10. Kooperation mit Ermittlungsbehörden..........................331 a) Grundsätzliches ......................331 b) Typische Ausgangssituationen .......................................338 aa) Verdacht einer Straftat nur unternehmensintern bekannt....339 bb) Kenntnis erst durch staatliche Ermittlungsmaßnahmen .....................................342 IV. UK Bribery Act 2010 und US Foreign Corrupt Practices Act ......343 1. UKBA.......................................344 2. FCPA ......................................349

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung B. Haftungsrisiken für Vorstandsmitglieder bei ComplianceVerstößen ...................................... 355 I. Schadensersatzansprüche der Gesellschaft .................................... 356 II. Strafrechtliche Haftung ................. 364 III. Bußgeldrechtliche Haftung .......... 367 C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung.... 369 I. Einleitung: Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats ....... 369 II. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats im Überblick ................. 371 III. Überwachung der Wirksamkeit des Compliance-ManagementSystems ........................................... 375 1. Leitlinien zur pflichtgemäßen Umsetzung ................. 375 2. Anforderungen an die Überwachung ................................... 387 a) Allgemeiner Sorgfaltsmaßstab der Aufsichtsratsmitglieder ................................. 387 b) Überwachungsmaßstäbe ......... 392 c) Überwachungsintensität ........ 393 3. Informationsinstrumente des Aufsichtsrats ..................... 397 a) Berichterstattung des Vorstands ....................................... 398 b) Recht auf Einsichtnahme und Prüfung sowie Fragerechte........................................ 402 c) Mandatierung von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern ..................................... 408 d) Einrichtung eines Prüfungsund Compliance-Ausschusses.................................... 411 e) Direktbefragungen von Mitarbeitern ............................ 416 4. Einwirkungsmöglichkeiten auf den Vorstand ..................... 423

IV.

D.

I. II. III. IV.

a) Stellungnahmen und Beanstandungen............................... 424 b) Erlass einer Geschäftsordnung.................................... 425 c) Zustimmungsvorbehalte ......... 426 d) Abberufung ............................ 427 e) Einberufung der Hauptversammlung ........................... 428 Pflichten des Aufsichtsrats im Rahmen interner Untersuchungen ................................................... 429 1. Überwachung interner Untersuchungen ..................... 429 a) Überwachungspflicht ............. 429 b) Überwachungsintensität ........ 432 aa) Normalfall................................ 433 bb) Schwerwiegende Verdachtsfälle........................................... 435 2. Eigene Untersuchung durch den Aufsichtsrat ...................... 437 a) Mögliche Pflichtverletzung des Vorstands ......................... 438 b) Befangenheit des Vorstands ... 442 c) Maßnahmen und Kompetenzen bei der Untersuchung ..... 445 d) Überschneidung mit eigenständigen Ermittlungen des Vorstands................................. 450 Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei ComplianceVerstößen....................................... 454 Verweigerung der Entlastung ........ 455 Abberufung .................................... 457 Schadensersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft ..................... 459 Strafrechtliche Haftung ................ 469 1. Kein einheitliches Meinungsbild .......................................... 469 2. Garantenstellung der Aufsichtsratsmitglieder ................ 470 3. Mögliche Strafbarkeit wegen Untreue.................................... 474

Schrifttum: Arbeitskreis „Externe und Interne Überwachung der Unternehmung“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V., Köln (AKEIÜ), Leitlinien zur Dynamisierung von Corporate-Governance-Systemen auf der Basis des neuen Three-LinesModells, DER BETRIEB 2021, 1757; Betriebswirtschaft e. V., KölnBachmann, Interne Ermittlungen – ohne Grenzen?, ZHR 180 (2016), 563; Baur/Holle, Compliance-Defense

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung bei der Bußgeldbemessung und ihre Einpassung in das gesellschaftsrechtliche Pflichtenprogramm, NZG 2018, 14; Bergwitz, Zurückbehalten von Geschäftsunterlagen – Wahrnehmung berechtigter Interessen oder Kündigungsgrund?, NZA 2018, 333; Bittmann/ Molkenbur, Private Ermittlungen, arbeitsrechtliche Aussagepflicht und strafprozessuales Schweigerecht, wistra 2009, 373; Brand/Petermann, Die Auswirkungen der „AUB-Rechtsprechung“ auf die Untreuehaftung des Aufsichtsrates, WM 2012, 62; Breßler/Kuhnke/ Schulz/Stein, Inhalte und Grenzen von Amnestien bei Internal Investigations, NZG 2009, 721; Brink/Schwab, Die private E-Mail-Nutzung am Arbeitsplatz, ArbRAktuell 2018, 111; von Busekist/Hein, Der IDW PS 980 und die allgemeinen rechtlichen Mindestanforderungen an ein wirksames Compliance Management System (1) – Grundlagen, Kultur und Ziele, CCZ 2012, 41; von Busekist/Keuten, Zur Errichtung eines Compliance-Ausschusses im Aufsichtsrat, CCZ 2016, 119; Bülte, Die Beschränkung der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten, NZWiSt 2012, 176; Bürgers, Compliance in Aktiengesellschaften – Arbeitsteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat sowie innerhalb der Organe, ZHR 179 (2015), 173; Cohen/Holland, Fünf Punkte, die ausländische Unternehmen über den United States Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) wissen sollten, CCZ 2008, 7; Dreher, Antikorruptionsuntersuchungen durch den Aufsichtsrat, in; Festschrift für Wulf Goette zum 65. Geburtstag, 2011, S. 43; Drinhausen, Unabhängige Untersuchung durch Sachverständige, ZHR 179 (2015), 226; Eufinger, Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG und Compliance, ZIP 2018, 615; Fissenewert, Compliance für den Mittelstand, NZG 2015, 1009; Fleischer, Aktienrechtliche CompliancePflichten im Praxistest: Das Siemens/Neubürger-Urteil des LG München I, NZG 2014, 321; Fleischer, Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung im Aktienrecht, NZG 2003, 449; Frank/Vogel, Beschlagnahmefreiheit für Unterlagen anwaltlicher Compliance-Ombudspersonen, NStZ 2017, 313; Fritz/Nolden, Unterrichtungspflichten und Einsichtsrechte des Arbeitnehmers im Rahmen von unternehmensinternen Untersuchungen, CCZ 2010, 170; Fuhrmann, Zulässigkeit von Mitarbeiterbefragungen durch den Aufsichtsrat, Der Aufsichtsrat 2017, 24; Fuhrmann, Internal Investigations: Was dürfen und müssen die Organe beim Verdacht von Compliance Verstößen tun?, NZG 2016, 881; Fuhrmann, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats beim Verdacht von Compliance-Verstößen, AG 2015, R328; Ghassemi-Tabar/Pauthner, Präventive Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und deren Umsetzung, Der Aufsichtsrat 2016, 174; Ghassemi-Tabar/Probst, FISG: Das Wichtigste aus Sicht von Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss, Der Aufsichtsrat 2021, 82; Göpfert/ Merten/Siegrist, Mitarbeiter als „Wissensträger“ – Ein Beitrag zur aktuellen ComplianceDiskussion, NJW 2008, 1703; Goette, Compliance-Management-Systeme und Compliance Due Diligence, DStR 2021, 1238; Goette, Organisationspflichten in Kapitalgesellschaften zwischen Rechtspflicht und Opportunität, ZHR 175 (2011) 388; Grau/Decheva, Die Konzernrichtlinie zur effektiven Handhabung von Matrixorganisationen, DB 2021, 131; Grau/Meshulam/Blechschmidt, Der „lange Arm“ des US-Foreign Corrupt Practices Act: unerkannte Strafbarkeitsrisiken auch jenseits der eigentlichen Korruptionsdelikte, BB 2010, 652; Greco/Caracas, Internal Investigations und Selbstbelastungsfreiheit, NStZ 2015, 7; Groß/Wenzl, Internal Investigations und Steuerstrafverfahren, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97; Grützner, Unternehmensstrafrecht vs. Ordnungswidrig-keitenrecht, CCZ 2015, 56; Grützner/Behr, Die Haftung von Compliance Officer, Vorstand und Aufsichtsrat bei Rechtsverstößen von Mitarbeitern, DB 2013, 561; Grunewald, Interne Aufklärungspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 2013, 841; Haag/Bindschädel, Das idealtypische Compliance Risk Assessment – Teil 1, CB 2021, 64; Haag/Bindschädel, Das idealtypische Compliance Risk Assessment – Teil 2, CB 2021, 112; Haefcke, Beschlagnahmefähigkeit der Interviewprotokolle einer Internal Investigation, CCZ 2014, 39; Hauschka, Fünf Jahre Siemens-Entscheidung des LG München I, CCZ 2018, 159; Herrmann/Zeidler, Arbeitnehmer und interne Untersuchungen – ein Balanceakt, NZA 2017, 1499; Hoffjan/Winter/Bartosch, Etablierung eines funktionierenden Richtlinienmanagements in mittelständischen Unternehmen, BB 2021, 428; Hoffmann/Schieffer, Pflichten des Vorstands bei der Ausgestaltung einer ordnungsgemäßen Compliance-Organisation, NZG 2017, 401; Hugger, Unternehmensinterne Untersuchungen – Erfahrungen

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung und Standards, ZHR 179 (2015), 214; Hugger/Röhrich, Der neue UK Bribery Act und seine Geltung für deutsche Unternehmen, BB 2010, 2643; Jüttner, Die 42 der Compliance – Das Kriterium der Wirksamkeit eines Compliance Management Systems, CCZ 2018, 168; Julius, Das eLearning ist tot – es lebe das eLearning, CCZ 2018, 179; Jungo-Brüngger/ Kaufmann/Kremer, Compliance: Unternehmerische Herausforderung mit weitreichender Verantwortung, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 2/2017, S. 4; Kark, Die Zero-ToleranceRegel Aus der Bronx in die Welt der Unternehmen, CCZ 2012, 180; Kasiske, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafprozess, JuS 2014, 15; Kasiske, Mitarbeiterbefragungen im Rahmen interner Ermittlungen – Auskunftspflichten und Verwertbarkeit im Strafverfahren, NZWiSt 2014, 262; Kaufmann, Compliance ist eine Frage der Haltung, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 2/2017, 8; Klengel/Buchert, Zur Einstufung der Ergebnisse einer „Internal Investigation“ als Verteidigungsunterlagen im Sinne der §§ 97, 148 StPO, NStZ 2016, 383; Klengel/Mückenberger, Internal Investigations – typische Rechts- und Praxisprobleme unternehmensinterner Ermittlungen, CCZ 2009, 81; Klose, Aktuelle Entwicklungen des Wirtschaftsstrafrechts für die gerichtliche und die staatsanwaltschaftliche Praxis, NZWiSt 2018, 11; Knauer, Interne Ermittlungen (Teil II) – Konkrete Fragen der Durchführung, ZWH 2012, 81; Köhler/Häferer, Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats im Zusammenhang mit Compliance-Systemen, GWR 2015, 159; Kordt, Die Untersuchung von Compliance-Verstößen, Diss. 2016; Kort, Informationsrechte des Betriebsrats nach § 80 II BetrVG bei Mitarbeitergesprächen, Zielvereinbarungen und Talent Management, NZA 2015, 520; Kort, Compliance-Pflichten von Vorstandsmitgliedern und Aufsichtsratsmitgliedern, in: Festschrift Klaus J. Hopt, Band 1, 2010, S. 983; Kottek, Unternehmensinterne ComplianceErmittlungen, wistra 2017, 9; Krause, Strafrechtliche Haftung des Aufsichtsrats, NStZ 2011, 57; Kremer/Klahold, Compliance-Programm in Industriekonzernen, ZGR 2010, 113; Krug/ Skoupil, Befragungen im Rahmen von internen Untersuchungen – Vorbereitung, Durchführung und Umgang mit den Ergebnissen, NJW 2017, 2374; Kuntz, Sorgfaltspflicht und Business Judgement Rule, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 2/2017, S. 37; Leisinger, Andere Länder, andere Sitten – gleiche Compliance-Regeln? DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 30; Lochen, Risikoanalyse, CCZ 2017, 92; Lüneborg/Resch, Die Ersatzfähigkeit von Kosten interner Ermittlungen und sonstiger Rechtsberatung im Rahmen der Organhaftung, NZG 2018, 209; Lutter, Aufsichtsrat und Sichtung der Legalität im Unternehmen, in: für Uwe Hüffer zum 70. Geburtstag, 2010, S. 617; Matthey/Schreiner, „Horizontale“ Compliance-Risikoanalyse und DICO Risikokathalog, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 10; Mengel, Internal Investigations – Arbeitsrechtliche Lessons Learned und Forderungen an den Gesetzgeber, NZA 2017, 1494; Mengel/Ullrich, Arbeitsrechtliche Aspekte unternehmensinterner Investigations, NZA 2006, 240; Miege, Einrichtung eines Hinweisgebersystems, CCZ 2018, 45; Miege, Sanktionierung von Mitarbeitern, CCZ 2017, 283; Modlinger/Richter, Der UK Bribery Act 2010 – Risiken auch für deutsche Unternehmen, ZRFC 2011, 16; Momsen, Volkswagen, Jones Day und interne Ermittlungen – Zur Zukunft strafrechtlicher Vertretung von Unternehmen in Deutschland, NJW 2018, 2362; Momsen/Grützner, Verfahrensregeln für interne Ermittlungen, DB 2011, 1792; Moosmayer/Grützner, Compliance & Investigations im Jahr 2025 – „Wirksame Compliance erfordert ganzheitliche Ansätze“, CCZ 2021, 288; Moosmayer, Modethema oder Pflichtprogramm guter Unternehmensführung? – Zehn Thesen zu Compliance, NJW 2012, 3013; Mülbert/Sajnovits, Der Aufschub der Ad-hoc-Publizitätspflicht bei Internal Investigations – Teil I –, WM 2017, 2001 ff.; Mülbert/Sajnovits, Der Aufschub der Ad-hoc-Publizitätspflicht bei Internal Investigations – Teil II –, WM 2017, 2041 ff.; Nietsch, Überwachungspflichten bei Kollegialorganen – Die Selbstorganisation des Vorstands im Schnittfeld zwischen Corporate Governance und Compliance, ZIP 2013, 1449; Niggemann, Aktuelle Entwicklungen zum Wettbewerbsregister, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 59; Pampel, Die Bedeutung von Compliance-Programmen im Kartellordnungswidrigkeitenrecht, BB 2007, 1636; Pauthner/Ghassemi-Tabar, Compliance-Überwachung durch den Aufsichtsrat, 2018; Pauthner/Ghassemi-Tabar, Aufgaben des Aufsichtsrats im Rahmen interner Compliance-Untersuchungen, Der Aufsichtsrat 2017, 21; Potinecke/Gottschalk, Die Rolle des Aufsichtsrats bei der betrieblichen Aufklä-

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung rung von Compliance-Verstößen, CB 2015, 444; Proll-Grewe, Compliance-Kommunikation, CCZ 2017, 143; Raum, Überbürdung strafrechtlicher Risiken auf Compliance-Beauftragte, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 65; Reichert, Corporate Compliance und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 943; Reichert/Ott, Die Zuständigkeit von Vorstand und Aufsichtsrat zur Aufklärung von Non Compliance in der AG, NZG 2014, 241; Reinhard, Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei der Implementierung von Unternehmens-, insbesondere Verhaltensrichtlinien, NZA 2016, 1233; Remberg, Compliance im Mittelstand – Was muss jetzt getan werden?, CCZ 2021, 93; Röß, Die Auskunftspflicht von Arbeitnehmern bei der Aufklärung einer Straftat durch den Arbeitgeber, NZA 2021, 675; Rosskopf, in: Ruhmannseder/ Lehner/Beukelmann, Compliance aktuell, 5. Heft 11/2016, II. Der Foreign Corrupt Practices Act; Rudkowski, Die Aufklärung von Compliance-Verstößen durch „Interviews“, NZA 2011, 612; Rübenstahl, Der Foreign Practices Act (FCPA) der USA (Teil 1), NZWiSt 2012, 401; Rübenstahl, Der Foreign Practices Act (FCPA) der USA (Teil 2), NZWiSt 2013, 6; Rübenstahl, Der Foreign Practices Act (FCPA) der USA (Teil 4), NZWiSt 2013, 281; Rübenstahl, Der Foreign Practices Act (FCPA) der USA (Teil 5), NZWiSt 2013, 367; Rübenstahl/Debus, Strafbarkeit verdachtsabhängiger E-Mail- und EDV-Kontrollen bei Internal Investigations?, NZWiSt 2012, 129; Sassenberg/Mantz, Die (private) E-MailNutzung im Unternehmen, BB 2013, 889; Scheben/Geschonneck/Klos, Unternehmensinterne Ermittlungen im Rahmen datenschutzrechtlicher Grenzen, ZHR 179 (2015), 240; von Schenck, Die laufende Information des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft durch den Vorstand, NZG 2002, 64; Schieffer/Ide, Compliance-Herausforderungen bei der Erschließung neuer Märkte, CCZ 2017, 281; Schieffer, Ein verständliches ComplianceRegelwerk, oder: wie sage ich’s den Mitarbeitern?, CCZ 2017, 47; Schneider, Konflikte zwischen Unternehmensleitung und Aufsichtsrat über die Compliance, ZIP 2016, 70; Schneider/Schneider, Konzern-Compliance als Aufgabe der Konzernleitung, ZIP 2007, 2061; Schoch/Kumar, Der neue Entwurf eines Hinweisgeberschutzgesetzes, CB 2022, 181; Schockenhoff, Geheimhaltung von Compliance-Verstößen, NZG 2015, 409; Schrader/ Mahler, Interne Ermittlungen des Arbeitgebers und Auskunftsgrenzen des Arbeitnehmers, NZA-RR 2016, 57 (64); Schürrle/Olbers, Praktische Hinweise zu Rechtsfragen bei eigenen Untersuchungen im Unternehmen, CCZ 2010, 178; Schulze, Vermeidung von Haftung und Straftaten auf Führungsebene durch Delegation, NJW 2014, 3484; Schwerdtfeger, Gesellschaftsrechtliche Ausgestaltung der Rechte und Pflichten des GmbH-Aufsichtsrats als Grundentscheidung für die strafrechtliche Risikoexposition seiner Mitglieder, NZG 2017, 455; Schwerdtfeger, Strafrechtliche Pflicht der Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft zur Verhinderung von Vorstandsstraftaten, Diss. 2016; Seibt/ Cziupka, Rechtspflichten und Best Practices für Vorstands- und Aufsichtsratshandeln bei der Kapitalmarktrecht-Compliance, AG 2015, 93; Seibt/Cziupka, 20 Thesen zur Compliance-Verantwortung im System der Organhaftung aus Anlass des Siemens/NeubürgerUrteils, DB 2014, 1598; Siegler, Wie ein FCPA-Verstoß vermieden werden kann, wenn ein Geschäftspartner „ausländischer Amtsträger“ wird, CCZ 2014, 186; Siepelt/Pütz, Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats, CCZ 2018, 78; Simon/Merkelbach, Organisationspflichten des Vorstands betreffend das Compliance-System – der NeubürgerFall, AG 2014, 318; Soong/Ochs, GRC: Ein koordiniertes und ganzheitliches Complianceund Risk-Management-Modell, CB 2021, 61; Stammwitz, Kehrtwende: 10. GWB-Novelle erkennt „Compliance Defence“ im Kartellbußgeldrecht an, CB 2021, 191; Stück, Compliance und Mitbestimmung, ArbRAktuell 2015, 337; Troßbach, Steigende Compliance-Erwartungen und unternehmerisches Risiko oder das Bett des Prokrustes, CCZ 2021, 121; Toma, Arbeitsrechtliche Grundlagen interner Ermittlungen, Compliance-Berater 2017, 339; Umnuß, Corporate Compliance Checklisten, 3. Aufl., 2017; van Wijngaarden/Egler, Der Beschlagnahmeschutz von Dokumenten aus unternehmensinternen Untersuchungen, NJW 2013, 3549; Veit, (Strafbarkeits-)Risiken bei der Durchführung von E-Searches, NZWiSt 2015, 334; Vetter, Zur Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats in eigenen Angelegenheiten, Liber Amicorum für Martin Winter, S. 701 ff.; Vogt, Compliance und Investigations – Zehn Fragen aus Sicht der arbeitsrechtlichen Praxis, NJOZ 2009, 4206;

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Vorbemerkung: Compliance als Bestandteil guter Corporate Governance Wagner, „Internal Investigations“ und ihre Verankerung im Recht der AG, CCZ 2009, 8; Walther/Zimmer, Haftung deutscher Unternehmen nach dem UK Bribery Act, RIW 2011, 199; Weigand/Hoven, Der Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes, ZRP 2018, 30; Weiss, Foreign Corrupt Practices Act: Der Begriff der „Behörde“ und die damit einhergehende Ausdehnung der Strafbarkeit – Zugleich Besprechung von United States v. Esquenazi, HRRS März 2016 (3/2016), 156; Weiß, Haftungsfalle Korruption – Unternehmensstrafbarkeit, Sanktionen und Best Practice gemäß UK-Bribery Act 2010, ZWH 2014, 289; Weiß, Compliance der Compliance – Strafbarkeitsrisiken bei Internal Investigations, CCZ 2014, 136; Wenzl, Die Datenlieferungsvereinbarung, NStZ 2021, 395; Werner, Die Compliance-Aufgabe des Aufsichtsrats, ZWH 2014, 449; Wettner/Mann, Informationsrechte und Informationspflichten bei internen Untersuchungen, DStR 2014, 655; Wimmer, Ermittlungsmaßnahmen gegen Konzerne: Die Regelungen der Strafprozessordnung als adäquate Ermächtigung zum Eingriff in die Grundrechte juristischer Personen?, NZWiSt 2017, 252; Winter, Die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats für „Corporate Compliance“, in: Festschrift Uwe Hüffer zum 70. Geburtstag, 2010, S. 1103; Wisskirchen/ Glaser, Unternehmensinterne Untersuchungen (Teil 1), DB 2011, 1392; Wisskirchen/Glaser, Unternehmensinterne Untersuchungen (Teil 2), DB 2011, 1447; Wybitul/Böhm, Beteiligung des Betriebsrats bei Ermittlungen durch Unternehmen, RdA 2011, 362; Wybitul/ Böhm, E-Mail-Kontrollen für Compliance-Zwecke und bei internen Ermittlungen, CCZ 2015, 133.

Vorbemerkung: Compliance als Bestandteil guter Corporate Governance „Kein ernst zu nehmender Manager zweifelt mehr an der Aussage, dass gute 1 Unternehmensführung ohne Compliance nicht funktionieren kann.“1) Die Compliance-Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat ist heute unbestritten. Auch die Anforderungen an eine Compliance-Organisation bzw. die Bestandteile eines Compliance-Management-Systems (CMS) sind inzwischen durch verschiedene kodifizierte Standards, dem Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) sowie durch Rechtsprechung und (Spezial-)Literatur hinreichend konkretisiert. Die aus der Sicht von Compliance-Verantwortlichen entscheidende Frage ist jedoch, wie sie ihre Compliance-Pflicht in der Praxis wirksam umsetzen müssen, um eine Haftung zu vermeiden sowie den Erwartungen/Anforderungen von Geschäftspartnern und/oder Investoren zu genügen. Einen komprimierten Überblick über die Compliance-Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, ihre wirksame Umsetzung in der Praxis sowie mögliche Haftungsrisiken bei Compliance-Verstößen zu geben, ist Gegenstand der nachstehenden Ausführungen. Die hierbei aufgeführten Erfordernisse, Empfehlungen, Wirksamkeitskriterien und Umsetzungsbeispiele sind als allgemeine Leitlinien für eine Vielzahl von Unternehmen gedacht. Da jedes Unternehmen unterschiedliche compliance-relevante Merkmale und Parameter aufweist, bedürfen die Ausführungen stets der fachgerechten unternehmensspezifischen Übersetzung, Anpassung und Ergänzung im Einzelfall.

___________ 1)

So Dr. Donatus Kaufmann, Vorstand Recht & Compliance bei der thyssenkrupp AG, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 8.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

2 Compliance-Umsetzung ist nicht primär ein Rechtsthema. Das Kompetenzprofil von Compliance-Verantwortlichen setzt vielmehr ein breites Verständnis für das operative Geschäft des Unternehmens und die Branche voraus.2) Denn zentrale Grundlage eines wirksamen CMS ist die fachgerechte Feststellung der tatsächlich vorhandenen operativen Compliance-Risiken des Unternehmens (zur Risikoanalyse Æ Rz. 109 ff.). Erst die wirksame Erfassung der ComplianceRisiken ermöglicht eine zutreffende rechtliche und betriebswirtschaftliche Bewertung und Priorisierung sowie die Implementierung risikoadäquater Risikominimierungsmaßnahmen (zur Übersetzung der Ergebnisse der Risikoanalyse in wirksame Risikominimierungsmaßnahmen Æ Rz. 156 ff.). 3 Festzuhalten ist also: Nur ein Unternehmen, das seine Risiken genau kennt und realistisch einschätzt, kann ein auf die Unternehmensrealität abgestimmtes, d. h. risikospezifisches und damit wirksames CMS entwickeln. Die vollständige Erfassung der Compliance-Risiken stellt für den Vorstand eine große Herausforderung dar. Gründliche Risikoanalysen sind mit Aufwand verknüpft. Denn die Compliance-Risiken für Unternehmen (und dementsprechend die Anforderungen an das Compliance-Management) sind mannigfaltig und in den letzten Jahren ständig gestiegen.3) Hinzu kommen die internationalen ComplianceErwartungen, etwa der UKBA (Æ Rz. 342 ff.) und der FCPA (Æ Rz. 348 ff.), die beide exterritoriale Reichweite haben und somit auch auf deutsche Unternehmen Anwendung finden können. Zudem reicht es nicht aus, lediglich ein CMS zu konzipieren. Es muss auch in allen relevanten Unternehmensbereichen und -prozessen integriert und dauerhaft „gelebt“4) werden (Æ Rz. 192 f.). 4 Schließlich ist es mit der einmaligen Identifikation der Compliance-Risiken sowie dem Implementieren entsprechender CMS-Maßnahmen nicht getan. Denn die Compliance-Risiken für Unternehmen werden auch in Zukunft weiter zunehmen. Hintergrund ist zunächst die kontinuierliche Zunahme der Komplexität des regulatorischen Umfelds. Jüngstes Beispiel ist das am 11.6.2021 vom Bundestag verabschiedete Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), welches am 1.1.2023 in Kraft getreten ist und die Unternehmen vor enorme Herausforderungen stellt. Nach dem Ergebnis der Bundestagswahlen am 26.9.2021 ist zudem zu erwarten, dass das Verbandssanktionengesetz (VerSanG, dazu Æ § 24) wieder auf die Agenda der neuen Bundesregierung kommt. Im Kontext neuer Compliance-Herausforderungen zu nennen sind weiterhin die bereits bekannten, aber bei weitem noch nicht abgeschlossenen Mega-Trends wie die Digitalisierung, Automatisierung und Dekarbonisierung.5) Auch bringt die Erschlie___________ 2) 3) 4) 5)

Jungo-Brüngger/Kaufmann/Kremer, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 4. Vgl. dazu etwa: Troßbach, CCZ 2021, 121. Matthey/Schreiner, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 10. Jungo-Brüngger/Kaufmann/Kremer DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 4; Ghassemi-Tabar/Pauthner, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 1.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

ßung neuer Märkte – vor allen in Schwellen- und Entwicklungs-Länder – neue Compliance-Risiken mit sich.6) Compliance ist daher ein fortwährender Prozess: Es bedarf eines kontinuierlichen Monitorings der sich verändernden Risken und der entsprechenden Anpassung der CMS-Maßnahmen bei Bedarf (Æ Rz. 196 f.). Dabei ist Compliance längst nicht mehr nur ein Thema für große börsennotierte 5 Unternehmen, sondern ebenso für den Mittelstand.7) Freilich existieren bei der Compliance-Umsetzung erhebliche Unterschiede. Die Compliance-Risikoprofile der Unternehmen sind so unterschiedlich wie die Unternehmen selbst. Ein CMS-Aufbau nach standardisierten Compliance-Checklisten ist daher nicht wirksam möglich (Æ Rz. 17 und 25 ff.). Vielmehr gilt für den Vorstand bei der Errichtung eines CMS der Grundsatz der Risikoindividualität8) (Æ Rz. 52 ff.). Daneben hat er zu beachten, dass ihm bei der Ausgestaltung des CMS ein haftungsfreier Ermessensspielraum im Sinne der Business Judgement Rule (BJR) zusteht (Æ Rz. 76 ff.). A.

Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

I.

Grundlagen

1.

Begrifflichkeiten

Compliance beschreibt zunächst die schlichte Verpflichtung des Vorstands sich 6 selbst gesetzestreu zu verhalten, d. h. die unmittelbar an ihn selbst (bzw. an seine einzelnen Mitglieder) gerichteten Rechtspflichten zu beachten, beispielsweise die Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO (Æ § 12 Rz. 25 f.). Man spricht insoweit von der sog. Legalitätspflicht.9) Von der Legalitätspflicht als eigene Rechtstreue begrifflich unterschieden wird die sog. Legalitätskontrollpflicht. Damit wird die Pflicht des Vorstands umschrieben, aktiv Vorkehrungen gegen Gesetzesverstöße Dritter, namentlich der Mitarbeiter auf unteren Unternehmensebenen, zu treffen.10) Der Vorstand hat vor allem dafür zu sorgen, dass die an die Gesellschaft als juristische Person adressierten Gesetzesnormen eingehalten werden, beispielsweise solche des Kapitalmarktrechts (Æ § 10), des Aufsichtsrechts (Æ § 11), des Steuerrechts (Æ § 14) oder des Kartellrechts

___________ 6) Vgl. dazu Schieffer/Ide, CCZ 2017, 281 f. 7) Vgl. Remberg, CCZ 2021, 93 mit einem m. E. wunderbaren Plädoyer für Compliance im Mittelstand, wobei auch er zu Recht feststellt, dass der Mittelstand bei der Umsetzung von Compliance-Maßnahmen noch deutlich „hinterherhinkt“. 8) Troßbach, CCZ 2021, 121 (122): „Risikomanagement […] bedarf immer eines individuellen Ansatzes.“ 9) BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, ZIP 2012, 1552 = NJW 2012, 3439 (Rz. 22); Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, G 5 Rz. 14. 10) Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (402); Koch, § 93 Rz. 17; Kremer/Bachmann/ Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, G 5 Rz. 14.

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(Æ § 15). Diese Legalitätskontrollpflicht ist regelmäßig gemeint, wenn von der Compliance-Pflicht des Vorstands die Rede ist.11) 7 Compliance verstanden als Legalitäts- und/oder Legalitätskontrollpflicht ist jedoch zu kurz gegriffen. Denn in der bloßen Gesetzestreue erschöpft sich die Bedeutung von Compliance nicht. Compliance umfasst vielmehr nicht nur Konformität der Organe und Mitarbeiter des Unternehmens mit in- und ausländischen Gesetzesvorschriften, sondern gleichermaßen mit Selbstverpflichtungen in Form interner Regularien, wie Richtlinien (oder Policies), Verhaltenskodizes und Qualitätsanforderungen, die zur Erreichung der gesetzten Unternehmensziele geschaffen werden (zu internen Regularien Æ Rz. 177 ff.). Daher sind in den vergangenen Jahren neben die „klassischen“ Themenfelder wie Korruption, Kartellrecht oder Geldwäsche neue Compliance-Themenfelder in den Vordergrund gerückt.12) So ist beispielsweise das Thema Nachhaltigkeit in jüngster Zeit auch im Compliance-Kontext enorm in den Fokus geraten. Rechtskonformität und Haftungsvermeidung sind das Minimum. Aufgeklärte Vorstände wollen darüber hinaus sicherstellen, dass die proklamierten Unternehmenswerte auch gesellschaftliche Erwartungen und Anstandsregeln berücksichtigen.13) Denn auch diese Faktoren sind für den Wert eines Unternehmens von enormer Bedeutung. 8 Unter Compliance-Management-System (CMS) kann die Gesamtheit aller organisatorischen Maßnahmen und Prozesse verstanden werden, die der Vorstand implementieren, steuern und beaufsichtigen muss, um die individuellen Compliance-Risiken im Unternehmen zu identifizieren, Verstöße durch Organe und Mitarbeiter zu minimieren (präventiv) und Pflichtverstöße schnell und effektiv aufzuklären, abzustellen und zu sanktionieren (reaktiv).14) ComplianceManagement ist somit sowohl präventives als auch reaktives Risikomanagement. Präventives und reaktives CMS-Management sind untrennbar miteinander verknüpft: So kann der Vorstand im Rahmen der präventiven CMS-Maßnahmen eine Investigation-Policy (Æ Rz. 224 f.) konzipieren, um in einem möglichen künftigen Verdachtsfall vorbereitet zu sein und unverzüglich die notwendigen reaktiven Maßnahmen einleiten zu können; umgekehrt gehört zu jeder internen Untersuchung auch die Behebung etwaiger festgestellter Defizite des CMS (sog. Remediation, Æ Rz. 316), so dass eine interne Untersuchung stets auch ___________ 11) Goette, ZHR 175 (2011), 388 (391); MünchHdb GesR IV/Wiesner, § 25 Rz. 39 f. 12) Instruktiv zur Weiterentwicklung von Compliance & Investigations: Moosmayer/Grützner, CCZ 2021, 288 f. 13) Leisinger, DB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 30 (32); Mahlert, Herausgeberkommentar, Der Aufsichtsrat 11/2017, 153. 14) Jüttner, CCZ 2021, 1 (2) formuliert es so: Ein CMS kann „als planerisch systematischer Ansatz verstanden werden, der die Einhaltung des Legalitätsprinzips (in besonderen Risikobereichen) durch Regeln, Prozessabläufe sowie einer Organisations-, Dokumentations- und Kommunikationskultur sicherstellt.“

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

präventive Aspekte enthält. Man spricht insgesamt von der Compliance-Organisationspflicht des Vorstands. 2.

Rechtspflicht zur Compliance und Folgerungen für die Praxis

Eine ausdrückliche Forderung nach standardisierter und einzelfallunabhängiger 9 Errichtung einer Compliance-Organisation existiert bislang nicht, auch wenn vereinzelt in branchenspezifischen Sonderregelungen eine Compliance-Funktion gefordert wird, etwa in 

§ 80 Abs. 1 WpHG (Wertpapierdienstleistungsunternehmen),



§ 25a Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 c) KWG (Kreditinstitute) und



§ 29 VAG (Versicherungsunternehmen),

sowie in den diese ausfüllenden untergesetzlichen Regelwerken, etwa dem BaFinRundschreiben über „Mindestanforderungen an die Compliance“ (MaComp15)) und „Mindestanforderungen über das Risikomanagement“ (MaRisk16)). Eine Ausstrahlungswirkung der spezialgesetzlichen Compliance-Vorschriften auf das Aktienrecht ist nach richtiger Auffassung abzulehnen.17) Auch die Verwaltungsanweisungen der BaFin gelten nicht für alle Aktiengesellschaften; sie mögen zur Orientierung im Einzelfall hilfreich sein, leisten jedoch keine Gewähr, dass der Vorstand damit in jedem Fall seine Compliance-Organisationspflicht erfüllt hat (kein „safe harbour“).18) Das AktG enthält keine ausdrückliche Compliance-Regelung. Allerdings ent- 10 hält der im Zuge des FISG19) zum 1.7.2021 neu eingeführte § 91 Abs. 3 AktG für börsennotierte Gesellschaften die explizite Verpflichtung zur Einführung eines im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems (IKS) und Risikomanagementsystems (RMS). Hieraus können auch Folgerungen mit Blick auf das CMS abgeleitet werden: Zunächst wird CMS als Teil des IKS angesehen20); darüber hinaus ist mit RMS i. S. d. § 91 Abs. 3 AktG ein umfassendes (und nicht bloß bestandsgefährdende Risiken umfassendes) RMS gemeint21), das die vollständige Erfassung und Bewertung aller unternehmensrelevanten Risiken erfordert, mithin auch der Compliance-Risiken. § 91 Abs. 3 AktG kann ___________ 15) Die zuletzt aktualisierte Form vom 10.8.2021 (Rundschreiben 05/2018) bestimmt in BT 1.1 und 1.2 die Stellung sowie die Aufgaben der Compliance-Funktion. 16) Die zuletzt aktualisierte Form vom 7.9.2021 (Rundschreiben 10/2021) bestimmt in AT 4.4.2 die Mindestaufgaben der Compliance-Funktion. 17) Statt Aller und ausführlich: Kordt, S. 33 ff. 18) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, G5 Rz. 23. 19) Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz). 20) Hölter/Weber/Müller-Michaels, § 91 Rz. 10. 21) Koch, § 76 Rz. 14; vgl. auch MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 21.

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somit als normative Grundlage für die Compliance-Pflicht herangezogen werden. Die wohl überwiegende Auffassung22) stellt bislang auf die aktienrechtlichen Normen in §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG ab, andere23) ziehen §§ 30, 130, 9 OWiG heran. Letztlich kann die dogmatische Frage nach der gesetzlichen Grundlage in der Praxis dahinstehen. Denn die grundsätzliche Compliance-Verantwortung des Vorstands ist heute unbestritten und kommt für börsennotierte Gesellschaften in Grds. 5 DCGK 202224) zum Ausdruck.25) 11 In der Literatur liest man regelmäßig, es bestünde keine generelle Pflicht zur Vorhaltung einer eigenen Compliance-Funktionseinheit oder eines umfassenden „institutionalisierten“ bzw. „standardisierten“ CMS.26) Die negative Formulierung ist aus zwei Gründen unpraktikabel: 1) Sie kann Unternehmen bzw. Vorstände zu der Annahme verleiten, im Einzelfall überhaupt keine CMS-Maßnahmen veranlassen zu müssen, was unzutreffend ist. 2) Der Praxis ist mit der negativen Formulierung der h. M. nicht geholfen. Unternehmen wollen nicht wissen, wozu sie im Compliance-Bereich generell nicht verpflichtet sind. Vielmehr wollen sie positiv wissen, was sie konkret tun müssen, um ihre Compliance-Pflicht ordnungsgemäß zu erfüllen und auf diese Weise eine Haftung zu vermeiden. 12 Nach der hier vertretenen Auffassung gilt (positiv formuliert) Folgendes: Jeder Vorstand hat die Pflicht zur Vorhaltung eines wirksamen CMS.27) Dies gilt unabhängig von der Größe und der Komplexität des Unternehmens. Compliance ist nicht eine Frage der Unternehmensgröße, sondern der Risikolage.28) Hieraus folgt für die Praxis konkret: 13 Dass der Vorstand grundsätzlich verpflichtet ist, Rechtsverstöße innerhalb des Unternehmens durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen zu unterbinden, ist unbestritten.29) Um dieser Pflicht ordnungsgemäß nachzukommen, muss der Vorstand zwingend in einem ersten Schritt die in seinem Unterneh___________ 22) Fleischer, NZG 2014, 321 (322) m. w. N.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 35; Koch, § 76 Rz. 12; vgl. ausführlich zur Grundlage der Compliance-Verantwortung Kordt, S. 50 ff. 23) Moosmayer Rz. 10. 24) DCGK in der Fassung vom 28.4.2022. 25) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 48: Die Compliance-Verantwortung des Vorstands gehört zum „gesicherten Bestand des aktienrechtlichen Pflichtenkanons“. 26) Vgl. Koch, § 76 Rz. 13; Hölters/Weber/Hölters, § 93 Rz. 92 („umfassende ComplianceOrganisation“); KK-AktG/Mertens/Cahn, § 91 Rz. 36; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 40; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Hauschka/Moosmayer/Lösler, § 1 Rz. 31; vgl. auch BeckOGKAktG/Fleischer, § 91 Rz. 48. 27) So wohl auch Jüttner, CCZ 2018, 168. 28) So zu Recht: Hauschka, CCZ 2018, 159; vgl. auch Goette, DStR 2021, 1238 (1239). 29) Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2013 – II ZR 90/11, ZIP 2013, 455 (457), Rz. 22; Koch, § 76 Rz. 13; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 50.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

men bestehenden Risiken identifizieren und hinsichtlich ihrer Schadenswirkung bewerten. Nur dann handelt er auf der Grundlage angemessener Information im Sinne der BJR (dazu Æ Rz. 75 ff.). Zudem kann nur sachgerecht identifizierten Risiken durch adäquate Maßnahmen vorgebeugt werden. Hat der Vorstand organisatorische Maßnahmen zur Identifizierung und Minimierung der relevanten Risiken getroffen, dann hat er nach der obigen (Æ Rz. 8) Definition ein wirksames CMS errichtet. Nichts anderes besagt auch Empf. A.2 S. 1 DCGK. Danach soll der Vorstand „für ein an der Risikolage des Unternehmens ausgerichtetes Compliance Management System sorgen“. Gerade in kleinen nicht börsennotierten AGs mit geringer Risikoexposition 14 genügen mitunter bereits wenige und relativ einfache individuelle Maßnahmen mit geringem Formalisierungsgrad, um die relevanten Top-Risiken (Æ Rz. 154) wirksam zu minimieren. Es bedarf also keineswegs immer der Schaffung eines eigenen Compliance-Office; vielmehr kann beispielsweise die Rechtsabteilung oder eine andere ähnlich qualifizierte Stelle im Unternehmen mit den Compliance-Aufgaben betraut werden oder Compliance-Aufgaben können (teilweise) auf einen externen Chief Compliance Officer (CCO) ausgelagert werden. Erst recht ist es nicht erforderlich, sämtliche nach anerkannten Standards (z. B. IDW PS 980) denkbaren CMS-Elemente zu implementieren. Verlangt wird mithin nicht, dass alles, was rechtlich und tatsächlich möglich ist, um jegliche Zuwiderhandlungen gegen Rechtsnormen und interne Regularien zu verhindern, zwingend umgesetzt wird; vielmehr werden nur gebotene und zumutbare Maßnahmen gefordert.30) Es gilt, mit angemessenem wirtschaftlichem Aufwand hinreichend wirksame Risikosteuerungsmaßnahmen zu implementieren (Æ Rz. 157). Auch müssen die implementierten CMS-Elemente in einer kleinen mittelständischen AG nicht annähernd so umfangreich dimensioniert sein wie in einem Großkonzern. Kurzum: Nicht alles, was die Großunternehmen machen, ist auch für mittelständische Unternehmen geeignet.31) Beispiel: Eine kleine, national tätige AG mit einer dreistelligen Mitarbeiterzahl benötigt in 15 aller Regel kein komplexes und kostspieliges elektronisches Whistleblowing-System mit automatischer Übersetzungsfunktion in 28 Sprachen. Stattdessen kann beispielsweise eine externe Ombudsperson32), ein Mitglied der Leitungsebenen oder der Leiter Recht als Kontaktperson für Hinweise auf Fehlverhalten fungieren.“ Ab welchem Punkt der Ausdifferenzierung der einzelnen Maßnahmen und Pro- 16 zesse von einem „institutionalisierten“ oder „standardisierten“ CMS oder einer Compliance-Organisation gesprochen werden kann, ist letztlich Definitions___________ 30) Vgl. auch Jüttner, CCZ 2018, 168. 31) So zu Recht: Remberg, CCZ 2021, 93 (95). 32) Zur rechtlichen Einordnung, Aufgaben, Rechte und Pflichten externer Ombudspersonen Bürkle/Hauschka/Buchert, § 10 Rz. 20 ff.

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sache. Die Frage kann aus Sicht der Praxis dahinstehen. Der reine Begriff des CMS sollte nicht überbewertet werden. 17 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die hier vertretene Auffassung („Pflicht zur Errichtung eines wirksamen CMS“) und die der h. M. („keine generelle Pflicht zur Errichtung eines umfassenden standardisierten CMS“) nicht in Widerspruch zueinander stehen. Denn auch nach der hier vertretenen Auffassung besteht keine generelle Pflicht zur Errichtung eines standardisierten CMS. Im Gegenteil: Gerade das schablonenhafte bzw. checklistenartige Implementieren eines CMS birgt die Gefahr der Unwirksamkeit und Unwirtschaftlichkeit des CMS und kann sich damit im Einzelfall sogar haftungserhöhend auswirken. Denn werden organisatorische Kontroll- und Steuerungsmaßnahmen im Unternehmen nicht anhand des individuellen Risikoprofils getroffen, besteht die Gefahr, dass einerseits tatsächlich bestehende Risiken weder identifiziert noch wirksam bekämpft werden, und andererseits aufwendige CMS-Maßnahmen zur Vorbeugung gegen nicht bestehende Risiken veranlasst und entsprechende Ressourcen nutzlos beansprucht werden. Beispiel: 18 Eine unwirksame und unwirtschaftliche Gestaltung von CMS-Maßnahmen liegt etwa vor bei 1) internen Regularien, die zu komplex, zu zahlreich, zu unverständlich und/oder zu juristisch konzipiert wurden33) und nicht mit fokussierten Schulungen kombiniert werden, 2) zu zahlreichen und umständlichen Genehmigungsprozessen, die zudem nicht genügend in die Geschäftsabläufe integriert sind, 3) zu umfangreichen oder zu häufigen Mitarbeiterschulungen, die dazu nicht die konkreten geschäftlichen Bedürfnisse der Risikoeigner als Zielgruppen adressieren und keinen konkreten geschäftsbezogenen Nutzen vermitteln. 19 Nach alledem lässt sich festhalten, dass der Vorstand (unabhängig von der Größe des Unternehmens) zumindest zur Durchführung turnusmäßiger Risikoanalysen zur fachgerechten Feststellung, Bewertung und Priorisierung der ComplianceRisiken im Unternehmen verpflichtet ist (zur Risikoanalyse Æ Rz. 109 ff.). Denn nur eine detaillierte Kenntnis der unternehmensindividuellen Risiken erlaubt, effiziente Maßnahmen zu ihrer Minimierung aufzusetzen.34) Compliance bedeutet also keinesfalls, dass der Vorstand keinerlei Risiken mehr eingehen darf; er muss aber eine realistische Risikoeinschätzung vornehmen und geeignete Maßnahmen zur Kontrolle der Risiken ergreifen.35) Dabei ist zwischen ver___________ 33) Instruktiv dazu: Schieffer, CCZ 2017, 47 ff. 34) Lochen, CCZ 2017, 92. 35) So zu Recht: Troßbach, CCZ 2021, 121 (122).

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

schiedenen gleich wirksamen Risikominimierungsmaßnahmen die Wirtschaftlichste zu wählen. Eine zu komplexe, übermäßig formalisierte und nicht geschäftsnahe CMS-Umsetzung ist nicht nur unwirksam und unwirtschaftlich. Sie führt auch dazu, dass der bloße Begriff CMS bei vielen Unternehmensangehörigen ungerechtfertigte Assoziationen und Befürchtungen auslöst und zur Fehlinterpretation von CMS als geschäftsverhinderndes und kostspieliges „Bürokratiemonster“ führt. Dies wiederum führt dazu, dass die Mitarbeiter das unternehmenseigene CMS nicht akzeptieren und damit nicht „leben“, was weitere Unwirksamkeitsrisiken mit sich bringt. 3.

Haftungsvermeidung durch Compliance

a)

Wirksames Compliance-Management-System als Voraussetzung

Zu den wesentlichen Zielsetzungen der Einrichtung eines CMS zählen nicht nur 20 die Gewährleistung der Befolgung von Gesetzen und sonstigen unternehmensinternen Regularien (Æ Rz. 177 ff.), sondern auch Krisenvorbeugung, Reputationsschutz und Reputationsverbesserung sowie die Erfüllung der Erwartungen von Geschäftspartnern, Investoren und Kreditgebern, Stakeholdern und nicht zuletzt des Aufsichtsrats. Aus der hier maßgeblichen Sicht des Vorstands steht jedoch der Gedanke der 21 Haftungsvermeidung im Vordergrund.36) Bei jedem Pflichtverstoß im Unternehmen stellt sich heute automatisch die Frage, ob dieser Verstoß durch ein unzureichendes CMS und damit durch eine Verletzung der Compliance-Organisationspflicht des Vorstands erst ermöglicht oder zumindest erleichtert wurde. Aufgedeckte Non-Compliance-Fälle sind somit stets mit potentiellen Haftungsrisiken für den Vorstand verbunden (dazu Æ Rz. 355 ff.). Bei Vertretern der Staatsanwaltschaft37), Richtern38) sowie führenden Wissen- 22 schaftlern39) besteht seit langem Einigkeit darüber, dass Compliance-Bemühungen eines Unternehmens zu einer Enthaftung der Unternehmensleitung im Zivil- und Strafrecht sowie zu Vorteilen bei der Bußgeldbemessung im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens führen können. Lediglich das Bundeskartellamt hatte sich lange geweigert, Compliance-Bemühungen bei der Bußgeldbemessung zu berücksichtigen.40) Mit der am 19.1.2021 in Kraft getretenen 10. GWB-Novelle ist auch hier eine Kehrtwende eingetreten.41) Das Gesetz ___________ 36) So auch Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann, G5 Rz. 22; Inderst/Bannenberg/ Poppe/Poppe, Kapitel 1 Rz. 66. 37) OStA Loer/RD Glass, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 48 (49 f.). 38) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Mosbacher, § 5 Rz. 32. 39) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 58; Koch, § 76 Rz. 15b. 40) Vgl. Baur/Holle, NZG 2018, 14 (15 f.); Niggemann, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 59 (64); Pampel, BB 2007 1636 ff. 41) Vgl. dazu Stammwitz, CB 2021, 191.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

stellt – längst überfällig – klar, dass sowohl präventive (vgl. § 81d Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 GWB) als auch reaktive (vgl. § 81d Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 GWB) ComplianceBemühungen bei der Bemessung des Kartellbußgelds zu berücksichtigen sind. 23 Seit dem Urteil des 5. Strafsenats des BGH vom 9.5.201742) ist die Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen bei der Bußgeldbemessung auch höchstrichterlich geklärt. In dem zugrundeliegenden Sachverhalt wurde ein leitender Angestellter und Prokurist eines in Deutschland ansässigen Rüstungsunternehmens erstinstanzlich u. a. wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen das Rüstungsunternehmen als Nebenbeteiligte (§ 30 i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG, § 444 StPO) hatte das Landgericht eine Geldbuße nach § 30 Abs. 1 OWiG i. H. v. 175.000 € festgesetzt. Hintergrund der Verurteilung war eine Bestechungsabrede zwischen der Geschäftsleitung des Unternehmens und dem griechischen Verteidigungsminister. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hat der BGH die gegen die Nebenbeteiligte verhängte Geldbuße aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, u. a. über die Höhe der Geldbuße, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Im Rahmen der Zurückverweisung zur Neuverhandlung der Ordnungswidrigkeit nach § 30 OWiG hat der BGH darauf hingewiesen, dass für die Bemessung der Geldbuße von Bedeutung sei, inwieweit der Vorstand seine „Pflicht, Rechtsverletzungen aus der Sphäre des Unternehmens zu unterbinden, genügt und ein effizientes Compliance-Management installiert hat, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss.“ Dabei kann es – so der BGH weiter – auch eine Rolle spielen, ob das Unternehmen in der Folge des Compliance-Verstoßes und des folgenden Strafverfahrens „entsprechende Regelungen optimiert und ihre betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden.“43) 24 Die Ausführungen des Gerichts lassen erkennen, dass sowohl vor als auch nach dem Rechtsverstoß vorgenommene Maßnahmen zur Einführung oder Optimierung des CMS (sog. Remediation, Æ Rz. 316) bei der Festsetzung der Verbandsgeldbuße berücksichtigt werden sollen.44) Voraussetzung für die haftungsbefreiende bzw. bußgeldmindernde Wirkung ist allerdings das Vorliegen eines wirksamen (!), d. h. dem individuellen Risikoprofil des Unternehmens genügenden CMS, das vom Vorstand und den Mitarbeitern tatsächlich „gelebt“ wird und nicht bloß „auf dem Papier steht“.45) Stellt sich umgekehrt heraus, dass das Unternehmen lediglich über eine „paper-compliance“ mit Feigenblattfunk___________ 42) 43) 44) 45)

BGH, Urt. v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16, ZIP 2017, 2205 = AG 2018, 39. BGH, Urt. v. 9.5.2017 – 1 StR 265/16, ZIP 2017, 2205 = AG 2018, 39 (Rz. 118). So auch Eufinger, ZIP 2018, 615. Eufinger, ZIP 2018, 615 (617); Raum, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 65 (66); Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Mosbacher, § 5 Rz. 32.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

tion verfügt, kann dies bußgelderhöhend berücksichtigt werden.46) Im geschilderten BGH-Fall obliegt nach der Zurückverweisung dem Tatgericht die Beurteilung, ob das von der Nebenbeteiligten eingeführte CMS tatsächlich wirksam ist. Die Darlegungs- und Beweislast für die entsprechenden Tatsachen trägt das Unternehmen. Hierbei kommt der CMS-Dokumentation enorme Bedeutung zu (zur CMS-Dokumentation Æ Rz. 55 ff.). b)

Standardbasierte CMS-Zertifizierungen

Das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. (IDW) hat am 6.12.2022 25 die Neufassung des Prüfungsstandards „Grundsätze ordnungsmäßiger Prüfung von Compliance-Management-Systemen“ (IDW PS 980 n. F.)47) veröffentlicht. Die vom IDW entwickelten Prüfungsstandards sind zwar rechtlich unverbindlich, da der IDW als privater Verein nicht zur Rechtsetzung befugt ist.48) Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich der CMS-Aufbau nach IDW PS 980 n. F. in der Unternehmenswelt inzwischen als Best Practice etabliert und letztlich die Gestalt eines faktisch verbindlichen Standards angenommen hat.49). Dagegen ist m. E. auch nichts einzuwenden, im Gegenteil: Denn der IDW PS 980 n. F. enthält – ähnlich wie vergleichbare internationale Standards (oder ISO 3730150)) – essentielle Grundelemente, die in jedem CMS jedenfalls als Grundprinzip und Grundlage risikospezifischer unternehmensindividueller Umsetzung vorhanden sein müssen und gibt den Unternehmen handhabbare Kriterien zum CMS-Aufbau an die Hand. Wichtig ist für Unternehmen bei Anwendung von Standards stets, die Ein- 26 schränkung im Auge zu behalten, dass die Standards keine Anleitung dafür bieten können und wollen, wie das CMS im Unternehmen konkret aufzubauen und wirksam zu erhalten ist. Denn hier gilt der Grundsatz der Risikoindividualität, die nicht in allgemeine Darstellungen und Beschreibungen zu fassen ist. Es besteht stets die Pflicht der individuellen Risikoanalyse (dazu Æ Rz. 112 ff.) und des individuellen Zuschnitts entsprechender Maßnahmen zur Risikosteuerung.

___________ 46) OStA Loer/RD Glass, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 48 (50). 47) Der Hauptfachausschuss (HFA) des IDW hat den IDW IDW PS 980 vom 11.3.2011 umfassend überarbeitet. 48) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, Grds. 5 Rz. 35. 49) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, Grds. 5 Rz. 24. 50) ISO 37301: Compliance Management Systems – Requirements with guidance for use (First edition 2021-04).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

27 Der Prüfungsstandard IDW PS 980 n. F. zählt sieben Grundelemente auf, die ein angemessenes CMS aufzuweisen hat: 1) Compliance-Kultur: Das Compliance-System sollte die Vorbildfunktion in den Hierarchieebenen deutlich machen. Die Unternehmensleitung sollte mit ihrer Grundeinstellung und ihren Verhaltensweisen Compliance vorleben („tone from the top“). 2) Compliance-Ziele: Damit Risiken erfasst werden können, müssen zunächst die mit dem Compliance-System verfolgten Absichten geklärt werden. 3) Compliance-Risiken: Nach Festlegung der Ziele können darauf aufbauend die Risiken identifiziert und bewertet werden (Risikoanalyse). 4) Compliance-Programm: Aufgrund der Ergebnisse der Risikoanalyse können Prozesse zur Prävention der festgestellten Risiken implementiert werden. 5) Compliance-Organisation: Neben dem Compliance-Programm muss ein ordnungsgemäßer Rahmen mit festen Zuständigkeiten und ausreichender Ressourcenausstattung geschaffen werden. 6) Compliance-Kommunikation: Es muss sichergestellt werden, dass die Informationen über die getroffenen Maßnahmen zu allen Hierarchieebenen durchdringen. 7) Compliance-Überwachung und -Verbesserung: Eine einmalige Befassung mit der Ausgestaltung des Systems genügt nicht. Die implementierten Maßnahmen müssen vielmehr stetig überprüft und angepasst werden. 28 Bei der Prüfung und Zertifizierung eines CMS nach dem IDW PS 980 n. F. ist zwischen den folgenden Prüfungsarten zu unterscheiden51): 29 

Die sog. Angemessenheitsprüfung schließt sich inhaltlich an die zuvor vorgenommene Würdigung der Konzeption an und untersucht die eingerichteten Prozesse und Maßnahmen noch daraufhin, ob sie bei tatsächlicher Befolgung geeignet sind, die mit dem CMS verfolgten Ziele zu erreichen.

30 

Bei der sog. Wirksamkeitsprüfung wird durch entsprechende Prüfungshandlungen – in der Regel auf Stichprobenbasis – überprüft, ob die eingerichteten Prozesse und Maßnahmen auch tatsächlich befolgt und umgesetzt werden (ausführlich zur Wirksamkeitsprüfung Æ Rz. 32 – 50).

31 Nach allgemeiner Auffassung52) hat die Angemessenheitsprüfung auf der Grundlage des IDW PS 980 von vornherein keine haftungsbefreiende Wirkung für das ___________ 51) Vgl. zu den verschiedenen Prüfungsarten im Überblick Inderst/Bannenberg/Poppe/ Hülsberg/Laue, Kapitel 4 Rz. 114 ff. 52) So auch: Bay/Hastenrath/Schulz, Kapitel 8 Rz. 28; Inderst/Bannenberg/Poppe/Rieder/ Falge, 2. Kapitel Rz. 11 f.; Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (321); vgl. auch Koch, § 76 Rz. 17: Die Beachtung des IDW PS 980 kann eine Pflichtverletzung „nicht generell ausschließen“.

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Ghassemi-Tabar

A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Unternehmen, weil sie keine Aussage zur tatsächlichen Wirksamkeit des CMS trifft. Zwar bietet auch die Wirksamkeitsprüfung nicht per se einen „safe harbour“ für Unternehmen und ihre Organe. Es ist jedoch kaum zu bestreiten, dass eine Wirksamkeitsprüfung nach IDW PS 980 den sichersten Weg darstellt, gegenüber Aufsichts- und Verfolgungsbehörden, Gerichten und/oder Geschäftspartnern den Nachweis zu erbringen, dass man sich um ein wirksames und angemessenes CMS bemüht hat.53) Auch ein Haftungsausschuss nach den Grundsätzen des Vertrauens auf einen Expertenrat (Æ § 2 Rz. 58) kommt in Betracht.54) Voraussetzung ist nach richtiger Auffassung, dass die Wirksamkeitsprüfung (auch) von juristischer Expertise geprägt ist.55) c)

Die Wirksamkeitsprüfung nach IDW PS 980 n. F.56)

aa)

Ziel der Wirksamkeitsprüfung

Wöhler

Ziel der Wirksamkeitsprüfung nach IDW PS 980 n. F. ist es, dem Prüfer eine 32 Aussage mit hinreichender Sicherheit („reasonable assurance“) darüber zu ermöglichen, ob x

die im geprüften Zeitraum implementierten Regelungen des CMS in der CMS-Beschreibung in Übereinstimmung mit den angewandten CMS-Grundsätzen in allen wesentlichen Belangen angemessen dargestellt sind,

x

die dargestellten Regelungen in Übereinstimmung mit den angewandten CMS-Grundsätzen in allen wesentlichen Belangen

bb)



während des geprüften Zeitraums geeignet waren, mit hinreichender Sicherheit sowohl Risiken für wesentliche Regelverstöße rechtzeitig zu erkennen als auch solche Regelverstöße zu verhindern,



und während des geprüften Zeitraums wirksam waren.57) Planung der Wirksamkeitsprüfung durch das Unternehmen

Bevor diese jedoch durch das Unternehmen beauftragt werden kann, sind einige 33 Vorüberlegungen auf Seiten der gesetzlichen Vertreter hinsichtlich des Umfangs der Wirksamkeitsprüfung erforderlich. Insbesondere sind die zu prüfenden Teilbereiche des CMS festzulegen. Um einen Teilbereich zu definieren sind hierbei Überlegungen hinsichtlich der zu prüfenden Rechtsgebiete und ggf. der Unternehmenseinheiten (zentral und ggf. dezentral) erforderlich. Zu den mög___________ 53) Ähnlich: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, Grds. 5 Rz. 24; gemäß Art. 83 Abs. 2 Satz 2 lit. j DS-GVO kann eine Zertifizierung bußgeldmindernd wirken. 54) So auch MünchHdb GesR VII/Balke, § 104 Rz. 15 a. E. 55) Moosmayer, NJW 2013, 3013 (3016); Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/ Kremer, Grds. 5 Rz. 24. 56) Stand: IDW PS 980 n. F. vom 28.9.2022, veröffentlicht am 6.12.2022. 57) IDW PS 980 n. F., Tz. 17.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

lichen Rechtsgebieten gehören bspw. Wettbewerbs- und Kartellrecht, AntiKorruption oder das Geldwäschegesetz. Gegenstand der CMS-Prüfung können dabei sowohl nur ein als auch mehrere Rechtsgebiete sein.58) 34 Neben der inhaltlichen Abgrenzung kann in Abhängigkeit von der Größe und der Struktur des Unternehmens auch eine zusätzliche regionale Abgrenzung nach bestimmten Unternehmenseinheiten in Frage kommen. Es liegt in der Verantwortung der gesetzlichen Vertreter zu entscheiden, ob die Prüfung sich nur auf bestimmte Länder bzw. Länder-Gesellschaften oder auf das ganze Unternehmen bzw. den ganzen Konzern erstrecken soll.59) 35 Die Prüfung des CMS erfolgt in Übereinstimmung mit der zu treffenden Prüfungsaussage hinsichtlich der Wirksamkeit für einen bestimmten Zeitraum („… während eines bestimmten Zeitraums wirksam waren.“). Der gewünschte Wirksamkeitszeitraum ist daher ebenfalls durch das Unternehmen zu definieren. Er umfasst in der Regel mindestens ein halbes Geschäftsjahr.60) 36 Prüfungsgegenstand jeder Prüfung des CMS nach IDW PS 980 n. F. ist die CMS-Beschreibung des Unternehmens. Sie ist im Regelfall kein im Unternehmen genutztes und veröffentlichtes Dokument (wie bspw. eine Richtlinie) sondern wird als Grundlage für die Prüfung erstellt. Die CMS-Beschreibung beinhaltet die Konzeption des CMS sowie Aussagen zur Ausgestaltung und Umsetzung der sieben Grundelemente im Unternehmen und liegt in der Verantwortung der gesetzlichen Vertreter.61) cc)

Planung der Wirksamkeitsprüfung durch den CMS-Prüfer

37 Basierend auf den vom Unternehmen vorgenommenen Abgrenzungen sowie den Inhalten der CMS-Beschreibung plant der beauftragte CMS-Prüfer die Durchführung der Wirksamkeitsprüfung inhaltlich, personell und zeitlich.62) Sofern die gesetzlichen Vertreter keine Einschränkung auf bestimmte organisatorische Teilbereiche wie Länder bzw. Ländergesellschaften, Tochtergesellschaften oder die Konzernmutter vorgenommen haben, sondern eine Prüfung für den Gesamtkonzern beauftragt haben, beinhaltet die Planung auch die risikoorientierte Auswahl der einzubeziehenden Konzerngesellschaften. Basis hierfür kann eine Kombination aus unternehmensspezifischen Faktoren (z. B. die Compliance Risikoanalyse), risikospezifischen Faktoren in Abhängigkeit des Teilbereichs (z. B. der Corruption Perceptions Index für den Teilbereich Antikorrup___________ 58) 59) 60) 61) 62)

IDW PS 980 n. F., Tz. 13d) sowie Tz. A7. Ebenda. IDW PS 980 n. F., Tz. 61. IDW PS 980 n. F., Tz. 16. IDW PS 980 n. F., Tz. 39.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

tionsrecht) sowie allgemeinen Faktoren (z. B. die Berücksichtigung aller wesentlichen Segmente des Unternehmens) sein.63) Die geplanten Prüfungshandlungen zu den einzelnen Aussagen der CMS-Be- 38 schreibung, die zur Erreichung dieses Sicherheitsniveaus erforderlich sind, werden durch den CMS-Prüfer in einem Prüfprogramm festgehalten.64) Die Auswahl der Prüfungshandlungen liegt hierbei im Ermessen des Prüfers. Er hat hierbei zunächst die Risiken wesentlicher Fehler in den Aussagen der CMS-Beschreibung zu beurteilen. Analog zur Jahresabschlussprüfung ist auch die CMS-Prüfung so zu planen, 39 dass 

das Prüfungsrisiko, ein uneingeschränktes Prüfungsurteil trotz wesentlicher falscher Darstellungen in der CMS-Beschreibung abzugeben, reduziert wird, und entsprechend mit hinreichender Sicherheit (entspricht dem Sicherheitsniveau im Rahmen der Jahresabschlussprüfung- „reasonable assurance“) beurteilt werden kann, ob die CMS-Beschreibung frei von wesentlichen falschen Darstellungen ist.65)

Die identifizierten Risiken wesentlicher falscher Darstellungen in der CMS- 40 Beschreibung bzw. wesentlicher Mängel des dort beschriebenen CMS bilden die Basis für die weiteren Prüfungshandlungen im Rahmen der Wirksamkeitsprüfung. Im IDW PS 980 n. F. sind einige Beispiele für wesentlicher Mängel des CMS aufgeführt. Beispielsweise können Mängel aus Lücken innerhalb der CMS-Beschreibung des Unternehmens resultieren.66) Da die Beurteilung der Wirksamkeit des CMS grundsätzlich auch die Beurtei- 41 lung der Angemessenheit und der Implementierung des CMS mit umfasst, sind auch die durchzuführenden Prüfungshandlungen durch den CMS-Prüfer dementsprechend auszuwählen. Hierzu gehören beispielsweise:67) x

Befragungen von gesetzlichen Vertretern und weiteren beteiligten Personen (z. B. aus der Internen Revision oder dem Risikomanagement)

x

Durchsicht relevanter Unterlagen (z. B. relevante Richtlinien und Verfahrensanweisungen)

x

Beobachten und Nachvollziehen von Verfahren und Kontrollen (z. B. 4Augen Prinzip oder dokumentierte Genehmigungsverfahren)

Wesentlicher Bestandteil der Wirksamkeitsprüfung (im Unterschied zur Ange- 42 messenheitsprüfung) ist die Überprüfung der kontinuierlichen Anwendung ___________ 63) 64) 65) 66) 67)

Analog zum Vorgehen im Rahmen der Konzernabschlussprüfung gem. ISA [DE] 600. IDW PS 980 n. F., Tz. 44. IDW PS 980 n. F., Tz. 13h) und Tz. 42. IDW PS 980 n. F., Tz. A44. IDW PS 980 n. F., Tz. A52.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

der Regelungen des CMS in einem definierten Zeitraum (z. B. ein halbes Geschäftsjahr) und nicht bezogen auf einen Zeitpunkt wie im Rahmen der Angemessenheitsprüfung.68) Insbesondere das Nachvollziehen von Verfahren und Kontrollen wird hierbei in der Regel auf Stichprobenbasis durchgeführt. Ziel ist es festzustellen, ob die in der CMS-Beschreibung dargestellten Prozesse und Maßnahmen während des gewählten Zeitraums auch tatsächlich wirksam waren (vgl. Æ Rz. 32). 43 Basierend auf der Planung des CMS-Prüfers werden Zeitplan, benötigte Gesprächspartner sowie benötigte Unterlagen bereits vor Beginn der operativen Prüfungsdurchführung mit dem Unternehmen (i. d. R. der Compliance-Organisation und dem Compliance-Verantwortlichen) abgestimmt. 44 So können bereits vor Beginn der Prüfungsdurchführung Unterlagen durch die Compliance-Organisation gesammelt und Gespräche terminiert werden. In der Regel bleibt die Compliance-Organisation auch während der gesamten Wirksamkeitsprüfung (zentral und regional/dezentral) der erste Ansprechpartner des CMS-Prüfers bei inhaltlichen oder organisatorischen Themen. dd)

Durchführung der Wirksamkeitsprüfung und Berichterstattung

45 Die Prüfungsdurchführung findet zentral bei dem Unternehmen/der Konzernmutter vor Ort und ggf. regional/dezentral in den zu prüfenden Konzerngesellschaften statt. Bei der Prüfung dezentraler Konzerngesellschaften kann sich eine Begleitung der Prüfung durch die zentrale Compliance-Organisation anbieten und bietet der geprüften Organisation auch häufig einen wesentlichen Mehrwert. Die operative Durchführung der Prüfungshandlungen geschieht jedoch ausschließlich durch den CMS-Prüfer – ggf. ergänzt um lokale Prüfungsteams oder unter Einbeziehung von Übersetzern. 46 Die Wirksamkeitsprüfung nach IDW PS 980 n. F. ist als Systemprüfung nicht darauf ausgerichtet, einzelne Regelverstöße im Unternehmen aufzudecken.69) Sofern jedoch solche Regelverstöße erkannt werden, erfolgt eine entsprechende Information an die gesetzlichen Vertreter des Unternehmens. Der CMS-Prüfer hat zu beurteilen, inwiefern diese Regelverstöße auf Mängel an dem zu prüfenden CMS zurückzuführen sind.70) 47 Im Rahmen der Durchführung der Prüfung hat der CMS-Prüfer ausreichende und geeignete Prüfungsnachweise zu erlangen, um ein entsprechendes Prüfungsurteil über die Darstellung des CMS in der CMS-Beschreibung (vgl. Æ Rz. 32) treffen zu können. Basierend auf den erhaltenen Prüfungsnachwei___________ 68) IDW PS 980 n. F., Tz. A51. 69) IDW PS 980 n. F., Tz. 21. 70) IDW PS 980 n. F., Tz. 64.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

sen besteht seitens des Prüfers die Möglichkeit, ein uneingeschränktes oder ein eingeschränktes Prüfungsurteil abzugeben oder das Prüfungsurteil zu versagen.71) Welches Prüfungsurteil abgegeben wird, hängt davon ab, ob sich im Rahmen der 48 Wirksamkeitsprüfung Feststellungen ergeben haben bzw. Schwächen am CMS identifiziert wurden. Zudem können auch Prüfungshemmnisse durch fehlende Prüfungsnachweise das Prüfungsurteil ebenfalls beeinflussen. Sofern sich im Rahmen der Prüfung Feststellungen oder Hemmnisse ergeben 49 haben, hat der CMS-Prüfer zu beurteilen, inwiefern diese wesentlich, und ggf. umfassend sind.72) Wesentliche, aber nicht umfassende Feststellungen und/oder Hemmnisse führen zu einem eingeschränkten Prüfungsurteil, während umfassende wesentliche Feststellungen und/oder Hemmnisse zu einer Versagung des Prüfungsurteil führen. Das Ergebnis der Prüfung inklusive des Prüfungsurteils wird in einem Prüfungs- 50 bericht zusammengefasst. Dieser bezieht sich hierbei grundsätzlich auf das von den gesetzlichen Vertretern vorgegebene Teilgebiet (Rechtsgebiet(e) und ggf. Unternehmenseinheiten oder den Gesamtkonzern). Der Standard enthält zu diesem Zweck Berichtsvorlagen, die Inhalt und Aufbau des Prüfungsberichts vorgeben.73) Die CMS-Beschreibung des Unternehmens wird dem Bericht als Prüfungsgegenstand in einer Anlage beigefügt. Auch bei einem uneingeschränkten Prüfungsurteil können sich aus Sicht des CMS-Prüfers Feststellungen oder Empfehlungen zu möglichen Verbesserungen des CMS ergeben haben. Diese sind als „sonstige Feststellungen“ und „Empfehlungen“ ebenfalls Bestandteil des Prüfungsberichts.74) Im Rahmen der Berichterstattung zur CMS-Prüfung bestehen auch Parallelen 51 zum zeitlichen und organisatorischen Ablauf der Jahresabschlussprüfung: Die gesetzlichen Vertreter des Unternehmens haben eine Vollständigkeitserklärung zeitnah zur Übergabe des Prüfungsberichts abzugeben.75) Zudem hat der CMSPrüfer u. a. entsprechende Prüfungshandlungen für den Zeitraum zwischen der Beendigung des Wirksamkeitszeitraums und der Auslieferung des Prüfungsberichts durchzuführen.76) d)

Grundsatz der Risikoindividualität beim CMS-Aufbau

Der Vorstand hat die Pflicht, ein wirksames CMS zu errichten, zu steuern, zu 52 kontrollieren und bei Bedarf anzupassen bzw. zu verbessern. Dabei existiert kein uniformes, für alle Unternehmen passendes und verbindliches Compliance___________ 71) 72) 73) 74) 75) 76)

IDW PS 980 n. F., Tz. 87. IDW PS 980 n. F., Tz. 88. IDW PS 980 n. F., Tz. 102 ff. IDW PS 980 n. F., Anlage 3.1. IDW PS 980 n. F., Tz. 80. IDW PS 980 n. F., Tz. 72.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Muster (kein „one size fits all“).77) Im Gegenteil: Die Errichtung oder Überprüfung eines CMS anhand standardisierter Compliance-Checklisten birgt gerade die Gefahr der Unwirksamkeit und Unwirtschaftlichkeit des CMS (Æ Rz. 17). 53 Für die Frage, welche Bestandteile das CMS im eigenen Unternehmen umfassen muss bzw. wie diese Bestandteile konkret ausgestaltet sein müssen, um in Bezug auf die Compliance-Risiken wirksam zu sein, gilt vielmehr der Grundsatz der Risikoindividualität. Das individuelle Risikoprofil eines Unternehmens wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst wie etwa Unternehmensgröße, Branche78), Geschäftspartner, Kunden und Vertriebsstrukturen, Produkt- und Leistungsportfolio, Komplexität der Abläufe bzw. Ablauf- und Aufbauorganisation, die geographische Präsenz (z. B. Geschäftstätigkeit in Staaten mit einem problematischen Korruptionsniveau) sowie auch die Existenz von Verstößen und Verdachtsfälle in der Vergangenheit.79) 54 Um den erforderlichen Umfang und die Ausprägung des CMS zu einem gegebenen Zeitpunkt in einem bestimmten Unternehmen zu bestimmen, sind die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen unternehmensindividuellen Compliance-Risiken im Wege einer Risikoanalyse (dazu Æ Rz. 109 ff.) zu ermitteln. 4.

CMS-Dokumentation und ihre essentielle Bedeutung

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55 Es sind verschiedene Szenarien denkbar, in denen die Gesellschaft und/oder (ehemalige) Vorstandsmitglieder zu ihrer Haftungsentlastung bzw. zur Minderung einer drohenden (Verbands-)Geldbuße nach §§ 130, 30 OWiG den Nachweis der Wirksamkeit des CMS zu einem bestimmten (mitunter Jahre zurückliegenden) Zeitpunkt erbringen müssen. Dies soll – angelehnt an die oben (Æ Rz. 23) erwähnte BGH-Entscheidung – an einem Beispielsfall veranschaulicht werden: Beispiel: 56 Gegen einen leitenden Angestellten der XY-AG wird ein Strafverfahren wegen eines im Jahr 2014 begangenen Korruptionsdelikts eingeleitet. Das Gericht ordnet zugleich die Nebenbeteiligung der AG am Verfahren an (§ 30 i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG, § 444 StPO). Die AG veranlasst daraufhin (auch auf Drängen der Staatsanwaltschaft80) eine eigene interne Untersuchung. ___________ 77) Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, A.2 Rz. 4; JIG/Ghassemi-Tabar, A.2 Rz. 8. 78) So werden z. B. Banken in der Geldwäscheprävention, Import/Export-Unternehmen in der Korruptionsbekämpfung und Exportkontrolle, Industrieunternehmen im Umweltschutz oder IT-Unternehmen im Datenschutz jeweils stärker gefordert sein. 79) Vgl. LG München, I v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (Siemens/NeubürgerUrteil); KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 43; Ghassemi-Tabar/Pauthner, Der Aufsichtsrat 2016, 174 f. 80) Ob die Staatsanwaltschaft rechtlich befugt ist, eine interne Untersuuchung zu fordern, kann an dieser Stelle dahinstehen. Jedenfalls stellt eine entsprechende Forderung seitens der Staatsanwaltschaft oder der Kartellbehörde kein unübliches Vorgehen dar.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Im vorstehenden Beispiel droht nicht nur dem Unternehmen als Nebenbetei- 57 ligten eine Geldbuße nach § 30 OWiG.81) Auch gegen den Vorstand kann u. U. wegen Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG82) eine Geldbuße verhängt werden. Schließlich ist der Aufsichtsrat der AG verpflichtet, zumindest zu prüfen, ob er den Vorstand im Namen der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG wegen Verletzung seiner Compliance-Organisationspflicht auf Schadensersatz83) in Anspruch nehmen muss (zur Anspruchsverfolgungspflicht des Aufsichtsrats Æ Rz. 362 und ausführlich Æ § 3 Rz. 276 ff.). In solchen oder ähnlichen durchaus typischen Fallkonstellation sollte der Vorstand den Nachweis der ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Compliance-Organisationspflicht zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Rechtsverstöße erbringen können. Denn er muss ggf. – zwecks Reduzierung einer drohenden Geldbuße gegen die Gesellschaft und/oder zur Abwendung einer persönlichen Haftung (Æ Rz. 20 f.) – gegenüber der Staatsanwaltschaft, der Kartellbehörde, den Gerichten und/oder gegenüber dem Aufsichtsrat darlegen und unter Beweis stellen können, dass der Gesetzesverstoß des Mitarbeiters lediglich ein unvermeidbarer „Ausreißer“ in einem ansonsten wirksamen CMS war. Hierbei kommt der CMS-Dokumentation aus Sicht des Vorstandes überragende 58 Bedeutung zu.84) Insbesondere gegenüber Ermittlungsbehörden und Gerichten gilt in der Regel: Was vom Vorstand nicht nachgewiesen werden kann, gilt als nicht erfolgt. Nicht dokumentierte CMS-Maßnahmen lassen sich in aller Regel gerade vor Gericht nach einem gewissen Zeitablauf nicht mehr mit dem notwendigen Beweismaß („volle Überzeugung des Richters“)85) nachweisen. Daher wird die Dokumentation gerade von den Gerichten dringend empfohlen. So betonen prominente Vertreter aus der Richterschaft, dass für die Justiz bei der nachträglichen Untersuchung des CMS die entscheidenden Strukturen anhand aktenmäßigen Wissens gut nachzuvollziehen und zu plausibilisieren seien, während das persönliche Wissen zum maßgeblichen (mitunter Jahre zurückliegenden) Zeitpunkt nur noch eingeschränkt zugänglich sei.86) Aber nicht nur als formaler Nachweis gegenüber Behörden kommt der CMS- 59 Dokumentation enorme Bedeutung zu. Sie ist aufgrund ihrer Funktion als Infor___________ 81) 82) 83) 84) 85)

Vgl. ausführlich zum Bußgeldtatbestand nach § 30 OWiG Æ § 23. Vgl. ausführlich zum Bußgeldtatbestand nach § 130 OWiG Æ § 22. Zum ersatzfähigen Schaden gehören z. B. die Kosten der internen Untersuchung. Vgl. auch Umnuß/Unger, Kapitel 5 Rz. 109; Bürkle/Hauschka/Schulz/Galster, § 4 Rz. 61. Musielak/Voit/Foerste, § 286 Rz. 18; MünchKommZPO/Prütting, § 286 Rz. 40; BeckOK ZPO/Bacher, § 286 Rz. 2. 86) So Herr RiBGH Prof. Dr. Mosbacher, Mitglied des 5. Strafsenats des BGH, im Rahmen einer Paneldiskussion am 8.9.2016 zum Thema „Compliance-Risikomanagement in internationalen Unternehmen“, an der u. a. auch Dr. Christoph Klahold (CCO der thyssenkrupp AG), Dr. Helmut Krenek (Vorsitzender Richter am Landgericht München [Siemens/ Neubürger-Urteil]) sowie der Verfasser teilnahmen.

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mationsgrundlage und Teil des Daten- und Wissensmanagements des CMS auch ein wichtiger Parameter bei der kontinuierlichen Wirksamkeitserhaltung des CMS. Schließlich bilden die Inhalte der CMS-Dokumentation – neben den Vorstandsberichten – eine wesentliche Grundlage für die Compliance-Überwachung durch den Aufsichtsrat (Æ Rz. 378). Die sorgfältige Dokumentation seiner Handlungen sollte dem CCO oder der sonstigen mit den Compliance-Aufgaben im Unternehmen betrauten Person daher ausdrücklich als wesentliche Pflicht aufgetragen werden. 60 Trotz der dargestellten Bedeutung der CMS-Dokumentation finden sich in der Unternehmenspraxis häufig Dokumentationslücken. Die Ursache liegt regelmäßig darin, dass es für eine systematische CMS-Dokumentation und ihre kontinuierliche Aktualisierung an personellen, zeitlichen oder fachlichen Ressourcen mangelt. Dazu kommt, dass Dokumentationslücken zumeist nicht unmittelbar, sondern erst Jahre später bei Nachweisbedarf zur Entlastung des Vorstands auffallen. 61 Um im Ernstfall (der u. U. erst Jahre nach dem Ausscheiden des betroffenen Vorstandsmitglieds eintritt) den Nachweis eines wirksamen CMS und damit der Erfüllung seiner Compliance-Organisationspflicht gegenüber Behörden und Gerichten erbringen zu können, ist der Vorstand gut beraten, für eine sorgfältige CMS-Dokumentation zu sorgen. Zuständig für eine flächendeckende Dokumentation der Wirksamkeit des CMS und der zuverlässigen Archivierung der relevanten Dokumente ist in der Regel das Compliance Office. Sofern in kleineren Unternehmen kein Compliance Office existiert, wird die Verantwortlichkeit meist bei der Rechtsabteilung oder einer anderen mit Compliance-Aufgaben betrauten Stelle liegen. 62 Fehlt es an entsprechenden Ressourcen im Unternehmen empfiehlt sich eine systematische periodische Bestandsaufnahme im Sinne eines externen CMSAudits zur Beurteilung der Wirksamkeit des CMS sowie der fachgerechten Dokumentation. Aber auch eine vorhandene CMS-Dokumentation kann durch kurze Dokumentations-Audits auf ihre Angemessenheit und ggf. ihren Ergänzungsbedarf hin überprüft werden. 63 Inhaltlich sollte die CMS-Dokumentation folgende Grundelemente des CMS enthalten: 64 1) Zuvorderst muss die Risikoanalyse, mithin die Teilschritte der Risikoidentifikation, -bewertung und -priorisierung (Æ Rz. 109 ff.) gründlich dokumentiert werden, da sie die Wirksamkeitsgrundlage des CMS bilden. 65 2) Daneben sind alle wesentlichen Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen (Æ Rz. 156 ff.) in Bezug auf die festgestellten Risiken festzuhalten. Es ist hierbei keinesfalls erforderlich, alle Details zu dokumentieren. Je höher ein Risiko eingeordnet wird, desto umfassender müssen die Qualität und die

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Quantität der spezifischen Maßnahmen sein und desto genauer sollte auch auf die Dokumentation geachtet werden. 3) Darüber hinaus muss die Dokumentation die (risikoadäquate) fortlaufende 66 Überwachung des CMS inklusive etwaiger Maßnahmen zu Anpassung und Verbesserung des CMS enthalten (Æ Rz. 196 f.). 4) Schließlich unterfallen der Dokumentationspflicht neben den präventiven 67 auch alle wesentlichen reaktiven Umsetzungsmaßnahmen. So ist insbesondere ein sorgfältiger Untersuchungsbericht im Nachgang zur Durchführung einer internen Compliance-Untersuchung (dazu Æ Rz. 318 ff.) wichtig, da für Behörden und Gerichte von besonderer Bedeutung ist, wie das Unternehmen mit früheren Compliance-Verstößen umgegangen ist. 5.

Compliance-Management im Konzern

Im Konzern treffen den Vorstand der Muttergesellschaft neben der Pflicht zur 68 Errichtung, Steuerung, Organisation und Überwachung eines wirksamen CMS in der eigenen Gesellschaft unstreitig auch gewisse konzernweite ComplianceOrganisationspflichten.87) Diese konzernweiten Organisationspflichten betreffen nicht nur das CMS, sondern alle Governance-Systeme, also auch das interne Kontrollsystem sowie das Risikomanagementsystem. So geht etwa auch der deutsche Gesetzgeber davon aus, dass die Organisations- und Überwachungspflichten des § 91 Abs. 2 AktG konzernweit zu verstehen sind.88) Nachfolgend können nur einige Grundsätze und Leitlinien zur konkreten Umsetzung eines konzernweiten CMS skizziert werden. Standardisierte Einheitslösungen für Konzern-CMS sind in der Praxis weder vorzufinden noch zu empfehlen. Maßgeblich sind vielmehr stets die individuellen Risikoprofile und Strukturen des Konzerns. Daher bedürfen die nachstehenden Ausführungen stets der Anpassung, Übersetzung und Ergänzung im Hinblick auf die individuellen Gegebenheiten und Bedürfnisse im Einzelfall. Konzernstrukturen sind in den meisten internationalen Unternehmen ab einer 69 gewissen Größe die Regel. Ein wirksames und wirtschaftliches CMS kann im Konzernverbund nur durch ein CMS erreicht werden, das homogene und harmonisierte Kernelemente aufweist. Freilich sind hierbei die notwendigen lokalen Anpassungen und Ergänzungen vorzunehmen. Ein konzernweites CMS sollte daher folgende vier Grundprinzipien aufweisen89): ___________ 87) Vgl. Schneider/Schneider, ZIP 2007, 2061 (2065); JIG/Ghassemi-Tabar, Grds. 5 Rz. 13; MünchHdb GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 27; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 74; Knierim/ Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 137; Koch, § 76 Rz. 21 mit Einschränkungen; Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Tödtmann/Winstel, § 13 Rz. 28 f. 88) BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 89) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 430.

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Ein einheitliches, harmonisiertes CMS erstreckt sich über die gesamte Konzernorganisation einschließlich der in- und ausländischen Tochtergesellschaften.



Die zentralen CMS-Elemente, -Instrumente und -Prozesse (etwa interne Richtlinien oder das Risiko- und CMS-Status-Reporting) sollten konzernweit definiert sein.



Entsprechend lokaler rechtlicher, kultureller oder praktischer Erfordernisse räumt das zentrale CMS Spielraum für lokale Anpassungen ein. Beispiele sind etwa unterschiedliche Klassen von Konzernrichtlinien oder jedenfalls entsprechende Klauseln in der Konzernrichtlinie, die den ausländischen Tochtergesellschaften unterschiedliche Ausgestaltungsspielräume für nationale Gesetze belassen.



Insbesondere die Compliance-Risikoanalyse wird in allen Konzerngesellschaften anhand einheitlicher Maßstäbe, Prozesse und Regeln durchgeführt und kontinuierlich zentral im Hinblick auf Status und Wirksamkeit überwacht.

70 Gerade in Tochter- und Enkelgesellschaften sind in der Praxis nicht selten wesentliche Compliance-Risiken und Schadensursachen begründet, die sich rechtlich, wirtschaftlich und reputationsbezogen auf die Muttergesellschaft auswirken. Zwar sind die Leitungsorgane der Tochter- und Enkelgesellschaften – unabhängig von den Compliance-Aktivitäten der Muttergesellschaft – als Risikoeigner wirtschaftlich und rechtlich verpflichtet, die Compliance in der eigenen Gesellschaft sicherzustellen. Auch haben sie die Muttergesellschaft auf rechtswidrige Zustände im Konzern hinzuweisen oder Ansinnen regelwidrigen Verhaltens zurückzuweisen.90) Gleichwohl treffen den Konzernvorstand – neben der Pflicht, für ein angemessenes CMS auf Ebene der Konzernmutter Sorge zu tragen – konzernweite Compliance-Organisationspflichten. Der Konzernvorstand hat – freilich nur im Rahmen seiner rechtlichen und faktischen Einwirkungsmöglichkeiten (Æ Rz. 70 f.) – auf einheitliche Kernelemente, Prozesse und Methodik des CMS in Tochter- und Enkelgesellschaften hinzuwirken. Hierfür sprechen (i) die Haftungssicherheit für den Vorstand der Mutter, (ii) der geringe Kostenaufwand für zentral definierte Elemente anstelle von Einzelkonzeptionen und (iii) die höhere Mitarbeiterakzeptanz einheitlicher Instrumente. 71 Organisationslösungen für konzernweite CMS hängen wie bereits erwähnt primär von den rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten ab: Im Vertragskonzern (dazu Æ § 7 Rz. 29 und 33 ff.) kann der Vorstand der Muttergesellschaft die Tochtergesellschaft kraft seiner Mehrheitsbeteiligung oder im Rahmen des Beherrschungsvertrages zur Errichtung und Fortführung eines wirksamen CMS verpflichten (vgl. § 308 Abs. 1 Satz 1 AktG). ___________ 90) JIG/Ghassemi-Tabar, Grds. 5 Rz. 12.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Im faktischen Konzern (dazu Æ § 7 Rz. 32 und 124 ff.) besteht kein Weisungs- 72 recht der Muttergesellschaft gegenüber der Geschäftsleitung Konzerngesellschaften; vielmehr ist die Muttergesellschaft auf ihre faktischen Einflussmöglichkeiten beschränkt.91) Hier ist der Vorstand der Muttergesellschaft zumindest verpflichtet, ernsthafte (idealerweise dokumentierte) Versuche zu unternehmen und darauf hinzuwirken, bei den Tochter- und Enkelgesellschaften wirksame und auf den Gesamtkonzern abgestimmte Verfahren der Risikoidentifikation-, -bewertung und -berichterstattung einzuführen. Jedoch werden in der Praxis die Leitungen sowohl der Konzernmutter als auch der Tochtergesellschaften aus finanziellen, haftungsrechtlichen und reputationsbezogenen Gründen meist ein genuines Interesse an einem konzernweit einheitlichen CMS haben. Diese Interessengleichheit eröffnet oftmals breite Spielräume zum Ausbau eines konzernweiten CMS im Rahmen der faktischen Einflussmöglichkeiten der Muttergesellschaft. Die faktische Einwirkung der Muttergesellschaft sollte durch rechtliche Vereinbarungen abgesichert und hinreichend dokumentiert werden. Die Konzeption und Umsetzung des konzernweiten CMS liegt im unternehme- 73 rischen Ermessen des Konzernvorstands (zum Ermessensspielraum Æ Rz. 76 f.). Zur Umsetzung eines konzernweit einheitlichen CMS bietet es sich meist an, einen Group Chief Compliance Officer einzusetzen, der die konzernweiten Compliance-Maßnahmen initiiert und koordiniert. Bei zentraler Organisationsstruktur sind auch zentrale Überwachungs-, Steuerungs- und Sanktionsmaßnahmen erforderlich. Sie werden regelmäßig durch Regional Compliance Officer und/oder sonstige mit Compliance-Aufgaben betraute Personen auf regionaler, nationaler oder lokaler Ebene umgesetzt, die über den Group Compliance Officer an den Vorstand der Mutter berichten. Auch bei Errichtung eines stark zentralisierten Konzern-CMS sollte die originäre Compliance-Verantwortlichkeit der Organe der Tochtergesellschaften (Æ Rz. 70) klargestellt sein. Konzernweit ausgeprägte CMS weisen beispielhaft – nicht abschließend – fol- 74 gende Merkmale auf: 

Begründung der zentralen konzernweiten Compliance-Leitungszuständigkeit bei der Konzernmutter,



klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Aufgabenbereichen zwischen Konzernvorstand und der Geschäftsleitung von Tochter- und Enkelgesellschaften – einzelne Aufgaben (wie z. B. die Risikoanalyse) werden dabei primär auf der Ebene der Tochter- und Enkelgesellschaft verbleiben. Übergeordnete Aufgaben wir z. B. die Verabschiedung verbindlicher ComplianceGrundsatzrichtlinien werden in der Regel auf Ebene der Konzernobergesellschaft wahrgenommen,

___________ 91) MünchHdb. GesR IV/Krieger, § 70 Rz. 23; MünchKommAktG/Bayer, § 18 Rz. 20; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Bürkle, § 36 Rz. 86.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung



Zuweisung der konzernweiten Zuständigkeit für Compliance (auf der 1. Ebene unterhalb der Geschäftsleitung) an einen Group Chief Compliance Officer (vertikale Delegation Æ Rz. 88 f.) mit direktem Berichtsweg zum Konzernvorstand,



an den individuellen Konzernstrukturen ausgerichtete Aufbauorganisation, z. B. Einsatz divisionaler und regionaler Compliance Officer neben dem Group Chief Compliance Officer mit klarer Aufgabenzuweisung und hinreichender Ressourcenausstattung,



Schaffung eines Compliance-Committee (Æ Rz. 172) auf der Ebene der Muttergesellschaft,



konzernweit einheitliche Verfahren zur Risikoidentifikation und -bewertung – beispielsweise einheitliche Verfahren und Leitlinien für Compliance Risiko Workshops (Æ Rz. 135 f.),



konzernweites, einheitliches Risikomonitoring (Æ Rz. 196) mit zentral gesammelten und aggregierten Informationen,



systematische Berichterstattung an den Konzernvorstand über die aus den Tochterunternehmen resultierenden Compliance-Risiken,



Compliance-Audits, Stichprobenprüfungen, periodisches Status-Reporting sowie Incident-Reporting im Hinblick darauf, ob konzernweite ComplianceVorgaben in den Tochtergesellschaften wirksam umgesetzt werden,



konzernweiter Code of Conduct (Æ Rz. 180) mit Übersetzungen in die Landessprachen der Tochtergesellschaften und den erforderlichen, jedoch im Sinne der konzernweiten Einheitlichkeit möglichst geringfügigen Anpassungen entsprechend nationaler rechtlicher und kultureller Besonderheiten,



konzernweite Policies und andere Regularien für Top-Risiken, wie etwa Korruption oder Wettbewerbsverstöße,



konzernweit einheitliche Dokumentation des CMS (zur CMS-Dokumentation Æ Rz. 55 ff.).

75 Methodologisch das Mittel der Wahl, welches sich in der Praxis zur effektiven und effizienten Umsetzung eines konzernweit einheitlichen CMS bewährt hat, sind Konzernrichtlinien92). Sie stellen allgemeine konzernweite Handlungsanweisungen dar und ermöglichen eine Vereinheitlichung der Prozesse, legen die konzernweiten Compliance-Zuständigkeiten fest und sorgen für ein konzernweites funktionstüchtiges Melde- und Berichtssystem. Ziel ist es, das Konzernhandeln verbindlich und einheitlich zu regeln und gleichzeitig den einzelnen Konzerngesellschaften genügend Eigenverantwortung und Freiraum zu belassen. Konzernrichtlinien wird konzernweit Geltung verschafft, indem die gesell___________ 92) instruktiv zur Konzernrichtlinie: Grau/Decheva, BB 2021, 131 ff.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

schaftsrechtlichen Dokumente der Konzerngesellschaften (insbesondere Gesellschaftsvertrag (Satzung), Geschäftsordnung oder Geschäftsführerdienstvertrag) eine dynamische Verweisung auf die Konzernrichtlinien enthalten. Dies bedeutet, dass von der Konzernspitze erlassene Konzernrichtlinien in der jeweils geltenden Fassung für jede Konzerngesellschaft verbindlich sind und die Geschäftsleitungen der Konzerngesellschaften dafür Sorge tragen müssen, dass die Richtlinie in der Gesellschaft ausgerollt und angewendet wird. 6.

Compliance-Organisationspflichten und Business Judgement Rule

Der Vorstand ist zur Errichtung eines wirksamen CMS verpflichtet, ohne dass 76 ihm insoweit – also hinsichtlich der Frage des „Ob“ – ein Ermessensspielraum zusteht. Dagegen steht dem Vorstand bei der Frage des „Wie“, d. h. der konkreten Ausgestaltung des CMS, ein haftungsfreier Ermessensspielraum im Sinne der BJR zu93) (ausführlich zur BJR Æ § 2 Rz. 25 ff.): Der Vorstand muss sich beim Aufbau, ebenso wie bei der Steuerung, Überwachung, Anpassung und Aktualisierung der Compliance-Organisation im Unternehmen regelmäßig zwischen mehreren tatsächlich möglichen und rechtlich zulässigen Handlungsalternativen entscheiden. Zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung ist aber nicht absehbar, welche der zur Verfügung stehenden Alternativen sich im Nachhinein als die für das Unternehmen effektivste und wirtschaftlich vorteilhafteste erweisen wird. Bei der konkreten Ausgestaltung des CMS muss der Vorstand mithin unternehmerische Entscheidungen treffen, die typischerweise von Unsicherheit geprägt sind, weil ihnen eine vom Vorstand notwendigerweise vorzunehmende Prognose zugrunde liegt. Hierbei ist dem Vorstand ein richterlich nicht zu kontrollierender, haftungsfreier Handlungsspielraum zuzubilligen. Eine Pflichtverletzung kann dem Vorstand nicht vorgeworfen werden, wenn er bei seiner Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung der CMS-Maßnahme vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Konkret handelt der Vorstand bei der CMS-Umsetzung innerhalb seines Er- 77 messensspielraums, wenn er folgende Punkte beachtet94): 1) Die Entscheidung hinsichtlich der Ausgestaltung der konkreten CMS-Maß- 78 nahme muss unter „optimalen Entscheidungsvoraussetzungen“95) zustande kommen. Eine angemessene Informationsgrundlage zur Einschätzung effektiver Compliance-Organisationsmaßnahmen bildet zunächst eine unternehmensweite Risikoanalyse. ___________ 93) Eufinger, ZIP 2018, 615 (617); Matthey/Schreiner, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/ 2017, S. 10; Kort, in: Festschrift Hopt, S. 983 (991); Koch, § 76 Rz. 15; MünchKommAktG/ Spindler, § 91 Rz. 66; MünchHdb. GesR VII/Balke, § 104 Rz. 12. 94) Vgl. dazu Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 75 f. 95) So treffend Koch, § 93 Rz. 27.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

79 2) Auf dieser Grundlage sind fachlich fundierte Empfehlungen zu CMS-Aufbau und Anpassungsmaßnahmen von hierfür qualifizierten internen oder externen Fachkräften einzuholen. 80 3) Die Vorstandsmitglieder müssen sich bei Entscheidungen zum CMS-Aufbau am Unternehmensinteresse orientieren, also auf den Bestand und die dauerhafte Rentabilität des Unternehmens bedacht sein.96) 81 4) Die Vorstandsmitglieder dürfen bei ihren Entscheidungen nicht von einem Interessenkonflikt betroffen sein bzw. müssen ohne Eigennutz handeln. Bei Kollegialentscheidungen muss das konfliktbefangene Mitglied seinen Interessenkonflikt offenlegen und sich aus der Beratung und Abstimmung u. U. heraushalten (zum Umgang mit Interessenkonflikten Æ § 1 Rz. 141 f.). 7.

Wirksame Delegation der Compliance-Pflichten und ihre Grenzen

a)

Horizontale Delegation

82 Corporate Compliance gehört zwar zu den Leitungsaufgaben des Vorstands i. S. d. § 76 Abs. 1 AktG97) (allgemein zu den Leitungsaufgaben Æ § 1 Rz. 16 ff.), die grundsätzlich delegationsfeindlich sind. Das bedeutet aber nur, dass die wesentlichen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Compliance-Management-System im Vorstand abgestimmt werden müssen. Die primäre Verantwortung für die Compliance-Aufgabe kann nach allgemeiner Auffassung innerhalb des Vorstands einem bestimmten Vorstandsmitglied im Wege organinterner Arbeitsteilung zugewiesen werden,98) etwa durch Einrichtung eines ComplianceRessorts oder durch Zuweisung auf das Ressort „Recht“ oder „Finanzen“. 83 Welche formalen Anforderungen an die horizontale Delegation innerhalb des Vorstands (mithin an die Geschäftsverteilung) zu stellen sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Insbesondere mit Hinweis auf ein Urteil des BFH99) wird vielfach eine förmliche Zuweisung durch Satzung, Geschäftsordnung oder Vorstandsbeschluss gefordert.100) Dem ist der II. Zivilsenat des BGH101) jedoch explizit entgegengetreten, hat ein Schriftformerfordernis verneint und lässt im Einzelfall sogar eine faktische Arbeitsaufteilung genügen. Unabhängig davon, ob und wenn ja, welche förmlichen Kriterien Wirksamkeitsvoraussetzung für ___________ 96) Vgl. Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 93 AktG Rz. 23. 97) Kort, in: Festschrift Hopt, S. 983; Koch, § 76 Rz. 12; Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 76 AktG Rz. 7a; auch Grds. DCGK 2022 weist die Compliance-Aufgabe dem Vorstand zu. 98) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 69 m. w. N.; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Klahold/ Lochen, § 37 Rz. 18; Habersack/Mülbert/Schlitt/Brellochs, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 3. Auflage 2020, § 1, Rz. 246 f. 99) BFH (V R 128/79) BFHE 141, 443 = BeckRS 1984, 22006857. 100) Nietsch, ZIP 2013, 1449 (1454 f.); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 69 m. w. N.; MHLS/Ziemons, § 43 Rz. 338 (GmbH-Geschäftsführung). 101) BGH (II ZR 11/17) ZIP 2019, 261 = NZG 2019, 225 Rz. 22 ff.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

eine Geschäftsverteilung im Vorstand sind, ist jedenfalls unbestreitbar, dass eine klare und nachvollziehbare schriftliche Dokumentation durch Satzung, Geschäftsordnung oder Vorstandsbeschluss der sicherste Weg ist, eine Ressortverteilung im Haftungsfall nachzuweisen und der Gefahr gegenseitiger Schuldzuweisungen zu vermeiden.102) Das Vorstandsmitglied, dem die Compliance-Aufgabe durch die interne Ge- 84 schäftsverteilung zugewiesen wurde, trägt die volle Handlungsverantwortung für Compliance-Angelegenheiten (Ressortverantwortung).103) Es darf die ihm zur Erledigung delegierte Aufgabe grundsätzlich selbstständig und mit Wirkung für den Gesamtvorstand vornehmen. Der Ressortleiter ist jedoch verpflichtet, seine Vorstandskollegen regelmäßig und unaufgefordert über die Angelegenheiten seines Ressorts zu informieren, jedenfalls wenn es sich um bedeutsame Angelegenheiten handelt104) (dazu Æ § 1 Rz. 100). Vorstandsmitglieder dürfen sich im Fall der Ressortverteilung nicht auf die 85 ordnungsgemäße Führung ihres Ressorts beschränken. Kraft ihrer Gesamtverantwortung verbleibt ihnen vielmehr auch im Hinblick auf die übrigen Geschäftsbereiche eine Pflicht zur Information und Überwachung (sog. ressortübergreifende Überwachungspflicht105) Æ § 1 Rz. 102). An die Informationsund Überwachungspflichten der nicht-ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieder dürfen jedoch keine überspannten Anforderungen gestellt werden.106) Nur wenn konkrete Anzeichen dafür bestehen, dass der für Compliance zuständige Ressortleiter seiner Aufgabe nicht pflichtgemäß nachkommt, mithin Compliance-Defizite bestehen, müssen sie im Rahmen ihrer Überwachungsverantwortung einschreiten und darauf hinwirken, dass der Vorstand aktiv wird und die notwendigen Maßnahmen zur Feststellung und ggf. Behebung der CMSDefizite ergreift.107) Bei Zweifeln an der Wirksamkeit und/oder Unwirtschaftlichkeit des CMS bie- 86 ten sich die folgenden Schritte in der genannten Reihenfolge an, die der Vorstand durch eine interne oder externe Fachkraft vornehmen lassen sollte: 

überblicksartige Erfassung der vorhandenen CMS-Elemente und Dokumentation möglicherweise fehlender essentieller Standardelemente,

___________ 102) So zu Recht auch MünchKommGmbHG/Fleischer, § 43 Rz. 115; MHLS/Ziemons, § 43 Rz. 338 (GmbH-Geschäftsführung). 103) Vgl. BeckOGK-AktG/Fleischer, § 77 Rz. 59. 104) Vgl. GroßKomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 35; MünchHdb GesR IV/Wiesner, § 22 Rz. 25. 105) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, AG 1997, 37; MünchHdb GesR IV/Wiesner, § 22 Rz. 24; Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, § 93 Rz. 32; kritisch: Koch, § 77 Rz. 15. 106) Fleischer, NZG 2003, 449 (455); Krause, NStZ 2011, 57 (65): Aufsichtsrat. 107) Vgl. allgemein: BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, AG 2015, 535, Rz. 27; Kremer/ Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer, Rz. 831.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung



 

Überprüfung, ob die einzelnen Schritte der Risikoanalyse (Æ Rz. 109 ff.) sachgerecht durchgeführt worden sind, ggf. Durchführung einer aktuellen Risikoanalyse mit nachgebessertem Verfahren, Abgleich der vorhandenen CMS-Elemente mit den Ergebnissen der Risikoanalyse, Dokumentation der vorgenommenen Schritte der Wirksamkeitskontrolle und Sicherstellung der Dokumentation des gesamten CMS (Æ Rz. 55 ff.).

87 Dringt ein Vorstandsmitglied mit seinen Vorschlägen zur Prüfung und Beseitigung der CMS-Defizite nicht durch, muss es entsprechende Gegenvorstellungen anbringen und notfalls den Aufsichtsrat einschalten.108) b)

Vertikale Delegation109)

aa)

Voraussetzungen einer wirksamen Delegation

88 Der Vorstand muss seine Compliance-Organisationspflichten nicht selbst erfüllen, sondern kann sie – vorbehaltlich der verbleibenden Überwachungsverantwortung (Æ Rz. 96) – auf nachgeordnete Ebenen oder auf externe Compliance-Fachkräfte110) übertragen. In Betracht kommt als interne Lösung vor allem die Etablierung eines Chief Compliance Officers (CCO).111) Compliance-Aufgaben können aber – mangels Errichtung eines Compliance Office – intern auch auf einen Mitarbeiter der Rechtsabteilung (z. B. Leiter Recht) oder eine andere entsprechend qualifizierte Person übertragen werden (nachstehend wird der Einfachheit halber von der Delegation auf den CCO gesprochen). 89 Eine angemessene „abgestufte“ Delegation von Compliance-Aufgaben auf einen CCO bzw. eine Compliance-Abteilung ist nicht nur möglich, sondern bei komplexer arbeitsteiliger Organisation und angesichts des Umfangs von Verhaltensanforderungen gerade in größeren Unternehmen zur effizienten Wahrnehmung der Aufgaben auch ratsam.112) Da Compliance jedoch zur Leitungsaufgabe des Vorstands i. S. d. § 76 Abs. 1 AktG gehört (Æ Rz. 82), ist eine vollständige Delegation der Compliance-Pflichten auf nachgeordnete Abteilungen ausgeschlossen. Die Letztverantwortlichkeit für Compliance im Sinne der Auswahl, Instruktion und Überwachung der Compliance-Funktion kann nicht „wegdelegiert“ werden, sondern verbleibt zwingend beim Vorstand. 90 Macht der Vorstand (was in aller Regel der Fall ist) von der Möglichkeit zur vertikalen Aufgabendelegation Gebrauch, so treffen ihn gewisse Organisations___________ 108) 109) 110) 111)

LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (575). Allgemein zur Delegation von Vorstandsaufgaben Æ § 1 Rz. 117 f. Bürkle/Hauschka/Fabian/Mengel, § 7 Rz. 4. Bei kleineren Unternehmen ohne eine eigene Compliance-Funktionseinheit kommt aber auch die Übertragung von Compliance-Aufgaben auf den Leiter Recht oder eine andere Stelle im Unternehmen in Betracht. 112) Vgl. zur vertikalen Delegation MünchHdb GesR VII/Balke, § 104 Rz. 43.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

pflichten. Er hat eine klare Aufteilung und Zuordnung der verschiedenen Aufgabenbereiche im Unternehmen vorzunehmen.113) Daraus folgt konkret: Der Vorstand hat bei der vertikalen Delegation darauf zu achten, dass114) x

Zuständigkeiten klar und eindeutig zugeordnet werden, also zweifelsfrei bei bestimmten Personen lokalisierbar sind,

x

die wahrzunehmenden Aufgaben möglichst präzise festgelegt werden,

x

ihre Zuweisung lückenlos und überschneidungsfrei ist, damit sich keiner auf den anderen verlassen kann und

x

die Verantwortlichkeiten im Verhältnis zu anderen Abteilungen sowie die Schnittstellen klar abgegrenzt sind (Hierzu ist es unter anderem erforderlich, die inhaltlichen Verantwortlichkeiten der Compliance-Organisation und ihre Schnittstellen mit anderen Abteilungen im Unternehmen genau festzulegen) sowie

x

klare Berichtswege festgelegt sind.

Darüber hinaus ist dringend zu empfehlen, dass der Vorstand die Aufgabenzuordnung in schriftlicher Form vornimmt, idealerweise in einer Vorstandsvorlage, über die der Vorstand beschließt. Keinesfalls ausreichend ist hierbei der Arbeitsvertrag des CCO, auf die teilweise mit Blick auf den Delegationsakt und der Quelle der Pflichten verwiesen wird.115) In der Praxis sind die Tätigkeitsbeschreibungen in den Arbeitsverträgen des CCO und des GC (sowie anderer Mitarbeiter der Rechtsabteilung) recht allgemein und mitunter nahezu identisch formuliert. Eine lückenlose und überschneidungsfreie Abgrenzung anhand dieser Tätigkeitsbeschreibungen ist mithin kaum möglich. Zudem handelt es sich beim Arbeitsvertrag des CCO nicht um einen Organisationsakt des Vorstands. Eine wirksame vertikale Delegation von Compliance-Aufgaben hat – über die 91 allgemeinen unter Æ Rz. 90 genannten Kriterien hinaus – folgende Voraussetzungen:116) 1) Der (interne oder externe) CCO muss sorgfältig ausgesucht werden, d. h. 92 die notwendige Kombination aus wirtschaftlicher und rechtlicher Sachkompetenz sowie die persönliche Eignung und Erfahrung für die übertragene Tätigkeit mitbringen. ___________ 113) Hölters/Weber/Hölters, § 93 Rz. 44 f.; Großkomm-AktG/Kort, § 77 Rz. 41. 114) Vgl. BGH (II ZR 11/17) NZI 2019, 225; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt-Husson, § 6 Rz. 26; Schulz, BB 2019, 579 (582); Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401; Fleischer, NZG 2014, 321 (324); Schulze, NJW 2014, 3484 (3485) unter II. 2.; Urban, GWR 2013, 106; Bicker, AG 2012, 540 (546); Meier-Greve, BB 2009, 2555 (2556). 115) Vgl. dazu näher Bürkle/Hauschka/Fabian/Mengel, § 7 Rz. 3 ff. 116) Vgl. dazu Schulze, NJW 2014, 3484 (3485); Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (405); Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 173 ff. und 213 f. und Busekist/Schmitz, § 3 Rz. 42 f.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

93 2) Die Pflichtenübertragung bedarf eines Delegationsaktes des Vorstands (Æ Rz. 90). 94 3) Der CCO muss ordnungsgemäß instruiert werden, insbesondere über die relevanten Geschäftsabläufe und die bereits identifizierten Risiken im Unternehmen. 95 4) Es muss sichergestellt sein, dass dem CCO die für die Aufgabenerledigung notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden und er die notwendigen (Überwachungs-)Befugnisse erhält, mindestens Informations-, Auskunfts- und Zugangsrechte sowie ggf. Interventionsrechte, soweit im Einzelfall sinnvoll. 96 5) Der delegierende Vorstand muss die ihm verbleibenden Überwachungspflichten wahrnehmen. Die Anforderung an die bei der Unternehmensleitung verbleibende Pflicht zur Überwachung und Kontrolle des CCO dürfen nicht überspannt werden. Vielmehr gilt nach dem allgemein anerkannten Vertrauensgrundsatz, dass der Delegierende bei sorgfältiger Auswahl und Einweisung grundsätzlich darauf vertrauen kann, dass der Delegationsemfänger sich im Rahmen seines Pflichtenkreises ordnungsgemäß verhält.117) Eine Pflicht zum Ergreifen spezifischer Kontrollmaßnahmen besteht erst dann, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der übertragenen Aufgaben nicht mehr gewährleistet ist. bb)

Übertragung der strafrechtlichen Garantenpflicht qua wirksamer Delegation

97 Die Delegation von Compliance-Pflichten auf nachgeordnete Ebenen, namentlich auf den CCO, ist für Vorstandsmitglieder auch deshalb von enormer Bedeutung, weil sie ihre strafrechtliche Garantenpflicht qua wirksamer (!) Delegation auf den CCO übertragen können.118) 98 Es ist allgemein anerkannt, dass Vorstandsmitglieder aufgrund ihrer Stellung und Funktion eine sog. strafrechtliche Garantenpflicht i. S. v. § 13 StGB119) zur Verhinderung von Straftaten treffen kann.120) Nicht nur der aktive Ver___________ 117) BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017 = AG 1997, 37; Hölters/ Weber/Weber, § 77 Rz. 36; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 153; Schönke/Schröder/ Sternberg-Lieben/Schuster, § 15 Rz. 151. 118) Raum, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 65 (66 f.); Schulze, NJW 2014, 3484; Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113 (140); Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Mosbacher, § 5 Rz. 28. 119) § 13 Abs. 1 StGB lautet: „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.“ 120) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237; Fischer, § 13 Rz. 68 ff.; Schönke/ Schröder/Stree/Bosch, § 12 Rz. 53; KK-OWiG/Rengier, § 8 Rz. 47; BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 91 Rz. 79; m. E. zu Recht kritisch: MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 78.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

stoß, sondern auch das Unterlassen der möglichen und zumutbaren Verhinderung von Straftaten, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden, kann mithin eine Strafbarkeit begründen. Das bedeutet: Begeht ein Mitarbeiter des Unternehmens eine Straftat, können Mitglieder des Vorstands oder der Geschäftsführung selbst unmittelbar strafrechtlich belangt werden, wenn und weil sie gegen die ihnen bekannt gewordene Straftat nicht eingeschritten sind. Dieses strafrechtliche Rechtsinstitut wird als „Geschäftsherrenhaftung“121) bezeichnet (dazu auch Æ § 20 Rz. 25 ff.). Wann eine strafrechtliche Garantenpflicht im vorbeschriebenen Sinne besteht, 99 die es rechtfertigt, das Unterlassen der Abwendung einer Straftat durch Mitarbeiter ihrer Begehung gleichzustellen, kann nicht generell-abstrakt bestimmt werden. Vielmehr hängt die Entscheidung von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab.122) Unstreitig ist, dass keine allgemeine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten Beschäftigter schlechthin besteht. Vielmehr beschränkt sich die Garantenpflicht – nach der Formulierung des BGH123) – auf die Verhinderung sog. „betriebsbezogener Straftaten“ und nicht solcher Taten, „die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht“. In der Rechtsprechung und Fachliteratur sind bislang keine handhabbaren und 100 klar konturierten Kriterien entwickelt worden, wann eine Tat betriebsbezogen ist. Das Merkmal der Betriebsbezogenheit wird wie folgt umschrieben: Allgemeine Gefahren, die aus jedem Betrieb schon deswegen drohen, weil sich hier soziale Zwangsgemeinschaften mit ihren typischen Reibungspunkten ergeben, können nicht als betriebsbezogen angesehen werden. Es darf sich mithin nicht um eine Tat handeln, die sich außerhalb des Betriebes genauso ereignen könnte (wie z. B. sexuelle Übergriffe oder Diebstähle gegenüber Beschäftigten und Besuchern). Vielmehr muss die Begehung der Tat Ausfluss der dem Betrieb oder der speziellen Tätigkeit des Mitarbeiters spezifisch anhaftenden Gefahren sein.124) Eine Straftat mit Betriebsbezug, für welche die Unternehmensleitung nach 101 dem Rechtsinstitut der Geschäftsherrenhaftung belangt werden kann liegt dann vor, wenn 1) einem Mitarbeiter des Unternehmens konkrete Aufgaben und Pflichten zur Wahrnehmung in eigener Verantwortung übertragen worden sind125), 2) der Mitarbeiter eine Straftat begeht, die im inneren Zusammenhang mit seinem Aufgabenbereich und Pflichtenkreis steht (z. B. Bildung schwarzer ___________ 121) Vgl. Bülte, NZWiSt 2012, 176 ff.; Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113 (140). 122) BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08, ZIP 2009, 1867 (Rz. 23); BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, ZIP 2012, 1552. 123) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237 = ZIP 2012, 389. 124) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, ZIP 2012, 389 (Rz. 14 f.); Bülte, NZWiSt 2012, 176, 177; Fischer, § 13 StGB Rz. 68. 125) Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis/Mansdörfer, § 13 StGB Rz. 11.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Kassen, Bestechungszahlungen zum Erhalt von Aufträgen, bewusst falsche Angaben gegenüber dem Finanzamt) und 3) der betreffende Mitarbeiter sich im personellen Verantwortungsbereich des Vorstands- oder Geschäftsführungsmitglieds befindet.126) cc)

Garantenpflicht des Compliance Officers

102 Wie soeben dargestellt, können Vorstände ihre Garantenpflicht durch wirksame vertikale Delegation auf Mitarbeiter der unteren Managementebene übertragen. Angesprochen ist damit in der Praxis vor allem der CCO bzw. CO. Der 5. Strafsenat des BGH hat in einem viel diskutierten Urteil aus dem Jahr 2009127) eine grundsätzliche Garantenpflicht des CO bejaht. Es sei – so der BGH – in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine Garantenpflicht aus der Übernahme bestimmter Funktionen abgeleitet werden könne. So könne eine Garantenpflicht dadurch begründet werden, dass einem Mitarbeiter des Unternehmens vertraglich (also im Dienst- bzw. Arbeitsvertrag) bestimmte Überwachungs- und Schutzpflichten auferlegt werden und er diese Pflichten sodann tatsächlich übernimmt. Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich in einem solchen Fall aus dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche im Vertrag übernommen hat. 103 Zum vertraglich übernommenen Pflichtenkreis eines CO gehört nach Auffassung des BGH128) die Verhinderung von Rechtsverstößen, insbesondere auch von Straftaten, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden und diesem erhebliche Nachteile durch Haftungsrisiken oder Ansehensverlust bringen können. Den Compliance Officer treffe daher regelmäßig eine Garantenpflicht i. S. d. § 13 Abs. 1 StGB, solche im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Unternehmens stehenden Straftaten von Unternehmensangehörigen zu vermeiden. Dies sei die notwendige Kehrseite seiner gegenüber der Unternehmensleitung übernommenen Pflicht, Rechtsverstöße und insbesondere Straftaten zu unterbinden. 104 Begeht ein Mitarbeiter eine unternehmensbezogene Straftat (Æ Rz. 101), so ist zur Beantwortung der Frage, ob den CO eine strafrechtliche Garantenpflicht, mithin eine Unterlassungsstrafbarkeit nach § 13 StGB trifft, folgende Prüfungsschritte vorzunehmen: 105 1) In einem ersten Schritt ist zu klären, ob die Straftat nach der betriebsinternen Zuständigkeitsverteilung im Pflichtenkreis des Compliance Officers stattgefunden hat. Maßgebend für die Reichweite dieses Pflichtenkreises ist nach dem Vorstehenden der an den CO vertraglich delegierte Aufgaben- und ___________ 126) Vgl. Fischer, § 13 StGB Rz. 68. 127) BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08, ZIP 2009, 1867. 128) BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08, ZIP 2009, 1867 (Rz. 27).

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Zuständigkeitsbereich. Im Hinblick hierauf ist der Arbeitsvertrag des CO und alle weiteren zur Konkretisierung seines Tätigkeitsbereichs ergangenen Aufgabenzuweisungen auszulegen. 2) Im zweiten Schritt ist zu fragen, welche Handlungspflicht des CO bei Ver- 106 dacht der (bevorstehenden) Straftat oder gar bei positiver Kenntnis davon bestand: Bei Verdacht von Regelverstößen hat der CO zunächst die Pflicht zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts. Mit den hierzu notwendigen Befugnissen sollte er im Rahmen einer wirksamen Delegation ausgestattet worden sein (Æ Rz. 95). Verhärtet sich der Verdacht einer Straftat durch Mitarbeiter, besteht die Kernpflicht des CO in der Informationsweitergabe, d. h. der ordnungsgemäßen Unterrichtung des für ihn zuständigen Vorstandsmitglieds.129) Steht das zuständige Vorstandsmitglied selbst unter Verdacht oder handelt das informierte Vorstandsmitglied in erkennbar pflichtwidriger Weise nicht, so hat der CO in einem nächsten Schritt den Vorstandsvorsitzenden oder den Gesamtvorstand zu informieren. Steht der Gesamtvorstand unter Verdacht bzw. bleibt der Gesamtvorstand nach der Information in erkennbar pflichtwidriger Weise untätig, so hat der CO zwar nicht die Pflicht, wohl aber das Recht, den Aufsichtsrat zu informieren.130) Grundsätzlich enden die Handlungspflichten des CO mit der vorbeschriebenen Information des Vorstands. Eine Pflicht zum unmittelbaren Einschreiten gegen die involvierten Mitarbeiter besteht grundsätzlich nicht, es sei denn, dem CO sind für einen solchen Fall Weisungskompetenzen sowie disziplinarische Befugnisse eingeräumt worden.131) Sieht m. a. W. der Arbeitsvertrag des CO lediglich Berichtspflichten vor, macht sich der CO nicht strafbar, wenn er dieser Pflicht ordnungsgemäß nachkommt. Mit der Berichterstattung an den Vorstand hat der CO seine Compliance-Verantwortung praktisch punktuell zurück übertragen. Es besteht – von spezialgesetzlich ausdrücklich normierten Ausnahmefällen abgesehen (z. B. § 43 GwG) – keine Anzeigepflicht des CO gegenüber (Strafverfolgungs-)Behörden (z. B. StA oder BaFin).132) 3) Eine Unterlassungsstrafbarkeit des CO setzt schließlich Kausalität voraus: 107 Nur wenn das erwartete Handeln des CO die Straftat hätte abwenden können, ist das Unterlassen dem Tun gleichzustellen. Es muss Gewissheit oder an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass die Straf___________ 129) 130) 131) 132)

Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (59). Raus/Lützeler, CCZ 2012, 96 (99); Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (60). Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (59 f.). Bürkle/Hauschka/Wessing/Dann, § 9 Rz. 98 f.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

tat des Mitarbeiters bei Vornahme der unterlassenen Handlung durch den CO nicht begangen worden oder zumindest der Erfolg in wesentlich geringerem Umfang eingetreten wäre.133) Insoweit bedarf es einer Prognose, wie sich der Vorstand verhalten hätte, wenn er vom CO rechtzeitig und ordnungsgemäß informiert worden wäre. 108 4) Die Strafbarkeit des CO setzt schließlich Vorsatz voraus. Ausreichend ist ein bedingter Vorsatz: Es genügt, wenn der CO die Begehung der Straftat als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Nichthandelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich zumindest damit abfindet, mag ihm der Erfolg an sich auch unerwünscht sein.134) II.

Vier Grundschritte zur Umsetzung eines präventiven ComplianceManagement-Systems

1.

Einleitung: Risikoanalyse als Basis

109 Ein wirksames CMS besteht auf der obersten Abstraktionsebene lediglich aus vier Grundschritten: 1) Risikoidentifikation (Æ Rz. 116 ff.), 2) Risikobewertung (Æ Rz. 142 ff.) und -priorisierung (Æ Rz. 150 ff.), 3) Übersetzung in Risikosteuerungsmaßnahmen (Æ Rz. 156 ff.) 4) Monitoring der Risiken und Steuerungsmaßnahmen (Æ Rz. 196 ff.) 110 Eine kontinuierliche Risikoanalyse (auch Compliance Risk Assessment bzw. abgekürzt häufig CRA genannt) bildet die Basis eines wirksamen CMS. Denn nur wer seine aktuellen und potentiellen Risiken kennt, kann diesen durch wirksame Maßnahmen begegnen.135) Daher setzen zu Recht auch nationale Compliance-Standards wie der IDW PS 980 (dazu Æ Rz. 25 ff.) und internationale Standards wie ISO 37301: Compliance Management Systems – Guidelines und ISO 37001 Anti Bribery Management eine Risikoanalyse voraus. 111 Nachstehend sollen die drei Teilschritte einer Risikoanalyse (Risikoidentifikation, -bewertung und -priorisierung) skizziert werden. Zunächst ist folgendes zu beachten: Zwar trägt der Vorstand die originäre Verantwortung für die Risikoanalyse.136) Allerdings ist die (erstmalige) Durchführung einer der Risikoanalyse sowie die kontinuierliche Beobachtung der Compliance-Risiken (Æ Rz. 196) keineswegs nur die Aufgabe des Vorstands bzw. (bei Delegation) des Compliance Office ist. Vielmehr sind vor allem die Risiko- und Prozesseigner aktiv in diesen Prozess einzubinden. Daher müssen alle operativen Einheiten und ihre ___________ 133) 134) 135) 136)

Schönke/Schröder/Stree/Bosch, § 13 Rz. 61. Vgl. BGH, Urt. v. 7.7.2016 – 4 StR 558/15, BeckRS 2016, 13942 (Rz. 14). Haag/Bindschädel, CB 2021, 64; Lochen, CCZ 2017, 92. Haag/Bindschädel, CB 2021, 112.

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Leitungen sowie alle risikorelevanten Mitarbeiter über ihre jeweiligen Pflichten, Aufgaben und Maßnahmen im Hinblick auf die kontinuierliche Risikobeobachtung informiert und sensibilisiert werden. Die Risikoanalyse muss also eng in die operativen und fachlichen Abläufe integriert sein. Ziel ist es, die Risikoanalyse möglichst nahe an den risikobehafteten Kontexten und Prozessen anzusiedeln. Hierzu dienen beispielsweise das periodische und ereignisbezogene Risiko-Reporting einzelner Geschäftseinheiten als Risikoeigner (Æ Rz. 123 f.) sowie persönliche Einzelgespräche (Æ Rz. 187) und Risiko-Workshops (Æ Rz. 135 f.) des Compliance Office. Die Risikoanalyse sollte sowohl Top-down als auch Bottom-up durchgeführt 112 werden. Es sollten also sowohl die Beurteilungen der Unternehmensleitung und relevanter Führungsebenen als auch die der ausführenden, prozessnächsten Mitarbeiter sowie relevanter Fachfunktionen in die Risikoanalyse einfließen. Dies sollte aus der CMS-Dokumentation (Æ Rz. 55 ff.) hervorgehen. Wie bereits eingangs (Æ Rz. 1) erwähnt, sind die hier aufgeführten Wirksamkeits- 113 kriterien und Umsetzungsbeispiele als allgemeine Leitlinien für eine Vielzahl von Unternehmen zu verstehen. Es existiert keine fixierte „Standardmethode“ zur Durchführung einer Risikoanalyse, die von jedem Unternehmen werden kann. Vielmehr sieht man in der Praxis durchaus unterschiedliche und individuelle Ansätze zur Umsetzung einer Risikoanalyse. In der Praxis hat es sich bewährt, sich vor Durchführung der eigentlichen „klassischen“ Compliance-Risikoanalyse (dieser also vorgelagert) zunächst im Rahmen einer Relevanzanalyse auf Basis des DICO Risikokatalogs137) einen Überblick über die relevanten Compliance Risikofelder zu verschaffen und mögliche „Governance Owner“ für die relevanten Themenfelder zu identifizieren.138) Damit sind zwei Schritte zur Vorbereitung einer Risikoanalyse angesprochen: x

Festlegung des Scopes: Vor der Durchführung einer Risikoanalyse wird 114 regelmäßig zumindest grob analysiert und abgeschätzt, welche Themenfelder und Geschäftsaktivitäten in jedem Fall in die Risikoanalyse einbezogen werden müssen. Basis dieser sog. Relevanzanalyse können beispielsweise Risikoberichte der jeweiligen Branche, dokumentierte frühere Verdachtsfälle oder Compliance-Verstöße im Unternehmen sowie sonstige Dokumente der internen Revision, der Rechtsabteilung und/oder des Risikomanagements sowie Erfahrungswerte bezüglich der Risikogeneigtheit innerhalb des Unternehmens sein.139) Es sollte jedoch nach Möglichkeit tunlichst vermieden werden, die Reichweite der Risikoanalyse von vornherein auf bestimmte Rechtsgebiete (z. B. Korruption und Kartellrecht), Unternehmensbereiche

___________ 137) https://www.dico-ev.de/2016/08/30/dico-risikokatalog/ (letzter Abruf: 2.1.2022); der vollständige Risikokatalog kann über die DICO Geschäftsstelle angefordert werden. 138) Matthey/Schreiner, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 10 ff. 139) Haag/Bindschädel, CB 2021, 112.

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(z. B. Einkauf und HR), Gesellschaften und/oder Jurisdiktionen einzuschränken. Vielmehr sollte die Risikoanalyse nach Möglichkeit umfassend sein. Sollte dies mangels personeller und/oder finanzieller Ressourcen nicht möglich sein, sollte die Einschränkung der Risikoanalyse sehr sorgfältig erfolgen. 115 x

Festlegung von Rollen und Verantwortlichkeiten: Vor Durchführung der Risikoanalyse muss zudem festgelegt werden, wer innerhalb des Unternehmens für welche (Rechts-)Risiken die Verantwortung trägt.

Anschließend kann mit der eigentlichen Risikoanalyse begonnen werden: 2.

Risikoidentifikation

a)

Sammlung von Hinweisen

116 Nicht identifizierten Risiken kann nicht durch entsprechende Maßnahmen vorgebeugt werden. Die sachgerechte Risikoidentifikation ist daher der erste und zentrale Schritt der Risikoanalyse und bildet die Grundlage für die Entwicklung eines wirksamen CMS. Dabei geht es um die Sammlung aller nicht ganz unwahrscheinlichen Compliance-Risiken, ungeachtet ihrer zunächst vermuteten konkreten Relevanz, Eintrittswahrscheinlichkeit oder Schadenswirkung. Es sollte in diesem ersten Teilschritt also bewusst noch keine Bewertung einzelner identifizierter Risiken erfolgen. Denn Intensität und mögliche Schadenswirkungen einzelner Risiken lassen sich häufig nicht isoliert, sondern erst im Zusammenwirken mit anderen identifizierten Risiken sachgerecht beurteilen, deren Gesamtbestand erst am Ende der Risikoidentifikation vorliegt. 117 Von der Verwendung etwaiger „Risiko-Checklisten“ bei der Risikoidentifikation ist in der Regel abzuraten, weil durch diese eine Einengung des Blicks auf einen vorgefertigten Kreis von Risiken erfolgen würde, die der individuellen Unternehmenssituation mit ihren regelmäßig komplexen Zusammenhängen nicht oder nur zum Teil entspräche. 118 Wichtig ist die dauerhafte Dokumentation der identifizierten Risiken. Ab einem gewissen Grad der Komplexität sind Excel-Tabellen nicht mehr praktikabel. Hier bieten sich auf dem Markt vorhandene Softwarelösungen zum ComplianceRisikomanagement an. 119 Nachstehend werden die für die Unternehmensleitung wichtigsten Informationskanäle zur Risikoidentifikation skizziert, wobei stets mehrere Informationskanäle parallel eingesetzt werden sollten: b)

Audits

120 Eine wichtige Quelle der Risikoidentifikation bilden durch interne oder externe Fachleute durchgeführte Audits. Hierbei lassen sich zwei Grundarten unterscheiden:

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Audits können einerseits zwecks Ermittlung operativer Compliance-Risiken – 121 etwa von Korruptionsrisiken bei bestimmten geschäftlichen Abläufen – eingesetzt werden (sog. Risiko-Audits). Sie können aber auch der Überprüfung der Wirksamkeit bestehender CMS-Maß- 122 nahmen, -Instrumente und -Prozesse dienen (sog. CMS-Audits). Denn auch aus der unwirksamen Gestaltung von CMS-Maßnahmen ergeben sich – zusätzlich zu den bestehenden operativen Compliance-Risiken – zusätzliche Systemrisiken. Durch Compliance-Audits sollen die Schwachstellen des CMS identifiziert und behoben werden. Möglich sind hierbei sowohl die Prüfung des gesamten CMS als auch Einzelprüfungen und Gutachten, die sich auf einzelne Elemente beziehen. Mit Vorsicht zu behandeln sind Compliance-„Zertifizierungen“: Sie vermitteln zwar eine momentbezogene externe Einschätzung des CMS, jedoch in aller Regel keine Rechtssicherheit in Bezug auf die Wirksamkeit des CMS und damit keine haftungsbefreiende Wirkung (Æ Rz. 31). c)

Risiko-Reporting

Jedes CMS ist nur so wirksam wie die Berichterstattung zu neuen und verän- 123 derten Compliance-Risiken. Ein wirksam gestaltetes kontinuierliches (ggf. konzernweites) Risiko-Reporting liefert fortwährend Informationen mit Relevanz für die Risikoidentifikation. Risiko-Reporting besteht im periodischen (z. B. monatlichen oder quartalsweisen) und anlassbezogenen Reporting bei besonderen Ereignissen. Berichterstatter sind die Risikoeigner in den Geschäftseinheiten. Die Bericht- 124 erstattung erfolgt an den Chief Compliance Officer (CCO), der die Informationen zusammenführt und aggregiert. Ein wirksames Risiko-Reporting sollte folgende Grundvoraussetzungen erfül- 125 len140): 

klar festgelegte einheitliche Aufgaben, Ziele und Reporting-Intervalle,



einheitlich und klar definierte Mess- und Bewertungskriterien für Risiken,



präzise Festlegung der Kriterien der Ad-hoc-Berichterstattung,



Verwendung von unternehmensweit einheitlichen Reporting-Formaten,



eindeutige Festlegung der für das Reporting Verantwortlichen (Berichterstatter und Adressaten) sowie



Training und Einweisung der Verantwortlichen.

___________ 140) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 302.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

d)

Hinweisgebersysteme

126 Für Unternehmen in Deutschland bestand bislang mit Ausnahme von bestimmten Branchen (z. B. § 25a Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 KWG für Kreditinstitute141) und § 23 Abs. 6 VAG für Versicherungen) keine Rechtspflicht zur Einrichtung von Hinweisgebersystemen. Dies hat sich mit dem Hinweisgeberschutzgesetz (HinschG), das am 2.7.2023 in Kraft getreten ist, geändert. Mit dem Gesetz soll der bislang lückenhafte und unzureichende Schutz hinweisgebender Personen in Deutschland ausgebaut werden. Es verpflichtet alle Unternehmen mit in der Regel mehr als 50 Personen, eine interne Meldestelle einzurichten und zu betreiben (vgl. § 12 HinSchG). Darüber hinaus werden ein konkretes Verfahren bei internen Meldungen (§ 17 HinSchG) und konkrete Dokumentationspflichten festgelegt (§ 11 HinSchG) festgelegt sowie ein Vertraulichkeitsgebot statuiert.142) 127 Die immense Bedeutung effektiver Hinweisgebersysteme als notwendiger und zentraler Bestandteil einer sachgerechten Risikoidentifikation und damit eines wirksamen CMS wird jedoch dadurch deutlich, dass Empf. und Anr. A.4 DCGK 2022 (zu Recht) explizit die Implementierung geeigneter Hinweisgebersysteme empfiehlt. Mitarbeiter und bei Bedarf auch relevante Dritte, wie etwa Geschäftspartner, sollen auf diese Weise die Möglichkeit erhalten, geschützt Hinweise auf Rechtsverstöße im Unternehmen zu geben. Das Vorhandensein eines wirksamen Hinweisgebersystems hat darüber hinaus Präventionswirkung im Hinblick auf künftiges Fehlverhalten. 128 Folgende Möglichkeiten der Errichtung eines Hinweisgebersystems sind gängig: 

interne Lösung durch Nennung eines vertrauensvollen persönlichen Ansprechpartners innerhalb des Unternehmens, etwa im Compliance Office, in der Rechtsabteilung, in der Unternehmensleitung oder in den nachgeordneten Managementebenen,



externe Ombudspersonen143) und andere persönliche Ansprechpartner außerhalb des Unternehmens,



Telefonhotlines und/oder



elektronische (intranetbasierte) Meldesysteme mit der Möglichkeit anonymer Kommunikation für den Informationsgeber.

___________ 141) Æ § 11 Rz. 10. 142) Vgl. Überblick zum HinSchG bei Bruns, NgW 2023, 1609. 143) Ombudspersonen sind in der Regel externe Rechtsanwälte, die vom Unternehmen mandatiert und mit der Aufgabe betraut werden, Hinweise auf Rechtsverstöße von Informanten vertraulich entgegenzunehmen, diese zu filtern und an eine vom Auftraggeber bestimmte Stelle zu berichten oder im Einzelfall selbst zu ermitteln, vgl. dazu Bürkle/Hauschka/ Buchert, § 10 Rz. 37 ff.

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Auch bei der Einrichtung von Hinweisgebersystemen gibt es keine „one size 129 fits all“-Lösung. Für welche der genannten Lösungen sich ein Unternehmen entscheidet, hängt von den individuellen Faktoren wie beispielsweise Internationalität, Unternehmensgröße und der Anzahl der Standorte ab (Beispiel Æ Rz. 15). In Unternehmen ab einer bestimmten Größe sollte das Hinweisgebersystem idealerweise aus mehreren alternativen Informationsinstrumenten bestehen, unter denen die Informationsgeber auswählen können. In der Praxis bleiben zahlreiche Regelverstöße und damit Compliance-Risiken des 130 Unternehmens unentdeckt, weil Informationen zu Fehlverhalten aufgrund von Bedenken zur Vertraulichkeit der Informationen und der Identität des Berichterstatters sowie aus Furcht vor Repressalien häufig unterbleiben. Ein entscheidendes Kriterium für die Wirksamkeit von Hinweisgebersystemen ist daher, dass Vertrauen der Belegschaft in die Hinweisgebersysteme besteht und sie sich „im Falle eines Falles“ trauen, angebotene Kanäle auch wirklich zu nutzen.144) Hierzu muss die entsprechende Compliance-Kultur geschaffen werden (Æ Rz. 192 f.). Die Unternehmensleitung und das Compliance Office sollten einerseits zur Nutzung des Hinweisgebersystems ausdrücklich ermutigen. Andererseits muss sich der Hinweisgeber ernstgenommen wissen. Nach Eingang eines Hinweises ist es daher wesentlich, schnell aktiv zu werden und dem Hinweisgeber zu signalisieren, dass sein Hinweis bearbeitet wird.145) e)

Meldesysteme für Verbesserungsvorschläge zum CMS

Selbst ein formal wirksam ausgeprägtes CMS kann aufgrund mangelnder Mit- 131 arbeiterakzeptanz letztlich zumindest teilweise unwirksam sein. Daher muss die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des CMS in den Geschäftsbereichen auch aus der Perspektive der Mitarbeiter bewertet werden. Deren Wahrnehmung stimmt aber mit der des Vorstands und des Compliance Office nicht immer vollständig überein. Als Teil eines wirksamen CMS sollten die Mitarbeiter der Geschäftsbereiche daher ausdrücklich ermutigt werden, Rückmeldungen in Form von Kritik und Verbesserungsvorschlägen zum CMS einzureichen. Wichtig und hilfreich ist hierfür insbesondere der intensive informelle Kontakt des CCO und des übrigen Compliance-Fachpersonals zu den Geschäftseinheiten. Für Verbesserungsvorschläge können – je nach Unternehmensgröße – neben 132 Leitungspersonen und dem Compliance-Fachpersonal als Adressaten auch institutionalisierte Kommunikationskanäle geschaffen werden, etwa durch Eingabemasken im Compliance-Intranet des Unternehmens oder durch entsprechend benannte E-Mail-Adressen. In kleineren Unternehmen sind in der Regel persön-

___________ 144) Miege, CCZ 2018, 45. 145) Miege, CCZ 2018, 45 (46).

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liche Ansprechpartner und einfache Informationskanäle etwa über E-Mails ausreichend. 133 Aufgrund der dargestellten essentiellen Bedeutung des Mitarbeiterfeedbacks für die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des CMS bieten sich in Unternehmen in größeren Abständen spezifische Mitarbeiterumfragen zum CMS an. f)

Informationsgespräche und Compliance-Risiko-Workshops

134 Die Risikoidentifikation wird in der Praxis regelmäßig auch durch fragebogengestützte Informationsgespräche durchgeführt, die in einem ersten Schritt mit den Führungskräften der zu untersuchenden Einheiten erfolgen. Erst in einem zweiten Schritt werden bei erkannten Risiken und tiefergehendem Informationsbedarf ggf. Fragebögen an die darunterliegenden Einheiten verteilt und weitere Gespräche geführt.146) 135 Daneben sind Risk Workshops ein bewährtes Instrument im Rahmen der Risikoidentifikation und -bewertung. Sie führen neben ihrem primären Einsatzzweck (Identifizierung und Bewertung von (neuen) Risiken) stets zu einem verbesserten Risikoverständnis der Beteiligten und zu wichtigen Erkenntnissen über den Zusammenhang verschiedener Einzelrisiken und Risikoparameter. 136 Einsetzbar sind Risiko-Workshops in allen Unternehmensbereichen. Sie können sowohl auf der Ebene der Unternehmensleitung im Rahmen der Top-downBeurteilung von Risiken durchgeführt werden als auch Bottom-up auf allen Ebenen darunter. In Abhängigkeit von den gesetzten Zielen können aber auch gemischte Workshops durchgeführt werden. Risiko-Workshops sollten in der Unternehmensleitung und in den relevanten Unternehmensbereichen je nach Risikosituation periodisch stattfinden; außerhalb von Krisenzeiten sind halbjährliche oder jährliche Intervalle sinnvoll. Daneben sind selbstverständlich anlassbezogene Risiko-Workshops möglich und sinnvoll. 137 Wichtig ist eine sorgfältige Vorbereitung eines Risiko-Workshops. Hierbei gelten folgende Leitlinien147): 

klare Zielsetzungen und Ausrichtung auf konkrete angestrebte Ergebnisse,



Limitierung der Teilnehmerzahl derart, dass die einzelnen Perspektiven und Einschätzungen hinreichend eingebracht werden können,

Einbeziehung der relevanten Prozess- und Risikoeigner (jeweils mindestens ein Vertreter); weitere relevante Teilnehmer sind insbesondere Mitglieder des Compliance Office, der Rechtsabteilung, der internen Revision, des Bereichs Risikomanagement oder Finanzen sowie HR, ___________



146) Vgl. dazu Lochen, CCZ 2017, 92 (93). 147) Vgl. zur Vorbereitung und Durchführung von Risiko-Workshops: Hauschka/Lösler/ Moosmayer/Pauthner/Stephan, § 16 Rz. 95 ff.; Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 316 ff.

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frühzeitiges Briefing der Teilnehmer über die Ziele und das Verfahren des Risikoworkshops.

Der Ablauf eines Risiko-Workshops entspricht der Grundstruktur der Risiko- 138 analyse mit den Phasen Risikoidentifikation bzw. -sammlung sowie Risikobewertung und -priorisierung. Bei Bedarf können Empfehlungen zu geeigneten Steuerungsmaßnahmen bereits im Workshop erarbeitet werden. Moderiert werden Risiko-Workshops regelmäßig von internen und/oder externen ComplianceFachkräften. Zu Beginn des Workshops erläutert der Moderator den Anlass des Risiko- 139 Workshops, etwa das periodische Risikoaudit oder Ereignisse und Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit, die den Workshop erforderlich machen. Es folgt üblicherweise ein Überblick über die Risikoentwicklung der letzten Periode anhand der Ergebnisse vorangegangener Audits, Workshops oder anderer Informationsquellen. Es geht sodann in den freien Diskurs über, in den die individuellen Kompetenzen und Perspektiven der Teilnehmer eingehen. Als Dokumentation wird ein Ergebnisprotokoll des Workshops erstellt. Diese 140 Ergebnisse können weiterer Aufklärung bedürfen, etwa durch Rücksprachen mit internen Fachabteilungen. Die konsolidierten Ergebnisse des Risiko-Workshops werden in die Risikodatenbank (Æ Rz. 155) aufgenommen. g)

Ergebnisse interner Untersuchungen

Die Aufklärung möglicher Compliance-Verstöße im Wege interner Untersu- 141 chungen (dazu Æ Rz. 199 ff.) ergibt regelmäßig wichtige Hinweise auf materielle Compliance-Risiken oder auf CMS-Statusrisiken. Diese, idealerweise in einem Untersuchungsbericht aufgearbeiteten Hinweise müssen Eingang in die Risikosammlung als erstem Schritt der Risikoanalyse finden und danach gründlich analysiert und bewertet werden, um identifizierte Defizite abzustellen und ähnliche Verstöße in der Zukunft zu verhindern. Diese Verbesserung des CMS als Lernergebnis aus vorgefallenen Compliance-Verstößen wird als Remediation bezeichnet148) (Æ Rz. 316 f.). 3.

Risikobewertung und -priorisierung

Nach der Risikoidentifikation ist die wirksame Risikobewertung der zweite 142 Grundschritt in Richtung eines wirksamen und wirtschaftlichen CMS. Alle im Rahmen der Risikoidentifikation gesammelten Compliance-Risiken müssen hierbei entsprechend ihres materiellen und immateriellen Schadenspotenzials sowie der plausiblen Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens unter Einbeziehung der begründeten Einschätzungen der hierzu kompetenten Unternehmensangehörigen bewertet werden. ___________ 148) Vgl. Moosmayer Rz. 395.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

143 Entsprechend dem Top-down/Bottom-up-Prizip (Æ Rz. 112) müssen unterschiedliche Unternehmensebenen in die Risikobewertung einbezogen werden. Stets sollten die Einschätzungen der am nächsten an den risikorelevanten Prozessen arbeitenden Mitarbeiter beachtet werden. Daneben sollten etwa die relevanten Bereichs-/Standortleitungen oder andere Mitglieder nachfolgender Managementebenen sowie ggf. Mitglieder der Unternehmensleitung einbezogen werden. 144 Die auf Grundlage der verschiedenen Einschätzungen vorgenommene Risikobewertung erfolgt üblicherweise nach zwei Dimensionen: Wahrscheinlichkeit des Eintritts und zu erwartende Schadenshöhe. Für die Wirksamkeit der Risikobewertung ist es essenziell, dass für alle Beteiligten unternehmensweit dieselben Beurteilungskategorien für Wahrscheinlichkeiten von Schadensfällen sowie für die Einschätzung von Schadenshöhen definiert werden. Anderenfalls entstehen „Übersetzungsunschärfen“, indem beispielsweise die Intensität einzelner Risiken in unterschiedlichen Unternehmensbereichen uneinheitlich bewertet wird. Damit könnte auch die Steuerung der Risiken nicht unternehmensweit wirksam erfolgen. 145 Praktikabel sind beispielsweise die folgenden sechs Kategorien: 

Wahrscheinlichkeit: Unwahrscheinlich, entfernt möglich, durchaus möglich, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, sicher,



Schadenshöhe: Unwesentlich, gering, moderat, beträchtlich, gravierend, bestandsbedrohend.

146 Für die Vereinheitlichung der Beurteilungskategorien muss jede einzelne Kategorie mit Erläuterungen präzisiert werden, so dass ein einheitliches Verständnis der an der Risikobeurteilung Beteiligten in allen Unternehmensteilen, Ländern und Standorten sichergestellt wird. 147 Regelmäßig (jedenfalls bei Unternehmen ab einer bestimmten Größe, die über eine Risikomanagementsystem verfügen) wird die Methodik der Risikobewertung m. E. zu Recht einheitlich von der Risikomanagement-Abteilung vorgegeben. Denn – gemäß IDW PS 340 n. F.149) – hat die Risikomanagement-Abteilung die identifizierten Risiken in einem gemeinsamen Risikoinventar systematisch zu dokumentieren (TZ 17), was die die Compliance-Risiken einschließt. Die identifizierten Risiken sind zudem bzgl. deren Eintrittswahrscheinlichkeit und mögliche Auswirkungen systematisch zu bewerten. Bewertungsverfahren und -kriterien sind eindeutig zu definieren (TZ 18). Eine einheitliche Vorgabe der Risikobewertungsmethode macht auch Sinn, weil die die im Rahmen der Risikofrüherkennung vorzunehmende Risikoaggregation nur dann sinnvoll möglich ist, wenn alle relevanten Risiken nach der gleichen Methode bewertet worden sind. ___________ 149) IDW Standard zur Prüfung von Risikofrüherkennungssystemen, zu dessen Errichtung gemäß § 91 Abs. 2 AktG jede Aktiengesellschaft verpflichtet ist.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit und der Schadenshöhe der einzelnen 148 Risiken ist zunächst ohne Berücksichtigung der Wirkung und Wirksamkeit etwaiger bereits vorhandener Risikosteuerungsmaßnahmen vorzunehmen (sog. Bruttorisiken). Bezieht man die Wirksamkeit der bereits umgesetzten Steuerungsmaßnahmen als zweite Variable mit ein, erhält man die sog. Nettorisiken – also die nicht durch wirksame Steuerungsmaßnahmen abgedeckten Risiken, die weiterhin bestehendes Haftungs- und Schadenspotenzial bedingen. Jedes Nettorisiko erfordert eine entsprechende Anpassung, Änderung oder Ergänzung der Maßnahmen, Instrumente, Strukturen und Prozesse des CMS, soweit es aus Sicht der Unternehmensleitung nicht tragbar bzw. zu verantworten ist. Die Risikobewertung sollte unter fachkundiger Reflektion und Moderation 149 durch das Compliance Office und/oder die Rechtsabteilung und/oder die Risikomanagement-Abteilung und/oder externe Fachleute erfolgen, um den Voraussetzungen der BJR Genüge zu tun (zur BJR Æ Rz. 76 f. und § 2 Rz. 25 ff.). Im Anschluss an die Bewertung erfolgt die Priorisierung im Sinne einer Staffe- 150 lung bzw. der Bildung einer Rangordnung der einzelnen Risiken nach Risikointensität, also Eintrittswahrscheinlichkeit und (materielles und immaterielles) Schadenspotenzial. In der Praxis wird dies regelmäßig mit einem Punktemodell, mit einer Ampel-Logik oder ähnlich plakativen Lösungen veranschaulicht.150) Als Grundlage für die Risikopriorisierung sollte der Vorstand klare Vorgaben zur Risikotragfähigkeit und Risikotoleranz bereitstellen: 

Unter Risikotragfähigkeit versteht man die Fähigkeit des Unternehmens 151 Schäden, Verluste und Strafen aus Compliance-Risiken zu tragen, ohne dass hieraus der Fortbestand des Unternehmens unmittelbar gefährdet ist.151) Für die Ermittlung der Risikotragfähigkeit wird in der Regel das Eigenkapital (Risikodeckungspotenzial) des Unternehmens als Bemessungsgrundlage herangezogen.152)



Als Risikotoleranz153) bezeichnet wird der Umfang der Bereitschaft der Un- 152 ternehmensleitung, (einzelne) Risiken zu akzeptieren.154) Hierbei muss der Vorstand einerseits die Risikobereitschaft in Summe (Gesamtrisikobereitschaft) festlegen, die nach Berücksichtigung eines Puffers unter der Risikotragfähigkeit des Unternehmens liegt. Daneben ist die Obergrenze für einzelne Compliance-Risiken zu definieren. Demzufolge sollte die Risikotoleranz bezogen auf das Einzelrisiko deutlich unter der Gesamtrisikobereitschaft lie-

___________ 150) Vgl. Lochen, CCZ 2017, 92 (93). 151) Bay/Hastenrath/Klingenstein, Kapitel 4 Rz. 38; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Pauthner/ Stephan, § 16 Rz. 76. 152) Bay/Hastenrath/Klingenstein, Kapitel 4 Rz. 38. 153) Auch als „Risikoappetit“ bezeichnet. 154) Bay/Hastenrath/Klingenstein, Kapitel 4 Rz. 38; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Pauthner/ Stephan, § 16 Rz. 76.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

gen, weil nur dann das Unternehmen im Stande ist, die Schäden und Verluste aus mehreren Einzelrisiken zeitgleich (kumulativ) zu tragen.155) 153 Die Festlegung der Risikotragfähigkeit und Risikotoleranz erfolgt üblicherweise in der Compliance-Risikostrategie des Vorstands (Æ Rz. 160 ff.) oder in Einzelweisungen zum Prozess der Risikopriorisierung. 154 Die Risikopriorisierung als letzter Schritt der Risikoanalyse dient vor allem der Eingrenzung der letztlich am höchsten priorisierten Top-Risiken, welche die Risikotoleranz des Unternehmens überschreiten. Zu ihrer Steuerung empfehlen sich regelmäßig sog. Compliance-Programme (Æ Rz. 174 f.) in Form von systematisch aufeinander abgestimmten Risikosteuerungsmaßnahmen. 155 Das Ergebnis der Risikopriorisierung ist ein fortlaufend aktualisiertes Risikoportfolio des Gesamtunternehmens, das als Risikokatalog im Rahmen einer Risikodatenbank dargestellt werden kann. Im Rahmen angemessen dimensionierter Softwarelösungen (von Excel-basierten Auflistungen über einfache Datenbanklösungen bis hin zu komplexer Risikomanagementsoftware in großen Unternehmen) kann die Risikostaffelung bei Bedarf nach verschiedenen Kriterien abgefragt werden, etwa nach betroffenen Unternehmenseinheiten, betroffenen Prozessen oder Ländern, Umsatz- und Absatzauswirkungen, betroffenen strategischen Zielen, Reputationsschäden oder nach den rechtlichen Auswirkungen jedes Risikos. 4.

Übersetzung in wirksame Risikosteuerungsmaßnahmen

a)

Ursachenanalyse

156 Der Vorstand muss (zusammen mit dem Compliance Office, der Rechtsabteilung, den Risikoeignern und erforderlichenfalls weiteren Fachabteilungen) adäquate Maßnahmen zur Steuerung der unternehmensindividuellen Risiken konzipieren. Maßnahmen der Risikosteuerung müssen an den Risikoursachen ansetzen und in vertretbarem Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen. Daher schließt sich an die im Rahmen der Risikoanalyse vorgenommenen Schritte der Identifikation, Bewertung und Priorisierung der Compliance-Risiken die Identifikation und Analyse der Risikoursachen an. Die Ursachenanalyse ist der erste Schritt der Risikosteuerung. b)

Umsetzen von Risikosteuerungsmaßnahmen

157 Risikoadäquate Präventionsmaßnahmen beruhen auf der zutreffenden Ursachenanalyse, aus der die wirksamen und wirtschaftlichen Maßnahmen abgeleitet werden. Die Quantität, Qualität und Kostenintensität der Steuerungsmaßnahmen hängt davon ab, inwieweit das jeweilige Risiko soweit reduziert wird, wie ___________ 155) Bay/Hastenrath/Klingenstein, Kapitel 4 Rz. 38.

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es der vom Vorstand festgelegten Risikotoleranz des Unternehmens (Æ Rz. 152) unter Einhaltung der BJR156) noch entspricht. Ziel ist ein möglichst geringer wirtschaftlicher Aufwand bei hinreichender Wirksamkeit der Maßnahmen und zugleich einer möglichst geringen Beeinträchtigung der Geschäftsprozesse. Risikosteuerungsmaßnahmen im Rahmen des CMS sind so zahlreich und vielfältig wie die Ursachen und Auswirkungen der Compliance-Risiken. Der Risikosteuerung dienen beispielsweise – bei weitem nicht abschließende – folgende Maßnahmen: Beispiele: Konkrete Transparenz- und Dokumentationsgrundsätze in allen Prozessen; Frei- 158 gaberegeln, Zugangs- und Zugriffsberechtigungen; klare schriftliche Definition und Abgrenzung von Verantwortungs-, Zuständigkeits-, Aufgaben- und Kompetenzbereichen; Prozessdefinitionen; Ausführungs- und Funktionstrennung bei Prozessen mit erhöhten Compliance-Risiken; schriftliche Stellvertreterregeln; Gegenzeichnungserfordernisse; Schaffung hinreichender Compliance-Ressourcen; Etablierung eines unternehmensweiten Risiko- und Status-Reporting-Systems; risikospezifische Trainings, Workshops und Informationsangebote; Schaffung und Management der internen Richtlinien; Schaffung ausreichender Kanäle für die Kommunikation von „Compliance Concerns“ der Mitarbeiter; klare, kontinuierliche und einheitliche Position und interne Kommunikation des oberen und mittleren Managements im Hinblick auf das CMS; Einzelgespräche des CCO zum Risikomanagement mit Angehörigen des Managements. c)

Zentrale CMS-Elemente der Risikosteuerung

Nachstehend sollen einige Kernelemente eines CMS skizziert werden. aa)

159

Compliance-Risikostrategie

Die Compliance-Risikostrategie des Vorstands ist eine der essenziellen Grund- 160 lagen eines wirksamen CMS. Sie dient als Leitfaden für den Umgang mit Risiken und damit der Sicherstellung des langfristigen Unternehmenserfolgs.157) Die Festlegung und Anpassung der Risikostrategie sollte periodisch – mindestens 161 einmal jährlich – und anlassbezogen158) durch den Gesamtvorstand erfolgen und schriftlich erstellt werden, da sie ein bedeutsames Entlastungsdokument für den Vorstand im Hinblick auf die Erfüllung der Compliance-Leitungspflicht darstellt.159) Die Verantwortung für die Risikostrategie obliegt dem Vorstand ___________ 156) Zur BJR im Zusammenhang mit der Compliance-Pflicht des Vorstands Æ Rz. 76 f. und allgemein zur BJR Æ § 2 Rz. 25 ff. 157) Bay/Hastenrath/Klingenstein, Kapitel 4 Rz. 37; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Pauthner/ Stephan, § 16 Rz. 73. 158) Anpassungsbedarf kann sich etwa durch eine geänderte Geschäftsstrategie, neue Geschäftsfelder, Produkte oder geographische Aktionsradien ergeben. 159) Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 374.

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und ist nicht delegierbar.160) Zwecks wirksamer Haftungsentlastung sollte die Risikostrategie auf der Grundlage angemessener Information (Æ Rz. 78 und ausführlich Æ § 2 Rz. 36 ff.) und unter Einbindung fachlichen Rats (Æ Rz. 360 und ausführlich Æ § 2 Rz. 58 ff.) – z. B. des CCO, des Compliance Committee bzw. Compliance Boards (Æ Rz. 172 f.) und/oder externer Fachkräfte erfolgen – erstellt werden. 162 Die Risikostrategie muss mit der unternehmensindividuellen Geschäftsstrategie konsistent sein161) und bildet letztlich einen weiteren Erfolgsfaktor für die Realisierung der gesetzten Unternehmensziele. Geschäfts- und Risikostrategie sollten daher als Einheit betrachtet und aufeinander abgestimmt werden. Hiervon ausgehend werden die Grundsätze und Vorgaben des Vorstands hinsichtlich der unternehmensindividuellen Risikobewältigungsstrategie festgelegt. Abstrakt sind folgende Grundstrategien hinsichtlich des Umgangs mit Risiken denkbar162): 163 

Risikovermeidung kommt bei den schwerwiegenden Risiken in Betracht, welche die Risikotoleranz des Unternehmens (Æ Rz. 152) überschreiten. Auf Aktivitäten und Geschäfte mit diesen Risiken wird verzichtet (z. B. Zusammentreffen mit Wettbewerbern in Kontexten, die Kartellabsprachen indizieren können oder Zahlungen an öffentlich Bedienstete).

164 

Risikominderung wird durch entsprechende CMS-Maßnahmen erreicht (z. B. interne Regularien und zielgruppenspezifische Compliance-Trainings).

165 

Risikoüberwälzung ist der Versuch, durch Vertrag, z. B. Liefer- oder Leistungsvertrag oder durch Versicherung die mögliche Schadenshöhe (Ausmaß) auf die Geschäftspartner und/oder Versicherer zu übertragen.

166 

Risikoakzeptanz wird gewählt, wenn die wirtschaftlichen Folgen risikobehafteter Aktivitäten vom Vorstand bewusst in Kauf genommen werden.

167 Beispielsinhalte einer Compliance-Risikostrategie des Unternehmens sind163): 

Zusammenfassung der Grundsätze der unternehmensindividuellen Risikobewältigungsstrategie,



grundlegende Ziele des Compliance-Risikomanagements und Vorgaben zu ihrer Sicherstellung,



Festlegung der Risikotragfähigkeit (Æ Rz. 151) sowie der Risikotoleranz (Æ Rz. 152) des Unternehmens,

___________ 160) Vgl. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, KWG, § 25a Rz. 152; Bay/Hastenrath/ Klingenstein, Kapitel 4 Rz. 37; Hauschka/MoosmayerLösler/Pauthner/Stephan, § 16 Rz. 73. 161) Vgl. Fischer/Boegl, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, § 128 Rz. 74; Boos/Fischer/SchulteMattler/Braun, KWG, § 25a Rz. 148. 162) Vgl. Hauschka/Moosmayer/Lösler/Glage/Grötzer, § 14 Rz. 65; Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 275. 163) Vgl. eingehend hierzu: Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 278; Pauthner/ Ghassemi-Tabar, Rz. 380.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung



Zuweisung wesentlicher Verantwortlichkeiten und Pflichten sowie hinreichender personeller und finanzieller Ressourcen an die Risikoeigner zur Risikobeobachtung und Risiko-Reporting (Æ Rz. 123 f.),



wesentliche Instrumente und Maßnahmen zur Risikosteuerung in der beginnenden Periode,



erreichte sowie ganz oder teilweise nicht erreichte Ziele der letzten Compliance-Risikostrategie sowie



Erkenntnisse, Lerneffekte und Fortentwicklungen aus vergangenen Perioden der Compliance-Risikoanalyse.

bb)

Autonome oder Matrix-Compliance-Organisation

Der Vorstand muss sich als Teil seiner Compliance-Organisationspflicht 168 (Æ Rz. 8) für eine Gestaltungsform der Aufbau- und Ablauforganisation der Compliance-Funktion im Unternehmen entscheiden und diese mit hinreichenden personellen und sachlichen Ressourcen ausstatten. Für die Struktur der Compliance-Organisation stehen zwei Grundmodelle zur Auswahl: Autonome Organisation164): Die Compliance-Organisation kann so aufgestellt 169 werden, dass ein zentrales Compliance Office mit einem angegliederten unternehmensweiten Netzwerk von Compliance-Fachkräften in den verschiedenen Unternehmensteilen für die drei Grundaufgaben der Prävention, Aufdeckung und Unterbindung von Compliance-Verstößen zuständig ist. Diese Organisationsform ist zwar kostenintensiver, bedarf jedoch in der Regel nicht so komplexer Abstimmungsprozesse wie die Matrix-Organisation. Zudem gewährleistet eine autonome Compliance-Organisation mit unternehmensweiten ComplianceSpezialisten häufig die bessere Gewähr für ein dauerhaft wirksames unternehmensweites CMS, weshalb diese Organisationsform bei größeren Unternehmen häufig gewählt wird. Matrix-Organisation165): Bei der Matrix-Organisation beschränkt sich das 170 zentrale Compliance Office primär auf Präventionsaufgaben. Die Aufdeckung von Compliance-Verstößen und die Reaktion hierauf werden hingegen von anderen Fachbereichen durchgeführt, wie etwa der Rechtsabteilung, der Internen Revision, der Finanzabteilung, dem Controlling oder der Personalabteilung. Mitunter wird auf die Einrichtung einer eigenen Compliance-Abteilung ganz verzichtet und sämtliche Compliance-Aufgaben werden – auf der Grundlage klar definierter unternehmensweiter Verantwortung und Berichtslinien – von den bestehenden Fachabteilungen wahrgenommen. Im Vergleich zur autonomen ___________ 164) Moosmayer Rz. 106; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Pauthner/Stephan, § 16 Rz. 16 f.; Rotsch/ Moosmayer, § 6 Rz. 2. 165) Inderst/Bannenberg/Poppe/Hülsberg/Laue, Kapitel 4 Rz. 184 f.; Moosmayer, Rz. 108; Rotsch/ Moosmayer, § 6 Rz. 3.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Organisation verlangt die Matrix-Organisation einen geringeren Ressourcenbedarf und ist damit auf den ersten Blick wirtschaftlicher. Auf der anderen Seite erfordert die Matrix-Organisation einen höheren Abstimmungsbedarf zwischen den Beteiligten, die zudem (zumindest teilweise) über geringer spezialisierte Compliance-Fachkompetenzen verfügen. Aufgrund von möglichen Abstimmungsdefiziten sowie Risiken im Hinblick auf eine klare Aufgabenzuweisung und das Schnittstellenmanagement steigt damit die Gefahr von Defiziten des CMS. Bei Unternehmen mit einer Matrix-Organisation kann sich daher zur Koordination der operativen Compliance-Prozesse die Bildung eines Compliance Committee empfehlen. 171 Bei der Frage, für welche der genannten Compliance-Organisationsstrukturen sich der Vorstand entscheidet, gibt es keine richtige oder falsche Entscheidung; vielmehr kommt es auch insoweit auf die individuelle Risikolage und den Zuschnitt des Unternehmens an.166) cc)

Compliance Committee/Compliance Board

172 Das Compliance Committee ist ein vom Vorstand für Compliance-Angelegenheiten eingesetzter Ausschuss, der in der Regel keine Exekutivrechte hat.167) Im Compliance Committee werden die Kompetenzen verschiedener Compliance-relevanter Fachbereiche kombiniert. Mitglieder sind neben dem CCO und einem Vertreter der Unternehmensleitung vor allem die Fachbereiche Recht, Finanzen, Controlling, Interne Revision, HR und Risikomanagement. Je nach Agenda und Zielen der Sitzungen des Compliance Committee empfiehlt es sich, Vertreter aus den betreffenden Fach- und Geschäftseinheiten zu relevanten Tagesordnungspunkten der Sitzungen einzuladen. 173 Ein funktional ähnlich ausgerichteter Ausschuss ist das Compliance Board. Von einem Compliance Board – anstatt eines Compliance Committee – spricht man regelmäßig, wenn dem Ausschuss ausschließlich Mitglieder der obersten Leitungsebenen des Unternehmens angehören.168) dd)

Compliance-Programme

174 Der Begriff Compliance-Programm wird in der Praxis und Literatur unterschiedlich verwendet. Teilweise169) wird er weit als die Gesamtheit aller CMSMaßnahmen verstanden, mit dem das Unternehmen auf die analysierten Risiken reagiert. Hier zugrunde gelegt wird das engere Verständnis von Compliance___________ 166) So auch Moosmayer Rz. 110. 167) Grützner/Jakob/Grützner/Jakob, Compliance Committee. 168) Die Begriffe Compliance Committee und Compliance Board werden in der Praxis teilweise synonym und teilweise unterschiedlich gebraucht. 169) So beispielsweise Hauschka/Moosmayer/Lösler/Schmidt, § 45 Rz. 34 f.; Moosmayer Rz. 210 f.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Programmen als Bündel von Maßnahmen und Prozessen, die sich jeweils einem in der Risikoanalyse ermittelten und hoch priorisierten Top-Risiko widmen.170) Beispiele für Compliance-Programme sind etwa aufeinander abgestimmte und 175 sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärkende Richtlinien, Trainings und Kontrollprozesse, die jeweils auf die Reduzierung identifizierter Kartell- oder Korruptionsrisiken abzielen. Ein Compliance-Programm muss das Top-Risiko, auf das es abzielt, nicht ganz 176 ausschließen können. Entscheidend aus Sicht des Vorstands ist der Nachweis eines Compliance-Programms, welches qualitativ und quantitativ geeignet ist, das betreffende Top-Risiko hinreichend zu reduzieren. ee)

Interne Regularien

Interne Regularien sind aus Sicht des Vorstands ein zentrales Instrument der 177 Steuerung der Compliance-Risiken des Unternehmens, da sie gesetzliche Anforderungen in Verhaltens- und Prozessanweisungen für Mitarbeiter transferieren und so das Verhalten der Unternehmensangehörigen und relevante Prozesse als Grundursachen der Compliance-Risiken beeinflussen. Das Ziel von unternehmensinternen Regularien ist mithin die Vermittlung von Wissen zu praktischen, prozessbezogenen und rechtlichen Risikozusammenhängen und Einflussfaktoren. Eine Grundfunktion interner Regularien besteht dabei darin, die für das Unternehmen praktisch relevanten, aber meist sehr abstrakt formulierten Gesetzesbestimmungen für die betriebliche Praxis handhabbar zu machen, hierdurch die Risikosensibilisierung der Unternehmensangehörigen zu steigern und konkrete Verhaltensanweisungen zu geben.171) Damit interne Regularien ihre Wirkung entfalten können, muss ihre Einhaltung überprüft und Zuwiderhandlungen angemessen sanktioniert werden.172) In Unternehmen regelmäßig anzutreffen sind als interne Richtlinien oder Poli- 178 cies bezeichnete Regelwerke. Weit verbreitete Standard-Policies sind etwa Beispiele: Anti-Fraud Policy; Antikorruptions-Policy; Whistleblowing-Policy; Policies zum 179 Umgang mit Einladungen und Geschenken; Policies zu Wettbewerbs- und Kartelldelikten; Policies zum gesetzeskonformen Verhalten der Mitarbeiter bei Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft und/oder der Kartellbehörden; Internal Investigation Policies zur Festlegung von Zuständigkeiten und Abläufen bei internen Untersuchungen (dazu Rz. 224 f.); Policies zum Thema Insiderhandel und Insiderinformation. ___________ 170) So auch Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 421 f. 171) Vgl. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer Rz. 838b. 172) Vgl. Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann/Kremer Rz. 838a; Pauthner/GhassemiTabar Rz. 485.

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180 Bei den typischen internen Regularien zu nennen ist ferner der Code of Conduct173) (CoC), der zentraler Ausdruck und Basis der Compliance-Kultur des Unternehmens ist, und insoweit auch die Wertvorstellungen des Unternehmens zum Ausdruck bringt und als „ethisches Bekenntnis“ zur Imagepflege eingesetzt werden kann.174) Der CoC skizziert und definiert auf der Basis einer freiwilligen Selbstverpflichtung175) die wichtigsten Grundsätze, Leitwerte und Ziele des Compliance-Managements, die er mit den anderen Unternehmenszielen, -grundsätzen und -werten verbindet. Er muss daher sorgfältig konzipiert werden, auf die individuellen Risikoparameter abgestimmt werden und den „Ton“ des Unternehmens treffen. Der Vorstand sollte dafür Sorge tragen, dass jeder Mitarbeiter ein Exemplar des CoC als elektronische Datei oder als Broschüre und ggf. ein Training zu den Inhalten und zur Umsetzung des CoC im Tagesgeschäft erhält. Zudem sollte der CoC sowohl auf der Intranetseite des Unternehmens als auch auf der Website des Unternehmens verfügbar sein. Lieferanten und Geschäftspartner sollten ausdrücklich auf den CoC aufmerksam gemacht werden. 181 Der Vorstand ist selbstverständlich nicht verpflichtet, alle denkbaren und oben aufgeführten internen Regularien umzusetzen. Welche Arten interner Regularien im Unternehmen konzipiert und umgesetzt werden, liegt vielmehr in seinem Ermessen und hängt letztlich von den Ergebnissen der Risikoanalyse ab (zur Risikoanalyse Æ Rz. 109 ff.). Zur Erforderlichkeit und Gestaltung sowie zum Anpassungsbedarf von internen Richtlinien sollte der Vorstand vom CCO und/ oder vom Compliance Committee (Æ Rz. 172) beraten werden. Auch sollten die Risiko- und Prozesseigner aus den Geschäftseinheiten bei der Erstellung/ Überarbeitung interner Regularien eingebunden176) und zur Meldung eines bestehenden Regelungsbedarfs in ihrem Bereich an den CCO angehalten werden. 182 Zu warnen ist vor einem zu großen Umfang und überbordender Komplexität interner Regularien, die sich im Laufe der Zeit gewissermaßen ins CMS „einschleichen“. Sie sind oftmals der „Stein des Anstoßes“ für Vorbehalte gegen die Compliance im Allgemeinen177) und können im worst case zu einem offenen oder stillen Konsens innerhalb der Belegschaft führen, dass die internen Regularien realitätsfern und produktivitätshemmend und daher für die Geschäftspraxis nicht geeignet sind.178) Als Folge werden die internen Regularien mitunter ignoriert, was wiederum die (teilweise) Unwirksamkeit des CMS zur Folge hat. ___________ 173) 174) 175) 176) 177) 178)

Auch Code of Ethics oder Verhaltenskodex. Schulz/Benkert, 2. Kapitel Rz. 5. Grützner/Jakob/Grützner/Jacob, Code of Conduct. Schieffer, CCZ 2017, 47. Schieffer, CCZ 2017, 47. Vgl. Hauschka/Moosmayer/Lösler/Pauthner/Stephan, § 16 Rz. 178.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Vor diesem Hintergrund ist ein sorgfältiges Richtlinien-Management, d. h. 183 die systematische Erstellung, Kommunikation und Pflege von unternehmenseigenen Richtlinien179), essenziell. Hierbei sollten folgende Grundsätze beachtet werden: 

Um nicht dem Fehler einer zu großen, unüberschaubaren Anzahl interner Richtlinien anheimzufallen, sollten diese nur implementiert werden, wenn das identifizierte Risiko nicht auf andere Art, etwa durch persönliche Informationsgespräche und Trainings, reduziert werden kann.



Unübersichtlich gestaltete, zu juristisch geprägte sowie zu wenig prozessund geschäftsnahe Inhalte sollten vermieden werden.



Bei der Erstellung der Richtlinie sollte ihre Rechtskonformität (bei konzernweiten Richtlinien in allen relevanten Jurisdiktionen) sowie die Widerspruchsfreiheit zu bestehenden Richtlinien überprüft werden.



Aus der Richtlinie sollte der Adressatenkreis klar erkennbar sein, d. h. für welche Unternehmens- und Geschäftsbereiche, Abteilungen oder Mitarbeitergruppen sie gelten soll.



Aus jeder Regelung sollte klar hervorgehen, ob sie als Beurkundung unternehmenspolitischer Grundsätze lediglich Empfehlungscharakter hat oder ob sie als konkrete Handlungsanweisung im Sinne eines Ge- bzw. Verbots zu verstehen ist.



Die Wirksamkeit interner Richtlinien sollte periodisch im Hinblick auf geänderte Prozesse und Risiken überprüft werden; hierzu gehört auch die Beurteilung, ob einzelne Regelungen oder die Richtlinie insgesamt noch erforderlich, angemessen und sachgemäß sind.



Das Deckblatt jeder Richtlinie sollte die Person/Fachabteilung benennen, die für Inhalt und Aktualisierung verantwortlich ist und mit einem Vermerk mit festen Überarbeitungsfristen versehen werden.



Bei Veränderungen relevanter Faktoren (z. B. Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen und/oder der Unternehmensprozesse) hat der Verantwortliche unverzüglich Ad-hoc-Änderungen der Richtlinie vorzuschlagen bzw. einzelne nicht mehr aktuelle oder nicht mehr erforderliche Bestimmungen der Richtlinie zu identifizieren und bei Bedarf zu ändern.

Die Konzeption, Entwicklung und Einführung interner Regularien sollte durch 184 das Compliance Office gemeinsam mit Vertretern der Risiko- und Prozesseigner erfolgen. Für das Unternehmen zentrale interne Regularien sollten mit dem Compliance Committee (Æ Rz. 172) und dem Vorstand abgestimmt werden. Bei komplexen Rechtsfragen sollte der Prozess zudem stets von der Rechtsab___________ 179) Instruktiv zum Richtlinien-Management: Hoffjan/Winter/Bartosch, BB 2021, 428 f.

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teilung begleitet und/oder durch externe Experten unterstützt werden, um rechtlich abgesicherte Richtlinien zu gewährleisten. 185 Schließlich ist bei der Einführung von internen Policies und (Verhaltens-)Richtlinien zu prüfen, ob und wenn ja welche Regelungen einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterfallen. Hierbei gelten folgende Grundsätze180): Eine Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG scheidet aus, wenn die Regelung ohnehin (nur) bestehende gesetzliche Pflichten der Mitarbeiter konkretisiert, beispielsweise Korruptions- oder Diskriminierungsverbote. Darüber hinaus unterscheidet das BAG im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zwischen sogenanntem Ordnungsverhalten181), das Gegenstand der Mitbestimmung ist, und dem sogenannten Arbeitsverhalten182), das grundsätzlich nicht vom Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG erfasst wird. ff)

Informationsangebot für Mitarbeiter, Intranet und Trainings

186 Die hinreichende Information und Schulung von Mitarbeitern ist ein zentraler Bestandteil der Compliance-Verantwortung des Vorstands. 187 Persönliche Informationsgespräche der Mitarbeiter des Compliance-Office mit der Belegschaft sind hierbei das Mittel der Wahl. Einerseits stärken sie die Vertrauensbeziehungen der Beteiligten, was enorm wichtig ist (Æ Rz. 130 und 192 f.). Vor allem aber gehen die im Rahmen von persönlichen Gesprächen gestellten Mitarbeiterfragen zum CMS häufig fließend über in die Mitteilung der eigenen Risikowahrnehmungen bzw. in Hinweise zu möglichen Verstößen. Damit bilden persönliche Informationsgespräche zugleich eine wichtige Quelle der Risikoidentifikation (Æ Rz. 116 ff.). 188 Die Mitarbeiter des Compliance-Office sollten daher bei Auskunfts- und Beratungsbedarf seitens der Mitarbeiter nach Möglichkeit kurzfristig persönlich, telefonisch oder zumindest per E-Mail erreichbar sein. In größeren Unternehmen hat sich die Einrichtung einer „Compliance-Hotline“ als zweckmäßig erwiesen, die für Fragen stets telefonisch, per E-Mail oder über ein elektronisches Tool des Intranets erreichbar ist. 189 Ergänzend zu persönlichen Beratungs- und Informationsgesprächen sind schriftliche Informationsangebote zum CMS geeignet. Sie reichen von den verschiedenen Arten interner Regularien (Æ Rz. 177 ff.) bis hin zu Weisungen und Verlautbarungen per E-Mail im Tagesgeschäft. ___________ 180) Vgl. Reinhard, NZA 2016, 1233 f.; Stück, ArbRAktuell 2015, 337 f. 181) = Verhaltensregel, durch die das Verhalten der Arbeitnehmer hinsichtlich der betrieblichen Ordnung gesteuert und geregelt wird. 182) = Maßnahmen, die keinen Bezug zur betrieblichen Ordnung aufweisen, sondern ausschließlich und unmittelbar die Arbeitspflicht konkretisieren.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Eine bedeutsame Informationsquelle für Compliance-Angelegenheiten bildet die 190 Compliance-Intranetseite des Unternehmens, wenn und weil darin die internen Richtlinien samt entsprechender Erläuterungen und Arbeitshilfen veröffentlicht werden. In einer professionell aufgesetzten Wissensdatenbank können darüber hinaus Antworten und Fundstellen zu häufig gestellten Fragen vorgehalten werden. Weitere sinnvolle Inhalte der Compliance-Intranetseite sind beispielsweise die Ansprechpartner für Compliance-Angelegenheiten, die Materialen zu Trainings sowie FAQ-Dokumente. Die Compliance-Intranetseite des Unternehmens kann deshalb ein wesentliches Element der Übersetzung wirksam definierter und konzipierter Maßnahmen und Prozesse und Inhalte des CMS in tatsächliches Compliance-Verhalten der Mitarbeiter bilden. Voraussetzung ist freilich, dass das Intranet so nutzerfreundlich gestaltet ist, dass es auch tatsächlich genutzt wird und eine wesentliche Anlaufstelle der Mitarbeiter bei ComplianceFragen bildet. Schließlich sind Trainings und Workshops ausschlaggebend für die Überset- 191 zung eines wirksam konzipierten CMS in Mitarbeiterhandeln und damit der Wirksamkeit des CMS insgesamt. Im Hinblick auf Trainings sollten folgende Grundsätze beachtet werden183):  Jedenfalls für die am höchsten priorisierten Top-Risiken (Æ Rz. 154) sollten regelmäßige Trainings aller relevanter Risiko- und Prozesseigner nachgewiesen werden können.  Die Teilnehmer- und Trainingsstatistiken sollten in einer durch das Compliance Office oder der HR-Abteilung geführten Datenbank langfristig abrufbar sein.  Bei Zielgruppen mit risikogeneigter Tätigkeit empfehlen sich persönliche Trainings; E-Learning basierte Trainings184) sollten hier nur ergänzend eingesetzt werden.  Die Wirkung konzipierter Trainings sollte regelmäßig verifiziert und die Inhalte sowie die Gestaltung erforderlichenfalls nachgebessert werden.  Für die Vorstandsebene selbst kommen besondere Schulungsarten in Betracht, etwa Compliance Briefings und -Workshops, die neben den materiellen Risiken auch Führungs- und Umsetzungsaspekte des CMS beinhalten. gg)

Führung, Kommunikation, Kultur

Mitunter kommt es in der Praxis zu Fällen von Unternehmenskriminalität trotz 192 implementierter und zertifizierter CMS. Denn selbst bei Errichtung eines formal wirksam ausgeprägten CMS kann diesem aufgrund fehlender Mitarbeiterakzeptanz weitgehend die Wirkungsgrundlage entzogen sein. Allein der Satz ___________ 183) Vgl. Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 534 m. w. N. 184) Vgl. dazu Julius, CCZ 2018, 179.

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„Unser CMS muss von den Mitarbeitern gelebt werden“ hilft hier nicht weiter. Der Vorstand sollte den Umstand nicht unterschätzen, dass die Mitarbeiter aller Ebenen durchaus wahrnehmen, ob die Unternehmensleitung von den Vorteilen eines CMS im Hinblick auf den Geschäftserfolg wirklich überzeugt ist und es als modernes Managementinstrument prägt, oder ob das CMS eher als administrative Pflichtübung betrieben wird. Es können mitunter stille Vorbehalte unter den Mitarbeitern im Hinblick auf geringe Praxisnähe, überbordenden Formalismus, Bürokratie oder auf geschäftsbehindernde Wirkungen des CMS entstehen. Als Folge hiervon kann es trotz des voll ausgeprägten CMS zu Compliance-Verstößen kommen. Compliance darf von der Belegschaft daher nicht als „der Spielverderber oder Verhinderer des operativen Geschäfts“ verstanden werden, sondern vielmehr als „enabler“ und „helfende Hand“, die einen rechts- und regelkonformen Weg aufzeigt, der Geschäfte ermöglicht und damit den nachhaltigen Unternehmenserfolg absichert.185) 193 Ein verschriftlichter Wertekodex bildet zwar die Basis und Grundlage der Compliance-Kultur des Unternehmens. Das ist aber nur der Anfang. Es braucht integere Vorbilder, einen transparenten Umgang mit Problemen und Fehlern (sog. Speak-up-Kultur) sowie eine offene Kommunikationskultur; offenes Feedback geben und nehmen sollten fester Bestandteil des Tagesgeschäfts sein.186) Führung, Kommunikation und Kultur werden daher als grundlegende und notwendige Wirksamkeitsbedingungen des CMS angesehen, da lediglich die Implementierung technisch-prozessualer CMS-Maßnahmen nicht ausreicht, um das Verhalten der Mitarbeiter komplett zu beeinflussen.187) Mindestens genauso wichtig ist der „geistige Überbau“, der das Denken, Entscheiden und Handeln der Führungskräfte und Mitarbeiter in einem Unternehmen prägt.188) Man kann im Zusammenhang mit dieser Tendenz, zunehmend auch den Menschen sowie dessen Kultur ins Zentrum des CMS zu rücken, von „Behavioral Compliance“ sprechen.189) 194 Zentrale Bedeutung kommt hierbei der Compliance-Führung zu, deren grundlegende Aspekte beispielsweise sind190): 

klare Positionierung und authentisches Commitment zur Compliance und ihren Vorteilen für das Unternehmen,

___________ 185) Kaufmann, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 8 (9). 186) Kaufmann, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 8. 187) Führung, Kommunikation und Kultur werden daher zu Recht auch in den kodifizierten CMS-Standards gefordert (Æ Rz. 27). 188) Kaufmann, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 8. 189) Instruktiv hierzu: Jüttner, CCZ 2020, 1 ff., wobei ich – anders als wohl Jüttner – die Geeignetheit der juristisch-betriebswirtschaftlichen Compliance Managementmethoden und deren Standards deshalb nicht in Frage stellen würde. 190) Vgl. Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 546.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung



Kommunikationsmaßnahmen des Vorstandsvorsitzenden, des CCO und der Mitglieder des Compliance Committee,



sog. tone from the top, also das kontinuierliche Kommunizieren der compliance-bezogenen Ziele und Werte als Vorbild und persönliche Orientierung für Mitarbeiter,



konsequente Sanktionierung von Compliance-Verstößen (sog. Zero Tolerance Policy) und unmittelbar nachfolgende Verbesserung des CMS, soweit erforderlich.

Zudem sollte zum Thema Compliance nicht nur dann kommuniziert werden, 195 wenn es einen aktuellen Anlass gibt. Um das Verständnis von Compliance und die damit verbundenen Verhaltens- und Führungsgrundsätze in die gelebte Wirklichkeit transportieren zu können, benötigt man eine aktive Kommunikation.191) 5.

Monitoring der Risiken und Steuerungsmaßnahmen

Allein mit der (einmaligen) Identifikation, Bewertung und Priorisierung der 196 individuellen Risiken (Æ Rz. 116 ff.) sowie dem Implementieren entsprechender Steuerungsmaßnahmen (Æ Rz. 156 ff.) ist die präventive Compliance-Pflicht des Vorstands nicht erfüllt. Vielmehr ist Compliance ein fortwährender Prozess. Das kontinuierliche Monitoring der sich ständig verändernden Risiken sowie der Wirksamkeit der Maßnahmen und Prozesse des CMS zur Risikosteuerung ist ebenfalls zentraler Teil der Compliance-Organisationspflichten des Vorstands. Bei sich wandelnden Risiken müssen die Risikosteuerungsmaßnahmen entsprechend angepasst werden. Insoweit kann von einem Risikomanagement-Kreislauf gesprochen werden. Grundlage des Monitorings von Compliance-Risiken sind wiederum die oben ge- 197 nannten Compliance-relevanten Informationskanäle (Æ Rz. 119 ff.), insbesondere das Risiko-Reporting (Æ Rz. 123 f.). Ohnehin sollte die Risikoanalyse regelmäßig aktualisiert werden, und zwar sowohl periodisch nach einem fest vorgegebenen Zeitplan (z. B. alle zwei Jahre) als auch anlassbezogen, z. B. nach Erschließung neuer Geschäftsfelder.192) Die Umsetzung des fortwährenden CMS-Monitoring wird regelmäßig an das 198 Compliance-Office delegiert. Dem Vorstand verbleiben trotz der Delegation gleichwohl Leitungs- und Überwachungspflichten (Æ Rz. 89 und 96).

___________ 191) Proll-Grewe, CCZ 2017, 143. 192) Lochen, CCZ 2017, 92 (93).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

III.

Pflichten des Vorstands bei Hinweisen auf Compliance-Verstöße

1.

Pflichten im Überblick

199 Die Compliance-Organisationspflicht des Vorstands verpflichtet ihn nicht nur, die unternehmensindividuellen Risiken zu identifizieren (dazu Æ Rz. 116 ff.), risikoadäquate Steuerungsmaßnahmen zur Minimierung von Regelverstößen zu implementieren (dazu Æ Rz. 156 ff.) sowie die Risiken und CMS-Maßnahmen fortlaufend zu überwachen (Æ Rz. 196 f.). Erhält der Vorstand hinreichend konkrete Hinweise auf Fehlverhalten im Unternehmen, muss er unverzüglich und umfassend tätig werden. 200 Der Vorstand muss dafür Sorge tragen, dass 1) unverzüglich hinreichende Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung eingeleitet (sog. Interne Untersuchung Æ Rz. 201 ff.), 2) entdeckte Verstöße abgestellt (Æ Rz. 309 f.), 3) tatbeteiligte Mitarbeiter angemessen sanktioniert (Æ Rz. 312 f.) und 4) identifizierte Missstände und Ineffizienzen des CMS zur Verhinderung künftiger Verstöße der gleichen Art behoben werden (sog. Remediation Æ Rz. 316 f.). 5) Die Ergebnisse der unter 1) bis 4) genannten Maßnahmen sollten sorgfältig dokumentiert werden (Æ Rz. 318 ff.). 201 Eine interne Untersuchung (oder „Internal Investigation“) wird regelmäßig definiert als private, d. h. durch das Unternehmen selbst initiierte Ermittlungsmaßnahmen im Unternehmen durch interne oder externe Fachleute, die dazu dienen, Regelverstöße von Mitarbeitern bis hin zur Unternehmensspitze aufzuklären.193) Das ist zwar nicht falsch, darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass es aus Sicht des Vorstands bei Verdachtsfällen mit der lückenlosen Aufklärung des Sachverhalts getan wäre. Die Sachverhaltsaufklärung dient nur der Schaffung einer angemessenen Informationsgrundlage, damit der Vorstand auf dieser Basis weitere Entscheidungen zum Umgang mit dem Fall innerhalb des haftungsfreien Ermessensspielraums der BJR (dazu Æ Rz. 76 und § 2 Rz. 25 ff.) treffen kann. Denn zu den Vorstandspflichten im Verdachtsfall gehört – wie vorstehend (Æ Rz. 200) aufgezählt – neben der Sachverhaltsaufklärung auch das Abstellen identifizierter Verstöße, die Sanktionierungen beteiligter Mitarbeiter und die Behebung festgestellter Defizite des CMS.194) Ob man diese Pflichten nun als Bestandteil der internen Untersuchung im engeren Sinne sieht oder nicht, kann für die Praxis dahinstehen. Feststeht, dass die Compliance-Organisationspflicht des Vorstands die Durchführung bzw. Prüfung der genannten Maßnahmen im Rahmen der internen Untersuchung gebie___________ 193) Fuhrmann, NZG 2016, 881 (882); Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 1; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, Rz. 15.1; Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 7. 194) Arnold, ZGR 2014, 76 (81).

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

tet. In der Praxis empfiehlt es sich zudem im Regelfall, sämtliche Maßnahmen in einem Abschlussbericht zu dokumentieren (zu Inhalt und Aufbau des Abschlussberichts Æ Rz. 324 ff.). Häufig sind in Fällen, in denen der Vorstand Kenntnis von möglichen Rechts- 202 verstößen im Unternehmen erlangt und interne Untersuchungen einleitet, zeitgleich oder kurz darauf auch Ermittlungs- und/oder Aufsichtsbehörden informiert und es laufen bereits bzw. drohen staatliche Ermittlungen gegen einzelne Organmitglieder oder Mitarbeiter des Unternehmens. Nicht selten wird im Laufe des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens zwecks Festsetzung einer Geldbuße nach § 30 OWiG (ausführlich dazu Æ § 23) die Nebenbeteiligung des Unternehmens am Verfahren angeordnet (§ 30 i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG, § 444 StPO). In einer derartigen Situation ist dem Vorstand zu raten, sich qualifizierten fachlichen Rat dazu einzuholen, ob und inwieweit eine Kooperation mit den Ermittlungsbehörden im Unternehmensinteresse liegt (dazu Æ Rz. 331 ff.). 2.

Sachverhaltsaufklärung (Interne Untersuchung)

a)

Pflicht zur Einleitung

aa)

Kein Entschließungsermessen hinsichtlich des „Ob“

Die Aufklärung von Fehlverhalten ist essenzieller Bestandteil eines jeden CMS.195) 203 Ein CMS verliert zudem jede Glaubwürdigkeit bei Mitarbeitern, wenn Hinweise auf Fehlverhalten nicht professionell untersucht (und disziplinarisch geahndet, Æ Rz. 312 f.) werden.196) Nach allgemeiner Auffassung197) muss der Vorstand daher bei hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für Verstöße gegen Gesetzesnormen oder interne Regularien (Æ Rz. 177) unverzüglich angemessene Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung einleiten. Die Rechtspflicht zur Sachverhaltsklärung bei Verdachtsfällen ist grundsätzlich nicht disponibel. Der Vorstand hat mithin hinsichtlich der Frage des „Ob“ der Einleitung einer internen Untersuchung kein Entschließungsermessen.198) Dies gilt selbst dann, wenn die Verdachtsmomente auch eigenes Fehlverhalten von (früheren) Vorstandsmitgliedern betreffen (Æ Rz. 211).199) ___________ 195) Badle/Raschke, DER BETRIEB Sonderausgabe 02/2017, S. 16 (17); Moosmayer, NJW 2012, 3013 (3014); Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 25. 196) Moosmayer, NJW 2012, 3013 (3014). 197) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 6; Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598 (1599 f.); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 AktG Rz. 57. 198) Æ § 1 Rz. 289; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (573); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 57; Bachmann, ZHR 180 (2016), 563 (564); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (242); Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598 (1599 f.); Wagner, CCZ 2009, 8 (12 f.). 199) Grunewald, NZG 2013, 841 (842): Jedenfalls beim aktuellen Vorstand spielt diese Problematik nur bei fahrlässigem Verhalten eine Rolle. Denn bei vorsätzlichem Handeln sind Nachforschungen nicht notwendig. Das Fehlverhalten ist dem Vorstand ja bekannt.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

204 Demgegenüber steht der Unternehmensleitung – ähnlich wie bei der Errichtung eines wirksamen CMS (Æ Rz. 76 f.) – bei der Frage des „Wie“, d. h. der konkreten Ausgestaltung der internen Untersuchung bzw. bei der Wahl der Aufklärungsmethoden, grundsätzlich ein Ermessensspielraum nach den Grundsätzen der BJR zu (Æ Rz. 231 ff.). bb)

Erforderliche Verdachtsschwelle

205 Der Vorstand hat einen begrenzten Beurteilungsspielraum im Hinblick darauf, ob ein hinreichender Verdacht vorliegt, der die Anordnung einer internen Untersuchung erfordert.200) Zwar handelt es sich bei internen Untersuchungen um private Ermittlungen, so dass es nicht angezeigt ist, darauf schematisch strafprozessuale Grundsätze zu übertragen.201) Gleichwohl erscheint es sinnvoll und zweckmäßig, bei Beurteilung der erforderlichen Verdachtsschwelle zur Einleitung interner Untersuchungen auf die Grundsätze zum Vorliegen eines strafprozessualen Anfangsverdachts zurückzugreifen202), da insoweit für die Praxis handhabbare Kriterien existieren. Danach gilt: 206 Es müssen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die es als möglich erscheinen lassen, dass ein Fehlverhalten vorliegt; bloße Vermutungen oder Unterstellungen reichen nicht.203) Dürftige und noch ungeprüfte Angaben und Gerüchte können zureichende Anhaltspunkte sein, wenn sie durch zusätzliche Tatsachen plausibel erscheinen.204) Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Verdacht bestätigt, kann merklich unter 50 % liegen.205) Je schwerwiegender die Folgen für das Unternehmen sind, sofern sich der Verdacht erhärten sollte, desto geringer darf die Wahrscheinlichkeit sein, mit der auf das Fehlverhalten geschlossen werden kann, und desto weniger fundiert dürfen gegebenenfalls die Tatsachen sein, die dem Verdacht zugrunde liegen.206) 207 Nicht einfach zu beantworten und einzelfallabhängig ist die Frage, ob und inwieweit der Vorstand eigene interne Ermittlungen einleiten sollte, wenn behördliche Ermittlungen gegen Mitarbeiter und/oder gegen das Unternehmen begonnen haben oder unmittelbar bevorstehen, die Vorwürfe in dem Unter___________ 200) Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 1001; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 9; Fuhrmann, NZG 2016, 881 (884). 201) Dazu eingehend: Momsen/Grützner, DB 2011, 1792 ff. 202) So auch Grützner/Momsen/Grützner, Kapitel 4 Rz. 52; im Ergebnis zu ähnlichen Ergebnissen dürfte regelmäßig die Auffassung führen, die „schlüssige“ Verdachtsmomente fordert Æ § 1 Rz. 290. 203) KK-StPO/Diemer, § 152 Rz. 7; KK-OWiG/Lutz, Vorbemerkung Rz. 36 ff. 204) KK-StPO/Diemer, § 152 Rz. 7. 205) MünchKommStPO/Peters, § 152 Rz. 35. 206) Vgl. KK-StPO/Diemer, § 152 Rz. 7; Fuhrmann, NZG 2016, 881 (885); Wisskirchen/Glaser, DB 2011, 1392 (1394).

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

nehmen aber noch nicht bekannt sind.207) Nach der hier vertretenen Auffassung sollte der Vorstand jedenfalls in dem Fall, dass bereits gegen das Unternehmen selbst ein (Ordnungswidrigkeiten-)Verfahren, etwa als Nebenbeteiligte (§ 30 i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG, § 444 StPO), eingeleitet worden ist, eine eigene Untersuchung einleiten, um sich ein Bild von der Sach- und Rechtslage zu verschaffen und nicht erst die Akteneinsicht abwarten zu müssen.208) Das vielfach bemühte (Gegen-)Argument, dass die Ergebnisse der Untersuchung beschlagnahmt werden könnten,209) trägt nach hier vertretener Auffassung nicht. Denn bei einem gegen das Unternehmen bereits eingeleiteten Verfahren besteht ein Beschlagnahmeschutz für alle Beweismittel, die der Unternehmensanwalt oder Unternehmensmitarbeiter zum Zwecke der Verteidigung erhoben haben (dazu Æ Rz. 304 f.). cc)

Grenzen der Aufklärungspflicht

Der Vorstand hat sein Handeln – im Rahmen der Befolgung seiner Legalitäts- 208 pflicht – allein am Unternehmensinteresse auszurichten (Æ § 1 Rz. 23). Die Pflicht des Vorstands, den Sachverhalt bei Kenntnis von potentiellen oder tatsächlichen Compliance-Verstößen aufzuklären endet daher dort, wo eine weitere Aufklärung nicht (mehr) im Unternehmensinteresse liegt.210) Ergibt eine (u. U. bereits vor der Einleitung erster Untersuchungsmaßnahmen) durchgeführte rechtliche Erstanalyse bei Wahrunterstellung des Verdachts, dass die mit der Sachverhaltsaufklärung verbundenen Nachteile für das Unternehmen ihre möglichen Vorteile überwiegen, darf (und muss) der Vorstand von (weiteren) Aufklärungsmaßnahmen absehen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn feststünde, dass die Kosten einer Untersuchung höher sind als der entstandene Schaden oder wenn die Untersuchung ausschließlich der Vorbereitung der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen dient und bereits absehbar ist, dass keine realistischen Möglichkeiten bestehen, die Ansprüche erfolgsversprechend durchzusetzen.211) b)

Zuständigkeit des Vorstands

Die Aufklärung potentiellen Fehlverhaltens ist Teil der Compliance-Organi- 209 sationspflicht und des Vorstands (Æ Rz. 8) und wird richtigerweise als bloße

___________ 207) Vgl. hierzu: Moosmayer Rz. 351; Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 69 f.; Pauthner/ Ghassemi-Tabar Rz. 1001. 208) Vgl. auch Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 1001. 209) Vgl. Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 70. 210) Arnold, ZGR 2014 76 (84). 211) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 19.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Geschäftsführungsmaßnahme212) angesehen, die grundsätzlich dem Gesamtvorstand obliegt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AktG), wobei eine einzelfallbezogene oder generelle horizontale Delegation auf ein Vorstandsmitglied oder vertikale Delegation auf nachgeordnete Ebenen zulässig ist213) (zur Delegation Æ Rz. 82 ff.). Im Falle einer Ressortaufteilung innerhalb des Vorstands wird man mangels einer ausdrücklichen Übertragung der Aufklärungsverantwortung beim Verdacht ressorttypischer und eher geringfügiger Rechtsverstöße regelmäßig eine Annexkompetenz des ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieds annehmen können.214) Die nicht-ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieder trifft weiterhin eine ressortübergreifende Überwachungspflicht, an die allerdings keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen. Lediglich bei Bestehen konkreter Anzeichen dafür, dass der zuständige Ressortleiter seiner Aufklärungsaufgabe nicht pflichtgemäß nachkommt, müssen alle eingreifen (Æ Rz. 85 f.). 210 Eine Gesamtverantwortung aller Vorstandsmitglieder besteht ferner dann, wenn eine Krisen- und Ausnahmesituation besteht, die das Unternehmen als Ganzes betrifft und der Vorstand deshalb insgesamt zum Handeln berufen ist.215) Hiervon ist etwa bei einem Verdacht auf schwerwiegende (systematische) Rechtsverletzungen im Unternehmen auszugehen, der im Falle seiner Bestätigung ein besonders hohes Haftungsrisiko für die Gesellschaft mit sich bringt.216) In einem solchen Fall sind auch die nicht-ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieder verpflichtet, auf die unverzügliche Einleitung hinreichender Aufklärungsmaßnahmen hinzuwirken. 211 Unstreitig ist die Zuständigkeit des (Gesamt-)Vorstands für die Sachverhaltsaufklärung, wenn der Verdacht eines Fehlverhaltens durch Unternehmensangehörige der nachgeordneten Ebenen oder durch Aufsichtsratsmitglieder im Raum steht. Problematisch ist der Fall, in dem sich der Verdacht eines ComplianceVerstoßes im Unternehmen zugleich auch gegen einzelne amtierende Mitglie___________ 212) Unter Geschäftsführung (§ 77 AktG, dazu Æ § 1 Rz. 54 ff.) wird jedwede tatsächliche oder rechtsgeschäftliche Tätigkeit für die Gesellschaft mit Wirkung nach Innen und (in Abgrenzung dazu) unter Leitung (§ 76 AktG, dazu Æ § 1 Rz. 16 ff.) ein nicht delegierbarer, herausgehobener Teilbereich der Geschäftsführung verstanden (Hölters/Weber/Weber, § 76 Rz. 8). 213) Æ § 1 Rz. 290; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 30; Krieger/ Schneider/Wilsing/Goslar Rz. 15.10. 214) Æ § 1 Rz. 290; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, Rz. 15.10; Wagner, CCZ 2009, 8 (14); 215) OLG Rostock, Urt. v. 13.9.2001 – 1 U 261/99, BeckRS 2010, 27429; OLG Bremen, Urt. v. 18.5.1998 – 3 U 2/98, NZG 1999, 724 (727); Krause, NStZ 2011, 57 (65): Aufsichtsrat; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 31 mit Hinweis auf BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (132) = ZIP 1990, 1413. 216) Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 31; Krieger/Schneider/ Wilsing/Goslar, Rz. 15.11 jeweils mit Hinweis auf BGH, Urt. v. 6.7 1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (132) = ZIP 1990, 1413.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

der des Vorstands richtet. Nach richtiger Auffassung217) bleibt es auch in diesem Fall bei der Aufklärungszuständigkeit des Vorstands. Denn solange sich der Verdacht nur gegen vereinzelte Vorstandsmitglieder richtet, ist eine wirksame Sachverhaltsaufklärung durch die übrigen Mitglieder des Vorstands nicht von vornherein ausgeschlossen. Zur Gewährleistung einer unabhängigen Untersuchung erscheint in solchen Fällen allerdings die Bildung eines Steering Committees (Æ Rz. 221 und § 1 Rz. 89) oder anderweitige Maßnahmen zum Umgang mit Interessenkonflikten (Æ § 1 Rz. 141) geboten.218) Zudem hat der Vorstand bei Betroffenheit von Vorstandsmitgliedern unverzüglich den Aufsichtsratsvorsitzenden zu informieren.219) Auch wenn nach der hier vertretenen Auffassung die Zuständigkeit für die 212 Sachverhaltsaufklärung bei Betroffenheit von Vorstandsmitgliedern zu keiner Zeit in einer den Vorstand verdrängenden Weise auf den Aufsichtsrat übergeht, so ist der Aufsichtsrat in entsprechenden Situationen besonders auf den Plan gerufen. Er muss auf Grundlage der Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Intensität des Verdachts und der Anzahl der betroffenen Vorstandsmitglieder entscheiden, ob und inwieweit er sich auf die Ergebnisse der Untersuchung des Vorstands verlassen kann. Kommt der Aufsichtsrat hierbei zu dem Ergebnis, dass der Vorstand seine Aufklärungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt oder – weil z. B. Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten sämtlicher Vorstandsmitglieder vorliegen – nicht ordnungsgemäß erfüllen kann, muss er aufgrund seiner Compliance-Überwachungspflicht eigene Untersuchungen durchführen und den Sachverhalt soweit eigenständig aufklären, bis er das Verhalten des Vorstands und personelle Konsequenzen auf hinreichender Tatsachengrundlage zuverlässig beurteilen kann220) (zur Überwachung interner Untersuchungen sowie eigenständiger Sachverhaltsaufklärung durch den Aufsichtsrat Æ Rz. 429 ff.). c)

Interne Untersuchungen im Konzern

Ob den Vorstand der Konzernmutter eine konzernweite Aufsichtspflicht und 213 damit korrespondierend eine über die Grenzen der Muttergesellschaft hinausgehende Aufklärungspflicht bei potentiellen Compliance-Verstößen trifft, ist ___________ 217) Æ § 1 Rz. 290; Arnold, ZGR 2014, 76 (100 f.); Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar Rz. 15.12; vgl. auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 72 f.; a. A. Fuhrmann, NZG 2014, 881 (883). 218) Derartige Interssenkonflikte und entsprechende Maßnahmen können vorab in einer Investigation Policy (Æ Rz. 224 f.) definiert bzw. geregelt werden. 219) Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar Rz. 15.12; Wagner, CCZ 2009, 8 (14). 220) Zum Ganzen: Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 1041; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, § 15 Rz. 21; Arnold, ZGR 2014, 76 (100 ff.); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (193 ff.); Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226 (232 f.); Fuhrmann, NZG 2016, 881 (883); Habersack, AG 2014, 1 (6), Hugger, ZHR 179 (2015), 214 (217 f.); Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (248 f.).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

noch nicht abschließend geklärt. Die neuere Literatur221) tendiert zur Annahme einer konzernweiten Aufsichtspflicht. Unabhängig von der Frage einer rechtlichen Pflicht ist die Sicherstellung eines konzernweit wirksamen Aufklärungssystems aus Sicht der Konzernmutter essentiell: Stakeholder, Medien sowie zum Teil auch Behörden (vgl. § 81 f. GWB) unterscheiden bei Compliance-Verstößen, die den Konzern betreffen, nicht (präzise) zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften. Fehlverhalten von Tochtergesellschaften fällt regelmäßig wirtschaftlich und reputationsbezogen ganz oder teilweise auch der Konzernmutter zur Last. 214 Daher sollte der Vorstand der Konzernmutter die organisatorischen und technischen Voraussetzungen sicherstellen, um über ein Incident Reporting- und Case-Handling-System konzernweit Verdachtsfälle in allen Tochtergesellschaften zentral wirksam aufklären zu können.222) Dies beinhaltet insbesondere konzernweite Whistleblowing-Systeme, Ablaufpläne, Richtlinien und Standards zur Aufklärung sowie nicht zuletzt verlässliche Dokumentationsgrundsätze. Ratsam ist daher in aller Regel eine konzernweite Investigation Policy (zur Investigation Policy allgemein Æ Rz. 224 f.), die alle relevanten Rechtsordnungen berücksichtigt. 3.

Vorbereitet sein auf den Ernstfall

a)

Unverzügliche Reaktion des Vorstands essentiell

215 Nach Kenntniserlangung eines hinreichenden Verdachts (Æ Rz. 205) auf Compliance-Verstöße im Unternehmen muss der Vorstand unverzüglich handeln, weil durch ein Abwarten mitunter nicht mehr abänderbare nachteilige Situationen entstehen: 216 

Erlangt der Vorstand Kenntnis von möglichen Verstößen mit hohem Risikound Schadenspotential, sind diese regelmäßig neben dem Hinweisgeber aktuell oder kurz darauf noch weiteren Mitarbeitern und/oder unternehmensexternen Dritten bekannt. Damit besteht die akute Gefahr einer eskalierenden Verbreitung des Sachverhalts in der internen und externen Öffentlichkeit.

217 

Mit jeder Verzögerung der Sachverhaltsaufklärung wächst zudem die Gefahr der Beweisvernichtung und Beweisverdunkelung durch Tatbeteiligte.

218 

Wird nachträglich bekannt, dass die Unternehmensleitung Hinweisen auf Fehlverhalten nicht unverzüglich und/oder nicht mit wirksamen Mitteln nachgegangen ist, entsteht bei Belegschaft und Öffentlichkeit der Eindruck, der Vorstand habe von den Compliance-Verstößen gewusst und nichts un-

___________ 221) Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 61; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/ Potinecke/Block, Kapitel 2 Rz. 137; Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 139; einschränkend: Bohnert/Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 7. 222) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Pauthner, § 1 Rz. 137.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

ternommen oder sei gar in die Verstöße involviert gewesen. Dies kann für das Unternehmen und den Vorstand einen dauerhaften Reputationsschaden bedeuten. Daher sollte der Vorstand für den künftigen Bedarfsfall einer internen Unter- 219 suchung bereits im Voraus wirksame Prozesse und Ressourcen planen und sicherstellen. Relevante Maßnahmen zur Vorbereitung auf eine künftige Investigation sollen nachstehend (Æ Rz. 220 bis 230) skizziert werden. b)

Sicherstellen frühestmöglicher Kenntnisnahme von Verdachtsfällen

Als Grundvoraussetzung eines rechtzeitigen reaktiven Handelns muss der Vor- 220 stand sicherstellen, dass ihm relevante Hinweise auf Verdachtsfälle frühestmöglich ohne Verzögerungen zugehen. Zu diesem Zweck muss er einerseits für die Implementierung wirksamer Hinweisgebersysteme (Æ Rz. 126 ff.) im Unternehmen sorgen. Darüber hinaus muss der Vorstand durch geeignete Prozesse und Mechanismen sicherstellen, dass eingegangene Hinweise auf gravierende Verdachtsfälle den (ressort-verantwortlichen) Vorstandsmitgliedern gemeldet werden. Entsprechende präzise definierte Prozessregelungen können und sollten in der Investigation Policy (Æ Rz. 224 f.) schriftlich niedergelegt werden. c)

Vorabauswahl interner und/oder externer Fachkräfte

Es empfiehlt sich und hat sich in der Praxis bewährt, als Vorbereitung auf (je- 221 denfalls größere) Sachverhaltsaufklärungen vorab ein operatives InvestigationProjektteam und ein kontrollierendes Steering Committee zu bestimmen.223) Für die Zusammensetzung des Projektteams gibt es keine starren Vorgaben. Ihm können beispielsweise Vertreter der Unternehmensleitung, der Rechtsabteilung, der Compliance-Abteilung, der internen Revision oder ähnlicher Fachbereiche sowie externe Fachkräfte (forensische Dienstleister, IT-Spezialisten, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer) angehören. Der Vorstand muss das Team jedenfalls sorgfältig auswählen und sicherstellen, dass es über die für die Aufgabe erforderlichen Kompetenzen verfügt und kein Interessenkonflikt besteht. Die Einbindung interner und/oder externer Juristen mit der entsprechenden Expertise ist ratsam, einerseits weil die rechtlichen Grenzen einzelner Untersuchungsmaßnahmen stets im Auge behalten werden müssen, und andererseits weil es letztlich um die rechtliche Analyse des Verdachtsfalls gehen wird. Das Steering Committee kann beispielsweise mit Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern sowie leitenden Angestellten besetzt werden (dazu auch Æ § 1 Rz. 89).

___________ 223) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 37.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

222 Auch eine Vorauswahl externer Fachleute zur Durchführung oder Unterstützung der internen Untersuchung kann sinnvoll sein. Die Hinzuziehung externer Fachleute kann unter folgenden Gesichtspunkten in Betracht kommen224): 

Der Sachverhalt soll von Beginn an durch weisungsunabhängige externe Fachleute aufgeklärt werden, um seitens des Unternehmens eine neutrale Ermittlung ohne Beeinflussung durch das Management zu signalisieren und den Vorstand somit im Hinblick auf seine Aufklärungspflicht bestmöglich zu entlasten.



Es sind für die anstehende Untersuchung keine hinreichenden personellen und/oder zeitlichen internen Ressourcen verfügbar.



Gerade in größeren Verdachtsfällen ist angesichts der Komplexität der rechtlichen Probleme erforderlich, dass neben den internen Kontrollinstanzen von Anfang an externe Berater mit entsprechender Expertise in den relevanten Rechtsgebieten hinzugezogen werden.



Es ist unklar, ob einzelne Mitglieder des Projektteams oder des Vorstands (mittelbar) an dem aufzuklärenden Sachverhalt beteiligt sein könnten.

223 Hat der Vorstand sich für die Hinzuziehung externer Fachleute entschieden und diese identifiziert, sollte er nach Möglichkeit deren unverzügliche Verfügbarkeit im Ernstfall sicherstellen und vertraglich zusichern lassen. d)

Investigation Policy

224 Zumindest ab einer gewissen Größe und Komplexität des Unternehmens empfiehlt sich als Bestandteil des präventiven CMS eine schriftlich dokumentierte Investigation Policy zur Vorbereitung auf künftige Verdachtsfälle und Krisensituationen. Für die Konzipierung einer entsprechenden Policy können im Einzelfall folgende Argumente sprechen: 225 

Wie bereits erwähnt (Æ Rz. 215 f.), ist ein unverzügliches Handeln im Verdachtsfall aus Sicht des Vorstands essentiell. Verfahren, Abläufe, Instrumente und Beteiligte an internen Untersuchungen sollten daher nach Möglichkeit zuvor geplant und festgelegt werden, um Planungsdefizite und falsche Weichenstellungen gerade in der Anfangsphase einer internen Untersuchung zu vermeiden.

226 

Eine unternehmensinterne Investigation Policy demonstriert gegenüber Unternehmensangehörigen, Stakeholdern sowie Behörden, dass der Vorstand seine Pflicht zur Aufklärung, Unterbindung und Ahndung von Verstößen ernst nimmt.

227 

Die Investigation Policy dient als Handlungsleitfaden für die an der Untersuchung beteiligten internen und externen Personen und erhöht die Rechts-

___________ 224) Vgl. hierzu auch Bay/Besl, Kapitel 7 Rz. 13 ff.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

sicherheit und Wirksamkeit der Untersuchung. Strafbarkeitsrisiken bei internen Untersuchungen225) werden dadurch minimiert. 

Schließlich weist eine entsprechende Policy die interne Untersuchung als 228 festen Bestandteil des CMS aus. Die Einleitung von internen Untersuchungen als automatischen Standardprozess bei Eingang von Hinweisen wird allen Unternehmensangehörigen deutlich. Die Policy entfaltet damit Präventivwirkung im Hinblick auf künftiges Fehlverhalten und wirkt als risikoreduzierendes CMS-Element.

Beispielhafte (nicht abschließende) Inhalte einer Investigation Policy sind: 

Definition von Verdachtsfällen bzw. Verdachtsschwellen,



Regelungen zum Schutz von Hinweisgebern,



Regelung von Amnestieprogrammen (dazu Æ Rz. 289 ff.),



Nennung der Personen, die bei Hinweisen mit hohem Schadenspotenzial unverzüglich zu benachrichtigen sind (Eskalationskriterien, Kontaktdaten, Ersatzkontakte, Erreichbarkeiten auch am Wochenende, Feiertagen und Urlaub),



Bestimmung des Projektteams und des Steering Committee,



Interessenkonflikte und Ausschluss von Untersuchungspersonen,



Prozessdefinition der ersten Schritte einer Untersuchung,



umfassende Auflistung rechtswidriger und damit untersagter Untersuchungshandlungen,



Grundsätze und Ablauf typischer Untersuchungshandlungen, z. B. E-MailReview (dazu Æ Rz. 246 ff.) oder Mitarbeiterbefragungen (dazu Æ Rz. 272 ff.).

229

Das Investigations-Projektteam (Æ Rz. 221) sollte bei der Konzipierung der 230 Investigation Policy involviert werden. 4.

Wirksame Durchführung einer internen Untersuchung

a)

Grundsatz: Ermessen hinsichtlich des „Wie“

Erlangt der Vorstand Kenntnis von möglichen Compliance-Verstößen, so muss 231 er in einem ersten Schritt die Belastbarkeit der Verdachtsmomente mit Blick darauf überprüfen, ob eine hinreichende Verdachtsschwelle gegeben ist, die eine Pflicht zur Einleitung weiterer Sachverhaltsaufklärung auslöst (dazu bereits oben Æ Rz. 203 ff.). Ist dies der Fall, so steht dem Vorstand bei der Frage des „Wie“ ein Ermessensspielraum im Sinne der BJR zu (zur BJR Æ Rz. 76 und § 2 Rz. 25 ff.).226) Er darf mithin im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens eine Ent___________ 225) Vgl. dazu: Weiß, CCZ 2014, 136 ff. 226) Arnold, ZGR 2014, 76 (83); Seibt/Cziupka, DB 2014, 1598 (1600); BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 91 Rz. 57; Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 1002.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

scheidung treffen über die Beauftragung interner und/oder externer Fachkräfte zur Durchführung der Untersuchung, die Einschaltung von Behörden227) sowie die Wahl und Ausgestaltung geeigneter, angemessener und wirksamer Untersuchungsmethoden. 232 Die Auswahl und Ausgestaltung der Aufklärungsinstrumente muss eine verhältnismäßige Reaktion auf die existierenden Verdachtsmomente sein.228) Wie im Präventivbereich gilt auch im Rahmen interner Untersuchungen der Grundsatz: „Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.“ Unter Effektivitätsgesichtspunkten darf der Vorstand auch ein gestaffeltes Vorgehen wählen, bei dem erst mit Erhärtung zunehmendem Verdachtsgrad weitergehende Prüfungen erfolgen, wie z. B. eine sukzessive Erweiterung des befragten Mitarbeiterkreises oder der Übergang von stichprobenartiger zu vollständiger Prüfung von Vorgängen.229) 233 Gleichwohl tut der Vorstand gut daran, bereits zu Beginn der Untersuchung eine rechtliche Erstanalyse bei Wahrunterstellung des Verdachts zu veranlassen und hierbei eine Sachverhaltsentwicklung in verschiedene Richtungen und die damit verbundenen Konsequenzen zu durchdenken; auch der Umgang mit einem Worst-Case-Szenario sollte kritisch und anhand vergleichbarer öffentlichkeitswirksamer Fälle antizipiert werden.230) Die Eigendynamik und die Tragweite einer Verselbständigung, die Verdachtsfälle mitunter annehmen können, darf nicht unterschätzt werden. Jeder Verdachtsfall sollte daher vom Vorstand ernst genommen werden. Eine Herabstufung in der Priorisierung kann immer erfolgen, eine Aufstufung erfolgt hingegen häufig zu spät.231) 234 Der Vorstand sollte den Gang der internen Untersuchung daher aktiv verfolgen und bei Bedarf steuernd eingreifen. Hierfür muss er die kontinuierliche Berichterstattung durch das Projektteam sicherstellen.232) Die wesentlichen Entscheidungen dürfen nicht am Vorstand vorbei erfolgen. Auch sollte der Vorstand etwaige Ad-hoc-Veröffentlichungspflichten im Blick haben.233) b)

Definition der Eckpunkte der internen Untersuchung

235 Zu Beginn der internen Untersuchung muss deren effektive und wirksame Umsetzung sichergestellt werden. Je nach Art und Tragweite des Verdachts ___________ 227) Schockenhoff, NZG 2015, 409 (410); Seibt/Cziupka, AG 2015, 93 (104 ff.); Wettner/Mann, DStR 2014, 655 (656). 228) Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 54. 229) Æ § 1 Rz. 294. 230) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 9. 231) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 9. 232) Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 1008; vgl. auch LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (574); Koch, § 76 Rz. 16; Fleischer, NZG 2014, 321 (323 f.). 233) Vgl. dazu ausführlich Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001 ff. und 2041 ff.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

sind die Eckpunkte der Untersuchung zu definieren, d. h. geeignete interne Teambesetzung, Zuziehung externer Fachkräfte (z. B. Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, IT-Spezialisten und/oder Forensiker), Untersuchungsmethoden (Mitarbeiterbefragung, E-Mail-Review, Datenauswertung), interne und externe Kommunikationsstrategie sowie zuverlässige Dokumentationsformen. Für jede einzelne Untersuchungsmaßnahme sind klare Verantwortlichkeiten 236 festzulegen und die Untersuchungsmaßnahmen müssen gründlich organisiert werden. Hierzu gehört insbesondere auch die Prüfung der rechtlichen Anforderungen an die einzelnen Untersuchungsmaßnahmen, wobei regelmäßig datenschutz- (Æ Rz. 246 ff.) und arbeitsrechtliche (Æ Rz. 273 ff.) Aspekte relevant sind. Die Prüfung der rechtlichen Anforderungen sollte unter möglichst frühzeitiger Einbindung des CCO, des Leiters Recht und/oder externer Rechtsanwälte sowie des Datenschutzbeauftragten234) erfolgen, sofern die genannten Personen nicht ohnehin zentrale Beteiligte des operativen Investigation-Projektteams (Æ Rz. 221) sind. Etwaige einem Interessenkonflikt unterliegende oder möglicherweise am Ver- 237 dachtsfall tatbeteiligte Unternehmensangehörige müssen von der Untersuchung in der Regel ausgeschlossen werden, um die Wirksamkeit der Untersuchung nicht zu gefährden. Umgekehrt kann es im Einzelfall sinnvoll sein, Mitarbeiter aus den betroffenen 238 Abteilungen als vorübergehende Mitglieder des Projektteams einzubinden. Dies gilt z. B. bei komplexen Geschäftsvorgängen und technischen Prozessen, die nachvollzogen werden müssen. Insbesondere in dem Fall, dass der Verdachtsfall durch anonyme Hinweisgeber 239 bekannt wurde, sollte abgewogen werden, ob zunächst eine „verdeckte“ Ermittlung235) eingeleitet wird und erst später in die Phase der „offenen“, für den Verdächtigen sichtbaren Ermittlung übergegangen wird. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Tatbeteiligte bei Kenntniserlangung versuchen, Mittäter zu warnen, Verschleierungshandlungen vorzunehmen oder E-Mail-Konten und verdächtige Daten auf ihrem Dienst-Notebook unkenntlich zu machen, ist nicht irrelevant. Im Zweifel sollten unverzüglich spezialisierte IT-Forensiker zwecks Datensicherung und ggf. Datenrettung236) hinzugezogen werden. In dem Fall, dass im konkreten Verdachtsfall zugleich eine behördliche Er- 240 mittlung begonnen hat oder unmittelbar bevorsteht, sind – unter Hinzuziehung eines entsprechend qualifizierten Beraters – sorgfältige Überlegungen bezüglich rechtlicher Mitwirkungspflichten sowie taktischer Vor- und Nachteile einer ___________ 234) Sofern vorhanden, vgl. § 38 BDSG. 235) Verdeckte Ermittlungen bedeuten allerdings regelmäßig eine höhere Eingriffsintensität in die (Persönlichkeits-)Rechte der Betroffenen (Æ Rz. 257). 236) “Zerstörte“ Daten können oftmals wiederhergestellt und nutzbar gemacht werden.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Kooperation mit der Behörde (z. B. Weitergabe von Informationen, die über die rechtlichen Pflichten hinausgeht) anzustellen und auf dieser Grundlage eine Strategie auszuarbeiten (zur Kooperation mit Behörden Æ Rz. 331 ff.). 241 Im Idealfall existiert bereits ein (abstrakter) „Aktionsplan“ im Sinne einer Vorabauswahl kompetenter interner und/oder externer Fachkräfte sowie eine Vorabdefinition verbindlicher Maßnahmen und ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen, der bei Eintritt des Verdachtsfalls in einen konkreten Aktionsplan übersetzt werden kann (zur Investigation Policy Æ Rz. 224 f.). c)

Auswertung von dienstlichen Dokumenten und Akten

242 Bei der Auswertung von (physischen) dienstlichen Dokumenten und Akten im Rahmen interner Untersuchungen stellen sich in rechtlicher Hinsicht keine besonderen Probleme. Der Zugriff erfolgt auf der Grundlage des Eigentums- und Hausrechts des Arbeitgebers. Der Arbeitnehmer ist nur Besitzdiener (§ 855 BGB) sämtlicher Arbeitsmittel, der Arbeitgeber Eigentümer.237) Zudem hat der Arbeitgeber einen Herausgabeanspruch entsprechend § 667 BGB hinsichtlich der Geschäftsunterlagen.238) Er hat grundsätzlich das Recht, Arbeitspapiere, Schriftstücke und Geschäftsunterlagen (auch in elektronischer Form239) einzusehen und herauszuverlangen und zwar auch dann, wenn es sich um die Handakte des Arbeitnehmers handelt, die selbst erstellte Aufzeichnungen enthält.240) Eine Verweigerung der Herausgabe der Akten durch Mitarbeiter ist nur zulässig, wenn es sich um private oder persönliche Dokumente handelt.241) 243 Die (auch kollektive) Anordnung des Arbeitgebers zur Herausgabe dienstlicher Unterlagen von Arbeitnehmern zwecks Auswertung löst kein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG aus, weil eine solche Anordnung im Rahmen einer Untersuchung allein das Arbeitsverhalten der Mitarbeiter betrifft und daher – anders als Regelungen, die das Ordnungsverhalten betreffen – mitbestimmungsfrei ist.242) Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats besteht jedoch nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, soweit die Unterlagen durch eine technische ___________ 237) BGH, Urt. v. 30.1.2015 – V ZR 63/13, NJW 2015, 1678 (Rz. 19); 238) BAG, Urt. v. 14.12.2011 – 10 AZR 283/10, NZA 2012, 501; vgl. zur Zurückbehaltung von Geschäftsunterlagen durch den Arbeitnehmer Bergwitz, NZA 2018, 333. 239) Schrader/Mahler, NZA-RR 2016, 57 (64). 240) Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Mengel, § 14 Rz. 8 und 13; vgl. auch Hauschka/ Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 30; Fett/Theusinger, KSzW 2016, 253 (258); Fuhrmann, NZG 2016, 881 (887); Klengel/Mückenberger, CCZ 2009, 81 (85). 241) Schrader/Mahler, NZA-RR 2016, 57 (64). 242) Mengel/Ullrich, NZA 2006, 240 (244); vgl. auch ErfK-ArbR/Kania, § 87 BetrVG Rz. 21; allgemein zur Differenzierung zwischen Regelungen, die das Ordnungsverhalten der ArbN betreffen, und Maßnahmen, die das Arbeitsverhalten der Arbeitnehmer zum Inhalt haben BeckOK ArbR/Werner, BetrVG § 87 Rz. 28.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Datenerhebung und Datenverarbeitung ausgewertet werden, was bei großen Untersuchungen regelmäßig der Fall sein dürfte.243) Unabhängig vom Vorliegen eines Mitbestimmungsrechts besteht jedoch ein In- 244 formationsrecht des Betriebsrats. Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend über die geplante Untersuchungsmaßnahme informieren (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG), damit der Betriebsrat seiner Aufgabe zur Überwachung der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) nachkommen kann. § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG bezieht sich auf sämtliche Rechtsvorschriften, die sich zugunsten der Arbeitnehmer des Betriebs auswirken können, also im vorliegenden Zusammenhang insbesondere auch auf datenschutzrechtliche Bestimmungen.244) Bei der Durchsicht physischer Dokumente sind die datenschutzrechtlichen 245 Vorgaben des § 26 BDSG zu beachten (dazu Æ Rz. 248 ff.). d)

E-Mail-Review

Das Auswerten von E-Mail-Konten (sog. E-Search) von Mitarbeitern und Organ- 246 mitgliedern ist mittlerweile ein fester Bestandteil einer jeden internen Untersuchung und bietet in der Praxis – neben Mitarbeiterbefragungen (Æ Rz. 272 ff.) – eine der zentralen Erkenntnisquellen bei der Sachverhaltsaufklärung. Um Beweisverwertungsverbote, Strafbarkeitsrisiken (z. B. nach § 206 StGB245), Bußgelder, Rufschäden und andere Nachteile für das Unternehmen und den Beteiligten zu vermeiden, sollte hierbei auf die Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen geachtet werden. Diese divergieren je nachdem, ob der Arbeitgeber die Privatnutzung des dienstlichen E-Mail-Kontos verboten (Æ Rz. 247 ff.) oder erlaubt (Æ Rz. 261 ff.) hat. aa)

Rechtslage bei Verbot der Privatnutzung

Der Arbeitgeber muss die Privatnutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts 247 nicht gestatten.246) Er hat lediglich den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten.247) Hat der Arbeitgeber die Privatnutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts explizit verboten, unterliegen E-Mails – wie sonstiger dienst___________ 243) Schürrle/Olbers, CCZ 2010, 178; Wybitul/Böhm, RdA 2011, 362 (365 f.); vgl. auch Richardi/ Richardi, § 87 BetrVG Rz. 183 und 188. 244) ErfK-ArbR/Kania, § 80 BetrVG Rz. 3; Richardi/Thüsing, § 80 BetrVG Rz. 10. 245) Ist die private Nutzung des dienstlichen E-Mail-Kontos erlaubt und folgt man der Auffassung, dass der Arbeitgeber in diesem Fall geschäftsmäßiger Anbieter von Telekommunikationsdiensten (§ 3 Nr. 10 TKG) ist, dann kommt bei Durchsuchung von E-MailKonten eine Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses i. S. v. § 206 StGB in Betracht, vgl. dazu Veit, NZWiSt 2015, 334; Rübenstahl/Debus, NZWiSt 2012, 129 (132 f.). 246) BAG, Urt. v. 7.7.2015 – 2 AZR 581/04, ZIP 2006, 152; Kilian/Heussen/Polenz, Teil 13 Rz. 24. 247) MünchAnwHdb. ArbR/Dendorfer-Ditges, § 35 Rz. 197.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

lich geführter Schriftverkehr – weitgehend seiner Zugriffsberechtigung bzw. der Zugriffsberechtigung von ihm beauftragter Ermittler, und zwar sowohl hinsichtlich der Verbindungsdaten (Datum, Uhrzeit, Datenvolumen) einschließlich der Ziel- bzw. Sendeadressen als auch der Textinhalte.248) 248 Vom Arbeitgeber sind (lediglich) die datenschutzrechtlichen Vorgaben, insbesondere die des § 26 Abs. 1 BDSG249) zu beachten. Dort heißt es: 249 „Personenbezogene Daten von Beschäftigten dürfen für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses verarbeitet werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung des Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung oder zur Ausübung oder Erfüllung der sich aus einem Gesetz oder einem Tarifvertrag, einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung (Kollektivvereinbarung) ergebenden Rechte und Pflichten der Interessenvertretung der Beschäftigten erforderlich ist. Zur Aufdeckung von Straftaten dürfen personenbezogene Daten von Beschäftigten nur dann verarbeitet werden, wenn zu dokumentierende tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht begründen, dass die betroffene Person im Beschäftigungsverhältnis eine Straftat begangen hat, die Verarbeitung zur Aufdeckung erforderlich ist und das schutzwürdige Interesse der oder des Beschäftigten an dem Ausschluss der Verarbeitung nicht überwiegt, insbesondere Art und Ausmaß im Hinblick auf den Anlass nicht unverhältnismäßig sind.“ (Hervorhebungen durch den Autor) 250 Nach der hier vertretenen Auffassung erfasst der Beschäftigtenbegriff wegen des Zwecks, das allgemeine Persönlichkeitsrecht natürlicher Personen zu schützen, neben Arbeitnehmer(inne)n auch Organmitglieder juristischer Personen.250) 251 Der Begriff des Beschäftigungsverhältnisses ist umfassend zu verstehen; erforderlich, aber auch ausreichend ist, wenn die dem Verdacht zugrunde liegende Tat im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis begangen wurde.251) Die bei internen Untersuchungen typischerweise in Betracht kommenden Verstöße werden regelmäßig im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis begangen, da die verdächtigen Mitarbeiter normalerweise ihre Position als Arbeitnehmer nutzen und oft in (rechtswidriger) Ausübung ihrer Funktion handeln.252) ___________ 248) Dazu: Klengel/Mückenberger, CCZ 2009, 81 (83); Scheben/Geschonneck/Klos, ZHR 179 (2015), 240 (261); MünchAnwHdb. ArbR/Dendorfer-Ditges, § 35 Rz. 198 ff.; Hauschka/ Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 35 ff.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 12.1.2016 – 61496/08 – „Barbulescu/Rumänien“, CCZ 2016, 285. 249) § 26 beruht auf der Öffnungsklausel des Art. 88 DS-GVO und soll die spezialgesetzliche Regelung des § 32 BDSG a. F. fortführen, angepasst an die Terminologie der DS-GVO. § 26 nimmt die Rolle des § 32 BDSG aF nahezu unverändert ein (Paal/Pauly/Gräber/ Nolden, § 26 BDSG Rz. 1). 250) MünchHdb. ArbR I/Reichold, § 96 Rz. 23 a. E. m. w. N.; a. A. Krieger/Schneider/ Wilsing/Goslar Rz. 15.40. 251) Rübenstahl, NZWiSt 2012, 129 (136) zu § 32 BDSG a. F. 252) Rübenstahl, NZWiSt 2012, 129 (136) zu § 32 BDSG a. F.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Eine Auswertung von E-Mail-Konten ist nach § 26 Abs. 1 BDSG erforderlich 252 (und damit zulässig), wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte (dazu Æ Rz. 206) für einen Compliance-Verstoß des Arbeitnehmers von nicht unerheblichem Gewicht bestehen, die Maßnahme zur Aufklärung geeignet und das mildeste aller gleich geeigneten Mittel ist.253) Der Einsichtnahme dürfen keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen 253 des Beschäftigten entgegenstehen. Entscheidend ist danach letztlich die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ist gegen die Intensität des Verdachts, die Schwere der vermuteten Pflichtverletzung und die schützenswerten Belange des Arbeitgebers abzuwägen.254) Aber auch ohne eine Einwilligung des Betroffenen (Æ Rz. 254) und/ oder einer Betriebsvereinbarung (Æ Rz. 255) fällt die Interessenabwägung in der Konstellation des expliziten Verbots der Privatnutzung des E-Mail-Kontos, in der es um die Auswertung ausschließlich dienstlicher E-Mails geht, regelmäßig zu Gunsten des Arbeitgebers aus, weil keine schützenswerten Belange des Betroffenen entgegenstehen.255) Die zu § 32 BDSG a. F. noch streitige Frage, ob eine datenschutzrechtliche Ein- 254 willigung auch im Beschäftigungsverhältnis eine wirksame Rechtsgrundlage für die Datenverarbeitung sein kann, hat der Gesetzgeber durch § 26 Abs. 2 BDSG nunmehr positiv entschieden. Danach ist eine Einwilligung im Beschäftigtenkontext grundsätzlich zulässig, wobei besondere Kriterien für die Beurteilung der Freiwilligkeit sowie Formerfordernisse für die Einwilligung eines Beschäftigten genannt werden.256) § 26 Abs. 4 BDSG stellt zudem klar, dass die Verarbeitung von personenbezo- 255 genen Beschäftigtendaten auch auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung zulässig ist. Sämtliche bei Inkrafttreten des § 26 BDSG (also am 25.5.2018) bereits bestehenden Kollektivvereinbarungen sollten auf die Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Art. 88 Abs. 2 DS-GVO (vgl. § 26 Abs. 4 Satz 2 BDSG) überprüft und ggf. angepasst werden.257) Zwar ist der Vorstand im Rahmen der internen Untersuchung grundsätzlich 256 nicht verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen, um private – also in dieser Konstellation unerlaubte – E-Mails von einer Kontrolle auszunehmen. Denn der Ar___________ 253) Vgl. ArbG Weiden, Endurt. v. 17.5.2017 – 3 Ga 6/17, RDV 2017, 318 Rz. 19 (zu § 32 BDSG a. F.). 254) Vgl. ArbG Weiden, Endurteil v. 17.5.2017 – 3 Ga 6/17, RDV 2017, 318 Rz. 19 (zu § 32 BDSG a. F.). Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Wybitul, § 12 Rz. 12 ff. (zu § 32 BDSG a. F.). 255) Scheben/Geschonneck/Klos, ZHR 179 (2015), 240 (261); Sassenberg/Mantz, BB 2013, 889 (891). 256) Vgl. dazu Paal/Pauly/Gräber/Nolden, § 26 BDSG Rz. 26 ff. 257) Paal/Pauly/Gräber/Nolden, § 26 BDSG Rz. 49.

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beitgeber darf ein vertragsgerechtes Verhalten seines Mitarbeiters unterstellen und davon ausgehen, dass keine privaten Dateien vorhanden sind.258) Gleichwohl sollte versucht werden, durch Einbindung externer IT-Dienstleister oder mittels geeigneter Software im ersten Schritt durch das Setzen bestimmter Filter bei der E-Mail-Analyse, insbesondere durch Keywords, E-Mails mit privaten Inhalten – ohne Kenntnisnahme – aus dem Review-Portfolio auszusortieren.259) Dies dient nicht nur der effizienten Ressourcennutzung, sondern schont auch die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und dient damit dem datenschutzkonformen Ermittlungsansatz. 257 Darüber hinaus ist zu empfehlen, die Betroffenen frühestmöglich über die anstehende E-Mail-Auswertung zu informieren und ihnen ein Anwesenheitsrecht zu gewähren260), weil eine heimlich durchgeführte Datenauswertung die Eingriffsintensität erhöht261) und die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes für den Betroffenen erschwert. Soweit durch die Information des Betroffenen der Untersuchungserfolg nicht gefährdet wird, sollte eine größtmögliche Transparenz bei der Untersuchung geschaffen werden.262) 258 Stoßen die Ermittler trotz des Verbots der Privatnutzung des dienstlichen E-MailKontos auf private E-Mails, so ist zu differenzieren: Besteht gegen den Arbeitnehmer kein (konkreter, spezifischer) Verdacht, müssen die privaten E-Mails aussortiert werden; beim verdächtigen Arbeitnehmer ist eine Einsichtnahme und Verwertung gerechtfertigt, wenn die Interessen des Arbeitgebers überwiegen.263) 259 Im Einzelfall, insbesondere bei einer sehr umfangreichen E-Search und/oder bei Einsatz neuer Ermittlungs-Software, kann die Pflicht zu einer DatenschutzFolgenabschätzung (Art. 35 DS-GVO)264) durch das Unternehmen bestehen. Eine solche ordnet die DS-GVO grundsätzlich für alle Maßnahmen an, die ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen zur Folge haben. Wann das konkret der Fall ist, definiert die DS-GVO nicht. Ein Risiko ist jedenfalls dann als hoch einzustufen, wenn eine Prognose ergibt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schaden für die Rechte und Freiheiten natürlicher Per___________ 258) Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 35. 259) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Nolde, § 8 Rz. 18; Scheben/Geschonneck/Klos, ZHR 179 (2015), 240 (261). 260) Vgl. ArbG Weiden, Endurteil v. 17.5.2017 – 3 Ga 6/17, RDV 2017, 318 Rz. 20 (zu § 32 BDSG a. F.). 261) BAG, Beschl. v. 26.8.2008 – 1 ABR 16/07, ZIP 2008, 2283 (Rz. 21). 262) Scheben/Geschonneck/Klos, ZHR 179 (2015), 240 (261). 263) Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 36 f. 264) Unter dem Regime des BDSG aF lag die Durchführung der mit Art. 35 vergleichbaren Vorabkontrolle in der Zuständigkeit des Datenschutzbeauftragten (§ 4d Abs. 5 und 6 BDSG a. F.). Für die Datenschutz-Folgenabschätzung ist nunmehr als Normadressat der Verantwortliche selbst zuständig (Paal/Pauly/Martini, Art. 35 DS-GVO Rz. 58).

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sonen eintreten wird.265) Droht ein hoher Schaden, genügt eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit; bei hoher Wahrscheinlichkeit genügt bereits ein geringer zu erwartender Schaden.266) Ist ein Datenschutzbeauftragter benannt, so ist dessen Rat bei der Durchführung der Datenschutz-Folgenabschätzung einzuholen (Art. 35 Abs. 2 DS-GVO). Die Durchführung einer E-Search erfolgt in der Praxis regelmäßig mittels techni- 260 scher Einrichtungen, insbesondere unter Nutzung spezieller (Ermittlungs-)Software, so dass grundsätzlich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ausgelöst wird, sofern es um die Auswertung von EMail-Konten der Arbeitnehmer geht.267) Geht es hingegen ausschließlich um die Auswertung der E-Mail-Konten von Organmitgliedern i. S. v. § 5 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG und/oder der leitenden Angestellten i. S. v. § 5 Abs. 3 BetrVG, kommt ein Mitbestimmungsrecht nicht in Betracht, da diese Personengruppen nicht durch den Betriebsrat repräsentiert werden.268) Hier empfiehlt sich aus Sicht des Vorstands eine Betriebsvereinbarung (§ 26 Abs. 4 BDSG), die entsprechende Compliance-Kontrollen und Ermittlungsmaßnahmen sowie den Umgang mit personenbezogenen Daten präzise regelt, so dass bei tatsächlicher Durchführung der beschriebenen Maßnahmen kein (erneutes) Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats besteht.269) In jedem Fall besteht ein Informationsrecht des Betriebsrats gemäß § 80 Abs. 2 BetrVG (dazu Æ Rz. 244). bb)

Rechtslage bei erlaubter Privatnutzung

In der betrieblichen Praxis wird die private Nutzung des dienstlichen E-Mail- 261 Accounts und des Internets zumeist nicht explizit geregelt und vom Arbeitgeber stillschweigend geduldet. Die fortgesetzte Duldung über einen längeren Zeitraum führt zu einer „betrieblichen Übung“ und damit zu einer Erlaubnis der privaten Nutzung.270) (1)

Herrschende Rechtsauffassung: Anwendbarkeit des TKG

Ein Arbeitgeber, der die Privatnutzung des dienstlichen E-Mail-Kontos (aus- 262 drücklich oder durch „betriebliche Übung“) erlaubt, sieht sich der wohl noch ___________ 265) Paal/Pauly/Martini, Art. 35 DS-GVO Rz. 25. 266) Paal/Pauly/Martini, Art. 35 DS-GVO Rz. 25. 267) Vgl. Mengel, NZA 2017, 1494 (1497); Köhler/Häferer, GWR 2015, 159 (160); Wybitul/ Böhm, CCZ 2015, 133 (135); Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 395; Knierim/ Rübenstahl/Tsambikakis/Mengel, § 14 Rz. 62: Das Mitbestimmungsrecht besteht nicht, sofern die E-Search mittels einer im Unternehmen bereits vorhandenen und unter ordnungsgemäßer Beteiligung des Betriebsrats eingeführten Software durchgeführt wird. 268) Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar Rz. 15.41. 269) Wybitul/Böhm, CCZ 2015, 133 (135). 270) Brink/Schwab, ArbRAktuell 2018, 111 (113); Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Hausen, § 37 Rz. 200.

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herrschenden Rechtsauffassung ausgesetzt, er werde dadurch zum Telekommunikationsanbieter im Sinne des Telekommunikationsgesetzes271) (TKG).272) Die Auswertung von E-Mails ist in diesem Fall nach Maßgabe der Bestimmungen des TKG zu messen, die als lex specialis den Datenschutznormen des BDSG vorgehen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BDSG). Die Konsequenz ist, dass der Arbeitgeber auf das betriebliche E-Mail-Konto des Arbeitnehmers nicht zugreifen kann, und zwar auch nicht auf dienstliche E-Mails, weil dies als unzulässiger Eingriff in das Fernmeldegeheimnis nach § 88 Abs. 3 TKG absolut verboten ist. Im Ergebnis ist also jegliche Kenntnisnahme durch den Arbeitgeber unzulässig.273) Bei einem Verstoß setzt sich der Arbeitgeber sogar dem Risiko einer Strafbarkeit nach § 206 StGB aus.274) 263 Unter Zugrundelegung dieser Auffassung gibt es für Unternehmen zwei mögliche Auswege: 264 1) Es kann versucht werden, die Auswertung des E-Mail-Kontos auf Basis einer (am besten individuellen und schriftlichen) Einwilligung des betroffenen Arbeitnehmers durchzuführen. Dies wird zumindest teilweise mit der Begründung für zulässig erachtet, dass das TKG die Abdingbarkeit des Fernmeldegeheimnisses voraussetze.275) Allerdings wird hiergegen m. E. zu Recht einschränkend eingewendet, dass nicht ausreichend sei, wenn lediglich ein Beteiligter des Telekommunikationsvorgangs seine Einwilligung erklärt. Denn vom Fernmeldegeheimnis werden auch die Kommunikationsempfänger bzw. -absender privater Kommunikation geschützt und der Arbeitnehmer könne für diese Personen keine wirksame Einwilligung erteilen.276) Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung dieser Frage ist daher eine E-Search aus Sicht des Unternehmens auch bei Einwilligung des betroffenen Mitarbeiters noch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Die Einholung der Einwilligung bei externen Dritten wird in der Praxis allein aufgrund des Umfangs der regelmäßig auszuwertenden E-Mails kaum machbar sein. Zudem stellt eine Einwilligung bereits deshalb eine unsichere Rechtsgrundlage dar, weil sie jederzeit widerrufen werden kann. ___________ 271) = jemand, der ganz oder teilweise geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringt oder an der Erbringung solcher Dienste mitwirkt (§ 3 Nr. 6 TKG). 272) Brink/Schwab, ArbRAktuell 2018, 111 ff.; Kilian/Heussen/Polenz, Teil 13 Rz. 24; AuerReinsdorff/Conrad/Conrad/Hausen, § 37 Rz. 200. 273) Mengel, NZA 2017, 1494 (1496); Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Hausen, § 37 Rz. 200; vgl. dazu auch Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Nolde, § 8 Rz. 8. 274) Vgl. dazu Veit, NZWiSt 2015, 334 f. 275) Brink/Schwab, ArbRAktuell 2018, 111 (113); Mengel, NZA 2017, 1494 (1496); wohl auch Wybitul/Böhm, CCZ 2015, 133 (135). 276) Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Hausen, § 37 Rz. 202; vgl. auch Beck TKG/Bock, § 88 Rz. 4; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 12 Rz. 12; vgl. auch Hauschka/Moosmayer/ Lösler/Wessing, § 46 Rz. 143.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

2) Die bessere Möglichkeit besteht darin, private und dienstliche E-Mails zu- 265 verlässig durch technische und/oder organisatorische Maßnahmen zu trennen, etwa durch die Anordnung an die Mitarbeiter, sämtliche privaten E-Mails in einem separaten Postfach aufzubewahren. Dann richtet sich die Zulässigkeit des Zugriffs auf die Postfächer mit den dienstlichen E-Mails nach den gleichen Grundsätzen wie bei Verbot der Privatnutzung (Æ Rz. 247 ff.), da dienstliche E-Mail-Korrespondenz, die sich klar von privater Korrespondenz trennen lässt, nicht vom Fernmeldegeheimnis geschützt ist.277) (2)

Gegenmeinung: Keine Anwendbarkeit des TKG

Die im Vordringen befindliche vorzugswürdige Gegenauffassung278) vertritt dem- 266 gegenüber – gestützt auf jüngere Entscheidungen einiger Instanzgerichte279) – die Auffassung, dass der Arbeitgeber durch die Erlaubnis der Privatnutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts kein Anbieter von Telekommunikationsdiensten wird. Begründet wird dies einerseits damit, dass die Unternehmen – anders als die An- 267 bieter von Telekommunikationsdiensten (vgl. § 3 Nr. 24 TKG) – ihren Mitarbeitern die private Nutzung des Internets bzw. des dienstlichen E-Mail-Accounts in aller Regel unentgeltlich anbieten und eine Gleichstellung daher nicht gerechtfertigt sei. Zudem sei der Anwendungsbereich des TKG nicht mehr eröffnet, sobald eine 268 E-Mail im Postfach des Empfängers angekommen sei.280) Denn bei § 88 TKG handle es sich um eine einfachgesetzliche Ausprägung des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 GG. Das BVerfG grenzt den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 Abs. 1 GG jedoch in ständiger Rechtsprechung auf die Bewahrung des privaten, vor Eingriffen unbefugter Dritter unbehelligt ablaufenden Austauschs von Informationen während des Übertragungsvorgangs ___________ 277) Mengel, NZA 2017, 1494 (1496); Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Hausen, § 37 Rz. 203; Forgó/Helfrich/Schneider/Chr. Schröder, Kapitel 3 Rz. 38. 278) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Nolde, § 8 Rz. 6; Thüsing/Thüsing, § 3 Rz. 99; Fett/ Theusinger, KSzW 2016, 253 (258); Scheben/Geschonneck/Klos, ZHR 179 (2015), 240 (262); Krieger/Schneider/Goslar/Wilsing Rz. 15.43. 279) LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.1.2016 – 5 Sa 657/15, BeckRS 2016, 67048; LAG Hamm, Urt. v. 10.7.2012 – 14 Sa 1711/10, BeckRS 2012, 71605; LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.2.2011 – 4 Sa 2132/10, NZA-RR 2011, 342; LAG Niedersachsen, Urt. v. 31.5.2010 – 12 Sa 875/09, NZA-RR 2010, 406; vgl. auch VG Karlsruhe, Urt. v. 27.5.2013 – 2 K 3249/12, NVwZ-RR 2013, 797 (bestätigt durch VGH Mannheim, Urt. v. 30.7.2014 – 1 S 1352/13, NVwZ-RR 2015, 161, Rz. 78); VGH Kassel, Beschl. v. 19.5.2009 – 6 A 2672/08.Z, NJW 2009, 2470. 280) VG Karlsruhe, Urt. v. 27.5.2013 – 2 K 3249/12, NVwZ-RR 2013, 797 (bestätigt durch VGH Mannheim, Urt. v. 30.7.2014 – 1 S 1352/13, NVwZ-RR 2015, 161, Rz. 78); Fett/ Theusinger, KSzW 2016, 253 (258); Scheben/Geschonneck/Klos, ZHR 179 (2015), 240 (263).

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ein. Dieser Schutz ende in dem Moment, in dem eine E-Mail beim Empfänger angekommen und der Übertragungsvorgang beendet sei; ab diesem Moment könne der Empfänger eigene Schutzvorkehrungen gegen unbefugten Datenzugriff treffen.281) Nach zutreffender Auffassung spielt es hierbei keine Rolle, ob die E-Mails tatsächlich auf dem lokalen Rechner des Mitarbeiters heruntergeladen oder auf dem zentralen Server des Unternehmens belassen werden, denn entscheidend ist die in beiden Fällen bestehende Möglichkeit des Mitarbeiters, die E-Mail durch Löschung dem Zugriff Dritter zu entziehen.282) (3)

Fazit und Handlungsempfehlung

269 Der aus Sicht der Unternehmen rechtlich einfachste und sicherste Weg, die Anwendbarkeit der Bestimmungen des TKG und ihre – bei Zugrundelegung der h. M. (Æ Rz. 262) – unbefriedigenden Ergebnisse zu vermeiden, ist die uneingeschränkte Untersagung der privaten Nutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts. Dieser Weg dürfte in der Praxis freilich selten beschritten werden. Vielmehr dürfte die Erlaubnis der Privatnutzung – sei es ausdrücklich oder durch „betriebliche Übung“ (Æ Rz. 261) – den Regelfall darstellen. In diesem Fall sollte nach Möglichkeit die strikte Trennung privater und dienstlicher E-Mails in separaten Ordnern angeordnet werden, die nach überwiegender Auffassung einen Zugriff auf das Postfach mit den dienstlichen E-Mails erlaubt, ohne dass der Schutz des Fernmeldegeheimnisses greift (Æ Rz. 265). Existiert auch eine solche Anordnung nicht, muss sich der Vorstand im Ernstfall entscheiden, ob er 

entsprechend der Empfehlung der wohl noch h. M. (Æ Rz. 262) von einer (eigenen) Auswertung der E-Mails absieht und die Staatsanwaltschaft einschaltet, die auf Grundlage ihrer staatlichen Befugnisse ermittelt oder



der Gegenauffassung (Æ Rz. 266 f.) folgt und selbst die E-Search durchführt, hierbei aber Restrisiken eines Verstoßes gegen das Fernmeldegeheimnis und eine Strafbarkeit nach § 206 StGB nicht ausschließen kann.

270 In jedem Fall sollte – um jedenfalls die datenschutzrechtlichen Risiken zu minimieren – in einem zweistufigen Verfahren eine umfassende Betriebsvereinbarung unter Einhaltung der Vorgaben des § 26 Abs. 4 BDSG geschlossen sowie individuelle Einwilligungen der Mitarbeiter nach Maßgabe des § 26 Abs. 2 BDSG eingeholt werden. Auch sollte den betroffenen Mitarbeitern vor Durchführung der Maßnahme (schriftlich) angeboten werden, private E-Mails – ggf. unter Überwachung durch eine neutrale und vertrauenswürdige Person – auszusortieren und separat zu speichern sowie u. U. die Möglichkeit eingeräumt werden, bei der E-Mail-Review anwesend zu sein. ___________ 281) BVerfG, Urt. v. 02.03.2006 – 2 BvR 2099/04, NJW 2006, 976 Rz. 68 und 72 f. 282) Fett/Theusinger, KSzW 2016, 253 (257 f.); Krieger/Schneider/Goslar/Wilsing Rz. 15.44; wohl a. A. Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 143.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Hinsichtlich der Mitbestimmungs- und Informationsrechte des Betriebsrates 271 gelten auch bei Erlaubnis der Privatnutzung die Ausführungen unter Rz. 260 entsprechend. e)

Befragung von Mitarbeitern

Eine weitere typische Erkenntnisquelle im Rahmen interner Untersuchungen 272 ist die Befragung (auch Interview genannt) von Mitarbeitern. Sofern parallel zur internen Untersuchung bereits ein behördliches Ermittlungsverfahren im Gange ist, wird empfohlen, vor der Befragung von Mitarbeitern mit der Behörde abzustimmen, ob diese gegen die Befragung Einwände hat bzw. den Betroffenen zunächst selbst vernehmen möchte.283) Im Zusammenhang mit Mitarbeiterbefragungen stellen sich ansonsten eine Reihe rechtlicher Fragen, die nachgehend skizziert werden sollen. aa)

Teilnahmepflicht

Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer im Rahmen seines Weisungsrechts 273 nach § 106 GewO verpflichten, an einer Mitarbeiterbefragung im Rahmen interner Ermittlungen teilzunehmen, weil ein Mitarbeitergespräch zwecks Aufdeckung von Straftaten und Pflichtverletzungen die Arbeitsleistung, Ordnung und das Verhalten im Betrieb betrifft.284) Da Weisungen des Arbeitgebers keinem Formzwang unterliegen285), kann eine entsprechende Weisung auch mündlich erteilt werden. Die Ausübung des Weisungsrechts muss nach billigem Ermessen erfolgen, 274 d. h. es müssen die wesentlichen Umstände des Einzelfalls sowie die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt werden.286) Es muss mithin ein sachlicher Anlass für die Befragung des Mitarbeiters bestehen, die Ermittlungen müssen den Arbeitsbereich des Mitarbeiters betreffen und die Befragung darf keinen schikanösen Charakter haben oder außerhalb der Arbeitszeit liegen. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist eine Rechtsposition, die den Arbeitnehmer zur Nichtbefolgung der Weisung berechtigen würde, nicht ersichtlich. Vielmehr überwiegt das Interesse des Arbeitgebers an der Aufklärung des Sachverhalts.287) Eine entsprechende Weisung ist für den betroffenen Arbeitnehmer verbindlich ___________ 283) So Moosmayer, Rz. 351. 284) BAG, Urt. v. 23.6.2009 – 2 AZR 606/08, NJW 2009, 3115 (Rz. 17); Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2375); Kasiske, NZWiSt 2014, 262 (263); Kilian/Heussen/Imping, 70.12 Compliance – Überwachung – Investigation, Rz. 30; MünchAnwHdb. ArbR/DendorferDitges, § 35 Rz. 115; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 42. 285) BAG, Urt. v. 23.6.2009 – 2 AZR 606/08, NJW 2009, 3115 (Rz. 17); LAG Nürnberg, Urt. v. 1.9.2015 – 7 Sa 592/14, BeckRS 2016, 65276 (Rz. 43). 286) BAG, Urt. v. 9.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719 (Rz. 26); MünchKommBGB/ Würdinger, § 315 Rz. 68. 287) Schrader/Mahler, NZA-RR 2016, 57 (63); Rudkowski, NZA 2011, 612.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

und muss von ihm befolgt werden. Die Nichtbefolgung begründet die Möglichkeiten der Abmahnung und ggf. sogar fristlosen Kündigung seitens des Arbeitgebers.288) bb)

Aussagepflicht

275 Nach der Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitnehmer zwar nicht generell dem Arbeitgeber für Auskünfte zur Verfügung stehen, insbesondere wenn kein Zusammenhang mit der gegenseitigen Pflichtenbindung im Arbeitsverhältnis besteht und auch im Übrigen kein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers erkennbar ist.289) Den Arbeitnehmer trifft gleichwohl unter bestimmten Voraussetzungen eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht zur Auskunftserteilung im bestehenden Arbeitsverhältnis.290) 276 Voraussetzung ist, dass (1) der Arbeitgeber ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Auskunft hat, (2) dieses Interesse im Zusammenhang mit dem Aufgabenbereich bzw. der Erfüllung der vom Arbeitnehmer geschuldeten vertraglichen Leistung steht und (3) die Auskunftsverpflichtung keine übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellt, insbesondere der Bedeutung des Auskunftsinteresses entspricht.291) So ist der Arbeitnehmer verpflichtet, wahrheitsgemäß und vollständig Auskunft zu erteilen über Art und Umfang der eigenen Leistung sowie über Wahrnehmungen in seinem Arbeitsbereich, wozu auch die Offenbarung von Wahrnehmungen gehört, die er außerhalb seines regulären Arbeitsplatzes, aber noch „bei der Arbeit“ gemacht hat, etwa auf einer Dienstreise oder bei Geschäftsessen.292) 277 Schließlich muss der Mitarbeiter auch in seinem Arbeitsbereich wahrgenommenes Fehlverhalten von Kollegen offenlegen, insbesondere bei schweren Pflichtverletzungen und bei Wiederholungsgefahr.293) Vom Arbeitnehmer Auskunft über Fehlverhalten anderer zu fordern, bedeutet nach der Rechtspre___________ 288) BeckOK GewO/Hoffmann/Schulte, § 106 Rz. 113. 289) BAG, Urt. v. 7.9.1995 – 8 AZR 828/93, NZA 1996, 637 (640). 290) BAG, Urt. v. 7.9.1995 – 8 AZR 828/93, NZA 1996, 637 (638); Röß NZA 2021, 675 f.; Rudkowski, NZA 2011, 612 (613). 291) BAG, Urt. v. 7.9.1995 – 8 AZR 828/93, NZA 1996, 637 (638); MünchKommBGB/ Müller-Glöge, § 611 Rz. 1112; Teilweise (Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 45 f.; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar Rz. 15.51 f.; Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2375); Lützeler/Müller-Sartori, CCZ 2011, 19) wird vertreten, dass innerhalb des vertraglichen Aufgabenbereichs eine umfassende Auskunftspflicht analog §§ 675, 666 BGB bestehe und (nur) bei Fragen, die über den unmittelbaren Arbeitsbereich hinausgehen, die in Rz. 243 genannten drei Voraussetzungen erfüllt werden müssten. Dies ist m. E. der Rechtsprechung des BAG nicht zu entnehmen. Im Übrigen dürften die beiden Auffassungen nicht zu anderen Ergebnissen führen. 292) Rudkowski, NZA 2011, 612 (613). 293) Lützeler/Müller-Santori, CCZ 2011, 19; MünchAnwHdb. ArbR/Dendorfer-Ditges, § 35 Rz. 117; Kilian/Heussen/Imping, 70.12 Compliance – Überwachung – Investigation, Rz. 30.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

chung des BAG294) „nicht, daß dem Arbeitnehmer ungerechtfertigterweise eine Anschwärzung seiner Arbeitskollegen zugemutet würde. Vielmehr verlangt es die arbeitsvertragliche Treuepflicht, daß der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber Meldung erstattet, wenn in seinem Aufgabenbereich und durch eine Person, mit der er, der Arbeitnehmer, auf Grund des Arbeitsvertrages dienstlich zusammen zu arbeiten hat, Gefahren für den Arbeitgeber erkennbar werden.“ Arbeitnehmer in Führungspositionen, denen allgemein die Führung und Überwachung der ihnen untergeordneten Mitarbeiter übertragen worden ist, haben in besonderem Maße die Pflicht, dem Arbeitgeber schädigende Handlungen der Mitarbeiter oder Missstände in ihrem Verantwortungsbereich (unaufgefordert) anzuzeigen.295) Es herrscht daher im Grundsatz Einigkeit darüber, dass der Arbeitgeber die 278 Mitarbeiter anweisen kann, an internen Ermittlungen mitzuwirken und zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen, soweit die Ermittlungen den Arbeitsbereich des Arbeitnehmers betreffen.296) Die Auskunftspflicht besteht dabei nicht nur gegenüber dem Arbeitgeber selbst, sondern auch gegenüber Dritten, die von ihm mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt wurden, beispielsweise externe Rechtsanwälte, die im Auftrag des Unternehmens die interne Untersuchung durchführen.297) Die genaue Reichweite der hierbei bestehenden Auskunftspflicht bzw. etwaiger 279 Auskunftsverweigerungsrechte ist noch nicht abschließend geklärt298): Nach h. M. besteht eine Auskunftspflicht über Umstände aus dem eigenen Ar- 280 beitsbereich auch dann, wenn die Offenlegung arbeitsrechtliche Sanktionen nach sich ziehen, etwa kündigungsrechtlich verwertet werden kann.299) Das Strafverfahrensrecht enthält den Grundsatz, dass niemand verpflichtet ist, 281 sich selbst (oder einen Angehörigen) zu bezichtigen („nemo tenetur se ipse accusare“). Dieser verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit gilt für Zeugen wie für Beschuldigte (§§ 55, 136 Abs. 1 StPO). ___________ 294) BAG, Urt. v. 18.6.1970 – 1 AZR 520/69, NJW 1970, 1861. 295) BGH, Urt. v. 23.2.1989 – IX ZR 236/86, NJW-RR 1989, 614 (615); Rudkowski, NZA 2011, 612 (613); Mengel/Ullrich, NZA 2006, 240 (243); MünchAnwHdb. ArbR/DendorferDitges, § 35 Rz. 118; Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 45. 296) Mengel/Ullrich, NZA 2006, 240 (243); Göpfert/Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703 (1705); Vogt, NJOZ 2009, 4206 (4212); Kilian/Heussen/Imping, 70.12 Compliance – Überwachung – Investigation, Rz. 30. 297) Bittmann/Molkenbur wistra 2009, 373 (376); Kasiske, NZWiSt 2014, 262 (263). 298) Vgl. zur Einschränkung der Auskunftspflicht bei Selbstbelastung zuletzt: Röß, NZA 2021, 675 (676) f. 299) Vogt, NJOZ 2009, 4206 (4212); Kilian/Heussen/Imping, 70.12 Compliance – Überwachung – Investigation, Rz. 30; Göpfert/Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703 (1708): Fortbestehen der Mitwirkungspflicht trotz Kündigungsschutzprozess; a. A. Toma, Compliance-Berater 2017, 339 (340); Rudkowski, NZA 2011, 612 (613).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Es ist umstritten, inwieweit dieser Grundsatz bei Mitarbeiterbefragungen im Rahmen interner Untersuchungen Geltung beansprucht. 282 Nach einer Auffassung300) ist eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Auskunft unzumutbar, wenn sich der Mitarbeiter selbst (oder einen nahen Angehörigen)301) bezichtigen und mit den Folgen einer strafrechtlichen Ermittlung belasten müsste. Diese Auffassung überzeugt nicht. Zwar hat der IX. Zivilsenat des BGH in einem Urteil aus dem Jahr 1989302) entschieden, dass eine Pflicht zur Selbstbezichtigung unzumutbar sei und die Grenzen der Treuepflicht nach § 242 BGB überschreiten würde. Die Entscheidung betraf allerdings die Auskunftspflicht eines freien Mitarbeiters. Die Treuepflichten eines Arbeitnehmers sind erheblich weitergehender, so dass die Entscheidung nicht auf Arbeitnehmer übertragbar ist.303) 283 Die h. M.304) bejaht daher zu Recht eine Auskunftspflicht des Arbeitnehmers innerhalb des vertraglichen Aufgabenbereichs auch bei Gefahr der Selbstbezichtigung wegen einer strafbaren Handlung. Die Selbstbelastungsfreiheit gilt nur im Ermittlungs- und Strafverfahren. Wenn auf anderen Gebieten eine Aussagepflicht besteht und sich diese auch auf selbst begangene strafbare Handlungen bezieht, dann ist das verfassungsrechtlich unbedenklich.305) 284 Bei Zugrundelegung der Auffassung der h. M. befindet sich der auskunftspflichtige Arbeitnehmer freilich in einem Dilemma: Er ist im Rahmen der internen Untersuchung arbeitsrechtlich in vollem Umfang zur vollständigen und wahrheitsgemäßen Aussage und Aufklärung verpflichtet, ohne sich auf ein Auskunftsverweigerungsrecht wegen möglicher Selbstbelastung berufen zu können, welches ihm bei einer Befragung durch staatliche Ermittlungsbehörden zugestanden hätte. Brisant wird es, wenn das Interview-Protokoll in die Hände der ___________ 300) Toma, Compliance-Berater 2017, 339 (340); Fuhrmann, NZG 2016, 881 (888 f.); Rudkowski, NZA 2011, 612 (613); Wisskirchen/Glaser, DB 2011, 1447 (1448); vgl. auch BGH, Urt. v. 23.2.1989 – IX ZR 236/86, NJW-RR 1989, 614 (615): Die Entscheidung betraf allerdings die Auskunftspflicht eines freien Mitarbeiters. Die Treuepflichten eines Arbeitnehmers sind erheblich weitergehender, so dass die Entscheidung nicht übertragbar ist. 301) MünchAnwHdb. ArbR/Dendorfer-Ditges, § 35 Rz. 120; Kilian/Heussen/Imping, 70.12 Compliance – Überwachung – Investigation, Rz. 30. 302) BGH, Urt. v. 23.2.1989 – IX ZR 236/86, NJW-RR 1989, 614 (615). 303) So auch Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Mengel, § 14 Rz. 38. 304) BGH, Urt. v. 30.4.1964 – VII ZR 156/62, NJW 1964, 1469; LAG Hamm, Urt. v. 3.3.2009 – 14 Sa 1689/08, CCZ 2010, 237; LG Hamburg, Beschl. v 15.10.2010 – 608 Qs 18/10, NJW 2011, 942 (944); Greco/Caracas, NStZ 2015, 7 (9); Kasiske, NZWiSt 2014, 262 (263); Lützeler/Müller-Santori, CCZ 2011, 19 (20); Fritz/Nolden, CCZ 2010, 170 (175); Bittmann/Molkenbur, wistra 2009, 373 (376); Mengel/Ullrich, NZA 2006, 240 (243); Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 50; Wessing/Dann/Kienast, § 8 Rz. 16 f.; Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar Rz. 15.53. 305) BVerfG, Beschl. v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431: sog. „Gemeinschuldner“Beschluss.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Strafermittlungsbehörden fällt. Zur Lösung dieses Dilemmas und zum Schutz des aussagepflichtigen Arbeitnehmers wird teilweise vorgeschlagen, das Beweisverwendungsverbot des § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO analog306) oder jedenfalls das Beweisverwertungsverbot des § 136a StPO analog307) anzuwenden. Beide Ansätze erscheinen zwar im Ergebnis nicht sachwidrig,308) insbesondere in der nicht untypischen Konstellation, in der die Strafverfolgungsbehörden den Anstoß zur Durchführung einer internen Untersuchung geben oder eine solche sogar einfordern.309) Gleichwohl ist festzuhalten, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte in der Praxis regelmäßig die Auffassung vertreten, dass Erkenntnisse aus den internen Befragungen von Mitarbeitern trotz der arbeitsrechtlichen Auskunftspflicht verwertbar sind.310) Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung der Frage sollte daher von einer Verwertbarkeit auszugehen sein. cc)

Belehrung

Zwar kann man im Rahmen interner Untersuchungen wie bei Vernehmungen 285 durch staatliche Ermittlungsbehörden (Beschuldigten- und Zeugenvernehmung)311) zwischen „konfrontativen“ Interviews mit Verdächtigen und „nicht konfrontativen“ Interviews mit Zeugen unterscheiden.312) Gleichwohl handelt es sich bei Mitarbeiterinterviews nicht um eine strafprozessuale Vernehmung. Es besteht daher – anders als bei der Vernehmung durch Polizeibeamte313) oder der Staatsanwaltschaft314) (vgl. §§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 4 StPO) – keine Rechtspflicht zur Belehrung315), mithin zur vollständigen Unterrichtung über den bislang ermittelten Sachverhalt, den Tatvorwurf und die Verdachtsgründe, die Strafvorschriften, unter denen die Tat beurteilt wird, die Aussagefreiheit316) sowie über das Recht, einen Rechtsanwalt zu konsultieren. Vielmehr ist der Arbeit___________ 306) Kottek, wistra 2017, 9 (12); Wessing/Dann/Kienast, § 8 Rz. 18. 307) Vgl. hierzu instruktiv: Kasiske, NZWiSt 2014, 262 (265 f.); verneinend: LG Hamburg, Beschl. v. 15.10.2010 – 608 Qs 18/10, NJW 2011, 942. 308) So auch Klose, NZWiSt 2018, 11 (18). 309) Vgl. mit beachtlichen Argumenten: Greco/Caracas, NStZ 2015, 7 (9 ff.). 310) Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (100); Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2379). 311) Vgl. BeckOK StPO/von Häfen, § 163a Rz. 8. 312) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Johannsen/Kappel, § 7 Rz. 71. 313) Vgl. dazu MünchKommStPO/Kölbel, § 163a Rz. 38. 314) Vgl. dazu MünchKommStPO/Schuhr, § 136 Rz. 21 f. 315) Kottek, wistra 2017, 9 (10); Rudkowski, NZA 2011, 612 (613); Schrader/Mahler, NZA-RR 2016, 57 (62); MünchHdb. ArbR I/Dendorfer-Ditges, § 35 Rz. 121; Knierim/Rübenstahl/ Tsambikakis/Knierim/Tsambikakis/Krug, § 7 Rz. 37. 316) Soweit ein Schweigerecht des Mitarbeiters im Rahmen interner Untersuchungen vertreten wird (so etwa Rudkowski, NZA 2011, 612 f.), besteht keine korrespondierende Belehrungspflicht.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

geber bei der Ausgestaltung der Mitarbeiterbefragung formal als auch inhaltlich grundsätzlich frei. 286 Gleichwohl empfiehlt die Bundesrechtsanwaltskammer317) zur Gewährleistung tragfähiger und belastbarer Ergebnisse zu Recht, unternehmensinterne Ermittlungen ein Stück weit an den Standards eines staatlichen Verfahrens auszurichten, wobei allerdings der Anschein einer „amtlichen“ Vernehmung zu vermeiden ist. Nach den Empfehlungen der BRAK sollte der Mitarbeiter insbesondere darüber belehrt werden, dass 

er einen eigenen Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens konsultieren kann (zum Rechtsbeistand Æ Rz. 287),



er die Niederschrift (sog. Interview-Protokoll) oder Tonband- bzw. Videoaufzeichnung über die Befragung zwecks Einsichtnahme und Bestätigung erhält,



das Interview-Protokoll ggf. an Behörden weitergegeben und dort zu seinem Nachteil verwertet werden kann, und



das Unternehmen selbst (auch bei Bestehen eines Amnestieprogramm, Æ Rz. 289 ff.) keine strafrechtliche Amnestie gewähren kann.

dd)

Rechtsbeistand

287 Das Recht auf Anwaltskonsultation steht Arbeitnehmern nach der Rechtsprechung des BAG318) jedenfalls bei Anhörung vor Ausspruch einer sog. Verdachtskündigung zu. Im Übrigen besteht – sofern ein solcher nicht in der Betriebsvereinbarung statuiert ist – grundsätzlich kein Anspruch des im Rahmen interner Untersuchungen befragten Mitarbeiters auf Hinzuziehung eines Rechtsbeistands.319) Nach den Empfehlungen der BRAK320) (Æ Rz. 286) gehört es hingegen zu den Standards einer internen Untersuchung, dass dem Befragten das Recht eingeräumt wird, einen eigenen Anwalt hinzuzuziehen, dass er hierüber belehrt wird und die Kosten übernommen werden. 288 Aus Sicht des Unternehmens lassen sich Argumente sowohl für als auch gegen die Teilnahme eines Rechtsbeistands bei der Befragung des Mitarbeiters anführen: Einerseits besteht die Gefahr, dass die Hinzuziehung von Rechtsbeiständen das Verfahren unnötig aufbläht, länger und teurer macht. Andererseits kann sich die Anwesenheit eines Rechtsbeistands positiv auf die Auskunftsbereit___________ 317) BRAK-Stellungnahme Nr. 35/2010, S. 10 f. 318) BAG, Urt. v. 24.5.2012 – 2 AZR 206/11, NZA 2013, 137, Rz. 36; BAG, Urt. v. 13.3 2008 – 2 AZR 961/06, NZA 2008, 809. 319) Spehl, CCZ 2017, 204; Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2376); Klengel/Mückenberger, CCZ 2009, 81 (82); Schürrle/Olbers, CCZ 2010, 178 (179); Göpfert/Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703 (1708). 320) BRAK-Stellungnahme Nr. 35/2010, S. 10 f.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

schaft des Betroffenen auswirken, wenn und weil er sich in der Interviewsituation dadurch sicherer fühlt.321) Es ist letztlich eine Frage der Abwägung der Umstände des Einzelfalls, ob dem Arbeitnehmer die Inanspruchnahme eines Rechtsbeistands vorgeschlagen wird. Wird ein Rechtsbeistand hinzugezogen, wird das Mandatsverhältnis ausschließlich zwischen dem jeweiligen Mitarbeiter und der Rechtsanwaltskanzlei begründet. Die Inhalte der Rechtsberatung sind – insbesondere auch gegenüber dem Arbeitgeber – vertraulich.322) ee)

Amnestieprogramme

Häufig stellen bei Verdachtsfällen Zeugen die einzige Möglichkeit dar, tatsäch- 289 liche Erkenntnisse über relevante Umstände, z. B. wettbewerbswidrige Absprachen oder Bestechungshandlungen, zu erlangen. Der Erfolg der internen Untersuchung hängt dann maßgeblich von der Kooperationsbereitschaft der Wissensträger im Unternehmen ab. Trotz der bestehenden Aussagepflicht (Æ Rz. 275 f.) ist die Aussagebereitschaft (gerade der involvierten) Mitarbeiter häufig nicht sonderlich ausgeprägt. Die Gründe liegen auf der Hand. Betroffene Mitarbeiter schweigen aus Angst vor arbeits- und/oder strafrechtlichen Konsequenzen oder sie können jedenfalls die Sach- und Rechtslage nicht verlässlich einschätzen und sind daher verunsichert, ob auch sie ein Vorwurf treffen könne. Trifft das Unternehmen auf eine Mauer des Schweigens, ist es hiergegen praktisch machtlos, weil sich der Kenntnisstand des Mitarbeiters vom relevanten Sachverhalt kaum jemals verlässlich nachweisen lässt.323) In derartigen Fällen kann das Aufsetzen eines sog. Amnestieprogramms für betroffene Mitarbeiter die Kooperationsbereitschaft fördern und damit wesentlich zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen. Hierüber entscheidet der Vorstand, der Aufsichtsrat nur, soweit es um eine Amnestie für Vorstandsmitglieder geht324) (aber Æ Rz. 296). Inhalt eines Amnestieprogramms ist regelmäßig die Zusage des Unternehmens, 290 von arbeitsrechtlichen Sanktionen, der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen oder der Erstattung von Strafanzeigen abzusehen, Vertraulichkeitsvereinbarungen abzuschließen bzw. etwaige Erkenntnisse nicht an Strafverfolgungsbehörden weiterzugeben und/oder etwaige Rechtsverteidigungskosten und/oder Geldstrafen zu übernehmen. Bei derartigen Zusagen bewegen sich Unternehmen rechtlich auf einem schmalen 291 Grat. Jedenfalls der pauschale Verzicht auf bestehende und durchsetzbare Scha-

___________ 321) 322) 323) 324)

Herrmann/Zeidler, NZA 2017, 1499 (1501). Herrmann/Zeidler, NZA 2017, 1499 (1503). Breßler/Kuhnke/Schulz/Stein, NZG 2009, 721 (722 f.). Fuhrmann, NZG 2016, 881 (889).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

densersatzansprüche325) oder die pauschale Übernahme von Geldstrafen326) dürfte eine ermessensfehlerhafte Maßnahme des Vorstands und im Einzelfall möglicherweise sogar eine Untreuehandlung darstellen. Gegenüber Organmitgliedern der AG setzt die Übernahme einer Geldstrafe die Zustimmung der Hauptversammlung voraus327) und der Verzicht auf Ersatzansprüche kommt nur unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG in Betracht (ausführlich dazu Æ § 2 Rz. 117 ff.). 292 Nach alldem sollten im Zusammenhang mit Amnestieprogrammen folgende Grundsätze beachtet werden: 293 

Amnestieprogramme sollten nicht inflationär, sondern nur in begründeten Einzelfällen eingesetzt werden, wenn dies aus ermittlungstaktischen Gründen sinnvoll erscheint, insbesondere weil andere Versuche der Sachverhaltsaufklärung erfolglos waren, der Untersuchungserfolg mithin ohne die Amnestie ernsthaft gefährdet ist und wenn der Adressat der Amnestie voraussichtlich einen echten Mehrwert für die interne Untersuchung leisten und diese damit entscheidend fördern kann.

294 

Zusagen sollten niemals ohne weitere Voraussetzungen gemacht werden (Generalamnestie), vielmehr sollten sie stets davon abhängig gemacht werden, dass der Adressat an der Untersuchung teilnimmt und nach bestem Wissen wahrheitsgemäß und umfassend Auskunft über den Untersuchungsgegenstand erteilt (Spezialamnestie).328)

295 

Die beabsichtigten Zusagen sind durch entsprechend qualifizierte Spezialisten sorgfältig daraufhin zu prüfen, ob sie vom Unternehmen in rechtlich zulässiger Weise eingehalten werden können.

296 

Eine Amnestierung von Vorstandsmitgliedern und von leitenden Mitarbeitern mit wesentlicher Kontrollfunktion im Unternehmen sollte – wenn überhaupt – nur in krassen Ausnahmefällen erfolgen. Es kann je nach Einzelfall schon mit Blick auf den Vorbildcharakter und die Bedeutung dieses Personenkreises für die Compliance im Unternehmen schwer vorstellbar sein, sie auf ihren Funktionen im Unternehmen zu belassen.329)

297 

Der Vorstand sollte seine (nachvollziehbaren) Erwägungen für das Aufsetzen des Amnestieprogramms im konkreten Fall schriftlich dokumentieren, um eine ordnungsgemäße Ausübung seines insofern bestehenden Ermessensspielraums (Æ Rz. 204 und 231 f.) belegen zu können.

___________ 325) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 17; MünchAnwHdb. WirtschaftsstrafR/Kempf/Schilling, § 10 Rz. 83; Momsen/Grützner/Grützner, Kapitel 4 Rz. 407. 326) Kahlenberg/Schwinn, CCZ 2012, 81 (85); Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 58. 327) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, ZIP 2014, 1728. 328) Vgl. Breßler/Kuhnke/Schulz/Stein, NZG 2009, 721 (722). 329) Moosmayer, Rz. 335.

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Das Amnestieprogramm sollte klar und unmissverständlich formuliert, 298 ebenfalls schriftlich fixiert und dem Mitarbeiter ausgehändigt werden.330)

ff)

Beteiligung des Betriebsrats

Sofern sich die Mitarbeiterbefragung nicht ausschließlich auf Organe der Ge- 299 sellschaft und/oder leitende Angestellte beschränkt, die keine Arbeitnehmer im Sinne des BetrVG sind331), muss der Betriebsrat vor Durchführung der Befragung gemäß § 80 Abs. 2 BetrVG unterrichtet werden, vorausgesetzt, die Befragung weist einen sog. kollektiven Bezug auf. Werden nur einzelne Mitarbeiter gezielt angesprochen und die Mitarbeitergespräche völlig „individuell“ organisiert und durchgeführt (also ohne jegliche Strukturvorgaben), ist mangels eines kollektiven Bezugs eine Unterrichtung nicht erforderlich und auch Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats (Æ Rz. 300 f.) scheiden aus.332) Betrifft die Befragung zumindest potentiell jeden oder jedenfalls eine Vielzahl von Arbeitnehmern und werden die Mitarbeitergespräche „strukturiert“ organisiert und durchgeführt, indem beispielsweise ähnliche Fragen schematisch an einen größeren Adressatenkreis gestellt werden, ist ein kollektiver Bezug gegeben.333) Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG 300 kommt regelmäßig nicht in Betracht, wenn sich die Befragung auf Sachverhalte bezieht, die das sog. Arbeitsverhalten des Arbeitnehmers oder in sonstiger Weise lediglich das Verhältnis des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber betreffen, nicht aber das Ordnungsverhalten des Mitarbeiters betroffen ist.334) Allerdings kommt ein Mitbestimmungsrecht aus § 94 BetrVG in Betracht, wenn 301 die im Rahmen des Interviews gestellten Fragen einem Personalfragebogen im Sinne der genannten Vorschrift entsprechen,335) d. h. den Betroffenen formularmäßige Zusammenfassungen von Fragen vorgelegt werden, die gewisse personenbezogene Daten betreffen.336) ___________ 330) 331) 332) 333)

MünchAnwHdb. WirtschaftsstrafR/Kempf/Schilling, § 10 Rz. 84. Vgl. § 5 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 BetrVG. Kort, NZA 2015, 520; Umnuß/Lohmeier/Shahhosseini, Kapitel 7 Rz. 46. Köhler/Häferer, GWR 2015, 159 (160); Kort, NZA 2015, 520; Umnuß/Lohmeier/ Shahhosseini, Kapitel 7 Rz. 46. 334) Rudkowski, NZA 2011, 612 (615); Hauschka/Moosmayer/Lösler/Wessing, § 46 Rz. 65; Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rz. 180; a. A. Breßler/Kuhnke/Schulz/Stein, NZG 2009, 721 (725): Danach steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG im Hinblick auf das Verfahren der Mitarbeiterbefragung zu; Momsen/ Grützner/Momsen, Kapitel 4 Rz. 406 hält die Einholung der Zustimmung des Betriebsrats – unabhängig von der Frage eines Mitbestimmungsrechts – jedenfalls bei der konkreten Ausgestaltung eines Amnestieprogramms (Æ Rz. 289 ff.) für sinnvoll. 335) Köhler/Häferer, GWR 2015, 159 (160); Schürrle/Olbers, CCZ 2010, 178; Breßler/Kuhnke/ Schulz/Stein, NZG 2009, 721 (725). 336) Richardi/Thüsing, § 94 BetrVG Rz. 6; BeckOK ArbR/Mauer, § 94 Rz. 1.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

302 Aus dem Erfordernis eines kollektiven Bezugs für das Eingreifen von Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten und damit für das Bestehen möglicher Informationsrechte des Betriebsrats folgt, dass der Betriebsrat im Grundsatz keine Mitbestimmungsrechte und damit auch keine Informationsrechte in Bezug auf den Inhalt einzelner Mitarbeitergespräche hat.337) 303 Nicht selten verlangen Mitarbeiter die Hinzuziehung eines Betriebsratsmitglieds zu ihrer Befragung. Hierauf besteht kein Anspruch.338) Zwar statuiert § 82 Abs. 2 Satz 2 BetrVG ein Recht des Arbeitnehmers auf Hinzuziehung eines Mitglieds des Betriebsrats. Dieses Recht ist jedoch begrenzt auf Gespräche über die in § 82 Abs. 2 Satz 1 BetrVG genannten Gegenstände,339) nämlich das Erörterungsrecht des Arbeitnehmers über sein Arbeitsentgelt, seine Leistungsbeurteilung und die berufliche Entwicklungsmöglichkeit. Mitarbeiterinterviews im Rahmen interner Untersuchungen betreffen diese Gegenstände nicht. 5.

Beschlagnahme von Erkenntnissen aus internen Untersuchungen

304 Dass Ermittlungsbehörden ein starkes Interesse an den Erkenntnissen aus internen Untersuchungen haben, liegt auf der Hand. Gleichwohl ist die enorm praxisrelevante Frage, ob und inwieweit diese Erkenntnisse (z. B. die Protokolle aus Mitarbeiterbefragungen oder der Abschlussbericht), die sich im Gewahrsam des Unternehmens oder der mandatierten Rechtsanwaltskanzlei befinden, beschlagnahmt werden können, noch nicht abschließend geklärt. Der derzeitige Stand in Rechtsprechung und Literatur hierzu soll nachstehend skizziert werden340) (dazu auch Æ § 25 Rz. 31 ff.): 305 Nach § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO ist eine „Ermittlungsmaßnahme“, die sich gegen Verteidiger des Beschuldigten (§ 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO) oder gegen Rechtsanwälte richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die der Verteidiger/Rechtsanwalt das Zeugnis verweigern dürfte, generell unzulässig (absolutes Beweiserhebungsverbot).341) Das Erhebungsverbot des § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO bezieht sich auf sämtliche (offenen oder verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, die auf die Erforschung des Sachverhalts gerichtet sind.342) Nach h. M. folgt aus § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO gleichwohl kein umfassendes Be___________ Kort, NZA 2015, 520 (521 f.); Rudkowski, NZA 2011, 612 (614). Toma, Compliance-Berater 2017, 339 (340). Richardi/Thüsing, § 82 BetrVG Rz. 16. Vgl. zum Beschlagnahmeverbot auch: MünchHdB GesR VII/Ghassemi-Tabar/Wenzl, § 107 Rz. 123 ff. 341) BeckOK StPO/Sackreuther, § 160a Rz. 4. 342) MünchKommStPO/Kölbel, § 160a Rz. 10; BeckOK StPO/Sackreuther, § 160a Rz. 5; KKStPO/Griesbaum, § 160a Rz. 4: Weiterhin zulässig bleiben Ermittlungshandlungen, die sich gegen andere Personen als den Berufsgeheimnisträger richten, z. B. gegen den Beschuldigten selbst oder einen Dritten.

337) 338) 339) 340)

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

schlagnahmeverbot für sämtliche Erkenntnisse aus internen Untersuchungen.343) Denn § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO, der als speziell normiertes Erhebungsverbot im Bereich der Beschlagnahme der allgemeinen Regel in § 160a StPO vorgeht, schützt nur das Vertrauensverhältnis zu dem jeweiligen Beschuldigten. Wie vom BVerfG mit Beschluss vom 27.6.2018344) bestätigt, unterfallen auch Unternehmen grundsätzlich dem Schutz des § 97 StPO, soweit sie sich in einer „beschuldigtenähnlichen“ Stellung befinden. Im Übrigen hat der Beschluss des BVerfG nichts zur Klärung der Rechtslage für die Praxis beigetragen.345) Nach wie vor ist nicht abschließend geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen 306 sich eine juristische Person in einer beschuldigtenähnlichen Verfahrensstellung befindet.346) Unstreitig ist, dass bei einem gegen das Unternehmen bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahren – namentlich wegen des Bußgeldtatbestands nach § 30 OWiG – eine „beschuldigtenähnliche“ Stellung und damit ein Beschlagnahmeschutz für alle Beweismittel besteht, die nach der Einleitung zum Zwecke der Verteidigung erhoben worden sind. Derartige Dokumente unterliegen als Verteidigungsunterlagen i. S. v. §§ 97, 148 StPO347) einem Beschlagnahmeverbot.348) Unerheblich ist, wer die Unterlagen erstellt hat; das Beschlagnahmeverbot gilt mithin auch für Unterlagen, die Unternehmensmitarbeiter zum Zwecke der Verteidigung erstellt haben.349) Auch auf die Gewahrsamsverhältnisse kommt es nicht an. Verteidigungsunterlagen sind nach allgemeiner ___________ 343) LG Hamburg, Beschl. v. 15.10.2010 – 608 Qs 18/10, NJW 2011, 942 m. Anm. von Galen; vgl. auch LG Bonn, Beschl. v. 21.6.2012 – 27 Qs 2/12, NZWiSt 2013, 21 m. Anm. Jahn/ Kirsch; LG Bochum, Beschl. v. 16.3.2016 – v6 Qs 1/16, NZWiSt 2016, 401; Meyer-Goßner/ Schmitt/Schmitt, § 97 Rz. 10b; BeckOK StPO/Sackreuther, § 160a Rz. 7; MünchKommStPO/ Hauschild, § 97 Rz. 64; a. A. LG Mannheim, Beschl. v. 3.7.2012 – 24 Qs 1 und 2/12, NZWiSt 2012, 424 m. Anm. Schuster, wobei auch das LG Mannheim wegen § 97 Abs. 2 Satz 1 StPO zu dem Ergebnis kommt, dass die Beschlagnahme von Unterlagen einer internen Untersuchung jedenfalls in den Geschäftsräumen des Unternehmens zulässig ist. Lediglich für Unterlagen im Gewahrsam der mandatierten Rechtsanwälte gilt danach ein Beschlagnahmeverbot; Frank/Vogel, NStZ 2017, 313 ff. 344) BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, NJW 2018, 2385 und NJW 2018, 2392; vgl. dazu Momsen, NJW 2018, 2362: „Weder hat das BVerfG Grenzen aufgezeigt noch hat es Richtungen vorgegeben. Im Prinzip kann alles so weitergehen wie bisher.“ 345) Vgl. auch Momsen, NJW 2018, 2362: „Weder hat das BVerfG Grenzen aufgezeigt noch hat es Richtungen vorgegeben. Im Prinzip kann alles so weitergehen wie bisher; die disparate Rechtslage bleibt einstweilen wie sie ist.“ 346) Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, BeckRS 2018, 14189. 347) Durch § 148 Abs. 1 StPO wird der Schutzbereich des § 97 StPO erweitert; alle Schriftstücke, die von Abs. 1 umfasst sind, unterfallen auch dem Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO (MünchKommStPO/Thomas/Kämpfer, § 148 Rz. 19). 348) LG Braunschweig Beschl. v. 21.7.2015 – 6 Qs 116/15, wistra 2016, 40; Klengel/Buchert, NStZ 2016, 383. 349) LG Braunschweig Beschl. v. 21.7.2015 – 6 Qs 116/15, wistra 2016, 40 (42); Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (101); Böttger/Minoggio, Kapitel 18 Rz. 55.

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Auffassung – über den Wortlaut des § 97 Abs. 2 Satz 1 StPO hinaus – auch dann geschützt, wenn sie sich im Gewahrsam des „beschuldigten“ Unternehmens befinden.350) Voraussetzung für einen Schutz der Unterlagen im Gewahrsam des Unternehmens ist aber, dass für einen Außenstehenden klar erkennbar ist, ob die Aufzeichnungen für den Verteidiger bestimmt sind oder nur dem persönlichen Gebrauch des „Beschuldigten“ dienen.351) Sämtliche Unterlagen, die das Unternehmen als beschlagnahmefreie „Verteidigungsunterlagen“ einstuft, sollten daher als solche gekennzeichnet und separiert werden, um den Beschlagnahmeschutz abzusichern.352) Es versteht sich von selbst, dass diese Privilegierung von Verteidigungsunterlagen als vor staatlichem Zugriff geschützt nicht dazu missbraucht werden darf, Verdunkelungshandlungen zu begehen.353) 307 Umstritten sind die Fälle, in denen noch kein Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen eingeleitet worden ist. Teilweise wird vertreten, dass der Beschlagnahmeschutz für Verteidigungsunterlagen des Unternehmens erst mit der formellen Einleitung des Bußgeldverfahrens eingreift.354) Nach der hier vertretenen Auffassung sind im Sinne eines materiellen Verteidigungsverhältnisses verteidigungsbezogene Unterlagen auch dann geschützt, wenn ein Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen das Unternehmen zwar noch nicht eingeleitet ist (oder das Unternehmen formal noch nicht die Stellung als Nebenbeteiligte erhalten hat), aber zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und damit eine Sanktionierung der juristischen Person gemäß § 30 OWiG in Betracht kommt.355) 308 Schließlich sind hinsichtlich des Beschlagnahmeschutzes folgende Einschränkungen zu beachten: Wird eine Rechtsanwaltskanzlei mit der Durchführung einer internen Untersuchung beauftragt, erstreckt sich das Mandatsverhältnis mit der juristischen Person nicht auch auf deren (beschuldigte) Organe oder ___________ 350) Æ § 25 Rz. 37a; Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (101); BeckOK StPO/Sackreuther, § 160a Rz. 7; Minoggio/Minoggio, § 6 Rz. 162; Böttger/ Minoggio, Kapitel 18 Rz. 53. 351) BGH, Urt. v. 25.2.1998 – 3 StR 490/97, NJW 1998, 1963. 352) Vgl. Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (101); Anmerkung von Jahn/Kirsch zu LG Braunschweig, Beschl. v. 21.7.2015 – 6 Qs 116/15, NZWiSt 2016, 39 f.; Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2379). 353) Böttger/Minoggio, Kapitel 18 Rz. 56. 354) LG Bonn, Beschl. v. 21.6.2012 – 27 Qs 2/12, NZWiSt 2013, 21; Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt, § 148 Rz. 3 m. w. N. 355) Wimmer, NZWiSt 2017, 252 (254); ähnlich: LG Braunschweig, Beschl. v. 21.7.2015 – 6 Qs 116/15, NZWiSt 2016, 37 mit zust. Anm. Jahn/Kirsch, NZWiSt 2016, 39; LG Gießen, Beschl. v. 25.6.2012 – 7 Qs 100/12, wistra 2012, 409; Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2379); van Wijngaarden/Egler, NJW 2013, 3549 (3553); Klengel/Buchert, NStZ 2016, 383; vgl. hierzu auch: BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, Rz. 3 f.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

Mitarbeiter.356) Zwischen dem befragenden Rechtsanwalt und den im Rahmen der internen Untersuchungen befragten Mitarbeitern besteht mithin keine schützenswerte Vertrauensbeziehung i. S. d. § 97 Abs. 1 StPO, so dass hinsichtlich der Protokolle über Mitarbeiterbefragungen, auch wenn sie sich im Gewahrsam der mandatierten Rechtsanwaltskanzlei befinden, kein Beschlagnahmeverbot besteht.357) Ähnliche Einschränkungen gelten auch im Verhältnis von Konzerngesellschaften zur Muttergesellschaft. Tochtergesellschaften genießen nicht automatisch den Beschlagnahmeschutz des § 97 StPO, wenn eine Kanzlei von der Muttergesellschaft mit der Durchführung einer internen Untersuchung mandatiert wurde.358) 6.

Abstellen aufgedeckter Rechtsverstöße

Werden im Rahmen der internen Untersuchung Gesetzesverletzungen oder 309 Verstöße gegen unternehmensinterne Regularien (Æ Rz. 177 ff.) aufgedeckt, muss der Vorstand geeignete Maßnahmen (einschließlich erforderlicher Sofortmaßnahmen) ergreifen, um die Verstöße dauerhaft zu unterbinden und die Rechtmäßigkeit wiederherzustellen.359) Unter mehreren, im konkreten Fall aus ex-ante Perspektive gleichermaßen zur Beseitigung eines Verstoßes geeigneten Mitteln darf der Vorstand nach pflichtgemäßem Ermessen auswählen.360) Eine Anzeigepflicht gegenüber Behörden besteht bei Aufdeckung von Straftaten 310 zwar grundsätzlich nicht (vgl. § 138 StGB). Jedoch können im Einzelfall Publizitäts- und Meldepflichten bestehen, die zu erfüllen sind (z. B. nach § 43 GWG, Art. 17 MAR, § 23 WpHG). Dies sollte durch entsprechend qualifizierte interne oder externe Berater stets (mit-)geprüft werden. Schließlich sind bei der Aufdeckung von Straftaten in Unternehmen häufig 311 steuerrechtliche Implikationen gegeben. So ist beispielsweise im Falle einer Untreue (§ 266 StGB) oder bei Korruptionsdelikten regelmäßig eine Steuerhinterziehung (dazu Æ § 21 Rz. 323 ff.) als typisches Begleitdelikt mitverwirklicht. Auch führt etwa die Abrechnung privater Kosten über das Unternehmen regelmäßig zur Unrichtigkeit der Körperschaft- und Gewerbesteuererklärung.361) Steuererklärungen, die in der Vergangenheit im Inland eingereicht ___________ 356) 357) 358) 359)

BVerfG, Beschl. v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, Rz. 103. Æ § 25 Rz. 31; MünchKommStPO/Hauschild, § 97 Rz. 64 m. w. N. BVerfG, Beschl. v. 27.06.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, Rz. 104. LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); Habersack, AG 2014, 1 (5); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 58; Fleischer, NZG 2014, 321 (324); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320). 360) Æ § 1 Rz. 295 f.; Großkomm-AktG/Hopt/Roth, § 93 Rz. 187; Reichert, in: Festschrift Hoffmann-Becking, S. 943 (948 f., 960 f.); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2177 f.). Vgl. auch Fleischer, NZG 2014, 321 (324); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320) zur Ahndung von Rechtsverstößen. 361) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Mosbacher, § 5 Rz. 11.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

worden sind, und deren Unrichtigkeit sich im Laufe der internen Untersuchung herausgestellt hat, sind in der Regel nach § 153 AO durch unverzügliche Anzeige und Richtigstellung gegenüber dem Finanzamt zu berichtigen, sofern die Festsetzungsfrist nicht abgelaufen oder ausnahmsweise keine Steuerverkürzung eingetreten ist und auch nicht eintreten kann (ausführlich zur Berichtigung von Erklärungen nach § 153 AO Æ § 14 Rz. 122 ff.). Bei sämtlichen zukünftig gegenüber der Finanzverwaltung abzugebenden Steuererklärungen ist darauf zu achten, dass diese nicht unvollständig oder unrichtig sind. Soweit Tatsachen im Rahmen der Untersuchung bereits aufgearbeitet worden sind, sind diese Informationen den jeweils abzugebenden Erklärungen zu Grunde zu legen. Soweit noch keine konkrete Aufarbeitung erfolgt ist, ist durch geeignete Mittel die Wahrung der Vollständigkeit und Richtigkeit zu gewährleisten. Dies kann beispielsweise durch einen entsprechenden Hinweis auf das laufende Projekt in einem Begleitschreiben zur Steuererklärung erfolgen. 7.

Angemessene Sanktionierung von Mitarbeitern

312 Sanktionen sind ein wichtiger Bestandteil eines wirksamen CMS.362) Zu Recht warnt Moosmayer363) vor einer „Schön-Wetter-Compliance“, die sich in präventiven Maßnahmen erschöpft und die schwierigen Rechtsbereiche interner Untersuchungen und Disziplinarmaßnahmen ausblendet. Ein vorbehaltloses und uneingeschränktes Bekenntnis des Vorstands zur Rechtstreue setzt stets auch die Botschaft voraus, dass Compliance-Verstöße im Unternehmen nicht geduldet werden (sog. „Zero Tolerance Policy“)364). 313 Festgestellte Verstöße müssen daher mit der gebotenen Schnelligkeit, sichtbar und angemessen sanktioniert werden.365) Zentral ist, dass bei der Sanktionierung einem transparenten, für alle Mitarbeiter gleich objektiven Prozess gefolgt und für Führungskräfte ein mindestens gleich strenger Maßstab angelegt wird, da sie eine Vorbildfunktion erfüllen.366) 314 Es kommt ein abgestuftes Sanktionssystem in Betracht, das von einer Ermahnung, Abmahnung, Versetzung, Bonus-Streichung, Degradierung, Entzug von Kompetenzen und Zuständigkeiten, die Geltendmachung von Ersatzansprüchen und/oder Initiierung von Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren bis hin zur fristlosen Kündigung reicht. Letzteres Mittel sollte allerdings nur bei erhebli___________ 362) Miege, CCZ 2017, 283; Moosmayer, NJW 2012, 3013 (3014). 363) Moosmayer, NJW 2012, 3013 (3014). 364) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Demuß, § 15 Rz. 34 (Tax-CMS); vgl. zum Begriff: Grützner/Jakob/Grützner/Jakob, Zero Tolerance Plicy; zum Ursprung der Zero ToleranceRegel instruktiv: Kark, CCZ 2012, 180 ff.; 365) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (575); Simon/ Merkelbach, AG 2014, 318 (320). 366) Miege, CCZ 2017, 283.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

chen Verstößen und nur als „ultima ratio“ erwogen werden, wobei die Hürde des § 626 Abs. 2 BGB zu beachten ist. Der Sanktionsrahmen ist durch objektiv formulierte Kriterien zu bestimmen und kann (für alle Mitarbeiter einsehbar) in sog. Sanktionsleitlinien dokumentiert werden. Über Art und Umfang der Sanktionierung kann der Vorstand nach pflicht- 315 gemäßem Ermessen unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls entscheiden,367) insbesondere der Schwere des Verstoßes, Verschuldensgrad, Wiederholungsgefahr und Nachtatverhalten. Zusätzlich empfiehlt sich, die Mitarbeiter im Falle von Verstößen einem Compliance-Training zu unterziehen. 8.

Remediation

Eine interne Untersuchung ist stets auch durch einen präventiven Zweck ge- 316 prägt. Denn bei einem erwiesenen Rechtsverstoß im Rahmen der internen Untersuchung ist zugleich zu prüfen, ob die Verstöße Folge von strukturellen Versäumnissen bei der Implementierung des CMS waren. Identifizierte Missstände des CMS sind zu analysieren und das CMS entsprechend zu optimieren, um vergleichbare Non-Compliance-Fälle zukünftig zu minimieren.368) Zu diesem Zweck ist eine Risiko- sowie eine CMS-Wirksamkeitsanalyse durch- 317 zuführen und zwar zunächst fokussiert auf den konkreten Compliance-Fall und danach im Hinblick auf die entsprechende Unternehmenseinheit. Anhand der Ergebnisse dieser Analyse ist ein ereignisspezifisches Compliance-Programm (Æ Rz. 174) zur Verhinderung ähnlich gelagerter zukünftiger Verstöße zu definieren und umzusetzen. Bei einfach gelagerten (nicht systematischen) Verstößen reichen bereits Einzelmaßnahmen aus, z. B. gezielte Schulungen der risikorelevanten Mitarbeiter. Zur Entlastung des Vorstands sollten die Maßnahmen der Remediation sorgfältig dokumentiert werden (ausführlich zur Dokumentation Æ Rz. 318 ff.). 9.

Dokumentation der Ergebnisse der internen Untersuchung

a)

Bedeutung der Dokumentation und Dokumentationsarten

Die sorgfältige Dokumentation einer Compliance-Maßnahme ist von enormer 318 Bedeutung. Denn es kann zu einem späteren Zeitpunkt entscheidend darauf ankommen, ob für ein Gericht nachvollziehbar dargelegt werden kann, wie mit Verdachtsfällen umgegangen worden ist. Hier ist aktenmäßig festgehaltenes Wissen das Mittel der Wahl (dazu bereits Æ Rz. 55 ff.). ___________ 367) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 73; Bicker, ZWH 2013, 473 (480); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (178); Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2178 f.); Simon/Merkelbach, AG 2014, 318 (320). 368) Moosmayer, Rz. 395; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Idler/Waeber, Kapitel 21 Rz. 1 ff.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

319 Je nach Zweck, Ansatz und Umfang einer internen Untersuchung haben sich in der Praxis unterschiedliche Dokumentationsarten bewährt: 320 

Bei größeren Untersuchungen empfiehlt sich regelmäßig eine laufende (Echtzeit-)Dokumentation der einzelnen Untersuchungsschritte sowie der Zwischenergebnisse durch das Investigations-Projektteam. Die laufende (Echtzeit-) Dokumentation bildet regelmäßig die Basis für den Abschlussbericht.

321 

Daneben kann in bestimmten zeitlichen Abständen die Erstellung von Zwischenberichten zweckmäßig sein. Dies bietet sich bei länger andauernden Untersuchungen zur zwischenzeitlichen Dokumentation des Status und des Fortgangs der gesamten Ermittlungen oder zur Dokumentation bestimmter in sich abgeschlossener Sachverhalte (z. B. einzelne aufgedeckte strafrechtliche Handlungen) bzw. Sachverhaltsgruppen an.

322 

Den Abschluss der internen Untersuchung bildet regelmäßig ein statischer Abschlussbericht (Æ Rz. 323 ff.).

323 Je nach Fallkonstellation und dem Ergebnis der Untersuchung kann der Abschlussbericht für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden: Er kann (ggf. in angepasster Form) den Steuer-, Kartell- oder Strafverfolgungsbehörden vorgelegt werden, die dann ggf. von einer geplanten Durchsuchung absehen. Der Abschlussbericht kann zudem beschleunigende Wirkung auf den weiteren Gang und die letztendliche Einstellung behördlicher Ermittlungen haben. Voraussetzung dafür ist freilich, dass der Abschlussbericht den Anforderungen repressiven Tätigwerdens der Steuer-, Kartell- und Strafverfolgungsbehörden entspricht. Es muss mithin ein solcher Untersuchungsbericht vorgelegt werden können, der entsprechenden Behörden den Schluss nahelegt, dass sie die Aufklärung selbst nicht besser hätten durchführen und damit zu weiteren Ergebnissen gelangen können. Hierbei ist zu beachten, dass staatliche Ermittlungsbehörden den ihnen häufig übermittelten kurz (und z. T. nur mündlich) zusammenfassenden Ermittlungsberichten, in denen die vom Unternehmen beauftragte Anwaltskanzlei zu dem Ergebnis kommt, dass keine Anhaltspunkte für vorsätzliche Straftaten bestehen oder aber jedenfalls auf Leitungsebene nichts gefunden wurde, durchaus kritisch gegenüberstehen.369) b)

Inhalt und Aufbau des Abschlussberichts

324 Der Detailgrad der Dokumentation im Abschlussbericht ist letztlich eine Frage des Einzelfalls und hängt vom primären Zweck des Berichts (z. B. Entlastung des Vorstands, Vorlage beim Aufsichtsrat oder Behörden) sowie vom erwarteten Risiko- und Schadenspotential der konkreten Krisensituation ab. Bei großvolumigen Untersuchungen mit einem hohen Schadens- und Haftungspotenti___________ 369) Vgl. Groß/Wenzl, DB-Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97; Ghassemi-Tabar/Pauthner/ Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 63.

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A. Compliance-Pflichten des Vorstands und ihre Umsetzung

al erscheint vorsorglich ein eher hoher Detailgrad ratsam. Besonders behutsam ist bei der Dokumentation vorzugehen – auch vor dem Hintergrund der Gefahr einer möglichen Beschlagnahme der Untersuchungsergebnisse (Æ Rz. 304 f.) – in der Situation der corporate defense (Æ Rz. 341). Hier kann es geboten sein, Aufzeichnungen „nur in dem erforderlichen Umfang“ anzufertigen.370) In jedem Fall sollten die Aufzeichnungen als Verteidigungsunterlagen gekennzeichnet und separiert werden (Æ Rz. 306). Besonders sorgfältig sollte im Abschlussbericht die Dokumentation der Wei- 325 chenstellungen zu Beginn der Untersuchung erfolgen, d. h. insbesondere der Zeitpunkt der Kenntniserlangung des Vorstands von ersten Verdachtsfällen, der Nachweis der Unverzüglichkeit der Reaktion des Vorstands, d. h. Beleg der Zeitpunkte der Kenntniserlangung und der eingeleiteten Erstmaßnahmen sowie die Definition der Grundmerkmale der Untersuchung, namentlich: 

geeignete Auswahl eines hinreichend qualifizierten operativen InvestigationProjektteams unter Nennung der Namen,



Auswahl des kontrollierenden Steering Committee unter Nennung der Namen,



Untersuchungsziele,



Untersuchungsmaßnahmen, z. B. Auswertung von E-Mails, Daten und physischen Akten, Befragung von Mitarbeitern usw. sowie



ggf. Sicherung von Datenbeständen zwecks Verhinderung einer Verdunkelungsgefahr.

Der Untersuchungsbericht sollte darüber hinaus enthalten:

326



die genaue zeitliche Abfolge der einzelnen Untersuchungsschritte,



Gründe für die Auswahl bzw. Nichtauswahl einzelner Untersuchungsmaßnahmen sowie Gründe für ggf. gesetzte Prioritäten,



Schilderung der genauen Durchführung der einzelnen Teilschritte der Untersuchung,



Zeitraum der Durchführung der einzelnen analytischen Prüfungen,



jeweils erlangte Teilergebnisse und ggf. darauf beruhende weitere Klärungsmaßnahmen sowie



die Maßnahmen zur Sicherung und Sammlung verwertbarer Beweise.

Sofern sich die Untersuchung nur auf bestimmte Teile/Abteilungen des Un- 327 ternehmens beschränkt, müssen diese genau angegeben werden. Bei einer Konzernstruktur ist zu dokumentieren, in welchen Konzernbereichen die Untersuchungen stattgefunden haben. ___________ 370) Vgl. Krug/Skoupil, NJW 2017, 2374 (2379); van Wijngaarden/Egler, NJW 2013, 3549 (3554) beide in Bezug auf Interviewprotokolle.

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328 Es ist zwar nicht erforderlich, jedes im Rahmen der Untersuchung ermittelte „Finding“ detailliert zu dokumentieren. Vielmehr genügt die Angabe der Anzahl der Findings und des Jahres. Sofern sich die Findings in unterschiedliche Arten von Fehlverhalten bzw. Verstößen (= Sachverhaltsgruppen) kategorisieren lassen, sollte exemplarisch jeweils ein Finding pro Sachverhaltsgruppe minutiös beschrieben werden. Die Beschreibung muss so detailliert erfolgen, dass geprüft werden kann, ob dem zuständigen Mitarbeiter Vorsatz oder nur (leichte) Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Zudem muss die Beschreibung eine Analyse ermöglichen, wie es zum Fehlverhalten kam und welche Kontrollmaßnahmen zu ergreifen sind, um künftige Verstöße zu minimieren. 329 Aus dem Abschlussbericht muss schließlich auch die Beachtung der straf-, arbeits- und datenschutzrechtlichen Aspekte der Sachverhaltsaufklärung (im Hinblick auf alle involvierten Länder) nachvollziehbar hervorgehen. 330 Wie oben (Æ Rz. 200 f.) dargestellt, beschränkt sich die Compliance-Pflicht des Vorstands bei Hinweisen auf Fehlverhalten nicht auf die wirksame Sachverhaltsaufklärung. Vielmehr hat der Vorstand auf der Grundlage der Ergebnisse der internen Untersuchung festgestellte Verstöße abzustellen (Æ Rz. 309 ff.), involvierte Mitarbeiter angemessen zu sanktionieren (Æ Rz. 312 ff.) und festgestellte Defizite des CMS zu beheben (Æ Rz. 316 f.). In der Praxis hat sich als zweckmäßig erwiesen, dass die genannten Maßnahmen von den jeweils mit ihrer Prüfung und Umsetzung betrauten Experten (z. B. Arbeitsrechtler, Steuerrechtler, Compliance-Spezialist usw.) dokumentiert werden. Im Abschlussbericht sollte auf diese Dokumentationen Bezug genommen und diese als Anlage zum Abschlussbericht beigefügt werden. 10.

Kooperation mit Ermittlungsbehörden371)

a)

Grundsätzliches

331 Das Ziel einer Kooperation zwischen Ermittlungsbehörden und Unternehmen ist es, die Aufklärungsmaßnahmen so zu gestalten, dass sowohl dem Unternehmensinteresse an einem möglichst schonenden Grundrechtseingriff (und damit ungestörtem Fortgang des operativen Geschäfts) als auch dem staatlichen Verfolgungsinteresse Rechnung getragen wird.372) Eine Kooperation setzt damit ein Entgegenkommen auf beiden Seiten voraus. Beispiel:373) 332 Gerade bei Durchsuchung von Geschäftsräumen internationaler Konzerne im Rahmen wirtschaftsstrafrechtlicher Ermittlungsverfahren stellt die forensische Sicher___________ 371) Vgl. zur Kooperation mit der Staatsanwaltschaft auch: MünchHdB GesR VII/GhassemiTabar/Wenzl, § 107 Rz. 151 ff. 372) Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97. 373) Instruktiv zur Datenlieferungsvereinbarung: Wenzl, NStZ 2021, 395.

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stellung elektronischer Daten eine besondere Herausforderung für die Ermittlungsbehörden dar, die bei einem nicht kooperationsbereiten Unternehmen enorme Ressourcen erfordert. Demgegenüber haben die Unternehmensorgane naturgemäß ein hohes Interesse daran, dass strafprozessuale Zwangsmaßnahmen so schnell und geräuschlos wie möglich beendet werden. Vor diesem Hintergrund wird in der Praxis zwischen den Ermittlungsbehörden und den betroffenen Unternehmen am Tag der Untersuchung immer häufiger eine sog. Datenlieferungsvereinbarung getroffen, mit der die (weitere) Vollstreckung des Durchsuchungsbeschlusses abgewendet werden soll. Im Strafprozessrecht gilt der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (auch 333 Nemo-tenetur-Grundsatz), der nicht nur das Recht umfasst, zum Tatvorwurf zu schweigen, sondern den Beschuldigten von jeglicher aktiven Mitwirkung an der Sachaufklärung befreit.374) Insofern bedeutet Kooperation auf Seiten des Unternehmens keineswegs eine vollständige Unterwerfung im Sinne eines kompletten, aktiven Offenbarens der fraglichen Sachverhalte und eines Verzichts auf jegliches Verteidigungsverhalten in prozessualer und materiell-rechtlicher Hinsicht. Umgekehrt verbietet der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nur den Zwang zu aktiver Mitwirkung, er verhindert dagegen nicht, (rechtmäßige) Beweiserhebungsmaßnahmen der Ermittlungsbehörden passiv erdulden zu müssen.375) Auch wenn in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht nicht existiert und das Unternehmen daher selbst nicht Beschuldigter i. S. d. Strafprozessordnung sein kann, treffen die Duldungspflichten gleichwohl auch juristische Personen.376) Daher ist etwa die Vollstreckung eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses (vgl. § 103 StPO) oder die Herausgabe eines bestimmten beschlagnahmefähigen Beweismittels (insoweit selbstverständlich) mit den Ermittlungsbehörden nicht verhandelbar und kann daher auch nicht Gegenstand einer Kooperation sein. Von einer Kooperation auf Seiten des Unternehmens kann daher nur gespro- 334 chen werden, soweit es nicht um die Erfüllung einer ohnehin bestehenden gesetzlichen Verpflichtung geht. Das Spektrum der möglichen Verhaltensalternativen auf Seiten der Unternehmen ist hierbei breit: Es beginnt auf der einen Seite mit der Verweigerung jeglicher Kooperation und einem Verweis der Ermittlungsbehörden auf eine Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen, verbunden mit der Ausnutzung sämtlicher Rechtsmittelmaßnahmen gegen sie.377) Damit geht häufig eine sog. Sockelverteidigung einher, bei der zwischen den Verteidigern der Beteiligten aufseiten des Unterneh___________ 374) Kasiske, JuS 2014, 15 (17 f.); MünchKommStPO/Schuhr, Vorbem. zu §§ 133 ff. Rz. 91. 375) Kasiske, JuS 2014, 15 (18); MünchKommStPO/Schuhr, Vorbem. zu §§ 133 ff. Rz. 92. 376) Moosmayer, Rz. 350; vgl. auch BeckOK StPO/Hegmann, § 103 Rz. 1: Unter „anderen Personen“ fallen auch juristische Personen. Ist ein Organ einer juristischen Person selbst verdächtig, kommt eine Durchsuchung nach § 102 StPO in Betracht. 377) Loer/Glass, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 48.

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mens Absprachen über Strategie und Taktik im Verfahren getroffen werden.378) Auf der anderen Seite des Spektrums steht die bereits erwähnte (Æ Rz. 333) umfassende Kooperation mit den Ermittlungsbehörden ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen und sonstigen mit einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung möglicherweise verbundenen nachteiligen Folgen für das Unternehmen. Nur selten ist eine Sachlage gegeben, in der nur eine Entscheidung für das eine oder andere Ende des Spektrums in Betracht kommt, weil z. B. entweder eine Bestätigung der Verdachtsmomente (unter Umständen verbunden mit der Aufdeckung weiterer Straftaten) das Unternehmen in existenzielle Schwierigkeiten bringen würde, oder die Beweislage von vornherein so eindeutig ist, dass jegliches Bemühen um eine Verteidigung sinnlos erscheint.379) 335 Letztlich ist es eine Frage des konkreten Einzelfalls, ob es im Unternehmensinteresse liegt, einen Verdachtsfall der Behörde anzuzeigen bzw. in einem laufenden Ermittlungsverfahren Beweismittel, auf die die Staatsanwaltschaft keinen Zugriff bekommen kann, freiwillig im Wege einer internen Untersuchung herbeizuschaffen und sich hiermit selbst zu belasten. Die Entscheidung hängt maßgeblich von der Frage ab, wie wahrscheinlich im Fall der weiteren Ermittlungen der Tatnachweis geführt werden kann und welche Risiken durch weitere Ermittlungen bestehen. Das ist freilich keine einfache Frage, denn oftmals ist die Sachlage unklar und der Ausgang der Ermittlungen offen. 336 Ganz allgemein sind als mögliche Vorteile einer Kooperation insbesondere die folgenden zu nennen380): 

Vermeidung eines langwierigen Ermittlungsverfahrens und der damit verbundenen Unsicherheiten und Belastungen für das Unternehmen und seine Mitarbeiter; Chance einer schnelleren Neuausrichtung des Unternehmens nach Abschluss des Verfahrens,



Vermeidung presseträchtiger und damit imageschädigender strafprozessualer Zwangsmaßnahmen,



Verbesserung des Erscheinungsbildes und die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit des Unternehmens in der Öffentlichkeit und bei Geschäftspartnern,



bei komplexeren Verfahren die Möglichkeit der frühzeitigen Beschränkung des Verfahrens-/Untersuchungsgegenstands aufgrund entsprechender Vereinbarungen mit der Staatsanwaltschaft, die in diesen Fällen aufgrund begrenzter personeller Kapazitäten ihrerseits häufig an einer solchen Begrenzung interessiert sein wird,

___________ 378) Vgl. zur sog. Sockelverteidigung KK-StPO/Laufhütte/Willnow, Vorbem. Rz. 9. 379) Badle/Raschke, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 16 (18); Loer/Glass, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 48. 380) Loer/Glass, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 48 (49).

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mitunter erheblicher Einfluss auf die Höhe der nach § 30 OWiG in Betracht kommenden Geldbuße.

Eine völlige Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden 337 ist für die betroffenen Unternehmen jedenfalls nur selten eine sinnvolle Option. Auch Cordes (Æ § 25 Rz. 12) empfiehlt grundsätzlich einen kooperativen Umgang mit Ermittlungsbehörden. Es sollte zumindest versucht werden, mit den Ermittlungsbehörden im Dialog zu bleiben. Ohnehin ist eine vertrauensvolle Kommunikation mit den Ermittlungsbehörden das „A und O“ einer konstruktiven Kooperation. Der Austausch sollte dabei idealerweise nicht über mehrere Kanäle stattfinden. Auf Seiten des Unternehmens hat sich bewährt, dass ein erfahrener Unternehmensanwalt die Schnittstelle zwischen Unternehmen und (Strafverfolgungs-)Behörde darstellt. Dass in manchen Punkten unterschiedliche Auffassungen bestehen, liegt in der Natur der Sache und ist unschädlich. Entscheidend ist, dass sich beide Seiten darauf verlassen können, dass getroffene Absprachen eingehalten werden, nichts Falsches behauptet wird bzw. nicht der Eindruck der Zurückhaltung von Informationen entsteht und dass keine unnötigen Formalitäten genutzt werden, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen.381) Überdies empfiehlt sich, dass das Unternehmen sobald wie möglich gegenüber den Ermittlungsbehörden deutlich macht, wie es den Sachverhalt, die Ermittlungsmöglichkeiten und die Rechtslage einschätzt und zu welcher Kooperation es bereit ist und wozu nicht.382) b)

Typische Ausgangssituationen

Es sind unterschiedliche Ausgangssituationen zu unterscheiden, in denen sich 338 aus Sicht des Unternehmens die Frage einer Kooperation mit staatlichen Ermittlungsbehörden stellen kann: aa)

Verdacht einer Straftat nur unternehmensintern bekannt

Eine typische Ausgangssituation ist die, dass der zur Kenntnis des Vorstands 339 gelangte Verdacht einer strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Pflichtverletzung durch Unternehmensangehörige nur intern bekannt ist und sich die Frage stellt, ob parallel zur eigenen Sachverhaltsaufklärung eine Anzeige an die Behörden zumindest strategisch eine Option darstellt. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Grundfrage, in welcher Rolle bzw. Situation sich das Unternehmen bei der konkreten Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich befindet: Die Geschädigtenrolle (Æ Rz. 340) oder die Situation der corporate defense (Æ Rz. 341).383) Vor Einleitung der internen Untersuchung sollte daher im ___________ 381) Badle/Raschke, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 16 (18); Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (98). 382) Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (98). 383) Vgl. dazu eingehend: Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 47 ff.

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Hinblick auf diese Grundfrage zunächst eine rechtliche Erstanalyse bei Wahrunterstellung des Verdachts erfolgen. 340 Ist das Unternehmen bei Wahrunterstellung des Sachverhalts Geschädigter, zielt die Untersuchung also primär darauf ab, den Verdacht einer Schädigung durch Mitarbeiter und/oder (ehemalige) Organmitglieder zu überprüfen und Beweismittel für eine (gerichtliche) Inanspruchnahme zu sammeln, so kann (bei Verhärtung des Verdachts im Rahmen der internen Untersuchung) die Erstattung einer Strafanzeige zwecks Ingangsetzung eines behördlichen Ermittlungsverfahren durchaus im Interesse des Unternehmens liegen. Denn die Staatsanwaltschaft kann auf der Grundlage ihrer strafprozessualen Befugnisse (z. B. Sicherstellung und Beschlagnahme nach § 94 StPO) Bereiche überprüfen, auf die das Unternehmen nicht ohne Weiteres Zugriff hat. Das Unternehmen kann also auf diese Weise wertvolle Informationen erlangen, die es ohne die Ermittlungsinstrumente der Staatsanwaltschaft nicht erlangen würde. In der Geschädigtenrolle kann sich das Unternehmen zu den ermittelten Informationen durch einen Antrag auf Akteneinsicht gemäß § 406e StPO Zugang verschaffen. Denn Verletzter i. S. d. § 406e StPO kann auch eine juristische Person sein384), wenn sie aufgrund einer Straftat einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen den Täter geltend machen kann385). 341 In der Situation, dass nach den bekannten Verdachtsmomenten die Straftat im vermeintlichen Interesse des Unternehmens begangen worden ist und daher voraussichtlich eine Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG nach sich ziehen wird, das Unternehmen sich mithin zu verteidigen hat (corporate defense), ist hinsichtlich einer Kooperation Zurückhaltung geboten. Das Strafgesetzbuch sieht eine Anzeigepflicht nur für wenige, hier nicht einschlägige Straftatbestände vor (vgl. § 138 StGB).386) Der Vorstand sollte nach Kenntniserlangung von den Verdachtsmomenten zunächst mit der Aufarbeitung des Sachverhalts beginnen, und zwar unverzüglich (Æ Rz. 215 f.). Hierbei sollte die Sachverhaltsentwicklung vorab in verschiedene Richtungen und die damit verbundenen Konsequenzen durchdacht werden, wobei auch der Umgang mit möglichen WorstCase-Szenarien kritisch und anhand vergleichbarer öffentlichkeitswirksamer Fälle antizipiert werden sollten. Denn im Falle einer Kenntniserlangung durch Behörden (und Medien) sollte der Vorstand idealerweise unmittelbar reagieren und entscheiden können, z. B. über die Zusammenstellung herauszugebender Unterlagen an die Staatsanwaltschaft, entsprechende Pressemeldungen sowie die Benennung eines Ansprechpartners für die Ermittlungsbehörde. Bestätigt sich der Verdacht im Rahmen der internen Untersuchung, ist im Einzelfall abzuwä___________ 384) BeckOK StPO/Wiener, § 406d StPO Rz. 1. 385) KK-StPO/Zabeck, Vorbemerkungen Rz. 3. 386) Bei Sachverhalten mit Auslandsbezug ist zu prüfen, ob die jeweilige Rechtsordnung eine Anzeigepflicht vorsieht.

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gen, ob eine kooperative Verteidigung im Sinne einer Geständnisverteidigung geführt werden soll, um ein möglichst zügiges Ende und eine verhältnismäßig geringe Sanktion anzustreben.387) Auch kommt eine Offenlegung von Ermittlungserkenntnissen in Betracht, wenn die Behörde dem Unternehmen hierfür bedeutsame Vorteile einräumt. Zu nennen sind beispielsweise die sog. Kronzeugen- oder Bonusregelungen der Kartellbehörden, die Unternehmen, die als erstes ein Kartell anzeigen und damit Ermittlungen ermöglichen, einen vollständigen Bußgelderlass gewähren (dazu Æ § 15 Rz. 68).388) bb)

Kenntnis erst durch staatliche Ermittlungsmaßnahmen

Der umgekehrte Fall ist, dass das Unternehmen Kenntnis von einem mögli- 342 chem Fehlverhalten erst durch konkrete Ermittlungsmaßnahmen der Ermittlungsbehörde erhält, etwa durch eine informatorische Befragung389) (auch Auskunftsersuchen Æ § 25 Rz. 13 f.) oder Durchsuchung. Nicht selten fordert der ermittelnde Staatsanwalt in einer solchen Situation das Unternehmen zur Durchführung einer internen Untersuchung und der Übermittlung der Ergebnisse auf. Auch wenn die Strafprozessordnung nach derzeitiger Gesetzeslage nichts für eine solche Befugnis der Staatsanwaltschaft hergibt, so empfiehlt es sich in dieser Konstellation regelmäßig (und zwar auch in der Situation der Corporate Defense Æ Rz. 341), auf die Behörde zuzugehen und einen Kommunikationskanal (über einen entsprechend qualifizierten Unternehmensanwalt) aufzubauen. Denn der Vorstand muss möglichst viel Kontrolle über die Ermittlungen (zurück-)gewinnen: intern wie extern.390) Durch die richtige Kooperation kann mitunter lenkend auf die behördlichen Ermittlungen eingewirkt und ggf. weiteren imageschädigenden (Ermittlungs-)Maßnahmen gegengesteuert werden, beispielsweise indem die Staatsanwaltschaft bei Offenlegung von internen Ermittlungsergebnissen von einer Durchsuchung absieht oder ihre Presseerklärungen abstimmt und so eine mögliche Medieneskalation verhindert wird. Auch finden sich bei guter Kooperation häufig Erledigungsmöglichkeiten, die an der unteren Grenze des Sanktionsrahmens liegen. IV.

UK Bribery Act 2010 und US Foreign Corrupt Practices Act

Wie oben (Æ Rz. 7) dargestellt, bedeutet Compliance auch die Konformität mit 343 ausländischen Gesetzesvorschriften. Gerade für Unternehmen mit Geschäfts___________ 387) Groß/Wenzl, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, S. 97 (98 f.). 388) Vgl. auch Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kapp/Krohs, § 14 Rz. 30 ff. 389) Als „informatorische Befragungen“ bezeichnet man Erkundigungen, mit denen die Ermittlungsbehörde herauszufinden versucht, ob überhaupt eine Anfangsverdachtslage bzw. der Verdacht einer Ordnungswidrigkeit besteht und/oder wer als Auskunftsperson in Betracht kommen könnte (MünchKommStPO/Kölbel, § 163a Rz. 9; KK-OWiG/Lutz, § 55 Rz. 11. 390) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 59.

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aktivitäten im Ausland gilt es, ausländisches Recht mit exterritorialer Reichweite zu beachten. Von besonderer Praxisrelevanz sind hierbei der UK Bribery Act (Æ Rz. 344 ff.) und der US Foreign Corrupt Practices Act (Æ Rz. 349 ff.). 1.

UKBA

344 Der UKBA von 2010 stellt ein besonders strenges Antikorruptionsgesetz des UK mit weltweiter Geltung391) dar, das neben Bestechung, Bestechlichkeit und der Bestechung ausländischer Amtsträger gerade auch das Zulassen von solchem Verhalten durch Unternehmen unter Strafe stellt.392) 345 Aus Sicht deutscher Unternehmen besonders relevant ist der Bestechungstatbestand: Danach ist ein Unternehmen strafbar, wenn eine dem Unternehmen „nahestehende“ Person zugunsten des Unternehmensgeschäfts eine Bestechung (ausländischer Amtsträger) vornimmt. Eine „nahestehende“ Person ist jede, die ungeachtet ihrer Position Dienste für oder im Namen des Unternehmens erbringt.393) Zu beachten ist, dass grundsätzlich auch Beschleunigungszahlungen (Facilitation Payments) und Aufwendungen für Bewirtung und Geschenke (Gifts and Hospitality) als Bestechungen erfasst werden.394) Zudem kann sich die Bestechung sowohl an privatwirtschaftliche als auch öffentliche Personen richten.395) 346 Dieser Straftatbestand findet auf alle Unternehmen Anwendung, die ein Geschäft im UK betreiben396), was jedenfalls im Falle einer Zweigniederlassung oder Betriebsstätte im UK vorliegt.397) Es kann jedoch im Einzelfall auch eine einzelne Geschäftsaktivität im UK oder mit einem britischen Handelspartner ausreichen.398) Darüber hinaus sind die allgemeinen Tatbestände der Bestechung und Bestechlichkeit für ausländische Unternehmen auch dann direkt anwendbar, wenn zumindest ein Teil der Tathandlung im UK stattgefunden hat.399) Wenn ein solcher Fall vorliegt, kann dies auch die Strafbarkeit der obersten Führungsebene nach sich ziehen, sofern der jeweilige „senior officer“ in die Tatbegehung eingewilligt oder sie zumindest geduldet hat.400) ___________ 391) 392) 393) 394) 395) 396) 397) 398) 399) 400)

Walther/Zimmer, RIW 2011, 199 (202); Weiß, ZWH 2014, 289. Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643; Weiß, ZWH 2014, 289. Walther/Zimmer, RIW 2011, 199 (202). Modlinger/Richter, ZRFC 2011, 16, Passarge/Behringer/Süße, S. 220 ff.; Walther/Zimmer, RIW 2011, 199 (201). Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643 f. Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643 (2646); Modlinger/Richter, ZRFC 2011, 16 (17 f.); Walther/ Zimmer, RIW 2011, 199. Passarge/Behringer/Süße, S. 225. Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643, 2646; Modlinger/Richter, ZRFC 2011, 16, 18; Weiß, ZWH 2014, 289, 290. Modlinger/Richter, ZRFC 2011, 16. Modlinger/Richter, ZRFC 2011, 16 (17); Walther/Zimmer, RIW 2011, 199 (201).

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Der Sanktionsrahmen ist weit gefasst401): Natürliche Personen können mit einer 347 Gefängnisstrafe bis zu 10 Jahren oder Geldstrafe bestraft werden. Unternehmen können mit einer theoretisch unbegrenzten Geldstrafe belangt werden sowie für Aufträge der öffentlichen Hand gesperrt werden. Die zuständigen Behörden sind das Serious Fraud Office (SFO) und der Crown Prosecution Service (CPS). Ihnen wurde gerade wegen der weiten Tatbestände und Anwendbarkeit ein besonders weiter Ermessens- und Entscheidungsspielraum für die Frage erteilt, wann im Einzelfall tatsächlich eine verfolgungswürdige Straftat vorliegt.402) Der UKBA sieht jedoch für Unternehmen eine ausdrückliche Exkulpations- 348 möglichkeit vor, wenn es gegen entsprechende Bestechungshandlungen adäquate Compliance-Strukturen eingeführt hat und diese nachweisen kann.403) 2.

FCPA

Der FCPA von 1977404) ist ein Bundesgesetz der USA mit internationaler Wir- 349 kung405), das Bestechungshandlungen gegenüber ausländischen Amtsträgern und Gleichgestellten verbietet und Bestimmungen zu verschiedenen Buchhaltungsund Organisationsregeln, die Bestechungszahlungen vermeiden sollen, enthält406). Natürlichen und juristischen Personen wird jede Handlung verboten, die eine 350 Vorteilsgewährung (nicht nur durch Geldzahlung) an ausländische Amtsträger wie auch privatrechtlich organisierte Unternehmen oder Privatpersonen, die im Auftrag des Staates handeln, fördert.407) Die Bestechung ausländischer Amtsträger ist nur dann strafbar, wenn sie dem Täter einen geschäftlichen Vorteil bringt.408) Erlaubt sind sog. erleichternde oder unterstützende Zahlungen an ausländische Amtsträger, die übliche Verwaltungsabläufe beschleunigen oder sicherstellen, inkriminierte Zahlungen, die nach dem Recht des Landes des ausländischen Amtsträgers rechtmäßig sind, sowie angemessene und in gutem Glauben geleistete Zahlungen.409) Adressaten der Bestechungstatbestände des FCPA sind ___________ 401) Passarge/Behringer/Süße, S. 226; Walther/Zimmer, RIW 2011, 199 (202); Weiß, ZWH 2014, 289 (291). 402) Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643 f. 403) Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643, 2644 f.; Modlinger/Richter, ZRFC 2011, 16 f.; Raphael, in: Blackstone’s Guide to The Bribery Act 2010, Rz. 1.16; Walther/Zimmer, RIW 2011, 199, 202; Weiß, ZWH 2014, 289, 290. 404) Abrufbar unter: https://www.justice.gov/sites/default/files/criminal-fraud/legacy/2015/ 01/16/guide.pdf; letzter Aufruf: 25.3.2018. 405) Grützner/Jakob, FCPA; Rosskopf, in: Ruhmannseder/Lehner/Beukelmann, Compliance aktuell, 5. Heft 11/2016, II. Der Foreign Corrupt Practices Act, Rz. 3; Rübenstahl, NZWiSt 2012, 401 f. 406) Grau/Meshulam/Blechschmidt, BB 2010, 652, 653; Martinek/Semler/Flohr/Passarge, § 79, Rz. 122; Siegler, CCZ 2014, 186 (186). 407) von Hagen Weiss, HRRS März 2016 (3/2016), 156, 157; Cohen/Holland, CCZ 2008, 7. 408) Martinek/Semler/Flohr/Passarge, § 79 Rz. 123. 409) Cohen/Holland, CCZ 2008, 7 (10).

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an der New York Stock Exchange registrierte oder berichtspflichtige Emittenten, Unternehmen oder Individuen mit (Wohn-)Sitz in den USA, sowie alle natürlichen und juristischen Personen, die in den USA Bestechungshandlungen vornehmen oder fördern, ohne dass sie sich physisch in den USA befinden müssen410). Bereits die bloße Verwendung eines Email-Servers in den USA für eine solche Handlung soll insofern genügen.411) Bei Verletzung des FCPA durch eine amerikanische Tochtergesellschaft als „Beauftragte“ kann auch ihre (ausländische) Muttergesellschaft verfolgt werden.412) 351 Darüber hinaus wird eine Strafbarkeit für intransparente Rechnungslegungspraktiken und die Mangelhaftigkeit des diesbezüglichen Compliance-Systems begründet413). Zwar richten sich die Buchhaltungs- und Organisationsregeln direkt nur an den Emittenten. Da jedoch Compliance- bzw. Buchführungsmängel eines ausländischen Tochterunternehmens auch auf eine in den USA registrierte Muttergesellschaft und deren Strafbarkeit durchschlagen können, ist die Einhaltung solcher Regeln auch von Tochterunternehmen zu beachten414). 352 Zudem kann eine Strafbarkeit für ausländische Unternehmen wegen Verschwörung auch allein aus der Verabredung mit einem US-Unternehmen zur Verwirklichung eines der Tatbestände des FCPA folgen.415) 353 Bei einem Verstoß drohen juristischen Personen Geldstrafen in Höhe von bis zu 25 Mio. USD und natürlichen Personen, die die Zahlungen angeordnet oder ausgeführt haben, Freiheitsstrafen bis zu 20 Jahren und Geldstrafen von bis zu 5 Mio. USD.416) Darüber hinaus kann das betroffene Unternehmen von der Liste für die Vergabe von Aufträgen der öffentlichen Hand gestrichen werden.417) Existiert eine effektive Compliance-Struktur oder werden mit der ermittelnden Behörde abgestimmte Compliance-Maßnahmen eingeführt, kann die Strafe erheblich verringert werden.418) 354 Die Durchsetzung des FCPA ist zwischen der amerikanischen Börsenaufsicht (SEC) (zivilrechtliche Verfolgung der Emittenten) und dem Department of Jus-

___________ 410) Martinek/Semler/Flohr/Passarge, § 79 Rz. 127; Rübenstahl, NZWiSt 2013, 281, 284. 411) Grau/Meshulam/Blechschmidt, BB 2010, 652 (656); Rübenstahl, NZWiSt 2013, 281 (284); Siegler, CCZ 2014, 186 f. 412) Martinek/Semler/Flohr/Passarge, § 79, Rz. 127; Cohen/Holland, CCZ 2008, 7 f. 413) Rübenstahl, NZWiSt 2013, 6. 414) Grau/Meshulam/Blechschmidt, BB 2010, 652 f.; Rübenstahl, NZWiSt 2013, 6 ff. und 281 (285). 415) Rübenstahl, NZWiSt 2013, 281 (286). 416) Cohen/Holland, CCZ 2008, 7, 8; Rübenstahl, NZWiSt 2013, 367. 417) Martinek/Semler/Flohr/Passarge, § 79 Rz. 125. 418) Rübenstahl, NZWiSt 2013, 367; Cohen/Holland, CCZ 2008, 7 (7 und 11).

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B. Haftungsrisiken für Vorstandsmitglieder bei Compliance-Verstößen

tice (DOJ) (zivilrechtliche Verfolgung der übrigen Adressaten und strafrechtliche Verfolgung) aufgeteilt.419) B.

Haftungsrisiken für Vorstandsmitglieder bei Compliance-Verstößen

Mit den Compliance-Pflichten des Vorstands korrelieren Haftungsrisiken. Bei 355 festgestellten Verstößen drohen den Vorstandsmitgliedern Schadensersatzansprüche der Gesellschaft (Æ Rz. 356 ff.), eine strafrechtliche Haftung (Æ Rz. 364 ff.) sowie die Auferlegung von Bußgeldern (Æ Rz. 367 f.). I.

Schadensersatzansprüche der Gesellschaft

Ein Schadensersatzanspruch der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder aus § 93 356 Abs. 2 Satz 1 AktG (zu den Voraussetzungen der sog. Innenhaftung ausführlich Æ § 2 Rz. 6 ff.) im Kontext von Compliance-Verstößen kommt unter drei Anknüpfungspunkten in Betracht: 1) Ein Vorstandsmitglied begeht selbst einen Compliance-Verstoß oder hält 357 ein anderes Vorstandsmitglied oder einen Unternehmensangehörigen der unteren Managementebene zu einem Verstoß an, z. B. zu einer Bestechungshandlung oder einer kartellrechtswidrigen Absprache. Das Vorstandsmitglied kann sich in derartigen Fällen nicht darauf berufen, der Gesetzesverstoß sei im Interesse oder zum Nutzen der Gesellschaft erfolgt – etwa eine Schmiergeldzahlung zum Erhalt eines lukrativen Auftrags (kein efficient breach of public law).420) 2) Ein Vorstandsmitglied erlangt Kenntnis von Compliance-Fehlverhalten 358 im Unternehmen, unterlässt aber ein unverzügliches Einschreiten im Sinne der Prüfung und ggf. Veranlassung sofortiger Maßnahmen zur Aufklärung und Untersuchung der Verstöße, deren Abstellen sowie der Ahndung der betroffenen Mitarbeiter421) (dazu Æ Rz. 199 ff.). 3) Eine Pflichtverletzung des Vorstands liegt schließlich auch dann vor, wenn 359 durch eine unzureichende Compliance-Organisation Pflichtverstöße von Mitarbeitern ermöglicht oder erleichtert werden.422) Die Verletzung der Compliance-Organisationspflicht des Vorstands kann hierbei

___________ 419) Martinek/Semler/Flohr/Passarge, § 79 Rz. 128; Cohen/Holland, CCZ 2008, 7. 420) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 50; vgl. auch MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rz. 91 f. 421) Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Kappel/Johannsen, § 7 Rz. 30; LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570. 422) LG München I, Urt. v 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, ZIP 2014, 570 (Siemens/NeubürgerUrteil); vgl. bereits KG, Urt. v. 9.10.1998 – 14 U 4823/96, NZG 1999, 400 (GmbH).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung



in einer nicht hinreichend effektiven Risikoanalyse (dazu Æ Rz. 109 ff.) oder der mangelnden Einrichtung risikoadäquater Risikosteuerungsmaßnahmen (Æ Rz. 156 ff.),



in der mangelnden Überwachung der Risiken und Steuerungsmaßnahmen (Æ Rz. 196 f.) oder



in der nicht hinreichend klaren und eindeutigen Zuordnung von Zuständigkeiten für Compliance-Aufgaben innerhalb des Unternehmens (Æ Rz. 95) liegen.

360 Zu beachten ist, dass eine Pflichtverletzung ausscheidet, wenn das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied den Nachweis erbringt, innerhalb des haftungsfreien Ermessensspielraums der BJR gehandelt zu haben (dazu Æ Rz. 76, 204, 231 f. sowie § 2 Rz. 25 ff.). Bei unklarer Rechtslage können sich Vorstandsmitglieder zudem vom Verschuldensvorwurf exkulpieren, indem sie nachweisen, dass sie sich von einem qualifizierten Berufsträger haben beraten lassen und den erteilten Rechtsrat im Rahmen ihrer Möglichkeiten einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzogen haben423) (ausführlich dazu Æ § 2 Rz. 58 ff.). 361 Wie oben (Æ Rz. 85) dargestellt, kann sich ein Vorstandsmitglied hingegen aufgrund der Gesamtverantwortung des Vorstands und der ressortübergreifenden Überwachungspflicht nicht mit Hinweis auf die mangelnde Ressortverantwortung für Compliance exkulpieren. Bei Kollegialentscheidungen, die einen Compliance-Verstoß begründen, liegt die Pflichtverletzung im Unterlassen eines Verhinderungsversuchs. Ein Vorstandsmitglied kann sich auch nicht darauf berufen, dass der Beschluss auch ohne seine Stimme zustande gekommen wäre; vielmehr ist jede den Beschluss unterstützende Stimme pflichtwidrig.424) 362 Zu beachten ist schließlich, dass den Aufsichtsrat nach der Rechtsprechung des BGH425) eine grundsätzliche Anspruchsverfolgungspflicht trifft: Er muss das Bestehen und die Durchsetzbarkeit von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern eigenverantwortlich prüfen und solche Ansprüche grundsätzlich verfolgen, sofern nicht ausnahmsweise (gewichtige) Gründe des Unternehmenswohls gegen eine Verfolgung sprechen (dazu ausführlich Æ § 3 Rz. 276 ff.). 363 Die Gesellschaft kann grundsätzlich alle Schäden ersetzt verlangen, die ihr durch die Verletzung der Compliance-Organisationspflicht des Vorstandsmitglieds kausal426) entstanden sind. Zu den ersatzfähigen Schadenspositionen gehören ___________ 423) BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, AG 2015, 535; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876 (ISION). 424) Vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89 (Lederspray), ZIP 1990, 1413; Hölters/ Weber/Hölters, § 93 Rz. 265. 425) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (ARAG/Garmenbeck). 426) Ausführlich zur Frage der Kausalität bei der Innenhaftung Æ § 2 Rz. 89 ff.

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B. Haftungsrisiken für Vorstandsmitglieder bei Compliance-Verstößen

entgangene Gewinne (§ 252 BGB), die Belastung des Gesellschaftsvermögens mit Forderungen ohne adäquate Gegenleistung, die Inanspruchnahme der Gesellschaft durch geschädigte Dritte, sofern die Pflichtverletzung des Vorstands für den Regressschaden ursächlich war, Kosten für interne Untersuchungen bzw. vom Unternehmen an externe Berater gezahlte Honorare zur Aufklärung von Verstößen, wenn die Mandatierung zweckmäßig und erforderlich war,427) die Zahlung von Bestechungsgeldern sowie Bußgelder und andere Strafzahlungen, die der Gesellschaft auferlegt werden (ausführlich zu den allgemeinen Schadensvoraussetzungen und den einzelnen praxisrelevanten Schadenspositionen im Rahmen der Innenhaftung Æ § 2 Rz. 69 ff.). II.

Strafrechtliche Haftung

Bei Compliance-Pflichtverletzungen des Vorstands ist aufgrund der die Vor- 364 standsmitglieder treffenden Vermögensbetreuungspflicht regelmäßig der Straftatbestand der Untreue (§ 266 StGB) einschlägig (ausführlich zur Untreue Æ § 21 Rz. 2 ff.). Vorsicht ist aus Sicht des Vorstands insbesondere in folgenden Konstellationen geboten428): 

„Verschenken“ von Vermögenswerten des Unternehmens ohne Gegenleistung (z. B. Zahlung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Vergütung an Betriebsratsmitglieder),



Einrichtung oder Fortführung schwarzer Kassen und



Abrechnung privater Kosten über das Unternehmen.

Der 5. Strafsenat des BGH hat mit Urteil vom 12.10.2016429) bestätigt, dass die 365 Einhaltung der Voraussetzungen der BJR (dazu ausführlich Æ § 2 Rz. 25 ff.) eine Untreue nach § 266 StGB ausschließt. Sonstige praxisrelevante Straftatbestände, die Vorstandsmitglieder im Kontext 366 von Compliance-Verstößen typischerweise verwirklichen können, sind neben den Korruptionsdelikten vor allem Kapitalmarktdelikte (Æ § 21 Rz. 276 ff.) und Steuerhinterziehung (Æ § 21 Rz. 323 ff.). Zur sog. Geschäftsherrenhaftung des Vorstands Æ Rz. 98 und § 20 Rz. 24 ff. III.

Bußgeldrechtliche Haftung

Begeht ein Mitarbeiter im Unternehmen eine betriebsbezogene (Æ Rz. 101) Straf- 367 tat oder Ordnungswidrigkeit, kann die Vorstandsmitglieder als „Inhaber des Betriebes“ gemäß § 130 OWiG eine Bußgeldhaftung treffen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig die erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen unterlassen haben, ___________ 427) Vgl. zu diesem Thema eingehend: Lüneborg/Resch, NZG 2018, S. 209 ff. 428) Vgl. Ghassemi-Tabar/Pauthner/Wilsing/Mosbacher, § 5 Rz. 8 ff. 429) BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, ZIP 2016, 2467: kritisch: Kuntz, DER BETRIEB Sonderausgabe Nr. 02/2017, 37 (41).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

um entsprechende Zuwiderhandlungen zu verhindern. Begehen Vorstandsmitglieder selbst eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit, haften sie nicht nach § 130 OWiG, sondern nach der von ihnen verletzten Norm. Eine Bußgeldhaftung aus § 130 OWiG trifft den Vorstand nur, wenn ein anderer im Unternehmen die Straftat oder Ordnungswidrigkeit begeht, die bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Aufsichtspflicht verhindert oder jedenfalls wesentlich erschwert worden wäre (ausführlich zur Bußgeldhaftung nach § 130 OWiG Æ § 18). Welche Aufsichtsmaßnahmen der Vorstand zu ergreifen hat, wird in § 130 OWiG nicht näher definiert. Nach heute nahezu einhelliger Auffassung kann die Einrichtung eines wirksamen CMS jedoch zu einer Enthaftung oder zumindest zu Vorteilen bei der Bußgeldbemessung führen (Æ Rz. 22 f.). 368 Aus Sicht des Vorstands besonders relevant ist daneben § 30 OWiG, wonach gegen das Unternehmen selbst Geldbußen in Millionenhöhe verhängt werden können. Voraussetzung ist die Straftat oder Ordnungswidrigkeit eines Repräsentanten des Unternehmens, wie insbesondere Vorstandsmitglieder (sog. Anknüpfungstat). Als erfasste Personen kommen aber auch Prokuristen, Handlungsbevollmächtigte oder sonstige Personen mit Leitungs- oder Überwachungs- und Kontrollbefugnissen infrage,430) etwa Compliance-Beauftragte431). Die in der Praxis bedeutsamste Anknüpfungstat des § 30 OWiG ist die Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG (ausführlich zur Bußgeldhaftung nach § 30 OWiG Æ § 23). C.

Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

I.

Einleitung: Die Compliance-Verantwortung des Aufsichtsrats

369 Die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats ist im Gesetz klar geregelt (§§ 111 Abs. 1, 278 Abs. 3 AktG, § 40 Abs. 1 SE-VO). Es entspricht allgemeiner Auffassung432), dass sich diese Überwachungspflicht auch auf die Einrichtung und Kontrolle einer den Verhältnissen des Unternehmens entsprechenden (= wirksamen) Compliance-Organisation durch den Vorstand bezieht. 370 Prominente Stimmen kritisieren, dass es in vielen Fällen an der gebotenen Überwachung des Vorstands durch den Aufsichtsrat mangelt433) bzw. dass Compliance in der praktischen Ausübung der Aufsichtsratstätigkeit noch nicht überall ___________ 430) Näher KK-OWiG/Rogall, § 30 Rz. 61 ff. 431) BeckOK OWiG/Meyberg, § 30 Rz. 53. 432) Siepelt/Pütz, CCZ 2018, 78; U.H. Schneider, ZIP 2016, 70 (71); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (185 f.); Fuhrmann, AG 2015, R328; Habersack, AG 2014, S. 1 ff.; Werner, ZWH 2014, 449 (450); Vetter, in: Liber Amicorum für Martin Winter, 703; Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1108); Bachmann, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2007, 65 (93); Kort, in: Festschrift Hopt, S. 983 (997 f.); Koch, § 111 Rz. 4 und 22; Kordt, S. 147; Pauthner/ Ghassemi-Tabar, Rz. 704; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 168. 433) So Dr. Arno Mahlert, Mitglied in mehreren Aufsichtsräten und Mitherausgeber von „Der Aufsichtsrat“ in einem Herausgeberkommentar, Der Aufsichtsrat 11/2017, 153.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

seinen Niederschlag gefunden hat, sondern zumeist nur dort, wo das Unternehmen schon erfahren hat, wie schmerzlich für Bilanz und Reputation die Folgen von Compliance-Verstößen sein können434). II.

Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats im Überblick

Die Compliance-Überwachungspflicht des Aufsichtsrats umfasst die anlassunab- 371 hängige Prüfung, ob das vom Vorstand eingerichtete CMS entsprechend dem Grundsatz der Risikoindividualität (Æ Rz. 52 ff.) passgerecht auf die spezifischen Risiken des Unternehmens zugeschnitten, mithin wirksam ist. Allein mit der Kontrolle der Einrichtung eines wirksamen CMS durch den Vorstand ist es aber nicht getan. Vielmehr hat der Aufsichtsrat im präventiven Bereich auch die Überwachung und Weiterentwicklung des CMS durch den Vorstand (Æ Rz. 196) zu kontrollieren. Dem Aufsichtsrat obliegt hierbei nicht nur die nachträgliche Kontrolle der Wirksamkeit des CMS, vielmehr hat der Aufsichtsrat den Vorstand in Compliance-Fragen auch präventiv zu beraten, um künftige Fehlentwicklungen möglichst zu verhindern435) (zu der insoweit bestehenden Überwachungspflicht Æ Rz. 375 bis 428). Bei Verdachtsfällen trifft den Aufsichtsrat die Pflicht, die Aufklärungsmaß- 372 nahmen des Vorstands zu überwachen, bei festgestellten Risiken (etwa im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Untersuchungsmaßnahme) und/oder Defiziten (z. B. nicht rechtzeitige Einleitung von Aufklärungsmaßnahmen und/oder nicht hinreichend effiziente Aufklärungsmaßnahmen) darauf zu drängen, diese zu beheben und im Einzelfall eine eigene Sachverhaltsaufklärung vorzunehmen436) (zur Überwachung interner Untersuchungen Æ Rz. 429 bis 453). Grundvoraussetzung für die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Überwachungs- 373 pflicht ist schließlich, dass der Aufsichtsrat auch die eigene Compliance wahrt.437) Der Aufsichtsrat hat sicherzustellen, dass sowohl die eigene Organisation – z. B. Mitgliederzahl und Zusammensetzung (Æ § 3 Rz. 6 ff.) – den rechtlichen Anforderungen entspricht, als auch, dass seine Arbeit – z. B. die Beschlussfassung (Æ § 3 Rz. 67 ff.) – gemäß den gesetzlichen Anforderungen, der der Satzung und der Geschäftsordnung ausgeführt wird. ___________ 434) So Dr. Christine Hohmann-Dennhardt, zuletzt Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG, zuständig für Integrität und Recht, wie schon bis 2015 bei der Daimler AG, Der Aufsichtsrat 10/2017, 145. 435) Vgl. Ghassemi-Tabar/Pauthner, Der Aufsichtsrat 2016, 174 (175); Kordt, S. 137 f.; allgemein zur geschuldeten Beratungspflicht als Bestandteil der Kontrollaufgabe des Aufsichtsrats: BGH, Urt. v. 4.7.1994 – II ZR 197/93, NJW 1994, 2484 (2485) = ZIP 1994, 1216. 436) Vgl. Pauthner/Ghassemi-Tabar, Der Aufsichtsrat 2017, 21 ff. 437) Vetter, in: Liber Amicorum für Martin Winter, S. 703; vgl. auch Kort, in: Festschrift Hopt, S. 983 (998); Kordt, S. 149; vgl. einen komprimierten Überblick zu den eigenen Compliance-Regeln des Aufsichtsrats bei Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 1059 ff.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

374 Zudem soll nach Empf. D.12 DCGK 2022 der Aufsichtsrat regelmäßig eine Selbstbeurteilung hinsichtlich der Wirksamkeit der Aufgabenerfüllung durch ihn selbst und seine Ausschüsse vornehmen. Gemeint ist damit eine Selbstevaluierung des Aufsichtsrats, z. B. mit dem Ziel der Gewährleistung der eigenen Compliance und der Sicherstellung der Performance438): Durch CompliancePrüfungen soll sichergestellt werden, dass die gesetzlichen Bestimmungen sowie die intern für den Aufsichtsrat erlassenen Regularien beachtet werden. Performanceprüfungen sollen die Gremienaktivitäten und -modalitäten auf ihre Effizienz und Erfolgswirkungen hin beurteilen. Das Verfahren der Selbstevaluierung liegt im Ermessen des Aufsichtsrats; er muss selbst entscheiden, was für ihn zweckmäßig ist.439) Es genügt eine informelle Prüfung in Form einer Aussprache und Diskussion im Plenum, ggf. nach Befragung der Mitglieder in Form von Fragebögen und/oder Einbeziehung externer Berater.440) III.

Überwachung der Wirksamkeit des Compliance-ManagementSystems

1.

Leitlinien zur pflichtgemäßen Umsetzung

375 Es ist zunächst festzuhalten, dass den Aufsichtsrat im Rahmen seiner compliance-spezifischen Überwachungsaufgabe keine weitergehenden Pflichten treffen als bei der Überwachung der sonstigen Geschäftsführung durch den Vorstand. Insoweit kann auf die allgemeinen Ausführungen hierzu verwiesen werden (Æ § 3 Rz. 97 ff.). Zudem ist stets zu beachten, dass Aufsichtsräte nur ein Nebenamt ausüben.441) Die Anforderungen an die Überwachung des ComplianceManagements des Vorstands sowie der Compliance-Beratungspflicht gegenüber dem Vorstand dürfen daher nicht überspannt werden. Der Aufsichtsrat hat nicht die Aufgabe, das CMS im Unternehmen (teilweise) selbst zu entwickeln; das ist vielmehr allein Aufgabe des Vorstands.442) Auch kann vom Aufsichtsrat nicht verlangt werden, entscheidungsreife Alternativvorschläge zum CMS auszuarbeiten und diese dem Vorstand vorzulegen.443) 376 Nachstehend sollen Aufsichtsräten einige allgemeine Leitlinien für die Umsetzung ihrer compliance-spezifischen Überwachungspflicht an die Hand gegeben werden. Diese Leitlinien sind nicht als Checkliste zu verstehen, die der Aufsichtsrat sklavisch abarbeiten muss. Vielmehr gilt – ebenso wie für den Vorstand (Æ Rz. 17) – auch für den Aufsichtsrat, dass er seine Compliance-(Überwach___________ Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/v. Werder DCGK D.13 Rz. 5. Grunewald, NZG 2013, 841 (845). Pauthner/Ghassemi-Tabar, Rz. 1064. Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1111); Koch, § 111 Rz. 5; MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 19; GroßKomm-AktG/Hopt/Roth, § 111 AktG Rz. 25, 66. 442) U.H. Schneider, ZIP 2016, 70 (71); Lutter, in: Festschrift Hüffer, S. 617 f. 443) Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 103; Pauthner/Ghassemi-Tabar, Rz. 712.

438) 439) 440) 441)

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

ungs-)-Pflicht nicht checklistenartig erfüllen kann. Welche Maßnahmen der Aufsichtsrat im Rahmen seiner compliance-spezifischen Überwachungspflicht ergreifen, insbesondere welche Informationsinstrumente er in Anspruch nehmen und wie detailliert er prüfen muss, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls, vor allem der Risikolage der Gesellschaft ab. Da jedes Unternehmen individuelle compliance-relevante Merkmale und Risiken aufweist, bedürfen die Leitlinien daher stets der unternehmensspezifischen Übersetzung, Anpassung und ggf. Ergänzung. 1) Zur Erfüllung ihrer compliance-spezifischen Überwachungsaufgabe ist es 377 sinnvoll, dass Aufsichtsratsmitglieder zumindest die Grundzüge von Compliance-Management-Systemen und die entsprechenden Organisationspflichten des Vorstands kennen und verstehen (dazu Æ Rz. 109 bis 354). 2) Insbesondere neue Aufsichtsratsmitglieder sollten sich zunächst ein Bild von 378 der konkreten CMS-Organisation im Unternehmen verschaffen. Erste und wichtigste Informationsquelle ist hierbei die CMS-Dokumentation, die jedenfalls in größeren Unternehmen oder bei komplexeren Risikoprofilen durch die interne Revision, das Compliance Office und/oder durch unabhängige externe Berater erstellt sein sollte. Die CMS-Dokumentation enthält eine überblicksartige Gesamtdarstellung aller wesentlichen Teile und Prozesse des CMS (zur CMS-Dokumentation Æ Rz. 55 ff.). 3) Es ist nicht Aufgabe des Aufsichtsrats, vertieft in die einzelnen vom Unter- 379 nehmen getätigten Geschäfte und deren Abwicklung einzusteigen, um selbst eventuelle Risiken und/oder Verstöße (rechtzeitig) zu identifizieren. Im Rahmen ihrer Überwachungspflicht sollten sich Aufsichtsratsmitglieder jedoch mit dem Gegenstand, der Organisation einschließlich der jeweiligen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, den unternehmerischen Zielen, den operativen Abläufen sowie den allgemeinen Vorgaben für Geschäftsabläufe vertraut machen. Sie sollten einschätzen und kritisch hinterfragen können, ob hier Compliance-Risiken entstehen können, und, sofern dies der Fall sein sollte, den Vorstand zum eingehenden Prüfen und Abstellen der Risiken anhalten.444) 4) Es ist nicht erforderlich, dass der Aufsichtsrat sich mit jedem Compliance- 380 Verstoß im Unternehmen unabhängig von dessen Bedeutung genauestens befasst.445) Der Aufsichtsrat sollte vom Vorstand einfordern, dass ihm über (relevante) Compliance-Verstöße im Unternehmen und daraus gezogenen personellen wie organisatorischen und verfahrensmäßigen Konsequenzen rechtzeitig und ausführlich berichtet wird. Auf dieser Grundlage sollte sich ___________ 444) Hohmann-Dennhardt, Der Aufsichtsrat 10/2017, 145 f. 445) Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (245); Henssler/Strohn/Henssler § 111 AktG Rz. 8; MünchKommKoAktG/Habersack, § 111 AktG Rz. 19.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

der Aufsichtsrat selbst ein Meinungsbild über die mögliche Ursache der Verstöße bilden und hieraus Schlüsse ziehen, ob weitere Compliance-Bemühungen erforderlich sind. 381 5) Die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats bezieht sich nur auf die Führung der Geschäfte durch den Vorstand. In diesem Rahmen ist der Aufsichtsrat zwar verpflichtet, das Tun oder Unterlassen des Vorstands in Bezug auf wesentliche Vorgänge und Entwicklungen auf den nachgeordneten Ebenen des Unternehmens zu überwachen. Eine unmittelbare Kontrolle der Tätigkeit von (leitenden446)) Mitarbeitern unterhalb der Vorstandsebene ist nach der hier vertretenen Auffassung von der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats allerdings nicht umfasst.447) Nur bei entsprechendem Anlass hat er zu prüfen, ob der Vorstand die nachgeordneten Ebenen in angemessener Weise überwacht. Zur Wahrnehmung seiner Aufgabe der CMS-Überwachung ist es darüber hinaus sinnvoll und empfiehlt sich, dass der Aufsichtsrat etwaige Berichte und Informationen des CCO an den Vorstand sowie Protokolle und andere sitzungsrelevante Schriftstücke der Mitglieder des Compliance Committees (Æ Rz. 172) erhält. Entsprechende Informationsflüsse bilden sich in der Praxis bei vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsrat und Vorstand heraus und/oder können in einer Informationsordnung geregelt werden. 382 6) Vom Vorstand eingerichtete CMS-Elemente sind nur dann angemessen, wenn sie effektiv im Hinblick auf die wirksam festgestellten und bewerteten individuellen Compliance-Risiken im Unternehmen sind. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Risikoanalyse (Æ Rz. 109 ff.) als Grundvoraussetzung eines wirksamen CMS sollte sich der Aufsichtsrat in regelmäßigen Abständen die Ergebnisse der Risikoanalyse vorlegen und sich berichten lassen, welche Risiken gerade virulent sind und welche Compliance-Verstöße in der abgelaufenen Berichtsperiode zu verzeichnen waren. 383 7) Auf der Grundlage der Ergebnisse der Risikoanalyse sollte der Aufsichtsrat kritisch überprüfen, ob seines Erachtens der Vorstand adäquate Maßnahmen zur Steuerung der unternehmensindividuellen Risiken konzipiert hat (dazu Æ Rz. 156 ff.) und wo eventuell Defizite zu erkennen sind. Ein besonderes ___________ 446) Das gilt auch dann, wenn es sich beim leitenden Angestellten um den Leiter einer Sparte bzw. eines Geschäftsbereichs des Unternehmens mit wesentlichen Kompetenzen handelt (häufig als Bereichsvorstand bezeichnet), der aber nicht dem Vorstand im gesellschaftsrechtlichen Sinne angehört (MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 31). 447) So auch U.H. Schneider, ZIP 2016, 70 (71); Lutter, in: Festschrift Hüffer, S. 617 f.; MünchHdb GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 31; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 70 f.; Fleischer/Pentz, § 16 Rz. 29 (differenzierend bei Geschäftsbereichsleitern, die Geschäftsführungs- bzw. wichtige Einzelmaßnahmen wahrnehmen); vgl. auch BeckOGK-AktG/ Fleischer, § 111 Rz. 7 ff.; a. A. Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 36; Koch, § 111 Rz. 4 weist zu Recht darauf hin, dass der Streit kaum praktische Bedeutung hat.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

Augenmerk sollte der Aufsichtsrat darauf richten, ob im Unternehmen hinreichende Hinweisgebersysteme (Æ Rz. 126 ff.) zur Risikoidentifikation eingerichtet sind. Ferner sollte der Aufsichtsrat die internen Regularien (Æ Rz. 177 ff.) im Hinblick darauf überprüfen, ob diese nach seiner Auffassung geeignet sind, das Verhalten der Unternehmensangehörigen und relevante Prozesse als Grundursachen der individuellen Compliance-Risiken positiv zu beeinflussen. 8) Da es sich beim Aufsichtsrat um ein Kollegialorgan handelt, welches nur spo- 384 radisch tagt, bietet sich die Bildung eines Prüfungs- oder Compliance-Ausschusses an (Æ Rz. 411 f.), der sich im kleinen Kreis intensiver mit den compliance-relevanten Sachverhalten befasst und ggf. auch regelmäßig mit einzelnen Vorstandsmitgliedern (oder einem ggf. vorhandenen Vorstand Recht und Compliance) austauscht (vgl. auch Empf. D.2 und D.3 DCGK). Bei einer Gesellschaft, die Unternehmen von öffentlichem Interesse ist, sieht § 107 Abs. 4 Satz 1 AktG die Bildung eines Prüfungsausschusses zwingend vor. 9) Zudem soll der Aufsichtsratsvorsitzende gem. Empf. D.5 DCGK 2022 zwi- 385 schen den Sitzungen mit dem Vorstand, insbesondere mit dem Vorsitzenden bzw. Sprecher des Vorstands, regelmäßig Kontakt hält und mit ihm u. a. Fragen der Risikolage, des Risikomanagements und der Compliance des Unternehmens berät. Hierbei hat der Aufsichtsrat künftige (Compliance-)Vorhaben des Vorstands nicht nur auf ihre Rechtmäßigkeit, sondern auch auf ihre Plausibilität hin zu würdigen. Ohnehin gehört zur Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats nicht allein die Beanstandung festgestellter Mängel des CMS, sondern gleichermaßen die Beratung des Vorstands448) in Compliance-Fragen. Auch Grds. 13 DCGK 2022 geht daher folgerichtig von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat zum Wohle der Gesellschaft aus. Gleichwohl ist zu beachten, dass der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Überwachungs- und Beratungsfunktion kein Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand hat.449) Ist der Aufsichtsrat aufgrund eigener Kenntnisse und Erfahrungen der Auffassung, dass ein anderes Vorgehen zweckmäßiger ist, so kann und sollte er im Wege dokumentierter Anregungen seine Bedenken darlegen und versuchen, die aus seiner Sicht gebotenen Veränderungen des CMS durch den Vorstand bewirken zu lassen. 10) Im Rahmen der Erörterung möglicher Verbesserungen des CMS können 386 auch andere Unternehmensangehörige eingebunden werden. So empfiehlt es sich beispielsweise, dass der Aufsichtsrat in regelmäßigen Abständen ___________ 448) BGH, Urt. v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, ZIP 1991 653; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 12 und 50; Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 237. 449) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 32; MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 11.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

(z. B. jährlich) zu einer Strategieklausur mit dem Vorstand, dem CCO und/ oder General Counsel, leitenden Mitarbeitern aus den Bereichen IKS (Internes Kontrollsystem) und QMS (Qualitätsmanagement-System) und/oder sonstigen Führungskräften aus den risikobehafteten Unternehmenseinheiten einlädt zwecks Erörterung der bestehenden Risikosteuerungs- und -kontrollmaßnahmen, ihrer möglichen Optimierung sowie der Verzahnung zwischen dem CMS, dem IKS und dem QMS zwecks Vermeidung von Redundanzen, Insellösungen und Überlappungen.450) 2.

Anforderungen an die Überwachung

a)

Allgemeiner Sorgfaltsmaßstab der Aufsichtsratsmitglieder

387 Für die allgemeine Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder (dazu Æ § 3 Rz. 260 ff.) gelten die für Vorstandsmitglieder geltenden gesetzlichen Vorgaben sinngemäß (§§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG). Das bedeutet, die Aufsichtsratsmitglieder haben bei ihrer Tätigkeit die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Überwachers anzuwenden, wobei dieser typisierte Sorgfaltsmaßstab grundsätzlich für alle Aufsichtsratsmitglieder gilt, seien es Anteilseigner- oder Arbeitnehmervertreter. Leitlinie des Handelns der Aufsichtsratsmitglieder ist – wie auch Grds. 20 DCGK 2022 betont – stets das Unternehmensinteresse (Æ § 3 Rz. 263). Dies verlangt vom Aufsichtsrat ein konstruktives Zusammenwirken mit dem Vorstand, welches dazu beiträgt, dass auch dieser seine Pflichten bestmöglich zum Wohle des Unternehmens erfüllen kann.451) 388 Ein Aufsichtsratsmitglied muss diejenigen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen oder sich aneignen, die es braucht, um alle typischerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können.452) 389 Wie bereits erwähnt, sollten sich Aufsichtsratsmitglieder zwecks ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Compliance-Überwachungspflicht nicht nur mit den Hauptelementen eines CMS (Æ Rz. 377), sondern auch mit der konkreten Compliance-Organisation im Unternehmen (Æ Rz. 378) vertraut machen. Es kann jedoch nicht erwartet werden, dass jedes Aufsichtsratsmitglied compliancespezifische Spezialkenntnisse besitzt und jede sich im Rahmen der ComplianceÜberwachung stellende Frage selbst abschließend beurteilen kann. Bei fehlender Sachkunde oder unklarer Rechtslage ist der Aufsichtsrat daher gehalten, sich von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten zu lassen und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen ___________ 450) Vgl. Hohmann-Dennhardt, Der Aufsichtsrat 10/2017, 145 f. 451) Kordt, S. 139. 452) BGH, Urt. v. 15.11.1982 – II ZR 27/82, AG 1983, 133 = NJW 1983, 991.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

Plausibilitätskontrolle zu unterziehen453) (zur Hinzuziehung externer Berater Æ Rz. 408 f. und Æ § 3 Rz. 46). Darüber hinaus gewährt das Gesetz dem Aufsichtsrat unter bestimmten Vor- 390 aussetzungen die Befugnis zur Mandatierung externer Sachverständiger zur Beratung einzelner Gegenstände in den Aufsichtsratssitzungen (§ 109 Abs. 1 Satz 2 AktG) oder Übernahme bestimmter Aufgaben im Rahmen des Einsichtsund Prüfungsrechts, § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG (dazu Æ § 3 Rz. 132). Über § 116 Satz 1 AktG ist zwar grundsätzlich auch die BJR auf Aufsichtsrats- 391 mitglieder anzuwenden (Æ § 3 Rz. 284 f.). Die praktische Bedeutung ist im hier interessierenden compliance-relevanten Bereich jedoch gering. Denn der Schutz der BJR gilt nicht für die rein rückschauende Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats, da es sich hierbei nicht um unternehmerische Entscheidungen i. S. d. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG handelt und der Anwendungsbereich der BJR somit nicht eröffnet ist.454) Der Aufsichtsrat hat also im Rahmen seiner rückschauenden Überwachungstätigkeit zwar das dem Vorstand bei seiner Compliance-Organisation zustehende Ermessen nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (dazu Æ Rz. 76 ff.) zu berücksichtigen, er selbst kann hierbei aber keinen Ermessensspielraum in Anspruch nehmen. Ein Ermessensspielraum nach der BJR steht dem Aufsichtsrat hingegen bei der Ausübung von Zustimmungsvorbehalten nach § 111 Abs. 5 Satz 2 AktG zu, da es hier um die Beurteilung zukünftiger Maßnahmen des Vorstands geht (ausführlich zu Zustimmungsvorbehalten Æ § 3 Rz. 136 ff.). b)

Überwachungsmaßstäbe

Der Aufsichtsrat hat die Compliance-Organisationspflichten des Vorstands 392 (Æ Rz. 8) hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu überprüfen (ausführlich zu diesen Überwachungsmaßstäben § 3 Æ Rz. 108 ff.).455) c)

Überwachungsintensität

Die Intensität der Überwachung durch den Aufsichtsrat richtet sich nach der 393 Risikolage des Unternehmens.456) Eine laufende Überwachung der compliancerelevanten Tätigkeit des Vorstands in allen Einzelheiten kann nicht verlangt

___________ 453) Vgl. BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 51 f. 454) Koch, § 116 Rz. 5; MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 42; Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 7 Rz. 205. 455) Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (187); Kordt, S. 140 ff.; Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 721 ff. 456) LG München I, Urt. v. 31.5.2007 – 5 HK O 11977/06, ZIP 2008, 2418; Winter, in: Festschrift Hüffer, S. 1103 (1110).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

werden und wäre dem Aufsichtsrat auch nicht gestattet.457) Im Grundsatz anerkannt ist folgende Abstufung der Überwachungsintensität458): 394 Im Normalfall genügt der Aufsichtsrat seiner Überwachungspflicht, wenn er die Berichte des Vorstands sorgfältig prüft, diese mit dem Vorstand erörtert und den Vorstand ggf. mit Gegenvorstellungen konfrontiert (Æ § 3 Rz. 170 f.). Freilich muss der Aufsichtsrat darauf achten, dass der Vorstand seiner Berichtspflicht nach § 90 AktG vollständig nachkommt bzw. die Berichte den gesetzlichen Mindestanforderungen entsprechen (Æ § 3 Rz. 121 f.). 395 Befindet sich die Gesellschaft in einer besonderen Gefährdungslage oder bestehen Anhaltspunkte für ein sorgfaltswidriges Handeln des Vorstands, hat der Aufsichtsrat seine Überwachungstätigkeit zu intensivieren459) (Æ § 3 Rz. 172). Er muss dann zur Aufklärung des möglichen sorgfaltswidrigen Verhaltens des Vorstands zusätzliche Berichte anfordern (Æ § 3 Rz. 120), seine Einsichtsrechte wahrnehmen (Æ § 3 Rz. 125 f.) und sich ggf. in Sondersitzungen mit dem Sachverhalt und den potentiellen Risiken befassen. 396 Bei Erhärtung des Verdachts sorgfalts- oder pflichtwidrigen Verhaltens des Vorstands oder in einer Krisensituation mit hohem Schadenspotential muss der Aufsichtsrat alle ihm nach §§ 90 Abs. 3, 111 Abs. 2 AktG zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpfen,460) die Sach- und Rechtslage – ggf. unter Einschaltung externer Berater – analysieren und die erforderlichen Maßnahmen treffen, um auf ein recht- und zweckmäßiges Handeln des Vorstands hinzuwirken. 3.

Informationsinstrumente des Aufsichtsrats

397 Dem Aufsichtsrat stehen verschiedene Informationsinstrumente zur Wahrnehmung seiner Überwachungstätigkeit zur Verfügung, nämlich das Recht, Berichte des Vorstands anzufordern (Æ Rz. 398 f.), Einsichts- und Prüfungsrechte bzw. Fragerechte (Æ Rz. 402 ff.), das Recht zur Beauftragung externer Sachverständiger (Æ Rz. 408) sowie das Recht zur Bildung von Ausschüssen (Æ Rz. 411 f.). Ein Recht zur Direktbefragung von Mitarbeitern besteht nach der hier vertretenen Auffassung hingegen nicht (Æ Rz. 416 ff.). a)

Berichterstattung des Vorstands

398 Die wichtigste Informationsquelle und damit die zentrale Grundlage für die Überwachung durch den Aufsichtsrat bilden die Vorstandsberichte. Den Vor___________ 457) 458) 459) 460)

Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (245); Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 13. Vgl. dazu: Koch, § 111 Rz. 15; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 55 ff. OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, AG 2012, 762. BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, Rz. 15, ZIP 2009, 860.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

stand trifft gemäß § 90 AktG die grundlegende und zwingende Pflicht zur Berichterstattung an den Aufsichtsrat (ausführlich dazu Æ § 3 Rz. 112 ff.). Der Vorstand hat dem Aufsichtsrat hierbei auch über den Stand und die Ent- 399 wicklungen der Compliance-Aktivitäten zu berichten. Die Berichte des Vorstands zu CMS-Maßnahmen, -Prozessen und -Instrumenten müssen grundsätzlich in nachvollziehbarer Weise die Wirksamkeit des CMS im Hinblick auf die für die Periode identifizierten und bewerteten Compliance-Risiken erkennen lassen. Der Bericht zur Risikoanalyse (Æ Rz. 109 ff.) selbst muss z. B. die zur Risikoidentifikation verwendeten Informationskanäle und deren jeweilige wirksame Gestaltung erkennen lassen. Zudem muss deutlich werden, anhand welcher Kriterien und Verfahren – etwa Risiko-Workshops (Æ Rz. 135 f.) – die Risikobewertung und -priorisierung erfolgte. Schließlich muss insbesondere bei den am höchsten bewerteten Top-Risiken herausgearbeitet werden, anhand welcher Maßnahmenbündel wirksame Risikosteuerungsmaßnahen erfolgten. Der Vorstand muss den Aufsichtsrat umfassend und rechtzeitig informieren. 400 Er kann sich nicht auf seine Verschwiegenheitspflicht nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG berufen. Vielmehr ist der Vorstand dem Aufsichtsrat zu uneingeschränkter Offenheit verpflichtet.461) Korrespondierend mit der Informationspflicht des Vorstands steht dem Auf- 401 sichtsrat ein Recht auf Information zu. Es handelt sich um ein pflichtgebundenes Recht, von dem der Aufsichtsrat im Sinne einer effektiven Überwachung Gebrauch zu machen hat.462) Macht der Aufsichtsrat trotz des Verdachts von Unregelmäßigkeiten von seinen Informationsrechten keinen Gebrauch, handelt er sorgfaltswidrig.463) Aufsichtsräte können sich daher ihrer Überwachungspflicht und damit einer möglichen Haftung (dazu Æ Rz. 454 ff.) nicht mit dem Hinweis auf unzureichende Information durch den Vorstand entziehen.464) Sie haben vielmehr selbst darauf hinzuwirken, dass sie angemessen informiert werden (vgl. auch Grds. 15 Satz 2 DCGK), beispielsweise indem sie zusätzliche Berichte vom Vorstand anfordern (sog. Anforderungsberichte, dazu Æ § 3 Rz. 120). b)

Recht auf Einsichtnahme und Prüfung sowie Fragerechte

Gemäß § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG kann der Aufsichtsrat „die Bücher und Schrif- 402 ten der Gesellschaft sowie die Vermögensgegenstände, namentlich die Gesellschaftskasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren, einsehen und prüfen“ (dazu ___________ 461) v. Schenck, NZG 2002, 64 (65); Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 93 Rz. 79; MünchKommAktG/ Spindler, § 90 Rz. 54; Koch, § 90 Rz. 3. 462) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 58; vgl. auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 40. 463) BGH, Urt. v. 11.12.2006 – II ZR 243/05 (Rz. 9), ZIP 2007, 224 = AG 2007, 167; OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, AG 2015, 434. 464) MünchkommAktG/Habersack, § 111 Rz. 58.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

ausführlich Æ § 3 Rz. 125 ff.). Für eine wirkungsvolle CMS-Überwachung durch den Aufsichtsrat ist dieses Einsichts- und Prüfungsrecht eine unverzichtbare Ergänzung des Rechts auf Berichterstattung. Die in § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG erfolgende Aufzählung der Gegenstände, die eingesehen und geprüft werden können, hat lediglich exemplarischen Charakter. Das Einsicht- und Prüfungsrecht umfasst grundsätzlich alle körperlich oder in elektronischer Form verfügbaren Unterlagen und Datenbestände des Unternehmens.465) 403 Eine Einschränkung des Einsichtsrechts des Aufsichtsrats gilt für Vorstandsprotokolle. Diese dürfen nur dann eingesehen werden, wenn der Aufsichtsrat hierfür einen konkreten Prüfungsanlass (z. B. konkrete Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung des Vorstands) anführen kann (Æ § 3 Rz. 126). Eine generelle Anordnung, dass die Protokolle der Vorstandssitzungen dem Aufsichtsrat oder einem Aufsichtsratsausschuss auszuhändigen sind, ist unzulässig.466) 404 Der Aufsichtsrat hat zur Ausübung seines Einsichts- und Prüfungsrechts Zutritt zu allen Geschäftsräumen des Unternehmens, egal, zu welchem Zweck die Räume vom Unternehmen genutzt werden.467) 405 Im Konzern schließt das Einsichtsrecht des Aufsichtsrats der Muttergesellschaft (nur) Unterlagen der Tochtergesellschaften ein, die sich im Besitz der Mutter befinden. Darüber hinaus hat der Aufsichtsrat der Obergesellschaft keine Einsichtsrechte in die Unterlagen von Konzerngesellschaften nach § 111 Abs. 2 AktG und auch keine unmittelbaren Informationsrechte nach § 90 AktG. Eine wirksame CMS-Überwachung durch den Aufsichtsrat der Konzernmutter setzt jedoch Einblicke in die Compliance-Organisation des Konzerns, insbesondere den Aufbau eines konzernweit einheitlichen Risikomanagements und Berichtssystems, voraus. Benötigt der Aufsichtsrat zu diesem Zweck Unterlagen der Tochtergesellschaften, kann er diese beim Vorstand der Muttergesellschaft anfordern. Der Vorstand ist zur Kooperation verpflichtet und hat im Rahmen der ihm zustehenden Möglichkeiten die Unterlagen der Konzerngesellschaften zu beschaffen und dem Aufsichtsrat so das Einsichts- und Prüfungsrecht zu ermöglichen.468) 406 Das Einsichts- und Prüfungsrecht des Aufsichtsrats umfasst auch das Recht, den Vorstand zu befragen oder um Stellungnahmen zu bitten, die im Zusammenhang mit der zu prüfenden Angelegenheit stehen.469) Der Vorstand muss ent___________ 465) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 53; Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 15a; vgl. zu den einzelnen Dokumentenarten, die im Rahmen der Compliance-Überwachung relevant werden können Pauthner/Ghassemi-Tabar, Rz. 823. 466) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 111 Rz. 53. 467) BeckOGK-AktG/Spindler, § 111 Rz. 47. 468) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 50; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 75 f. 469) MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 76; vgl. zum Fragerecht auch BeckOGK-AktG/ Spindler, § 111 Rz. 111 Rz. 41 f.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

sprechende Fragen beantworten. Er kann einen oder mehrere Mitarbeiter – etwa den CCO – beauftragen, die Fragen zu beantworten, trägt jedoch die Verantwortung für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Antworten. Das Gremium kann die Durchführung der Einsichtnahme und Prüfung im Ein- 407 zelfall auf einen Ausschuss oder gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG auf einzelne Aufsichtsratsmitglieder oder auf externe Sachverständige (z. B. Rechtsanwälte oder Wirtschaftsprüfer) übertragen (Æ § 3 Rz. 131 f.). c)

Mandatierung von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern

Von der Beauftragung eines externen Sachverständigen zur Durchführung des 408 Einsichts- und Prüfungsrechts nach § 111 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 407) zu unterscheiden, ist die sonstige Hinzuziehung von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Beratern. Der Aufsichtsrat kann sich im Rahmen der ordnungsgemäßen Wahrnehmung seiner gesetzlichen Überwachungsaufgabe aber auch von externer Seite sachkundig beraten lassen, wenn dies im Einzelfall geboten erscheint, insbesondere, weil dem Aufsichtsrat selbst die erforderliche Sachkunde fehlt (Æ § 3 Rz. 46). Externe Berater dürfen nicht zur ständigen und umfassenden Beratung des Auf- 409 sichtsrats, sondern nur zur Klärung von Spezialfragen bzw. für konkrete und abgrenzbare Aufgaben eingeschaltet werden. Hat der Aufsichtsrat beispielsweise Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer bestimmten Maßnahme des Vorstands und reichen die eigenen Fachkenntnisse für eine Beurteilung nicht aus, so kann er dazu ein Gutachten in Auftrag geben. Über die Mandatierung eines externen Sachverständigen hat das Plenum durch 410 Beschluss zu entscheiden. Bei solchen Hilfsgeschäften, die er im Zuge der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben durchführt, ist der Aufsichtsrat zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt.470) d)

Einrichtung eines Prüfungs- und Compliance-Ausschusses

Gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG „kann“ (nicht „muss“) der Aufsichtsrat einen 411 oder mehrere Ausschüsse bilden und Aufgaben an diese delegieren (ausführlich zu Aufsichtsratsausschüssen im Allgemeinen Æ § 3 Rz. 84 ff.). Eine Delegation der allgemeinen Überwachungspflicht als solche auf Ausschüsse 412 ist allerdings nicht zulässig.471) Auf Ausschüsse übertragbar sind vielmehr nur genau definierte und abgrenzbare Überwachungsaufgaben. Daher kann der Auf-

___________ 470) MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 56; MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 159; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 112 Rz. 12; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1012 f. 471) Semler/v. Schenck/Mutter, § 107 Rz. 283; Heidel/Breuer/Fraune, § 111 Rz. 14.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

sichtsrat konkret definierte Teile seiner Compliance-Überwachung auf einen Ausschuss delegieren.472) 413 Gerade bei großen Aufsichtsräten empfiehlt es sich, bestimmte ComplianceÜberwachungsaufgaben einem kleineren und möglichst fachkundig besetzten Kreis in Form eines Ausschusses zu übertragen, der sich der Angelegenheit effizienter und intensiver widmen kann, als dies im Plenum möglich ist.473) Ob hierzu ein Compliance-Ausschuss oder ein ständiger Prüfungsausschuss eingerichtet wird, der sich mit hinreichender Zeit Compliance-Fragen annimmt, ist letztlich eine Frage des Einzelfalls und obliegt dem Ermessen des Aufsichtsrats, sofern die Bildung des Prüfungsausschusses nicht zwingend ist (vgl. § 107 Abs. 4 S. 1 AktG). 414 In jedem Fall sollte darauf geachtet werden, die übertragene Aufgabe so konkret wie möglich zu definieren. Unzulässig sind etwa Formulierungen in der Geschäftsordnung oder im Einsetzungsbeschluss, die „alle dem Aufsichtsrat obliegenden Compliance-Angelegenheiten“ oder die „Überwachung der Compliance“ pauschal auf den Prüfungs- bzw. Compliance-Ausschuss übertragen.474) 415 Dem Prüfungs- oder Compliance-Ausschuss können beispielsweise folgende Aufgaben übertragen werden: 

die Wirksamkeitsprüfung des CMS oder die Überwachung der Umsetzung einzelner CMS-Maßnahmen, z. B. der Errichtung eines Whistleblower-Systems,



die Überwachung der internen Untersuchung eines konkreten ComplianceVerstoßes oder



die Prüfung sämtlicher CMS-Fragen in den Vorstandsberichten und ggf. die Vorbereitung der Stellungnahme des Aufsichtsrats hierzu.475)

e)

Direktbefragungen von Mitarbeitern

416 Höchstrichterlich nicht entschieden und in der juristischen Fachliteratur nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, ob und inwieweit der Aufsichtsrat unmittelbare Berichterstattung durch Mitarbeiter des Unternehmens verlangen kann, ohne den Vorstand einzubinden, z. B. durch eigenständige Befragung des Chief Compliance Officer. Nur teilweise sind entsprechende Auskunftsrechte des Aufsichtsrats gegenüber Mitarbeitern ausdrücklich gesetzlich normiert (vgl. z. B. § 25d Abs. 8 Satz 7, Abs. 9 Satz 3 KWG). Außerhalb dieser branchenspe___________ 472) 473) 474) 475)

Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 37; Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (247). So auch Lutter, in: Festschrift Hüffer, S. 617 (621). So zu Recht auch v. Busekist/Keuten, CCZ 2016, 119 ff. Hingegen ist es unzulässig, die Prüfung bzw. Stellungnahme zu den Vorstandsberichten generell – und nicht nur in Bezug auf konkrete Fragen – einem Ausschuss zu übertragen (Schmidt/Lutter/Drygala, § 107 Rz. 40; MünchKommAktG/Habersack, § 107 Rz. 147).

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

zifischen Spezialregelungen geht die wohl überwiegende Meinung in der aktienrechtlichen Literatur noch davon aus, dass es dem Aufsichtsrat grundsätzlich nicht gestattet sei, über den Kopf des Vorstands hinweg unmittelbare Berichterstattung durch Angestellte des Unternehmens zu verlangen, weil der Informationsfluss über den Vorstand nicht umgangen werden darf.476) Benötigt der Aufsichtsrat zur wirkungsvollen Überwachung der Compliance-Organisationspflichten des Vorstands Informationen, die ihm nur ein bestimmter Mitarbeiter geben kann, muss das Informationsersuchen grundsätzlich über den Vorstand gestellt werden, die Befragung mithin in Gegenwart des Vorstands oder eines Vorstandsmitglieds erfolgen.477) Dieser Grundsatz gilt auch für die Teilnahme von Mitarbeitern an Aufsichts- 417 ratssitzungen. Nach § 109 Abs. 1 Satz 2 AktG können in den Aufsichtsratssitzungen Auskunftspersonen zur Beratung über einzelne Gegenstände zugezogen werden. Unter Auskunftspersonen sind neben externen Beratern auch Mitarbeiter des Unternehmens zu verstehen. Sie können jedoch grundsätzlich nur unter Vermittlung des Vorstands geladen werden.478) Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Einschaltung des Vorstands den Anhörungszweck vereiteln könnte, etwa, weil durch die Befragung des Mitarbeiters gerade ein Verdacht gegen den Vorstand bestätigt werden soll. Auch die herrschende Auffassung lässt jedoch Ausnahmen zu. So ist eine un- 418 mittelbare Befragung von Mitarbeitern durch den Aufsichtsrat ohne Kenntnis und in Abwesenheit des Vorstands zulässig, wenn 

der dringende Verdacht einer groben Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds vorliegt und keine Abhilfe durch den restlichen Vorstand möglich ist,



der Vorstand trotz Aufforderung nicht zutreffend oder vollständig berichtet oder



der Vorstand Informationen gar bewusst zurückhält.479)

In der Praxis kommt der dargestellte Meinungsstreit zum direkten Befragungs- 419 recht des Aufsichtsrats freilich selten zum Tragen, da ein regelmäßiger und direkter Kontakt des Aufsichtsrats oder einzelner Ausschüsse mit (ausgewählten) ___________ 476) Koch, § 90 Rz. 11 u. § 111 Rz. 21 m. w. N.; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 90 Rz. 52; MünchKommAktG/Spindler, § 90 Rz. 39; Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, § 90 Rz. 39; Hölters/Weber/Müller-Michaelis, § 90 Rz. 16; Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 877; vgl. zur Meinungsstand auch BeckOGK-AktG/Fleischer, § 90 Rz. 44 f.; a. A. MünchKommAktG/ Habersack, § 111 Rz. 80; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 111 Rz. 52. 477) Semler/v. Schenck/Schütz, § 111 Rz. 394. 478) BeckOGK-AktG/Spindler, § 109 Rz. 27; Koch, § 109 Rz. 5; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 109 Rz. 24; a. A. Schmidt/Lutter/Drygala, § 109 Rz. 11; MünchKommAktG/Habersack, § 109 Rz. 19. 479) Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 878; vgl. dazu auch Dreher, in: Festschrift Goette, S. 43 (48 f.).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

Mitarbeitern des Unternehmens mit Einwilligung des Vorstands üblich ist. So ist es insbesondere durchaus gängige Praxis, dass der CCO im Sinne eines Dotted-Line-Prinzips turnusmäßig unmittelbar an den Aufsichtsrat über den Status des CMS berichtet. 420 Im vorliegenden Kontext ist darüber hinaus § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG in der ab dem 1.7.2021 geltenden Fassung zu beachten, der im Zuge des FISG480) eingefügt wurde. Danach kann jedes Mitglied des Prüfungsausschusses über den Ausschussvorsitzenden unmittelbar bei den Leitern derjenigen Zentralbereiche der Gesellschaft, die in der Gesellschaft für die Aufgaben zuständig sind, die den Prüfungsausschuss nach Absatz 3 Satz 2 betreffen, Auskünfte einholen. Das Auskunftsrecht steht also jedem Mitglied des Prüfungsausschusses zu, muss nach der gesetzlichen Regelung jedoch verfahrenstechnisch über den Ausschussvorsitzenden eingeholt werden. Auf eine enumerative Aufzählung derjenigen Personen, gegenüber denen das Auskunftsrecht ausgeübt werden kann, verzichtet die Regelung bewusst. Vielmehr sollen die Zentraleinheiten der ersten Führungsebene unter dem Vorstand adressiert werden, die die in § 107 Abs. 3 Satz 2 genannten Aufgaben auf dieser Ebene zu verantworten haben. Auf die Bezeichnungen für die Positionen in den Unternehmen kommt es also nicht an, sondern auf die Funktion. Durch die Bezugnahme auf § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG wird sichergestellt, dass das Auskunftsrecht nur im Rahmen der klar umrissenen Aufgaben des PA ausgeübt werden darf. Als Adressaten eines Auskunftsverlangens sollen – so die Gesetzesbegründung – „insbesondere“ (= nicht abschließend) der Leiter des Risikomanagements und der Leiter der Internen Revision in Betracht kommen. 421 Nach dem Vorstehenden dürfte unter der Geltung des § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG daher auch das unmittelbare Einholen von Auskünften etwa beim CCO zulässig sein, wenn dem Prüfungsausschuss (auch) die Aufgabe der Überwachung der Wirksamkeit des CMS übertragen worden ist.481) 422 Mit dem unmittelbaren Auskunftsrecht nach § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG, welches sich ausdrücklich nur auf Gesellschaften mit verpflichtendem Prüfungsausschuss beschränkt, ist keine Abkehr von dem aktienrechtlichen Grundsatz verbunden, dass der Vorstand grundsätzlich der richtige Adressat für ein Auskunftsverlangen des Aufsichtsrats ist. § 107 Abs. 4 Satz 6 AktG sieht daher vor, dass der Vorstand „unverzüglich zu unterrichten“ ist, wenn der Ausschussvorsitzende Auskünfte einholt.

___________ 480) Das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität wurde am 20.5.2021 vom Bundestag verabschiedet und ist am 1.7.2021 in Kraft getreten. 481) Ghassemi-Tabar/Probst, Der Aufsichtsrat 2021, 82 (84).

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

4.

Einwirkungsmöglichkeiten auf den Vorstand

Eine wirkungsvolle CMS-Überwachung durch den Aufsichtsrat setzt nicht nur 423 voraus, dass dem Aufsichtsrat effektive Instrumente zur Informationsbeschaffung an die Hand gegeben werden (Æ Rz. 397 ff.). Der Aufsichtsrat muss auch Möglichkeiten haben, korrigierend einzugreifen bzw. auf den Vorstand einzuwirken. Zu diesem Zweck verfügt der Aufsichtsrat über folgende Möglichkeiten: a)

Stellungnahmen und Beanstandungen

Der Aufsichtsrat kann – wenn er Defizite des CMS feststellt und/oder An- 424 haltspunkte für drohendes Fehlverhalten von Vorstandsmitgliedern hat – seine Bedenken im Wege einer formalen Stellungnahme oder Beanstandung durch Aufsichtsratsbeschluss mitteilen (Æ § 3 Rz. 134). Derartige „Meinungsbeschlüsse“482) muss der Vorstand zur Kenntnis nehmen und sorgfältig erwägen. b)

Erlass einer Geschäftsordnung

Der Aufsichtsrat kann eine Geschäftsordnung für den Vorstand (dazu Æ § 1 425 Rz. 11 f.) erlassen, da ihm insoweit die primäre Erlasskompetenz zukommt (Æ § 77 Abs. 2 AktG). Eine solche bietet sich beispielsweise an, um die Berichtspflichten und den sonstigen Informationsaustausch zwischen Vorstand und Aufsichtsrat sowie sonstige Modalitäten der Zusammenarbeit (z. B. Einsichtnahme in alle Unterlagen des Compliance Committee) zu regeln. Im Zuge der DCGK Novelle 2019 wurde die an den Vorstand gerichtete Empfehlung in Ziffer 4.2.1 S. 2, sich eine Geschäftsordnung zu geben, gestrichen. Hierfür bestand nach Ansicht der Kommission aufgrund der primären Kompetenz des Aufsichtsrats für den Erlass einer Geschäftsordnung des Vorstands kein Anlass mehr.483) Eine zwingende Pflicht des Aufsichtsrats zum Erlass einer Geschäftsordnung für den Vorstand besteht nicht. c)

Zustimmungsvorbehalte

Ein wichtiges Instrument der vorbeugenden Überwachung sind Zustimmungs- 426 vorbehalte zu Gunsten des Aufsichtsrats (Æ § 3 Rz. 136 ff.). Der Aufsichtsrat kann auch unternehmensinterne Maßnahmen, insbesondere die Einführung und Änderung von CMS-Maßnahmen an seine Zustimmung binden484), wenngleich dies in der Unternehmenspraxis selten anzutreffen ist. Zustimmungsrelevante Maßnahmen können beispielsweise sein: Bestimmung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Compliance Committee (Æ Rz. 172), Auswahl und/ ___________ 482) So treffend MünchHdb. GesR IV/Hoffmann-Becking, § 29 Rz. 50. 483) Begr DCGK-E 2019, S. 19. 484) Habersack, AG 2014, 1 (4).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

oder Einstellung des CCO, Verabschiedung der periodischen ComplianceRisikostrategie des Vorstands (Æ Rz. 160 f.) oder die Festlegung und Änderung des Verfahrens der Risikoanalyse (Æ Rz. 109 ff.). d)

Abberufung

427 Der Aufsichtsrat kann gemäß § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG die Bestellung zum Vorstandsmitglied widerrufen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt (Æ § 3 Rz. 186 ff.). Relevant ist im vorliegenden Zusammenhang vor allem die Abberufung aufgrund einer groben Pflichtverletzung (§ 84 Abs. 3 Satz 2 Fall 1 AktG). Hierfür genügt nicht schon jede Pflichtverletzung, sondern erforderlich sind erhebliche Verfehlungen wie z. B. strafbare Handlungen, private Anschaffungen auf Kosten der Gesellschaft,485) bewusste Missachtung eines Zustimmungsvorbehalts aus § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG486) oder der Verstoß gegen die Pflicht zur unbedingten Offenheit gegenüber dem Aufsichtsrat487) (Æ Rz. 400). Ist eine Pflichtverletzung nicht mit hinreichender Sicherheit nachweisbar, kommt im Einzelfall auch der bloße Verdacht einer groben Pflichtverletzung als wichtiger Grund zur Abberufung in Betracht.488) Für eine zulässige Verdachtsabberufung muss es sich um einen „starken“ Verdacht handeln.489) Die hierfür erforderliche Verdachtsschwelle ist spätestens dann erreicht, wenn auch die außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrages i. S. v. § 626 BGB gerechtfertigt wäre. Das ist der Fall, wenn der Verdacht auf konkrete, objektive Tatsachen gestützt werden kann und außerdem dringend ist. Dringend ist der Verdacht, wenn eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die grobe Pflichtverletzung stattgefunden hat.490) e)

Einberufung der Hauptversammlung

428 Schließlich kann der Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 3 AktG die Hauptversammlung einberufen (Æ § 3 Rz. 165 f.). Im hier interessierenden Zusammenhang von Bedeutung ist vor allem die Einberufung der Hauptversammlung zu dem Zweck, einem Vorstandsmitglied nach § 84 Abs. 3 Satz 2 Fall 3 AktG wegen Verletzung seiner Compliance-Organisationspflichten das Vertrauen entziehen zu lassen, um es auf dieser Grundlage abzuberufen.491)

___________ 485) 486) 487) 488) 489) 490) 491)

LG München I, Urt. v. 19.2.2015 – 5 HK O 830/13, ZIP 2015, 1537. OLG Stuttgart, Hinweisbeschl. v. 28.5.2013 – 20 U 5/12, AG 2013, 599. OLG München, Urt. v. 14.3.2012 – 7 U 681/11, NJW-Spezial 2012, 496. Koch, § 84 Rz. 59; BeckOGK/Fleischer, § 84 Rz. 145. MünchKommAktG/Spindler, § 84 Rz. 131; Schmidt/Lutter/Seibt, § 84 Rz. 49a. BAG, Urt. v. 12.5.2010 – 2 AZR 587/08, NZA-RR 2011, 15. Vgl. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 136.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

IV.

Pflichten des Aufsichtsrats im Rahmen interner Untersuchungen

1.

Überwachung interner Untersuchungen

a)

Überwachungspflicht

Verdachtsfälle und erwiesene Compliance-Verstöße muss der Vorstand im Hin- 429 blick auf Ursachen, Hergang und Folgen aufklären. Ziel ist, Fehlverhalten zu beenden und wirksam zu sanktionieren sowie ähnlichem Verhalten durch Verbesserungen des CMS vorzubeugen. Den Aufsichtsrat trifft im Rahmen seiner compliance-spezifischen Überwachungsaufgabe die Pflicht, die Aufklärungsmaßnahmen des Vorstands zu überwachen und entsprechende Defizite und/oder Risiken abzuschätzen. Kommt er dieser Aufgabe nicht nach, handelt er pflichtwidrig und kann sich schadensersatzpflichtig machen (Æ Rz. 459). Grundvoraussetzung dafür ist, dass er die grundsätzlichen Schritte im Rahmen einer internen Untersuchung, die rechtlichen Rahmenbedingungen der typischen Aufklärungsmaßnahmen sowie die hierbei bestehende Pflichtenlage des Vorstands jedenfalls in Grundzügen kennt und versteht (dazu Rz. 199 ff.). Die Überwachung durch den Aufsichtsrat bezieht sich auf das Vorgehen des 430 Vorstands, nicht dasjenige nachgeordneter Ebenen. Geht es also beispielsweise um mögliche Fehler des CCO im Hinblick auf das Management des CMS, hat der Aufsichtsrat primär zu fragen, ob diese zur Kenntnis des Vorstands gelangt sind bzw. hätten gelangen müssen und ob der Vorstand entsprechend seiner Compliance-Organisationspflicht die Behebung der Defizite und ihrer Folgen veranlasst hat.492) Der Aufsichtsrat kann die Überwachung der Sachverhaltsklärung durch den Vor- 431 stand im konkreten Einzelfall auf einen ad hoc eingerichteten Sonderausschuss, auf den ständigen Prüfungsausschuss oder einen Compliance-Ausschuss delegieren (Æ Rz. 411 f.). b)

Überwachungsintensität

Wie bei der Überwachung des präventiven CMS (Æ Rz. 393 f.) gilt auch hier 432 eine abgestufte Überwachungsintensität. Das bedeutet: Die Intensität der Überwachung und Kontrolle durch den Aufsichtsrat muss der Art, Schwere und Komplexität des vermuteten oder bereits erwiesenen Compliance-Verstoßes sowie seinen möglichen Folgen für die Gesellschaft entsprechen. aa)

Normalfall

Grundsätzlich muss sich der Aufsichtsrat nicht mit jedem Compliance-Ver- 433 stoß unabhängig von dessen Bedeutung detailliert befassen. Der Aufsichtsrat sollte im Rahmen einer Informationsordnung (Æ Rz. 381) sicherstellen, dass ___________ 492) Pauthner/Ghassemi-Tabar, Der Aufsichtsrat 2017, 21.

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der Vorstand ihm und/oder dem mit Compliance-Angelegenheiten betrauten (Prüfungs-)Ausschuss (Æ Rz. 411) in periodischen Abständen sowie anlassbezogen über Verdachtsfälle mit einer bestimmten Relevanz, die mögliche Schadenshöhe sowie eines zu befürchtenden Reputationsschadens bei Bewahrheitung des Verdachts berichtet. Dies gilt vom Eingang des Hinweises bis zum Abschluss des Falls. Der Bericht sollte Aufschluss darüber geben, auf welchem Informationskanal der Verdachtsfall an den Vorstand herangetragen wurde, auf welche möglichen Gesetzes- oder Regelverstöße sich der Verdacht bezieht, auf welchen tatsächlichen Anhaltspunkten der Verdacht beruht, welche wirtschaftlichen Schäden und/oder Reputationsschäden bei Bewahrheitung des Verdachts drohen, ob bereits behördliche Ermittlungen in der Sache begonnen haben oder unmittelbar bevorstehen, wer im Unternehmen oder extern mit der Untersuchung des Verdachtsfalls beauftragt wurde und – sofern sich der Verdacht bestätigt hat – welche arbeits- oder schadensersatzrechtlichen Konsequenzen gegenüber den betroffenen Mitarbeitern gezogen worden sind und ob Schwächen des CMS identifiziert und wie sie behoben worden sind.493) 434 Bei Compliance-Verstößen geringeren Ausmaßes genügt der Aufsichtsrat seiner Überwachungspflicht, wenn er die Vorstandsberichte zu den jeweils untersuchten Compliance-Verstößen im Sinne einer Plausibilitätskontrolle im Gremium diskutiert, sorgfältig prüft und mit dem Vorstand erörtert. Ausreichend ist dies also etwa bei Compliance-Verstößen nachgeordneter Ebenen ohne mögliche Beteiligung des Vorstands, ohne mögliche Aufklärungsdefizite, ohne ein erkennbares Compliance-Organisationsverschulden des Vorstands sowie ohne potentiell gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Soweit keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Verlässlichkeit der Vorstandsberichte bestehen, muss der Aufsichtsrat in diesen Fällen keine weiteren Auskünfte einholen oder Nachforschungen anstellen. Nur wenn der Aufsichtsrat Defizite bei der Behandlung der Fälle entdeckt, hat er seine Überwachungstätigkeit zu intensivieren. bb)

Schwerwiegende Verdachtsfälle

435 Anders ist dies bei schwerwiegenden Compliance-Verstößen sowie in besonderen Risiko- oder Krisenlagen, welche die Vermögenssituation oder das Ansehen der Gesellschaft erheblich beeinträchtigen können. Anzunehmen ist dies häufig etwa beim Verdacht von Kartell-, Korruptions- oder Umweltvergehen sowie bei organisierten oder systematischen Begehungsweisen. In derartigen Lagen muss der Aufsichtsrat das wirksame Aufklären (Æ Rz. 203 ff.), Abstellen (Æ Rz. 309 f.) und Sanktionieren (Æ Rz. 312 f.) der Verstöße sowie die Behebung identifizierter Schwachstellen des CMS (Æ Rz. 316 f.) genauer prüfen als im Normalfall. Er darf sich daher nicht auf die Überprüfung der Regelund Anlassberichte des Vorstands beschränken. Vielmehr hat er unter Einsatz al___________ 493) Vgl. Hohmann-Dennhardt, Der Aufsichtsrat 2017, 145 ff.

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ler ihm zur Verfügung stehenden Informationsrechte dafür zu sorgen, dass er den relevanten Sachverhalt vollständig und richtig erfasst und sich ein eigenes Urteil dazu sowie zur Risikolage bilden. Der Aufsichtsrat sollte sich vom Vorstand vorab über alle wesentlichen geplan- 436 ten Aufklärungsschritte unterrichten sowie nach deren Umsetzung über Zwischen- und Endergebnisse hinreichend informieren lassen. Eigene Ermittlungsmaßnahmen des Aufsichtsrats, die über die ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden Instrumente – also das Recht zur Anforderung zusätzlicher Berichte (Æ Rz. 401 und § 3 Rz. 120) sowie das Einsichts-, Prüfungs- und Fragerecht (Æ Rz. 402 ff.) – hinausgehen, sind auch bei schwerwiegenden Verdachtsfällen grundsätzlich unzulässig. Als Geschäftsführungsmaßnahme liegt die Sachverhaltsaufklärung vielmehr auch hier allein in der Zuständigkeit des Vorstands (vgl. § 111 Abs. 4 AktG). 2.

Eigene Untersuchung durch den Aufsichtsrat

Nur ausnahmsweise hat der Aufsichtsrat das Recht und die Pflicht zur Durch- 437 führung eigener Ermittlungen, nämlich wenn eine mögliche Pflichtverletzung (Æ Rz. 438 ff.) oder Befangenheit (Æ Rz. 442 ff.) von Vorstandsmitgliedern im Raum steht.494) a)

Mögliche Pflichtverletzung des Vorstands

Ein Fehlverhalten des Vorstands, das eigene Aufklärungsmaßnahmen des Auf- 438 sichtsrats erfordert, kann sich auf zwei Grundkonstellationen beziehen: Verwicklungsverdachtsfälle: Dabei geht es um die eigene Verstrickung eines 439 oder mehrerer Vorstandsmitglieder – möglicherweise auch im Rahmen früherer Positionen und Funktionen – in einen vom Vorstand aufzuklärenden Verdachtsfall. Richtet sich ein im Unternehmen eingehender Verdacht gegen ein Vorstandsmitglied, muss das für Compliance zuständige Vorstandsmitglied (bzw. sofern ein solches nicht vorhanden ist, der Vorstandsvorsitzende) unverzüglich den Aufsichtsratsvorsitzenden darüber informieren. Es ist dann zunächst Sache des Aufsichtsratsvorsitzenden, wann und in welchem Umfang er das Gremium unterrichtet. Es empfiehlt sich, innerhalb des Gremiums eine generelle Regelung über Zeitpunkt und Art der Information des Gremiums durch den Vorsitzenden zu treffen. M. E. erscheint bei Verdacht eines vorstandsseitig begangenen Compliance-Pflichtverstoßes eine sofortige Unterrichtung des Gremiums durch den Aufsichtsratsvorsitzenden geboten. Denn der Aufsichtsrat muss dem Verdacht unverzüglich nachgehen und den Sachverhalt soweit eigenständig aufklären, dass er den Umfang und die Stichhaltigkeit des Vorwurfs prüfen und ___________ 494) Arnold, ZGR 2014, 76 (102); Fuhrmann, AG 2015, R328 (R329); Werner, ZWH 2014, 449 (451).

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beurteilen kann. Dabei darf er sich nicht streng auf den erhobenen Verwicklungsvorwurf beschränken, sondern muss sich ein Bild des gesamten Sachverhalts verschaffen, in den dieser eingebettet ist.495) Je mehr und je tiefer Vorstandsmitglieder in einen Sachverhalt verwickelt sein können, desto eigenständiger und intensiver muss der Aufsichtsrat untersuchen. 440 Untersuchungspflichtverletzungen: Bei potenziell nicht hinreichender Aufklärung von Verdachtsfällen durch den Vorstand muss der Aufsichtsrat die Angemessenheit der Untersuchungsmaßnahmen beurteilen. Hierfür muss er den Verdachtsgrad, das Risiko- und Schadenspotenzial bei Bewahrheitung des Verdachts, die konkret vom Vorstand veranlassten Ermittlungsmaßnahmen sowie die Verhältnismäßigkeit zwischen Verdachtsgrad, Risikopotential und Ermittlungsumfang auf hinreichender Tatsachengrundlage beurteilen.496) Regelmäßig erfordert dies weitreichende eigene Sachverhaltsaufklärungsmaßnahmen des Aufsichtsrats. 441 In beiden vorgenannten Konstellationen muss ein Pflichtenverstoß des Vorstands nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sein. Für die Pflicht eigener Untersuchungen des Aufsichtsrats genügt somit nicht die abstrakte Möglichkeit einer Beteiligung des Vorstands an Delikten oder das Vorhandensein möglicherweise erfolgreicherer Vorgehensweisen einer Untersuchung. Vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte für einen Pflichtenverstoß des Vorstands bestehen.497) b)

Befangenheit des Vorstands

442 Unterliegen die Vorstandsmitglieder im Zusammenhang mit einem Verdachtsfall mehrheitlich einem Interessenkonflikt, so dass zu befürchten ist, die betreffenden Mitglieder werden im Rahmen einer Sachverhaltsaufklärung nicht unbedingt allein die Interessen der Gesellschaft im Blick haben (ausführlich zum Begriff sowie zum Umgang mit Interessenkonflikten des Vorstands Æ § 1 Rz. 141 ff.) und eine wirksame und objektive Sachverhaltsklärung durch den Vorstand folglich nicht mehr sicher gewährleistet erscheint, muss der Aufsichtsrat eigene Aufklärungsaktivitäten entfalten, um auf sicherer Tatsachengrundlage zu einer verlässlichen Beurteilung des Verdachtsfalls und der im Unternehmensinteresse zu veranlassenden Maßnahmen zu kommen. 443 Ab welcher Schwelle ein Interessenkonflikt ein Vorstandsmitglied zur Abstandsnahme von der internen Untersuchung nötigt und ab welcher Zahl verdächtiger oder befangener Vorstandsmitglieder die Objektivität und Wirksamkeit der durch den Vorstand geführten internen Untersuchungen gefährdet ist, hängt ___________ 495) Potinecke/Gottschalk, CB 2015, 444 (447). 496) Potinecke/Gottschalk, CB 2015, 444 (448). 497) Pauthner/Ghassemi-Tabar, Der Aufsichtsrat 2017, 21 (22 f.).

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von den Umständen des Einzelfalls ab und kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Einflussfaktoren sind neben dem Anteil befangener Mitglieder beispielsweise auch die Art und Schwere des Vorwurfs und der Verdachtsgrad sowie die Angemessenheit der durch den Vorstand bislang veranlassten Ermittlungsmaßnahmen. Relevant sind ferner die Qualität, der Umfang und die Bedeutung der möglichen Verwicklung des Vorstands oder einer potenziellen Untersuchungspflichtverletzung für das Unternehmenswohl sowie die potenziellen rechtlichen, wirtschaftlichen und reputationsbezogenen Folgen. Je stärker die genannten Einflussfaktoren einer Befangenheit des Vorstands ausgeprägt sind, desto eigenständiger und umfangreicher muss der Aufsichtsrat den Sachverhalt untersuchen. Bei Befangenheit eines einzelnen Vorstandsmitglieds kann eine entsprechende 444 Ausrichtung der Untersuchung durch die übrigen Vorstandsmitglieder ausreichen, bei der das potenziell befangene Vorstandsmitglied ausgeschlossen bleibt und der Aufsichtsrat seine Überwachungsaktivitäten verstärkt. Regelmäßig empfiehlt sich hier die Beauftragung eines unabhängigen externen Sachverständigen mit der Untersuchung, der beiden Organen berichtspflichtig ist. Zudem können handhabbare Regelungen zu möglichen Interessenkollisionen von Vorstandsmitgliedern und ihrem Ausschluss von der internen Untersuchung vorab in der Investigation-Pilicy geregelt werden (Æ Rz. 224 f.). c)

Maßnahmen und Kompetenzen bei der Untersuchung

Die Entscheidung darüber, ob eine eigenständige Sachverhaltsaufklärung durch 445 den Aufsichtsrat durchgeführt wird, muss zwingend durch Beschluss des Gremiums erfolgen.498) Hingegen kann das Gremium die laufende Begleitung der Untersuchung an einen Ausschuss delegieren. Eigene Untersuchungen des Aufsichtsrats müssen, wie die des Vorstands, alle 446 relevanten und zulässigen Erkenntnisquellen berücksichtigen und den rechtlichen Anforderungen genügen. Der Aufsichtsrat sollte bei seinen eigenen Ermittlungen auf den bisherigen Untersuchungsergebnissen des Vorstands aufbauen (soweit solche vorhanden sind und nach Einschätzung des Aufsichtsrats verlässlich erscheinen) und diese vertiefen und erweitern. Bei der Sachverhaltsaufklärung kann der Aufsichtsrat – in Absprache mit dem Vorstand – auf entsprechende unternehmensinterne Ressourcen (z. B. das Compliance-Office, die Rechtsabteilung und/oder die interne Revision) zurückgreifen und diese mit der Untersuchung unter seiner Regie beauftragen. Um dem möglichen Vorwurf vorzubeugen, die Aufklärung durch den Aufsichtsrat sei nicht hinreichend neutral oder gründlich durchgeführt worden, empfiehlt sich im Regelfall die Beauftra___________ 498) Arnold, ZGR 2014, 76 (96); Fuhrmann, NZG 2016, 881 (883); Krieger/Schneider/Goslar/ Wilsing Rz. 15.24.

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gung entsprechend qualifizierter und erfahrener externer Fachkräfte (zur Beauftragung externer Berater durch den Aufsichtsrat Æ Rz. 408 f.). 447 Eine Befragung des Vorstands durch den Aufsichtsrat ist ohnehin zulässig (Æ Rz. 406). Sofern der Aufsichtsrat das Recht (und die Pflicht) zur Durchführung einer eigenen internen Untersuchung hat, weil mögliche Pflichtverstöße oder Befangenheit der Mitglieder der Unternehmensleitung im Raum stehen, ist er ausnahmsweise auch ohne Einverständnis der Unternehmensleitung zur direkten Befragung der dem Vorstand nachgeordneten Mitarbeiter befugt.499) 448 Der Aufsichtsrat ist gehalten, die nicht befangenen Mitglieder des Vorstands über relevante Untersuchungsergebnisse zu informieren, um diesen die Umsetzung der Compliance-bezogenen Steuerungs-, Organisations- und Leitungspflichten zu ermöglichen.500) Der Vorstand hat auf dieser Grundlage zu prüfen, ob über die Aufklärungsaktivitäten des Aufsichtsrats hinaus aus seiner Sicht weitere Maßnahmen erforderlich sind. 449 Sofern die Untersuchung des Aufsichtsrats im Ergebnis zu einer Bestätigung des Verdachts gegen Vorstandsmitglieder führt, hat der Aufsichtsrat zu entscheiden, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Je nach Schwere des Verstoßes ist zu prüfen, ob eine Abberufung des Vorstandsmitglieds aus wichtigem Grund (Æ Rz. 427) und/oder die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem betroffenen Vorstandsmitglied (Æ Rz. 362) angezeigt sind. Liegt eine strafbare Handlung eines Vorstandsmitglieds vor, so kann im Einzelfall eine Garantenpflicht begründet sein, zumindest faktisch auf den Vorstand einzuwirken, um den Pflichtverstoß zu verhindern501) (zur Garantenpflicht der Aufsichtsratsmitglieder Æ Rz. 470 ff.). Gegebenenfalls ist auch zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden sollte. Gleichwohl besteht nach richtiger Auffassung (abgesehen von den in § 138 StGB genannten Fällen, die hier nicht relevant sind) keine Anzeigepflicht des Aufsichtsrats (so auch Corsten/ Wackernagel Æ § 20 Rz. 37). Eine solche kommt nur als ultima ratio in Betracht, wenn der Gesellschaft ein schwerwiegender Schaden droht, der nur durch Erstattung einer Anzeige und die so eingeleiteten behördlichen Ermittlungen abgewendet werden kann.502)

___________ 499) Fuhrmann, Der Aufsichtsrat 2017, 24 f.; Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/ Block, Kapitel 2 Rz. 55 ff., insb. 59; Reichert/Ott, NZG 2014, 241 (249). 500) Pauthner/Ghassemi-Tabar, Der Aufsichtsrat 2017, 21 (23). 501) OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, ZIP 2012, 1860. 502) Arbeitshdb. Aufsichtsratsmitglieder/v. Schenck, § 7 Rz. 193; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 74.

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C. Compliance-Pflichten des Aufsichtsrats und ihre Umsetzung

d)

Überschneidung mit eigenständigen Ermittlungen des Vorstands

Wie bereits oben (Æ Rz. 211) dargestellt, geht nach der hier vertretenen Auf- 450 fassung503) die Zuständigkeit für die Sachverhaltsaufklärung auch bei Betroffenheit von Vorstandsmitgliedern zu keiner Zeit in einer den Vorstand verdrängenden Weise auf den Aufsichtsrat über. Vielmehr ist bei Verstrickung von Vorstandsmitgliedern in den Verdachtsfall (Æ Rz. 439), bei nicht hinreichender Aufklärung (Æ Rz. 440) sowie bei Befangenheit von Vorstandsmitgliedern (Æ Rz. 442 f.) der Aufsichtsrat neben dem Vorstand für die Sachverhaltsaufklärung zuständig.504) Mitunter kann es daher zu Überschneidungen der Aufklärungsmaßnahmen des 451 Vorstands und des Aufsichtsrats kommen. Beide sind verpflichtet, ihre eigenständigen Untersuchungen jeweils möglichst wirksam und effizient zu gestalten.505) Beiden Organen ist es versagt, sich von der ihm jeweils obliegenden Untersuchungs- und Prüfungspflicht mit Hinweis darauf zu befreien, dass das jeweils andere Organ bereits eine Untersuchung eingeleitet hat.506) Zugleich müssen beide Organe allein im Unternehmensinteresse handeln. Dies gebietet die Vermeidung negativer Auswirkungen von Doppelermittlungen auf Mitarbeiter und den Betriebsfrieden und die Koordination und Abstimmung der Untersuchungsmaßnahmen. Aus Sicht des Aufsichtsrats gilt es in jedem Fall, eine Gefährdung der Wirksamkeit und Objektivität der Sachverhaltsklärung, die eine zuverlässige Tatsachengrundlage unabhängiger Schlussfolgerungen zur Erfüllung seiner Überwachungsaufgabe bilden muss, zu verhindern. Zwei mögliche Varianten bestehen hier: 

Vorstand und Aufsichtsrat können sich auf die Durchführung jeweils eige- 452 ner Untersuchungen verständigen. Für den Fall, dass die Untersuchungen – wie im Regelfall – durch externe Berater durchgeführt werden, empfiehlt sich die Mandatierung verschiedener Rechtsanwalts- und/oder Wirtschaftsprüfungskanzleien, um Interessenkollisionen zu vermeiden.507)



Vorzugswürdig erscheint die Verständigung auf eine gemeinsam verant- 453 wortete Untersuchung. Mit Blick auf den die Untersuchung veranlassenden Verdacht einer Pflichtverletzung bzw. Befangenheit des Vorstands oder ein-

___________ 503) So auch Æ § 1 Rz. 290; Arnold, ZGR 2014, 76 (100 f.); Krieger/Schneider/Wilsing/Goslar, Rz. 15.12; a. A. Fuhrmann, NZG 2014, 881 (883): Danach ist bei Verdachtsmomenten gegen den Vorstand ausschließlich der Aufsichtsrat für die Durchführung der internen Untersuchung zuständig. 504) So auch Habersack, AG 2014, 1 (6); Drinhausen, ZHR 179 (2015), 226 (233); Knierim/ Rübenstahl/Tsambikakis/Potinecke/Block, Kap. 2 Rz. 40. 505) Habersack, AG 2014, 1 (6). 506) Habersack, AG 2014, 1 (6). 507) Arnold, ZGR 2014, 76 (105); Knauer, ZWH 2012, 81 (82).

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

zelner Mitglieder kommt diese Lösung freilich nur in der Form in Betracht, dass die Untersuchung vom Aufsichtsrat gesteuert wird.508) D.

Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei Compliance-Verstößen

454 Bei schuldhafter Verletzung ihrer Compliance-Überwachungspflicht droht den Aufsichtsratsmitgliedern die Verweigerung der Entlastung (Æ Rz. 455 f.), die Abberufung (Æ Rz. 457 f.), eine Schadensersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft (Æ Rz. 459 ff.) sowie im Einzelfall eine strafrechtliche Verantwortung (Æ Rz. 469 ff.). I.

Verweigerung der Entlastung

455 Dem Aufsichtsrat kann die Entlastung (§ 120 AktG) verweigert werden. Die Entlastung ist die Billigung der Überwachungstätigkeit in der vergangenen Entlastungsperiode (i. d. R. das abgelaufene Geschäftsjahr) und die Vertrauenskundgabe für die künftige Tätigkeit.509) Die Entlastung erfolgt durch Beschluss der Hauptversammlung. Verweigert wird die Entlastung regelmäßig dadurch, dass der auf Entlastung gerichtete Antrag nicht die notwendige Mehrheit der abgegebenen Stimmen (§ 133 AktG) findet. Für das betroffene Aufsichtsratsmitglied bedeutet die Verweigerung (nur) ein Misstrauensvotum, das allerdings keinerlei automatische Rechtsfolgen nach sich zieht.510) Vor allem kann ihr keine Abberufung im Wege der Auslegung entnommen werden.511) 456 Selbst wenn die Entlastung erteilt wird, liegt darin gemäß § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG kein Verzicht auf Schadensersatzansprüche der Gesellschaft. Die AG kann also nach wie vor Schadensersatzansprüche gegen die Aufsichtsratsmitglieder geltend machen (Æ § 4 Rz. 32). II.

Abberufung

457 Ein Aufsichtsratsmitglied der AG kann gemäß § 103 Abs. 1 AktG jederzeit mit einer Dreiviertelmehrheit der abgegebenen Stimmen von der Hauptversammlung abberufen werden. Das Gesetz sieht keine sachlichen Anforderungen (etwa eine Pflichtverletzung des Aufsichtsratsmitglieds) für die Abberufung vor. Ausreichend ist bereits der Entzug des Vertrauens durch die Hauptversammlung. Die Satzung der Gesellschaft kann eine andere Mehrheit und weitere Erfordernisse für die Abberufung bestimmen (§ 103 Abs. 1 Satz 3 AktG). ___________ 508) 509) 510) 511)

Habersack, AG 2014, 1 (6). Henssler/Strohn/Liebscher, § 120 AktG Rz. 2; Koch, § 120 Rz. 2 und 11. Koch, § 120 Rz. 16; MünchKommAktG/Kubis, § 120 Rz. 35 f. m. w. N. BeckOGK-AktG/Hoffmann, § 120 Rz. 36; K. Schmidt/Lutter/Spindler, Rz. 50; vgl. auch Grigoleit/Herrler, § 120 Rz. 20.

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D. Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei Compliance-Verstößen

Die wirksame Abberufung muss gegenüber dem Aufsichtsratsmitglied erklärt 458 werden und führt mit dem Zugang der Erklärung zur Beendigung des Aufsichtsratsmandats und zum Erlöschen aller damit verbundenen Rechte und Pflichten.512) Ist das Aufsichtsratsmitglied in der Hauptversammlung anwesend, ist der Zugang mit der Feststellung des Beschlussergebnisses durch den Versammlungsleiter erfolgt; dem Abwesenden ist der Beschluss mitzuteilen513) (zur Bestellung und Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern ausführlich Æ § 3 Rz. 24 ff.). III.

Schadensersatzhaftung gegenüber der Gesellschaft

Die Überwachung des Vorstands stellt die Kernaufgabe des Aufsichtsrats dar. 459 Bei einem Verstoß des Vorstands gegen seine Compliance-Organisationspflichten bzw. bei Defiziten des CMS stellt sich daher automatisch die Frage, ob der Aufsichtsrat bei sorgfältiger Ausübung seiner Compliance-Überwachungs- und Beratungspflicht das Fehlverhalten des Vorstands bzw. die Defizite des CMS rechtzeitig hätte erkennen und einschreiten können. Stellt sich heraus, dass die Aufsichtsratsmitglieder schuldhaft gegen ihre Überwachungspflicht verstoßen haben, sind sie gemäß §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 Satz 1 AktG – regelmäßig neben dem Vorstand – der Gesellschaft zum Ersatz eines dadurch verursachten Schadens verpflichtet (ausführlich zur Innenhaftung der Aufsichtsratsmitglieder Æ § 4 Rz. 1 ff.). Eine Haftung der Aufsichtsratsmitglieder aufgrund einer Verletzung ihrer compliance-spezifischen Überwachungspflicht kommt unter drei Gesichtspunkten in Betracht514): 1) War dem Aufsichtsrat die pflichtwidrige Maßnahme oder Unterlassung des 460 Vorstands positiv bekannt, so hat er seine Überwachungspflicht verletzt, wenn er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Einwirkungsmöglichkeiten (Æ Rz. 423 ff.) zweckgerecht eingesetzt hat, um gegen den Vorstand einzuschreiten. 2) Steht fest, dass der Aufsichtsrat keine positive Kenntnis vom Fehlverhalten 461 des Vorstands hatte, hat er seine Überwachungspflicht verletzt, wenn seine Unkenntnis auf Fahrlässigkeit beruht. Das ist der Fall, wenn der Aufsichtsrat nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen, d. h. –

sein Recht auf Berichterstattung (Æ Rz. 398 f.),



sein Einsichts-, Prüfungs- und Fragerecht (Æ Rz. 402 ff.) sowie



sein Recht, ggf. selbst Ermittlungen einzuleiten (Æ Rz. 437 ff.)

___________ 512) Koch, § 103 Rz. 5; MünchKommAktG/Habersack, § 103 Rz. 19; Schmidt/Lutter/Drygala, § 103 Rz. 6. 513) Hölters/Weber/Simons, § 103 Rz. 16; Semler/v. Schenck/Gasteyer, § 103 Rz. 19. 514) Pauthner/Ghassemi-Tabar Rz. 931.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

ausgeschöpft hat. Die fahrlässige Unkenntnis des Aufsichtsrats kann aber nicht nur auf einem konkreten Überwachungsversagen im Einzelfall beruhen, sondern ggf. schon in einer sorgfaltswidrigen Selbstorganisation515) (dazu Æ § 3 Rz. 49). 462 3) Verfolgt der Aufsichtsrat Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder trotz hinreichender Erfolgsaussichten und des Fehlens entgegenstehender Unternehmensinteressen nicht, so kann er seinerseits pflichtwidrig handeln (ausführlich zur Anspruchsverfolgungspflicht des Aufsichtsrats Æ § 3 Rz. 276 ff.). 463 Eine Verletzung der Überwachungspflicht durch das Organ Aufsichtsrat führt nicht automatisch zur Haftung sämtlicher Aufsichtsratsmitglieder. Vielmehr ist jedes einzelne Aufsichtsratsmitglied nur für sein eigenes Fehlverhalten verantwortlich und haftet folglich nur dann, wenn ihm eine individuelle Pflichtverletzung vorzuwerfen ist. Allerdings kann sich ein Aufsichtsratsmitglied seiner Verantwortung nicht durch „passive Mitgliedschaft“ entziehen, etwa, indem er Aufsichtsratssitzungen fernbleibt oder sich bei rechtswidrigen Beschlüssen enthält oder nur mit Nein stimmt. Alle Aufsichtsratsmitglieder sind vielmehr verpflichtet, sich aktiv in den Aufsichtsrat einzubringen.516) Jedes Aufsichtsratsmitglied hat die Pflicht, nach besten Kräften auf eine ordnungsgemäße und effektive CMS-Überwachung durch den Aufsichtsrat hinzuwirken, insbesondere rechtswidrige Beschlüsse zu verhindern, um Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. 464 Im Einzelnen trifft jedes Aufsichtsratsmitglied insbesondere die Pflicht,517) 

zu Protokoll zu geben, wenn es mit einzelnen Compliance-relevanten Beschlüssen des Aufsichtsrats nicht einverstanden ist,



den Vorstand zur ausreichenden Berichterstattung an den Aufsichtsrat anzuhalten (diese Pflicht trifft nicht nur den Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit, sondern auch das einzelne Aufsichtsratsmitglied persönlich, da ihm nach § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG ein individuelles Recht auf Berichterstattung zuerkannt ist),



Kenntnisse über unrechtmäßiges Handeln des Vorstands unverzüglich an den Aufsichtsrat weiterzugeben,



sich sorgfältig auf die Aufsichtsratssitzungen vorzubereiten, d. h., die Berichte des Vorstands zur Kenntnis zu nehmen und sich auf dieser Grundlage selbst in Sachproblematiken einzuarbeiten und so zu allen relevanten Entschei-

___________ 515) MünchHdb. GesR VII/Koch, § 30 Rz. 84. 516) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 30. 517) Vgl. dazu Hölters/Weber/Hambloch-Gesinn/Gesinn, § 116 Rz. 15; KK-AktG/Mertens/ Cahn, § 116 Rz. 11 ff.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 997 ff.; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 9; vgl. auch BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 39 ff.

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D. Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei Compliance-Verstößen

dungen ein eigenes Urteil zu bilden und regelmäßig an den Aufsichtsratssitzungen teilzunehmen, an Diskussionen zu beteiligen und auf Missstände abstellende Beschlüsse zu drängen sowie 

die Pflicht zur wechselseitigen Überwachung der anderen Aufsichtsratsmitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und unverzügliche Benachrichtigung des Aufsichtsratsvorsitzenden, sobald ein pflichtwidriges Handeln eines anderen Aufsichtsratsmitglieds bemerkt wird.518)

Die Delegation von Aufgaben an Ausschüsse oder einzelne Aufsichtsratsmit- 465 glieder wirkt sich insofern aus, dass jedes Aufsichtsratsmitglied zur Überwachung der Ausschüsse bzw. der anderen Aufsichtsratsmitglieder verpflichtet ist. Die Anforderungen an die gegenseitige Überwachung der Aufsichtsratsmitglieder dürfen freilich nicht überspannt werden. Die Aufsichtsratsmitglieder dürfen grundsätzlich darauf vertrauen, dass an Ausschüsse oder einzelne Mitglieder zulässig delegierte Aufgaben ordnungsgemäß erledigt werden.519) Ein Aufsichtsratsmitglied genügt daher in der Regel seiner Beaufsichtigungspflicht, wenn es die (schriftlichen und mündlichen) Berichte der Ausschüsse bzw. der anderen Mitglieder zumindest auf ihre Schlüssigkeit hin überprüft.520) Nur wenn es konkreten Anlass zu Zweifeln an der ordnungsgemäßen Tätigkeit der Ausschüsse oder der anderen Mitglieder hat, muss es diesen nachgehen und entweder den Aufsichtsratsvorsitzenden oder das Plenum informieren, die dann ihrerseits einzugreifen haben.521) Die Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern setzt über die beschriebene Pflicht- 466 verletzung hinaus voraus, dass der Gesellschaft ein durch die Pflichtverletzung kausal verursachter Schaden entstanden ist.522) Der zu ersetzende Schaden bemisst sich nach §§ 249 ff. BGB.523) Schließlich setzt die Haftung voraus, dass die Pflichtverletzung schuldhaft (also 467 vorsätzlich oder fahrlässig) begangen wurde (dazu Æ § 4 Rz. 15 ff.). Verschulden ist bei einem objektiv pflichtwidrigen Verhalten typischerweise gegeben. Das in Anspruch genommene Aufsichtsratsmitglied kann sich vom Verschuldensvorwurf nicht mit Hinweis auf mangelnde Kenntnisse oder Fähigkeiten entlasten. Vielmehr liegt dann jedenfalls ein Übernahmeverschulden vor,524) d. h., das Mitglied hätte das Aufsichtsratsmandat mangels hinreichender Qualifikation nicht annehmen dürfen. Jedoch kommt eine Entlastung durch Hinzuziehung ___________ Siepelt/Pütz, CCZ 2018, 78 (84). MünchHdb. GesR VII/Koch, § 30 Rz. 85. BeckOGK-AktG/Spindler, § 116 Rz. 59. Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1004. Semler/v. Schenck/v. Schenck, § 116 Rz. 533. OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, BeckRS 2012, 14126; MünchKommAktG/ Habersack, § 116 Rz. 73. 524) MünchKommAktG/Habersack, § 116 Rz. 75.

518) 519) 520) 521) 522) 523)

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

externer Sachverständigen in Betracht. Wenn der Aufsichtsrat bei fehlender eigener Sachkunde zur Klärung einer Rechtsfrage den Rat eines unabhängigen, fachlich qualifizierten Berufsträgers einholt, diesen über sämtliche für die Beurteilung erheblichen Umstände ordnungsgemäß informiert und nach eigener Plausibilitätskontrolle der ihm daraufhin erteilten Antwort dem Rat folgt, kann der Verschuldensvorwurf entfallen.525) 468 Das auf Haftung in Anspruch genommene Aufsichtsratsmitglied trägt die Beweislast dafür, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds bei der Compliance-Überwachung angewandt hat sowie dafür, dass ihn kein Verschulden trifft.526) Die Gesellschaft hat lediglich zu beweisen, dass ein Schaden eingetreten ist und dieser möglicherweise auf Tun oder Unterlassen des Aufsichtsrats beruht527) (Æ § 4 Rz. 14). IV.

Strafrechtliche Haftung

1.

Kein einheitliches Meinungsbild

469 Die Frage, ob und inwieweit Aufsichtsräte bei Wahrnehmung ihrer Überwachungsaufgabe einer strafrechtlichen Verantwortung unterliegen, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt. Auch in der Fachliteratur existiert kein einheitliches Meinungsbild.528) Aufgrund der noch weitgehend ungeklärten Rechtslage und des enormen Haftungspotenzials für die Beteiligten sollten sich Aufsichtsmitglieder, sobald sie Kenntnis vom Verdacht einer Straftat durch Organmitglieder oder sonstige Unternehmensangehörige erlangen, hinsichtlich der sie treffenden Handlungspflichten und den damit verbundenen Haftungsrisiken dringend fachmännischen Rat von einem Strafrechtsspezialisten einholen. 2.

Garantenstellung der Aufsichtsratsmitglieder

470 Es besteht im Grundsatz Einigkeit darüber, dass Aufsichtsräte eine strafrechtliche Garantenstellung i. S. d. § 13 StGB innehaben,529) mithin im Einzelfall nicht nur der aktive Verstoß, sondern auch das Unterlassen der möglichen und zumutbaren Verhinderung von Straftaten durch andere eine Strafbarkeit begründen kann (zur Garantenpflicht des Vorstands Æ Rz. 98 f.). Sofern also Auf___________ 525) BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265 = NJW 2007, 2118 m. Anm. Altmeppen; Schmidt/Lutter/Drygala, § 116 Rz. 47. 526) Henssler/Strohn/Henssler, § 116 Rz. 14. 527) OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, BeckRS 2012, 14126; Hölters/Weber/ Hambloch-Gesinn/Gesinn, § 116 Rz. 108; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 1021. 528) Vgl. dazu ausführlich: Schwerdtfeger, Strafrechtliche Pflicht der Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft zur Verhinderung von Vorstandsstraftaten, Duncker & Humbolt, 2016 (Dissertation). 529) OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44 + 45/12, ZIP 2012, 1860; BeckOGKAktG/Fleischer, § 116 Rz. 256; Hölters/Weber/Hambloch-Gesinn/Gesinn, § 116 Rz. 109; Schwerdtfeger, S. 267 f.; Graf/Jäger/Wittig/Merz, § 13 Rz. 41.

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D. Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei Compliance-Verstößen

sichtsräte im Rahmen ihrer Überwachungstätigkeit Kenntnis von strafbaren Handlungen im Unternehmen erlangen und nicht die erforderlichen Schritte einleiten, um (weiteres) Fehlverhalten zu verhindern, droht ihnen selbst eine Strafbarkeit wegen Unterlassens. Die Reichweite dieser Garantenpflicht ist weitgehend ungeklärt, zumal keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage existiert. Der Garantenpflicht unterliegen Aufsichtsräte nur im Rahmen ihrer Überwachungsfunktion. Nach der hier vertretenen Auffassung können Aufsichtsräte folglich nur Garant sein, soweit ihre Aufsichtspflicht und die ihnen in diesem Zusammenhang zustehenden rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten und Befugnisse reichen. Daraus folgt: Die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats beschränkt sich auf die wesentlichen 471 Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstands (Æ § 3 Rz. 104 f.). Eine unmittelbare Kontrollpflicht gegenüber Mitarbeitern unterhalb der Vorstands- bzw. Geschäftsführerebene besteht nach der hier vertretenen Auffassung nicht.530) Auch hat der Aufsichtsrat weder rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten, geschweige denn Weisungsbefugnisse gegenüber den Mitarbeitern, noch verfügt er über Instrumentarien zur unmittelbaren Informationsbeschaffung gegenüber diesen (Æ Rz. 416 f.). Daher erstreckt sich die Garantenpflicht des Aufsichtsrats nur auf die Verhinderung von Straftaten des Vorstands, nicht auch der Mitarbeiter.531) Erlangt der Aufsichtsrat jedoch im Rahmen seiner Überwachungstätigkeit Kenntnis von Straftaten seitens eines Mitarbeiters, muss er dies dem Vorstand mitteilen. Es ist sodann originäre Pflicht des Vorstands, gegen die betreffenden Mitarbeiter vorzugehen. Insbesondere bei schwerwiegenden Verstößen wird freilich zu fordern sein, dass der Aufsichtsrat nach getätigtem Hinweis auch kontrolliert, ob der Vorstand gegenüber dem verantwortlichen Mitarbeiter auch die erforderlichen Maßnahmen trifft.532) Eine weitere Begrenzung erfährt die Garantenstellung der Aufsichtsräte dadurch, 472 dass Aufsichtsräte ausschließlich zur Wahrung der Interessen der Gesellschaft bestellt sind. Sie sind dementsprechend (nur) Beschützergaranten der Rechtsgüter (Eigentum, Interesse der Gesellschaft an einem Geheimnisschutz etc.) der Gesellschaft. Es besteht hingegen keine Beschützergarantenstellung zugunsten der Aktionäre oder Dritter/der Allgemeinheit533) (Æ § 20 Rz. 46). Eine strafrechtliche Garantenpflicht zum Einschreiten besteht daher nur dann, wenn die Vorstandsstraftat unmittelbar die Rechtsgüter der Gesellschaft be___________ 530) So auch U.H. Schneider, ZIP 2016, 70 (71); Habersack, AG 2014, 1 (3); Bürgers, ZHR 179 (2015), 173 (187); Werner, ZWH 2014, 449; Kort, in: Festschrift Hopt, S. 983 (997); Lutter, in: Festschrift Hüffer, S. 617 f.; Lutter/Krieger/Verse, Rz. 71; a. A. GroßKomm-AktG/ Hopt/Roth, § 111 Rz. 252; vgl. auch Schmidt/Lutter/Drygala, § 111 Rz. 13. 531) Wohl a. A. Graf/Jäger/Wittig/Merz, § 13 Rz. 40. 532) Æ § 20 Rz. 38. 533) Schwerdtfeger, NZG 2017, 455 (456); Grützner/Behr, DB 2013, 561 (566); Krause, NStZ 2011, 57 (60); wohl a. A. Graf/Jäger/Wittig/Merz, § 13 Rz. 40.

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§ 16 Compliance Management System – Pflichten, Umsetzung, Haftung

trifft. Hingegen besteht keine strafrechtsbewehrte Pflicht des Aufsichtsrats, jedwede (drittschadende) Straftat des Vorstands zu verhindern. Beispiel: 473 Schädigt der Vorstand durch eine betrügerische Handlung (§ 263 StGB) einen Dritten, so haftet der Aufsichtsrat nicht als Unterlassungstäter dieses Betrugs, wenn er untätig bleibt. Anderes gilt, wenn der Aufsichtsrat selbst aktiv dem Vorstand bei seiner Handlung (z. B. durch Rat) Hilfe geleistet oder gar den Vorstand zu dessen Handeln motiviert hat. In diesem Fall verwirklicht der Aufsichtsrat keine Unterlassungsstraftat als Garant, sondern macht sich durch aktives Tun strafbar wegen Beihilfe (§ 27 StGB) oder Anstiftung (§ 26 StGB) zum Betrug. Beruht die Straftat des Vorstands auf einer Maßnahme, die unter Zustimmungsvorbehalt (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) des Aufsichtsrats stand (dazu § 3 Rz. 136 ff.) und hat der Aufsichtsrat die Maßnahme „abgesegnet“, kommt eine Mittäterschaft der Mitglieder des Aufsichtsrats in Betracht. 3.

Mögliche Strafbarkeit wegen Untreue

474 Die Überwachungspflicht der Aufsichtsräte begründet eine Vermögensfürsorgepflicht (auch: Vermögensbetreuungspflicht) i. S. d. § 266 StGB gegenüber der Gesellschaft534) (Æ § 21 Rz. 8). Aufsichtsräte haben mit anderen Worten das Vermögen der Gesellschaft zu schützen. Es handelt sich um eine besondere Ausprägung der Garantenstellung zugunsten des Gesellschaftsvermögens.535) 475 Aus dieser Vermögensfürsorgepflicht ergibt sich eine Handlungspflicht des Aufsichtsrats zur Verhinderung vermögensschädigender Pflichtverletzungen des Vorstands. Das bedeutet konkret: Erfährt der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Überwachungstätigkeit, dass der Vorstand das Vermögen der Gesellschaft durch ein pflichtwidriges Verhalten schädigt, so muss er eingreifen und das pflichtwidrige Vorstandshandeln unter Ausnutzung der ihm zur Verfügung stehenden Einwirkungsmöglichkeiten (Æ Rz. 423 ff.) abwenden. Bei Nichtabwendung der vermögensschädigenden Vorstandstat droht den Aufsichtsräten selbst eine Strafbarkeit gemäß § 266 Abs. 1 Alt. 2 StGB (Æ § 20 Rz. 39). 476 Eine strafrechtliche Haftung des Aufsichtsrats wird man allerdings nicht schon bei Nichtverhinderung jeder Pflichtverletzung des Vorstands annehmen können, die zu einem Vermögensnachteil für die Gesellschaft führt. Vielmehr gebietet die Vermögensfürsorgepflicht des Aufsichtsrats (nur) die Verhinderung gravierender Pflichtverletzungen des Vorstands.536) Einigkeit besteht insoweit, ___________ 534) BGH, Beschl. v. 26.11.2015 – 3 StR 17/15, AG 2016, 501; BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, AG 2002, 347; Fischer, § 266 StGB Rz. 106; Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis/ Mansdörfer, § 13 Rz. 28. 535) Schwerdtfeger, NZG 2017, 455 (456). 536) Fischer, § 266 StGB Rz. 106; Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis/Mansdörfer, § 13 Rz. 28; Schwerdtfeger, S. 267; vgl. auch Krause, NStZ 2011, 57 (59): Eine Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht ist nur bei solchen Verstößen gegen Überwachungspflichten anzunehmen, die evident unvertretbar sind.

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D. Risiken für Aufsichtsratsmitglieder bei Compliance-Verstößen

dass jedenfalls derjenige Aufsichtsrat untreuerelevant pflichtwidrig handelt, der es im Rahmen seiner Überwachungspflicht unterlässt, den Vorstand von Schmiergeldzahlungen, Kartellierungen oder der Einrichtung „Schwarzer Kassen“ bzw. von sonstigem gesetzeswidrigem Verhalten abzubringen.537) Zu bedenken ist, dass die Entscheidung, ob der Aufsichtsrat gegen ein bestimm- 477 tes Vorstandshandeln tätig wird oder nicht, durch Beschluss des Gremiums getroffen wird. Beschließt der Gesamtaufsichtsrat – trotz einer gravierenden, vermögensschädigenden Pflichtverletzung des Vorstands – mehrheitlich, nicht tätig zu werden, so kann keiner der Mehrheitsvotanten geltend machen, dass der Beschluss auch ohne seine Stimme zustande gekommen wäre.538) Vielmehr ist bei Gremienentscheidungen die persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit eines jeden Mitglieds gesondert zu beurteilen. Hierbei gilt, dass die Strafbarkeit eines überstimmten Aufsichtsratsmitglieds nicht bereits dadurch entfällt, dass es rechtmäßig für ein schadensverhinderndes Eingreifen des Aufsichtsrats gestimmt hat. Es wird bei Gremienentscheidungen gefordert, dass jedes Mitglied, das erkennt, dass es überstimmt werden wird, die ihm zumutbaren Anstrengungen zur Verhinderung der von ihm als rechtswidrig erkannten Gremienentscheidung unternimmt.539) Welche Maßnahmen das überstimmte Aufsichtsratsmitglied konkret ergreifen muss, um die Rechtsverletzung zu verhindern, ist noch nicht abschließend geklärt. Insbesondere hat der BGH offengelassen, ob das Aufsichtsratsmitglied als ultima ratio Strafanzeige erstatten muss, wenn es ein strafbares Verhalten des Vorstands feststellt.540) Nach hier vertretener Auffassung besteht – jenseits des § 138 StGB – keine Anzeigepflicht.541) Sieht das Aufsichtsratsmitglied keine Möglichkeiten mehr, auf die übrigen Auf- 478 sichtsratsmitglieder einzuwirken, muss es eine Amtsniederlegung vor der Beschlussfassung in Betracht ziehen, um sich aus der strafrechtlichen Haftung zu befreien. In jedem Fall sollte das Aufsichtsratsmitglied für eine deutliche schriftliche Dokumentation im Sitzungsprotokoll Sorge tragen, und zwar sowohl seiner Gegenposition als auch der unternommenen Schritte zur Überzeugung des Gremiums.542)

___________ 537) Brand/Petermann, WM 2012, 62 (64). 538) Schönke/Schröder/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff. Rz. 83a m. w. N. 539) BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, ZIP 1990, 1413 = NJW 1990, 2560; Graf/Jäger/ Wittig/Merz, § 13 Rz. 18; MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 80. 540) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, AG 2002, 347 = NJW 2002, 1585. 541) Schwerdtfeger, S. 267. 542) Krause, NStZ 2011, 57 (65).

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§ 17 Risikomanagementsystem

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Übersicht Vorbemerkung – Pflicht zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems....................................................... 1 A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand ........................................... 10 I. Begriffe.............................................. 10 1. Risikomanagementsystem ........ 10 2. Angemessenheit und Wirksamkeit ...................................... 11 a) Meinungsbild zum Kriterium der Angemessenheit .................. 12 b) Meinungsbild zum Kriterium der Wirksamkeit ........................ 14 c) Stellungnahme ........................... 16 II. Grundelemente des RMS nach dem IDW PS 981.............................. 18 Überblick .......................................... 18 1. Risikokultur ............................... 20 2. Ziele des RMS ............................ 24 3. Organisation des RMS .............. 29

4. 5. 6. 7. 8.

Risikoidentifikation .................. 33 Risikobewertung ....................... 36 Risikosteuerung......................... 41 Risikokommunikation .............. 43 Überwachung und Verbesserung des RMS ............................ 45 a) Prozessintegrierte Überwachung ..................................... 46 b) Prozessunabhängige Überwachung ..................................... 47 B. Überwachung/Prüfung des RMS ................................................. 49 I. Überwachung durch den Aufsichtsrat............................................. 49 II. Befassung mit dem RMS i. R. d. Abschlussprüfung durch den Abschlussprüfer bei börsennotierten Unternehmen................... 52 III. Beauftragung einer freiwilligen Prüfung des RMS durch einen Wirtschaftsprüfer ............................. 54

Schrifttum: Fischer/Schuck, Die Einrichtung von Corporate Governance-Systemen nach dem FISG, NZG 2021, 534; Hönsch, Mehr Augenmerk auf interne Kontroll- und Risikomanagementsysteme, Der Aufsichtsrat 07-08/2022, 109; Scheffler/Lenz/Andreas, Corporate Governance und Risikomanagement, WPg 2019, 367; Velte, Überwachung des internen Corporate Governance-Systems nach § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG durch den Prüfungsausschuss, DER KONZERN Nr. 07-08/2022, 275; Wermelt/Scheffler, Risikomanagement und Wirtschaftsprüfung – Warum ist IDW PS 981 notwendig und was kann er leisten? WPg 2017, 926; Wermelt/Scheffler/Oehlmann, Risikomanagement und Unternehmenssteuerung, Controllermagazin Sept./Okt. 2017, Ausgabe 5, S. 84.

Vorbemerkung – Pflicht zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems Am 20.5.2021 hat der Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktin- 1 tegrität (FISG) verabschiedet. Das Gesetz ist am 1.7.2021 in Kraft getreten. Das erklärte Ziel des Gesetzgebers ist die Stärkung des Vertrauens in den deut- 2 schen Finanzmarkt. Dieses Ziel soll unter anderem mit der Einführung einer gesetzlichen Pflicht zur Einrichtung eines angemessenen und wirksamen Risikomanagementsystems (RMS) erreicht werden. Vor Inkrafttreten des FISG bestand zwar für kapitalmarktorientierte Kapital- 3 gesellschaften die Pflicht, in ihrem Lagebericht die wesentlichen Merkmale des RMS im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess zu beschreiben (§ 289 Abs. 4

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§ 17 Risikomanagementsystem

HGB). Jedoch bestand – abgesehen von branchenspezifischen Sonderregelungen (z. B. § 25a Abs. 1 KWG oder § 26 Abs. 1 VAG) – nach ganz h. M.1) keine gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung eines RMS. Auch Grundsatz 4 DCGK 20202) statuierte eine solche Pflicht nicht.3) 4 Vielmehr stand es vor Inkrafttreten des FISG im pflichtgemäßen Ermessen des Vorstands, ein RMS nach den vorhandenen Bedürfnissen unter Berücksichtigung der Unternehmensstrategie, des Geschäftsumfangs und anderer wichtiger Wirtschaftlichkeits- und Effizienzgesichtspunkte einzurichten. Die Notwendigkeit der Einrichtung eines RMS musste der Vorstand gleichwohl im Rahmen seiner allgemeinen Sorgfaltspflichten prüfen. Im Übrigen wurde und wird aus § 91 Abs. 2 AktG lediglich die Pflicht zur Einrichtung eines Risikofrüherkennungssystems (RFS) abgeleitet, welches im Gegensatz zum (umfassenden) RMS nur das frühzeitige Erkennen bestandsgefährdender Entwicklungen fordert.4) 5 Im Zuge des FISG verpflichtet der neue § 91 Abs. 3 AktG die Vorstände börsennotierter Gesellschaften nunmehr ausdrücklich, „darüber hinaus ein im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessenes und wirksames“ RMS einzurichten. Mit der Formulierung „darüber hinaus“ wird auf § 91 Abs. 2 AktG und die dort enthaltene Pflicht zur Implementierung eines RFS Bezug genommen. Hieraus sowie aus der Bezugnahme der Regierungsbegründung zum FISG auf den DCGK wird klar, dass § 91 Abs. 3 AktG zur Implementierung eines umfassenden RMS im betriebswirtschaftlichen Sinne verpflichtet. 6 Für Vorstände börsennotierter Gesellschaften bedeutet dies, dass die Einrichtung eines RMS von der sie treffenden Legalitätspflicht umfasst ist mit der Folge, dass ihnen hinsichtlich des „Ob“ kein Ermessensspielraum zusteht. Nur noch hinsichtlich des „Wie“, d. h. der konkreten Ausgestaltung des RMS steht ihnen ein haftungsfreier Ermessensspielraum nach den Grundsätzen der Business Judgement Rule (BJR) zu (ausführlich zur BJR Æ § 2 Rz. 25 ff.). Für Vorstände nicht börsennotierter Gesellschaften gilt weiterhin, dass sie im Rahmen ihrer allgemeinen Sorgfaltspflichten die Notwendigkeit eines RMS überprüfen (lassen) und bei Bejahung dieser Notwendigkeit ein entsprechendes System einrichten müssen. 7 Im Rahmen ihrer Kontrollfunktion haben Aufsichtsräte börsennotierter Gesellschaften künftig auch die Implementierung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand zu überwachen. Da der neue § 107 Abs. 4 Satz 1 ___________ 1) OLG Celle OLGR 2009, 180 (181) = AG 2008, 711 (713); BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 Rz. 34; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 91 Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 91 Rz. 31; a. A.: Säcker, NJW 2008, 3313 (3315); Strieder, BB 2009, 1002 (1004). 2) DCGK in der am 16.12.2019 von der Regierungskommission beschlossenen Fassung. 3) JIG/Ghassemi-Tabar, Grundsatz 4 Rz. 6. 4) Statt aller: MünchAnwHdb. AktR/Offerhaus, § 18 Rz. 13.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand

AktG für Aufsichtsräte von Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse sind, die gesetzliche Verpflichtung zur Bildung eines Prüfungsausschusses vorsieht (Æ § 3 Rz. 89), wird jedenfalls bei diesen Gesellschaften die Überwachung durch den Prüfungsausschuss vorgenommen. Sowohl die pflichtgemäße Implementierung eines angemessenen und wirksamen 8 RMS seitens des Vorstands als auch die ordnungsgemäße Überwachung dieser Pflichterfüllung durch den Aufsichtsrat setzt voraus, dass die Betreffenden zumindest mit den Grundzügen des RMS vertraut sind. Ein – auch in der juristischen Fachliteratur5) anerkanntes – Framework zur Implementierung eines umfassenden RMS enthält der IDW Prüfungsstandard „Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfung von Risikomanagementsystemen“ (IDW PS 981).6) Da die Ausgestaltung des RMS bereits in zahlreichen Unternehmen anhand der Elemente des IDW PS 981 vorgenommen wird und sich dies in der Praxis bewährt hat, bildet die Orientierung an dem genannten Standard inzwischen die Best Practice. Nachstehend wird – anhand der Elemente des IDW PS 981 – zunächst ein kom- 9 primierter Überblick über die Implementierung eines angemessenen und wirksamen RMS aus Sicht des Vorstands gegeben (Æ Rz. 10 ff.). Sodann wird auf einige Kriterien eingegangen, die aus Sicht des Aufsichtsrats bzw. Prüfungsausschusses bei der Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des RMS relevant sind (Æ Rz. 49 ff.). A.

Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand

I.

Begriffe

1.

Risikomanagementsystem

Es existiert keine gesetzliche Definition des Begriffs RMS. In der Praxis bewährt 10 hat sich die betriebswirtschaftliche Beschreibung des Begriffs: Danach ist unter RMS „die Gesamtheit aller organisatorischen Regelungen und Maßnahmen zur Identifizierung, Bewertung, Steuerung und Kommunikation von Risiken einschließlich der Systemüberwachung“7) zu verstehen. Eine auch in der juristischen Fachliteratur8) anerkannte Konkretisierung der zentralen Grundelemente eines RMS findet sich im IDW PS 981 – siehe dazu sogleich unter Æ Rz. 18 ff.

___________ 5) Fischer/Schuck, NZG 2021, 534 (540); Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann, G4 Rz. 26 (Fn. 50). 6) IDW Prüfungsstandard: Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfung von Risikomanagementsystemen, Stand: 3.3.2017. 7) BeckOGK-Akt/Fleischer, § 91 Rz. 48; MünchKommHGB/Lange, § 289 Rz. 136; Eine detailliertere Definition findet sich im DIIR Revisionsstandard Nr. 2 Ziffer 17. 8) Statt aller: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder/Bachmann G4, Rz. 23.

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§ 17 Risikomanagementsystem

2.

Angemessenheit und Wirksamkeit

11 § 91 Abs. 3 AktG verlangt die Einrichtung eines angemessenen und wirksamen Risikomanagementsystems. Hinsichtlich der Kriterien der Wirksamkeit und Angemessenheit besteht kein einheitliches Verständnis: a)

Meinungsbild zum Kriterium der Angemessenheit

12 Nach teilweise vertretener Auffassung9) soll das Kriterium der Angemessenheit zum einen deutlich machen, dass die konkrete Ausgestaltung des RMS unter dem doppelten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit10) steht. Zum anderen soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass der Vorstand bei der konkreten Ausgestaltung des RMS über einen Ermessensspielraum verfügt. 13 Nach anderer Auffassung, die dem Verständnis des IDW PS 981 entspricht, gelten die getroffenen Maßnahmen des RMS dann als angemessen, wenn sie „mit hinreichender Sicherheit“ geeignet sind, die beabsichtigten Ziele des RMS zu erreichen. Dies schließt insbesondere die rechtzeitige Identifikation, Bewertung, Steuerung und Kommunikation der wesentlichen Risiken sowie Überwachung des Systems ein.11) b)

Meinungsbild zum Kriterium der Wirksamkeit

14 Nach der Gesetzesbegründung zum FISG ist ein RMS bereits dann wirksam, wenn es zur Aufdeckung, Steuerung und Bewältigung aller wesentlichen Risiken geeignet ist.12) 15 Nach anderer Auffassung, die dem Verständnis des IDW PS 981 entspricht, ist für die Wirksamkeit des RMS maßgeblich, dass die dokumentierten Schritte innerhalb des Risikomanagementprozesses von den Verantwortlichen im Rahmen ihrer Zuständigkeit „in einem bestimmten Zeitraum“ auch entsprechend umgesetzt bzw. eingehalten worden sind.13) Ein wirksames RMS muss grundsätzlich konzeptionell dazu geeignet sein, die wesentlichen Risiken zu erkennen, implementiert sein und von den Verantwortlichen umgesetzt werden. c)

Stellungnahme

16 Nach der hier vertretenen Auffassung sprechen die besseren Gründe für das im IDW PS 981 zugrunde gelegte Verständnis der Angemessenheit und Wirk___________ 9) 10) 11) 12)

BeckOGK-AktG/Fleischer § 91 Rz. 59. So mit Blick auf das Zumutbarkeitskriterium auch: Hüffer/Koch, § 91 Rz. 36. IDW PS 981 Tz. 27, 61. Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, S. 115; so auch BeckOGK-AktG/Fleischer § 91 Rz. 59. 13) IDW PS 981 Tz. 29; so im Hinblick auf die Wirksamkeit auch: Hüffer/Koch, § 91 Rz. 36; vgl. auch Fischer/Schuck NZG 2021, 534 (539).

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand

samkeit: Der Ermessenspielraum bei der Ausgestaltung des RMS steht dem Vorstand auch nach diesem Verständnis zu und ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen der BJR gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2, weil es sich bei der Frage des „Wie“ der Implementierung eines RMS um eine unternehmerische Entscheidung handelt. Insoweit führen die Auffassungen beim Kriterium der Angemessenheit letztlich nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der wesentliche Unterschied zwischen den verschiedenen Auffassungen ist somit 17 bei der Definition der Wirksamkeit zu finden, wobei nach der hier vertretenen Auffassung der IDW-Ansatz vorzugswürdig erscheint: Hier ist notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit des RMS, dass die implementierten Grundsätze, Verfahren und Maßnahmen (Regelungen) von den Verantwortlichen auch eingehalten werden.14) Dies wird im Rahmen von Prüfungen auch stets zumindest stichprobenartig geprüft, um mit hinreichender Sicherheit eine Aussage darüber treffen zu können, ob die Regelungen tatsächlich „gelebt“ werden und es sich nicht um eine reine „Paper Compliance“ handelt. Es dürfte u. E. unmittelbar einleuchten, dass aus der bloßen Eignung von Maßnahmen nicht auf deren Wirksamkeit geschlossen werden kann, wenn und solange nicht auch die Einhaltung der Maßnahmen sichergestellt ist. II.

Grundelemente des RMS nach dem IDW PS 981

Überblick Der IDW PS 981 beschreibt das Prüfungsvorgehen von Wirtschaftsprüfern im 18 Rahmen einer freiwilligen Beauftragung durch Unternehmen und dient u. a. Aufsichtsgremien als Instrument zur Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit von RMS. Er definiert für Zwecke der Prüfung die Grundelemente eines RMS und lehnt sich dabei an das COSO15)-Rahmenwerk zum unternehmensweiten Risikomanagement an.16) Jenseits von Prüfungszwecken nutzen zahlreiche Unternehmen in der Praxis die Grundelemente des IDW PS 981 als Referenzstruktur für die Einrichtung und Weiterentwicklung von RMS. Der Ausgestaltungsgrad der nachfolgend dargestellten Grundelemente variiert in der Praxis je nach Unternehmensgröße und -komplexität.

___________ 14) Vgl. IDW PS 981, Tz. A19. 15) COSO: Committee of Sponsoring Organizations of the Treadway Commission. 16) Vgl. IDW PS 981, Tz. 5.

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Risikobewertung • Systematische Bewertungs- und Aggregationsverfahren • Verwendung eines Verfahrens zur Einschätzung von Bedeutung und Wirkungsgrad von Steuerungsmaßnahmen zu Risiken

Risikosteuerung • Maßnahmen zur Risikosteuerung mit dem Ziel einer Risikovermeidung, Risikoreduktion, Risikoteilung bzw. -transfer sowie Risikoakzeptanz

Grundelemente des RMS

Risikoidentifikation • Regelmäßige und systematische Analyse von internen und externen Entwicklungen im Verhältnis zu den festgelegten Zielen

Organisation des RMS • Transparente und eindeutige Aufbauorganisation • Klar definierte Ablauforganisation • Erfüllung der persönlichen und fachlichen Voraussetzungen • Ausreichende Ressourcen

Ziele des RMS • Ableitung einer Risikostrategie im Einklang mit Unternehmensstrategie und -zielen • Festlegung der „Risikotragfähigkeit“ und des „Risikoappetits“ • Vorgaben zum Umgang mit Risiken (Risikopolitik)

Risikokultur • Grundlage eines RMS • Grundsätzliche Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen das Risikobewusstsein

19

Risikokommunikation • Angemessener Risikoinformationsfluss • Festlegung von Zuständigkeiten, Intervallen, Schwellenwerten, Eskalationsstufen und Berichtsformaten • Berichtsprozess zur zeitnahen Übermittlung von relevanten Risikoinformationen

Überwachung und Verbesserung des RMS • Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit durch prozessintegrierte und prozessunabhängige Kontrollen • Weiterentwicklung des RMS

Abbildung 1: Grundelemente eines RMS nach IDW PS 981

§ 17 Risikomanagementsystem

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand

1.

Risikokultur

Notwendige Voraussetzung für ein angemessenes und wirksames Risikomanage- 20 mentsystem ist ein entsprechendes Bewusstsein für den Umgang mit Risiken bei allen Unternehmensangehörigen. Nur wenn entsprechende Verhaltensweisen im Umgang mit potenziellen Risiken etabliert sind, kann gewährleistet werden, dass identifizierte Risiken auch entsprechend kommuniziert und mit angemessen Maßnahmen gesteuert werden. In der Unternehmenspraxis ist die Notwendigkeit der Etablierung einer ent- 21 sprechenden Risikokultur als kritischer Erfolgsfaktor beim Umgang mit Risikosituationen längst erkannt worden. Zur Förderung des Risikobewusstseins und zur Schaffung einer zielführenden Risikokultur dienen insbesondere ein regelmäßig zum Ausdruck gebrachter „tone from the top“ durch den Vorstand sowie ein „tone from the middle“ von den Leitern der entsprechenden Zentralfunktionen. Maßnahmen zur Förderung der Risikokultur können beispielsweise sein: 

Vorgaben des Vorstands in Form von Verhaltensgrundsätzen/CoC;



erkennbares Vorleben der gewünschten Werte und Verhaltensweisen durch den Vorstand („tone from the top“);



offene unternehmensweite Kommunikation von chancen- und risikobehafteten Entwicklungen;



Schulungs- und Informationsmaßnahmen für die Mitarbeiterschaft;



Transparenz beim Umgang mit unterschiedlichen Risiken, wie beispielsweise keine Risikotoleranz bei Diskriminierung aber angemessene Risikobereitschaft beim Einsatz innovativer Technologien;



Etablierung von Incentivierungs-Systemen zur Förderung der Risikokultur und Sanktionierung bei Fehlverhalten.

22

Schwierig gestaltet sich die Beurteilung der Wirksamkeit getroffener Maßnah- 23 men zur Steigerung des Risikobewusstseins der Mitarbeiter, da quantitative Maßstäbe hier kaum Anwendung finden. Vielmehr gilt es, durch sich wiederholende und regelmäßige Maßnahmen im täglichen Geschäft als auch bei (bedeutsamen) unternehmerischen Entscheidungen das Bewusstsein für den Umgang mit Chancen- und Risikosituationen zu schärfen.17) 2.

Ziele des RMS

Das Ziel eines Risikomanagements ist es, betroffenen Unternehmen einen struk- 24 turierten Umgang mit Risiken in dem Sinne zu ermöglichen, dass das Unter___________ 17) Vgl. IDW PS 981, Tz. A21.

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§ 17 Risikomanagementsystem

nehmen befähigt wird, Risiken möglichst frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und durch Mitigationsmaßnahmen zu steuern.18) 25 Aus den Zielen des RMS entwickelt sich eine unternehmensweit umgesetzte Risikostrategie, bei welcher insbesondere die Risikotragfähigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Die Risikotragfähigkeit ist definiert als das maximale Risikoausmaß, welches das Unternehmen ohne Gefährdung seines Fortbestands tragen kann. Diese muss im Vorfeld bestimmt werden, um eine Aussage darüber treffen zu können, ab wann Risiken einzeln oder in ihrem Zusammenwirken bestandsgefährdend sind.19) 26 In der Unternehmenspraxis wurde jedenfalls in der Vergangenheit nicht selten versäumt, eine Definition von bestandsgefährdenden Entwicklungen zu dokumentieren, weswegen im Rahmen der Jahresabschlussprüfung gemäß § 317 Abs. 4 HGB eine Beurteilung, ob der Vorstand die Maßnahmen nach § 91 Abs. 2 AktG in geeigneter Form implementiert hat, zunehmend erschwert worden ist. Dies dürfte u. a. ein Grund gewesen sein, weswegen in der Neufassung des IDW PS 340 als Grundlage für die Prüfung von RFS bei börsennotierten Unternehmen der Begriff Risikotragfähigkeit ergänzt worden ist. 27 Eine quantitative Bestimmung der Risikotragfähigkeit erfolgt dabei überwiegend auf Basis von Eigenkapital (Überschuldung) oder Liquidität (Zahlungsunfähigkeit) und wird dem Gesamtrisikoprofil des Unternehmens gegenübergestellt. 28 Zur weiteren Plausibilisierung, ob eine Bestandsgefährdung vorliegt, können zudem noch qualitative Kriterien des IDW PS 270 n. F.20) hinzugezogen werden, wie beispielsweise 

Anzeichen für den Entzug finanzieller Unterstützung durch Gläubiger,



erhebliche betriebliche Verluste, die zur Erwirtschaftung von Cashflows dienen,



Weigerung von Lieferanten weiterhin ein Zahlungsziel einzuräumen,



Ausscheiden von Führungspersonen in Schlüsselfunktionen ohne adäquaten Ersatz,



Verlust von wichtigen Absatz- und Beschaffungsmärkten,



Konflikte mit der Belegschaft,



Engpässe bei Zulieferungen oder



Markteintritt eines erfolgreichen Konkurrenten.

___________ 18) Vgl. Romeike, Risikomanagement, 2018, S. 9. 19) Vgl. IDW PS 340 n. F., Tz. 8 c. 20) IDW Prüfungsstandard: Die Beurteilung der Fortführung der Unternehmenstätigkeit im Rahmen der Abschlussprüfung, Stand: 11.7.2018.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand

3.

Organisation des RMS

Zur Organisation des RMS gehört sowohl eine klar definierte und überschnei- 29 dungsfreie Aufbauorganisation als auch eine Ablauforganisation im Kontext einer wirksamen Delegation (ausführlich zur Delegation Æ § 16 Rz. 95 ff.). Eine Zuordnung eindeutiger Rollen und Verantwortlichkeiten unter Berücksichtigung der Funktionstrennung im Rahmen des RMS bildet hierfür die Basis. Innerhalb der Aufbauorganisation hat sich neben der obligatorischen Funktion 30 des Vorstands als Steuerungsorgan und Aufsichtsrat als Überwachungsorgan des RMS die Etablierung eines Risikokomitees zur Koordination und Steuerung des RMS als Best Practice erwiesen. Für die Festlegung weiterer Zuständigkeiten ist die Anwendung des Three Lines Model in der Praxis üblich, welches beispielsweise die Interne Revision als dritte Verteidigungslinie für die prozessunabhängige Überwachung vorsieht.21) Zur Ablauforganisation gehört im Wesentlichen die Festlegung der Zustän- 31 digkeiten innerhalb des operativen Risikomanagementprozesses, welcher aus den Schritten Risikoidentifikation, -bewertung, -steuerung, -kommunikation und (prozessintegrierte) Überwachung besteht.22) Der Risikomanagementprozess ist dabei als kontinuierlicher und sich wiederholender Regelkreislauf zu verstehen.23) Es gibt in der Literatur bislang keine einheitliche Darstellung dieses Regelkreislaufs. Sowohl einzelne Phasen als auch die Reihenfolge der Schritte unterscheiden sich meist. Jedoch ist festzuhalten, dass es hierbei zu keinen wesentlichen inhaltlichen Diskrepanzen kommt und mithin Einigkeit über die zentralen Grundelemente eines RMS besteht. Ein in der Praxis oft – aufgrund von Ressourcenmangel – vernachlässigter As- 32 pekt ist, dass trotz vorhandener Strukturen eine gerichtsfeste Dokumentation der Abläufe und Verantwortlichkeiten nicht vorhanden ist. Die Grundsätze der Aufbau- und Ablauforganisation sollten idealerweise in einer Vorstandsvorlage dokumentiert und vom Vorstand formal beschlossen werden. Etwa notwendige Detailfragen mit Blick auf die Aufgabenabgrenzung und das Zusammenspiel verschiedener Fachabteilungen und Geschäftsbereiche sollten in Richtlinien bzw. Risikomanagement-Handbüchern festgelegt werden. 4.

Risikoidentifikation

Die Risikoidentifikation umfasst die frühzeitige und systematische Ermittlung 33 und Dokumentation von Risiken und Chancen, d. h. von sämtlichen Entwick-

___________ 21) Vgl. IDW PS 981, Tz. A23. 22) Vgl. Vanini/Rieg, Risikomanagement, 2. Aufl., S. 130. 23) Vgl. Scheffler/Lenz/Andreas, WPg 2019, S. 367.

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§ 17 Risikomanagementsystem

lungen und Ereignissen, die zu negativen oder positiven Abweichungen von den festgelegten Zielen des Unternehmens führen können.24) 34 Methodisch kann bei der Ermittlung von Risiken u. a. auf Fragebögen, Checklisten, Erfahrungswerte oder auch von den Zentralbereichen erstellte unternehmensspezifische Risikokataloge mit exemplarischen Risiken zurückgegriffen werden. Dadurch ist sowohl ein effizientes Vorgehen als auch gleichzeitig eine Vergleichbarkeit von Risiken gewährleistet. Die Häufigkeit der Anwendung der verschiedenen Methoden richtet sich dabei nach Volatilität einzelner Risiken sowie Risikoprofil der Gesellschaft. 35 Eine vollständige Abdeckung aller Risikobereiche erfolgt dabei auf Grundlage der gesamten Wertschöpfungskette und des jeweiligen Geschäftsmodells. Dafür ist sowohl die Perspektive der Unternehmensleitung (Top Down) – insbesondere für strategische Risiken – als auch die Analyse durch die operativ tätigen Unternehmenseinheiten (Bottom Up) empfehlenswert. Für die systematische Erfassung und Dokumentation aller für das Unternehmen als relevant erachteten Risiken hat sich in der Praxis die Erstellung eines Risikoinventars als Best Practice etabliert. 5.

Risikobewertung

36 Die identifizierten Risiken sind anschließend im Hinblick auf Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß zu bewerten. Es liegt dabei im Ermessen des Vorstands, ob qualitative25) oder quantitative26) Bewertungsmethoden angewendet werden.27) Einzig eine konsistente und für sachverständige Dritte nachvollziehbare Bewertung wird verlangt. 37 In Abhängigkeit von der verwendeten Bewertungsmethode muss eine Aussage über die aggregierte Gesamtrisikoposition des Unternehmens getroffen werden, um mit hinreichender Sicherheit ein Urteil über die Gefährdung des Fortbestands des Unternehmens treffen zu können. Bei quantitativen Bewertungsmethoden kann hier beispielsweise auf die Monte-Carlo-Simulation zurückgegriffen werden.28) 38 Bei der Monte-Carlo-Simulation handelt es sich um ein Simulationsverfahren auf Basis von Zufallszahlen. Durch die Generierung von Zufallszahlen werden ___________ 24) Vgl. IDW PS 981, Tz. 31. 25) Um eine qualitative Bewertung handelt es sich, wenn beispielsweise das Schadensausmaß auf einer Skala von 1 bis 5 oder durch niedrig, mittel, hoch bewertet wird. 26) Bei einer quantitativen Bewertung wird beispielsweise die Eintrittswahrscheinlichkeit durch die Angabe von Prozentwerten bewertet. 27) In der Unternehmenspraxis begegnet man mitunter unterschiedlichen Definitionen der Begriffe qualitativ und quantitativ. Entscheidend ist letztlich ein plausibler und systematischer Ansatz. 28) RMA Risk Management & Rating Association e. V.: Risikoquantifizierung, 6. Aufl., S. 68.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen RMS durch den Vorstand

dabei künstlich Stichproben erzeugt. Es sind mehrere tausend Simulationsläufe notwendig, um auf eine stabile Zielgröße zu kommen. Ziel ist es aus einer großen repräsentativen Stichprobe (d. h. unterschiedlichen Realisierungen von Risiken und Chancen) auf eine Grundgesamtheit (Gesamtrisikoposition) zu schließen.29) Oftmals ist in der Praxis zur Bewertung einzelner Risiken keine valide Daten- 39 basis vorhanden und Bewertungen können nur geschätzt werden. Bei sämtlichen quantitativen Verfahren zur Bestimmung der Gesamtrisikoposition ist festzuhalten, dass diese einem gewissen Modellrisiko unterliegen. Insbesondere die Monte-Carlo-Simulation bringt hier ein hohes Maß an Komplexität mit sich und ist i. d. R. eher für fortgeschrittenere RMS zu empfehlen, da hier eine entsprechende Methodenkompetenz und fundierte Interpretationen notwendig sind.30) In jedem Fall sind sämtliche Ergebnisse der Aggregation, Aussagen zur Ge- 40 samtrisikoposition und Bestandsgefährdung des Unternehmens durch den Vorstand einer Plausibilitätsprüfung beispielsweise anhand der Kriterien des PS 270 n. F.31) zu unterziehen (Æ vgl. Rz. 28). 6.

Risikosteuerung

Basierend auf den identifizierten und bewerteten Risiken trifft der Vorstand in 41 Abstimmung mit den Zentralbereichen Entscheidungen über angemessene Maßnahmen zur Risikosteuerung (Risikovermeidung, Risikoreduktion, Risikoteilung bzw. -transfer sowie Risikoakzeptanz). Die geforderte Wirkungsweise der Steuerungsmaßnahmen auf das Risiko mit 42 Blick auf Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß orientiert sich dabei maßgeblich an der Bereitschaft, Risiken einzugehen (Risikoappetit) bzw. der maximal tolerierten Abweichung von der angestrebten Zielsetzung (Risikotoleranz).32) 7.

Risikokommunikation

Die Risikoberichterstattung basiert auf aktualisierten Risikoinformationen aus 43 Risikoidentifikation, -bewertung und -steuerung. Ziel ist eine transparente Dar___________ 29) Hierbei handelt es sich um eine simplifizierte Darstellung der Idee bei der Anwendung der Monte-Carlo-Simulation. Für eine umfassendere Beschreibung verweisen wir auf: RMA, Risikoquantifizierung; Vanini/Rieg, Risikomanagement, 2. Aufl., 2021. 30) Vgl. Vanini/Rieg, Risikomanagement, S. 281. Vgl. Vanini/Rieg, Risikomanagement, 2. Aufl., 2021, S. 281. 31) IDW Prüfungsstandard: Die Beurteilung der Fortführung der Unternehmenstätigkeit im Rahmen der Abschlussprüfung; Stand: 11.7.2018. Dieser Prüfungsstandard legt dar, wie Wirtschaftsprüfer die Einschätzung der gesetzlichen Vertreter zur Fortführung der Unternehmenstätigkeit bewerten. 32) Vgl. IDW PS 981, Tz. A22.

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§ 17 Risikomanagementsystem

stellung der aktuellen Risikosituation. Auf Basis konkreter Zuständigkeiten, Berichtsfrequenzen, Schwellenwerte und Berichtsformate ist hierfür ein standardisierter Prozess einzurichten. 44 Für eilbedürftige Meldungen von akuten Risiken ist ein separater Berichtsweg zu etablieren, der es ermöglicht, über den standardisierten Prozess hinaus eine zeitnahe Übermittlung relevanter Informationen zu gewährleisten.33) 8.

Überwachung und Verbesserung des RMS

45 Bei der Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des RMS mit dem Ziel der anschließenden Verbesserung unterscheidet man zwischen der prozessintegrierten und prozessunabhängigen Überwachung. a)

Prozessintegrierte Überwachung

46 Die prozessintegrierte Überwachung kann hierbei als Bestandteil des Regelkreislaufs im Kontext des Risikomanagementprozesses aufgefasst werden (Æ Rz. 31). Dazu zählen beispielsweise Kontrollen wie das Vier-Augenprinzip durch die Prozess-Verantwortlichen, die in Richtlinien im Rahmen einer Prozessbeschreibung dokumentiert sind. Diese sind in Abhängigkeit von Komplexität und Bedeutung der jeweiligen Prozesse auszugestalten.34) b)

Prozessunabhängige Überwachung

47 Als prozessunabhängige Überwachung versteht man in der Regel die Prüfung durch die Interne Revision. Jedoch bietet sich hierfür oftmals auch eine „tatsächlich“ unabhängige Prüfung wie beispielsweise durch einen Wirtschaftsprüfer an (Æ Rz. 54 ff.). Neben einer potenziellen „Betriebsblindheit“ bei Unternehmensangehörigen, besteht zudem die Gefahr, dass gemachte Feststellungen im Rahmen der Prüfung nicht kommuniziert werden, um Mitarbeiter zu schützen. Darüber hinaus herrscht in der Praxis aufgrund von Ressourcenmangel zum Teil eine Personenidentität zwischen Leiter Interne Revision und Leiter Risikomanagement. Auch trotz der Tatsache, dass selbst das COSO eine Besetzung beider Positionen in Personalunion zumindest für begrenzte Zeit nicht ausschließt,35) ist gerade vor dem Hintergrund der Funktionstrennung und der Prozessunabhängigkeit davon abzuraten.

___________ 33) Vgl. IDW PS 981, Tz. A27. 34) Vgl. IDW PS 981 Tz. A28. 35) Vgl. COSO: Creating and Protecting Value – Understanding and Implementing Enterprise Risk Management, Stand: Januar 2020, S. 12; abrufbar unter: https://www.coso.org/ Shared%20Documents/COSO-ERM-Creating-and-Protecting-Value.pdf (letzter Aufruf 12.12.2022).

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B. Überwachung/Prüfung des RMS

Die Ergebnisse der Überwachungsmaßnahmen (insb. festgestellte Mängel im 48 RMS) sind in geeigneter Form auszuwerten und zu berichten, damit der Vorstand die erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung des RMS und zur Beseitigung von Mängeln ergreifen kann. B.

Überwachung/Prüfung des RMS

I.

Überwachung durch den Aufsichtsrat

Die Überwachung der Wirksamkeit des Risikomanagementsystems ist gemäß 49 § 107 Abs. 3 Satz 2 originäre Aufgabe des Aufsichtsrats bzw. des Prüfungsausschusses. Er hat mithin zu überwachen, ob der Vorstand seiner Pflicht nachgekommen ist, ein entsprechendes System einzurichten. Die Überwachung erstreckt sich dabei darauf, ob entsprechende Systeme installiert wurden und wenn ja, ob sie ihrer Art und Konzeption nach angemessen und wirksam sind und ob sie – jenseits einer „Paper Compliance“ – auch tatsächlich vollzogen werden, um die ihnen zugedachten Funktionen zu erfüllen.36) Um eine hinreichende Informationsgrundlage für die Überwachungstätigkeit des 50 Prüfungsausschusses zu gewährleisten, erweiterte das FISG die Auskunftsansprüche der Mitglieder des Prüfungsausschusses. Gemäß § 107 Abs. 4 Satz 4 können diese – „über den Ausschussvorsitzenden“ – unmittelbar bei den Leitern der Zentralbereiche und damit insbesondere vom Leiter Risikomanagement Informationen einholen (Æ § 16 Rz. 420). Nach richtiger Auffassung kann sich der Prüfungsausschuss bei der Wahrneh- 51 mung seiner Überwachungspflicht im Regelfall auf Berichte des Vorstands und der Internen Revision berufen.37) Es ergibt sich zwar keine Pflicht zur eigenständigen Durchführung von Prüfungshandlungen für den Prüfungsausschuss, dennoch müssen im Falle festgestellter Mängel bei den implementierten Systemen oder bei risikoreichen Unternehmensaktivitäten diese einer angemessenen Würdigung unterzogen werden. In diesen Fällen kann eine freiwillige Beauftragung zusätzlicher Prüfungshandlungen durch externe Sachverständige (z. B. durch Wirtschaftsprüfer) sinnvoll erscheinen (Æ Rz. 54 ff.). II.

Befassung mit dem RMS i. R. d. Abschlussprüfung durch den Abschlussprüfer bei börsennotierten Unternehmen

Bei börsennotierten Unternehmen findet gemäß § 317 Abs. 4 HGB eine Prüfung 52 der Maßnahmen nach § 91 Abs. 2 AktG im Rahmen der Jahresabschlussprüfung statt. Die Prüfung bezieht sich hierbei auf das sogenannte Risikofrüherkennungssystem (RFS), welches sich – im Gegensatz zum RMS – lediglich auf bestandsgefährdende Entwicklungen beschränkt. Damit ist das RFS Bestandteil ___________ 36) Hölters/Weber/Groß-Bölting/Rabe, § 107 Rz. 108. 37) Vgl. Heidel/Breuer/Fraune, § 107 Rz. 38; Velte, DER KONZERN 2022, S. 283.

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§ 17 Risikomanagementsystem

des RMS, wobei die Abgrenzung sehr theoretisch ist und eine trennscharfe Unterscheidung kaum möglich erscheint. Denn auch Einzelrisiken, die nicht bestandsgefährdend sind, können kumuliert bzw. im Zeitablauf den Fortbestand des Unternehmens gefährden. Somit müssen auch im Rahmen der Risikoidentifikation bei einem RFS Risiken berücksichtigt werden, die isoliert betrachtet unter Umständen zu keiner Bestandsgefährdung führen. 53 Die Prüfung durch die Wirtschaftsprüfer erfolgt hierbei nach Vorgaben des IDW anhand des IDW PS 340 n. F. Ziel der Prüfung ist es mit hinreichender Sicherheit beurteilen zu können, ob der Vorstand geeignete Maßnahmen eingerichtet hat, um bestandsgefährdende Entwicklungen frühzeitig zu identifizieren, zu bewerten, zu steuern und zu überwachen. Im Rahmen dieser Systemprüfung werden demnach die dem Vorstand nach § 91 Abs. 2 AktG obliegenden Maßnahmen bzgl. ihrer Eignung und Einhaltung über den gesamten zu prüfenden Zeitraum beurteilt, d. h. es wird die Angemessenheit und Wirksamkeit des RFS geprüft.38) III.

Beauftragung einer freiwilligen Prüfung des RMS durch einen Wirtschaftsprüfer

54 Die Pflicht des Prüfungsausschusses bzw. des Aufsichtsrats umfasst die Überwachung des RMS (Æ Rz. 49). Zwar können Aufsichtsratsmitglieder ihre Aufgaben nicht durch andere wahrnehmen lassen (§ 111 Abs. 6 AktG). Jedoch kann der Aufsichtsrat gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 für konkrete Einzelangelegenheiten auch besondere Sachverständige wie beispielsweise Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer beauftragen (Æ § 3 Rz. 132). 55 Um dieser Pflicht nachzukommen kann der Prüfungsausschuss bzw. der Aufsichtsrat die Ergebnisse einer freiwillig beauftragten Prüfung durch einen Wirtschaftsprüfer nach IDW PS 981 nutzen.39) Dadurch können sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat anhand eines objektivierten Nachweises durch einen unabhängigen Dritten zur ermessensfehlerfreien Implementierung eines angemessenen und wirksamen RMS belegen, dass sie ihren Sorgfaltspflichten nachgekommen sind.40) 56 Der IDW PS 981 beschreibt das Vorgehen von Wirtschaftsprüfern bei der Prüfung des RMS im Bereich operativer und strategischer Risiken und umfasst dabei stets die oben unter Æ Rz. 20 bis 48 beschriebenen 8 Grundelemente. 57 Im Rahmen der Systemprüfung werden hinsichtlich operativer Risiken dabei zuvor definierte Teilbereiche auf die angemessene bzw. wirksame Ausgestaltung der Grundelemente beurteilt. Beispielsweise kann sich die Prüfung auf einen einzelnen Geschäftsprozess oder eine Niederlassung beschränken. Hingegen ist ___________ 38) Vgl. IDW PS 340 n. F., Tz. 25. 39) Vgl. Wermelt/Scheffler, WPg 2017, S. 926. 40) Vgl. IDW PS 981, Tz. 6.

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B. Überwachung/Prüfung des RMS

bei der Prüfung des strategischen RMS, d. h. begrenzt auf das Management strategischer Risiken, grundsätzlich eine unternehmensweite Betrachtung notwendig und somit keine Einschränkung auf einzelne Prozesse oder Organisationseinheiten vorgesehen. Der Prüfungsauftrag kann sich dabei entweder auf eine reine Angemessenheits- 58 prüfung beschränken oder eine Wirksamkeitsprüfung umfassen, wobei die Beauftragung einer Wirksamkeitsprüfung immer eine Angemessenheitsprüfung beinhaltet. Ziel der Angemessenheitsprüfung ist es dabei mit hinreichender Sicherheit eine 59 Aussage darüber zu treffen, ob die in der RMS-Beschreibung enthaltenen Regelungen 

die vom Vorstand entwickelten RMS-Grundsätze angemessen darstellen,



geeignet waren wesentliche Risiken zu erkennen, zu bewerten, zu steuern und zu überwachen,



und zu einem im Rahmen der Prüfung definierten Zeitpunkt implementiert waren.41)

Die Wirksamkeitsprüfung ist, über die Prüfungsinhalte der Angemessenheits- 60 prüfung hinaus, darauf ausgerichtet zu beurteilen, ob die Regelungen des RMS während des geprüften Zeitraums eingehalten wurden und somit wirksam waren.42)

___________ 41) Vgl. IDW PS 981, Tz. 24. 42) Vgl. Wermelt/Scheffler/Oehlmann, Controllermagazin Sept./Okt. 2017, Ausgabe 5, S. 84.

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§ 18 Internes Kontrollsystem

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Übersicht Vorbemerkung – Pflicht zur Errichtung eines internen Kontrollsystems....................................................... 1 A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982 ...................................... 10 I. Begriff und Ziele von IKS im IDW PS 982 ...................................... 10 1. Das IKS des Berichtswesens ..... 10 2. Ziele von IKS ............................ 14 II. Grundsätze für IKS ......................... 15 III. Grundelemente des IKS nach Prüfungsstandard IDW PS 982 ....... 17 1. Überblick ................................... 17 2. Kontrollumfeld.......................... 18 3. IKS-Ziele.................................... 21 4. Risikobeurteilung ...................... 24 5. Kontrollaktivitäten.................... 26 6. Information und Kommunikation ...................................... 34

7. Überwachung des IKS .............. 36 IV. Angemessenheit des IKS ................. 42 1. Begriff der Angemessenheit ..... 42 2. Nachweisführung ...................... 43 V. Wirksamkeit des IKS........................ 44 1. Begriff der Wirksamkeit ........... 44 2. Nachweisführung ...................... 45 B. Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des IKS durch den Aufsichtsrat .................. 46 I. Überwachung durch den Aufsichtsrat............................................. 46 II. Befassung mit dem IKS i. R. d. Abschlussprüfung durch den Abschlussprüfer ............................... 56 III. Beauftragung einer freiwilligen Prüfung des IKS durch einen Wirtschaftsprüfer ............................. 59 IV. Sonderfall Nachhaltigkeitserichterstattung ................................ 64

Schrifttum: Fischer/Schuck, Die Einrichtung von Corporate Governance-Systemen nach dem FISG, NZG 2021, 534.

Vorbemerkung – Pflicht zur Errichtung eines internen Kontrollsystems Am 20.5.2021 hat der Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktin- 1 tegrität (FISG) verabschiedet, welches am 1.7.2021 in Kraft getreten ist. Das erklärte Ziel des Gesetzgebers ist die Stärkung des Vertrauens in den deut- 2 schen Finanzmarkt. Dieses Ziel soll unter anderem mit der Einführung einer gesetzlichen Pflicht zur Errichtung eines angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems (IKS) erreicht werden. Bereits vor Inkrafttreten des FISG waren zwar – ausgelöst durch die Änderun- 3 gen des BilMoG 2009 – kapitalmarktorientierte Kapitalgesellschaften verpflichtet, die wesentlichen Merkmale ihres internen Kontrollsystems im Hinblick auf den Rechnungslegungsprozess in ihrem Lagebericht zu beschreiben (§ 289 Abs. 4 HGB). Jedoch bestand – abgesehen von branchenspezifischen Sonderregelungen (z. B. § 25a Abs. 1 Nr. 3 KWG oder § 29 Abs. 1 VAG) – nach ganz h. M.1) ___________ 1) BeckOGK-AktG/Fleischer, § 91 AktG Rz. 35; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, § 91 Rz. 8; GK-AktG/Hirte/Mülbert/Roth, § 107 Rz. 529; Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn, § 107 Rz. 105a; MüKoAktG/Habersack, § 107 Rz. 116; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 107 Rz. 106.

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§ 18 Internes Kontrollsystem

keine zwingende gesetzliche Verpflichtung zur Errichtung eines umfassenden IKS. Auch Grundsatz 4 DCGK statuierte eine solche Pflicht nicht.2) 4 Vielmehr stand es vor Inkrafttreten des FISG pflichtgemäßen Ermessen des Vorstands, ein IKS nach den vorhandenen Bedürfnissen unter Berücksichtigung der Unternehmensstrategie, des Geschäftsumfangs und anderer wichtiger Wirtschaftlichkeits- und Effizienzgesichtspunkte einzurichten. Die Notwendigkeit der Errichtung eines IKS musste der Vorstand gleichwohl im Rahmen seiner allgemeinen Sorgfaltspflichten prüfen. 5 Im Zuge des FISG verpflichtet der neue § 91 Abs. 3 AktG die Vorstände börsennotierter Gesellschaften nunmehr ausdrücklich, „ein im Hinblick auf den Umfang der Geschäftstätigkeit und die Risikolage des Unternehmens angemessenes und wirksames“ IKS einzurichten. Dabei verwendet der Gesetzgeber einen weiten IKSBegriff, nach dem das interne Kontrollsystem „die Grundsätze, Verfahren und Maßnahmen zur Sicherung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftstätigkeit, zur Sicherung der Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung und zur Sicherung der Einhaltung der maßgeblichen rechtlichen Vorschriften“ umfasst.3) In der Praxis wird der Begriff IKS i. d. R. einschränkend für das IKS des Berichtswesens verwendet, was die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung beinhaltet. Korrespondierend zu diesem engen IKS-Begriff werden die in der Regierungsbegründung verlangten Aspekte „Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftstätigkeit“ im RMS und die „Einhaltung der maßgeblichen rechtlichen Vorschriften“ im CMS abgebildet. 6 Für Vorstände börsennotierter Gesellschaften bedeutet dies, dass die Errichtung eines IKS von der sie treffenden Legalitätspflicht umfasst ist mit der Folge, dass ihnen hinsichtlich des „Ob“ kein Beurteilungsspielraum zusteht. Nur noch hinsichtlich des „Wie“, d. h. der konkreten Ausgestaltung des IKS steht ihnen ein haftungsfreier Ermessensspielraum nach den Grundsätzen der Business Judgement Rule (BJR) zu. Für Vorstände nicht börsennotierter Gesellschaften gilt weiterhin, dass sie im Rahmen ihrer allgemeinen Sorgfaltspflichten die Notwendigkeit eines IKS überprüfen (lassen) und bei Bejahung dieser Notwendigkeit ein entsprechendes System einrichten müssen. 7 Im Rahmen ihrer Kontrollfunktion haben Aufsichtsräte börsennotierter Gesellschaften künftig auch die wirksame Erfüllung der Pflicht zur Implementierung eines angemessenen und wirksamen IKS durch den Vorstand zu überwachen. Da der neue § 107 Abs. 4 Satz 1 AktG für Aufsichtsräte von Gesellschaften, die Unternehmen von öffentlichem Interesse sind, die Bildung eines Prüfungsausschusses zwingend vorschreibt (Æ § 3 Rz. 92), wird jedenfalls bei diesen Ge___________ 2) Statt aller: JIG/Ghassemi-Tabar, Grundsatz 4 Rz. 6. 3) RegE „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität“, S. 133.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982

sellschaften die Überwachung regelmäßig durch den Prüfungsausschuss vorgenommen. Sowohl die pflichtgemäße Implementierung eines angemessenen und wirksamen 8 IKS seitens des Vorstands als auch die ordnungsgemäße Überwachung dieser Pflichterfüllung durch den Aufsichtsrat setzt voraus, dass die Betreffenden zumindest mit den Grundzügen des IKS vertraut sind. Ein – auch in der juristischen Fachliteratur4) anerkanntes – Framework zur Implementierung eines umfassenden IKS enthält der IDW PS 982 – Grundsätze ordnungsmäßiger Prüfung des internen Kontrollsystems des internen und externen Berichtswesens. Da die Ausgestaltung des IKS bereits in zahlreichen (börsennotierten) Unternehmen anhand der Elemente des IDW PS 982 vorgenommen wird und sich dies in der Praxis bewährt hat, bildet die Orientierung an den genannten Standard inzwischen die Best Practice. Nachstehend wird – anhand der Elemente des IDW PS 982 – zunächst ein 9 komprimierter Überblick über die Implementierung eines angemessenen und wirksamen IKS aus Sicht des Vorstands gegeben (Æ A.). Sodann wird auf einige Kriterien eingegangen, die aus Sicht des Aufsichtsrats bzw. Prüfungsausschusses bei der Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des IKS relevant sind (Æ B.) A.

Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982

I.

Begriff und Ziele von IKS im IDW PS 982

1.

Das IKS des Berichtswesens

Im Folgenden ist mit IKS (gegenüber dem Regierungsentwurf zum FISG) ein- 10 schränkend die Gesamtheit der von den gesetzlichen Vertretern eingerichteten Vorkehrungen und Maßnahmen gemeint, die im Unternehmen auf die ordnungsgemäße Durchführung des internen und externen Berichtswesens gerichtet sind. Berichtswesen ist dabei ein Prozess der Gewinnung, Verarbeitung und Darstellung entscheidungsrelevanter Informationen. IDW Prüfungsstandard 9825) zählt Beispiele für die interne und externe Berichterstattung auf6): Beispiele für die interne Berichterstattung: 

Einzelangaben aus dem Rechnungswesen oder Controlling,



Statusinformationen (z. B. i. R. d. Controllings von Groß-Projekten),

11

___________ 4) Fischer/Schmuck, NZG 2021, 534 (540); JIG/Ghassemi-Tabar, Grundsatz 4 Rz. 17. 5) IDW Prüfungsstandard: Grundsätze ordnungsmäßiger Prüfung des internen Kontrollsystems des internen und externen Berichtswesens (IDW PS 982) v. 3.3.2017. 6) IDW PS 982, Tz. A4.

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§ 18 Internes Kontrollsystem



Internes Management-Reporting, wie z. B. Performance-Reports, Forecasts, Prognosen, Simulationen,



Interne Risikoberichterstattung,



Controlling-Berichte, wie bspw. Berichte des Beschaffungs-, Absatz-, Personal- oder Investitionscontrollings,



Interne Berichte von Unternehmensbeauftragten, bspw. Datenschutzbeauftragte, Gleichstellungsbeauftragte, Umweltbeauftragte.

12 Beispiele für die externe Berichterstattung: 

Jahresabschlüsse, Konzernabschlüsse, Zwischenabschlüsse,



Lageberichte,



Geschäftsberichte,



Corporate Governance Erklärungen,



Gesetzliche oder regulierungsrelevante Unternehmensberichterstattungen,



Nachhaltigkeitsberichte, Emissionsberichte, sonstige Umwelt- oder Sozialberichterstattungen,



Ad-hoc-Berichte,



Börsenprospekte,



Berichterstattungen im Rahmen von Investorenkonferenzen,



Berichte an Banken oder andere Darlehensgeber,



Berichterstattungen an Kunden oder Lieferanten,



Steuererklärungen,



Country-by-Country-Reporting (Æ § 14 Rz. 84 ff.).

13 Diese beispielhafte und nicht abschließende Darstellung zeigt die breiten Anwendungsmöglichkeiten von IKS auf. 2.

Ziele von IKS

14 Das IKS betrifft Regelungen, d. h. Grundsätze, Verfahren und Maßnahmen, zur Bereitstellung von einzelnen entscheidungsrelevanten Informationen oder zu Berichten zusammengefassten Informationsbündeln aus allen Unternehmensteilen mit dem Ziel, diese nicht nur zeitnah und ressourcenschonend, sondern auch vollständig und richtig zur Verfügung zu stellen.7) Der dabei entstehende Zielkonflikt v. a. zwischen Kosten der zeitnahen Bereitstellung und Zuverlässigkeit der Informationen wird je nach Bedeutung der und regulatorischen Anforderungen an die Berichterstattung unterschiedlich aufzulösen sein. ___________ 7) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982

II.

Grundsätze für IKS

Neben branchenspezifischen Grundsätzen für IKS (z. B. MaRISK8) existieren all- 15 gemein anerkannte Rahmenwerke wie z. B. COSO,9) an dessen IKS-Konzept sich auch der Prüfungsstandard IDW PS 982 anlehnt, ohne ihre Anwendung durch das jeweilige Unternehmen zwingend vorauszusetzen. Nach COSO ist das IKS ein Prozess, der vom Vorstand und anderen Personen 16 im Unternehmen durchgeführt wird, um die Ziele des Unternehmens mit hinreichender Sicherheit zu erfüllen. Die Ziele des Unternehmens sind in diesem Zusammenhang einschränkend zu interpretieren als Ziel, die interne und externe Unternehmensberichterstattung verlässlich, zeitnah und transparent und in Übereinstimmung mit gesetzlichen und regulatorischen und im Rahmen der unternehmensinternen Bestimmungen bereitzustellen. III.

Grundelemente des IKS nach Prüfungsstandard IDW PS 982

1.

Überblick

IDW PS 982 strukturiert das IKS in folgenden Grundelementen, die miteinan- 17 der in Wechselwirkung stehen und untereinander nicht völlig trennscharf abgrenzbar sind10): 

Kontrollumfeld,



IKS-Ziele,



Risikobeurteilung,



Kontrollaktivitäten,



Information und Kommunikation,



Überwachung des IKS.

2.

Kontrollumfeld

Das Kontrollumfeld spannt den Corporate Governance-Rahmen für die Rege- 18 lungen auf.11) Es bildet die Basis des IKS und beeinflusst die anderen Grundelemente und die Einstellung und das Verhalten aller Mitarbeiter in Bezug auf interne Kontrollen. Das Selbstverständnis der Unternehmensleitung, wie es in seiner Kommunikation zutage tritt („tone at the top“), hat hier erfahrungsgemäß einen besonders großen Einfluss. Diese Beeinflussung kann positiv oder negativ sein und auf unterschiedlichen Unternehmensebenen und -einheiten ansetzen. ___________ 8) Vgl. Rundschreiben 10/2012 (BA) „Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk“ des BaFin v. 14.12.2012. 9) COSO (1992): Internal Control – Integrated Framework in der Fassung von 2013. 10) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30. 11) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30.

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§ 18 Internes Kontrollsystem

Teil des Kontrollumfelds sind Kontrollen, die nicht einzelnen Prozessen zugeordnet sind, sondern prozess- und bereichsübergreifend wirken (Kontrollen auf Unternehmensebene). Beispiele für Kontrollen auf Unternehmensebene sind Risikokomitees, eine Hinweisgeberhotline, ein Verhaltenskodex und Maßnahmen zur Verhinderung oder Aufdeckung der Umgehung von Kontrollen durch das Management. 19 Ein gemessen an den Zielen und regulatorischen Vorgaben an das IKS vorteilhaftes Kontrollumfeld kann die Wirkungen der anderen Regelungen verstärken, während ein ungünstig ausgeprägtes Kontrollumfeld die Regelungen unterminieren könnte, indem es Fehlanreize setzt, so dass die Regelungen gar nicht oder unvollständig umgesetzt werden. Das Kontrollumfeld umfasst im IDW PS 982 auch eine klare Aufbau- und Ablauforganisation für das IKS. 20 Das Kontrollumfeld kann insbesondere durch die folgenden Merkmale beeinflusst werden12): 

Das Unternehmen verpflichtet sich zur Wahrung der Integrität und zur Einhaltung ethischer Werte.



Die Unternehmensleitung gibt Verhaltensgrundsätze vor und richtet die persönlichen Verhaltensweisen konsequent an den vorgegebenen Prinzipien aus.



Das Aufsichtsorgan ist unabhängig von den gesetzlichen Vertretern und übt seine Überwachungstätigkeit in Bezug auf die Entwicklung und Funktionsfähigkeit des internen Kontrollsystems angemessen aus.



Das Unternehmen führt Maßnahmen, Berichtsstrukturen sowie angemessene Berechtigungen und Verantwortlichkeiten zur Erfüllung der Ziele des internen Kontrollsystems ein.



Das Unternehmen verpflichtet sich, in Übereinstimmung mit den Zielen des internen Kontrollsystems Mitarbeiter mit der notwendigen Kompetenz anzuwerben, weiterzuentwickeln und zu binden.



Das Unternehmen schafft klare Verantwortlichkeiten für seine Mitarbeiter im Zusammenhang mit deren Rolle im internen Kontrollsystem, um die Zielerreichung zu unterstützen.



Die Unternehmensorganisation beachtet die Grundsätze der Funktionstrennung und ist den Mitarbeitern bekannt gemacht.

3.

IKS-Ziele

21 Die Ziele des IKS werden vom Vorstand aus den übergeordneten Unternehmenszielen abgeleitet und umreißen die internen und externen entscheidungsrelevanten Informationen, deren Zusammenfassung in Berichtsformen, die Zeit___________ 12) Vgl. IDW PS 982, Tz. A17.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982

punkte der Berichterstattung und den internen und/oder externen Adressatenkreis.13) Für die externe Berichterstattung ergeben sich bereits Ziele aus gesetzlichen 22 Bestimmungen und Berichterstattungsstandards, insbesondere aus HGB und IFRS sowie zunehmend im Bereich der Nachhaltigkeit (siehe unten Æ Rz. 64). Die interne Berichterstattung erfolgt dabei i. d. R. nach unternehmensinternen 23 Bestimmungen, z. B. gem. einer Controlling-Richtlinie. Das Ermessen des Vorstands ist hier grundsätzlich größer als in der externen Berichterstattung. Allerdings sind diese beiden Sphären nicht trennscharf. Entscheidungsrelevante interne Informationen werden häufig zur Unternehmenssteuerung eingesetzt. DRS 2014) fordert von Unternehmen, in ihren (Konzern-)Lageberichten die Sicht der Unternehmensleitung darzustellen.15) Damit entwickelt die interne Berichterstattung eine Ausstrahlwirkung auf die externe Berichterstattung im (Konzern-)Lagebericht. 4.

Risikobeurteilung

Risiken stehen der Zielerreichung potenziell entgegen. Sie ergeben sich aus ex- 24 ternen Quellen (z. B. Veränderungen auf dem Absatzmarkt, Ausfall eines Lieferanten, Elementarereignisse, Streiks) oder aus internen Quellen (z. B. Prozessfehler, Systemfehler, individuelle Fehler). Im Rahmen der Risikobeurteilung sind diese möglichen Fehler systematisch zu identifizieren und hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und dem Schadensausmaß im Falle ihres Eintritts und möglicher Wechselwirkungen zwischen den Risiken bewertet.16) Für die Risikobeurteilungen zählt IDW PS 982 folgende Merkmale auf:17)

25



Das Unternehmen spezifiziert seine IKS-Ziele für das Berichtswesen mit hinreichender Klarheit, sodass die damit zusammenhängenden Risiken identifiziert und analysiert werden können.



Das Unternehmen identifiziert die zur Erreichung seiner IKS-Ziele für das Berichtswesen relevanten Risiken ganzheitlich und analysiert und bewertet diese Risiken.



Das Unternehmen berücksichtigt die Möglichkeit von Verstößen bei der Beurteilung von Risiken für die Erreichung der IKS-Ziele.

___________ 13) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30. 14) Deutscher Rechnungslegungs Standard Nr. 20, verabschiedet durch das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee (DRS) am 2.11.2012 und bekanntgemacht gemäß § 342 Abs. 2 HGB durch das Bundesministerium der Justiz am 4.12.2012. 15) DRS 20, Tz. 31. 16) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30. 17) IDW PS 982, Tz. A19.

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§ 18 Internes Kontrollsystem



Das Unternehmen identifiziert und beurteilt Veränderungen, die einen wesentlichen Einfluss auf das interne Kontrollsystem nehmen könnten.

5.

Kontrollaktivitäten

26 Unter Kontrollaktivitäten versteht IDW PS 982 Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen, die zielgerichtet auf beurteilte Risiken einwirken und die IKS-Ziele sicherstellen.18) Sie finden dabei auf allen Unternehmensebenen und in allen relevanten Prozessen statt. 27 Unterschieden werden Kontrollaktivitäten nach dem Zeitpunkt im Prozess (Fehlervermeidung im Vorfeld oder Fehleraufdeckung im Anschluss an den risikobehafteten Prozessschritt), dem Grad ihrer Automatisierung (manuelle Kontrolle oder automatische Kontrolle) sowie der Anforderung an den die Kontrolle Durchführenden (z. B. ein einfacher Abgleich einer Zahl in zwei unterschiedlichen Dokumenten oder die Plausibilisierung von Trends oder Abweichungen unter Einsatz tiefen Branchenwissens). 28 Wesentliche Elemente für das Verständnis des IKS sind Prozessschritte und Kontrollen. Prozesse sind betriebliche Abläufe, die von einem Impuls (z. B. die Bitte eines Kunden um Abgabe eines Angebots) ausgehend über verschiedene Stationen, häufig über Abteilungs- und Bereichsgrenzen hinweg in Prozessschritten (z. B. Angebotsabgabe, Vertragsschluss, interner Logistik, Fabrikation, Frachtvorbereitung, Versand und Fakturierung) zu einem definierten Ende führen (z. B. Verarbeitung des Kundenzahlungseingangs). 29 Kontrollen dienen dazu, die dargestellten Abläufe so zu begleiten, dass Fehler vor Entstehung vermieden (präventive Kontrolle) bzw. nach Entstehung aufgedeckt (detektivische Kontrolle) werden. Fehler können dabei unvollständige sowie rechtlich oder tatsächlich unrichtige Informationen sein, die im Prozess verarbeitet werden, beispielsweise ein verloren gegangener Kundenauftrag, ein Versand an eine falsche Kundenanschrift, oder eine falsche Produktmenge. 30 Dabei werden nicht nur die betrieblichen Hauptprozesse wie Absatz, Einkauf oder Logistik betrachtet, sondern auch Hilfsprozesse wie das Personalwesen und die Berichtsprozesse i. e. S. wie Finanzbuchhaltung und Jahresabschluss. 31 Die Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen können insbesondere durch die folgenden Grundsätze beeinflusst werden:19) 

Das Unternehmen führt Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen aus, welche die Risiken im Hinblick auf die IKS-Ziele für das Berichtswesen auf ein akzeptables Niveau reduzieren.

___________ 18) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30. 19) IDW PS 982, Tz. A20.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982



Das Unternehmen führt Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen im Zusammenhang mit den für Zwecke des Berichtswesens eingesetzten IT-Systemen aus, um eine effektive Zielerreichung zu unterstützen.



Das Unternehmen führt Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen aus, indem es Verfahrensanweisungen und Maßnahmen zu deren Umsetzung implementiert.



Funktionstrennungen;



Genehmigungsverfahren und Unterschriftsregelungen;



Unabhängige Gegenkontrollen (4-Augen-Prinzip);



Kennzahlenanalysen;



Physische Inaugenscheinnahme.

Mögliche Maßnahmen und Verfahren, die sich im Wesentlichen auf die IT-Infra- 32 struktur beziehen, können sein: 

Physische IT-Sicherungsmaßnahmen,



Logische IT-Zugriffskontrollen,



Datensicherungs- und Auslagerungsverfahren,



Maßnahmen für den geordneten IT-Regelbetrieb sowie für den Notbetrieb,



Maßnahmen zur Sicherung der IT-Betriebsbereitschaft,

Mögliche IT-Kontrollen, die sich im Wesentlichen auf die Geschäftsprozesse der 33 Unternehmensberichterstattung beziehen, können sein: 

In den IT-Anwendungen enthaltene Eingabe-, Verarbeitungs- und Ausgabekontrollen,



alle im IT-System vorgesehenen prozessinternen Kontrollen und organisatorischen Sicherungsmaßnahmen, z. B. Berechtigungskonzepte oder Netzwerkkontrollen,



Maßnahmen, die sich unabhängig von einer einzelnen IT-Anwendung auf das gesamte IT-System auswirken (z. B. Kontrollen zur Entwicklung, Einführung und Änderung von IT-Anwendungen).

6.

Information und Kommunikation

Information und Kommunikation betrifft den Informationsfluss im IKS (Samm- 34 lung, Aufbereitung und Zurverfügungstellung der Informationen) sowie über das IKS (Berichterstattung über das planmäßige Wirken sowie Ausnahmen und Systemschwächen an Vorstand und Aufsichtsrat).20) Dazu gehören i. d. R. auch Berichtssysteme, Richtlinien und Mitarbeiterschulungen. ___________ 20) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30.

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§ 18 Internes Kontrollsystem

35 Eine wirksame Information und Kommunikation erfordern ausreichende Kenntnisse über die Berichtspflichten und ein Bewusstsein der Mitarbeiter für die Bedeutung einer zeitnahen und vollständigen Information und Kommunikation. Information und Kommunikation tragen wesentlich dazu bei, die übrigen Grundelemente zu unterstützen. Information und Kommunikation können insb. durch die folgenden Maßnahmen beeinflusst werden:21) 

Das Unternehmen erhält oder generiert und nutzt relevante sowie qualitative Informationen zur Unterstützung der Funktionsfähigkeit des internen Kontrollsystems.



Das Unternehmen kommuniziert intern die notwendigen Informationen zur Unterstützung der Funktionsfähigkeit des internen Kontrollsystems (einschließlich der Ziele der Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen und der Verantwortlichkeiten für die Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen).



Das Unternehmen kommuniziert mit Externen, bspw. Lieferanten, in Bezug auf Sachverhalte, die einen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des internen Kontrollsystems haben.



Das Unternehmen sorgt durch entsprechende Schulungs- und Informationsmaßnahmen dafür, dass die Mitarbeiter ihre Rolle und Bedeutung im jeweiligen Prozess und deren Abhängigkeiten von vor- und nachgelagerten Prozessschritten bzw. internen Kontrollen kennen.

7.

Überwachung des IKS

36 Die Überwachung des IKS gliedert sich in eine prozessintegrierte und eine prozessunabhängige Überwachung seiner Wirksamkeit.22) 37 Die prozessintegrierte Überwachung des IKS setzt auf der Systemdokumentation auf und betrifft z. B. das stichprobenhafte Testen von Kontrollaktivitäten auf ihre richtige Durchführung, die Meldung von Kontrollschwächen gem. den unternehmensinternen Vorgaben und die planmäßige Überwachung von Änderungen, sei es im Rahmen der Abstellung festgestellter Mängel oder der planmäßigen Weiterentwicklung des IKS. Mängel und andere Feststellungen müssen an die dafür zuständigen Stellen berichtet und beurteilt werden. Notwendige Änderungen zur Sicherstellung eines wirksamen IKS sind ggf. daraus abzuleiten. 38 Die prozessunabhängige Überwachung wird vor allem durch eine prozessunabhängige Interne Revision durchgeführt, ggf. auch von Stabsabteilungen im Rahmen ihres Fachbereichs (z. B. Qualität, IT, betriebliche Sicherheit, Gesundheitswesen oder Umwelt). ___________ 21) IDW PS 982, Tz. A21. 22) Vgl. IDW PS 982, Tz. 30.

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A. Umsetzung eines angemessenen und wirksamen IKS i. S. v. IDW PS 982

Die Aufgabe der prozessunabhängigen Überwachung ist dabei häufig nicht nur 39 die Feststellung von Fehlern, sondern auch von Vorschlägen zu deren Behebung zur Sicherstellung eines wirksamen IKS. Der Vorstand kann auch direkt als prozessunabhängige Überwachung auftreten, 40 z. B. im Rahmen eines von einem Vorstandsmitglied geleiteten IKS-Komitees, in dem festgestellte Kontrollschwächen bewertet, Gegenmaßnahmen festgelegt und Berichte über die Wirksamkeit des IKS ausgewertet werden. Die Überwachung und Verbesserung des internen Kontrollsystems kann insbe- 41 sondere durch die folgenden Maßnahmen beeinflusst werden:23) 

Das Unternehmen nimmt kontinuierliche und/oder separate objektive Beurteilungen vor, um das Vorhandensein und die Funktion der sechs Grundelemente des internen Kontrollsystems festzustellen.



Das Unternehmen beurteilt und kommuniziert Mängel im internen Kontrollsystem zeitnah an die für deren Behebung Verantwortlichen sowie an die gesetzlichen Vertreter und ggf. das Aufsichtsorgan.



Das Unternehmen verbessert durch die tatsächliche (zeitnahe) Behebung von Mängeln sowie die Implementierung notwendiger (Interim-) Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen das interne Kontrollsystem.

IV.

Angemessenheit des IKS

1.

Begriff der Angemessenheit

Das IKS ist i. S. v. IDW PS 982 angemessen, wenn die in der IKS-Beschreibung 42 dargestellten Regelungen so ausgestaltet und implementiert sind, dass sie die festgelegten IKS-Ziele unter der Annahme ihrer korrekten Durchführung erreichen können.24) Die Beurteilung der Angemessenheit bezieht sich auf einen Zeitpunkt, z. B. den Jahresabschlussstichtag oder einen festgelegten Interim-Zeitpunkt. 2.

Nachweisführung

Die Beurteilung der Angemessenheit des in die Prüfung einbezogenen Teils des 43 IKS durch einen Wirtschaftsprüfer erfolgt durch eine Kombination von Befragungen, Beobachtungen sowie Einsichtnahme in Dokumente und Aufzeichnungen.25) Stellt er dabei fest, dass wesentliche Teile des IKS nicht angemessen gestaltet sind, erübrigt sich die Prüfung der Implementierung und der Wirksamkeit. Eine Prüfung der Wirksamkeit braucht auch dann nicht durchgeführt werden, wenn diese Teile zwar (theoretisch) angemessen gestaltet, aber nicht tatsächlich implementiert wurden. Die Prüfung kann den Einsatz von Sachverständigen ___________ 23) IDW PS 982, Tz. A22. 24) Vgl. IDW PS 982, Tz. 63 f. 25) Vgl. IDW PS 982, Tz. 63 ff.

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§ 18 Internes Kontrollsystem

erfordern, auf die sich der Prüfer bei seiner Beurteilung der Angemessenheit stützt.26) V.

Wirksamkeit des IKS

1.

Begriff der Wirksamkeit

44 Das IKS ist i. S. v. IDW PS 982 wirksam, wenn seine angemessenen Regelungen auch im gesamten Beurteilungszeitraum27) eingehalten wurden. Haben sich in diesem Zeitraum Änderungen am IKS ergeben, ist die Wirksamkeit vor und nach Berücksichtigung zu beurteilen. 2.

Nachweisführung

45 Die Beurteilung der Wirksamkeit über einen Zeitraum erstreckt sich (i. d. R. in Stichproben) auf die im Wesentlichen fehlerfreie Durchführung der angemessen gestalteten und tatsächlich implementierten Kontrollaktivitäten. Auch hier kommt der Einsatz von Sachverständigen in Betracht. Ebenfalls kann der Prüfer u. U. erwägen, sich in Teilen auf die Arbeit der internen Revision zu stützen. Durch den Zeitraumbezug können sich Regelungen während des Prüfungszeitraums ändern, z. B. als Reaktion auf eine festgestellte Kontrollschwäche. In diesem Fall hat der Prüfer die Kontrolle jeweils vor und nach der Änderung zu beurteilen.28) B.

Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des IKS durch den Aufsichtsrat

I.

Überwachung durch den Aufsichtsrat

46 Die Wirksamkeitsprüfung der Kontrollsysteme durch das interne Überwachungssystem, d. h. durch den Vorstand aufgrund seiner Organisationsverantwortung, ist der Anknüpfungspunkt für die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats bzw. des Prüfungsausschusses. Es besteht keine originäre gesetzliche Prüfungspflicht für den Aufsichtsrat hinsichtlich der Kontrollsysteme, sondern eine abgeleitete Pflicht zur Überwachung, ob der Vorstand seinerseits der ihm obliegenden Pflicht zur Wirksamkeitsüberwachung nachkommt und festgestellte Schwächen angemessen behebt. 47 Das bedeutet, dass festgestellte Schwächen in den Kontrollsystemen für den Prüfungsausschuss durchaus auch dann von Bedeutung sein können, wenn sie kein erhebliches Risiko für das Unternehmen mit sich bringen, da sie auf prozessualer ___________ 26) Vgl. IDW PS 982, Tz. 70, 74. 27) Die Beurteilung der Wirksamkeit über einen angemessenen Zeitraum ist im IDW PS 982 zwingend vorgesehen. Abweichend davon wird z. B. im US-amerikanischen Recht auch die Wirksamkeitsbeurteilung nach SOX 404 auf einen Zeitpunkt (den Abschlussstichtag) durchgeführt. 28) Vgl. IDW PS 982, Tz. 68.

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B. Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des IKS durch den Aufsichtsrat

Ebene Hinweise auf die mangelhafte Sicherstellung der Wirksamkeit der Systeme durch den Vorstand geben könnten.29) Falls – als Extrembeispiel – keine Kontrollsysteme im Unternehmen vorhanden 48 sein sollten, wäre der Prüfungsausschuss gehalten, zu prüfen, ob deren Einrichtung notwendig ist.30) Hiervon dürfte jedoch im Regelfall auszugehen sein. Auch der Abschlussprüfer wird im Rahmen seiner Kommunikation mit Auf- 49 sichtsrat und Prüfungsausschuss darauf hinweisen, wenn er aufgrund fehlender oder mangelhafter interner Kontrollen nicht kontrollorientiert prüfen kann und sich daher ein mitunter erheblich höherer Umfang an im Vergleich mit einer kontrollorientierten Prüfung weniger effizienten Einzelfallprüfungen ergeben könnte. Im Einzelfall, z. B. in einem stark IT-basierten Endkundengeschäft mit Millionen webbasierten Einzelumsätzen, kann sich aus Mängeln im IKS auch ein Prüfungshemmnis ergeben, das den Abschlussprüfer zu einer Einschränkung oder Nichtabgabe eines Prüfungsurteils zwingt.31) In negativer Abgrenzung fällt unter die gesetzliche Pflicht zur „Überwachung der 50 Wirksamkeit“ weder die Optimierung noch die Gewährleistung der Effizienz der bestehenden Systeme, da ein suboptimales System durchaus wirksam sein kann.32) Die dargelegten Abgrenzungen stecken den groben Rahmen für die Überwa- 51 chungsaufgaben des Prüfungsausschusses ab. Wie die Überwachung im Einzelfall ausgestaltet wird, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, wie z. B. der Unternehmensgröße und -struktur, der Branche, der Komplexität der Geschäftstätigkeit und in der Vergangenheit aufgetretenen Schwächen im System. Trotz oder gerade wegen der schwierigen Greifbarkeit der Aufsichtsratspflich- 52 ten mit Bezug auf die internen Kontrollsysteme des Unternehmens ist ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen: Zunächst besteht ein Haftungsrisiko der Aufsichtsratsmitglieder, falls in diesem Bereich eine Pflichtverletzung festgestellt wird. Darüber hinaus entfalten jedoch insbesondere Compliance-Verstöße und fehlerhaft dargestellte Nachhaltigkeitsaspekte vielfach eine besondere Öffentlichkeitswirkung, sodass erhebliche Reputationsrisiken für das Unternehmen wie auch die Mitglieder des Aufsichtsrates entstehen – zumal die öffentliche Meinung dazu neigt, von Einzelfällen auf Schwächen im allgemeinen IKS oder RMS zu schließen. Dem IKS bezogen auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung kommt hier eine wachsende Bedeutung zu.33) ___________ Vgl. Withus (2009), S. 83. RegBegr. BilMoG, BT-Drucks. 16/10067, zu Art. 5 Nr. 4 (§ 107 AktG), S. 103. Vgl. IDW PS 405: Modifizierungen des Prüfungsurteils im Bestätigungsvermerk, Tz. 10, 13. Vgl. Arbeitskreis Externe Unternehmensrechnung (AKEU)/Arbeitskreis Externe und Interne Überwachung der Unternehmung (AKEIÜ) der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e. V. (2009), S. 1280. 33) Siehe dazu auch weitere Hinweise unter B. IV Æ Rz. 64.

29) 30) 31) 32)

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§ 18 Internes Kontrollsystem

53 Die wesentlichen Aufgaben des Prüfungsausschusses wurden durch Art. 39 Abs. 6 RL n. F. bei Unternehmen von öffentlichem Interesse stärker konkretisiert. Bezogen auf die deutsche Aufsichtsratspraxis bedeutete dies, dass die Tätigkeit des Prüfungsausschusses infolge der Neuregelung noch stärker auf die Überwachung des Rechnungslegungsprozesses fokussiert wurde. Neben der Überwachungspflicht über das rechnungslegungsbezogene interne Kontrollsystem wird vom Prüfungsausschuss erwartet, „den Rechnungslegungsprozess zu beobachten und Empfehlungen oder Vorschläge zur Gewährleistung von dessen Integrität zu unterbreiten“. 54 Die normative Konkretisierung der Aufsichtsratspflichten durch das BilMoG hat zudem dazu beitragen, dass diese von der Öffentlichkeit (noch) stärker wahrgenommen werden und die Erwartungen an die Leistungen des Aufsichtsrates mit Blick auf die Wirksamkeit der Kontrollsysteme im Unternehmen gestiegen sind. Verstärkt wird dies durch erweiterte Offenlegungspflichten: Der durch das BilMoG eingeführte § 289a HGB verpflichtet kapitalmarktorientierte34) Unternehmen dazu, eine „Erklärung zur Unternehmensführung“ – auch Corporate Governance Statement genannt – abzugeben und diese in den Lagebericht auf-zunehmen oder auf der Internetseite der Gesellschaft öffentlich zugänglich zu machen. 55 Hierzu gehört u. a. „eine Beschreibung der Arbeitsweise von Vorstand und Aufsichtsrat sowie der Zusammensetzung und Arbeitsweise von deren Ausschüssen“. Die Beschreibung vermittelt dem Abschlussadressaten Einblicke in für die Corporate Governance wesentliche Strukturen und Prozesse, birgt jedoch auch die Gefahr, dass die Öffentlichkeit Erwartungen an die Arbeit des Prüfungsausschusses stellt, die dieser weder erfüllen soll noch erfüllen kann. II.

Befassung mit dem IKS i. R. d. Abschlussprüfung durch den Abschlussprüfer

56 Der Abschlussprüfer berichtet dem Prüfungsausschuss in der Bilanzsitzung über wesentliche Schwächen des IKS und – im Falle börsennotierter Aktiengesellschaften – des Risikofrüherkennungsystems (§ 317 Abs. 4 HGB), allerdings nur bezogen auf den Rechnungslegungsprozess und soweit er diese wesentlichen Schwächen in der regulären Jahresabschlussprüfung festgestellt hat (§ 171 Abs. 1 Satz 2 AktG). 57 Dabei ist zu beachten, dass auch das rechnungslegungsbezogene IKS kein eigenständiger Prüfungsgegenstand der Abschlussprüfung ist. Allerdings würdigt der Abschlussprüfer Teile des IKS im Rahmen seiner Prüfung, um festzustellen, in___________ 34) Genauer: börsennotierte Aktiengesellschaften sowie Aktiengesellschaften, die andere Wertpapiere als Aktien (z. B. Schuldverschreibungen) an einem organisierten Markt ausgegeben haben und deren Aktien auf eigene Veranlassung über ein multilaterales Handelssystem (in Deutschland z. B. im Freiverkehr) gehandelt werden, siehe § 289a Abs. 1 HGB.

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B. Überwachung der Angemessenheit und Wirksamkeit des IKS durch den Aufsichtsrat

wieweit er sich auf die vorhandenen Kontrollen verlassen und dadurch den Umfang seiner eigenen substanziellen Prüfungshandlungen einschränken kann (kontrollorientierte Prüfung). Damit kann der Prüfungsausschuss – soweit ein Bezug zur Rechnungslegung 58 besteht – auf die Erkenntnisse des Abschlussprüfers zu Teilen des IKS zurückgreifen und sich diese durch Befragung und Diskussion zu Nutze machen. III.

Beauftragung einer freiwilligen Prüfung des IKS durch einen Wirtschaftsprüfer

Mit dem IDW PS 982 hat das IDW einen Prüfungsstandard erlassen, der frei- 59 willige IKS-Prüfungen regelt, die mit einem Prüfungsurteil zur Angemessenheit oder zur Wirksamkeit der geprüften Teile des IKS abschließen und damit den Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss in seiner Überwachungstätigkeit unterstützen können. Dabei geht die freiwillige Prüfung über die im Rahmen der Abschlussprüfung gebotene Befassung des Abschlussprüfers hinaus. Ziel einer Prüfung nach IDW PS 982 ist es, ein Prüfungsurteil mit hinreichen- 60 der Sicherheit darüber abzugeben, ob die IKS-Regelungen in einer IKS-Beschreibung des Unternehmens angemessen dargestellt, geeignet und implementiert sind (Angemessenheitsprüfung) bzw. wirksam sind (Wirksamkeitsprüfung). Damit zielt die Ausrichtung des IDW PS 982 unmittelbar auf die Unterstützung der mit der Überwachung befassten Personen ab. Die Anwendung des Standards setzt aber nicht voraus, dass auch das Unterneh- 61 men sein IKS nach den Grundelementen des IDW PS 982 strukturiert. Auch andere Rahmenwerke und ggf. auch eine vom Unternehmen selbst aufgesetzte Struktur sind in der Regel in einer Prüfung nach IDW PS 982 verwertbar. Anders als die Prüfung des IKS im Rahmen der Abschlussprüfung ist das Prü- 62 fungsergebnis durch den Prüfungsausschuss unmittelbar zur (teilweisen) Erfüllung der Überwachungspflicht nach § 107 Abs. 3 AktG heranziehbar. Eine vollständige Erfüllung setzt eine Wirksamkeitsprüfung voraus. Eine Angemessenheitsprüfung, die nur die grundsätzliche Eignung der Regelun- 63 gen und deren Implementierung umfasst, kann lediglich einen anteiligen Beitrag leisten, den sich der Prüfungsausschuss in Kombination mit anderen Überwachungshandlungen zur Erfüllung seiner Überwachungspflichten zunutze machen kann. IV.

Sonderfall Nachhaltigkeitsberichterstattung

Das Thema Nachhaltigkeitsberichterstattung nimmt als nicht legal definierter 64 Sammelbegriff in verschiedenen Erscheinungsformen (z. B. Klimaschutz und CO2, Anti-Korruption, Menschenrechte in der Lieferkette u. v. m.) einen schnell wachsenden Raum in der Unternehmensberichterstattung ein.

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§ 18 Internes Kontrollsystem

65 Die dafür benötigten Informationen durchlaufen dabei unternehmensintern erfahrungsgemäß häufig noch nicht internen Prozesse und Kontrollen, die mit dem Reifegrad der Finanzberichterstattung vergleichbar sind, sondern stammen teilweise aus Ad-Hoc-Abfragen oder noch zu etablierenden Prozessen und Kontrollen. 66 Dabei besteht für die nichtfinanzielle (Konzern-)Erklärung bzw. einen eigenständigen nichtfinanziellen (Konzern-)Bericht nach §§ 289b ff., 315a ff. HGB eine Prüfungspflicht durch den Aufsichtsrat (§ 171 Abs. 1 Satz 1 und 4 AktG). 67 Dieser Prüfungspflicht des Aufsichtsrats analog zur Prüfung des Abschlusses und Lageberichts fehlt die korrespondierende Pflicht zum Einbezug dieser Erklärungen bzw. Berichte in die Abschlussprüfung, da diese Teile gemäß § 317 Abs. 2 Satz 4 HGB keiner inhaltlichen Prüfung durch den Abschlussprüfer unterliegen.35) 68 Dem IKS über diese Berichtsteile kommt so eine besondere Bedeutung zu, da dessen Wirksamkeit den Aufsichtsrat bei der Erfüllung seiner Prüfungspflicht unterstützen kann.

___________ 35) Mit der als CSRD bezeichneten Richtlinie (EU) 2022/2464 des europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2022 schreibt die EU eine Prüfungspflicht mit begrenzter Sicherheit für in den Anwendungsbereich einbezogenen Unternehmen vor. Die Richtlinie bedarf noch der nationalen Umsetzung, die bis Anfang Juli 2024 zu erfolgen hat.

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat

Scheil

Übersicht Vorbemerkung und Begriffsdefinitionen .............................................. 1 A. Überblick über relevante Entwicklungen auf EU-Ebene ............... 5 B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat aus der Nachhaltigkeitsperspektive....................... 9 I. Grundlegende Pflichten des Vorstands ........................................... 9 1. Leitung im Unternehmensinteresse ...................................... 9 2. Angemessene Informationsgrundlage.................................... 13 3. Einrichtung eines Risikomanagementsystems ................. 15 4. Haftungsrisiken durch Greenwashing ............................ 20 II. Grundlegende Pflichten des Aufsichtsrats .................................... 22 III. Grundsätze und Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex ................................ 25

IV. Vorgaben für die Vorstandsvergütung nach ARUG II................ 31 V. Vorgaben für die Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat nach FüPoG I und II ................................ 39 C. Überblick über Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung .................................................. 44 I. Aufstellung der nichtfinanziellen Erklärung nach CSR-RUG.............. 44 1. Inhalte der nichtfinanziellen Erklärung ................................... 45 2. Erweiterung um EU-Taxonomie-Angaben ........................ 49 3. Einbezug von Vorstand und Aufsichtsrat ............................... 53 II. Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsberichterstattung............. 56 1. Zukünftige Inhalte der Berichterstattung....................... 60 2. Zukünftige Prüfung der Berichterstattung ...................... 64 D. Fazit und Ausblick.......................... 68

Schrifttum: Alpers, Gegen Greenwashing in der EU: Vorschlag für Green-Claims-Richtlinie, DB 2023, M4; Arnold/Herzberg/Zeh, Vorstandsvergütung und Nachhaltigkeit, AG 2021, 141; Baumüller/Haring/Merl, Erstanwendung der Berichtspflichten gem. Taxonomie-VO: Überblick und Handlungsempfehlungen, IRZ 2022, 77; Baumüller/Needham/Scheid, Vorschlag der EU-Kommission zur Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD), DB 2022, 1401; Bingel/Rothenburg/Schumann, Nachhaltigkeitsberichterstattung nach CSRD – Auswirkungen auf die Organpflichten, DB 2023, 118; Boecker/Zwirner, Nichtfinanzielle Berichterstattung nach dem CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz: Herausforderungen und Chancen, IRZ 2019, 233; Chatzinerantzis/Hohm, Environment – Social – Governance 2021: Haftungsrelevante Faktoren des Greenwashings, DB 2021, 9; Illert/Schneider, Environment – Social – Governance 2021: ESG-Relevante Themen für den Vorstand einer börsennotierten AG, DB 2021, 27; Johannsen-Roth/Kießling, Environment – Social – Governance 2021: Einfluss von ESG-Faktoren auf die Vorstandsvergütung, DB 2021, 31; Lanfermann/Baumüller, Die Endfassung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), DB 2022, 2745; Lanfermann/Baumüller/Scheid, Nachhaltigkeitsrisiken in der CSRD – Folgen für die Unternehmensberichterstattung und das Risikomanagement, ZfRM 2022, 36; Laue, Die CSRD in der Corporate Governance, Audit Committee Quarterly extra 2021, 86; Mock/Velte, Nachhaltigkeit im (neuen) Deutschen Corporate Governance Kodex, AG 2023, 885; Müller/ Needham, Neue Empfehlungen für die Corporate Governance – mit dem DCGK-Entwurf

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten 2022 sollen Nachhaltigkeit und Kontroll- und Risikomanagementsysteme weiter gestärkt werden, Stbg 2022, 182; Stawinoga/Velte, Der EU-Richtlinienentwurf zur Nachhaltigkeitsberichterstattung. Darstellung zentraler Änderungen und kritische Würdigung der Reformmaßnahmen, DStR 2021, 2364; Velte, Nachhaltigkeitsexpertise als Kompetenzprofil des Aufsichtsrats, ZCG 2023, 78; Velte, Sustainable Corporate Governance – Kodexreform 2022 als großer Wurf?, DB 2022, M4; Velte, Regulierung der Sustainable Board Governance – das fehlende Glied in der Kette des „EU Green Deal“-Projekts?, IRZ 2022, 63; Velte, Sustainable Corporate Governance: Integration von Nachhaltigkeit in das Aktien- und Bilanzrecht (Teil I und II), DB 2021, 1054 und 1113; Velte, Wie wirkt sich die künftige EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung auf die Corporate Governance aus?, Audit Committee Quarterly extra 2021, 76; Velte, Prüfung der nichtfinanziellen Erklärung und der Erklärung zur Unternehmensführung durch Aufsichtsrat und Abschlussprüfer, AG 2018, 266; Velte/ Simon-Heckroth/Borcherding, Zur Notwendigkeit eines „CSR-RUG 2.0“: Eine Bestandsaufnahme empirischer Befunde zur Entscheidungsnützlichkeit der nichtfinanziellen Erklärung, WPg 2020, 1349; Walden, Corporate Social Responsibility: Rechte, Pflichten und Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat, NZG 2020, 50; Zimmermann, ESG als Herausforderung für die Aufsichts- und Beiratsarbeit, Der Aufsichtsrat 2022, 71.

Vorbemerkung und Begriffsdefinitionen 1 Das Thema Nachhaltigkeit nimmt einen zunehmenden Stellenwert ein, nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch am Kapitalmarkt. Ein Beispiel dafür findet sich in einer Ausgabe des „Letter to CEO’s“, den der Vorstandsvorsitzende des weltweit größten Vermögensverwalters jährlich veröffentlicht. In seinem Brief für das Jahr 2022 forderte er Unternehmen dazu auf, für das gesamte Spektrum ihrer Stakeholder Wert zu schaffen und ihre Wertschätzung zu sichern, da nur auf diesem Weg auch Aktionären langfristig Wert geboten werden könne.1) 2 Neben ökonomischen Aspekten auch soziale sowie ökologische Auswirkungen des unternehmerischen Handelns zu berücksichtigen – kurzum: die Interessen aller Anspruchsgruppen einzubeziehen statt nur die der Anteilseigner – lässt sich als Kernidee von unternehmerischer Nachhaltigkeit zusammenfassen. Neben dem Begriff „Nachhaltigkeit“ lassen sich viele verwandte Ausdrücke in der Literatur und Praxis finden, im folgenden Abschnitt werden diese kurz definiert und voneinander abgegrenzt: 

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ gewann besondere Aufmerksamkeit durch den 1987 veröffentlichten Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen, der das Leitbild einer Nachhaltigen Entwicklung skizzierte. Eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der heutigen Generation erfüllt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, wiederum ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, bezeichnet der Bericht als „nachhaltig“.2)

___________ 1)

2)

Im Original: „In today’s globally interconnected world, a company must create value for and be valued by its full range of stakeholders in order to deliver long-term value for its shareholders.“, in: Blackrock (2022), Larry Fink’s 2022 Letter to CEOs: Power of Capitalism, abrufbar unter https://www.blackrock.com/corporate/investor-relations/larry-fink-ceo-letter. United Nations (1987), Report of the World Commission on Environment and Development, „Our Common Future“, abrufbar unter http://www.un-documents.net/ocf-02.htm.

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Vorbemerkung und Begriffsdefinitionen



Im Kontext der unternehmerischen Nachhaltigkeit (Corporate Sustainability) wird häufig auf das Triple Bottom Line-Prinzip Bezug genommen: Gemäß diesem Ansatz berücksichtigen Unternehmen gleichermaßen Ökonomie, Ökologie und Soziales.3)



Nahe verwandt damit scheint der ebenfalls oft genutzte Begriff Corporate Social Responsibility (CSR). Für CSR existiert weder ein universelles Konzept noch eine universelle Begriffsdefinition.4) Häufig wird auf die Definition der Europäischen Kommission zurückgegriffen: In diesem Rahmen wird CSR beschrieben als „die Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“.5) Um dieser gerecht zu werden, sollen Unternehmen ein Verfahren entwickeln, um im Austausch mit Stakeholdern Sozial-, Umwelt-, Ethik-, Menschenrechts- und Verbraucherbelange in Geschäftsaktivitäten und Unternehmensstrategie zu integrieren. Demnach ist das Ziel von CSR, den Shared Value für die unterschiedlichen Stakeholder und die Gesellschaft zu maximieren und negative Auswirkungen des unternehmerischen Handelns vorzubeugen und zu verringern. Dabei betont die Europäische Kommission auch, dass CSR ein freiwilliges Konzept darstellt und über gesetzliche Anforderungen hinaus geht.6)



Im Kapitalmarktkontext wird vermehrt auf den Begriff Environmental, Social and Governance (ESG) zurückgegriffen, der den Zusammenhang zwischen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit und „guter“ Unternehmensführung betont.7)



Seitens der EU wurde 2014 ein weiterer in diesem Kontext relevanter Begriff eingeführt: die „nichtfinanzielle Berichterstattung“, die die bestehende finanzielle Berichterstattung um Nachhaltigkeitsaspekte ergänzt (Æ Rz. 44 ff.).

Es lässt sich festhalten, dass die verschiedenen Begriffe teils unterschiedliche Kon- 3 zepte oder Perspektiven von unternehmerischer Verantwortung ausdrücken und über unterschiedliche historische Ursprünge verfügen. Für ein besseres Verständnis wird in diesem Kapitel ausschließlich der Begriff „Nachhaltigkeit“ genutzt. Dieses Kapitel gliedert sich wie folgt:

4

Abschnitt A (Æ Rz. 5 ff.) gibt einen Überblick über die aktuellen regulatorischen Entwicklungen auf EU-Ebene, die auch direkte Auswirkungen für deutsche ___________ 3) 4) 5)

6)

7)

Elkington, 1997. Schneider, 2015, 21 (22). Europäische Kommission (2011), Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR), S. 7, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52011DC0681&from=DE. Europäische Kommission (2011), Eine neue EU-Strategie (2011-14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR), S. 4 ff., abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52011DC0681&from=DE. Velte, DB 2021, 1054 (1054).

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

Unternehmen nach sich ziehen. In Abschnitt B (Æ Rz. 9 ff.) werden die Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten erläutert, die nachhaltigkeitsbezogenen Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex skizziert sowie die gesetzlichen Vorgaben zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in der Vorstandsvergütung und Diversität in den Führungsebenen dargestellt. Ein Überblick über die aktuellen gesetzlichen Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und ihre Weiterentwicklung findet sich in Abschnitt C (Æ Rz. 44 ff.). Das Kapitel schließt mit einem Fazit in Abschnitt D (Æ Rz. 68 ff.), das die für Vorstand und Aufsichtsrat wichtigsten Entwicklungen mit Blick auf Nachhaltigkeitsaspekte zusammenfasst und einen Ausblick auf zukünftige Herausforderungen gibt. A.

Überblick über relevante Entwicklungen auf EU-Ebene

5 Ein Blick auf EU-Ebene zeigt, dass regulatorische Anforderungen an Unternehmen für nachhaltiges Wirtschaften in hoher Geschwindigkeit zunehmen: Im Rahmen des sogenannten Green Deals hat die Europäische Kommission Ende 2019 das Ziel der Klimaneutralität in der Europäischen Union bis 2050 angekündigt, im Einklang mit dem Pariser Klimaschutzabkommen aus dem Jahr 2015.8) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verdeutlichte die Tragweite des Green Deals, als sie seine Verabschiedung als „Europas ‚Mann-auf-demMond-Moment‘“9) bezeichnete. 6 Die Sustainable Finance-Strategie der EU soll helfen, Kapitalströme in nachhaltige Investitionen umzuleiten. Der erste EU-Aktionsplan (Action Plan for Financing Sustainable Growth) umfasst die EU-Taxonomie-Verordnung (Æ Rz. 49 f.), eine nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungsverordnung für Finanzmarktteilnehmer und Finanzberater (Sustainable Finance Disclosure Regulation) sowie Standards für die Klassifizierung nachhaltiger Finanzprodukte (Low Carbon Benchmarks Regulation). Die Umsetzung zusätzlicher Maßnahmen, um die nachhaltige Transformation des Finanzsystems zu beschleunigen, soll folgen.10) 7 Weitere EU-Richtlinien folgen: Die im Januar 2023 in Kraft getretene Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) (Æ Rz. 56 ff.) wird die Nachhaltigkeitsberichterstattung ausweiten und stärken. Die Corporate Sustainability Due ___________ 8) Europäische Kommission (2019), Der europäische Grüne Deal, abrufbar unter https://eurlex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:b828d165-1c22-11ea-8c1f-01aa75ed71a1.0021.02/ DOC_1&format=PDF. 9) Im Original: „But this is Europe’s ‚man on the moon‘ moment“, Europäische Kommission (2019), Press remarks by President von der Leyen on the occasion of the adoption of the European Green Deal, abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ en/speech_19_6749. 10) Europäische Kommission (2021), Strategy for Financing the Transition to a Sustainable Economy, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:9f5e7e95-df0611eb-895a-01aa75ed71a1.0001.02/DOC_1&format=PDF.

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B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat

Diligence Directive11) soll Unternehmen gemäß Richtlinienentwurf verbindliche Menschenrechts- und Umwelt-Sorgfaltspflichten in der Lieferkette auferlegen. Auch erwägt die Europäische Kommission die Modifizierung bestehender EU- 8 Richtlinien, um die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in die interne Corporate Governance vorzuschreiben (Sustainable Board Governance).12) Neue Anforderungen hinsichtlich Diversität in der Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat, der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien in der Vorstandsvergütung sowie die Konkretisierung von Leitungs- und Überwachungspflichten mit Blick auf Nachhaltigkeitsbelange wären möglich.13) B.

Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat aus der Nachhaltigkeitsperspektive

I.

Grundlegende Pflichten des Vorstands

1.

Leitung im Unternehmensinteresse

Gemäß Aktiengesetz soll der Vorstand „unter eigener Verantwortung die Gesell- 9 schaft (…) leiten“ (§ 76 Abs. 1 AktG). Der Deutsche Corporate Governance Kodex (Æ Rz. 25 ff.) konkretisiert diesen Auftrag in seiner Präambel wie folgt: Vorstand sowie Aufsichtsrat haben die Pflicht, „im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft unter Berücksichtigung der Belange der Aktionäre, der Belegschaft und der sonstigen mit dem Unternehmen verbundenen Gruppen (Stakeholder) für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse)“.14) Die Interpretation des „Unternehmensinteresse“ wird in der Literatur breit dis- 10 kutiert.15) Es lassen sich zwei Ansätze gegenüberstellen: Das Prinzip der Berücksichtigung und Ausgleich der Interessen aller Anspruchsgruppen wird als Stakeholder-Value-Ansatz bezeichnet.16) Dem entgegen steht die Auffassung, dass vorrangig die Belange der Anteilseigner für die Unternehmensleitung von Interesse sein sollten – der Shareholder-Value-Ansatz.17) ___________ 11) Europäische Kommission (2022), Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937, abrufbar unter https://eur-lex. europa.eu/resource.html?uri=cellar:bc4dcea4-9584-11ec-b4e4-01aa75ed71a1.0007.02/ DOC_1&format=PDF. 12) Velte, IRZ 2022, 63 (64). 13) Velte, IRZ 2022, 63 (64). 14) Deutscher Corporate Governance Kodex, in der Fassung vom 28.4.2022, S. 2, abrufbar unter https://www.dcgk.de//files/dcgk/usercontent/de/download/kodex/220627_Deutscher_ Corporate_Governance_Kodex_2022.pdf. 15) Velte, DB 2021, 1113 (1113). 16) Schram, 2015, 607 (612 f.). 17) Schram, 2015, 607 (612 f.).

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

11 Der Deutsche Corporate Governance Kodex richtet das Unternehmensinteresse am Stakeholder-Value-Ansatz aus.18) Der Kodex weist in seiner Präambel darauf hin, dass Vorstand und Aufsichtsrat die sozialen und ökologischen Auswirkungen des unternehmerischen Handelns bei der Führung und Überwachung im Rahmen des Unternehmensinteresses berücksichtigen sollen. Ebenso verweist der Kodex in der Präambel auf den Einfluss von Sozial- und Umweltaspekten auf den Unternehmenserfolg. Der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung schlug eine Anpassung des § 76 Abs. 1 AktG vor: „Leitung im langfristigen Interesse des Unternehmens unter angemessener Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen“19). 12 Selbst nach dem Shareholder-Value-Ansatz ließe sich argumentieren, dass Nachhaltigkeitsbelange für das Unternehmensinteresse relevant sind. In der Verantwortung des Vorstands liegt es, den Unternehmensbestand zu sichern und langfristig renditeorientiert zu handeln.20) Angesichts der zunehmenden Regulierung und Aufmerksamkeit für das Thema Nachhaltigkeit lässt sich argumentieren, dass Chancen sowie Risiken in Verbindung mit Nachhaltigkeitsaspekten maßgebliche Auswirkungen auf die Rentabilität und den Unternehmensbestand haben können.21) Bereits heute beeinflusst die Nachhaltigkeitsperformance die Zusage und Konditionen von Krediten.22) Es ist anzunehmen, dass nachhaltig agierende Unternehmen in Zukunft geringere Kapitalkosten von langfristig orientierten Kapitalgebern erwarten können, während Unternehmen mit weniger Ambition für Nachhaltigkeit der Zugang zu Finanzierung erschwert wird.23) In diesem Kontext sei verwiesen auf neue Formen nachhaltiger Anleihen, die als Finanzierungsalternativen attraktiv sein können: Am Kapitalmarkt werden zunehmend sogenannte Green Bonds oder Social Bonds emittiert, deren Erlöse ausschließlich zur Finanzierung von Klimaschutz- und Umweltprojekten bzw. sozialer Projekte genutzt werden dürfen.24) Auch sogenannte ESG-Ratings, die die Nachhaltigkeitsperformance von Unternehmen bewerten, spielen eine zunehmend wichtige Rolle am Kapitalmarkt.25) ___________ 18) Velte, DB 2022, M4 (M4). 19) Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (2021), Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation, S. 96, abrufbar unter https://sustainablefinance-beirat.de/wp-content/uploads/2021/02/210224_SFB_-Abschlussbericht-2021.pdf. 20) Walden, NZG 2020, 50 (55). 21) Walden, NZG 2020, 50 (55). 22) Zimmermann, Der Aufsichtsrat 2022, 71 (71). 23) Velte, DB 2021, 1054 (1055). 24) Börsen-Zeitung (13.06.2022), Green und Sustainable stark im Fokus der ICMA, abrufbar unter https://www.boersen-zeitung.de/kapitalmaerkte/green-und-sustainable-stark-im-fokusder-icma-e025a04e-eb0e-11ec-9711-55be560abee3?read=true. 25) Börsen-Zeitung (09.04.2022), Sind ESG-Ratings das AAA der Zukunft?, abrufbar unter https://daten.boersen-zeitung.de/bzpro/sonderbeilage/2022/BZ_220409.pdf.

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B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat

2.

Angemessene Informationsgrundlage

Neben der Einhaltung der Gesetze (Legalitätspflicht) wird vom Vorstand gefor- 13 dert, „die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden“ (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG). Ebenso soll er unternehmerische Entscheidungen „auf der Grundlage angemessener Informationen“ treffen (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Angesichts der gestiegenen Kapitalmarktrelevanz des Themas Nachhaltigkeit 14 lässt sich argumentieren, dass eine angemessene Informationsgrundlage auch die Berücksichtigung ökologischer sowie sozialer Aspekte einschließen sollte.26) Auch der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung wies darauf hin, dass der enthaftende Schutz der Business Judgement Rule nur Anwendung finden sollte „nach angemessener Identifizierung und Abschätzung aller relevanten Risiken, einschließlich ökologischer und sozialer Nachhaltigkeitsrisiken“27). 3.

Einrichtung eines Risikomanagementsystems

Der Vorstand ist dazu verpflichtet, ein System zur Früherkennung und Über- 15 wachung bestandsgefährdender Risiken einzurichten (§ 91 Abs. 2 AktG). Von börsennotierten Gesellschaften wird in § 91 Abs. 3 AktG zusätzlich die Einrichtung eines angemessenen und wirksamen internen Kontrollsystems und Risikomanagementsystems unter Berücksichtigung des Umfangs der Geschäftstätigkeit und der Risikolage des Unternehmens verlangt. Es lässt sich argumentieren, dass auch Nachhaltigkeitsaspekte zu bestandsgefährdenden Risiken führen können, was ihre Integration in das Risikofrüherkennungssystem erfordern würde.28) In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf das Merkblatt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)29), in dem sich diese deutlich für die Befassung mit Nachhaltigkeitsrisiken im Rahmen des Risikomanagements ausspricht. Der Sustainable-Finance-Beirat schlug vor, die Pflicht des Vorstands zur Einrichtung von Kontroll- und Risikomanagementsystemen insofern im Aktiengesetz zu spezifizieren, als dass diese auch Nachhaltigkeitsrisiken abdecken sollen.30) Vermehrt finden besonders klimabezogene Risiken Eingang in das unterneh- 16 merische Risikomanagement. Grundlegend wird unterschieden zwischen physi___________ 26) Walden, NZG 2020, 50 (59). 27) Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (2021), Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation, S. 96, abrufbar unter https://sustainablefinance-beirat.de/wp-content/uploads/2021/02/210224_SFB_-Abschlussbericht-2021.pdf. 28) Walden, NZG 2020, 50 (55 f.). 29) Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (2020), Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/DE/Merkblatt/dl_mb_Nachhaltigkeitsrisiken.pdf. 30) Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (2021), Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation, S. 96, abrufbar unter https://sustainablefinance-beirat.de/wp-content/uploads/2021/02/210224_SFB_-Abschlussbericht-2021.pdf.

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

schen Risiken (resultierend aus Folgen des Klimawandels, beispielweise Schäden durch Extremwetterereignisse) und transitorischen Risiken (als Konsequenz aus klimaschutzpolitischen Maßnahmen, beispielsweise einer CO2-Steuer).31) Als Best-Practice gilt eine Berichterstattung gemäß den Empfehlungen der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD), was die größten deutschen Unternehmen bereits mehrheitlich umsetzen.32) 17 Compliance-Risiken und Nachhaltigkeitsrisiken zeigen eine Schnittmenge.33) In diesem Kontext ist das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (LkSG) hervorzuheben, das im Jahr 2023 in Kraft trat. Es verpflichtet Unternehmen zur Umsetzung von Maßnahmen zur Erfüllung ihrer menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflicht im eigenen Geschäftsbereich und entlang ihrer Lieferkette. Das Gesetz fordert im Wesentlichen die Einrichtung eines wirksamen und angemessenen Risikomanagements mit Lieferkettenbezug.34) Die Verabschiedung der Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) könnte eine Überarbeitung und Verschärfung des bestehenden LkSG erfordern, da sich der aktuelle EU-Richtlinienentwurf in diversen Punkten vom LkSG unterscheidet.35) 18 Das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz (CSR-RUG) fordert bereits die Offenlegung wesentlicher Risiken (Æ Rz. 47) unter gewissen Voraussetzungen. Im Rahmen der CSRD intensivieren sich die Vorgaben für die Berichterstattung zu Nachhaltigkeitsrisiken36) (Æ Rz. 62). Entsprechend wird der Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken voraussichtlich nicht nur mehr Raum in der Berichterstattung einnehmen, sondern auch eine größere Rolle in der Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats sowie in der Abschlussprüfung spielen.37) 19 Im Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken sind Unternehmen gefordert, eine neue Perspektive der Risikobetrachtung einzunehmen: Nicht nur die Risiken für potenzielle Schäden für die eigene Gesellschaft sollten betrachtet werden (OutsideIn-Perspektive), sondern auch Risiken negativer Auswirkungen der Geschäftsaktivitäten auf externe Stakeholder (Inside-Out-Perspektive).38) ___________ 31) Loew et al. (2021), Management von Klimarisiken in Unternehmen: Politische Entwicklungen, Konzepte und Berichtspraxis, S. 15, abrufbar unter https://www.umweltbundesamt.de/ sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021_02_01_cc_05-2021_management_ klimarisiken_0.pdf. 32) Loew et al. (2021), Management von Klimarisiken in Unternehmen: Politische Entwicklungen, Konzepte und Berichtspraxis, S. 5, abrufbar unter https://www.umweltbundesamt.de/ sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021_02_01_cc_05-2021_management_ klimarisiken_0.pdf. 33) Velte, DB 2021, 1113 (1116). 34) Velte, IRZ 2022, 63 (65). 35) Baumüller/Needham/Scheid, DB 2022, 1401 (1404). 36) Lanfermann/Baumüller/Scheid, ZfRM 2022, 36 (36 ff.). 37) Mock/Velte, AG 2023, 885 (887). 38) Lanfermann/Baumüller/Scheid, ZfRM 2022, 36 (37).

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B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat

4.

Haftungsrisiken durch Greenwashing

Angesichts des gesteigerten öffentlichen Interesses für unternehmerische Nach- 20 haltigkeit sollte sich die Unternehmensleitung auch mit potenziellen Vorwürfen des Greenwashings und gegebenenfalls daraus resultierenden Reputationsschäden, Haftungsrisiken und rechtlichen Konsequenzen auseinandersetzen. Als Greenwashing wird das Vorgehen von Unternehmen bezeichnet, die einen falschen Eindruck von ihren Umweltauswirkungen oder umweltbezogenen Vorteilen vermitteln.39) Im März 2023 veröffentlichte die EU-Kommission einen Entwurf für die sogenannte Green-Claims-Richtlinie, die unter anderem die Substantiierung umweltbezogener Werbeaussagen fordert und eine Regulierung von Umweltzeichen vorschlägt.40) Die Verabschiedung einer solchen Richtlinie würde zur Harmonisierung der nationalen Regelungen beitragen und die Verlässlichkeit umweltbezogener Aussagen für Verbraucher stärken, gleichzeitig umfassende neue Anforderungen für Unternehmen in Bezug auf Überprüfung und Transparenz aussprechen.41) Greenwashing-Versuche können unter bestimmten Bedingungen einen Verstoß 21 gegen das Verbot unlauterer geschäftlicher Handlungen i. S. v. §§ 3, 5, 5a UWG darstellen.42) Werbeaussagen über vermeintliche Umweltvorteile können „irreführend“ für Verbraucher sein, in Deutschland haben Nichtregierungsorganisationen bereits Unternehmen diesbezüglich erfolgreich vor Gericht gebracht.43) Ein prominenter Fall in Deutschland zeigt, dass die potenziell falsche Ausweisung von Investments als „grün“ Ermittlungen aufgrund des Verdachts auf Kapitalanlagebetrug und den Rücktritt eines Vorstandsvorsitzenden auslösen kann.44) In diesem Zusammenhang sei verwiesen auf die Absicht der EU, mit verbindlichen Nachhaltigkeitskriterien für Finanzprodukte Verbraucher vor Missbrauch schützen (Æ Rz. 6). II.

Grundlegende Pflichten des Aufsichtsrats

Die Verantwortung des Aufsichtsrats liegt in der Überwachung der Geschäfts- 22 führung (§ 111 Abs. 1 AktG). Für die Erfüllung seiner Überwachungsaufgabe ___________ 39) Europäische Kommission, Initiative on substantiating green claims, abrufbar unter https:// ec.europa.eu/environment/eussd/smgp/initiative_on_green_claims.htm?etrans=de%20,%20 Verbraucherstrategie%20|%20EU-Kommission%20(europa.eu). 40) Europäische Kommission (2023), Verbraucherschutz: nachhaltige Kaufentscheidungen ermöglichen und Greenwashing beenden, abrufbar unter; https://ec.europa.eu/commission/ presscorner/detail/de/ip_23_1692. 41) Alpers, DB 2023, M4 (M4). 42) Chatzinerantzis/Hohm, DB 2021, 9 (9). 43) Chatzinerantzis/Hohm, DB 2021, 9 (10). 44) Handelsblatt Online (01.06.2022), Abgang von DWS-Chef Wöhrmann: Was die Affäre für die Deutsche Bank bedeutet, abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/finanzen/deutschebank-tochter-abgang-von-dws-chef-woehrmann-was-die-affaere-fuer-die-deutsche-bankbedeutet/28390246.html.

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

kann er auf diverse Informationsrechte zurückgreifen: Der Vorstand hat Berichtspflichten an den Aufsichtsrat (§ 90 AktG), der wiederum Zustimmungspflichten innehat (§ 111 Abs. 4 AktG).45) Außerdem berät der Aufsichtsrat den Vorstand und bestellt sowie entlässt seine Mitglieder (§ 84 AktG). Der Aufsichtsrat wird in die Entscheidungsfindung des Vorstands involviert und prüft die externe Berichterstattung des Unternehmens, darunter auch die nichtfinanzielle Erklärung (Æ Rz. 54). Auch für den Aufsichtsrat gilt die Sorgfaltspflicht des Vorstands (§ 116 Satz 1 AktG). 23 Gesetzliche Vorgaben definieren Anforderungen mit Blick auf Branchen- und Finanz-Expertise, die im Aufsichtsrat vorhanden sein muss (§ 100 Abs. 5 AktG). Angesichts der steigenden Anforderungen an Unternehmen im Bereich Nachhaltigkeit, darunter auch die verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung, wird diskutiert, inwiefern auch Expertise in diesem Feld für den Aufsichtsrat nötig ist oder gesetzlich verankert werden sollte46) (Æ Rz. 29). 24 Die Pflicht des Aufsichtsrats zur Überwachung und Prüfung wird in §§ 111, 107 Abs. 3, 171 AktG konkretisiert. Auch hier werden Vorschläge diskutiert, inwiefern das Aktiengesetz angepasst werden sollte, um den Stellenwert von Nachhaltigkeitsbelangen innerhalb der Überwachungspflicht des Aufsichtsrats zu verdeutlichen. Der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung schlug folgende Anpassung für §§ 107 Abs. 3, 111 Abs. 1 AktG vor: „Die Überwachung umfasst die langfristige Entwicklung und angemessene Berücksichtigung von Nachhaltigkeits- und Klimarisiken sowie Stakeholder-Erwartungen in Bezug auf Nachhaltigkeit“47). III.

Grundsätze und Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex

25 Der Deutsche Corporate Governance Kodex spricht Grundsätze, Empfehlungen und Anregungen für die Ausgestaltung der Unternehmensführung von börsennotierten Gesellschaften aus. Im Rahmen der Grundsätze fasst der Kodex rechtliche Vorgaben zusammen. Von Empfehlungen und Anregungen des Kodex können Unternehmen abweichen, müssen dies im Fall der Empfehlungen jedoch begründen. Der Kodex wird regelmäßig überabeitet und wurde zuletzt im Jahr 2022 um diverse nachhaltigkeitsbezogene Empfehlungen erweitert. Die aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten relevanten Inhalte des Kodex werden infolge zusammengefasst. ___________ 45) Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (119). 46) Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (2021), Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation, S. 95, abrufbar unter https://sustainablefinance-beirat.de/wp-content/uploads/2021/02/210224_SFB_-Abschlussbericht-2021.pdf; Velte, IRZ 2022, 63 (67). 47) Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (2021), Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation, S. 96, abrufbar unter https://sustainablefinance-beirat.de/wp-content/uploads/2021/02/210224_SFB_-Abschlussbericht-2021.pdf.

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B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat

In seiner neuen Fassung spricht der Kodex eine deutliche Empfehlung für die 26 Integration von Nachhaltigkeit in die Corporate Governance aus.48) Der Kodex greift das doppelte Wesentlichkeitsverständnis auf, das in der CSRD beschrieben wird (Æ Rz. 60), und richtet das Unternehmensinteresse am StakeholderValue-Ansatz aus49). Der Kodex konkretisiert in seiner Präambel auch die diesbezüglichen Pflichten 27 von Vorstand und Aufsichtsrat: Sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat sollen bei der Führung und Überwachung des Unternehmens berücksichtigen, dass das unternehmerische Handeln Auswirkungen auf Stakeholder hat und dass Sozial- und Umweltbelange den Unternehmenserfolg beeinflussen können. Neben der Einhaltung von Gesetzen sei auch „ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten“50) nötig, der Kodex verweist auf das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns. In Empfehlung A.1 führt der Kodex aus, dass der Vorstand auch jene Risiken 28 und Chancen systematisch identifizieren und bewerten soll, die mit Sozialund Umweltbelangen zusammenhängen, gleiches gilt für die ökologischen und sozialen Auswirkungen des Unternehmens. Neu ist darüber hinaus die Empfehlung zur angemessenen Berücksichtigung von ökologischen sowie sozialen Zielen im Rahmen der Unternehmensstrategie und ihre Integration in die Unternehmensplanung (Empfehlung A.1). Interne Kontroll- und Risikomanagementsysteme sollen neben Nachhaltigkeitszielen auch die Systeme und Prozesse abdecken, die zur Erhebung und Verarbeitung von Nachhaltigkeitsinformationen genutzt werden (Empfehlung A.3). Der Aufsichtsrat hat die Pflicht, den Vorstand im Hinblick auf Nachhaltigkeitsfragen zu beraten und zu überprüfen, ob dieser seine nachhaltigkeitsbezogenen Pflichten erfüllt (Grundsatz 6). Der Kodex formuliert zudem Empfehlungen für die Besetzung des Aufsichtsrats: 29 Mindestens ein Aufsichtsratsmitglied sollte über Expertenwissen zu Nachhaltigkeitsthemen verfügen, die für die Gesellschaft relevant sind (Empfehlung C.1). Im Prüfungsausschuss soll Expertenwissen in den Bereichen Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie -prüfung vorhanden sein. Zumindest in einem der beiden Felder sollte der Ausschussvorsitzende besondere Kenntnisse aufweisen, ein weiteres Ausschussmitglied sollte das nötige Fachwissen ergänzen (Empfehlung D.3). Des Weiteren greift der Kodex die Vorgaben des FüPoG II (Æ Rz. 40 ff.) auf. 30 Hingewiesen wird auf die Mindestbeteiligung der Geschlechter im Vorstand bzw. die zu formulierenden Zielgrößen für den Anteil an Frauen in Vorstand (Grundsatz 9) und in der darunterliegenden Führungsebene (Grundsatz 3) sowie auf die gesetzliche Geschlechterquote für den Aufsichtsrat (Grundsatz 11). ___________ 48) Müller/Needham, Stbg 2022, 182 (182 ff.). 49) Velte, DB 2022, M4 (M4). 50) Deutscher Corporate Governance Kodex, in der Fassung vom 28.4.2022, S. 2, abrufbar unter https://www.dcgk.de//files/dcgk/usercontent/de/download/kodex/220627_Deutscher_ Corporate_Governance_Kodex_2022.pdf.

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

Der Kodex formuliert keine Erwartungshaltung bezüglich der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsparametern in der Vorstandsvergütung oder Nachhaltigkeitsexpertise im Vorstand.51) Auch Anforderungen aus dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (Æ Rz. 17) greift der Kodex bisher nicht auf.52) IV.

Vorgaben für die Vorstandsvergütung nach ARUG II

31 Das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) ist zu Beginn des Jahres 2020 in Kraft getreten und beinhaltet unter anderem neue Vorgaben für die Vergütung des Vorstands und des Aufsichtsrats in börsennotierten Aktiengesellschaften sowie eine Stärkung der diesbezüglichen Mitspracherechte der Aktionäre. 32 Als besonders relevant aus der Nachhaltigkeitsperspektive hervorzuheben sind die gesetzlichen Anforderungen des ARUG II mit Blick auf die Vorstandsvergütung: Der Aufsichtsrat wurde dazu verpflichtet, die Vergütungsstruktur des Vorstands auf eine „nachhaltige und langfristige Entwicklung der Gesellschaft“ (§ 87 Abs. 1 Satz 2 AktG) auszurichten sowie die maximale Höhe der Vorstandsvergütung zu begrenzen (§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG). 33 Der Aufsichtsrat muss sich folglich damit beschäftigen, welche qualitativen oder quantitativen Parameter sich dafür eignen können, die Vergütung und damit verbunden das Handeln des Vorstands dementsprechend zu leiten.53) Relevant könnten hier die bedeutsamsten nichtfinanziellen Leistungsindikatoren sein, die das Unternehmen im Rahmen seiner Berichtspflicht nach CSR-RUG offenzulegen hat (Æ Rz. 46).54) 34 Die Verankerung von Nachhaltigkeitszielen im Rahmen des Vergütungssystems ist bereits aktuelle Marktpraxis.55) Das Gesetz etabliert allerdings keine ausdrückliche Verpflichtung, Nachhaltigkeitsaspekte in das Vergütungssystem aufzunehmen, die die variable Vergütung beeinflussen.56) In der Literatur bleibt umstritten, ob die durch das Gesetz geforderte Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten zwingend über die Integration von Nachhaltigkeitsparametern in die variable Vorstandsvergütung vorgenommen werden muss.57) Jedoch unterstreicht die Erläuterungspflicht, die im Rahmen des Vergütungssystems unter anderem Angaben zum „Beitrag der Vergütung zur Förderung der Geschäftsstrategie und zur langfristigen Entwicklung der Gesellschaft“ umfasst (§ 87a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AktG), die klare diesbezügliche Empfehlung des Gesetzgebers.58) Auch ___________ 51) 52) 53) 54) 55) 56) 57) 58)

Velte, DB 2022, M4 (M5). Velte, DB 2022, M4 (M4). Walden, NZG 2020, 50 (58). Walden, NZG 2020, 50 (58). Arnold/Herzberg/Zeh, AG 2021, 141 (142). Johannsen-Roth/Kießling, DB 2021, 31 (31 f.). Johannsen-Roth/Kießling, DB 2021, 31 (31). BeckOGK-AktG/Fleischer, § 87a Rz. 18.

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B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat

wies der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags in seiner Beschlussempfehlung darauf hin, dass die Verwendung der Begriffe „nachhaltig“ sowie „langfristig“ klar verdeutlichen soll, dass „der Aufsichtsrat bei der Festsetzung der Vergütung, insbesondere der Wahl der Vergütungsanreize auch soziale und ökologische Gesichtspunkte in den Blick zu nehmen hat“.59) Der Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung schlug unter anderem einen 35 nachhaltigkeitsbezogenen Anteil der Vorstandsvergütung von mindestens 30 Prozent sowie die Festlegung wesentlicher nichtfinanzieller Leistungskriterien für die Gewährung variabler Vergütungskomponenten im Vergütungssystem vor.60) Der deutsche Arbeitskreis Leitlinien für eine nachhaltige Vorstandsvergütung sammelt Best-Practice-Empfehlungen zur Verknüpfung von Vorstandsvergütung und Nachhaltigkeitszielen und spricht sich für eine Gewichtung der Nachhaltigkeitsziele mit einem Anteil von mindestens 20 Prozent im Vorstandsvergütungssystem aus.61) Der Richtlinienentwurf der Corporate Sustainability Due Diligence Directive fordert die Berücksichtigung von Klimaschutzzielen in der variablen Vergütung der Unternehmensleitung unter bestimmten Voraussetzungen (Art. 15).62) Das Vergütungssystem des Vorstands wird nach ARUG II mindestens alle vier 36 Jahre sowie bei Änderungen zur Billigung der Hauptversammlung präsentiert und von dieser beschlossen, ebenso wird der Vergütungsbericht durch die Hauptversammlung gebilligt und beschlossen (§ 120a Abs. 1, 4 AktG) (Say on Pay). Vorstand und Aufsichtsrat verfassen gemeinsam den jährlichen Vergütungsbericht, der geprüft sowie offengelegt werden muss (§ 162 AktG). Ebenfalls kann die Hauptversammlung (auf Antrag nach § 122 Abs. 2 Satz 1 AktG) die vom Aufsichtsrat festgelegte Maximalvergütung des Vorstands herabsetzen (§ 87 Abs. 4 AktG). Die Gesellschaft muss das Vergütungssystem sowie den Beschluss der Hauptversammlung auf ihrer Internetseite offenlegen (§ 120a Abs. 2 AktG). Zur Stärkung der Transparenz legt das Gesetz institutionellen Anlegern, Vermö- 37 gensverwaltern und Stimmrechtsberatern Offenlegungspflichten auf (§§ 134c, 134d AktG). Unter anderem sind institutionelle Anleger und Vermögensverwalter ___________ 59) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (2019), Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksachen 19/9739, 19/10507 – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II), S. 55, abrufbar unter https:// dserver.bundestag.de/btd/19/151/1915153.pdf. 60) Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung (2021), Shifting the Trillions. Ein nachhaltiges Finanzsystem für die Große Transformation, S. 96, abrufbar unter https://sustainablefinance-beirat.de/wp-content/uploads/2021/02/210224_SFB_-Abschlussbericht-2021.pdf. 61) Arbeitskreis Leitlinien für eine nachhaltige Vorstandsvergütung (2021), White Paper: Nachhaltigkeit, ESG-Ziele und deren Verankerung in der Vorstandsvergütung. BestPractice-Empfehlungen und deren Kontext, S. 4, abrufbar unter http://www.leitlinienvorstandsverguetung.de/wp-content/uploads/2021/09/whitepaper_esg.pdf. 62) Baumüller/Needham/Scheid, DB 2022, 1401 (1405).

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

dazu verpflichtet, in einer Mitwirkungspolitik zu beschreiben, wie sie die Aktionärsrechte wahrnehmen, und über die Umsetzung zu berichten (§ 134b AktG). 38 Im Rahmen ihres Abstimmungsverhaltens und ihrer Empfehlungen berücksichtigen führende Stimmrechtsberater und große Fondsinvestoren zunehmend, inwiefern Unternehmen Nachhaltigkeitsziele verfolgen.63) Besonders die Berücksichtigung von Klimaschutzzielen im Vergütungssystem stößt auf zunehmendes Interesse seitens Investoren (im Sinne „Say on Climate“).64) Es ist anzunehmen, dass Forderungen seitens institutioneller Investoren und Stimmrechtsberatern nach der Integration von Nachhaltigkeitsparametern in die Vorstandsvergütung lauter werden (Shareholder Activism).65) V.

Vorgaben für die Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat nach FüPoG I und II

39 Um den Anteil von Frauen in Führungspositionen im öffentlichen sowie im privaten Sektor zu stärken, hat der Gesetzgeber zwei Gesetze erlassen: Das erste „Gesetz für die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesverwaltung und in den Unternehmen und Gerichten des Bundes“ (FüPoG I), verabschiedet im Jahr 2015, verpflichtet unter anderem börsennotierte und zugleich paritätisch mitbestimmte Unternehmen dazu, ihren Aufsichtsrat mindestens zu 30 Prozent mit Frauen und mindestens zu 30 Prozent mit Männern zu besetzen (§ 96 Abs. 2 Satz 1 AktG). Im Fall von börsennotierten oder mitbestimmungspflichtigen Gesellschaften fordert das FüPoG I die unternehmensindividuelle Festlegung von Zielgrößen für Frauen im Aufsichtsrat sowie Vorstand (§ 111 Abs. 5 AktG) und den beiden darunter liegenden Führungsebenen (§ 76 Abs. 4 AktG). Mit Blick auf die zu definierenden Zielgrößen gilt das sogenannte Verschlechterungsverbot: Wenn der tatsächliche Frauenanteil unter 30 Prozent lag, darf die Zielgröße nicht unter dem Status Quo liegen (§ 76 Abs. 4 Satz 5 AktG; § 111 Abs. 5 Satz 5 AktG). 40 Mit dem „Zweiten Führungspositionen-Gesetz“ (FüPoG II) aus dem Jahr 2021 verschärfte der Gesetzgeber seine Vorgaben, da eine zwischenzeitliche Evaluation dem ersten Gesetz nur eine geringe Wirkung bescheinigte: In der Praxis zeigte sich, dass Frauen weiterhin wenig in Vorständen vertreten sind und Unternehmen mehrheitlich keine Zielgröße oder eine Zielgröße von null Frauen im Vorstand definierten und veröffentlichten.66) ___________ 63) 64) 65) 66)

Johannsen-Roth/Kießling, DB 2021, 31 (33). Mock/Velte, AG 2023, 885 (892). Walden, NZG 2020, 50 (58). Deutscher Bundestag (2021), Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BT-Drucks. 19/26689, S. 1 f; abrufbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/266/1926689.pdf.

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B. Überblick über relevante Vorgaben für Vorstand und Aufsichtsrat

Nun gilt: Sofern ein Unternehmen börsennotiert und paritätisch mitbestimmt 41 ist und der Vorstand aus mehr als drei Personen gebildet wird, müssen darunter mindestens eine Frau sowie ein Mann vertreten sein (§ 76 Abs. 3a AktG). Die neue Regelung ist anzuwenden bei der Bestellung von Vorstandsmitgliedern nach dem 1.8.2022 und berührt laufende Mandate nicht (§ 26l Abs. 1 EGAktG). Mit Blick auf die zwei Führungsebenen unterhalb des Vorstands muss dieser wei- 42 terhin Zielgrößen für Frauen auf der jeweiligen Ebene formulieren und nun volle Personenzahlen abbilden (§ 76 Abs. 4 Satz 1, 2 AktG). Es ist weiterhin zulässig, eine Zielgröße von Null zu formulieren. Jedoch muss dies fundiert begründet werden (§ 76 Abs. 4 Satz 3, 4 AktG). Der Aufsichtsrat muss weiterhin Zielgrößen für den Frauenanteil im Vorstand sowie für sich selbst in vollen Personenzahlen und einschließlich Fristen zur Zielerreichung (maximal fünf Jahre) definieren (§ 111 Abs. 5 Satz 1, 2, 6, 7 AktG). Auch hier gilt: Wird die Zielgröße für Vorstand oder Aufsichtsrat auf Null festgelegt, muss diese Entscheidung fundiert begründet werden (§ 111 Abs. 5 Satz 3, 4 AktG). Das Gesetz sieht Sanktionen für den Fall von Non-Compliance vor. Des Weiteren formuliert das Gesetz ähnliche Anforderungen an Leitungsorgane börsennotierter Europäischer Gesellschaften sowie an die Geschäftsführung mitbestimmter Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Das FüPoG II einschließlich seiner Begründungpflicht für Zielgrößen von Null 43 verdeutlicht die Erwartungshaltung des Gesetzgebers: Unternehmen sollen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen und sich um eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auf Leitungs- und Führungsebene bemühen.67) Die Diversitätsberichterstattung ist verpflichtend und in der Erklärung zur Unternehmensführung zu verankern (Æ Rz. 55). C.

Überblick über Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung

I.

Aufstellung der nichtfinanziellen Erklärung nach CSR-RUG

Das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz (CSR-RUG) überführte die Non-Fi- 44 nancial Reporting Directive (NFRD) der EU in nationale Gesetzgebung und trat im April 2017 in Kraft. Seitdem sind große, kapitalmarktorientierte Unternehmen, Kreditinstitute und Versicherungen zur Erstellung der sogenannten nichtfinanziellen Erklärung verpflichtet (§ 289b HGB). Die Berichtspflicht greift sobald folgende Kriterien kumulativ erfüllt werden (§ 289b Abs. 1 AktG): 1. große Kapitalgesellschaften i. S. v. § 267 Abs. 3 Satz 1 HGB, 2. kapitalmarktorientiert i. S. v. § 264d HGB, 3. mehr als 500 Beschäftigte im Jahresdurchschnitt. Alternativ zur Integration in bzw. Erweiterung des Lageberichts kann ___________ 67) Deutscher Bundestag (2021), Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BT-Drucks. 19/26689, S. 2; abrufbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/266/1926689.pdf.

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

die nichtfinanzielle Erklärung auch in einem gesonderten Bericht veröffentlicht werden (§ 289b Abs. 3 HGB). Kapitalgesellschaften können von der Berichtspflicht befreit werden, wenn sie in die nichtfinanzielle Erklärung des Mutterunternehmens einbezogen werden (§ 289b Abs. 2 HGB). Unternehmen können zudem unter bestimmten Voraussetzungen auf die Offenlegung geforderter Angaben verzichten, sofern sich diese erheblich nachteilig auswirken könnten (§ 289e HGB). 1.

Inhalte der nichtfinanziellen Erklärung

45 Im Rahmen der nichtfinanziellen Erklärung sind Unternehmen dazu verpflichtet, neben der Beschreibung ihres Geschäftsmodells Angaben zu Arbeitnehmer-, Umwelt- und Sozialbelangen sowie zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung und Achtung der Menschenrechte zu veröffentlichen, sofern diese erforderlich sind für das Verständnis des Geschäftsverlaufs und -ergebnisses, der Lage der Kapitalgesellschaft sowie der Auswirkungen der Tätigkeiten auf die Belange (§ 289c HGB) (Wesentlichkeitsprinzip). 46 Für die genannten fünf Belange soll das Unternehmen seine Konzepte einschließlich Due-Diligence-Prozesse sowie Ergebnisse der verfolgten Konzepte beschreiben (§ 289c Abs. 3 Nr. 1, 2 HGB). Sofern das Unternehmen kein Konzept verfolgt, muss dies begründet werden (§ 289c Abs. 4 HGB) (Complyor-Explain-Ansatz). Darüber hinaus sollen bedeutsamste nichtfinanzielle Leistungsindikatoren veröffentlicht werden, die für die Geschäftstätigkeit von Bedeutung sind (§ 289c Abs. 3 Nr. 5 HGB). Falls ein Rahmenwerk zur Berichterstattung genutzt wird, ist dies zu nennen (Beispiele für gängige Rahmenwerke sind die GRI Standards oder der Deutsche Nachhaltigkeitskodex), eine Entscheidung gegen die Anwendung eines Rahmenwerks soll begründet werden (§ 289d HGB). 47 Des Weiteren sind wesentliche Risiken und ihre Handhabung zu berichten (§ 289c Abs. 3 Nr. 3, 4 HGB). Offenzulegen sind Risiken, die sehr wahrscheinlich schwerwiegende negative Auswirkungen auf nichtfinanzielle Belange haben (beispielsweise Arbeitnehmer- oder Umweltrisiken) und die mit der eigenen Geschäftstätigkeit, mit Geschäftsbeziehungen, Produkten oder Dienstleistungen verknüpft sind. Hier kann das Unternehmen entscheiden, ob es eine Brutto- oder Netto-Betrachtung der Risiken in seiner Berichterstattung vornimmt.68) In der Praxis zeigte sich, dass viele Unternehmen unter Verweis auf die Netto-Betrachtung keine wesentlichen nichtfinanziellen Risiken ausweisen.69) 48 Das Gesetz lässt den berichtspflichtigen Unternehmen einen großen Ermessensspielraum zur Ausgestaltung ihrer nichtfinanziellen Berichterstattung, unter ___________ 68) Boecker/Zwirner, IRZ 2019, 233 (237). 69) Velte/Simon-Heckroth/Borcherding, WPg 2020, 1349 (1352).

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C. Überblick über Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung

anderem durch das Wesentlichkeitsprinzip.70) Es ist zu beobachten, dass Unternehmen auf der einen Seite ihre Nachhaltigkeitsberichterstattung für ein positives Marketing nutzen möchten, auf der anderen Seite nur restriktiv Angaben machen, um potenzielle Angriffsfläche zu vermeiden.71) In der Praxis zeigt sich, dass die Qualität der nichtfinanziellen Berichterstattung bisher nur bedingt Entscheidungsnützlichkeit bringt.72) 2.

Erweiterung um EU-Taxonomie-Angaben

Durch die EU-Taxonomie-Verordnung wird die nichtfinanzielle Erklärung um 49 weitere Angaben ergänzt: Betroffene Unternehmen müssen seit dem 1.1.2022 den Anteil ihrer „ökologisch nachhaltigen“ Umsatzerlöse, Investitions- und Betriebsaufwendungen offenlegen. Maßgeblich zur Bestimmung der ökologischen Nachhaltigkeit sind die sechs EU-Umweltziele: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. Als Komponente des EU Green Deals (Æ Rz. 5 f.) soll die EU-Taxonomie-Verordnung dabei unterstützen, Transparenz zu schaffen und Kapitalflüsse in nachhaltige Investitionen zu leiten. Nach Art. 8 der EU-Verordnung 2020/852 sind alle Unternehmen, die bereits 50 durch die NFRD erfasst sind, berichtspflichtig. Die Offenlegungspflichten für Finanzunternehmen und Nicht-Finanzunternehmen unterscheiden sich. Es gelten Übergangsregelungen, bis die vollständige Berichtspflicht über Taxonomiekonformität in Bezug auf alle EU-Umweltziele greift (Art. 10 Abs. 2 EU-Verordnung 2021/2178). Der Anwenderkreis wird sich in Zukunft stark erweitern, wenn die CSRD in ihrer aktuellen Fassung in Kraft tritt (Æ Rz. 57). Um als „taxonomiekonform“ zu gelten, müssen Wirtschaftsaktivitäten einen 51 signifikanten Beitrag zu einem der EU-Umweltziele leisten und dabei kein anderes Ziel erheblich behindern. Zur Ermittlung der Taxonomiekonformität müssen Unternehmen einen umfassenden Katalog über technische Bewertungskriterien anwenden. Die Einhaltung sozialer Mindeststandards ist Voraussetzung dafür, dass Wirtschaftstätigkeiten als taxonomiekonform gelten. Weitere delegierte Rechtsakte sowie Verweise auf andere EU-Richtlinien und EU-Verordnungen präzisieren die Kriterien zur Ermittlung der Taxonomiekonformität. Ebenfalls Teil der Berichterstattung bilden qualitative Angaben, darunter die Beschreibung der Vorgehensweise zur Berechnung der Kennzahlen.

___________ 70) Boecker/Zwirner, IRZ 2019, 233 (236). 71) Boecker/Zwirner, IRZ 2019, 233 (235). 72) Velte/Simon-Heckroth/Borcherding, WPg 2020, 1349 (1357).

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

52 Die geforderten Kennzahlen im Rahmen der EU-Taxonomie führen zu einer stärkeren Verknüpfung der finanziellen und der nichtfinanziellen Berichterstattung. Aufgrund der umfassenden und detaillierten Vorgaben sowie der teilweise noch unbestimmten Rechtsbegriffe in einem regulatorisch dynamischen Umfeld ist die Umsetzung der Anforderungen aktuell mit hohem Aufwand verbunden.73) Auch die Entwicklung einer Sozialen Taxonomie auf EU-Ebene ist in Diskussion, erste Vorschläge für ihre Ausgestaltung liegen vor.74) 3.

Einbezug von Vorstand und Aufsichtsrat

53 Als gesetzlicher Vertreter der Aktiengesellschaft ist der Vorstand verantwortlich für die Aufstellung der nichtfinanziellen Erklärung. Die unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung können Geld- oder Freiheitsstrafen nach sich ziehen, die Abweichung von den Vorgaben über die Inhalte der nichtfinanziellen Erklärung können zu einer Ordnungswidrigkeit führen.75) Klarzustellen ist, dass das CSR-RUG alleinig eine Berichtspflicht ausspricht.76) 54 Der Aufsichtsrat muss die nichtfinanzielle Erklärung inhaltlich prüfen (§ 171 Abs. 1 AktG). Eine zwingende inhaltliche Prüfung der Erklärung durch den Abschlussprüfer ist nicht vorgesehen, es gilt lediglich die formelle Prüfpflicht auf Vorhandensein (§ 317 Abs. 2 HGB). In der Praxis nutzen jedoch viele Aufsichtsräte die externe Prüfung (meist mit begrenzter Sicherheit), um ihrer Pflicht nachzukommen.77) Wenn eine freiwillige externe Prüfung durchgeführt wurde, ist ihr Ergebnis offenzulegen (§ 289b Abs. 4 HGB). 55 Das CSR-RUG verpflichtet Unternehmen auch dazu, in der Erklärung zur Unternehmensführung über ihr Diversitätskonzept für die Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat einschließlich der Ziele, Art und Weise der Umsetzung sowie Ergebnisse zu berichten (§ 289f HGB). Innerhalb der Erklärung zur Unternehmensführung sind auch Angaben über die Erfüllung der Anforderungen des FüPoG I und II vorzunehmen. Für die Erklärung zur Unternehmensführung greift nur die formelle Prüfpflicht des Abschlussprüfers (§ 317 Abs. 2 Satz 4 HGB). Eine explizite inhaltliche Prüfungspflicht des Aufsichtsrats wird in § 171 AktG nicht genannt, in der Literatur bleibt diese Frage umstritten.78) ___________ 73) Baumüller/Haring/Merl, IRZ 2022, 77 (77). 74) Platform on Sustainable Finance (2022), Final Report on Social Taxonomy, abrufbar unter https://finance.ec.europa.eu/system/files/2022-08/220228-sustainable-finance-platformfinance-report-social-taxonomy_en.pdf. 75) Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. (2017), IDW Positionspapier zur nichtfinanziellen Erklärung, abrufbar unter https://www.idw.de/IDW/Medien/Positionspapier/ Downloads-IDW/Down-Positionspapier-Nachhaltigkeit-NichtfinanzielleErklaerung.pdf. 76) Illert/Schneider, DB 2021, 27 (28). 77) Velte/Simon-Heckroth/Borcherding, WPg 2020, 1349 (1354). 78) Velte, AG 2018, 266 (271 f.).

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C. Überblick über Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung

II.

Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsberichterstattung

Die unternehmerische Nachhaltigkeitsberichterstattung infolge der NFRD wird kritisch gesehen, besonders bemängelt werden die fehlende Vergleichbarkeit sowie Verlässlichkeit der Angaben.79) Um diese Mängel zu adressieren, verabschiedete die Europäische Kommission die Corporate Sustainability Reporting Directive, die im Januar 2023 in Kraft trat und von den EU-Mitgliedstaaten bis Juli 2024 unter Ausgestaltung ihrer Mitgliedstaatenwahlrechte in nationales Recht übertragen werden soll (CSRD Art. 5 Abs. 1). Mit dem Begriff des „Corporate Sustainability Reporting“ weicht die EU-Kommission von dem zuvor genutzten Begriff des „Non-Financial Reporting“ ab. An der Begrifflichkeit „nichtfinanziell“ bemängelten Kritiker, dass dieser eine vermeintliche Irrelevanz der Nachhaltigkeitsinformationen in finanzieller Hinsicht ausdrücke (CSRD ErwGr. 8). Die Anzahl berichtspflichtiger Unternehmen soll stark steigen: Der Anwenderkreis wird ausgeweitet auf große Unternehmen (unabhängig einer Kapitalmarktorientierung) sowie Mutterunternehmen eines großen Konzerns. Ebenso sollen alle kleinen und mittelgroßen kapitalmarktorientierten Unternehmen mit Ausnahme von Mikro-Unternehmen innerhalb der EU berichtspflichtig werden, ebenso bestimmte kleine, mittelgroße und große Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen. Unternehmen außerhalb der EU werden berichtspflichtig, wenn ihre Wertpapiere an einem organisierten Markt innerhalb der EU gehandelt werden oder wenn sie einen bestimmten Mindestumsatz innerhalb der EU erwirtschaften sowie über eine Niederlassung oder ein Tochterunternehmen mit bestimmtem Nettoumsatz innerhalb der EU verfügen.80) Die Erstanwendung soll gestaffelt verlaufen: Für Unternehmen, die bereits berichtspflichtig nach der NFRD sind, soll die neue Richtlinie für am oder nach dem 1.1.2024 beginnende Geschäftsjahre greifen. Ein Jahr später trifft die Berichtspflicht große Unternehmen, die vorher nicht berichtspflichtig waren. Kapitalmarktorientierte KMU müssen die Vorgaben der CSRD erstmals für das am oder nach dem 1.1.2026 beginnende Geschäftsjahr anwenden, eine Übergangsfrist gilt bis 2028.81) Die CSRD sieht neben der deutlichen Ausweitung des Anwenderkreises auch maßgebliche Änderungen im Umfang als auch in der Verortung der Berichterstattung vor. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung wird zwingend im Lagebericht verortet und soll gemäß European Single Electronic Format (ESEF) aufgestellt werden.82) Die wesentlichen Änderungen durch die CSRD werden infolge zusammengefasst. ___________ 79) 80) 81) 82)

Stawinoga/Velte, DStR 2021, 2364 (2364). Näher dazu Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2746 ff.). Näher dazu Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2748 f.). Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2753).

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

1.

Zukünftige Inhalte der Berichterstattung

60 Die CSRD verankert das sogenannte doppelte Wesentlichkeitsprinzip (CSRD ErwGr. 29): Demnach soll ein Unternehmen in seiner Berichterstattung Angaben machen, die für das Verständnis der Auswirkungen von Nachhaltigkeitsbelangen auf Geschäftsverlauf, -ergebnis und Unternehmenslage erforderlich sind (OutsideIn-Perspektive), sowie Angaben, die für das Verständnis der Auswirkungen des unternehmerischen Handelns auf Umwelt und Gesellschaft erforderlich sind (Inside-Out-Perspektive).83) Dieses Prinzip unterscheidet sich vom bisherigen Ansatz des CSR-RUG, nach dem Auswirkungen nur dann offenzulegen sind, wenn beide Voraussetzungen – erforderlich sowohl für das Verständnis der eigenen Geschäftstätigkeit als auch für das Verständnis der Auswirkungen auf Stakeholder – zutreffen. Die Anwendung des doppelten Wesentlichkeitsverständnisses resultiert dementsprechend in einer deutlichen Ausweitung der Berichtsinhalte.84) Ebenfalls fordert die CSRD teilweise den Einbezug der Wertschöpfungskette in die offenzulegenden Angaben.85) Der Comply-or-Explain-Ansatz entfällt.86) 61 Gemäß CSRD sollen Unternehmen künftig unter anderem die Resilienz ihres Geschäftsmodells und ihrer Unternehmensstrategie mit Blick auf Nachhaltigkeitsrisiken sowie die Unternehmenspolitik in Bezug auf Nachhaltigkeit beschreiben. Verpflichtend sind des Weiteren Angaben dazu, inwiefern Geschäftsmodell und Unternehmensstrategie im Einklang mit dem Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft sowie mit dem globalen Klimaschutzziel stehen. Es ist offenzulegen, inwiefern Stakeholder-Interessen und nachhaltigkeitsrelevante Auswirkungen im Rahmen des Geschäftsmodells und der Unternehmensstrategie berücksichtigt werden. Darüber hinaus sind Nachhaltigkeitsziele samt Grad der Zielerreichung sowie Due Diligence-Prozesse mit Nachhaltigkeitsbezug zu beschreiben. Unternehmen sollen die wichtigsten Nachhaltigkeitsrisiken und die wichtigsten tatsächlichen oder potenziell negativen Auswirkungen ihres unternehmerischen Handelns entlang der Wertschöpfungskette, einschließlich Präventiv- und Abhilfemaßnahmen, benennen.87) 62 Beschrieben werden soll auch, welche Rolle die Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane in der nachhaltigen Ausrichtung des Unternehmens spielen, ihr für diese Rolle notwendiges Fachwissen sowie Fähigkeiten und ob Anreizsysteme in Verbindung mit Nachhaltigkeitsaspekten existieren.88) Die CSRD verpflichtet Unternehmen also nicht direkt zur Definition von Nachhaltigkeits___________ 83) 84) 85) 86) 87) 88)

Velte, IRZ 2022, 63 (67). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (121). Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2750). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (122). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (121 f.). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (121).

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C. Überblick über Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichterstattung

zielen oder zur Verankerung von Nachhaltigkeitsexpertise im Vorstand, dennoch sieht sie entsprechende Offenlegungsvorschriften vor und setzt damit implizit voraus, dass Unternehmen sich mit entsprechenden Zielen und Maßnahmen bereits auseinandersetzen oder andernfalls eine negative Signalwirkung in Richtung Kapitalmarkt riskieren.89) Ein neues EU-Rahmenwerk (European Sustainability Reporting Standards, 63 ESRS) ist in Zukunft verpflichtend in der Berichterstattung anzuwenden und wird durch die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) entwickelt, um die Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeitsberichterstattung zu stärken. Die ESRS sollen die Berichtspflicht inhaltlich präzisieren und sektorspezifische sowie sektoragnostische Angaben für die Bereiche Umwelt, Soziales und Governance umfassen. Auf Basis der Vorarbeit der EFRAG wird die EU-Kommission die finalen ESRS in Form delegierter Rechtsakte veröffentlichen.90) Die CSRD fordert qualitative und quantitative Angaben zu vergangenheits- als auch zukunftsorientierten Sachverhalten.91) Auch Angaben zu nicht bilanzierten immateriellen Anlagewerten werden gefordert.92) 2.

Zukünftige Prüfung der Berichterstattung

Der neue Nachhaltigkeitsbericht wird in den Bilanzeid der gesellschaftlichen Ver- 64 treter einbezogen, sodass der Vorstand künftig versichern muss, dass sowohl Finanz- als auch Nachhaltigkeitsberichterstattung ordnungsgemäß erstellt wurden und im vorgegebenen Format vorliegen. Somit steigt auch das Haftungsrisiko für den Vorstand.93) Die CSRD wird die Prüfpflicht des Aufsichtsrats intensivieren: Er wird die 65 Nachhaltigkeitsberichterstattung mit gleicher Sorgfalt prüfen müssen wie die Finanzberichterstattung, was die Überwachung der Corporate Governance-Systeme einbezieht. Der Aufsichtsrat soll den Prozess der Nachhaltigkeitsberichterstattung und Prüfung sowie die Wirksamkeit der in diesem Zuge relevanten internen Kontrollsysteme und des Risikomanagements überwachen.94) Darüber hinaus formuliert die CSRD eine externe Prüfungspflicht: Die Nach- 66 haltigkeitsberichterstattung soll einer inhaltlichen Prüfung unterzogen werden, zunächst mit begrenzter Prüfsicherheit, mittelfristig jedoch mit hinreichender Prüfsicherheit.95) ___________ 89) 90) 91) 92) 93) 94) 95)

Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (122); Mock/Velte, AG 2023, 885 (889). Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2751 f.). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (122). Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2750). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (122 f.). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (123 f.). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (123).

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§ 19 Environmental Social Governance: Nachhaltigkeitsbezogene Pflichten

67 Die Nachhaltigkeitsberichterstattung soll des Weiteren in nationale Enforcement-Prüfungen eingebunden werden.96) Dazu soll die Europäische Wertpapierund Marktaufsichtsbehörde (ESMA) neue Leitlinien für nationale Aufsichtsbehörden entwickeln. In Deutschland würde die BaFin zuständig.97) D.

Fazit und Ausblick

68 Das regulatorische Umfeld mit Blick auf Nachhaltigkeit ist dynamisch: Neben direkten Handlungspflichten (beispielsweise im Rahmen des LkSG) werden Unternehmen vermehrt mit Berichtspflichten konfrontiert, die wiederum indirekt auf Verhaltensänderungen abzielen (insbesondere die CSRD).98) Vorstand und Aufsichtsrat müssen sich zunehmend mit Nachhaltigkeitsaspekten auseinandersetzen. Durch aktuelle Entwicklungen auf EU-Ebene (Æ Rz. 5 ff.) scheinen weitreichende Änderungen im deutschen Handels- und Aktienrecht in den nächsten Jahren wahrscheinlich.99) 69 Nachhaltigkeit ist von öffentlichem Interesse und kapitalmarktrelevant: Stakeholder, darunter auch Investoren, verlangen nicht nur Transparenz über ökologische und soziale Auswirkungen des unternehmerischen Handelns, sondern die Integration von Nachhaltigkeit in Strategie und Geschäftsmodell. Hier ist die Unternehmensleitung gefordert, Verständnis darüber aufzubauen, welche Nachhaltigkeitsaspekte für das Unternehmen wesentlich sind und wie sich diese auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens auf kurze, mittlere sowie lange Frist auswirken, einschließlich seiner Refinanzierungsmöglichkeiten. Ebenso ist eine Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsrisiken und ihre Berücksichtigung im Rahmen des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems nötig (Æ Rz. 15 ff.). Mit Blick auf das Risikomanagement stellt besonders das LkSG (Æ Rz. 17) eine Herausforderung dar: Betroffene Unternehmen müssen ein komplexes lieferkettenbezogenes Risikomanagement implementieren, das angemessen und wirksam ist und die spezifischen Anforderungen des Gesetzes erfüllt. 70 Die bisherige nachhaltigkeitsbezogene Berichtspflicht gemäß CSR-RUG (Æ Rz. 44 ff.) wird durch die CSRD (Æ Rz. 56 ff.) deutlich erweitert und vertieft: Somit sind Vorstand und Aufsichtsrat in Zukunft nicht mehr nur mit einer alleinigen Berichtspflicht konfrontiert, sondern auch mit der Anpassung von Corporate Governance-Systemen zur Integration von Nachhaltigkeitsaspekten.100) Es ist anzunehmen, dass der Einfluss von Nachhaltigkeit als Bestandteil der Vorstandsvergütung steigen wird.101) ___________ 96) 97) 98) 99) 100) 101)

Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2754). Velte, Audit Committee Quarterly extra 2021, 76 (77). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (118, 122). Velte, DB 2021, 1113 (1121). Lanfermann/Baumüller, DB 2022, 2745 (2753). Velte, DB 2021, 1054 (1062); Walden, NZG 2020, 50 (58).

1246

Scheil

D. Fazit und Ausblick

Durch die CSRD gewinnt die Nachhaltigkeitsberichterstattung im Vergleich 71 mit der Finanzberichterstattung stark an Bedeutsamkeit, der Aufsichtsrat muss diese mit der gleichwertigen Sorgfalt prüfen und die dahinterstehenden Corporate-Governance-Systeme überwachen.102) Das stellt eine Herausforderung dar, denn de facto verfügt die Nachhaltigkeitsberichterstattung in der Unternehmenspraxis nur bedingt über einen vergleichbaren Reifegrad mit Blick auf Prozesse und interne Kontrollen.103) Neue Anforderungen an offenzulegende Informationen, beispielweise die im Rahmen der EU-Taxonomie-Verordnung geforderten Kennzahlen, deuten zudem auf eine zunehmend stärkere Verknüpfung von Nachhaltigkeits- und Finanzberichterstattung hin. Neben der Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung wird für den Aufsichtsrat auch die Beratung und Überwachung des Vorstands in Bezug auf die Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in Strategie, Zielen und Maßnahmen zunehmend wichtig.104) Bereits bei der Besetzung des Vorstands sowie des Aufsichtsrats ist es daher 72 erforderlich, auf entsprechende Kompetenz im Bereich Nachhaltigkeit einschließlich Berichterstattung und Prüfung zu achten. Intern ist Nachhaltigkeitsexpertise aufzubauen, um Nachhaltigkeit systematisch in Prozesse und Strategie zu verankern und um die für die Berichterstattung nötigen Strukturen zu stärken. Der Aufsichtsrat benötigt Nachhaltigkeitsexpertise, um seiner Überwachungs, Prüfungs- sowie Beratungspflicht weiterhin nachkommen zu können. Gerade naturwissenschaftliche Expertise sowie der fachübergreifende Austausch und Zusammenarbeit können zukünftig im Aufsichtsrat weiter an Bedeutung gewinnen.105) Schließlich muss der Aufsichtsrat zukünftig befähigt sein, nicht nur die Berichterstattung, sondern auch die Maßnahmen des Vorstands in Bezug auf Nachhaltigkeit zu bewerten und zu überwachen.106) Die Einrichtung dezidierter Nachhaltigkeitsausschüsse oder die Einberufung eines Chief Sustainability Officer kann helfen, die Nachhaltigkeitsperformance eines Unternehmens zu steigern.107) Nicht nur Nachhaltigkeitskompetenz wird eine zentrale Rolle in der Besetzungspolitik für Vorstand sowie Aufsichtsrat spielen, sondern auch Diversitätsanforderungen (Æ Rz. 39 ff.) müssen erfüllt werden.

___________ 102) 103) 104) 105) 106) 107)

Stawinoga/Velte, DStR 2021, 2364 (2364, 2371). Laue, Audit Committee Quarterly extra 2021, 86 (87). Mock/Velte, AG 2023, 885 (889). Velte, ZCG 2023, 78 (85). Bingel/Rothenburg/Schumann, DB 2023, 118 (124). Velte, IRZ 2022, 63 (66).

Scheil

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Teil IV Straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortung von Einzelpersonen

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Vorbemerkung „Wer nicht mindestens einmal Beschuldigter eines strafrechtlichen Ermittlungs- 1 verfahrens war, war nicht richtig Vorstand oder Aufsichtsrat einer AG.“ Dieses geflügelte Wort aus Verteidigerkreisen mag übertrieben sein, zeigt aber eindrucksvoll die besondere Relevanz auf, die das Strafrecht im Wirtschaftsleben mittlerweile genießt. Entscheidungsträger in Unternehmen müssen heutzutage fast schon sicher damit 2 rechnen, dass einige ihrer unternehmerischen Entscheidungen früher oder später in das Blickfeld von Ermittlungsbehörden geraten. Dabei erfolgt die strafrechtliche Überprüfung allerdings vielfach mit gehörigem zeitlichen Verzug, was z. B. in der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzmarktkrise1) problematisch war. Die scheinbar uferlose Weite einzelner Tatbestände, insbesondere der Untreue 3 gemäß § 266 StGB (Æ § 21 Rz. 2 ff.), gibt der Strafjustiz reichhaltige Möglichkeiten, rechtswidriges Verhalten einzelner Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder zu ahnden oder auch die Gesellschaft selbst über § 30 OWiG (Æ § 23 Rz. 1 ff.) zu sanktionieren. Für Manager erwächst aus strafrechtlichen Ermittlungen eine Vielzahl von 4 Schwierigkeiten: Schon das Wissen um die Existenz eines Ermittlungsverfahrens begründet eine enorme psychische Belastung. Diese hält vielfach über einen langen Zeitraum an. Insbesondere im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ist die Arbeit der Ermittlungsbehörden langwierig; eine Verfahrensdauer von fünf oder mehr Jahren ist nicht ungewöhnlich. Die sich einstellende Erkenntnis, dass das Strafverfahren ganz eigenen Regeln folgt und vom Betroffenen hinsichtlich der Inhalte, der Dauer und des Vorgehens nur beschränkt beeinflusst und nur ganz beschränkt gesteuert oder kontrolliert werden kann, kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen, an das unternehmerische Entscheidungsträger nur selten gewöhnt sind und unter dem sie besonders leiden. Die Beratung durch einen professionellen Strafverteidiger ist hier unerlässlich, um die Abläufe zu verstehen, die Handlungsmöglichkeiten einschätzen zu können und die eigene Verteidigung zu strukturieren. Eine besondere Herausforderung für den Manager liegt schließlich darin, dass 5 er feststellen muss, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte vollkommen andere Vorstellungen von der Tätigkeit in der Wirtschaft haben und dabei auch eine ___________ 1) Dazu Jahn, Die strafrechtliche Aufarbeitung der Finanzmarktkrise, wistra 2013, 41 ff.; vgl. hierzu auch Wackernagel, Investmentuntreue, 2019.

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Vorbemerkung

völlig andere Sprache sprechen. Nur selten haben Staatsanwälte und Richter ein treffendes Bild von der Arbeitsbelastung eines Managers und von Tempo und Intensität seiner Tätigkeit. Sachverhalte, die für den Manager auf der Hand liegen, sind den Ermittlungsbehörden oftmals unbekannt und müssen kleinteilig und detailliert erklärt werden. Die Gefahr ist groß, dass der Manager nicht klar genug erkennt, worauf es den Ermittlungsbehörden ankommt und andererseits die Ermittlungsbehörden die Erklärungen des Managers nicht richtig verstehen. Durch solche Missverständnisse werden deshalb Entscheidungen leicht (und unbewusst) mit zweierlei Maß gemessen. Auch hier ist der Strafverteidiger als „Übersetzer“ von hoher Wichtigkeit. 6 Ausweislich des Bundeslagebildes 2021 „Wirtschaftskriminalität“ ist die Anzahl der in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Fälle von Wirtschaftskriminalität im Jahr 2021 um 4,2 % gestiegen; registriert wurden insgesamt 51.260 Fälle. Analog zur Fallzahlentwicklung nahm auch die Anzahl der Tatverdächtigen zu (+1,7 %). Die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen wuchs sogar um 11,2 %. Betreffend die Entwicklung in den einzelnen Bereichen der Wirtschaftskriminalität waren signifikante Anstiege v. a. in den Deliktsbereichen „Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen“ (nahezu verdreifacht) und der „Wirtschaftskriminalität bei Betrug“ (+19,9 %) zu verzeichnen. Dagegen sanken die Fallzahlen v. a. bei Arbeits- (–24,9 %) und Insolvenzdelikten (–10,0 %). Gemessen an allen polizeilich bekannt gewordenen Straftaten ist der Anteil der Wirtschaftskriminalität mit 1,0 % (2020: 0,9 %) dennoch relativ gering. Die Aufklärungsquote betrug 88,8 % (2020: 91,5 %) und lag somit deutlich über der Gesamtaufklärungsquote aller in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten (58,7 %). Mitursächlich ist der Umstand, dass es sich bei Straftaten der Wirtschaftskriminalität um Delikte handelt, bei denen die Täter den Geschädigten in vielen Fällen bekannt sind. Beziffert wird der durch die Wirtschaftskriminalität verursachte Schaden auf 2.441 Mrd. EUR.2)

___________ 2) Bundeslagebild 2021 „Wirtschaftskriminalität“, https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Wirtschaftskriminalitaet/wirtschaftskriminalitaetBundeslagebild2021.html?nn=28030, S. 5 ff. (Abruf: 14.11.2022).

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§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von Organmitgliedern einer Aktiengesellschaft

Corsten/Wackernagel

Übersicht A. Einleitung........................................... 1 B. Grundlagen des Handelns für einen anderen (§ 14 StGB) ............... 2 I. Besondere persönliche Merkmale...... 5 II. Stellvertreter im weiteren Sinne......... 6 III. Organ- bzw. Vertretungsbezug des Verhaltens................................... 13 C. Gremien- und Kollegialentscheidungen ..................................... 16 D. Strafrechtliche Verantwortung für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens .......................... 24

I. Vorstand ........................................... 25 II. Aufsichtsrat ...................................... 32 1. Aktienrechtliche Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats.............................. 33 2. Angriffe gegen die Rechtsgüter der Gesellschaft ............... 38 3. Straftaten, die sich nicht gegen das Unternehmen richten ........................................ 42 4. Einbindung in Geschäftsentscheidungen des Vorstands....... 50

Schrifttum: Brammsen, Aufsichtsratsuntreue, ZIP 2009, 1504; Brand/Petermann, Die Auswirkungen der „AUB-Rechtsprechung“ auf die Untreuehaftung des Aufsichtsrates, WM 2012, 62; Cramer, Rechtspflicht zur Verhinderung unternehmensbezogener strafbarer Handlungen und Ordnungswidrigkeiten, in: Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag, 1993, S. 563; Dannecker, Die Folgen der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung der Unternehmensleitung für die Haftungsverfassung juristischer Personen, Zugleich: Besprechung von BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, NZWiSt 2012, 441; Fleischer, Zur Verantwortlichkeit einzelner Vorstandsmitglieder bei Kollegialentscheidungen im Aktienrecht, BB 2004, 2645; Gaul/Otto, Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern, AuA 2000, 312; Große Vorholt/Dimarch, Haftung von Führungskräften und die Konsequenzen für die Praxis, NZA-Beilage 2018, 108; Grützner/Behr, Die Haftung von Compliance Officer, Vorstand und Aufsichtsrat bei Rechtsverstößen von Mitarbeitern, DB 2013, 561; Holthauser, Täterschaft und Teilnahme bei Verstößen gegen Genehmigungspflichten des KWKG und AWG, NStZ 1993, 568; Krause, Strafrechtliche Haftung des Aufsichtsrats, NStZ 2011, 57; Lindemann/Sommer, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung und ihre Bedeutung für den Bereich der Criminal Compliance, JuS 2015, 1057; Pauthner/Ghassemi-Tabar, Compliance-Überwachung durch den Aufsichtsrat, 2018; Poseck, Die strafrechtliche Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft, 1993; Ransiek, Strafrecht im Unternehmen und Konzern, ZGR 1999, 613; Rogall, Dogmatische und kriminalpolitische Probleme der Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG), ZStW 98 (1986), 573; Sahan/ Altenburg, Der „faktische Nicht-Geschäftsführer“, NZWiSt 2018, 161; Schilha, Die Aufsichtsratstätigkeit in der Aktiengesellschaft im Spiegel strafrechtlicher Verantwortung, 2008; Schlösser, Die Anerkennung der Geschäftsherrenhaftung durch den BGH, NZWiSt 2012, 281; Schünemann, Strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Grundfragen der Unternehmenskriminalität, wistra 1982, 41; Spring, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, 2009; Schwerdtfeger, Strafrechtliche Pflicht der Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft zur Verhinderung von Vorstandsstraftaten, 2016; Utz, Die personale Reichweite der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung, 2016; Valerius, Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 15.9.2011 – 3 StR 118/11, NZWiSt 2012, 65; Wagner/Spemann, Organhaftungs- und Strafbarkeitsrisiken für Aufsichtsräte, NZG 2015, 945; Wagner, Wider die Entgrenzung der strafrechtlichen Geschäftsherrenverantwortlichkeit – Zugleich Besprechung von BGH, Beschluss v. 6.2.2018 – 5 StR 629/17, NZWiSt 2019, 365; Wybitul,

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§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern Anmerkung zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 17.7.2009, 5 StR 394/08, BB 2009, 2263.

A.

Einleitung

1 Für die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat einer AG bestehen vielfache Strafbarkeitsrisiken. Verschiedene Straftatbestände richten sich an jedermann oder adressieren Vorstände und Aufsichtsräte einer AG unmittelbar in ihrer Rolle, weshalb sich Organmitglieder bei einem Verstoß in unmittelbarer Täterschaft strafbar machen können. Daneben können Organmitglieder einer AG im Rahmen der strafrechtlichen Organ- und Vertreterverantwortung ggf. auch für Straftatbestände haftbar gemacht werden, die eigentlich nur die AG (etwa als Arbeitgeberin) direkt adressieren. Weiter besteht das Risiko einer Teilnahmestrafbarkeit des Organmitglieds, wenn zu fremden strafrechtlichen Verstößen angestiftet oder hierzu Hilfe geleistet wird. Eine besondere strafrechtliche Verantwortung kann die Organmitglieder einer AG schließlich für solche Straftaten treffen, die unmittelbar von Mitarbeitern des Unternehmens begangen werden. B.

Grundlagen des Handelns für einen anderen (§ 14 StGB)

2 Eine Reihe von Strafnormen knüpft im Rahmen ihres gesetzlichen Tatbestandes zur Umgrenzung des Täterkreises an personenbezogene Statusbezeichnungen wie „Arbeitgeber“, „Unternehmer“ oder „Inhaber des Betriebes“ an.1) Besonders im Nebenstrafrecht sind derartige Sonder- bzw. Pflichtdelikte verbreitet.2) Die Besonderheit dieser Regelungen ist, dass eine Strafbarkeit (auch) vom Vorliegen der besonderen persönlichen Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale) abhängig gemacht wird. 3 Durch eine solche Regelungstechnik kommt es – mit Blick auf die AG – vielfach zu der Situation, dass die AG als juristische Person eigentlicher Adressat des Strafgesetzes ist, die mit der Umsetzung befassten Organe und Mitarbeiter hingegen nicht dem Gesetzeswortlaut unterfallen. 4 Weil vielfach die von der Täterbeschreibung erfassten (juristischen) Personen deliktsunfähig sind, sich also nicht strafbar machen können, sind Strafbarkeitslücken denkbar. Um solche zu verhindern, erweitert § 14 StGB den Anwendungsbereich von Sonderdelikten auf Personen, die stellvertretend für den Normadressaten handeln, da diese auch für die Umsetzung und Befolgung der strafrechtlichen Sonderpflichten des unmittelbaren Normadressaten verantwortlich sind.3)

___________ 1) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 36. 2) SSW-StGB/Bosch, § 14 Rz. 1. 3) Fischer, StGB, § 14 Rz. 1b; MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 1.

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Corsten/Wackernagel

B. Grundlagen des Handelns für einen anderen (§ 14 StGB)

I.

Besondere persönliche Merkmale

In der Rechtsprechung wird u. a. hinsichtlich folgender Merkmale eine Zurech- 5 nung gemäß § 14 StGB bejaht: 

Schuldner i. S. v. §§ 283 ff., 288 StGB;4)



Betreiber i. S. v. §§ 327 Abs. 1, 329 Abs. 1 StGB;5)



Pfandleiher gemäß § 290 StGB;6)



Bauleiter i. S. v. § 319 StGB;7)



Arbeitgeber, siehe beispielsweise § 266a StGB;8)



Hersteller von Kriegswaffen i. S. v. § 22a Abs. 1 Nr. 1 KrWaffKontrG;9)



Halter von Kraftfahrzeugen i. S. v. § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG.10)

II.

Stellvertreter im weiteren Sinne

Für vertretungsberechtigte Organe und gesetzliche Vertreter einer AG er- 6 gibt sich diese Strafausdehnung aus § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB.11) Bei mehrköpfigen Vertretungsorganen sind sämtliche Mitglieder von der Straf- 7 ausdehnung erfasst, ohne dass es auf die gremieninterne Zuständigkeitsverteilung ankommt (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB).12) Entsprechende Zuständigkeitsregelungen sind nachrangig allerdings insoweit relevant, als sich in Abhängigkeit hiervon die konkret-individuellen Strafbarkeitsvoraussetzungen der einzelnen Organmitglieder bestimmen.13) In diesem Zusammenhang ist die Frage weitgehend ungeklärt, inwiefern mit Blick 8 auf Unterlassungsdelikte die fehlende faktische oder rechtliche Möglichkeit ___________ 4) Vgl. BGH, Urt. v. 21.5.1969 – 4 StR 27/69, NJW 1969, 1494; Urt. v. 4.4.1979 – 3 StR 488/78, NJW 1980, 486; Beschl. v. 15.5.2012 – 3 StR 118/11, NStZ 2012, 630 (632); Beschl. v. 13.2.2014 – 1 StR 336/13, NStZ 2014, 469; Beschl. v. 17.3.2016 – 1 StR 628/15, StV 2017, 79; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, § 14 Rz. 10/11; MünchKommStGB/ Radtke, § 14 Rz. 36. 5) BayObLG, Beschl. v. 8.3.1994 – 4 St RR 20/94, BayObLGSt 1994, 52 (55); zustimmend Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, § 14 Rz. 5. 6) Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, § 14 Rz. 10/11. 7) Vgl. OLG Hamm, Urt. v. 2.7.1969 – 4 Ss 457/69, NJW 1969, 2211. 8) OLG Karlsruhe, Urt. v. 20.11.1984 – 1 Ss 114/84, JR 1985, 479 mit Blick auf § 9 OWiG. 9) Holthauser, NStZ 1993, 569; LK-StGB/Schünemann § 14 Rz. 44. 10) OLG Zweibrücken, Beschl. v. 8.10.2020 – 2 Ss 39/20, NStZ-RR 2021, 59. 11) Über § 14 Abs. 2 StGB werden zudem Beauftragte in Betrieben oder Unternehmen erfasst, die vom Betriebsinhaber (oder von einem seinerseits befugten Organ) mit der Erfüllung bestimmter betriebsbezogener Aufgaben betraut wurden: es geht hier also um leitende Mitarbeiter, vgl. Fischer, StGB, § 14 Rz. 11. 12) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 83. 13) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 70 ff.

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§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern

eines Organmitglieds, einen bestimmten tatbestandlichen Erfolg abzuwenden, eine Zurechnung nach § 14 StGB verhindert. Zwar wird nach überwiegendem Verständnis daran festgehalten, dass ungeachtet interner Zuständigkeiten jedes Organmitglied zum Handeln für den Vertretenen verpflichtet sei.14) Vereinzelt wird jedoch vorgebracht, die Wertungen des allgemeinen Strafrechts müssten bei fehlender Möglichkeit der Erfolgsabwendung vorgehen und eine Organverantwortung entgegen § 14 StGB ausscheiden.15) Entsprechendes gelte bei Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens.16) Ob sich diese Ansicht mit Blick auf Ressortaufteilungen in Vorständen durchsetzt, ist allerdings zweifelhaft. Rechtsprechung hierzu besteht nicht. 9 Die Strafausdehnung erstreckt sich auch auf das fehlerhaft bestellte Organ.17) Nach § 14 Abs. 3 StGB ist § 14 Abs. 1 StGB auch dann anzuwenden, wenn die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist. 10 Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung soll die Strafausdehnung (nach § 14 Abs. 3 StGB) auch für solche Personen gelten, die – ohne, dass es einen intentionalen, aber rechtsunwirksamen Bestellungsakt gibt – rein tatsächlich als faktisches Organ agieren.18) Voraussetzung für die Annahme faktischer Organschaft als AG-Vorstand ist freilich eine dominierende oder alleinbeherrschende Rolle des faktischen Organs in der Gesellschaft.19) Die Annahme faktischer Organschaft soll indes nicht zum Entfallen der Verantwortlichkeit des formell bestellten Organs führen; nach der Rechtsprechung des BGH soll vielmehr derjenige, der als formell bestellter Organwalter ein faktisches Organ neben sich gewähren lässt, wie ein Delegierender zu behandeln sein, der Überwachungspflichten wahrzunehmen hat.20) 11 Mit Blick auf die Leitungsorgane in der AG betrifft § 14 StGB damit vornehmlich den Vorstand als vertretungsberechtigtes Organ.21) Allenfalls in seltenen Einzelfällen dürfte auch der Aufsichtsrat in den Anwendungsbereich der Vor___________ 14) Vgl. BGH, Urt. v. 8.11.1989 – 3 StR 249/89, wistra 1990, 97; MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 72; a. A. LK-StGB/Schünemann, § 14 Rz. 53. 15) Vgl. MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 72. 16) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 72. 17) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 118. 18) Vgl. BGH, Urt. v. 24.6.1952 – 1 StR 153/52, BGHSt 3, 32; Urt. v. 28.6.1966 – 1 StR 414/65, NJW 1966, 2225; Urt. v. 22.9.1982 – 3 StR 287/82, NJW 1983, 240 (241); Beschl. v. 18.12.2014 – 4 StR 323/14, 4 StR 324/14, NJW 2015, 712; a. A. MünchKommStGB/ Radtke, § 14 Rz. 116. 19) Zum „tatsächlichen Vorstand“ BGH, Urt. v. 28.6.1966 – 1 StR 414/65, NJW 1966, 2225 f. 20) BGH, Beschl. v. 28.5.2002 – 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318 (325); Urt. v. 3.3.2020 – 5 StR 595/19, wistra 2020, 261 (262). 21) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 80; Schönke/Schröder/Perron/Eisele, StGB, § 14 Rz. 16/17.

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B. Grundlagen des Handelns für einen anderen (§ 14 StGB)

schrift rücken können.22) Denkbar wäre die Konstellation, dass der Aufsichtsrat unmittelbar und an Stelle des Vorstands geschäftsführend tätig ist, etwa im Falle der Führungslosigkeit der AG i. S. v. § 78 Abs. 1 Satz 2 AktG.23) Praxishinweis: Eine weitere Sonderkonstellation ist die der faktischen Geschäfts- 12 führung durch den Aufsichtsrat.24) Dies kommt in Betracht, sofern der Aufsichtsrat in der AG zum „starken Organ“ erwachsen ist und faktisch die Geschäfte anstelle des Vorstands führt. In diesem Fall wäre der Aufsichtsrat gleich dem vertretungsberechtigten Vorstand zu behandeln,25) so dass den Aufsichtsrat – freilich in seiner Rolle als „faktischer Vorstand“ – alle strafrechtlichen Pflichten der Gesellschaft treffen würden (§ 14 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB), die sonst eigentlich nur für den Vorstand gelten. III.

Organ- bzw. Vertretungsbezug des Verhaltens

Voraussetzung für die Erstreckung von Straftatbeständen auf Organe oder Ver- 13 treter des Normadressaten mittels § 14 StGB ist zudem, dass das in Rede stehende Verhalten auch tatsächlich von einem Organ- oder Vertretungsbezug getragen ist, die jeweilige Leitungsperson mithin „als“ Organ/Vertreter handelt.26) Zur Frage, wann dies der Fall ist, war lange Zeit in Literatur und Rechtsprechung 14 die sog. Interessentheorie vorherrschend,27) wonach das Handeln für einen anderen voraussetzte, in dessen Interesse tätig zu werden. Dieser Ansatz wurde von den Senaten des BGH inzwischen aufgegeben28) und zu Gunsten eines Ansatzes ersetzt, der zurechnende und funktionelle Abgrenzungskriterien verbindet.29) Im Kern dürfte es zukünftig entscheidend darauf ankommen, ob der Handelnde 15 gerade im Geschäftskreis des Vertretenen30) und nicht bloß „bei Gelegenheit“ ___________ 22) Anders MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 79, der eine Vertretungsberechtigung des Aufsichtsrats pauschal verneint. 23) Vgl. MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 14. 24) Vgl. hierzu Schilha, S. 349 ff.; Schwerdtfeger, S. 203. 25) Schwerdtfeger, S. 203. 26) MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 58. 27) BGH, Urt. v. 4.4.1979 – 3 StR 488/78, BGHSt 28, 371 (372); Urt. v. 20.5.1981 – 3 StR 94/81, BGHSt 30, 127 (128); Urt. v. 6.11.1986 – 1 StR 327/86, BGHSt 34, 221 (223); Beschl. v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225 (2226). 28) BGH, Beschl. v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08, NStZ 2009, 437 (Ankündigung 3. StS); Beschl. v. 15.9.2011 – 3 StR 118/11, wistra 2012, 25 (Anfrage 3. StS); Beschl. v. 29.11.2011 – 1 ARs 19/11, wistra 2012, 113 (Zustimmung 1. StS); Beschl. v. 22.12.2011 – 2 ARs 403/11 BeckRS 2012, 03295 = BGH HRRS 2012 Nr. 240 (Zustimmung 2. StS); Beschl. v. 10.1.2012 – 4 ARs 17/11, wistra 2012, 191 (Zustimmung 4. StS); Beschl. v. 7.2.2012 – 5 ARs 64/11, BeckRS 2012, 04844 = BGH HRRS 2012 Nr. 223 (Zustimmung 5. StS). 29) Vgl. MünchKommStGB/Radtke, § 14 Rz. 60 m. w. N. 30) Vgl. BGH, Beschl. v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225 (2227 f.); Beschl. v. 10.1.2012 – 4 ARs 17/11, wistra 2012, 191; Beschl. v. 15.5.2012 – 3 StR 118/11, BGHSt 57, 229 (237 f.).

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1255

§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern

tätig wird.31) Dabei wird ein organschaftliches Tätigwerden jedenfalls dann naheliegen, wenn der Organwalter rechtsgeschäftlich handelt und dabei im Namen der juristischen Person auftritt oder für diese aufgrund der bestehenden Vertretungsmacht bindende Rechtsfolgen zumindest im Außenverhältnis herbeiführt.32) Bei rein faktischem Handeln dürfte eine Zurechnung insbesondere dann in Betracht kommen, wenn eine Zustimmung des Vertretenen vorliegt.33) C.

Gremien- und Kollegialentscheidungen

16 Wesentliche Unternehmensentscheidungen werden in der AG regelmäßig von dem Vorstand bzw. Aufsichtsrat als Kollektiventscheidungen getroffen. 17 Bei der Frage, ob einzelnen Mitgliedern für die Entscheidung des Gesamtgremiums und einen sich anschließenden tatbestandlichen Erfolg ein (strafrechtlicher) Vorwurf gemacht werden kann, stellen sich regelmäßig Kausalitätsprobleme. Mit Ausnahme der eher seltenen Fälle, in denen eine erforderliche Mehrheit gerade (mit einer Stimme Mehrheit) erreicht ist, ließe sich bei Beschlüssen mit überschießenden Zustimmungsvoten für jeden Votanten jeweils einwenden, dass die strittige Entscheidung auch ohne seine Zustimmung zu Stande gekommen wäre. Dem folgend ließe sich einwenden, dass die Abstimmung auch ohne die einzelne Stimme zu dem jeweiligen Ergebnis gekommen wäre. 18 Die hierzu in der Literatur seit einiger Zeit diskutierten Lösungsansätze sind vielfältig. Im Ergebnis soll nach vorherrschender Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung34) jedoch keiner der Mehrheitsvotanten geltend machen können, dass der Beschluss auch ohne seine Stimme zustande gekommen wäre, da die Abstimmung als kollektive Arbeitsform damit ansonsten zur „erfolgreichen Organisation von persönlicher Unverantwortlichkeit“ würde.35) Vielmehr soll für jeden Votanten eine eigene persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit für den getroffenen Beschluss bestehen. 19 Im Falle eines ablehnenden Votums eines Organmitglieds scheiden eine Kausalität hinsichtlich eines dennoch erreichten Beschlusses und somit auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit diesbezüglich aus.36) ___________ 31) Vgl. schon NK-StGB/Böse, § 14 Rz. 16. 32) BGH, Beschl. v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225 (2228); Beschl. v. 15.5.2012 – 3 StR 118/11, NStZ 2012, 630 (632). 33) BGH, Beschl. v. 10.2.2009 – 3 StR 372/08, wistra 2009, 275; Beschl. v. 15.5.2012 – 3 StR 118/11, NStZ 2012, 630 (632); Valerius, NZWiSt 2012, 65 (66). 34) Vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (131 f.); Urt. v. 6.11.2002 – 5 StR 281/01, BGHSt 48, 77 (94 f.); Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, BGHSt 50, 331. 35) Vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106 (131); Schönke/Schröder/ Eisele, StGB, Vorb. §§ 13 ff. Rz. 83a m. w. N. 36) Vgl. Graf/Jäger/Wittig/Merz, Vor §§ 13 Rz. 21.

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C. Gremien- und Kollegialentscheidungen

Praxishinweis: In der Praxis besteht in Gremien zuweilen die Erwartung, dass nach 20 einer Diskussion im Vorfeld eine einstimmige Entscheidung ergeht und sich die Vertreter der unterlegenen Meinung dem Mehrheitsvotum anschließen. Bei potenziell strafrechtlich relevanten Themen ist hiervor zu warnen. Erachtet ein Gremienmitglied eine Entscheidung als rechtswidrig, muss es diese Linie konsequent durchhalten und in einer formalen Abstimmung auch ablehnend votieren, um nicht das Risiko strafrechtlicher Verfolgung auf sich zu ziehen. Für den Fall einer Enthaltung des Organmitglieds gilt es zu differenzieren: 21 Grundsätzlich scheidet eine Kausalität zwischen dem Verhalten im Gremium und dem Eintritt des durch den Beschluss ausgelösten tatbestandlichen Erfolges aus.37) Etwas anderes kann jedoch dort gelten, wo die Enthaltung wie eine Zustimmung wirkt, etwa wenn erst durch Mitwirkung des sich enthaltenden Organmitglieds eine Beschlussfähigkeit des Organs hergestellt wird.38) Zudem kann die Stimmenthaltung auch in Anbetracht einer Unterlassenstrafbarkeit relevant werden.39) Ungeachtet dessen wird die Forderung erhoben, dass selbst bei einem ableh- 22 nenden Votum weitere (zumutbare) Schritte zur Verhinderung einer als rechtswidrig erkannten Entscheidung unternommen werden müssen.40) Konkret wird etwa gefordert, dass die Gremienmitglieder entsprechenden Maßnahmen durch Äußerungen und Anträge entgegenwirken41) und alle zur Verfügung stehenden „organinternen“ Maßnahmen ergreifen müssen, um einen rechtmäßigen Beschluss herbeizuführen.42) Bisweilen wird sogar vertreten, dass dies so weit gehen soll, dass das unterlegene Mitglied notfalls sein Amt niederlegen oder die entsprechenden Behörden oder die Öffentlichkeit unterrichten muss.43) Praxishinweis: Auch wenn die Forderung nach einer Amtsniederlegung mit guten 23 Gründen als zu weitgehend abgelehnt werden kann – schließlich beraubt sich das Organteil dann jeglicher Einwirkungsbefugnis –, sind die vorstehend skizzierten Anforderungen ernst zu nehmen. Eine Unterrichtung von Behörden o. Ä. sollte in jedem Fall aber nur ultima ratio sein. In einem ersten Schritt sollte eine interne Eskalation der Befassung erreicht werden, etwa indem ein „unterlegenes“ Vorstandsmitglied den Aufsichtsrat informiert. In jedem Fall ist auf eine deutliche Dokumentation Wert zu legen,44) sowohl der eigenen Opposition der Entscheidung als auch der unternommenen Schritte. ___________ 37) 38) 39) 40) 41) 42)

Graf/Jäger/Wittig/Merz, Vor §§ 13 Rz. 21. Graf/Jäger/Wittig/Merz, Vor §§ 13 Rz. 21. Graf/Jäger/Wittig/Merz, Vor §§ 13 Rz. 21. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, NJW 1990, 2560 (2566 f.) („Lederspray“). BGH, Urt. v. 6.11.2002 – 5 StR 281/01, NJW 2003, 522 (527) („Mauerschützen“). MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 80; Momsen/Grützner/Momsen, 1. Kap. § 3 Rz. 22 m. w. N. 43) Fleischer, BB 2004, 2645 (2648 ff.); vgl. auch Krause, NStZ 2011, 57 (65) m. w. N. 44) Krause, NStZ 2011, 57 (65).

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1257

§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern

D.

Strafrechtliche Verantwortung für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens

24 Da Unternehmen stets hierarchisch organisiert sind, stellt sich häufig die Frage, inwieweit in einem Subordinationsverhältnis der Übergeordnete Verantwortung für die Straftat eines Untergeordneten trägt. Jenseits von möglichen zivilrechtlichen Schadensersatzpflichten wird in der Praxis u. a. mit Blick auf die Überwachung von Mitarbeitern eines Unternehmens die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung des Vorgesetzten diskutiert, die sich bei der AG sowohl für den Vorstand als auch für den Aufsichtsrat stellt. I.

Vorstand

25 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern in der AG für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens wird überwiegend unter dem Stichwort der „strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung“45) diskutiert. Die Frage ist hier, inwiefern der Vorstand eine Garantenpflicht zur Vermeidung von Straftaten untergebener Mitarbeiter hat und ihn bei Unterlassen eine Strafbarkeit nach Maßgabe von § 13 StGB trifft. Die ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortung nach § 130 OWiG (ausführlich dazu Æ § 22 Rz. 5 ff.) ist hiervon zu trennen. 26 Während die Literatur zu dieser Frage kontrovers diskutiert,46) hat der BGH in zwei Fällen Stellung zur möglichen Reichweite der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung bezogen: Im Fall „Berliner Stadtreinigung (BSR)“ stellte der 5. Strafsenat des BGH fest, dass für Unternehmensvertreter eine Pflicht zur Vermeidung von Wirtschaftsdelikten dann bestehe, wenn sie besondere Überwachungs- und Schutzpflichten übernommen haben. Mit Blick auf die Unternehmensfunktion des Compliance Officers heißt es: „Deren Aufgabengebiet ist die Verhinderung von Rechtsverstößen, insbesondere auch von Straftaten, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden und diesem erhebliche Nachteile durch Haftungsrisiken oder Ansehensverlust bringen können […]. Derartige Beauftragte wird regelmäßig strafrechtlich eine Garantenpflicht i. S. d. § 13 Abs. 1 StGB treffen, solche im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Unternehmens stehende Straftaten von Unternehmensangehörigen zu verhindern. Dies ist die notwendige Kehrseite ihrer gegenüber der Unternehmensleitung übernommenen Pflicht, Rechtsverstöße und insbesondere Straftaten zu unterbinden.“47) Wollte man diese Grundsätze auch für Vorstandsmitglieder zugrunde legen, bestünde ___________

27 

45) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 39. 46) Siehe Lindemann/Sommer, JuS 2015, 1057 (1058 ff.) mit einer Übersicht zum Meinungsstand im Schrifttum. 47) Vgl. BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08, NJW 2009, 3173 (3175) (Hervorhebung nicht im Original).

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D. Strafrechtliche Verantwortung für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens

auch für den Vorstand das Risiko einer Unterlassenstrafbarkeit bei Nichtverhindern von Straftaten durch Unternehmensmitarbeiter.48) 

Hieran anschließend führte der 4. Strafsenat des BGH zum Fall „Städtischer 28 Bauhof“ aus, dass sich eine Garantenpflicht hinsichtlich der Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter im Einzelfall auch aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter ergeben könne.49) Dies sei allerdings beschränkt auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten, die in einem inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Angestellten oder mit der Art des Betriebs stehen.50) Keine Garantenpflicht bestehe hingegen für Taten, die Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit ihrer Tätigkeit im Betrieb begehen würden.51) Eine Verantwortung des Betriebsinhabers für derartige Straftaten ließe sich „weder mit einem auf dem Arbeitsverhältnis beruhenden Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern noch mit der Herrschaft über die ‚Gefahrenquelle Betrieb‘ oder unter einem anderen Gesichtspunkt“ begründen.52)



Beachtenswert zur Geschäftsherrenhaftung ist schließlich noch eine Entschei- 29 dung des VI. Zivilsenats des BGH. Dieser stellte nämlich fest, dass sich allein aus der Stellung als Geschäftsführer einer GmbH bzw. Mitglied des Vorstands einer AG keine Garantenpflicht gegenüber außenstehenden Dritten ergebe, eine Schädigung deren Vermögens zu verhindern. Eine solche Garantenstellung ergebe sich auch nicht aus § 43 GmbHG oder § 93 AktG.53) Zwar würden diese auch die Verpflichtung begründen, dafür zu sorgen, dass sich die Gesellschaft rechtmäßig verhalte und ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkomme, nach der gefestigten Rechtsprechung des VI. und des II. Zivilsenats bestehe diese Pflicht aber grundsätzlich nur gegenüber der Gesellschaft und nicht auch im Verhältnis zu außenstehenden Dritten.54) Insofern wurde in der Literatur von einer „versteckten Divergenz“ von den oben dargestellten Ansichten der Strafsenate gesprochen.55)

___________ 48) Vgl. Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 42; Wybitul, BB 2009, 2263. 49) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237 (1238); zuletzt bestätigt durch BGH, Beschl. v. 6.2.2018 – 5 StR 629/17, NStZ 2018, 648; zum dort zum Ausdruck kommenden extensiven Verständnis der Betriebsbezogenheit zu Recht kritisch Wagner, NZWiSt 2019, 365; vgl. zur dogmatischen Abgrenzung von Beschützer- und Überwachergarantenstellung in diesem Zusammenhang Schlösser, NZWiSt 2012, 281 (282 ff.). 50) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237 (1238); vgl. auch Spring, S. 137 m. w. N. sowie enger Rogall, ZStW 98 (1986), 573; Schünemann, wistra 1982, 41 (45). 51) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237 (1238); vgl. auch RG, Urt. v. 28.3.1924 – I 818/23, RGSt 58, 130; BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08, NJW 2009, 3173. 52) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237 (1238). 53) Vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, NJW 2012, 3439 (3441). 54) Vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10, NJW 2012, 3439 (3441). 55) Lindemann/Sommer, JuS 2015, 1057 (1061); krit. zur Abweichung von der Rspr. der Strafsenate Dannecker, NZWiSt 2012, 441.

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§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern

30 Trotz der (begrüßenswerten und richtigen) einschränkenden Auslegung der Geschäftsherrenhaftung durch den VI. Zivilsenat bestimmen die Urteile der Strafsenate die strafrechtliche Praxis. Demnach sind Vorstände dazu gehalten, Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter zu verhindern, die einen Betriebsbezug aufweisen, sowie auch solche Straftaten, zu deren spezifischer Verhinderung sie sich – etwa aufgrund interner Ressortbildung – ausdrücklich bereit erklärt haben. 31 Zur Verhinderung solcher Straftaten können dabei insbesondere die folgenden Maßnahmen zu ergreifen sein: 

Prüfkataloge bei der Auswahl und Einstellung von Mitarbeitern (z. B. Vorlage eines Registerauszugs bei Tätigkeiten mit Vermögensbezug);



Erteilung von Anweisungen und Kontrolle von Mitarbeitern;56)



regelmäßige Schulungen der Mitarbeiter.

II.

Aufsichtsrat

32 Die Überwachung der Geschäftsführung ist die wesentliche Funktion des Aufsichtsrats, § 111 AktG. Erkennt der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Überwachungsfunktion, dass Vorstand oder subalterne Mitarbeiter Rechtsverstöße begehen, so ist weitgehend umstritten und höchstrichterlich ungeklärt, ob ihn – strafrechtlich – eine Pflicht zum Einschreiten trifft. 1.

Aktienrechtliche Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats

33 Die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats ist grundsätzlich nicht auf das Tagesgeschäft bezogen, sondern auf die wesentlichen Aufgaben, die der Vorstand im Rahmen seiner gesetzlichen Leitungsaufgabe zu erfüllen hat. Sie erstreckt sich zugleich auf alle wesentlichen Einzelmaßnahmen, die für die Lage und Entwicklung des Unternehmens bedeutsam sind und die deshalb dem Vorstand (außerhalb der eigentlichen Leitung) zugerechnet werden. Von der Überwachungsfunktion schließlich auch umfasst ist die Überwachung des Vorstands hinsichtlich der Schaffung geeigneter Organisationsrichtlinien und Einrichtung interner Kontrollsysteme für Compliance und Risikomanagement (§ 91 Abs. 2 AktG). 34 Bei seiner Überwachungstätigkeit muss der Aufsichtsrat beachten, dass der Vorstand ein weites Ermessen (sog. Business Judgement Rule) hat (ausführlich zur Business Judgement Rule Æ § 2 Rz. 25 ff.). Ein Einschreiten ist geboten bei Anhaltspunkten für ein grob unwirtschaftliches, existenzgefährdendes oder rechtswidriges Verhalten. 35 Eine Intervention kann erfolgen etwa durch  Anweisung an Vorstand, beanstandetes Tun zu unterlassen; ___________ 56) Graf/Jäger/Wittig/Merz, § 13 StGB Rz. 39.

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D. Strafrechtliche Verantwortung für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens



Intensivierung von Berichtspflichten;



Einrichtung eines Ad-hoc-Zustimmungsvorbehalts hinsichtlich unternehmerischer Entscheidungen bei gleichzeitiger Verweigerung der Zustimmung (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG);



Ablösung des Vorstands.

Ein Weisungsrecht des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand der AG besteht 36 nach herrschender Ansicht nicht.57) Nur vereinzelt wird ein Sonderweisungsrecht bei bevorstehenden Straftaten befürwortet.58) Eine als ultima ratio in Betracht kommende Strafanzeige des Vorstands wurde 37 von der Rechtsprechung – entgegen der ganz überwiegenden Literaturansicht59) – ebenfalls als Interventionsmöglichkeit erwogen,60) kann aber richtigerweise von einem Aufsichtsratsmitglied jenseits des Anwendungsbereichs des § 138 StGB nicht verlangt werden. 2.

Angriffe gegen die Rechtsgüter der Gesellschaft

Ganz anerkannt ist, dass der Aufsichtsrat die Pflicht hat, das Vermögen der 38 Gesellschaft (als deren zentrales Rechtsgut) zu schützen. Erkennt er im Rahmen seiner Überwachungsfunktion, dass der Vorstand oder ein Mitarbeiter des Unternehmens die Gesellschaft schädigt, so muss der Aufsichtsrat eingreifen. Geht die Schädigung von einem Mitarbeiter aus, hat der Aufsichtsrat – in Ermangelung eigener rechtlicher Einwirkungsmöglichkeiten oder Weisungsbefugnisse – die Pflicht, den Vorstand hierüber zu informieren und auf Maßnahmen zur Schadensabwendung hinzuwirken.61) Verhindert der Aufsichtsrat entgegen den dargelegten Grundsätzen eine un- 39 mittelbar vermögensschädigende Handlung durch den Vorstand oder durch Mitarbeiter des Unternehmens nicht, kommt eine Strafbarkeit gemäß § 266 Abs. 1 Alt. 2 StGB wegen einer Treubruchuntreue in Form der Nichtabwendung einer vermögensschädigenden Vorstandsstraftat in Betracht.62) Es wird dann ___________ 57) BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, NJW-RR 2008, 1134 (1135); Hüffer/Koch, § 76 Rz. 5, 25 ff. m. w. N.; Schwerdtfeger, S. 106 ff. 58) Vgl. Ransiek, ZGR 1999, 613 (625 f.); Schilha, S. 177 ff. 59) Cramer, in: Festschrift Stree/Wessels, S. 563 (583); NK-WSS/Kempf/Schilling, § 111 AktG Rz. 10; MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 79 ff.; Schwerdtfeger, S. 115 ff.; krit. auch Momsen/Grützner/Momsen, 1. Kap. § 3 Rz. 41. 60) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, BGHSt 47, 187 (201); OLG Karlsruhe, Urt. v. 4.9.2008 – 4 U 26/06, AG 2008, 900 (902); Fischer, StGB, § 266 Rz. 106. 61) Pauthner/Ghassemi-Tabar, Rz. 941; richtigerweise wird (als Gebot der Überwachungsfunktion) zu fordern sein, dass der Aufsichtsrat nach getätigtem Hinweis auch kontrolliert, ob der Vorstand gegenüber dem verantwortlichen Mitarbeiter die erforderlichen Maßnahmen trifft (Æ Rz. 33 ff.). Dies wird insbesondere bei schwerwiegenden Verstößen oder bei hohen Beträgen gelten müssen. 62) Brand/Petermann, WM 2012, 62 (64); Wagner/Spemann, NZG 2015, 945 (947 f.).

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§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern

zumeist zwei Täter einer Untreue geben: Den Vorstand selbst, weil er das vermögensschädigende Verhalten an den Tag gelegt hat und den Aufsichtsrat, weil er dagegen nichts unternommen hat. Den Aufsichtsrat trifft insofern eine „derivative Strafbarkeit“.63) 40 Der Aufsichtsrat unterliegt einer Vermögensbetreuungspflicht grundsätzlich nur im Rahmen seiner Überwachungsfunktion (Æ § 21 Rz. 8).64) Zwar ist der Aufsichtsrat gemäß § 116 AktG i. V. m. § 93 Abs. 1 AktG verpflichtet, die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden, dies jedoch nur sinngemäß mit Blick auf dessen bloße Überwachungsfunktion.65) 41 Darüber hinaus hat der Aufsichtsrat als Beschützergarant der Gesellschaft auch die Pflicht, andere Straftaten zu Lasten sonstiger Rechtsgüter der AG zu verhindern.66) In Betracht kommen hier u. a. 

das Eigentum der Gesellschaft,



das Interesse der Gesellschaft an einem Geheimnisschutz oder



die Ehre der Gesellschaft.

3.

Straftaten, die sich nicht gegen das Unternehmen richten

42 Weniger klar sind die strafrechtlichen Pflichten des Aufsichtsrats, wenn er ein Verhalten erkennt, das zwar rechtswidrig ist, aber nicht unmittelbar die Rechtsgüter der Gesellschaft betrifft. Beispiel: 43 Der Aufsichtsrat erfährt von Umweltverstößen in einem Werk des Unternehmens und schreitet nicht ein. 44 Nach aktienrechtlichen Grundsätzen muss der Aufsichtsrat bei jedem pflichtwidrigen Verhalten des Vorstands intervenieren, von dem er im Rahmen seiner Überwachungstätigkeit nach § 111 AktG Kenntnis erlangt. Tut er dies nicht, verletzt er seine (aktienrechtlichen) Pflichten gegenüber der Gesellschaft. 45 Ob und inwiefern der Aufsichtsrat als Überwachergarant des Vorstands in Betracht kommt und mithin im Wege der Geschäftsherrenhaftung betriebsbezogene Straftaten zu verhindern hat, ist stark umstritten. Richtigerweise besteht keine strafrechtsbewehrte Pflicht des Aufsichtsrats dahingehend, jedes rechtswidrige Verhalten des Vorstands zu unterbinden. Folglich macht sich der Aufsichtsrat bei einem Nichteinschreiten nicht im Wege des Unterlassens (§ 13 StGB) strafbar. ___________ 63) 64) 65) 66)

Brammsen, ZIP 2009, 1504 (1510). MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 79. MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 79. Vgl. Schwerdtfeger, S. 209 f.

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D. Strafrechtliche Verantwortung für Straftaten von Mitarbeitern des Unternehmens

Denn der Aufsichtsrat ist in erster Linie der Beschützergarant für Vermögen 46 und Rechtsgüter der AG. Er ist nicht verpflichtet, die Aktionäre67) oder die Rechtsgüter Dritter bzw. der Allgemeinheit68) zu beschützen. Darüber hinaus ist der Aufsichtsrat auch weder mit einem Compliance Officer vergleichbar, noch ist er ein allgemeiner Überwachungs- oder Kontrollgarant für die Mitarbeiter und Organe des Unternehmens.69) Soweit in Teilen des strafrechtlichen Schrifttums eine Überwachergarantenstel- 47 lung des Aufsichtsrats befürwortet wird,70) ist diese Auffassung auf ein Verständnis von der Rolle des Aufsichtsrats zurückzuführen, das von der ganz herrschenden Ansicht im Aktienrecht in zentralen Punkten abweicht. Die entsprechende Ansicht geht nämlich davon aus, dass dem Aufsichtsrat zumindest zur Verhinderung von Straftaten ein Sonderweisungsrecht gegenüber dem Vorstand zukomme, weshalb der Aufsichtsrat in diesem Zusammenhang (auch) zum Überwachergaranten des Vorstands erstarke. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass ein derartiges Sonderweisungsrecht aktienrechtlich unbekannt ist und zudem das deutsche Aktienrecht kein strenges Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat kennt, weshalb dem Aufsichtsrat gerade keine überlegene Herrschaftsposition gegenüber dem Vorstand der AG zukommt. Aus genau diesen Gründen ist eine Überwachergarantenstellung des Aufsichtsrats zu verneinen.71) Anderes gilt, wenn der Aufsichtsrat aktiv dem Vorstand bei seiner straf- 48 rechtswidrigen Entscheidung (durch Rat oder Tat) Hilfe leistet oder selbst erst den Entschluss beim Vorstand zu diesem Vorgehen weckt. In einem solchen Fall besteht keine Unterlassenstrafbarkeit (als Garant), sondern eine Strafbarkeit wegen Teilnahme – Anstiftung (§ 26 StGB) oder Beihilfe (§ 27 StGB) – durch aktives Tun. Auch psychische Beihilfe ist möglich (etwa bei einer Umweltstraftat durch Bekräftigen, dass „ein paar tote Fische“ schon „nicht so schlimm“ seien) und kann eine Strafbarkeit begründen. Praxishinweis: Ein „Hilfeleisten“ (i. S. v. Beihilfe) ist oft nicht fernliegend und 49 deshalb sehr praxisrelevant. Denn heutzutage ist ganz anerkannt, dass die Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats auch eine Beratungsfunktion gegenüber dem Vorstand umfasst. Hiernach soll der Aufsichtsrat verpflichtet sein, zukünftige Geschäftsvorhaben des Vorstandes kritisch zu begleiten und sein Wissen und seine Erfahrung zur Beratung zur Verfügung zu stellen. Wird die „Beratungsfunktion“ hinsichtlich ___________ 67) Schwerdtfeger, S. 210 f. m. w. N. 68) Grützner/Behr, DB 2013, 561 (566); Krause, NStZ 2011, 56 (71); a. A. wohl Wagner/ Speemann, NZG 2015, 945 (948). 69) Brammsen, ZIP 2009, 1504 (1510); Krause, NStZ 2011, 57 (60 f.); Schwerdtfeger, S. 207 ff. 70) NK-WSS/Burchard, § 13 StGB Rz. 19; Ransiek, ZGR 1999, 613 (624); im Ergebnis auch Schilha, S. 199 f.; Wagner/Speemann, NZG 2015, 945 (947 f.). 71) Krause, NStZ 2011, 57 (61 f.); Poseck, S. 120 (124 ff.); Schwerdtfeger, S. 198 ff.

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§ 20 Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortung von AG-Organmitgliedern

eines rechtswidrigen Sachverhalts ausgeübt, ist der Vorwurf einer Hilfeleistung durch „Rat und Tat“ oftmals durchaus naheliegend. 4.

Einbindung in Geschäftsentscheidungen des Vorstands

50 Die voranstehenden Überlegungen gelten nicht, wenn der Aufsichtsrat aufgrund bestimmter aktienrechtlicher Vorgaben ein notwendiges Mitspracherecht an bestimmten Entscheidungen der Geschäftsführung hat. Durch Satzung oder Beschluss des Aufsichtsrats (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) können bestimmte Entscheidungen und Maßnahmen des Vorstands unter einen Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats gestellt werden (ausführlich dazu Æ § 3 Rz. 136 ff. und 234). Typischerweise wird dies bei tiefgreifenden und wesentlichen Geschäftsentscheidungen vorgesehen. 51 Wird in diesen Konstellationen eine Entscheidung getroffen, wird der Aufsichtsrat hier zum „Mit-Entscheider“, es kommt zu einer aktiven Mitwirkung an der Maßnahme. Erweist sich die Maßnahme als strafbar oder ordnungswidrig,72) kommen die Mitglieder des Aufsichtsrats als Mittäter oder Teilnehmer (Anstiftung oder Beihilfe) in Betracht. Beispiel: 52 Ermittlungsverfahren gegen die Aufsichtsratsmitglieder der Porsche AG/SE wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen § 20a WpHG a. F.

___________ 72) Grundsätzlich kann die gesamte Bandbreite des Strafrechts umfasst sein, u. a. Kapitalmarktdelikte, Umweltdelikte, Betrug und Untreue.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

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Übersicht A. Untreue (§ 266 StGB)....................... 2 I. Einleitung............................................ 2 II. Täterkreis: Vermögensbetreuungspflicht .......................................... 5 III. Tathandlungen.................................... 9 IV. Pflichtwidrigkeit der Tathandlungen................................................ 15 1. Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat.............. 16 2. Zivilrechtsakzessorietät ............ 19 3. Gravierende Pflichtverletzung .................................. 22 V. Einwilligung ...................................... 25 1. Rechtsprechung zur GmbH ..... 26 2. Übertragung der Rechtsprechung zur GmbH auf die AG........................................ 27 3. Eigene Stellungnahme ............... 34 VI. Vermögensnachteil........................... 36 VII. Vorsatz ............................................. 43 VIII. Einzelfälle ....................................... 46 1. Risikogeschäfte.......................... 46 2. Kreditvergaben .......................... 54 3. Sponsoring ................................. 60 4. Schmiergeldzahlungen .............. 66 a) Bestechung................................. 67 b) Sonderfall: Bestechung des Betriebsrats ................................ 70 c) Bestechlichkeit/Kick-backZahlungen .................................. 74 5. „Schwarze Kassen“ .................... 82 6. Verstoß gegen Risikosteuerungssysteme ............................. 88 7. Nichteinschreiten gegen schädigende Geschäftsführung....................................... 90 8. Anspruchsverfolgung gegenüber dem Vorstand.............. 92 9. Vergütungen von Vorstand und Aufsichtsrat........................ 95 a) Interessenkonflikt ..................... 96 b) „Mannesmann“-Entscheidung des BGH........................... 99

B. I.

II.

III.

IV.

10. Fürsorgeaufwendungen für Vorstand der AG..................... 105 11. Übernahme von Geldstrafen, -bußen, -auflagen ............. 107 12. Konzernuntreue ...................... 114 Straftaten in der Unternehmenskrise................................................. 119 § 15a Abs. 4 InsO („Insolvenzverschleppung“) ............................. 122 1. Insolvenzreife der Gesellschaft (Zahlungsunfähigkeit/Überschuldung) .............. 126 2. Pflicht des Vorstands: § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO......... 133 3. Pflicht des Aufsichtsrats: § 15a Abs. 3 InsO.................... 137 4. Antragsfrist.............................. 142 5. Tathandlung: Unterlassene, unrichtige oder verspätete Antragsstellung ....................... 147 Bankrott (§§ 283, 283a StGB) ....... 149 1. Überschuldung oder (drohende) Zahlungsunfähigkeit .... 153 2. Bankrotthandlungen ............... 155 3. Objektive Bedingung der Strafbarkeit .............................. 160 Pflicht zur Einberufung der Hauptversammlung bei Verlust des überwiegenden Grundkapitals (§ 401 AktG) .................... 162 1. Anzeigepflichtiger Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals ......................... 165 2. Vorstand als Adressat der Einberufungs- und Verlustanzeigepflicht .......................... 168 Bestandsgefährdende Verstöße gegen bankrechtliche Sorgfaltsund Organisationspflichten (§ 54a KWG) .................................. 172 1. Geschäftsleiterpflicht zu ordnungsgemäßer Geschäftsorganisation.................. 175

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1265

§ 21 Relevante Straftatbestände 2. 3.

C. I.

II. III.

D. I.

II.

Bestandsgefährdung................ 176 Verstoß gegen vorherige Anordnung der BaFin............. 183 Bilanzdelikte.................................. 185 Rechnungslegungsdelikte (§ 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB) ............. 189 1. Unrichtige Wiedergabe/Verschleierung in der Kapitalgesellschaft (§ 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB)............................. 195 2. Unrichtige Wiedergabe/Verschleierung im Konzern (§ 331 Abs. 1 Nr. 2 HGB)...... 203 3. Offenlegung eines unrichtigen Konzernabschlusses oder Konzernlageberichts (§ 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB)...... 207 4. Offenlegung eines unrichtigen befreienden Einzelabschlusses (§ 331 Abs. 1 Nr. 1a HGB) ........................... 213 Unrichtige Versicherung (§ 331a HGB)................................. 220 Unrichtige Angaben gegenüber Prüfern (§§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB, 400 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AktG) .... 224 1. Unrichtige Darstellung gegenüber Abschlussprüfer (§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB)...... 226 2. Unrichtige Darstellung gegenüber Prüfern (§ 400 Abs. 1 Nr. 2 AktG) ...... 238 Falschangabedelikte...................... 245 § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG (Unrichtige Wiedergabe von Gesellschaftsverhältnissen)...................... 246 § 399 AktG (Falsche Angaben) .... 256 1. „Gründungsschwindel“ durch unrichtige Anmeldung (Abs. 1 Nr. 1).......................... 260 2. „Gründungsschwindel“ durch unrichtige Berichte (Abs. 1 Nr. 2).......................... 266

3.

E. I.

II.

F. I.

II. III. G. H. I. II. III. IV.

Kapitalerhöhungsschwindel (Abs. 1 Nr. 4)...........................269 4. Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen (Abs. 2)...............273 Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte ..................................276 §§ 119, 120 WpHG .........................279 1. Insiderhandel (§ 119 Abs. 2, Abs. 3 WpHG) ........................285 a) Tätigen eines Insidergeschäfts ...................................290 aa) Insiderinformation ..................291 bb) Insidergeschäft.........................294 b) Verleitung zu Insidergeschäften.................................297 c) Unrechtmäßiges Offenlegen von Insiderinformationen .......298 2. Marktmanipulation (§ 119 Abs. 1 WpHG) .............302 a) Objektiver Tatbestand.............304 b) Subjektiver Tatbestand ............308 Kapitalanlagebetrug (§ 264a StGB)..................................309 1. Objektiver Tatbestand.............310 2. Subjektiver Tatbestand ............319 3. Tätige Reue ..............................320 Steuerhinterziehung (§§ 370, 153 AO) ............................323 Tathandlungen ................................327 1. Unrichtige oder unvollständige Angaben.....................329 2. Pflichtwidriges Unterlassen von Angaben ............................331 Steuerverkürzung............................339 Subjektiver Tatbestand ...................343 Verletzung der Geheimhaltungspflicht...............................347 Straftatbestände des Bundesdatenschutzgesetzes.......................359 Täterkreis ........................................363 Tathandlungen und Vorsatz...........366 Strafantragserfordernis ...................376 Beweisverwendungsverbot .............378

Schrifttum: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., 2015; Adams, Aktienoptionspläne und Vorstandsvergütungen, ZIP 2002, 1325; Adick, Organuntreue (§ 266 StGB) und Business Judgment, 2010; Albrecht, In Treue gegen die Untreue, in: Festschrift Hamm, 2008, S. 1; Aldenhoff/Kuhn, § 266 StGB – Strafrechtliches

1266

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§ 21 Relevante Straftatbestände Pflichten des Verfügungsberechtigten (§ 35 AO), DStZ 2001, 341; Ginou, Die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht bei der Untreue, 2020; Golaschinski, Untreue des Aufsichtsrates bei Gewährung eines „appreciation award“, Aktien- und strafrechtliche Bewertung der Gewährung eines „appreciation award“ an Vorstandsmitglieder vor dem Hintergrund des „Mannesmann-Falles“; Güntge, Untreueverhalten durch Unterlassen, wistra 1996, 84; Günther, Die Untreue im Wirtschaftsrecht, in: Festschrift Ulrich Weber, 2004, S. 311 Habetha, Bankrott und Untreue in der Unternehmenskrise, NZG 2012, 1134; Hamm, Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein?, NJW 2005, 1993; Hefendehl, Schein und Sein – Die Informationsdelikte im Kapitalmarktstrafrecht, wistra 2019, 1; Heinitz, Zur neueren Rechtsprechung über den Untreuetatbestand, in: Festschrift Mayer, 1965, S. 434; Herlan, Aus der Rechtsprechung des BGH, GA 1953, 72; Hillenkamp, Risikogeschäft und Untreue, NStZ 1981, 161; Hirmer, Zivil- und strafrechtliches Verbot pflichtwidriger Schädigungen für Vorstandsmitglieder von unabhängigen und durch Beherrschungsvertrag gebundenen Aktiengesellschaften, 1984; Höltkemeier, Sponsoring als Straftat, Die Bestechungsdelikte auf dem Prüfstand, 2005; Hoffmann-Becking, Der Aufsichtsrat im Konzern, ZHR 159 (1995), 325; Hoffmann-Becking, Vorstandsvergütung nach Mannesmann, NZG 2006, 127; Hoffmann/Wißmann, Die Erstattung von Geldstrafen, Geldauflagen und Verfahrenskosten im Strafverfahren durch Wirtschaftsunternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern, StV 2001, 249; Hohn, Die „äußersten“ Grenzen des erlaubten Risikos bei Entscheidungen über die Verwendung von Gesellschaftsvermögen, wistra 2006, 161; Hohn, Eigenkapitalregeln, Kompetenzverteilungsordnung und Zustimmungen zu Vermögensschädigungen bei Kapitalgesellschaften, in: Festschrift Samson, 2010, S. 315; Hüffer, Mannesmann/Vodafone: Präsidiumsbeschlüsse des Aufsichtsrats für die Gewährung von „Appreciation Awards“ an Vorstandsmitglieder, BB 2003, Beilage 7, Heft 43; Ignor/ Sättele, Pflichtwidrigkeit und Vorsatz bei der Untreue (§ 266 StGB) am Beispiel der sog. Kredituntreue, in: Festschrift Hamm, 2008, S. 211; Jahn, Lehren aus dem Fall Mannesmann, ZRP 2004, 179; Kaepplinger, Zur aktienrechtlichen Zulässigkeit von Abfindungszahlungen, NZG 2003, 573; Kaufmann, Organuntreue zum Nachteil von Kapitalgesellschaften, 1999; Kempf, Bestechende Untreue?, in: Festschrift Hamm, 2008, S. 255; Kiethe, Die zivilund strafrechtliche Haftung von Vorstandsmitgliedern eines Kreditinstituts für riskante Kreditgeschäfte, WM 2003, 861; Kiethe, Die Abgrenzung von zulässigem Sachvortrag und strafbewehrtem Geheimnisschutz im Zivilprozess, JZ 2005, 1034; Knauer, Die Strafbarkeit der Bankvorstände für missbräuchliche Kreditgewährung, NStZ 2002, 399; Knauth, Kapitalanlagebetrug und Börsendelikte im zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, NJW 1987, 28; Körner, Die Angemessenheit von Vorstandsbezügen in § 87 AktG, NJW 2004, 2697; Kort, Das „Mannesmann“-Urteil im Lichte von § 87 AktG, NJW 2005, 333; Kort, Mannesmann: Das „Aus“ für nachträglich vorgesehene Vorstandsvergütungen ohne Anreizwirkung?, NZG 2006, 131; Krause, Konzerninternes Cash Management – der Fall Bremer Vulkan, JR 2006, 51; Krause/Meier, Fallgruppen zur Haftung von „faktischen“ GmbH-Geschäftsführern im Steuerrecht, DStR 2014, 905; Kubiciel, Gesellschaftsrechtliche Pflichtwidrigkeit und Untreuestrafbarkeit, NStZ 2005, 353; Lesch, § 266 StGB – Tatbestand ist schlechthin unbestimmt, DRiZ 2004, 135; Liebers/Hoefs, Anerkennungsund Abfindungszahlungen an ausscheidende Vorstandsmitglieder, ZIP 2004, 97; Livonius, Untreue wegen existenzgefährdenden Eingriffs – Rechtsgeschichte, wistra 2009, 91; Loeck, Strafbarkeit des Vorstands der Aktiengesellschaft wegen Untreue, 2006; Lüderssen, Gesellschaftsrechtliche Grenzen der strafrechtlichen Haftung des Aufsichtsrats, in: Festschrift Lampe, 2003, S. 727; Marotzke, Das insolvenzrechtliche Eröffnungsverfahren neuer Prägung (Teil 1), DB 2012, 560; Matt/Saliger, Straflosigkeit der versuchten Untreue, in: Irrwege der Strafgesetzgebung, 1999, S. 217; Mosch, Probleme der Kapitalaufbringung und der Kapitalerhaltung im Cash-Pool, NZG 2003, 97; Mosiek, Risikosteuerung im Unternehmen und Untreue, wistra 2003, 370; Müller, Der Verlust der Hälfte des Grundoder Stammkapitals, ZGR 1985, 191; Müller, der Verband in der Insolvenz, 2002; Nack, Untreue im Bankbereich durch Vergabe von Großkrediten, NJW 1980, 1599; Nack, Bedingter Vorsatz beim Gefährdungsschaden – ein „doppelter Konjunktiv“, StraFo 2008, 277; Natale/Bader, Der Begriff der Zahlungsunfähigkeit im Strafrecht, wistra 2008, 413; Nelles,

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§ 21 Relevante Straftatbestände Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991; Park, Börsenstrafrechtliche Risiken für Vorstandsmitglieder von börsennotierten Aktiengesellschaften, BB 2001, 2069; Otto, Untreue durch Übernahme der mit einem Strafverfahren verbundenen Aufwendungen für Unternehmensangehörige durch ein Unternehmen, in: Festschrift Tiedemann, 2008, S. 693; Passarge, Zum Begriff der Führungslosigkeit – scharfes Schwert gegen Missbrauch oder nur theoretischer Papiertiger?, GmbHR 2010, 295; Peltzer, Das Mannesmann-Revisionsurteil aus der Sicht des Aktien- und allgemeinen Zivilrechts, ZIP 2006, 205; Perron, Probleme und Perspektiven des Untreuetatbestandes, GA 2009, 219; Poseck, Die strafrechtliche Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft, 1997; Ransiek, Untreue im GmbH-Konzern, in: Festschrift Kohlmann, 2003, S. 207; Ransiek, Anerkennungsprämien und Untreue – Das „Mannesmann“-Urteil des BGH, NJW 2006, 814; Ransiek/ Hüls, Zum Eventualvorsatz bei der Steuerhinterziehung, NStZ 2011, 678; Reichling/Corsten/ Borgel, M&A-Transaktionen und das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht (Teil I), BB 2021, 1545, Rönnau/Hohn, Die Festsetzung (zu) hoher Vorstandsvergütungen durch den Aufsichtsrat – ein Fall für den Staatsanwalt?, NStZ 2004, 113; Rönnau, Einrichtung „schwarzer“ Kassen (Schmiergeld-)Kassen in der Privatwirtschaft – eine strafbare Untreue?, in: Festschrift Tiedemann, 2008, S. 713; Rönnau, Untreue zu Lasten juristischer Personen und Einwilligungskompetenz der Gesellschafter, in: Festschrift Amelung, 2009, 247; Rose, Die strafrechtliche Relevanz von Risikogeschäften, wistra 2005, 281; Säcker, Gesellschaftsund dienstvertragliche Fragen bei Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, WuW 2009, 362; Scharf, MAH Strafverteidigung, 2014, § 43; Schilha, Die Aufsichtsratstätigkeit in der Aktiengesellschaft im Spiegel strafrechtlicher Verantwortung, 2008; Schlösser, Vertraglich vereinbarte Integritätsklauseln und strafrechtliche Haftung der Unternehmensleitung, wistra 2006, 446; Schmal, Subsidiäres Insolvenzantragsrecht bei führungslosen juristischen Personen nach dem Regierungsentwurf des MoMiG, NZI 2008, 6; Schneider, Der Aufsichtsrat des herrschenden Unternehmens im Konzern – Ein Beitrag zum Konzernverfassungsrecht, in: Festschrift Hadding, 2004, S. 621; Schünemann, Organuntreue, Das Mannesmann-Verfahren als Exempel?, 2004; Schünemann, Die „gravierende Pflichtverletzung“ bei der Untreue: dogmatischer Zauberhut oder taube Nuss?, NStZ 2005, 473; Schünemann, Zur Quadratur des Kreises in der Dogmatik des Gefährdungsschadens, NStZ 2008, 430; Sorgenfrei, Zum Verbot der Kursmanipulation nach dem 4. Finanzmarktförderungsgesetz, wistra 2002, 321; Spatscheck/Wulf, Straftatbestände der Bilanzfälschung nach dem HGB – ein Überblick, DStR 2003, 173; Spindler, Vorstandsvergütungen und Abfindungen auf dem aktien- und strafrechtlichen Prüfstand – Das Mannesmann-Urteil des BGH, ZIP 2006, 349; Strelczyk, Die Strafbarkeit der Bildung schwarzer Kassen, Eine Untersuchung zur schadensgleichen Vermögensgefährdung sowie zur objektiven Zurechnung finanzieller Sanktionen infolge schwarzer Kassen als Vermögensnachteil i. S. d. § 266 StGB, 2008; Thalhofer, Kick-Backs, Exspektanzen und Vermögensnachteil nach § 266 StGB, 2008; Taschke, Straftaten im Interesse von Unternehmen – auch strafbar wegen Untreue?, in: Festschrift Lüderssen, 2002, S. 663; Thalhofer, Kick-Backs, Exspektanzen und Vermögensnachteil nach § 266 StGB, 2008; Thomas, Untreue in der Wirtschaft, in: Festschrift Rieß, 2002, S. 795; Thomas, Das allgemeine Schädigungsverbot des § 266 Abs. 1 StGB, in: Festschrift Hamm, 2008, S. 767; Tiedemann, Untreue bei Interessenkonflikten am Beispiel der Tätigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern, in: Festschrift Tröndle, 1989, S. 319; Tiedemann, Der Untreuetatbestand – ein Mittel zur Begrenzung von Managerbezügen?, in: Festschrift Weber, 2004, S. 319; Trüg/Zeyher, Anwendbarkeit der im Bereich der Untreue (§ 266 StGB) entwickelten Zustimmungslösung von Gesellschaftsorganen auf die Aktiengesellschaft, NZWiSt 2021, 169; Uhlenbruck, Die Rechtsstellung des Geschäftsführers im Konkurs der GmbH, GmbHR 1972, 170; Uhlenbruck, Strafrechtliche Aspekte der Insolvenzrechtsreform 1994, wistra 1996, 1; Ulmer, Schutz der GmbH gegen Schädigung zugunsten ihrer Gesellschafter? Zur Relevanz der Rechtsprechung zu § 266 StGB für das Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Pfeiffer, 1988, S. 853; Volhard, Die Untreuemode – Ist die Abgabe eines unvollständigen Rechenschaftsberichts einer politischen Partei wegen Untreue strafbar?, in: Festschrift Lüderssen, 2002, S. 673; Volk, Untreue und Gesellschaftsrecht, in: Festschrift Hamm, 2008, S. 803; Wackernagel, Investmentuntreue, 2019; Wagner,

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§ 21 Relevante Straftatbestände Zum Erfordernis einer „gravierenden“ Pflichtverletzung bei der Untreue – Überlegungen zu Legitimität, Anwendungsbereich und Inhalt eines umstrittenen Korrektivs, ZStW 131 (2019), 319; Waßmer, Untreue bei Risikogeschäften, 1997; Wattenberg, Zentrales CashManagement als Untreuetatbestand im Konzernverbund, StV 2005, 523; Weber, Das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG), Teil 1: Vermögens- und Fälschungsdelikte (außer Computerkriminalität), NStZ 1986, 481; Wegner, Anmerkung zu OLG München, Beschl. vom 15.2.2011 – 4St RR 167/10, PStR 2011, 140; Wilke, Strafbarkeitsrisiken für Aufsichtsräte durch die Gewährung von Corporate Sponsoring, NZWiSt 2020, 1; Windolph, Risikomanagement und Riskcontrol durch das Unternehmensmanagement nach dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG); ius cogens für die treuhänderische Sorge iS von § 266 StGB – Untreue?, NStZ 2000, 522; Wollburg, Unternehmensinteressen bei Vergütungsentscheidungen, ZIP 2004, 646; Zech, Untreue durch Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft, 2007; Zehetgruber, Strafrechtliche Implikationen überhöhter Managervergütungen, wistra 2018, 489; Zimmer/Dürr, Die Betriebsratsbegünstigung – Ab wann ist sie kriminell?, NZWiSt 2021, 176.

1 Im Folgenden soll eine Auswahl wichtiger und praxisrelevanter Strafvorschriften vorgestellt werden. Im Zentrum steht dabei im ersten Abschnitt der Tatbestand der Untreue (Æ Rz. 2 ff.), der sich als juristische Allzweckwaffe gegen alle denkbaren Varianten wirtschaftlich relevanten Fehlverhaltens1) bei den Strafverfolgungsbehörden ungebrochener Popularität erfreut und auf die eine oder andere Weise im Bereich der (strafrechtlichen) Managerverantwortung fast zwangsläufig relevant wird. Im zweiten Abschnitt werden sodann die strafbewehrten Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat in der Unternehmenskrise behandelt (Æ Rz. 119 ff.), im dritten Abschnitt die Bilanzdelikte (Æ Rz. 185 ff.). Der vierte Abschnitt befasst sich mit den Falschangabedelikten (Æ Rz. 245 ff.), der fünfte Abschnitt mit den Kapitalmarktdelikten des Wertpapierhandelsgesetzes und den Anlegerschutzdelikten (Æ Rz. 276 ff.) und der sechste Abschnitt mit der Steuerhinterziehung bei der AG (Æ Rz. 323 ff.). Im siebten Abschnitt werden knapp die strafrechtlichen Folgen einer Verletzung der organschaftlichen Geheimhaltungspflichten behandelt (Æ Rz. 347 ff.) bevor sich der achte Abschnitt schließlich mit den immer weiter in den Vordergrund rückenden Strafvorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes befasst (ÆRz. 359 ff.). A.

Untreue (§ 266 StGB)

I.

Einleitung

2 Der Straftatbestand der Untreue ist eine der zentralen Regelungen des Wirtschaftsstrafrechts. „§ 266 StGB passt immer“,2) hat Ransiek einmal geschrieben und damit zum Ausdruck gebracht, dass der Straftatbestand derart weit gefasst ist, dass viele Verhaltensweisen des Wirtschaftslebens strafrechtlich kaum zu greifen sind und daher im Zweifel als Untreue gewertet werden, um sie über___________ 1) 2)

Perron, GA 2009, 219, 222. Ransiek, ZStW 116 (2004), 634.

1270

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A. Untreue (§ 266 StGB)

haupt bestrafen zu können. Auch und insbesondere für die Leitungsebene von Unternehmen ist die praktische Relevanz des Untreuetatbestandes hoch. Nach dem Untreuetatbestand wird bestraft, wer als vermögensbetreuungspflichtige Person die ihm obliegenden Pflichten zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen verletzt (Pflichtverletzung) und dadurch einen Vermögensschaden beim Vermögensinhaber verursacht. § 266 StGB erfasst dabei sowohl Pflichtverletzungen in Gestalt rechtsgeschäftlichen Handelns (Missbrauchsalternative) als auch rein tatsächliche Einwirkungen (Treubruchalternative). Ist der Straftatbestand erfüllt, kann dies mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jah- 3 ren oder mit Geldstrafe geahndet werden. In besonders schweren Fällen droht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Insbesondere bei Untreuehandlungen, die ein Vermögensbetreuungspflichtiger zu eigenen Gunsten – zur eigenen Bereicherung – begangen hat, drohen empfindliche Strafen. Der Untreuetatbestand schützt nach ganz h. M. allein das Vermögen.3) Wie der 4 BGH in seinem Urteil zur „HSH-Nordbank“ treffend formuliert, hat „§ 266 StGB als Vermögensschädigungsdelikt […] nicht die Aufgabe, Recht und Moral in geschäftlichen Beziehungen zu garantieren, sondern das Individualvermögen vor Beeinträchtigungen zu schützen“.4) II.

Täterkreis: Vermögensbetreuungspflicht

Für beide Handlungsalternativen (Missbrauch- und Treubruchvariante) ist nach 5 h. M. eine Vermögensbetreuungspflicht des Täters erforderlich.5) Darunter ist nach der Rechtsprechung eine Geschäftsbesorgung für einen anderen in einer nicht ganz unbedeutenden Angelegenheit zu verstehen, die wesentlich durch Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit geprägt ist.6) Die Vermögensbetreuungspflicht muss den Hauptgegenstand des Treueverhältnisses darstellen, es darf sich also nicht um eine bloße Nebenpflicht handeln.7) Daher muss der Aufgabenkreis des Handelnden von einigem Gewicht sein und ihm muss ein gewisser Grad an Verantwortlichkeit zustehen.8) Darauf, ob die Beteiligten die ___________ 3) 4) 5) 6) 7)

8)

Statt vieler BGH, Urt. v. 20.7.1999 – 1 StR 668/98, NJW 2000, 154 (155); Fischer, StGB, § 266 Rz. 2; NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 1. BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NJW 2017, 578 (582). BGH, Urt. v. 8.5.1951 – 1 StR 171/51, BGHSt 1, 186 (188); BGH, Beschl. v. 3.5.2012 – 2 StR 446/11, NStZ 2013, 40; Fischer, StGB, § 266 Rz. 21, 35 f. BGH, Urt. v. 11.12.1957 – 2 StR 481/57, NJW 1960, 53; BGH, Urt. v. 26.7.1972 – 2 StR 62/72, NJW 1972, 1904; BGH, Urt. v. 13.6.1985 – 4 StR 213/85, NJW 1985, 2280. BGH, Urt. v. 8.5.1951 – 1 StR 171/51, BGHSt 1, 186 (189); Urt. v. 5.7.1968 – 5 StR 262/68, NJW 1968, 1938; Beschl. v. 23.8.1995 – 5 StR 371/95, NJW1996, 65; Beschl. v. 29.1.2020 – 1 StR 421/19, wistra 2020, 382 (383); Fischer, StGB, § 266 Rz. 29; NK-StGB/ Kindhäuser, § 266 Rz. 33; Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 266 Rz. 23a. Vgl. MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 46.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

Pflicht als solche bezeichnen, kommt es selbstverständlich nicht an.9) Merkmale für die Einordnung sind Art, Dauer und Umfang der jeweiligen Tätigkeit.10) Insgesamt muss der Täter eine exponierte Stellung bzgl. des zu betreuenden Vermögens haben. Mosiek spricht insoweit zutreffend von einer „Statthalterposition“11), in der Rechtsprechung ist die Rede von einer „besonders qualifizierte(n) Pflichtenstellung in Bezug auf das fremde Vermögen“12). Dem Erfordernis der Vermögensbetreuungspflicht kommt damit eine ebenso prägende wie den Tatbestand des § 266 StGB begrenzende Funktion zu. 6 

Der Vorstand ist das Leitungs- und Vertretungsorgan der AG, er nimmt die Geschäftsführung wahr.13) Im Außenverhältnis ist seine Vertretungsmacht nicht beschränkbar (§ 82 Abs. 1 AktG). Dies bedeutet, dass der Vorstand die Gesellschaft im Außenverhältnis wirksam verpflichten und gleichsam über ihr Vermögen verfügen kann. Da er als Geschäftsführungsorgan insofern eine Rechtsstellung einnimmt, die es ihm gerade ermöglicht, für die Gesellschaft vermögensrelevante Handlungen vorzunehmen, trifft ihn eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der AG.14) Das gleiche gilt für den stellvertretenden Vorstand (§ 94 AktG).15)

7 

Daneben kann bei einer AG auch ein faktischer Vorstand bestehen, d. h. ein Vorstand, der zwar nicht wirksam bestellt wurde, dessen Aufgaben er jedoch tatsächlich wahrnimmt. Zu unterscheiden ist dabei zwischen einem faktischen Vorstand, der unbeabsichtigt als solcher auftritt, weil der Bestellungsakt unwirksam ist, und einem solchen, der bewusst – beispielsweise im Sinne eines Strohmanns – die Aufgaben eines Vorstands wahrnimmt, ohne als solcher bestellt zu sein.16) In beiden Fällen kann die Fürsorgepflicht des faktischen Vorstands aus einem tatsächlichen Treueverhältnis, in welchem dieser zur AG steht, begründet werden. Somit ist auch der faktische Vorstand der Gesellschaft gegenüber vermögensbetreuungspflichtig.17)

___________ 9) Fischer, StGB, § 266 Rz. 36. 10) OLG Hamm, Urt. v. 18.11.1971 – 2 Ss 685/71, NJW 1972, 298 (301); Heinitz, in: Festschrift Mayer, S. 434 (437 ff.). 11) Mosiek, wistra 2003, 370 (373). 12) BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 3 StR 438/12, NStZ 2013, 407 = NZWiSt 2013, 468 (m. Anm. Corsten/Schmidt). 13) Hüffer/Koch, § 76 Rz. 5. 14) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322; Brammsen, wistra 2009, 85 (86); Hirmer, S. 86 ff.; Müller-Gugenberger/Bieneck/Hadamitzky, Wirtschaftsstrafrecht, Kap. 32 Rz. 32.26; Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 266 Rz. 25; LK-StGB/Schünemann, § 266 Rz. 256. 15) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322; MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 95. 16) Vgl. BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 399 Rz. 98. 17) BGH, Urt. v. 4.3.2020 – 5 StR 395/19, wistra 2020, 293 (294); Müller-Gugenberger/ Bieneck/Hadamitzky, Wirtschaftsstrafrecht, Kap. 32 Rz. 32.100.

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A. Untreue (§ 266 StGB)



III.

Der Aufsichtsrat ist primär ein Überwachungsorgan, das die Geschäfts- 8 führung des Vorstands überwacht und kontrolliert, § 111 Abs. 1 AktG.18) Darüber hinaus kommen ihm zwar gemäß § 111 AktG und anderen Vorschriften zahlreiche weitere Aufgaben und Kompetenzen zu (ausführlich dazu Æ § 3 Rz. 96 ff.),19) aus der Überwachung als Hauptaufgabe ergibt sich indes seine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der AG. Er ist zwar nicht „Garant für die Ordnungsgemäßheit der Unternehmensführung durch den Vorstand“20), aber ihn trifft eine Garantenstellung hinsichtlich eventueller Schädigungen der AG. Dem Aufsichtsrat ist dann ein Untreuevorwurf zu machen, wenn ihm „organspezifisches Fehlverhalten“21) zur Last gelegt wird. Dies bedeutet letztlich, dass er den Vorstand daraufhin zu überwachen hat, dass dieser die AG nicht schädigt. Insoweit sind die Mitglieder des Aufsichtsrats vermögensbetreuungspflichtig.22) Tathandlungen

Als Tathandlung sieht § 266 StGB vor, dass der Täter die ihm durch Gesetz, 9 behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt. § 266 StGB umfasst damit einerseits die Missbrauch- und anderseits die Treubruchalternative, wobei der Missbrauch nach h. M. als Spezialfall des Treubruchs einzuordnen ist.23) Beide Handlungsalternativen setzen nach h. M. eine sog. Vermögensbetreuungspflicht beim Täter voraus (Æ Rz. 5 ff.).24) Ein Missbrauch liegt vor, wenn der Handelnde durch sein rechtliches Kön- 10 nen im Außenverhältnis sein rechtliches Dürfen im Innenverhältnis überschreitet; dies bedeutet, der Handelnde missbraucht die ihm eingeräumte Befugnis, da ihm im Außenverhältnis breitere Handlungsmöglichkeiten zu___________ 

18) Hüffer/Koch, § 111 Rz. 2 f. 19) Vgl. zudem MünchKommAktG/Habersack, § 111 Rz. 1 ff. 20) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 79 mit Verw. auf Lüderssen, in: Festschrift Eser, S. 727 (731). 21) A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 245. 22) Vgl. nur NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 58 m. w. N. 23) Sog. „monistische Theorie“, vgl. BGH, Urt. v. 26.7.1972 – 2 StR 62/72, NJW 1972, 1904; Urt. v. 13.6.1985 – 4 StR 213/85, NJW 1985, 2280; Urt. v. 11.11.1982 – 4 StR 406/82, JR 1983, 515 f.; OLG Hamm, Urt. v. 26.4.1968 – 3 Ss 25/68, NJW 1968, 1940; SK-StGB/ Hoyer, § 266 Rz. 14 ff. Zu den (geringen) praktischen Konsequenzen dieses Normverständnisses Beukelmann, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 18 Rz. 7; A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 57 ff. 24) BGH, Urt. v. 8.5.1951 – 1 StR 171/51, BGHSt 1, 186 (188); Beschl. v. 3.5.2012 – 2 StR 446/11, NStZ 2013, 40; Fischer, StGB, § 266 Rz. 21, 35 f.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

stehen.25) Die genannte Befugnis kann ihm entweder durch Gesetz (z. B. beim Handlungsbevollmächtigten gemäß § 54 HGB, beim Insolvenzverwalter gemäß § 56 InsO oder bei Gerichtsvollziehern gemäß § 154 GVG i. V. m. GVO),26) durch behördlichen Auftrag (d. h. durch Berufung in ein öffentliches Amt mit Vertretungsbefugnis, etwa bei Inkassobeamten, Bürgermeister oder Landrat)27) oder durch Rechtsgeschäft (z. B. Vollmacht, Satzung oder Organstellung in einer Gesellschaft)28) erteilt werden und bezieht sich auf die Verfügung über das Vermögen des Treugebers oder dessen Verpflichtung. Erforderlich ist stets, dass die genannte Verfügung oder Verpflichtung zivilrechtlich wirksam ist.29) Folglich erfasst die Missbrauchalternative stets rechtsgeschäftliches Handeln, rein tatsächliches wird dagegen von der Treubruchalternative erfasst.30) Ein Missbrauch kann auch durch Unterlassen erfolgen, und zwar dann, wenn diesem selbst rechtsgeschäftliche Wirkung zukommt.31) Im Rahmen der Treubruchalternative ist erforderlich, dass der Täter die ihm obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt.32) Folglich ist eine Verletzung dieser Vermögensfürsorgepflicht auch durch rein tatsächliches Handeln ausreichend.33) Diese Pflicht kann auf den gleichen Grundlagen wie diejenige im Bereich des Missbrauchs beruhen. Daneben kann sich diese aber auch aus einem sog. Treueverhältnis ergeben, welches rein faktischer Natur ist und einer Garantenstellung kraft Übernahme entspricht.34) Praxisrelevante Beispiele bilden insbesondere Fälle der faktischen Geschäftsführung35) oder des rechtlich unwirksamen Handelns von einzelnen, an sich vorschriftsmäßig bestellten Geschäftsführungsmitgliedern. Für die Tathandlung ist erforderlich, dass der Täter die genannte Pflicht verletzt, d. h. er muss die ihm übertragene Entscheidungsfreiheit durch Nicht- oder Fehlgebrauch überschreiten.36) Dies kann durch rechtsgeschäftliches oder tat___________

11 

25) BGH, Urt. v. 27.10.1953 – 5 StR 436/53, BGHSt 5, 60 (63); Urt. v. 5.7.1984 – 4 StR 255/84, NJW 1984, 2539 (2540); Bringewat, GA 1973, 353 (363); Fischer, StGB, § 266 Rz. 9; NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 82. 26) Vgl. Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 266 Rz. 5a m. w. N. 27) Fischer, StGB, § 266 Rz. 17 m. w. N. 28) Vgl. Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 266 Rz. 5a m. w. N. Indes können sich die Entstehungsgründe der Befugnis auch überschneiden, eine präzise Zuordnung ist nicht von praktischer Bedeutung, vgl. BeckOK-StGB/Wittig, § 266 Rz. 10. 29) Fischer, StGB, § 266 Rz. 19. 30) Vgl. MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 134. 31) Fischer, StGB, § 266 Rz. 32. 32) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 170. 33) NK-WSS/Jahn/Ziemann, § 266 Rz. 93. 34) NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 38. 35) LK-StGB/Schünemann, § 266, Rz. 63. 36) NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 63.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

sächliches Handeln,37) aber auch durch Unterlassen erfolgen, z. B. wenn der Täter treuwidrig Vermögensmehrungen unterlässt.38) Trotz des weiten Wortlauts dieser Handlungsalternative ist die Vorschrift dem BVerfG zufolge (noch) mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren.39) Mit Blick auf die AG gilt, dass sowohl Vorstand als auch stellvertretender Vor- 12 stand Täter aufgrund ihrer Verfügungsbefugnis im Außenverhältnis als Täter des Missbrauchtatbestands in Betracht kommen. Ebenso ist jedoch eine Strafbarkeit nach der Treubruchalternative möglich, wenn die Pflichtverletzung in einem tatsächlichen Verhalten liegt. Das ist beispielsweise der Fall, wenn lediglich ein Mitglied oder einzelne Mitglieder des Vorstands allein rechtsgeschäftlich handeln, ohne zu einer Vertretung ermächtigt zu sein, da es dann an einem rechtswirksamen Handeln nach außen fehlt.40) Die Mitglieder des Aufsichtsrats kommen bzgl. ihrer Überwachungsaufgabe ge- 13 mäß § 111 AktG als Täter der Treubruchalternative des § 266 StGB in Betracht.41) Soweit der Aufsichtsrat nach § 112 AktG die Gesellschaft dem Vorstand gegen- 14 über gerichtlich und außergerichtlich vertritt, bedeutet dies, dass in Geschäften bzw. Angelegenheiten zwischen der AG und dem Vorstand dem Aufsichtsrat eine Verpflichtungs- und Verfügungsbefugnis eingeräumt ist. In diesem Rahmen können die Mitglieder des Aufsichtsrates also auch Täter einer Missbrauchuntreue sein.42) IV.

Pflichtwidrigkeit der Tathandlungen

Der Untreuetatbestand erfordert eine Pflichtverletzung, die als Missbrauch oder 15 Treubruch zu qualifizieren ist. In jedem Fall muss die Tathandlung hierfür pflichtwidrig sein, um den Tatbestand zu erfüllen. Wann dieses Kriterium der Pflichtwidrigkeit erfüllt ist, dazu verhält sich der Straftatbestand des § 266 StGB nicht näher. Es handelt sich bei der Pflichtwidrigkeit vielmehr um ein „komplexes normatives Tatbestandsmerkmal“43), das unter Heranziehung einschlägiger zivil___________ 37) Fischer, StGB, § 266 Rz. 51. 38) Vgl. die Kasuistik des Treubruchs durch Unterlassen bei NK-WSS/Jahn/Zimmerman, § 266 Rz. 98. 39) BVerfG, Beschl. v. 10.3.2009 – 2 BvR 1980/07, NStZ 2009, 560. 40) Beckemper, NStZ 2002, 324 (325). 41) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585 (1588); Brammsen, ZIP 2009, 1504 (1505); Müller-Gugenberger/Bieneck/Hadamitzky, Wirtschaftsstrafrecht, Kap. 32 Rz. 32.120 ff.; Schilha, S. 234 f. 42) Braum, KritV 2004, 67 (70); Schünemann, S. 23 f.; Zech, S. 144, 210. 43) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3213) m. w. N.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

rechtlicher Regelungen (sog. Zivilrechtsakzessorietät im Strafrecht)44) und bei besonderer Berücksichtigung des Schutzbereichs von § 266 StGB zu konkretisieren ist. 1.

Pflichtenkreise von Vorstand und Aufsichtsrat

16 Für Vorstand und Aufsichtsrat einer AG erlangen insbesondere die §§ 76, 93, 111, 116 AktG Bedeutung, um die Frage der Pflichtwidrigkeit ihres Verhaltens zu klären.45) 17 

Der Pflichtenkreis des Vorstands bestimmt sich nach den §§ 76 ff. AktG, wobei insbesondere § 93 AktG und der darin enthaltenen Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) besondere Bedeutung zukommt.46) Grundsätzlich steht dem Vorstand im Rahmen seines unternehmerischen Handelns ein weiter Ermessensspielraum zu (Æ Rz. 49).47)

18 

Der Pflichtenkreis des Aufsichtsrats bestimmt sich vornehmlich nach § 111 AktG. Danach obliegt ihm die Aufgabe, die Geschäftsführung, also den Vorstand, zu überwachen. Daneben vertritt der Aufsichtsrat die AG gegenüber den Vorstandsmitgliedern gemäß § 112 AktG gerichtlich und außergerichtlich. Hinsichtlich der Sorgfaltspflichten der Aufsichtsratsmitglieder gilt § 93 AktG sinngemäß, so dass die Business Judgment Rule auch für den Aufsichtsrat gilt (ausführlich dazu Æ § 3 Rz. 284 ff.).

2.

Zivilrechtsakzessorietät

19 Vereinfacht lässt sich der Einfluss des Zivilrechts auf § 266 StGB auf die Formel bringen, dass „nicht strafbar sein kann, was zivilrechtlich erlaubt ist.“48) Umgekehrt gilt jedoch keinesfalls, dass alles, was nach den zivil-, insbesondere aktienrechtlichen Maßgaben unzulässig ist, auch strafbar wäre – dem Strafrecht kommt ultima ratio-Charakter zu und seine Straftatbestände erfassen deshalb nicht jede Zivilrechtswidrigkeit.49) Schwächen offenbart die Heranziehung der außerstrafrechtlichen Normen im Übrigen, weil sie ihrerseits von erheblicher Unbestimmtheit geprägt oder gar generalklauselartigen Charakters sein können.50) ___________ 44) NK-WSS/Kempf/Schilling, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 93 AktG Rz. 23 ff. 45) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3213); BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585 (1588); BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (523 ff.). 46) Vgl. BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NJW 2017, 578 („HSH-Nordbank“); NKWSS/Kempf/Schilling, § 93 AktG, Rz. 16 ff. 47) BGH, Beschl. v. 27.1.2021 – 3 StR 628/19, NZG 2021, 748, 749. 48) NK-WSS/Kempf/Schilling, § 93 AktG, Rz. 23. 49) NK-WSS/Kempf/Schilling, § 93 AktG, Rz. 23. 50) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3213).

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A. Untreue (§ 266 StGB)

Auslegungsschwierigkeiten beim Merkmal der Pflichtwidrigkeit vermögen sie daher nicht endgültig zu beseitigen. Eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht i. S. d. Untreue ist nur dann 20 anzunehmen, wenn ein unmittelbar und primär das Vermögen des Geschäftsherrn schädigendes Verhalten vorliegt.51) Beim Merkmal der Pflichtwidrigkeit ist es insofern geboten, sich an dem von § 266 StGB geschützten Rechtsgut – (allein) das individuelle Vermögen des Treugebers –52) zu orientieren. Ein bloß mittelbar schädigendes Verhalten des Treupflichtigen ist nicht ausreichend. Dieses fällt schon nicht in den Schutzbereich der Betreuungspflicht und würde obendrein zu einer weiteren Ausdehnung des ohnehin schon sehr weit gefassten Untreuetatbestandes führen. Die Pflicht, die verletzt wird, muss gerade auf Vermögensschutz ausgerichtet sein.53) Der Täter muss hier „also Vorgaben verletzen, die genuin zum Zwecke der Schadensverhinderung aufgestellt“ sind.54) Alles andere hieße, § 266 StGB über Gebühr auszudehnen, denn einen mittelbaren Vermögensbezug haben nahezu sämtliche Strafvorschriften des Wirtschaftsrechts. Eine Beschränkung des Untreuetatbestandes auf primär und unmittelbar ver- 21 mögensschützende Pflichten erscheint insofern notwendig, als ansonsten z. B. jede Geldbuße, die ein Unternehmen zu begleichen hat, ganz gleich wegen welchen Verstoßes, wohl immer auch eine Untreue zulasten desselben darstellte.55) Dies ist aber weder mit dem Unrechtsgehalt der Norm zu vereinbaren noch erforderlich, weil das spezifische Unrecht gerade durch die Verhaltensnorm erfasst wird, deren Verletzung zum genannten Bußgeld führte. Nur durch die genannte Beschränkung gelingt es, der Untreue als Vermögensdelikt gerecht zu werden.56) 3.

Gravierende Pflichtverletzung

Uneinheitlichkeit, selbst innerhalb der Rechtsprechung, besteht dahingehend, 22 ob die Pflichtwidrigkeit für die Annahme einer Untreuestrafbarkeit zusätzlich ___________ 51) Günther, in: Festschrift Weber, S. 311 (316 f.). 52) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3212); Fischer, StGB, § 266 Rz. 2. 53) Fischer, StGB, § 266 Rz. 60. 54) Vgl. BGH, Beschl. v. 13.4.2011 – 1 StR 94/10, NJW 2011, 1747 – „Kölner Parteispenden“ m. w. N.; A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 212; in diese Richtung auch Kubiciel, NStZ 2005, 353 (360), der ausführt: „Da § 266 StGB nicht zur Durchsetzung lauterer Geschäftsführung ermächtigen will, können nur solche gesellschaftsrechtlichen Inhalte für die Untreue relevant werden, die als Konkretisierung der Dispositionsbefugnis über das fremde Vermögen gedacht werden können, mithin in einem funktionalen Zusammenhang zum Schutz des Vermögens der Gesellschaft stehen.“; zustimmend ebenso MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 45; Günther, in: Festschrift Weber, S. 311 (316 f.); Hillenkamp, NStZ 1981, 161 (166); Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 266 Rz. 19a; Taschke, in: Festschrift Lüderssen, S. 663 (669 f.). 55) Vgl. hierzu auch Gerkau, S. 36 ff. 56) Volhard, in: Festschrift Lüderssen, S. 673 (678); so auch Gerkau, S. 166 f.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

„gravierend“ sein muss.57) Ein solches, die Strafbarkeit einschränkendes Kriterium wird insbesondere vom 1. Strafsenat des BGH seit dem Jahr 2001 mit Nachdruck gefordert.58) Gewissermaßen den Rücken gestärkt hat ihm hierbei das BVerfG in seinem vielbeachteten „Untreue-Beschluss“ des Jahres 2010.59) Es hat hier eine Beschränkung des Untreuetatbestandes auf Fälle klaren und deutlichen (evidenten) pflichtwidrigen Handelns statuiert,60) wobei jedoch die „(Fort-)Entwicklung geeigneter dogmatischer Mittel zu diesem Ziel“ ausdrücklich den Strafgerichten vorbehalten bleiben sollte.61) Eine andere Ansicht vertritt insbesondere der 3. Strafsenat des BGH:62) Er hebt in seiner Judikatur als „Klarstellung zu BGHSt 47, 148 und 187“ hervor, dass die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht „auch bei unternehmerischen Entscheidungen eines Gesellschaftsorgans nicht zusätzlich ‚gravierend‘ sein“ müsse.63) Selbst nach dem Urteil des BVerfG gab er seine Ansicht nicht auf, sondern ließ es etwa in einer Entscheidung des Jahres 2015 offen, ob eine zusätzliche Gewichtung der Pflichtverletzung (im Sinne eines gravierenden Pflichtenverstoßes) „überhaupt ein nach der ratio legis sinnvolles Kriterium zur Einschränkung des objektiven Tatbestands des § 266 StGB darstellt“64). In einem jüngeren Urteil des 3. Strafsenats vom 27.1.2021 zur möglichen Untreue durch Vorstände einer Sparkasse bei der Kreditvergabe heißt es in diesem Zusammenhang jedoch bemerkenswerterweise: „Wiegt der Verstoß gegen die bei der Kreditvergabe zu beachtenden Sorgfaltspflichten schwer, führt er schon für sich gesehen zu einer Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht“.65) Sprachlich nähert sich der 3. Strafsenat damit an die Subsumtion einer „gravierenden Pflichtverletzung“ an, auch wenn eine ausdrückliche Inbezugnahme des Kriteriums ausbleibt. Ein „Einschwenken“ des 3. Strafsenats auf „die Linie der Befürworter einer gravierenden Pflichtverletzung“ ist hierin jedoch nicht zu sehen.66) Brand/ Goll vermuten hinter der – freilich nicht trennscharfen – Passage vielmehr die Motivation, eine Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen zu vermeiden. Der 3. Strafsenat stelle mit dem vorgenannten Passus klar, dass es auf das Erfordernis der „gravierenden Pflichtverletzung“ in dem zu entscheidenden Fall ___________ 57) Ausf. NK-WSS/Kempf/Schilling, § 93 AktG Rz. 31 f.; Wagner, ZStW 131 (2019), 319. 58) Vgl. BGH, Urt. v 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211 – „Sparkasse Mannheim“; Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NJW 2002, 1585 – „SSV Reutlingen“; Urt. v. 22.11.2005 – 1 StR 571/04, NJW 2006, 453 (454 f.) – „Kinowelt“; Beschl. v. 13.4.2011 – 1 StR 94/10, NJW 2011, 1747 (1749 f.) – „Kölner Parteispenden“. 59) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209. 60) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3215). 61) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3215). 62) Vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522. 63) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522. 64) BGH, Urt. v. 11.12.2014 – 3 StR 265/14, NJW 2015, 1618 (1620). 65) BGH, Urt. v. 27.1.2021 – 3 StR 628/19, NZG 2021, 748 (749). 66) Brand/Goll, NZG 2021, 751 (752).

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A. Untreue (§ 266 StGB)

schon deshalb nicht angekommen sei, weil die in Rede stehende Pflichtverletzung diese Hürde jedenfalls genommen hätte.67) Sicherlich sprechen gute Gründe dafür, mit dem BVerfG und dem 1. Strafsenat 23 des BGH an dem Kriterium der gravierenden Pflichtverletzung festzuhalten, u. a. weil so verhindert wird, dass der Anwendungsbereich des § 266 StGB über Gebühr ausgedehnt wird. Wünschenswert wäre eine einheitliche Haltung der Strafsenate des BGH, um Unsicherheiten für den Normadressaten zu vermeiden. Praxishinweis: Unabhängig von diesen unterschiedlichen Bewertungen durch die 24 Strafsenate des BGH ist in jedem Fall davor zu warnen, dass Vorstand und Aufsichtsrat pflichtwidrige Entscheidungen treffen und sich dann gegen einen Untreuevorwurf verteidigen, indem sie vortragen, die Pflichtverletzung sei jedenfalls nicht gravierend gewesen. V.

Einwilligung

Da der Tatbestand der Untreue verlangt, dass der Täter seine Vermögensbetreu- 25 ungspflicht gegenüber dem Geschäftsherrn verletzt, lässt dessen Einwilligung bzw. Einverständnis68) die Pflichtverletzung des Handelnden entfallen. Durch die Zustimmung des Geschäftsherrn wird sein Pflichtenkreis gerade erweitert.69) 1.

Rechtsprechung zur GmbH

Für die GmbH ist anerkannt, dass die Gesellschafter über das Vermögen der 26 GmbH verfügen dürfen,70) so dass sie in Untreuehandlungen des GmbHGeschäftsführers einwilligen können, mit der Folge, dass dieser nicht strafbar ist. Die h. M. in Literatur und Rechtsprechung sieht die Zulässigkeitsgrenze dieser Einwilligung indes dort erreicht, wo das Eigeninteresse der GmbH berührt wird, die GmbH also in ihrer Existenz gefährdet wird.71) Dies wird zumeist mit § 30 GmbHG und der Verpflichtung zum Erhalt des Stammkapitals begründet.72) Verstößt die untreuerelevante Handlung gegen dieses Eigeninteresse, indem das Stammkapital der GmbH angegriffen oder sonst deren Existenz ge___________ 67) Brand/Goll, NZG 2021, 751 (752). 68) In der Literatur ist umstritten, ob eine Einwilligung stets den objektiven Tatbestand (tatbestandsausschließendes Einverständnis) oder als Rechtfertigungsgrund die Rechtswidrigkeit der Tathandlung (rechtfertigende Einwilligung) entfallen lässt. Im Bereich der Untreue ist dies irrelevant, da die Zustimmung des Geschäftsherrn stets die Pflichtverletzung und damit den objektiven Tatbestand entfallen lässt. 69) A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 91 ff. m. w. N. 70) In welchen Grenzen diese Verfügung zulässig ist, wird indes kontrovers diskutiert. Vgl. zum Streitstand Corsten, S. 86 ff. 71) BGH, Urt. v. 24.8.1988 – 3 StR 232/88, NJW 1989, 112 (113); Urt. v. 13.5.2004 – 5 StR 73/03, NStZ 2004, 559 (561); Brammsen, DB 1989, 1609 (1615); Brand, S. 295 ff.; Gehrlein, NJW 2000, 1089 (1090); Salditt, NStZ 2005, 269 (270). 72) Hellmann, wistra 1989, 214 (216 f.); Ulmer, in: Festschrift Pfeifer, S. 853 (861 ff.).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

fährdet wird, so ist die Einwilligung unwirksam und der Geschäftsführer bzw. der sonst Treupflichtige bleibt strafbar.73) 2.

Übertragung der Rechtsprechung zur GmbH auf die AG

27 In Literatur und Rechtsprechung ist äußerst umstritten, ob diese zur GmbH entwickelten Grundsätze auf die AG übertragen werden können: 28 Zum Teil wird vertreten, die im Rahmen der GmbH entwickelten Grundsätze seien auf die AG zu übertragen.74) Folglich könne die Hauptversammlung in eine Pflichtverletzung des Vorstands einwilligen, weil die Aktionäre als Anteilseigner, deren Gesamtheit die Hauptversammlung bilde, über das Vermögen der AG disponieren könnten.75) Die Zustimmung der Hauptversammlung wäre dann grundsätzlich geeignet, einer Untreuehandlung des Vorstands die Pflichtwidrigkeit zu nehmen.76) 29 Teilweise wird ähnlich wie bei der GmbH eine Wirksamkeitsgrenze der Einwilligung in dem Eigeninteresse der AG gesehen, was mit unterschiedlicher Begründung,77) zumeist aber mit dem Grundsatz der Kapitalerhaltung (§§ 57, 59, 66 Abs. 2 und 71 ff. AktG) begründet wird.78) 30 Demgegenüber wird zum Teil auch vertreten, dass der Hauptversammlung die Kompetenz zur Erteilung einer Einwilligung fehle, weil den Aktionären bereits die Dispositionsbefugnis über das Vermögen der AG fehle.79) Dies wird zum einen mit der Kompetenzverteilung in der AG begründet, da die Hauptversammlung, anders als bei der GmbH, nicht oberstes Willensbildungsorgan sei, sie kein Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand habe und ihr keine „umfassende[n] Interessendefinitionsmacht“ zukomme.80) Anderseits wird auch hier ein zu berück___________ 73) BGH, Beschl. v. 15.8.2019 – 5 StR 205/19, NStZ-RR 2019, 381. 74) Corsten, S. 162 ff; Hohn, in: Festschrift Samson, S. 315 (337); Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 266 Rz. 21c. 75) Dittrich, S. 228 f.; Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 266 Rz. 21c; Schilha, S. 285 f.; A/R/R/ Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 240; Brammsen, wistra 2009, 85 (90). 76) MünchKommAktG/Wittig, Vor § 399 Rz. 41; ebenso Taschke, in: Festschrift Lüderssen, S. 663 (666). 77) Loeck, S. 104 f.; Busch, S. 162 f.; Kaufmann, S. 150 f. 78) Hüffer/Koch, § 57 Rz. 1; Arnold, S. 211. 79) Rönnau, in: Festschrift Amelung, S. 247 (257 ff.); Brammsen/Apel, WM 2010, 781 (786); Zech, S. 108; nun auch Fischer, StGB, § 266 Rz. 102. 80) Rönnau, in: Festschrift Amelung, S. 247 (257 ff.), der sich zur Erläuterung der Kompetenzen des Vorstands, des Aufsichtsrats und der Hauptversammlung insbesondere auf die sog. Holzmüller-Gelatine-Doktrin des BGH beruft (Æ § 1 Rz. 169 f.); BGH, Urt. v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, NJW 1982, 1703 (1705) – „Holzmüller“; Urt. v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, NZG 2004, 571 (572 ff.) = ZIP 2004, 993 – „Gelatine“, wonach Entscheidungen, die „tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreifen“, der Vorstand unabhängig von der Kompetenzverteilung nicht ohne Beteiligung der Hauptversammlung treffen darf.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

sichtigendes Eigeninteresse der AG angenommen, welches einer Einwilligung entgegenstehe. Dieses Eigeninteresse setze sich aus Interessen der Aktionäre, der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit zusammen, stelle aber nicht bloß die Summe dieser Einzelinteressen dar, sondern sei ein übergeordnetes Moment.81) Danach wäre bei der AG generell keine Einwilligung in die Pflichtverletzung und damit in die Untreue möglich. Eine vermittelnde Ansicht vertritt die These, dass die Aktionäre den GmbH- 31 Gesellschaftern insoweit gleichzustellen seien, als die Hauptversammlung ein eigenes Entscheidungsrecht habe (Verwendung des Bilanzgewinns, § 174 Abs. 1 AktG; Entscheidungen nach Vorlage durch den Vorstand, § 119 Abs. 2 AktG), so dass sie in diesen Bereichen auch ihre Einwilligung in untreuerelevante Pflichtverletzungen erklären könnten.82) Ihre Grenze finde die Einwilligung dort, wo das Grundkapital der AG oder die gesetzlichen Rücklagen angegriffen werden83) bzw. dort, wo das Aktienrecht ausdrücklich eine Mitwirkungsbefugnis der Aktionäre vorsieht.84) Der BGH hat sich zu dieser Fragestellung bislang eher am Rande geäußert. Im 32 Fall „Mannesmann“ (Æ Rz. 99 ff.) erklärte er, dass ein Einverständnis bzw. eine Einwilligung des Alleinaktionärs oder der Hauptversammlung die Strafbarkeit des Handelnden entfallen ließe. Damit diese Einwilligung wirksam wäre, müsse jedoch ein entsprechender Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns vorliegen und die Einwilligung dürfe nicht gegen Rechtsvorschriften verstoßen.85) Die Berücksichtigung bzw. Existenz eines gesellschaftlichen Eigeninteresses erwähnt der BGH indessen nicht. Offen gelassen hat der BGH die Frage der Einwilligung im Fall „Trienekens“86). 33 Der BGH führte aus, dass soweit im neueren Schrifttum angezweifelt worden sei, „ob den Anteilseignern einer Aktiengesellschaft in Übereinstimmung mit dem (‚Mannesmann‘-Urteil) des 3. Strafsenats […]87) überhaupt eine Kompetenz zu einer tatbestandsausschließenden Einwilligung in gesellschaftsschädigende Vermögensverfügungen des Vorstands in gleicher Weise zukommt wie den Gesellschaftern einer GmbH“, so könne dies insofern dahinstehen, als in dem hier zu entscheidenden Fall Hauptversammlung und Aufsichtsrat der Treugeberin keine Kenntnis von den in Rede stehenden Vermögensverschiebungen des Vorstandsvorsitzenden

___________ 81) 82) 83) 84) 85) 86) 87)

Rönnau, in: Festschrift Amelung, S. 247 (257, 261 f.). Brand, AG 2007, 681 (684 ff.). Brand, AG 2007, 681 (684 ff.). Vgl. Trüg/Zeyher, NZWiSt 2021, 169 (172 ff.). BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (525). BGH, Urt. v. 27.8.2010 – 2 StR 111/09, NJW 2010, 3458. BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

gehabt hätten. Der BGH implizierte indes, dass jedenfalls grundsätzlich auch ein Einverständnis eines Mehrheitsaktionärs in Betracht komme.88) 3.

Eigene Stellungnahme

34 Mit dem 3. Strafsenat des BGH ist davon auszugehen, dass die Aktionäre wirksam in Untreuehandlungen des Vorstands oder des Aufsichtsrats einwilligen können. Hintergrund ist, dass – wie der 2. Zivilsenat des BGH in anderem Zusammenhang ausführte – das „Vermögen der Gesellschaft […] wirtschaftlich […] den Aktionären (zusteht), so dass diese berufen sind“89) einer Vermögensschädigung zuzustimmen. 35 Praxishinweis: Im Zweifel sollte der Vorstand bei kritischen Entscheidungen die Zustimmung der Hauptversammlung einholen. VI.

Vermögensnachteil

36 Sowohl der Missbrauchs- als auch der Treubruchtatbestand erfordern gleichermaßen den Eintritt eines Vermögensnachteils für den Geschäftsherrn. Folglich muss der Täter zunächst eine Pflicht verletzen, durch die dann ein Vermögensnachteil eintritt. Dieser Nachteil muss gerade durch die Pflichtverletzung (zurechenbar) verursacht worden sein. 37 Der Begriff des Vermögensnachteils entspricht demjenigen des Vermögensschadens im Rahmen anderer Vermögensdelikte, so z. B. beim Betrug i. S. d. § 263 StGB.90) Anders als beim Betrug bedarf es bei § 266 StGB (auf subjektiver Ebene, Æ Rz. 43 ff.) keiner Bereicherungsabsicht beim vermögensbetreuungspflichtigen Täter. Für eine Strafbarkeit ist es ausreichend, dass der Vermögensinhaber einen Nachteil erleidet, ohne dass es darauf ankommt, ob sich der Treupflichtige besserstellen möchte oder nicht. 38 Nach h. M. liegt ein Nachteil bzw. ein Schaden dann vor, wenn es im Rahmen einer Gesamtsaldierung zu einer Vermögensminderung aufseiten des Treugebers kommt, die nicht durch einen Zuwachs ausgeglichen wird.91) Dies bedeutet, dass ein Vermögensnachteil vorliegt, wenn es zu einer nicht kompensierten Vermögensminderung kommt.92) Eine Besonderheit im Rahmen der Untreue besteht darin, dass der genannte Vermögensschaden ausschließlich am zu betreu___________ 88) BGH, Urt. v. 27.8.2010 – 2 StR 111/09, NJW 2010, 3458 (3461). 89) BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058 (1060). 90) BGH, Urt. v. 10.7.1952 – 5 StR 358/52, NJW 1952, 1062 (1063); Urt. v. 16.12.1960 – 4 StR 401/60, NJW 1961, 685; A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 24 ff.; NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 94. 91) Statt vieler BGH, Urt. v. 10.7.1952 – 5 StR 358/52, NJW 1952, 1062 (1063); Beschl. v. 18.7.1961 – 1 StR 606/60, NJW 1961, 1876; Urt. v. 22.10.1986 – 3 StR 226/86, NJW 1987, 388. 92) Vertiefend ERST-WStR/Saliger § 266 StGB Rz. 70 ff.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

enden Vermögen relevant wird, d. h. es ist erforderlich, dass das geschädigte Vermögen auch dasjenige ist, auf das sich die Fürsorgepflicht bezieht.93) Damit einhergehend muss das geschädigte Vermögen auch täterfremdes sein; 39 Vermögensträger und Täter dürfen nicht identisch sein.94) Da den Täter unter Umständen auch eine Pflicht zur Vermögensmehrung trifft, kann ggf. auch in der Unterlassung einer solchen ein Vermögensschaden gesehen werden.95) Die beschriebene Kongruenz zu § 263 StGB führt dazu, dass zahlreiche Zwei- 40 felsfragen – sowohl hinsichtlich des „Vermögens-“ als auch des „Schadensbegriffs“ – in den Untreuetatbestand „einbrechen“.96) Von zentraler Bedeutung ist dabei die Kategorie der „schadensgleichen Vermögensgefährdung“, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Schadensdogmatik etabliert hat.97) Ausreichend für die Annahme eines Vermögensnachteils ist demnach bereits, dass „das Vermögen des Opfers durch die Tathandlung konkret gefährdet wird.“98) Nach ständiger Rechtsprechung ist es dabei maßgebend (aber auch ausreichend), dass „die Gefährdung nach wirtschaftlicher Betrachtung bereits eine Verschlechterung der gegenwärtigen Vermögenslage bedeutet.“99) Ein solcher „Schwebezustand“100) findet sich typischerweise bei der Ausreichung nicht (hinreichend) gesicherter Kredite101) oder etwa im Bereich sog. „Risikogeschäfte“ durch Banken.102) Für die Feststellung des Gefährdungsschadens können dabei bilanzrechtliche Wertungen als Orientierung herangezogen werden.103) Das BVerfG hat die Kategorie des Gefährdungsschadens grundsätzlich akzep- 41 tiert.104) Um § 266 StGB jedoch nicht in Uferlosigkeit aufgehen zu lassen, hat es für den Vermögensnachteil das Erfordernis einer konkreten Feststellung und Bezifferung der Vermögenseinbuße aufgestellt (sog. „Feststellungs- und Be___________ 93) 94) 95) 96) 97) 98) 99)

100) 101) 102) 103) 104)

MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 201. BGH, Urt. v. 24.7.1991 – 4 StR 258/91, wistra 1992, 24 (25); Fischer, StGB, § 266 Rz. 113. Fischer, StGB, § 266 Rz. 116. Beukelmann, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 18 Rz. 98. Fischer, StGB, § 266 Rz. 150 ff.; vgl. auch BGH, Beschl. v. 26.6.2019 – 1 StR 551/18, BeckRS 2019, 25990. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3218). BGH, Beschl. v. 2.4.2008 – 5 StR 345/07, NJW 2008, 1827 (1829) m. Verw. auf BGHSt 44, 376 (384); 48, 354 (357); vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3218) m. w. N.; BGH, Beschl. v. 20.9.2016 – 2 StR 497/15, NStZ 2017, 30. Kempf, in: Fischer et al., Dogmatik und Praxis des strafrechtlichen Vermögensschadens, S. 325. BGH, Urt. v 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211; Urt. v. 6.4.2000 – 1 StR 280/99, NJW 2000, 2364; Fischer, StGB, § 266 Rz. 154 m. w. N. Fischer, StGB, § 266 Rz. 158, 63 ff. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3219); grundlegend MünchKommStGB/Hefendehl, § 263 Rz. 31. BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3218 ff.).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

zifferungsgebot“).105) Sollte also selbst ein ggf. zu beauftragender Sachverständiger die geforderte Quantifizierung nicht vornehmen können und auch eine Schätzung unter Beachtung des Zweifelssatzes in dubio pro reo nicht möglich sein, ist eine Strafbarkeit abzulehnen.106) 42 Ferner hat das BVerfG in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass das Erfordernis des Vermögensnachteils strikt von dem der Pflichtverletzung zu trennen und eigenständig zu beurteilen ist (sog. „Verschleifungsverbot“).107) Damit verbietet es sich auch umgekehrt, vom Eintritt eines Vermögensnachteils ohne Weiteres Rückschlüsse auf das Vorliegen einer Verletzung der im Einzelfall konkretisierten Vermögensbetreuungspflicht zu ziehen.108) VII. Vorsatz 43 In subjektiver Hinsicht setzt § 266 StGB vorsätzliches Handeln des Täters voraus (§ 15 StGB).109) Erforderlich ist damit das Wissen (kognitives Element) und Wollen (voluntatives Element) sämtlicher objektiver Tatbestandsmerkmale.110) Der Täter muss dementsprechend (im Sinne bedingten Vorsatzes, sog. „dolus eventualis“) zumindest billigend in Kauf nehmen, dass ihm fremdes Vermögen anvertraut ist, dass er seinen Pflichten zuwiderhandelt und dass dies zu einem Vermögensnachteil des Treugebers führt.111) Eine weitergehende Absicht zur persönlichen Bereicherung oder der eines Dritten wird demgegenüber nicht vorausgesetzt.112) 44 Besonders strenge Anforderungen an den Nachweis des Vorsatzes sind zu stellen, wenn der Täter nur mit dolus eventualis handelt und zugleich nur ein Gefährdungsschaden eingetreten ist.113) Der BGH hat im sog. „Kanther/ Weyrauch“-Urteil114) entschieden, dass der Annahme, „das Inkaufnehmen der Voraussetzungen einer konkreten Gefährdung (erfülle) auch dann das voluntative Element des Untreuevorsatzes, wenn der Täter die – als möglich erkannte – endgültige Realisierung der Gefahr vermeiden will und gerade nicht billigt“, nicht in ___________ 105) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3215); BGH, Urt. v. 21.2.2017 – 1 StR 296/16, NStZ 2018, 218 (221); Beschl. v. 19.9.2018 – 1 StR 194/18, NJW 2019, 378 (380); Beschl. v. 24.9.2019 – 5 StR 394/19, NStZ-RR 2020, 20 (21). 106) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3215). 107) BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2259/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3216). 108) Feigen, in: Festschrift Rudolphi, S. 445 (447); Fischer, StGB, § 266 Rz. 64; Otto, JR 2000, 517; vgl. zur Trennung von Pflichtenverstoß und Untreueschaden auch BGH, Beschl. v. 14.5.2020 – 1 StR 2020, BeckRS 2020, 13656. 109) Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 266 Rz. 19. 110) Vgl. ERST-WStR/Eidam, § 15 StGB Rz. 7. 111) Vgl. A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 85. 112) NK-WSS/Jahn/Ziemann, § 266 Rz. 117. 113) Vertiefend SSW-StGB/Saliger, § 266 Rz. 127. 114) BGH, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05, NJW 2007, 1760 (1766).

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A. Untreue (§ 266 StGB)

dieser Allgemeinheit gefolgt werden könne. Grund dafür sei, dass diese Annahme „zu einer Ausweitung des ohnehin schon äußerst weiten Tatbestands der Untreue in Richtung auf ein bloßes Gefährdungsdelikt“ führe.115) Deshalb ist der Tatbestand der Untreue in Fällen einer Vermögensgefährdung im subjektiven Bereich dahingehend zu begrenzen, „dass der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolgs abfindet.“116) Vorsatz liegt aber auch dann vor, wenn der Täter ein extrem hohes „nicht ab- 45 schätzbares“ und „unbeherrschtes Risiko“ eingeht,117) so dass die letztliche Ablehnung der Schadensrealisierung durch den Täter nur noch als vage Hoffnung einzuordnen ist.118) VIII. Einzelfälle 1.

Risikogeschäfte

Bei sog. Risikogeschäften handelt es sich um Geschäfte, die das Risiko eines 46 Vermögensverlustes in sich tragen.119) Hier stellt sich stets die Frage, ob sich der Vorstand strafbar macht, wenn er ein geschäftliches Risiko eingeht, für welches – verwirklichte es sich – die Gesellschaft haftet. Risikogeschäfte sind dadurch gekennzeichnet, dass eine erhebliche Unsicherheit besteht, ob das Geschäft einen Gewinn oder Verlust mit sich bringt.120) Beispiele für Risikogeschäfte sind etwa Investitionen in Werbung, Produktionsstätten oder neue Technologien, Investmententscheidungen,121) die Vergabe von Krediten (Æ Rz. 54 ff.), oder M&ATransaktionen.122) Es stellt sich stets die Frage, ob in der Eingehung eines solchen Risikos eine für § 266 StGB relevante Pflichtverletzung erblickt werden kann. Wirtschaftliches Handeln ist freilich nie gänzlich risikofrei; bestimmte Ver- 47 lustgefahren wohnen jedem Geschäft inne. Risikogeschäfte sind also nicht un___________ 115) 116) 117) 118) 119) 120) 121) 122)

BGH, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05, NJW 2007, 1760 (1766). BGH, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05, NJW 2007, 1760 (1766). BGH, Urt. v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NStZ 2002, 262. BGH, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05, NJW 2007, 1760 (1766); BeckOK-StGB/Wittig, § 266 Rz. 59. Hellmann nennt in diesem Bereich als Fallgruppen Vorleistungs- und Spekulationsgeschäfte sowie Sanktions- und Investitionsfälle, Hellmann, ZIS 2007, 433 f. MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 228; Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 266 Rz. 20; BeckOK-StGB/Wittig § 266 Rz. 22. Wackernagel, Investmentuntreue, 2019. Reichling/Corsten/Borgel, BB 2021, 1545, 1549.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

üblich, sondern sozialadäquat.123) Insofern kann von der schlichten Existenz bzw. dem Abschluss eines Risikogeschäfts als solchem nicht per se auf eine untreuerelevante Pflichtverletzung geschlossen werden.124) Es ist vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Risiken (noch) von den Befugnissen des Vorstands gedeckt sind und welche Risiken (schon) als unzulässig und pflichtwidrig anzusehen sind. Entscheidender Maßstab für die Zulässigkeit und Unzulässigkeit bestimmter Risiken und Risikogeschäfte sind dabei grundsätzlich die Vorgaben des Vermögensinhabers (sog. Risikopolitik)125). Riskantes Handeln ist hiernach in der Regel dann pflichtwidrig, wenn die „risikopolitischen Begrenzungen des Vermögensinhabers“126) überschritten werden.127) 48 Mit Blick auf die Risikopolitik einer AG ist allgemein anerkannt, dass hier zumeist auf die Sorgfalt eines gewissenhaften Kaufmannes (respektive die Sorgfalt eines gewissenhaften Geschäftsleiters) abzustellen ist,128) die häufig auch als die im Verkehr erforderliche Sorgfalt bezeichnet wird.129) Hält sich das Risiko eines Geschäftes also noch in dem für ein vernünftiges geschäftliches Vorgehen abgesteckten Rahmen, so handelt der Vorstand nicht pflichtwidrig.130) Eine Ausnahme gilt, wenn für die Gesellschaft – etwa in der Satzung – ausdrücklich eine vorsichtigere Risikopolitik vorgegeben ist.131) 49 Zur Zulässigkeit geschäftlicher Entscheidungen hat der 2. Zivilsenat des BGH in der sog. „ARAG/Garmenbeck“-Entscheidung klargestellt, dass dem Vorstand einer AG ein weiter Handlungsspielraum verbleiben muss, innerhalb dessen er eigenständige Entscheidungen hinsichtlich der Vornahme eines bestimmten Geschäftes treffen kann.132) Die Grenze dieses Spielraumes gilt aber dann als überschritten, wenn das fragliche Geschäft klar und evident wirtschaftlich nicht mehr

___________ 123) NK-StGB/Kindhäuser, § 266 Rz. 73. 124) BGH, Beschl. v. 11.6.1985 – 5 StR 275/85, wistra 1985, 190 (191); Urt. v. 4.2.2004 – 2 StR 388/03, StV 2004, 424; Hellmann, ZIS 2007, 433 (435); Rose, wistra 2005, 281 (283). 125) Hillenkamp, NStZ 1981, 161 (166). 126) Hillenkamp, NStZ 1981, 161 (166). 127) Speziell zur Untreue bei Investmentgeschäften Wackernagel, Investmentuntreue, 2019, S. 167 ff., 241 ff. 128) BGH, Urt. v. 12.6.1990 – 5 StR 268/89, NStZ 1990, 437 f.; Urt. v. 4.2.2004 – 2 StR 355/03, StV 2004, 424 f.; Bringewat, JZ 1977, 667 f.; Lackner/Kühl, StGB, § 266 Rz. 7; Rose, wistra 2004, 281 (286 f.); zur Untreuerelevanz riskanter Entscheidungen in der Wirtschaft vgl. Thomas, in: Festschrift Riess, S. 800 ff. 129) Bringewat, JZ 1977, 667 (670); Waßmer weist darauf hin, dass dieser Maßstab auch bei Spekulationsgeschäften i. S. d. § 283 Abs. 1 Nr. 2 StGB angewendet wird, Waßmer, S. 59 Fn. 396. 130) OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.2.2006 – 3 Ws 199/04, NJW 2006, 1682. 131) Hillenkamp, NStZ 1981, 161 (166). 132) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 (1927).

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Corsten/Wackernagel

A. Untreue (§ 266 StGB)

vertretbar ist.133) So wird berücksichtigt, dass unternehmerischen Entscheidungen stets Prognosecharakter zukommt, so dass Fehlbeurteilungen erst im Nachhinein erkennbar sind134) (zur Bestimmung und Überschreitung des Handlungsspielraums ausführlich Æ § 2 Rz. 25 ff.). Um diese Ausführungen konkreter zu formulieren, wird vielfach auf eine Formel 50 des BGH zurückgegriffen, wonach die Grenze des jeweiligen Ermessens derjenige überschreite, der „nach Art eines Spielers bewusst und entgegen den Regeln kaufmännischer Sorgfalt eine […] äußerst gesteigerte Verlustgefahr auf sich nimmt, nur um eine höchst zweifelhafte Gewinnaussicht zu erhalten“.135) Die Spielerformel wird kaum globale Geltung für jede Art von Risikogeschäft haben,136) ist aber geeignet, die regelmäßig geltenden generellen Sorgfaltsanforderungen eines gewissenhaften Geschäftsleiters zu beschreiben. Unstreitig ist eine Grenze der Vertretbarkeit dort zu ziehen, wo das Risiko des 51 entsprechenden Geschäfts die Existenz der Gesellschaft gefährdet (vgl. zur Existenzgefährdung im Konzern Æ Rz. 115 f.).137) Für Kreditinstitute sind zudem die Grenzen zu berücksichtigen, die sich aus den aufsichtsrechtlichen Regelungen zur Liquiditätssicherung (§ 11 KWG; Art. 411 bis 428 Kapitaladäquanzverordnung) und zur Eigenmittelunterlegung (§ 10 KWG; Art. 92 Abs. 1 Kapitaladäquanzverordnung) ergeben.138) Eine unvertretbare Maßnahme liegt auch dann vor, wenn es sich um Geschäfte 52 handelt, deren Risiken der Vorstand gar nicht abschätzen kann. Auch in einem solchen Fall ist das geschäftliche Agieren unvernünftig und nicht gewissenhaft, somit also pflichtwidrig. Allerdings darf dabei keineswegs aus dem Fehlschlag eines Geschäfts (und dem Eintritt eines Schadens) auf die Pflichtverletzung geschlossen werden, da dies zum einen gegen das Verschleifungsverbot (vgl. dazu im Einzelnen Æ Rz. 42) zwischen Schaden und Pflichtverletzung139) verstieße und zum anderen auch bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt ein Schaden eintreten kann. ___________ 133) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 173 f., 232; Fischer, StGB, § 266 Rz. 67; Kohlmann, JA 1980, 228 (231); Schönke/Schröder/Lenckner/Perron, StGB, § 266 Rz. 20; Waßmer, S. 72 f.; Perron sieht den genannten Ermessenspielraum erst dann als verletzt an, wenn das konkrete Verhalten schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar oder völlig unvertretbar ist, Perron, GA 2009, 219 (226 f.). 134) Otto, in: Festschrift Tiedemann, S. 693 (694 f.). 135) BGH, Urt. v. 12.6.1990 – 5 StR 268/89, NJW 1990, 3219 (3220). 136) Vgl. Hillenkamp, NStZ 1981, 161 (164). 137) Lackner/Kühl/Heger, StGB, § 266 Rz. 20a. 138) Fischer, StGB, § 266 Rz. 67a; Wackernagel, Investmentuntreue, 2019, S. 182 ff., 191 ff., 202 ff. 139) BVerfG, Urt. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08 u. a., NJW 2010, 3209 (3211, 3215); Fischer, StGB, § 266 Rz. 64.

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1287

§ 21 Relevante Straftatbestände

53 Praxishinweis: Die Vorgaben und Regelungen des AktG sind dezidiert zu berücksichtigen; ein grober Verstoß gegen das AktG kann Indiz für die Überschreitung des Ermessens und damit für eine Pflichtverletzung sein.140) Um der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, und zwar nicht nur bei Risikogeschäften, zu genügen, sollte der Vorstand bei riskanten Geschäften folgende Aspekte berücksichtigen: –

Schaffung einer ausreichenden Informationsgrundlage, insbesondere Anhören der jeweiligen Fachabteilungen;



schriftliche Dokumentation der dem jeweiligen Geschäft zugrundeliegenden Überlegungen;



schriftliche Dokumentation der Risikolage und der sich aus dem Geschäft ergebenden Chancen;



Beachtung interner Vorgaben (aus Satzung oder dem KWG bei Kreditgeschäften);



ggf. Einbindung externer Experten (z. B. Rechtsanwälte, Steuerberater);



Information des Aufsichtsrats, gegebenenfalls Einholung von dessen Zustimmung.

2.

Kreditvergaben

54 Klassisches Beispiel eines Risikogeschäfts ist die Kreditvergabe im Bereich von Banken. Deren Risiko liegt in der Zurückzahlung des ausgereichten Kredits durch den Kreditnehmer. 55 Der BGH hat in einer Grundsatzentscheidung141) zu Kreditvergaben entschieden, dass die jeweiligen Entscheidungsträger insbesondere zu einer umfassenden Risikoprüfung verpflichtet sind. Dabei haben sie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kreditnehmers, die beabsichtigte Verwendung des Kredits und die Aussichten des Engagements eingehend zu prüfen, um die Risiken auf der Basis umfassender Informationen gegen die Chancen abwägen zu können. 56 Im Weiteren hat der BGH sogar Anhaltspunkte dafür benannt, dass die Risikoprüfung nicht ausreichend vorgenommen wurde. Dies ist der Fall, wenn 

die Informationspflichten vernachlässigt wurden,



die Entscheidungsträger nicht die erforderliche Befugnis besaßen,



im Zusammenhang mit der Kreditgewährung unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber Mitverantwortlichen oder zur Aufsicht befugten oder berechtigten Personen gemacht wurden,



die vorgegebenen Zwecke nicht eingehalten wurden,

___________ 140) So auch Fischer, StGB, § 266 Rz. 68. 141) BGH, Urt. v. 6.4.2000 – 1 StR 280/99, NJW 2000, 2364 (2365).

1288

Corsten/Wackernagel

A. Untreue (§ 266 StGB)



die Höchstkreditgrenzen überschritten wurden oder



die Entscheidungsträger eigennützig handelten.

Demnach sind in der Praxis als typische Pflichtverletzungen zu beobachten:142) 

Missachtung von gesetzlichen oder bankinternen Kreditobergrenzen,



Missachtung von Kompetenzbegrenzungen,



unterlassene oder mangelhafte Bonitätsprüfung143),



fehlende oder unzureichende Besicherung144),



Eingehen von „Klumpenrisiken“145),



Vergabe zu riskanter Sanierungskredite,



unterlassene oder mangelhafte Überwachung laufender Kredite.

57

Einen Sonderfall stellen Sanierungskredite dar, bei denen der kreditgebenden 58 Bank die Krise bzw. Sanierungsbedürftigkeit des Kreditnehmers bekannt ist. Hier ist anerkannt, dass die einzelnen Kreditgewährungen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden müssen.146) Selbst hochriskante Folgekredite können noch pflichtgemäß sein, wenn sie Teil eines wirtschaftlich vernünftigen Gesamtplans sind, der auf einen einheitlichen Erfolg angelegt ist und bei dem erst nach einem Durchgangsstadium, nämlich der Sanierung, ein Erfolg erzielt wird.147) Ein Vermögensnachteil tritt bei einer pflichtwidrigen Kreditvergabe in jedem 59 Fall dann ein, wenn bereits bei Ausreichung des Kredits sicher ist, dass der Kredit nicht bedient werden wird.148) Überdies kann bereits mit der Auszahlung eines nicht oder nicht ausreichend gesicherten Kredits ein Vermögensnachteil in der Form eines Gefährdungsschadens (im Einzelnen Æ Rz. 40 f.) eintreten.149) ___________ 142) A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 282; Graf/ Jäger/Wittig/Waßmer, § 266 Rz. 121. 143) BGH, Urt. v. 27.1.2021 – 3 StR 628/19, NZG 2021, 748. 144) Vgl. dazu im Einzelnen Bittmann, NStZ 2011, 361 (365); Fischer, § 266 Rz. 71; Gallandi, wistra 2001, 281 (282 ff.); Lutter, ZIP 2009, 197 (199); Schäfer/Zeller, BB 2009, 1706 (1709); Spindler, NZG 2010, 281 (284). 145) Vgl. dazu im Einzelnen Bittmann, NStZ 2011, 361 (365); Fischer, § 266 Rz. 71; Lutter, ZIP 2009, 197 (199); Schäfer/Zeller, BB 2009, 1706 (1709); Spindler, NZG 2010, 281 (284); Gallandi, wistra 2001, 281 (282 ff.). 146) BGH, Urt. v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211 (1215). 147) BGH, Urt. v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211 (1215); KG, Urt. v. 22.3.2005 – 14 U 128/03, ZIP 2005, 1866. 148) Hohn, wistra 2006, 161 (162). 149) BGH, Urt. v. 6.2.1979 – 1 StR 685/78, NJW 1979, 1512; Beschl. v. 11.6.1985 – 5 StR 275/85, wistra 1985, 190; Beschl. v. 11.6.1991 – 1 StR 267/91, wistra 1992, 26; Beschl. v. 24.8.1999 – 1 StR 232/99, wistra 2000, 60; Urt. v. 6.4.2000 – 1 StR 280/99, NJW 2000, 2364; Urt. v. 13.2.2001 – 1 StR 448/00, wistra 2001, 218; Urt. v. 15.11.2001 – 1 StR 185/01, NJW 2002, 1211; Beschl. v. 17.7.2007 – 3 StR 207/07, wistra 2007, 422; Beschl. v. 4.2.2009 – 5 StR 260/08, wistra 2009, 189; Urt. v. 13.8.2009 – 3 StR 576/08, wistra 2010, 21.

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1289

§ 21 Relevante Straftatbestände

3.

Sponsoring

60 Eine weitere relevante Fallgruppe ist diejenige des Sponsoring.150) Darunter sind Zuwendungen zu verstehen, die durch Unternehmen an sportliche, kirchliche oder kulturelle Einrichtungen zu deren Förderung geleistet werden.151) Dies kann einerseits zu dem Zweck erfolgen, sich einen guten Namen zu machen,152) anderseits kann dies aber auch aus rein altruistischen Erwägungen geschehen.153) Solche Zuwendungen sind nicht per se unzulässig und strafbar. Dennoch können sie, unabhängig von einer möglichen Erfüllung des § 299 StGB, eine für die Untreue relevante Handlung sein. Weil Sponsoring unentgeltlich erfolgt oder einen nur schwer messbaren Gegenwert hat (etwa in Gestalt von Rufverbesserungen etc.), wird bisweilen schnell der Vorwurf erhoben, dass Unternehmensgelder verschleudert werden. 61 Grundsätzlich steht dem Vorstand einer AG gemäß § 76 Abs. 1 AktG ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Ausübung der Geschäftsführung zu, welcher an sich auch die Vergabe von Fördergeldern umfasst. Der Ermessensspielraum ist grundsätzlich weit zu bestimmen, da ansonsten unternehmerisches Handeln nicht möglich ist;154) begrenzt ist er nur durch den Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 AktG) (Æ § 1 Rz. 253 f.).155) 62 Der 1. Strafsenat des BGH bejaht im Zusammenhang mit Sponsoring dann den Tatbestand der Untreue, wenn eine gravierende Pflichtverletzung (Æ Rz. 22 ff.) gegeben ist. Dazu, wann eine solche zu bejahen ist, hat der Senat in seiner sog. „SSV Reutlingen“-Entscheidung detaillierte Regelungen aufgestellt.156) Danach obliegt die Abgrenzung, inwieweit im Einzelfall (zulässigerweise) Unternehmensinteressen verfolgt oder ob mit dem Geld der Gesellschaft (unzulässigerweise) ausschließlich Privatbelange gefördert werden, grundsätzlich der Beurteilung des Vorstands. Indes gilt, so der BGH: „Je loser die Verbindung zwischen dem Geförderten und dem Unternehmensgegenstand, desto enger ist der Handlungsspielraum des Vorstands und desto größer sind die Anforderungen an die interne Publizität. Bei unentgeltlichen, nicht erkennbar mit dem Unternehmensgegenstand zusammenhängenden Zuwendungen an Dritte muss sich der Vorstand an dem mög___________ 150) Höltkemeier, S. 36 f. 151) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 268; Satzger, ZStW 2003, 469 (470 f.). 152) Der BGH spricht von dem Ziel, sich als good corporate citizen darzustellen, BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322 (323); Kind nennt es das „soziale Prestige“ einer Gesellschaft, Kind, NZG 2000, 567 (568). 153) Park/Zieschang, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 266 Rz. 78. 154) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/97, NJW 1997, 1926 (1927); Urt. v. 22.11.2005 – 1 StR 571/04, NJW 2006, 453 (454 f.); Henze, NJW 1998, 3309 (3310). 155) Zu Strafbarkeitsrisiken für Aufsichtsräte in diesem Zusammenhang vgl. Wilke, NZWiSt 2020, 1. 156) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322.

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Corsten/Wackernagel

A. Untreue (§ 266 StGB)

lichen Nutzen orientieren, den ein solches Verhalten der sozialen Akzeptanz – dem ‚Standing‘ – des Unternehmens in der allgemeinen oder auch nur in der interessierten Öffentlichkeit sowie dem Ansehen der Unternehmensleitung bei der Belegschaft und dergleichen bringt.“157) Dem BGH zufolge liegt eine untreuerelevante Pflichtverletzung jedenfalls dann 63 vor, wenn 

die Leistung keine Nähe zum Gegenstand des Unternehmens aufweist,



diese im Hinblick auf die Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft unangemessen ist,



es hinsichtlich der Leistung innerhalb der Gesellschaft an Transparenz und Publizität fehlt und



die Leistung von sachwidrigen, so z. B. rein persönlichen Motiven getragen wird.158)

Liegen sämtliche dieser Voraussetzungen kumulativ vor, so soll derjenige, der die Zahlung veranlasst, pflichtwidrig i. S. d. § 266 StGB handeln, wenn nicht das Handeln ausdrücklich durch seine Befugnisse gedeckt ist. Praxishinweis 1: Für den Vorstand bedeutet dies, dass ihm zwar auch im Bereich 64 des Sponsoring grundsätzlich ein weiter Handlungsspielraum zusteht, indes hat er die Grundsätze (Æ Rz. 62), die der BGH in der Entscheidung „SSV Reutlingen“ aufgestellt hat, zu beachten. Entscheidend ist auch hier, dass die unternehmerische Entscheidung und die ihr zugrundeliegenden Überlegungen und Ziele schriftlich dokumentiert werden und je nach Größenordnung der Aufsichtsrat mit in die Entscheidung eingebunden wird. Praxishinweis 2: Insbesondere bei Maßnahmen, bei denen der Bezug zum Unter- 65 nehmensgegenstand nicht auf der Hand liegt, oder bei Maßnahmen, hinsichtlich derer der Entscheidungsträger auch persönliche Motive hat (z. B. Sponsoring eines Vereins, bei dem der Vorstand zugleich Mitglied ist), ist die Gewährleistung innerbetrieblicher Transparenz von enormer Wichtigkeit. Gerade in diesen Fällen ist die Einbindung der Fachabteilung, der Vorstandskollegen und gegebenenfalls des Aufsichtsrats zu veranlassen und eindeutig zu dokumentieren – und zwar auch dann, wenn der jeweilige Entscheidungsträger nach der internen Kompetenzordnung eigentlich allein entscheiden könnte. Aus der Dokumentation sollte sich erschließen, ___________ 157) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322 (323). 158) BGH, Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322 (323 ff.); dennoch kritisiert Otto, dass der BGH im Ergebnis das Merkmal „gravierend“ inhaltlich nicht ausfüllt, geschweige denn genau bestimmt, wann eine Verletzung erheblich und wann unerheblich sei. Aufgrund dessen führt Otto aus, es gehe hier wohl darum, unternehmerische Entscheidungen dann als pflichtwidrig einzuordnen, wenn sie „evident sachwidrig“ sind, so dass sie „nach einheitlichem Konsens der einschlägigen Fachleute als unvertretbar, d. h. als schlicht willkürlich erscheinen“, Otto, in: Festschrift Kohlmann, S. 187 (201 ff.); zuletzt bestätigt durch BGH, Urt. v. 18.5.2021 – 1 StR 144/20, BeckRS 2021, 12231.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

dass die jeweiligen Instanzen klar und umfassend informiert wurden und die Maßnahme mitgetragen haben. 4.

Schmiergeldzahlungen

66 Einen weiteren Problemkreis des § 266 StGB bilden sog. Schmiergeldzahlungen. Schmiergelder werden gezahlt, um Entscheidungsträger zu beeinflussen und so eine für den Zahlenden günstige Entscheidung zu erzielen; es handelt sich also um Bestechungszahlungen. Solche Zahlungen fallen i. d. R. unter § 299 StGB (Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr), bisweilen auch in den Anwendungsbereich von §§ 333, 334 StGB (Vorteilsgewährung und Bestechung). Umstritten ist indes, ob die Zahlung von Bestechungsgeldern durch den Vorstand zugleich auch eine Untreue zum Nachteil der AG bedeuten kann. a)

Bestechung

67 Ursprünglich verneinte der BGH die Pflichtwidrigkeit von Bestechungszahlungen, wenn der Handelnde das Geld nicht willkürlich verschob, sondern stets das wirtschaftliche Wohl der Gesellschaft im Blick hatte.159) 68 Im Fall „Siemens“ hatte sich der BGH erneut mit dieser Fragestellung zu befassen. Das LG Darmstadt als Vorinstanz hatte unabhängig davon, ob der Handelnde das Wohl des Unternehmens im Blick hatte, in der Zahlung von Bestechungsgeldern eine Pflichtverletzung i. S. d. Untreue gesehen, weil der Handelnde dem Unternehmen durch die Zahlungen Vermögenswerte entzog.160) Demgegenüber setzte der BGH früher an: Er wertete bereits das Anlegen „schwarzer Kassen“ (Æ Rz. 82 ff.), deren Gelder für Bestechungszwecke eingesetzt werden sollten, als Pflichtverletzung, weil es der Verpflichtete unterlassen habe, den Vermögensinhaber über die Existenz der Gelder zu informieren, letztlich wertet also auch der BGH das Entziehen/Vorenthalten dieser Vermögenswerte als Pflichtverletzung.161) 69 Damit zeigt sich, dass der BGH nicht auf die Bestechungshandlung als solche abstellt, sondern das Entziehen von Vermögenswerten, die im nächsten Schritt für Bestechungszahlungen eingesetzt werden, als Untreue wertet. Dies ist insofern richtig, als dass das Zahlen von Bestechungsgeldern an sich grundsätzlich keine Pflichtverletzung im Sinne der Untreue darstellt. Freilich ist dies anders zu bewerten, wenn der Handelnde dabei ausdrückliche Anweisungen im Innenverhältnis verletzt, z. B. gegen interne Compliance-Vorschriften der AG ver___________ 159) BGH, Urt. v. 1.8.1984 – 2 StR 220/84, wistra 1984, 226. 160) LG Darmstadt, Urt. v. 14.5.2007 – 712 Js 5213/04 – 9 KLs, Rz. 148 ff.; vgl. hierzu die Besprechung von Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57. 161) BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89 (91 f.); der BGH nahm insoweit gar eine Pflichtverletzung durch Unterlassen an; krit. Corsten, S. 126 ff.

1292

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A. Untreue (§ 266 StGB)

stößt.162) Grundsätzlich können derartige Regelungen entsprechende Pflichten bestimmen, deren Verletzung zu einer Untreue führt. Voraussetzung ist aber, dass diese gerade dem Vermögensschutz der AG dienen. Fehlt es an solch konkretisierten Pflichten, so bleiben für die Anknüpfung einer untreuerelevanten Pflichtverletzung lediglich die Normen des Korruptionsstrafrechts. Da § 266 StGB aber allein Pflichtverletzungen hinsichtlich des Vermögens unter Strafe stellt, kann eine Verletzung dieser Strafnormen nicht zusätzlich als Pflichtverletzung i. S. d. § 266 StGB gewertet werden.163) b)

Sonderfall: Bestechung des Betriebsrats

In den Entscheidungen „VW/Gebauer“164) und „Siemens/AUB“165) hatte sich 70 der BGH mit dem Sonderfall von Schmiergeldzahlungen an Betriebsräte zu befassen. Im Fall „VW/Gebauer“ entschied der 5. Strafsenat des BGH, dass die Zahlung 71 von Sonderbonuszahlungen an den Betriebsratsvorsitzenden durch ein Vorstandsmitglied, die als solche schon gemäß § 119 Abs. 1 BetrVG strafbar waren, als Pflichtverletzung i. S. d. § 266 StGB einzuordnen sei, da dies zu einem nicht ausgleichbaren Vermögensabfluss für die VW AG geführt habe. Der Vorstand habe zwar angegeben, dass er sich durch die Zahlungen das Wohlwollen des Betriebsrats sichern wollte, der BGH führte insoweit aber aus, dass der Vorstand dadurch „einen Vorteil […] erstrebt(e), den zu leisten der (Betriebsratsvorsitzende) jedenfalls angesichts seiner im Rahmen der VW AG nahezu maximalen Entlohnung als Arbeitnehmer ohne Sonderbonuszahlung bereits verpflichtet war“.166) Unabhängig davon, dass diese Ausführungen des BGH mit Blick auf das Verschleifungsverbot (Æ Rz. 42) insofern bedenklich erscheinen, als die Pflichtverletzung mit einem nicht ausgleichbaren Vermögensabfluss begründet wird, lesen sich die Wertungen des BGH so, dass er den Verstoß gegen § 119 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG letztlich als untreuerelevante Pflichtverletzung wertet, wenngleich § 119 Abs. 1 ___________ 162) Krit. hingegen Schünemann, NStZ 2008, 430 (433 f.), der äußert: „Denn der Schutzzweck von § 266 StGB ist auf das Rechtsgut ‚Vermögen‘ bezogen und würde pervertiert, wenn man diese Strafvorschrift zur Sanktionierung eines Systems der Corporate Compliance einsetzen wollte. Dies gilt auch für den Deutschen Corporate Governance Codex, dessen Pflichten für § 266 StGB nur insoweit Relevanz erlangen, wie sie den Vermögensschutz bezwecken, nicht aber schon dann, wenn sie im Interesse der allgemeinen Rechtsbefolgung oder Sicherung der Dispositionsbefugnis bestimmter Organe geschaffen worden sind.“ 163) Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57 (75); vertiefend zu diesem Problem Corsten, HRRS 2011, 247; Dierlamm, in: Festschrift Widmaier, S. 607; Kempf, in: Festschrift Hamm, S. 255; Ransiek, StV 2009, 321. 164) BGH, Urt. v. 17.9.2009 – 5 StR 521/08, NStZ 2009, 694; krit. dazu Corsten, wistra 2010, 206. 165) BGH, Beschl. v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88; krit. dazu Corsten, StraFo 2011, 69. 166) BGH, Urt. v. 17.9.2009 – 5 StR 521/08, NStZ 2009, 694 (695).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

Nr. 3 BetrVG nicht das Vermögen des Geschäftsinhabers, sondern allein die innere Unabhängigkeit und die unparteiliche Amtsausübung des Betriebsrates schützt.167) Dies ist mit Blick auf das Erfordernis eines vermögensschützenden Gehalts der jeweiligen Pflichten (Æ Rz. 5) abzulehnen. 72 Im Fall „Siemens/AUB“ befasste sich der 1. Strafsenat des BGH ebenfalls mit der Frage, ob ein Verstoß gegen § 119 BetrVG als Pflichtverletzung i. S. d. § 266 StGB einzuordnen ist. Der Senat äußerte diesbezüglich Bedenken, da § 266 StGB das Vermögen und § 119 BetrVG die Integrität der Wahl des Betriebsrats schütze. Er führte dazu aus: „Eine Normverletzung […] ist deshalb i. d. R. nur dann pflichtwidrig i. S. v. § 266 StGB, wenn die verletzte Rechtsnorm ihrerseits – wenigstens auch, und sei es mittelbar – vermögensschützenden Charakter für das zu betreuende Vermögen hat, mag die Handlung auch nach anderen Normen pflichtwidrig sein und unter Umständen sogar Schadensersatzansprüche gegenüber dem Treuepflichtigen auslösen.“168) Letztlich nahm der Senat aber eine untreuerelevante Pflichtverletzung des Vorstands insoweit an, als dieser die Zahlungen an den Betriebsrat auf der Grundlage einer Rahmenvereinbarung veranlasste, ohne selbst eine ausreichende inhaltliche Kontrolle durchzuführen oder zumindest dafür Sorge zu tragen, dass Dritte eine inhaltliche Kontrolle durchführen.169) Auf den Verstoß gegen § 119 BetrVG stellte der 1. Strafsenat indessen nicht ab. 73 Zuletzt führte auch der 4. Strafsenat aus, dass Verstöße gegen das BetrVG für sich genommen keine Pflichtverletzung i. S. d. § 266 StGB begründen können, „weil dessen Vorschriften lediglich dem Schutz des Betriebsrats und damit der Beschäftigten dienen und keinen vermögensschützenden Charakter haben.“170) Die Untreuestrafbarkeit bejahte der 4. Strafsenat gleichwohl und stützte dies auf das Binnenrecht der Gesellschaft sowie den „Public Corporate Governance Kodex“, die es dem Geschäftsführer verböten, „dem Betriebsratsvorsitzenden Zahlungen zu gewähren, die er nach den Vorgaben des BetrVG nicht beanspruchen konnte.“171) Die begrüßenswerten Einschränkungsversuche des 1. Strafsenats werden durch den 4. Strafsenat folglich umgangen; ein Verstoß gegen das betriebsverfassungsrechtliche Begünstigungsverbot würde demnach stets eine untreuerelevante Pflichtverletzung darstellen, sofern das Binnenrecht der Gesellschaft eine entsprechende Regelung vorsieht. Indes erscheinen Zweifel angebracht, ob einer Regelung des Binnenrechts, die sich in der Wiedergabe einer nicht vermögensschützenden Verhaltensnorm erschöpft, ein vermögensschützender Charakter beigemessen werden kann.172) ___________ 167) 168) 169) 170) 171) 172)

Ascheid/Preis/Schmidt/Künzl, Kündigungsrecht, § 78 BetrVG Rz. 35. BGH, Beschl. v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88 (91). BGH, Beschl. v. 13.9.2010 – 1 StR 220/09, NJW 2011, 88 (92). BGH, Beschl. v. 20.6.2018 – 4 StR 561/17, NStZ-RR 2018, 349 (350). BGH, Beschl. v. 20.6.2018 – 4 StR 561/17, NStZ-RR 2018, 349 (350). Zimmer/Dürr, NZWiSt 2021, 176 (179 f.) m. w. N.

1294

Corsten/Wackernagel

A. Untreue (§ 266 StGB)

c)

Bestechlichkeit/Kick-back-Zahlungen

Neben der aktiven Zahlung von Bestechungsgeldern durch den Vorstand ist 74 der Fall denkbar, dass Schmiergelder vom Vorstand angenommen werden und dieser dadurch bestimmte Aufträge bzw. Geschäfte an den Zahlenden im Namen der AG vergibt. In diesem Zusammenhang sind in der Praxis immer wieder sog. Kick-back- 75 Zahlungen zu beobachten, die eine besondere Art von Schmiergeldzahlungen darstellen. Darunter sind Zahlungen zu verstehen, die zwischen zwei Vertragspartnern vereinbart werden und auf die vertretene Gesellschaft eines der Vertragspartner abgewälzt werden. Zumeist wird dies so erfolgen, dass die Parteien einen Vertrag schließen, in dem ein erhöhtes Entgelt vereinbart wird; die Differenz der Erhöhung zum eigentlichen Preis fließt als Schmiergeld an einen der beiden Vertragspartner zurück. Finanziert wird diese Differenz durch die Gesellschaft, die der Schmiergeldempfänger vertritt, da diese den erhöhten Preis für eine bestimmte Leistung zu entrichten hat.173) Die schädigende Pflichtverletzung ist darin zu sehen, dass der Vorstand einen Vertrag zu einem erhöhten Entgelt abschließt, obwohl er diesen unter Umständen auch zu günstigeren Konditionen hätte abschließen können.174) Hintergrund ist dem 5. Strafsenat des BGH zufolge („Wuppertaler Korruptions- 76 skandal“), dass es so zu einer Wettbewerbsverschiebung bzw. -ausschaltung kommt, die dazu führt, dass die Aufträge im Ergebnis zu überhöhten Preisen vergeben werden. Denn es liegt – so der 5. Strafsenat weiter – „nach der Lebenserfahrung nahe, dass auf diese Art erzielte Preise höher liegen als die im Wettbewerb erreichbaren Marktpreise, weil Unternehmen, die nicht im Wettbewerb bestehen müssen, überhöhte Preise verlangen können und Preissenkungsspielräume nicht nutzen müssen.“175) Ist dies der Fall, so handelt der Vorstand insoweit pflichtwidrig i. S. d. § 266 StGB, als er sich durch die genannten Zahlungen davon abhalten lässt, wirtschaftlich sinnvoll für die Gesellschaft zu handeln. Durch die überhöhten Preise wäre dann auch ein Vermögensnachteil auf Seiten der Gesellschaft zu bejahen.176) Hier stellt sich stets die Frage, ob zwischen Leistung und Gegenleistung über- 77 haupt ein Missverhältnis feststellbar ist. Denn es ist oft unsicher, ob der Ver___________ 173) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 274. 174) Die Pflichtverletzung ist folglich in einem aktiven Tun, nämlich dem Abschluss schmiergeld-überteuerter Verträge, zu sehen und nicht etwa in dem Unterlassen der Vermögensmehrung, BGH, Urt. v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05, NJW 2006, 925 (931); zustimmend Saliger, NJW 2006, 3377 (3378). 175) BGH, Urt. v. 29.6.2006 – 5 StR 485/05, NJW 2006, 2864 (2867) unter Verweis auf BGH, Urt. v. 8.1.1992 – 2 StR 102/91, NJW 1992, 921 (922 f.); Beschl. v. 28.6.2005 – KRB 2/05, NJW 2006, 163 (164 f.). 176) BGH, Urt. v. 29.6.2006 – 5 StR 485/05, NJW 2006, 2864 (2866 f.).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

tragspartner wirklich zu günstigeren Konditionen kontrahiert hätte, bzw. ob ein anderer Anbieter am Markt die Leistung tatsächlich günstiger erbracht hätte. Lässt sich die genannte Bereitschaft des Vertragspartners oder die Möglichkeit eines Vertragsschlusses auf dem Markt zu günstigeren Konditionen nachweisen, so läge zweifelsohne eine Pflichtverletzung und ein Vermögensnachteil i. S. d. Untreue vor. Ist dieser Nachweis hingegen nicht zu führen, so muss eine Strafbarkeit ausscheiden. Da wohl zumeist nicht zu ermitteln ist, ob die Leistung am Markt günstiger zu erhalten war, bzw. ob der Vertragspartner auch zu günstigeren Konditionen kontrahiert hätte, erweist sich die Nachweisbarkeit eines konkreten Vermögensnachteils als äußerst schwierig. 78 Dennoch hat der 5. Strafsenat des BGH in zwei Entscheidungen eine Untreue bejaht, obwohl ein Nachteil in den konkreten Fällen nicht bezifferbar war: In der Entscheidung zum „System Schreiber“ führt der BGH aus, dass bei Provisions- und Schmiergeldzahlungen i. d. R. ein Nachteil i. S. d. § 266 StGB anzunehmen sei. Dieser Einordnung liege „die Erwägung zugrunde, dass jedenfalls mindestens der Betrag, den der Vertragspartner für Schmiergelder aufwendet, auch in Form eines Preisnachlasses […] dem Geschäftsherrn des Empfängers hätte gewährt werden können“.177) Eine „Ausnahme“ von der Regel gilt dem BGH zufolge allerdings dann, „wenn Umstände erkennbar sind, die es nicht unbedingt nahelegen, dass die Leistungen in die Kalkulation zu Lasten des Geschäftsherrn eingestellt wurden“.178) Diese Rechtsprechung setzt der BGH in seiner Entscheidung zum „Kölner Müllskandal“ fort. Dort führt er aus, es liege „zumeist auf der Hand, dass das Geschäft auch für einen um den aufgeschlagenen Schmiergeldanteil verminderten Preis abgeschlossen worden wäre“179). Indes hat der 1. Strafsenat kürzlich in einem Urteil in ähnlichem Zusammenhang einen Vermögensnachteil abgelehnt.180) Der Senat bestätigte zwar ausdrücklich den geschilderten Ansatz des 5. Strafsenats, hob aber nochmals hervor, dass dieser nicht gelte, wenn Umstände erkennbar seien, die es nicht nahelegten, dass die Leistungen in die Kalkulation zu Lasten des Geschäftsherrn eingestellt wurden. In dem dort entschiedenen Fall sah der Senat diese in der Tatsache, dass mit den Zahlungen tatsächliche wirtschaftliche Ziele verfolgt wurden und diese nicht nur der Bestechung des Vertragspartners dienten. 79 Schließlich kann eine untreuerelevante Pflichtverletzung auch nicht in der schlichten passiven Entgegennahme von Schmiergeldern erblickt werden, da der Treupflichtige nicht verpflichtet ist, vereinnahmte Schmiergelder an seinen Geschäftsherrn bzw. Treugeber herauszugeben. Die entsprechende zivilrechtliche ___________ 177) 178) 179) 180)

BGH, Beschl. v. 11.11.2004 – 5 StR 299/03, NJW 2005, 300 (305). BGH, Beschl. v. 11.11.2004 – 5 StR 299/03, NJW 2005, 300 (305). BGH, Urt. v. 2.12.2005 – 5 StR 119/05, NStZ 2006, 210 (213). BGH, Urt. v. 23.10.2018 – 1 StR 234/17, wistra 2019, 190 (Rz. 39 f.); mit Anm. Brand GmbHR 2019, 401.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

Pflicht aus §§ 687 Abs. 2, 681 Satz 2, 667 BGB gehört nicht zur strafrechtlichen Vermögensbetreuungspflicht des Handelnden, sondern ist eine bloße Schuldnerpflicht.181) In der Literatur ist diese Tendenz des BGH bei Kick-back-Zahlungen, grund- 80 sätzlich von einem pflichtwidrigen Vermögensnachteil auszugehen, erheblich kritisiert worden. Durch die genannte Annahme des BGH werde eine Beweislastumkehr zuungunsten des Treupflichtigen geschaffen, denn er müsse so im Einzelfall nachweisen, dass kein Nachteil eingetreten wäre.182) Ebenso hätte dieser nachzuweisen, dass er keine ihn treffende Vermögensbetreuungspflicht verletzt hat. Jedoch muss gerade dem Beschuldigten nachgewiesen werden, dass eine Pflichtverletzung vorliegt, die einen entsprechenden Schaden verursacht hat.183) Praxishinweis: Für Vorstand und Aufsichtsrat bedeutet all dies: Das Tätigen oder 81 Entgegennehmen von Schmiergeldern, sei es in der Form einer Kick-back-Vereinbarung, sei es in einer anderen Form, ist stets nach § 299 StGB strafbar und wird in der Praxis regelmäßig deutlich empfindlicher geahndet als Untreuetaten. Nach der Rechtsprechung des BGH besteht das Risiko, sich durch die Zahlung oder Annahme von Bestechungsgeldern zusätzlich wegen Untreue zu Lasten der AG strafbar zu machen. 5.

„Schwarze Kassen“

Häufig geht mit der soeben dargestellten Problematik der Schmiergeldzahlungen 82 und der „Kick-backs“ die Bildung „schwarzer Kassen“ einher. Hierbei geht es darum, dass Gelder des Treugebers dem gewöhnlichen Geldkreislauf entzogen

___________ 181) BGH, Urt. v. 30.10.1985 – 2 StR 383/85, NStZ 1986, 361 (362); Urt. v. 30.10.1990 – 1 StR 544/90, NJW 1991, 1069; Beschl. v. 13.12.1994 – 1 StR 622/94, NStZ 1995, 233 (234); Urt. v. 4.4.2001 – 1 StR 528/00, NStZ 2001, 545; Urt. v. 23.5.2002 – 1 StR 372/01, NJW 2002, 2801 (2803); LG Magdeburg, Beschl. v. 28.11.2001 – 24 Qs 18/01, wistra 2002, 156 (157); Bernsmann, StV 2005, 576 (578); MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 274; Park/Zieschang, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 266 StGB Rz. 65; Thalhofer, S. 60; a. A. LG Darmstadt, auf dessen erstinstanzliches Urteil der BGH im Siemens-Urteil eingeht, das die Herausgabepflicht des § 667 BGB i. V. m. „schwarzen Kassen“ wohl als Teil der Vermögensbetreuungspflicht ansieht; der BGH lässt dies im Siemens-Urteil mangels Relevanz offen, da er den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im aktiven Tun und nicht im Unterlassen sieht, BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89 (91) = ZIP 2008, 2315. 182) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 275; so auch Bernsmann, der daneben kritisiert, dass der BGH den Vermögensschaden „mit der – empirisch durch nichts belegten – Vermutung, der Betrag, den der Vertragspartner für Provisionen aufwende, würde ansonsten in Form eines Preisnachlasses […] grundsätzlich dem Geschäftsherrn des Empfängers zugutekommen“ begründet; Bernsmann wirft dem BGH insofern Realitätsferne vor, StV 2005, 576 (577). 183) Krit. hierzu auch Rönnau, der von einer „Fiktionalisierung des Vermögensschadens“ spricht, Rönnau, ZStW 2007, 887 (919 f.).

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werden und außerhalb von diesem auf separaten Konten oder Kassen angelegt bzw. zurückgehalten werden.184) 83 Ist der Fall so gelagert, dass die „schwarzen Kassen“ innerhalb des Unternehmens nicht bekannt sind und der Treupflichtige das entsprechende Geld für eigene Zwecke nutzt, so liegt eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht vor.185) Die Pflichtverletzung ist darin zu sehen, dass der Treupflichtige dem Unternehmen die Existenz der Gelder verheimlicht.186) 84 Im „Siemens“-Verfahren hat der BGH das Bilden „schwarzer Kassen“ sogar dann als Pflichtwidrigkeit im Sinne der Untreue angesehen, wenn der Handelnde vorhatte, das zurückgelegte Geld zum finanziellen Wohl des Unternehmens, etwa zu für das Unternehmen günstigen Schmiergeldzahlungen, einzusetzen.187) In der unterlassenen Offenbarung der Existenz „schwarzer Kassen“ bzw. verdeckter Konten gegenüber dem Unternehmen sei – so der BGH – eine Pflichtverletzung zu sehen.188) Dies bedeutet, der BGH sieht den Schwerpunkt der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit im Unterlassen der Aufklärung, dass es eine „schwarze Kasse“ gibt, und nicht im Einrichten derselben. Das Unterlassen der ordnungsgemäßen Verbuchung der Gelder stelle die für § 266 StGB erforderliche Pflichtwidrigkeit dar.189) Ob es dann in der Folge der Verwendung der Gelder aus den „schwarzen Kassen“ zu einem Vermögenszuwachs seitens des Geschäftsherrn komme, sei für die Pflichtwidrigkeit unbeachtlich.190) 85 Diese Einordnung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen: Es sei bereits fraglich, worin hier die Pflichtverletzung zu sehen sei. Der BGH argumentiert, diese sei in dem Verstoß gegen Buchführungs- und Bilanzvorschriften, also in dem Unterlassen der ordnungsgemäßen Verbuchung der Gelder zu sehen.191) Daran wird kritisiert, dass diese den Geschäftsherrn nur nachrangig schützten und primär dem Gläubigerschutz dienten.192) Wollte man aus diesen Vorschriften eine Ver___________ 184) MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 244; Saliger/Gaede führen den Begriff der sog. Schattenkassen ein. Dies sind „schwarze“ Kassen, von deren Existenz der Geschäftsherr weiß, Saliger/Gaede, HRRS 2008, 57 (67). 185) BGH, Urt. v. 21.10.1994 – 2 StR 328/94, NJW 1995, 603 (604 ff.); Beschl. v. 14.12.1999 – 5 StR 520/99, NStZ 2000, 206 (207). 186) Strelczyk, S. 31. 187) BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89 (91); krit. zu dieser verwendungszweckunabhängigen Lesart SSW-StGB/Saliger, § 266 Rz. 97, der ausführt, so werde die Untreue zu einem Bilanz- und Korruptionsvorfelddelikt verformt. 188) BGH, Beschl. v. 12.2.2020 – 2 StR 291/19, NStZ 2020, 544 (545); krit. dazu Corsten, BB 2021, 33. 189) BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89 (91). 190) BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89 (91); krit. zu der Frage, ob hier der für § 266 StGB erforderliche Schaden vorliegt, Reinhold, HRRS 2009, 107 (110). 191) BGH, Urt. v. 29.8.2008 – 2 StR 587/07, NJW 2009, 89, 91; krit. Rönnau, StV 2009, 246 f. 192) Knauer, NStZ 2009, 151 (152).

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A. Untreue (§ 266 StGB)

mögensbetreuungspflicht ableiten, so werde die Untreue zum allgemeinen Vermögensschutzdelikt ausgedehnt.193) Dieser Kritik ist sicherlich insoweit zuzustimmen, als dass die Ausweitung bzw. -dehnung des Untreuetatbestandes bedenkenswerte Ausmaße annimmt. Zudem dient die Vermögensbetreuungspflicht eben gerade bzw. allein dem Schutz des Vermögens und nicht (partiell) öffentlichen Interessen wie Buchführungs- und Bilanzvorschriften. Anderseits darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Bilanzvorschriften auch das Vermögen des Geschäftsherrn schützen,194) so dass die Begründung einer Vermögensbetreuungspflicht i. S. d. Untreue zumindest mit deren Schutzgut zu erklären bzw. zu rechtfertigen sein könnte. Bereits in der Entscheidung „Kanther/Weyrauch“ (Æ Rz. 44) hatte sich der 86 BGH mit der Einrichtung „schwarzer Kassen“ bei der CDU Hessen zu befassen. Auch hier urteilte der BGH, dass in der unterlassenen Offenbarung der Kasse bzw. dem Vorenthalten der Gelder gegenüber der Partei eine untreuerelevante Pflichtverletzung liege, die insofern zu einem Vermögensnachteil geführt hat, als dem Landesverband der CDU diese Mittel entzogen waren.195) Praxishinweis: Für den Vorstand bedeutet dies, dass sich bereits aus der Einrich- 87 tung einer „schwarzen Kasse“ und der damit einhergehenden Unterlassung der Offenbarung einer solchen das Risiko einer Untreuestrafbarkeit ergibt, und zwar der BGH-Rechtsprechung zufolge selbst dann, wenn die verschleierten Gelder später zum Wohle des Unternehmens eingesetzt werden sollen. Indem sich der Vorstand anmaßt, nach eigenem Gutdünken über die Verwendung der Gelder zu entscheiden, sieht der BGH auch einen Vermögensnachteil auf Seiten der Gesellschaft, weil die Gelder ihrer Disposition entzogen sind. 6.

Verstoß gegen Risikosteuerungssysteme

Daneben ergibt sich für den Vorstand einer AG das Risiko einer Untreuestraf- 88 barkeit, wenn er gegen sog. Risikosteuerungssysteme verstößt. Gemäß § 91 Abs. 2 AktG hat der Vorstand geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit Entwicklungen, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden, früh erkannt werden (dazu Æ § 1 Rz. 367). Zum Teil wird in der Literatur aus dieser Risikosteuerungspflicht des Vorstands geschlossen, dass ein Verstoß gegen diese eine untreuerelevante Pflichtverletzung darstellen könne. Da die Risikosteuerungspflicht dem wirtschaftlichen Wohl, der Erhaltung und der Sicherheit der AG diene, betreffe diese Pflicht ausschließlich deren Vermögensinteressen, mit der Folge, dass die Risikosteuerungspflicht Aus___________ 193) Knauer, NStZ 2009, 151 (152); auch Jahn kritisiert, dass die Untreue als „Allroundtalent des Wirtschaftsstrafrechts zur Bekämpfung jeglichen als strafwürdig empfundenen Verhaltens“ eingesetzt werde, Jahn, JuS 2009, 173 (175 f.). 194) Rönnau, in: Festschrift Tiedemann, S. 713 (722); ders., StV 2009, 246 (247); Saliger, HRRS 2006, 10 (22); ders./Gaede, HRRS 2008, 57 (68). 195) BGH, Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05, NJW 2007, 1760 (1763 f.).

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druck der treuhänderischen Sorge des Vorstands sei. Folglich soll ein Verstoß gegen diese Risikosteuerungspflicht eine taugliche Tathandlung des § 266 StGB darstellen.196) 89 Praxistipp: Wenngleich es dazu bislang – soweit ersichtlich – keine gerichtlichen Entscheidungen gibt, besteht für den Vorstand durchaus das Risiko, dass er sich infolge eines Verstoßes gegen die Pflicht aus § 91 Abs. 2 AktG gleichsam wegen Untreue strafbar macht, zumal diese Pflicht auf den Pflichtenkreis aus § 93 AktG ausstrahlt. Gleiches gilt für den Aufsichtsrat, der seiner Kontrollfunktion gegenüber dem Vorstand nicht nachkommt, indem er nicht gegen dessen Verstoß gegen § 91 Abs. 2 AktG einschreitet.197) 7.

Nichteinschreiten gegen schädigende Geschäftsführung

90 Wie bereits dargestellt (Æ § 20 Rz. 32), ist die Überwachung der Geschäftsführung die Hauptaufgabe des Aufsichtsrats einer AG. Da sich aus dieser Aufgabenzuweisung eine strafrechtlich relevante Vermögensbetreuungspflicht der AG gegenüber ergibt, liegt es auf der Hand, dass sich die Aufsichtsratsmitglieder einer Untreue durch Unterlassen schuldig machen können, wenn sie gegen schädigende Handlungen der Geschäftsführung nicht einschreiten; darin ist dann eine vermögenbezogene Verletzung ihrer Überwachungspflicht zu sehen. Erforderlich dafür ist selbstverständlich stets, dass auf Seiten des Aufsichtsrats positive Kenntnis oder jedenfalls erkennbare Anhaltspunkte für schädigendes Verhalten der Geschäftsführung bestehen. Fahrlässige Unkenntnis mag zu einer zivilrechtlichen Haftung, nicht indes zu einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder führen. 91 Folglich führt die Untreuestrafbarkeit des Vorstands in den unter Æ Rz. 46 bis 89 dargestellten Fallgruppen stets auch zu einem Strafbarkeitsrisiko des Aufsichtsrats, wenn er seiner Überwachungsaufgabe nicht nachkommt und dadurch zulässt, dass der Vorstand die Vermögensinteressen der AG verletzt. Mithin ist es möglich, dass sich eine Untreuestrafbarkeit von Geschäftsführungs- und Überwachungsorgan nebeneinander ergibt. 8.

Anspruchsverfolgung gegenüber dem Vorstand

92 Der Aufsichtsrat vertritt die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich, wenn es um Angelegenheiten zwischen der AG und dem Vorstand geht (§ 112 AktG).198) In der Entscheidung „ARAG/Garmenbeck“ hat sich der 2. Zivilsenat des BGH mit der Frage befasst, ob der Aufsichtsrat verpflichtet ist, Schadensersatzklage ___________ 196) Mosiek, wistra 2003, 370 (373 f.); Windolph, NStZ 2000, 522 (524); a. A. MünchKommStGB/ Dierlamm, § 266 Rz. 197. 197) Mosiek, wistra 2003, 370 (374 f.). 198) Zur Anspruchsverfolgung gegenüber Vorstand bzw. zu ARAG/Garmenbeck Æ § 3 Rz. 276 ff. und § 21 Rz. 49.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

gegen den Vorstand zu erheben, wenn dieser die Gesellschaft geschädigt hat. Der BGH hat dazu ausgeführt, dass „den Aufsichtsrat die Pflicht trifft, eigenverantwortlich das Bestehen von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern aus ihrer organschaftlichen Tätigkeit zu prüfen und, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, solche unter Beachtung des Gesetzes- und Satzungsrechts und der von ihm vorgegebenen Maßstäbe zu verfolgen.“199) Deshalb hat der Aufsichtsrat – so der BGH weiter – zunächst eine sorgfältige Risikoanalyse vorzunehmen, um über das Für und Wider einer Anspruchsverfolgung gegenüber den Vorstandsmitgliedern entscheiden zu können.200) Im Rahmen der Risikoanalyse ist von Relevanz, dass eine solche Klage nicht nur das Verhältnis zum Beklagten, also zu den betroffenen Vorstandsmitgliedern, belastet, sondern unter Umständen auch die Reputation des Unternehmens in der Öffentlichkeit schädigen kann.201) Einen Ermessensspielraum billigt der BGH dem Aufsichtsrat in diesem Zusammenhang allerdings nicht zu. Vielmehr sei die „Entscheidung über die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder […] Teil seiner nachträglichen Überwachungstätigkeit, deren Ziel darauf gerichtet ist, den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden.“202) Im Rahmen der Entscheidung, ob Klage erhoben wird, muss der Aufsichtsrat das Prozessrisiko, die damit einhergehenden Chancen einer Vollstreckbarkeit des Urteils und die möglichen Nachteile für die Gesellschaft mit dem Nutzen, den eine solche Klage mit sich bringt, also dem Vermögensvorteil bzw. -ausgleich, abwägen. Stellt sich die Situation so dar, dass der AG durchsetzbare Schadensersatzansprüche zustehen, so hat der Aufsichtsrat diese grundsätzlich zu verfolgen. Ausnahmen von dieser Pflicht ergeben sich nur dann, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegensprechen.203) Praxishinweis 1: Daraus folgt, dass auch der Aufsichtsrat, der es pflichtwidrig un- 93 terlässt, Klage gegen den Vorstand einzureichen, eine Untreue zu Lasten der AG begehen kann. Er verletzt insoweit die Vermögensinteressen der Gesellschaft, als er die Wiederherstellung des geschädigten Gesellschaftsvermögens unterlässt.204) Voraussetzung einer Strafbarkeit ist natürlich, dass das Unterlassen der Klageerhebung zu einem Vermögensnachteil der AG führt. Dies ist dann nicht der Fall, wenn von Beginn an feststeht, dass die Gesellschaft bei einem gerichtlichen Obsiegen einen gerichtlich festgestellten Anspruch kaum wird realisieren können. ___________ 199) 200) 201) 202)

BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/97, NJW 1997, 1926 (1927). BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/97, NJW 1997, 1926 (1928). Poseck, S. 71; vgl. hierzu auch Lutter, ZIP 1995, 441 (442). BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/97, NJW 1997, 1926 (1928) unter Berufung auf Raiser, NJW 1996, 552 (554). 203) BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/97, NJW 1997, 1926, 1928; zustimmend Götz, NJW 1997, 3275. 204) A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 246; Krause, NStZ 2011, 57 (62).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

94 Praxishinweis 2: Selbstverständlich sollte sich der Aufsichtsrat zu Fragen der Anspruchsverfolgung gegenüber dem Vorstand juristisch beraten lassen. Aus Gründen der Vertraulichkeit empfiehlt es sich, nicht auf die eigene Rechtsabteilung zurückzugreifen, sondern externe Rechtsanwälte zu beauftragen. Kommt der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis, ausnahmsweise auf eine Anspruchsverfolgung verzichten zu wollen, ist auf eine umfassende Dokumentation Wert zu legen, die sowohl die dem zugrundeliegenden Gründe als auch die vorangestellte Risikoanalyse beinhaltet. 9.

Vergütungen von Vorstand und Aufsichtsrat

95 Sowohl die Entscheidung über die Vergütung des Vorstands (dazu Æ § 3 Rz. 203 ff.) als auch diejenige über die Vergütung des Aufsichtsrats (ausführlich dazu Æ § 3 Rz. 33 ff.) bergen das Risiko einer Untreuestrafbarkeit. Während die Vergütung des Vorstands gemäß § 87 Abs. 1 AktG zum Pflichtenkreis des Aufsichtsrats gehört, wird diejenige des Aufsichtsrats selbst gemäß § 113 Abs. 1 AktG entweder in der Satzung festgesetzt oder durch die Hauptversammlung beschlossen. Bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des Vorstands hat der Aufsichtsrat gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 AktG dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstands sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen. In diesem Sinne normiert § 113 Abs. 1 Satz 3 AktG, dass die Vergütung des Aufsichtsrats in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und zur Lage der Gesellschaft stehen soll. a)

Interessenkonflikt

96 Zu beachten gilt, dass Vorstand und Aufsichtsrat, soweit es um ihre eigene Vergütung geht, keine Vermögensbetreuungspflicht trifft, da insofern ein Interessenkonflikt vorliegt.205) Der Vorstand kann nicht einerseits im eigenen Interesse seine Vergütung verhandeln, um anderseits gerade dabei die Vermögensinteressen der Gesellschaft zu wahren. Gleiches gilt für den Aufsichtsrat. Hinsichtlich der eigenen Vergütung kann sich der jeweilige Vorstand oder Aufsichtsrat also grundsätzlich nicht wegen Untreue strafbar machen. 97 Etwas anderes gilt aber dann, wenn es an einem solchen Interessenkonflikt fehlt, weil es lediglich um die operative Umsetzung einer bestehenden Vergütungsvereinbarung geht. So hat das OLG Braunschweig entschieden, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats dann eine Vermögensbetreuungspflicht trifft, wenn es um die rechtswidrige Umsetzung einer in der Satzung festgesetzten Vergütung ___________ 205) Für den Vorstand: BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (530); Urt. v. 12.12.2013 – 3 StR 146/13, NStZ 2015, 220 (223); A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2, Rz. 235; für den Aufsichtsrat: BGH, Urt. v. 17.9.2009 – 5 StR 521/08, NJW 2010, 92 (95 f.); OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, NJW 2012, 3798 (3799).

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A. Untreue (§ 266 StGB)

geht.206) Im konkreten Fall hatten die Mitglieder des Aufsichtsrats einer AG dieser die Sitzungsgelder, die ihnen nach der Satzung für die Teilnahme an den Aufsichtsratssitzungen zustanden, in Rechnung gestellt, obwohl tatsächlich keine Sitzungen stattgefunden hatten. Dem OLG zufolge ging es dabei gerade nicht um eine Konfliktsituation, die die eigenen Vergütungsangelegenheiten des Aufsichtsrats betraf, sondern die Mitglieder des Aufsichtsrats hatten lediglich die Regelungen der vorgegebenen Satzung richtig anzuwenden. Indem sie dies unterließen, verstießen sie gegen ihre Vermögensbetreuungspflicht.207) Ganz ähnlich urteilte der BGH im Fall des Geschäftsführers eines kommunalen 98 Wasserverbands, der dafür gesorgt hatte, dass sein Gehalt entgegen und unter Umgehung eines anders lautenden Vorstandsbeschlusses erhöht wurde.208) Der BGH sah darin eine Untreue und führte aus, dass „Anlass, die Vermögensbetreuungspflicht des Vergütungsempfängers im Hinblick auf diese Interessenkollision insoweit zu beschränken, […] nur dann (bestehe), wenn sich dessen Streben nach einem möglichst hohen Gehalt in den dafür vorgesehenen Entscheidungsbahnen (halte).“ Umgehe er diese, kommt eine solche Beschränkung der Vermögensbetreuungspflicht nicht in Betracht und das Verhalten des Geschäftsführers sei nicht anders zu bewerten, als wenn er sich unter Ausnutzung seiner Verfügungsmöglichkeiten aus dem Vermögen des Verbandes den entsprechenden Betrag eigenmächtig verschafft hätte.209) b)

„Mannesmann“-Entscheidung des BGH

Besondere Bedeutung im Rahmen von Vergütungsentscheidungen in der AG 99 hat die Auszahlung sog. (nachträglicher) Anerkennungsprämien, auch appreciation awards genannt, erlangt, wie sie im Fall „Mannesmann“ erfolgte.210) Hier wurde den Mitgliedern des Vorstandes für ihre besonderen Verdienste im Rahmen der Übernahme von „Mannesmann“ durch Vodafone eine individuelle, vertraglich nicht vorgesehene Prämie gewährt, die durch die Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der Mannesmann AG beschlossen und veranlasst wurde.211) Diese Zahlung wertete der BGH als Untreue gemäß § 266 StGB, da die Präsidi- 100 umsmitglieder ihre Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der AG verletzt hät___________ 206) OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, NJW 2012, 3798; vgl. dazu Corsten, wistra 2013, 73. 207) OLG Braunschweig, Beschl. v. 14.6.2012 – Ws 44/12, Ws 45/12, NJW 2012, 3798 (3799 f.). 208) BGH, Urt. v. 12.12.2013 – 3 StR 146/13, NStZ 2015, 220 mit Anm. Klemm. 209) BGH, Urt. v. 12.12.2013 – 3 StR 146/13, NStZ 2015, 220 (223). 210) Vgl. vertiefend zur Definition dieses Begriffs Golaschinski, S. 8 f. 211) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

ten.212) Zur Begründung führte der BGH aus, die Prämien seien nicht in den Anstellungsverträgen der Vorstandsmitglieder vorgesehen gewesen, so dass es an einer vertraglichen Grundlage für diese fehle. Folglich galt es zu untersuchen, inwieweit das Präsidium durch diese Zahlungen seine Kompetenzen wahrte, bzw. inwieweit darin eine Pflichtverletzung gesehen werden konnte. Da es sich hier um eine Angelegenheit zwischen dem Vorstand und der AG handelte, vertrat der Aufsichtsrat (bzw. dessen zuständiger Ausschuss) die Gesellschaft gemäß § 112 AktG. Im Rahmen dieser Vertretung billigte der BGH dem Ausschuss, da es sich hierbei um Führungs- und Gestaltungsaufgaben handelte, einen weiten Ermessenspielraum zu. Dieser finde seine Rechtfertigung darin, dass unternehmerisches Handeln immer auch Prognoseentscheidungen erfordere, die stets die Gefahr „erst nachträglich erkennbarer Fehlbeurteilungen“ enthalte.213) Deswegen liege solange keine Pflichtverletzung gemäß § 266 StGB vor, wie es sich um verantwortungsbewusste am Unternehmenswohl orientierte Entscheidungen handele.214) 101 Daneben äußerte der BGH, auch wenn es an der genannten vertraglichen Grundlage fehle, sei die Bewilligung einer solchen nachträglichen Anerkennungsprämie zulässig, „wenn und soweit dem Unternehmen gleichzeitig Vorteile zufließen, die in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der freiwilligen Zusatzvergütung verbundenen Minderung des Gesellschaftsvermögens stehen“.215) Dies wäre dann zu bejahen, wenn den Zahlungen eine Anreiz- und Signalwirkung für andere Führungskräfte in dem Sinne zukäme, dass diese sich angespornt fühlten und somit der AG aufgrund dadurch erfolgender guter Leistungen der Führungskräfte ein Vorteil entstünde. Im vorliegenden Fall verneinte der BGH jedoch einen solchen Nutzen, da den Boni ausschließlich belohnender Charakter zugekommen sei, der für die Gesellschaft keinerlei Nutzen gebracht hätte. In einem solchen Fall sei die genannte Zahlung als „treupflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens zu bewerten“216). 102 Daneben sei das Unternehmensinteresse bei solchen Entscheidungen als verbindliche Leitlinie anerkannt, so dass bei Handlungen, die nicht in dessen Sinne erfolgten, eine für § 266 StGB relevante Pflichtverletzung anzunehmen sei.217) Das Argument, eine besonders erfolgreiche Tätigkeit sei im Nachhinein besser ___________ 212) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522; zustimmend Rönnau, NStZ 2006, 218. 213) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (523). 214) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (523); vgl. auch BGH, Beschl. v. 20.6.2018 – 4 StR 561/17, NStZ-RR 2018, 349 (350). 215) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (524). 216) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (524). 217) So schon BGH, Urt. v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 (1928); Urt. v. 6.12.2001 – 1 StR 215/01, NStZ 2002, 322 (323).

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A. Untreue (§ 266 StGB)

zu beurteilen als bei Abschluss des Dienstvertrags, entkräftete der BGH mit den Hinweisen, dass es einerseits bereits bei Abschluss eines solchen Anstellungsvertrags vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten gebe, um eine erfolgsabhängige Vergütung sicherzustellen und anderseits könne nicht der Erfolg einer geschuldeten Tätigkeit eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung rechtfertigen.218) Der BGH bejahte im Ergebnis also eine Pflichtverletzung im Sinne der Untreue. Diese Entscheidung ist in der Literatur erheblich kritisiert worden.219) So wurde 103 insbesondere bemängelt, dass die Zahlung solcher Anerkennungsprämien aktienrechtlich nicht zu beanstanden sei, so dass sie in der Folge auch nicht strafbar sein könnten.220) Praxishinweis: Vergütungsregelungen und Bonussysteme, die im Vorfeld (etwa bei 104 den Vertragsverhandlungen) mit dem Vorstandsmitglied vereinbart werden, haben typischerweise ein geringeres strafrechtliches Risiko. Vorstand und Aufsichtsrat sollten hier zur Vermeidung strafrechtlicher Risiken bei der Vereinbarung von Prämien Folgendes berücksichtigen: –

präzise vertragliche Regelung sämtlicher Vergütungsbestandteile;



insbesondere Prämien sollten zuvor durch Zielvereinbarungen geregelt werden (um deutlich zu machen, welchen „Gegenwert“ die AG durch die Prämie erhält bzw. erhalten wird);



der Wert der Prämie und das erreichte oder zu erreichende Ziel sollten zueinander im Verhältnis stehen.

Dagegen bergen Prämien, die im Dienstvertrag des Vorstands nicht angelegt sind, sondern über die nachträglich entschieden wird, durchaus ein beträchtliches strafrechtliches Risiko. In besonderem Maße gilt dies, wenn solche nachträglichen Prämien an ausscheidende Vorstandsmitglieder gezahlt werden. Entscheidet sich der Aufsichtsrat für derartige Maßnahmen, ist auf eine umfassende und präzise Dokumentation Wert zu legen. Unbedingt sollte dabei klar und nachvollziehbar begründet sein, wieso sich der Aufsichtsrat von der nachträglichen Bonuszahlung einen zukünftigen Nutzen für die Gesellschaft verspricht. Im Idealfall sollten Notwendigkeit und Anwendungsbereich derartiger Lösungen durch ein faires und incentivierendes System dienstvertraglich festgeschriebener Bonusregelungen aber möglichst gering gehalten werden.

___________ 218) BGH, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 (524). 219) Vgl. nur Brammsen, wistra 2009, 85 (87); Braum, KritV 2004, 67 (73); Golaschinski, S. 41; Günther, in: Festschrift Weber, S. 311 (314); Hohn, wistra 2006, 161 (163); Schilha, S. 297 ff.; Tiedemann, in: Festschrift Weber, S. 320 (326); Zech, S. 212. 220) Dreher, AG 2002, 214 (216); ders., AG 2006, 213 (218); Fleischer, DB 2006, 542 (543); Hopt, ZGR 1993, 534 (536); Hüffer, BB 2003, Beilage 7 zu Heft 43, 1 (20); Fonk, NZG 2005, 248 (250), der ausführt, solche Zahlungen stünden im Einklang mit dem deutschen Corporate Governance Kodex.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

10.

Fürsorgeaufwendungen für Vorstand der AG

105 Auch im Zusammenhang mit Fürsorgeaufwendungen für den Vorstand der AG besteht die Gefahr einer Untreuestrafbarkeit für den Aufsichtsrat. Fürsorgeaufwendungen meinen Aufwendungen, mit denen dem Vorstand ein hinreichend ausgestalteter, infrastruktureller Rahmen für seine Amtstätigkeit zur Verfügung gestellt werden soll,221) sowie solche für die Sicherheit und den Schutz des Vorstands, und zwar zum einen den Schutz vor Haftungsinanspruchnahmen und zum anderen auch die körperliche Sicherheit des Vorstands. Konkret geht es vielfach um den Abschluss von D&O-Versicherungen und die Übernahme von Kosten für Personenschutz und Sicherheitsmaßnahmen für den Vorstand.222) 106 Maßstab muss auch bei der Übernahme solcher Aufwendungen das Unternehmenswohl sein. Selbstverständlich liegen die Sicherheit und der Schutz des Vorstands im Wohl des Unternehmens, so dass z. B. die Übernahme der Kosten für den Personenschutz eines DAX-Vorstands regelmäßig keine untreuerelevante Pflichtverletzung darstellt. Gleiches gilt für den Abschluss einer D&OVersicherung, die ebenfalls im Unternehmensinteresse liegt, weil sie die Abwehr etwaiger Schadensersatzklagen gegen Vorstandsmitglieder sicherstellen kann. Die Zuständigkeit für entsprechende Maßnahmen liegt beim Aufsichtsrat, der diesbezüglich einer Vermögensbetreuungspflicht unterliegt; lediglich für den Abschluss einer D&O-Versicherung soll nach nunmehr h. M. der Vorstand selbst zuständig sein, so dass den Aufsichtsrat hier (vorbehaltlich seiner Überwachungsfunktion Æ § 20 Rz. 33 ff.) keine strafbewehrte Pflicht zur Vermögensfürsorge trifft.223) Kehrseitig trifft den Vorstand in diesen Angelegenheiten, die in der Zuständigkeit des Aufsichtsrats liegen, keine eigene Vermögensbetreuungspflicht, zumal ihm auch schwerlich zugemutet werden kann, etwa Risiken für seine körperliche Unversehrtheit mit den Kosten des Personenschutzes abzuwägen. In Übertragung der zu Vergütungsentscheidungen geltenden Kriterien kommt eine Strafbarkeit des Vorstandsmitglieds wegen Untreue allerdings dann in Betracht, wenn er sich – unter Umgehung des Aufsichtsrats und somit unter Verletzung der aktienrechtlichen Kompetenzzuweisung – entsprechende Maßnahmen selbst bewilligt. Eine strafbare Untreue wird jedenfalls dann vorliegen, wenn die Sicherheitsmaßnahmen (teilweise) nicht sachlich indiziert oder zu teuer waren. ___________ 221) Hier ist an das Zurverfügungstellen von Dienstfahrzeugen mit oder ohne Fahrer zu denken, ebenso wie an Kommunikationsmittel, um eine jederzeitige Erreichbarkeit des Vorstands zu ermöglichen; vgl. Münch.Hdb.GesR IV/Wentrup, § 21 Rz. 39. 222) Hier ist etwa an Alarmanlagen und Sicherheitsverglasung im Privathaus des Vorstands zu denken. Bei besonderen unternehmensbedingten Bedrohungslagen können sich die Fürsorgeaufwendungen ggfs. auch auf den Schutz der Familie des Vorstands erstrecken. 223) Vgl. dazu BeckOGK-AktG/Fleischer, § 93 Rz. 281 m. w. N.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

11.

Übernahme von Geldstrafen, -bußen, -auflagen

Eine ähnliche Fragestellung betrifft die Übernahme von Geldstrafen, -bußen und 107 -auflagen224) für den Vorstand oder den Aufsichtsrat durch das Unternehmen. Der BGH hat bzgl. der Bezahlung einer Geldstrafe durch das Unternehmen für den Verbandsvorsteher eines Abwasserverbands geurteilt, dass dies als Untreue zu werten sei, wobei er entscheidend darauf abgestellt hat, dass die öffentlichen Mittel des Verbandes nicht für diese Zwecke eingesetzt werden durften.225) Die Übernahme der Gerichts- und Anwaltskosten hat der BGH indes nicht beanstandet, sondern hat deren Übernahme als von der Fürsorgepflicht des Verbands gegenüber dessen Bediensteten gedeckt angesehen.226) In der Privatwirtschaft muss Folgendes gelten: Wenngleich Geldstrafen und 108 Bußgelder ein Fehlverhalten des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats ahnden, kann deren Übernahme im Interesse des Unternehmens liegen, weil so z. B. negative Publizität und Reputationsverluste für das Unternehmen verhindert werden können.227) Ebenso verhält es sich bzgl. der Übernahme von Gerichts- und Anwaltskosten sowie Geldauflagen im Rahmen der Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgesichtspunkten (§ 153a StPO).228) Zuständig für die Frage der Übernahme ist grundsätzlich der Aufsichtsrat, wenn es um eine Geldstrafe, -buße oder -auflage gegen den Vorstand geht; betrifft diese den Aufsichtsrat, bedarf es der Zustimmung der Hauptversammlung, um eine Übernahme durch das Unternehmen zu erklären. Dem Aufsichtsrat steht bzgl. der Frage der Übernahme grundsätzlich ein wei- 109 ter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen er frei entscheiden kann.229) Da die Übernahme von Gerichts- und Anwaltskosten i. d. R. erfolgt, bevor es zu einer strafgerichtlichen Verurteilung kommt und der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat die Kosten bei einer entsprechenden Verurteilung zumeist zurück zu bezahlen hat, liegt die Übernahme dieser Kosten im Interesse des Unterneh-

___________ 224) Vgl. dazu Hoffmann/Wißmann, StV 2001, 249; Ignor/Rixen, wistra 2000, 448; Knapp, NJW 1992, 2796; Poller, StraFo 2005, 274; Spatscheck/Ehnert, StraFo 2005, 265. 225) BGH, Urt. v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, NJW 1991, 990 (991); auch Hadamitzky sieht solche Übernahmen mit Blick auf § 266 StGB krit. Müller-Gugenberger/Hadamitzky, Kap. 32 Rz. 32.141a. 226) BGH, Urt. v. 7.11.1990 – 2 StR 439/90, NJW 1991, 990 (991 f.). 227) A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 238. 228) Für die Übernahme einer Geldauflage gemäß § 153a StPO hat der BFH entschieden, dass es sich dabei um einen geldwerten Vorteil des Arbeitnehmers handelt, der durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst ist, sofern die Übernahme nicht wegen eines ganz überwiegenden Interesses des Arbeitsgebers erfolgt, BFH, Urt. v. 22.7.2008 – VI R 47/06, DStR 2008, 2310. 229) Scharf, MAH-Strafverteidigung, § 43 Rz. 77 f.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

mens, z. B. weil dadurch das Vertrauen aktueller oder potenzieller Kunden bewahrt und die Bindung des Begünstigten an das Unternehmen erfolgen kann.230) 110 Bei der AG gilt es im Zusammenhang mit der Übernahme von Geldstrafen, -bußen oder -auflagen für den Vorstand, zusätzlich § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu berücksichtigen. 111 Der 2. Zivilsenat des BGH hat in einem Grundsatzurteil231) entschieden, dass die Übernahme von Geldstrafen und Geldbußen gegen den Vorstand einer AG in deren Interesse liegen kann, so dass eine Übernahme durch das Unternehmen erfolgen kann. Indes ist zu berücksichtigen, ob die dem Vorstand vorgeworfene Straftat zugleich eine Pflichtverletzung gegenüber der AG bedeutet. Ist dies der Fall, so kann über die Übernahme der Geldstrafe, -buße oder -auflage nicht – wie sonst – der Aufsichtsrat entscheiden, sondern dann bedarf es eines Beschlusses der Hauptversammlung. Denn dann – so führt der BGH aus –, „wenn die Gesellschaft dem Vorstand eine strafrechtliche Sanktion ersetzt, die für eine Handlung verhängt wird, die gleichzeitig gegenüber der Gesellschaft pflichtwidrig ist, fügt sie sich einen Nachteil zu, den nach § 93 AktG eigentlich der Vorstand zu tragen hätte.“232) Weiter erläutert der BGH: „Einen solchen Vermögensnachteil kann der Aufsichtsrat nicht ohne Zustimmung der Hauptversammlung beschließen. Der Aufsichtsrat ist im Gegenteil i. d. R. verpflichtet, Ansprüche wegen einer vom Vorstand begangenen Pflichtverletzung zu verfolgen […], und darf die Gesellschaft nicht noch zusätzlich schädigen […]. Die in der Übernahme der Sanktion liegende Schädigung der Gesellschaft geht über das einem Aufsichtsrat in Ausnahmefällen zum Wohl der Gesellschaft mögliche Absehen von der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen […] hinaus.“ 112 Stellt die dem Vorstand vorgeworfene Straftat nicht zugleich eine Pflichtverletzung gegenüber der AG dar, so kann der Aufsichtsrat über die Übernahme von Geldstrafen, -bußen und -auflagen für den Vorstand entscheiden. Kann die Frage der Pflichtverletzung noch nicht abschließend entschieden werden, so muss der Aufsichtsrat eine vorläufige Entscheidung treffen, z. B. eine Zahlung unter Rückforderungsvorbehalt.233) 113 Praxishinweis: Grundsätzlich ist die Übernahme von Geldstrafen, -bußen oder -auflagen durch die AG für den Vorstand und den Aufsichtsrat zulässig. Indes kommt es für die Frage, wer der Übernahme für den Vorstand zustimmen kann, darauf an, ob die diesem vorgeworfene Straftat zugleich eine Pflichtverletzung gegenüber der AG darstellt. Nur wenn dies nicht der Fall ist, kann der Aufsichtsrat darüber entscheiden. Es empfiehlt sich dann in jedem Fall, schriftlich und möglichst ___________ 230) 231) 232) 233)

A/R/R/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Teil Kap. 2 Rz. 238. BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058 (1059 f.). BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058 (1059). BGH, Urt. v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058 (1060); NK-WSS/Kempf/ Schilling, § 93 AktG Rz. 36.

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A. Untreue (§ 266 StGB)

dezidiert zu dokumentieren, warum der Aufsichtsrat eine Pflichtverletzung zum Nachteil der AG ausschließt und sich in der Lage sieht, der Übernahme zuzustimmen. 12.

Konzernuntreue

Da Vorstand und Aufsichtsrat gegenüber der AG jeweils eine Vermögensbe- 114 treuungspflicht trifft, wird diskutiert, ob im Bereich verbundener Unternehmen die Organe der Konzernmutter auch eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber einer Konzerntochter trifft.234) In der Entscheidung „Bremer Vulkan“ hat der BGH im Zusammenhang mit 115 einem konzernweiten Cash-Management-System klargestellt, dass das herrschende Unternehmen gegenüber dem abhängigen Unternehmen für existenzvernichtende Eingriffe haftet.235) Dies bedeutet, der BGH – hier der 2. Zivilsenat im Rahmen einer Schadensersatzklage – kam zu dem Ergebnis, dass die Organe der Konzernmutter eine Vermögensbetreuungspflicht in dem Sinne treffe, dass sie angemessene Rücksicht auf das Eigeninteresse der abhängigen Gesellschaft an der Aufrechterhaltung ihrer Fähigkeit, Verbindlichkeiten nachzukommen, und deren Existenzinteresse nehmen müsse.236) Ganz ähnlich hatte der 3. Strafsenat des BGH bereits im Jahre 1996 geurteilt.237) Im strafrechtlichen Verfahren „Bremer Vulkan“ wegen Untreue bejahte auch der 5. Strafsenat des BGH eine solche Vermögensbetreuungspflicht, als er ausführte, die Organe der Muttergesellschaft treffe eine Pflicht, die Gesellschaft nicht existenzgefährdend zu beeinträchtigen.238) Anders als der Zivilsenat leitete der Strafsenat diese Pflicht aber nicht aus der Stellung als herrschendes Unternehmen ab, sondern vielmehr direkt aus der die Existenz des abhängigen Unternehmens gefährdenden Handlung.239) Jedoch ließ der Senat offen, ob diese Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Existenz des abhängigen Unternehmens „schon die Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen betrifft oder nicht vielmehr nur die Schranke eigener Dispositionsfreiheit aufzeigt“.240)

___________ 234) Bejahend für den Vorstand: Ransiek, wistra 2005, 121 (123 f.); ders., in: Festschrift Kohlmann, S. 207 (219); krit. Corsten, S. 215 ff.; bejahend für den AR wohl Schneider, in: Festschrift Hadding, S. 621; ablehnend Hoffmann-Becking, ZHR 159 (1995), 325. 235) BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, NJW 2001, 3622 (3623 ff.); Urt. v. 24.6.2002 – II ZR 300/00, NZG 2002, 914 (915 f.). 236) BGH, Urt. v. 17.9.2001 – II ZR 178/99 NJW 2001 3622 (3623); Bestätigung dieser Rspr. durch BGH, Urt. v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, NJW 2007, 2689. 237) BGH, Urt. v. 10.7.1996 – 3 StR 50/96, NJW 1997, 66 (67). 238) BGH, Urt. v. 13.5.2004 – 5 StR 73/03, NStZ 2004, 559 (561). 239) Vgl. diese Gegenüberstellung bei MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 279. 240) BGH, Urt. v. 13.5.2004 – 5 StR 73/03, NStZ 2004, 559 (561).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

116 Wenngleich diese Entscheidungen in der Literatur kontrovers diskutiert wurden,241) hat der BGH diese Einordnung bestätigt.242) Dies bedeutet für den Vorstand einer Konzernmutter, dass er jedenfalls bzgl. der Existenz der Konzerntochter eine Vermögensbetreuungspflicht inne hat, so dass sich ein Untreuestrafbarkeitsrisiko je nach Fallgestaltung nicht nur zu Lasten der eigenen AG, sondern auch zu Lasten der abhängigen Gesellschaft ergeben kann. 117 Je nach Ausgestaltung des Konzerns kann auch die Organe der abhängigen Gesellschaft eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der Konzernmutter treffen, so dass sich auch insofern ein Strafbarkeitsrisiko ergeben kann.243) 118 Praxishinweis: Der Vorstand einer AG, die zu einem Konzernverbund gehört, hat immer im Blick zu behalten, dass seine Entscheidungen nicht isoliert für die Gesellschaft, für die er bestellt ist, Relevanz entfalten, sondern er hat ebenfalls die Stellung als Mutter- oder Tochtergesellschaft zu berücksichtigen. Strafbarkeitsrisiken ergeben sich mit Blick auf die Untreue also nicht nur zu Lasten der „eigenen“ Gesellschaft, sondern ggf. auch zu Lasten der Mutter- oder Tochtergesellschaft. B.

Straftaten in der Unternehmenskrise

119 Befindet sich die AG in einer wirtschaftlichen Krisensituation, sind für Vorstand und Aufsichtsrat eine Reihe strafbewehrter Pflichten zu beachten.244) In erster Linie müssen die Organe der AG dabei die strafbewehrte Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO und die Insolvenztatbestände der §§ 283 ff. StGB berücksichtigen, ebenso die Pflicht zur Einberufung der Hauptversammlung nach § 401 AktG. Soweit die AG ein Emittent im Sinne des WpHG ist, muss in einer Unternehmenskrise darüber hinaus auch die Ad-hoc-Publizität gewahrt sein. Schließlich sind für Geschäftsleiter von Kreditinstituten i. S. v. § 1 Abs. 1 KWG zudem noch die strafbewehrten Regeln des § 54a KWG zu berücksichtigen, wobei die Einzelheiten der Vorschrift nicht zuletzt seit dem am 1.1.2015 in Kraft getretenen Gesetz zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten („SAG“)245) als unübersichtlich und erklärungsbedürftig gelten. 120 Neben den voranstehenden Strafgesetzen ist die Existenzkrise des Unternehmens auch unter einem anderen – praktischen – Gesichtspunkt von hoher strafrechtlicher Relevanz: Scheitern die Rettungsversuche und kommt es zu einer Insolvenz der Gesellschaft, führt dies oftmals zu einer juristischen Aufarbeitung ___________ 241) Zustimmend Fleischer, NJW 2004, 2867; Krause, JR 2006, 51 (53); ablehnend MünchKommStGB/Dierlamm, § 266 Rz. 282. 242) BGH, Beschl. v. 31.7.2009 – 2 StR 95/09, NStZ 2010, 89 (90 f.); vgl. hierzu krit. Leimenstoll, ZIS 2010, 143. 243) Arnold, S. 141; Achenbach/Wannemacher/Seier, Beraterhandbuch, § 21 II Rz. 250; Busch, S. 103; Corsten, S. 227 f. 244) Nach Schätzungen sollen bei 50 bis 80 % aller Unternehmenszusammenbrüche Insolvenzdelikte eine Rolle spielen; NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 4 m. w. N. 245) Sanierungs- und Abwicklungsgesetz vom 10.12.2014, BGBl I, 2091.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise

der Unternehmenskrise. Vielfach erstrecken sich diese Prüfungen nicht nur auf Unternehmenspolitik und Geschäftsentscheidungen, sondern auch auf angebliche oder tatsächliche persönliche Verfehlungen der verantwortlichen Organe. Es kommt zu einem juristischen „Rundumschlag“. Insbesondere bei großen und mitarbeiterstarken Unternehmen (Beispiel Arcandor, Schlecker) lastet im Insolvenzfall ein hoher öffentlicher Druck auf den Staatsanwaltschaften, „einen Schuldigen zu finden“. In Einzelfällen werden Strafverfahren auch durch Insolvenzverwalter oder Unternehmensgläubiger zusätzlich befeuert, die zivilrechtlichen Forderungen gegen die ehemaligen Organe geltend machen und sich von einem Strafverfahren Schützenhilfe bei ihrer Anspruchsverfolgung versprechen. Praxishinweis: Nach einer Insolvenz eines Unternehmens erfolgt standardmäßig 121 eine staatsanwaltschaftliche Prüfung der Akten des Insolvenzverfahrens: Das Insolvenzgericht ist nach Abschnitt IX der „Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen“ (MiZi) verpflichtet, die Staatsanwaltschaft über jede gewerbliche Insolvenz zu informieren. Hierauf zieht die Staatsanwaltschaft die Insolvenzakten bei und prüft, ob sich hieraus Anhaltspunkte für Insolvenzstraftaten ergeben. Nicht selten werden die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch auf andere Delikte ausgeweitet. I.

§ 15a Abs. 4 InsO („Insolvenzverschleppung“)

In der Unternehmenskrise ist die strafbewehrte Insolvenzantragspflicht gemäß 122 § 15a InsO zu beachten, wonach im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder bei Eintritt der Überschuldung ein Eröffnungsantrag gemäß § 13 InsO ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber nach drei Wochen gestellt werden muss (dazu Æ § 12 Rz. 25 f.).246) Ist der Straftatbestand erfüllt, kann dies mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Bei fahrlässigem Handeln droht Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Die Regelung dient dem Gläubigerschutz. Würde in Fällen der Zahlungsunfä- 123 higkeit oder Überschuldung kein Insolvenzantrag gestellt, bestünde anderenfalls die Gefahr, dass die Insolvenzmasse durch Einzelzwangsvollstreckungen zugunsten einzelner, typischerweise besonders gut informierter Gläubiger ausgehöhlt werden könnte.247) Die strafbewehrte Antragspflicht richtet sich vornehmlich an den Vorstand der 124 AG (§ 15a Abs. 1 InsO), nur im Ausnahmefall an den Aufsichtsrat (§ 15a Abs. 3 InsO). Strafbar sind sowohl vorsätzliche (§ 15a Abs. 4 InsO) als auch fahrlässige Verstöße (§ 15a Abs. 5 InsO). Die Unterscheidung zwischen bedingt vorsätzlicher und fahrlässiger Insolvenz- 125 verschleppung kann insbesondere deswegen von besonderer Bedeutung sein, da eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Verstoßes eine auf fünf Jahre ___________ 246) Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 6. 247) Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 1.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

beschränkte Inhabilität für die Tätigkeit als Geschäftsleiter nach sich zieht, vgl. § 76 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3a AktG. 1.

Insolvenzreife der Gesellschaft (Zahlungsunfähigkeit/ Überschuldung)

126 Zahlungsunfähigkeit ist gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO dann gegeben, wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (ausführlich dazu Æ § 12 Rz. 33 ff.). Sie ist in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat (§ 17 Abs. 2 Satz 2 InsO). Üblicherweise wird das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit nach der sog. betriebswirtschaftlichen Methode festgestellt, die eine stichtagbezogene Gegenüberstellung von fälligen Verbindlichkeiten einerseits und den zu deren Tilgung vorhandenen oder kurzfristig zu beschaffenden Zahlungsmitteln andererseits voraussetzt.248) Nicht zur Zahlungsunfähigkeit führen schlichte Zahlungsunwilligkeit249) oder bloß vorübergehende Zahlungsstockungen.250) 127 Von einer Zahlungsstockung kann allenfalls für den Zeitraum ausgegangen werden, den eine kreditwürdige Gesellschaft braucht, um sich die erforderlichen Mittel zu leihen.251) Nach Auffassung des BGH sollen hierfür zwei bis maximal drei Wochen erforderlich sein.252) An anderer Stelle hat der BGH eine einmonatige Illiquidität als „gerade noch erträglich“ angesehen.253) Die wohl herrschende Meinung in der Literatur bejaht die Zahlungsunfähigkeit jedenfalls bei mehr als zweiwöchiger Illiquidität und bei einer Unterdeckung von 5 bis 10 %.254) 128 Praxishinweis: Kann der Schuldner, also die betroffene AG, seine Liquiditätslücke innerhalb der Dreiwochenfrist des § 13 InsO schließen, so liegt keine Zahlungsunfähigkeit vor. Im Falle einer Zahlungsstockung ist nach Ablauf der Dreiwochenfrist ein Liquiditätsplan aufzustellen, aus dem sich die Weiterentwicklung der Liquiditätslücke ergibt. Zeigt sich anhand eines solchen Plans, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % betragen wird, so liegt Zahlungsunfähigkeit vor, mit der Folge, dass für die Gesellschaft ein Insolvenzantrag zu stellen ist.255) ___________ 248) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 38 m. w. N.; zur alternativen Betrachtung anhand wirtschaftskriminalistischer Beweisanzeichen vgl. Fischer, StGB, Vor 283 Rz. 9b. 249) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 35. 250) BGH, Beschl. v. 11.7.2019 – 1 StR 456/18, wistra 2020, 295; Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 9; MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 36. 251) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 36. 252) BGH, Beschl. v. 23.5.2007 – 1 StR 88/07, NStZ 2007, 643, 644; Beschl. v. 10.7.2018 – 1 StR 605/16, NZI 2018, 764; Beschl. v. 11.7.2019 – 1 StR 456/18, wistra 2020, 295 (296). 253) BGH, Urt. v. 27.4.1995 – IX ZR 147/94, NJW 1995, 2103; Urt. v. 26.6.1997 – IX ZR 203/96, NJW 1997, 3175; OLG Köln, Beschl. v. 22.7.2005 – 82 Ss 6/05, NStZ-RR 2005, 378; Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 9a. 254) Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 9a m. w. N. 255) IDW S 11 4.1.1 Rz. 15 ff.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise

Überschuldung liegt gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 InsO vor, wenn das Vermögen der 129 Gesellschaft die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (rechnerische Überschuldung) und die Fortführung des Unternehmens nach den jeweiligen Umständen nicht überwiegend wahrscheinlich (positive Fortführungsprognose) ist (zum Überschuldungsbegriff ausführlich Æ § 12 Rz. 52 ff.).256) Eine Bewertung auf Grundlage von Fortführungswerten ist nach dem geltenden Recht nicht erforderlich,257) eine positive Fortführungsprognose schließt schon jede Überschuldung aus. Eine rechnerische Überschuldung bestimmt sich auf Grundlage eines Über- 130 schuldungsstatus in Form einer Vermögensbilanz, die Auskunft über die tatsächlichen Werte des Gesellschaftsvermögens nach Liquidationswerten gibt und den Passiva gegenüberstellt.258) 

In die Überschuldungsbilanz einzustellen sind:

131



auf der Aktivseite nur solche Vermögenswerte, die zum Ausgleich von Verbindlichkeiten herangezogen oder als Grundlage kurzfristiger Kreditgewährungen dienen könnten;259)



auf der Passivseite nur solche Positionen, die Insolvenzforderungen sein können und deren Geltendmachung zu erwarten ist.260)



Die Überschuldungsbilanz kann eigenen Bewertungs- und Ausweisregeln folgen; sie muss als Sonderbilanz nicht den Ansätzen der Jahresbilanz entsprechen.261) Nach der Rspr. soll eine in der Jahresbilanz ausgewiesene Überschuldung für die Prüfung der Insolvenzreife der Gesellschaft allenfalls indizielle Bedeutung haben.262) Entsprechend der anerkannten betriebswirtschaftlichen Bewertungsverfahren sind die Vermögensteile nach dem Substanzwertoder Ertragswertverfahren in Ansatz zu bringen.263)



Kommen mehrere betriebswirtschaftlich anerkannte Bewertungsmethoden in Betracht, so kann nach den anerkannten strafrechtlichen Grundsätzen

___________ 256) 257) 258) 259) 260)

BeckOK-StGB/Beukelmann, § 283 Rz. 6; MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 45. MünchKommStGB/Petermann, Vor § 283 Rz. 70. NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 94. Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 7d. BGH, Beschl. v. 29.10.2020 – 5 StR 618/19, NStZ 2021, 308; BeckOK-StGB/Beukelmann, § 283 Rz. 9; der 5. Strafsenat brachte nunmehr zum Ausdruck, dass er der zuvor bereits vom 4. (BGH, Urt. v. 22.2.2001 – 4 StR 421/00, NJW 2001, 1874 (1875)) sowie vom 1. Strafsenat (BGH, Beschl. v. 23.5.2007 – 1 StR 88/07, NStZ 2007, 643 (644)) vertretenen Auffassung zuneige, wonach für die Frage der Erwartbarkeit ein ernsthaftes Einfordern der geschuldeten Leistung nicht vorausgesetzt sei. Zur a. A. des 2. Strafsenats vgl. BGH, Beschl. v. 16.5.2017 – 2 StR 169/15, wistra 2017, 495 (498). 261) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 44. 262) BGH, Urt. v. 2.4.2001 – II ZR 261/99, NJW-RR 2001, 1043. 263) BeckOK-StGB/Beukelmann, § 283 Rz. 10 m. w. N.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

(Bestimmtheitsgebot, Grundsatz „in dubio pro reo“) eine Überschuldung nur dann angenommen werden, wenn nach allen einschlägigen Bilanzierungsund Wertansatzmethoden von einer Unterdeckung auszugehen ist.264) 

Für die Fortführungsprognose ist aufgrund einer betriebswirtschaftlichen Prognose für das laufende und nachfolgende Geschäftsjahr zu ermitteln, ob die Finanzkraft des Unternehmens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausreicht, um seine Fortführung zu ermöglichen (going concern-principle).265)

Für die Fortführungsprognose soll eine wertende Betrachtung erfolgen, in deren Rahmen alle Faktoren und Aspekte einzubeziehen sind, die Rückschlüsse auf die zukünftige wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens zulassen.266) Welche genauen inhaltlichen Anforderungen an eine positive Fortführungsprognose zu stellen sind, ist allerdings unklar.267) 132 Praxishinweis: Es empfiehlt sich im Rahmen einer Unternehmenskrise in jedem Fall einen Berater hinzuzuziehen, und zwar sowohl dann, wenn für die Gesellschaft ein Insolvenzantrag zu stellen ist, als auch dann, wenn eine Insolvenz im Zuge einer Restrukturierung (noch) abgewendet werden kann.268) 

2.

Pflicht des Vorstands: § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO

133 Die Pflicht, bei Insolvenzreife der Gesellschaft einen Eröffnungsantrag gemäß § 13 InsO zu stellen, trifft den Vorstand der AG.269) Die Antragspflicht gilt für jedes Mitglied des Vorstands unabhängig von der internen Geschäftsverteilung.270) Ein von einem Vorstandsmitglied gestellter Antrag befreit die anderen Organmitglieder von ihrer Antragspflicht.271) 134 Dagegen wird der Vorstand durch einen von Gläubigerseite gestellten Insolvenzantrag nicht von der eigenen Antragspflicht befreit, da der Drittantrag bis zur Entscheidung des Insolvenzgerichts jederzeit zurückgenommen werden kann.272)

___________ 264) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 48; MünchKommStGB/Petermann, Vor § 283 Rz. 65 m. w. N.; NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 96 m. w. N. 265) NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 94. 266) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 46. 267) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 46. 268) Zu den Anforderungen an eine sog. „Krisen-Due Diligence“ vgl. Lachmann, in: MAH Insolvenz und Sanierung, § 8 Rz. 10 ff. m. w. N. 269) Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 6. 270) Vgl. Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 7. 271) Vgl. Fichtelmann, GmbHR 2008, 76, 79; Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 12. 272) OLG Dresden, Beschl. v. 16.4.1997 – 1 Ws 100/97, GmbHR 1998, 830; Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 12; siehe auch Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 64 Rz. 150, 160, welcher von einem Ruhen der Antragspflicht ausgeht.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise

Eine bereits entstandene gesetzliche Insolvenzantragspflicht des Vorstandsmit- 135 glieds entfällt auch nicht durch Amtsniederlegung oder Abberufung.273) Bei einer Amtsniederlegung während der Dreiwochenfrist muss das ausgeschiedene Organmitglied während der laufenden Frist alles Erforderliche getan haben, um entweder den Insolvenzgrund zu beseitigen oder den Insolvenzantrag vorzubereiten. Teilweise wird sogar eine Pflicht angenommen, weiterhin auf den Nachfolger bzw. die verbleibenden Vorstandsmitglieder mit dem Ziel einer Insolvenzantragsstellung einzuwirken.274) Über die gesetzliche Antragspflicht kann nicht disponiert werden. Die Ge- 136 schäftsleitung kann von ihrer Verpflichtung nicht durch einen Beschluss der Hauptversammlung oder durch einen Beschluss des Aufsichtsrats befreit werden.275) 3.

Pflicht des Aufsichtsrats: § 15a Abs. 3 InsO

Für die Mitglieder des Aufsichtsrats existiert eine Insolvenzantragspflicht gemäß 137 § 15a Abs. 3 Alt. 2 InsO lediglich bei Führungslosigkeit der AG. Die Antragspflicht des Aufsichtsrats ist insofern subsidiär.276) Führungslosigkeit der AG (§ 78 Abs. 1 Satz 2 AktG) ist gegeben, wenn sie 138 keine Vorstandsmitglieder hat.277) Sind Vorstandsmitglieder abgetaucht oder nur unerreichbar, soll dies nicht einen Zustand der Führungslosigkeit begründen.278) Im Fall der Führungslosigkeit ist jedes Mitglied des Aufsichtsrats zur Stellung 139 des Insolvenzantrags verpflichtet. Insofern gelten für den Aufsichtsrat grundsätzlich dieselben Anforderungen wie für die Antragspflicht des Vorstands gemäß § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO (Æ Rz. 133 ff.). Die Mitglieder des Aufsichtsrats können sich gemäß § 15a Abs. 3 InsO entlasten, 140 soweit sie „von der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung oder der Führungslosigkeit keine Kenntnis“ hatten. Dabei ist in Anlehnung an eine ausdrück-

___________ 273) Vgl. BGH, Urt. v. 14.12.1951 – 2 StR 368/51, BGHSt 2, 53 (54) = NJW 1952, 554; Fichtelmann, GmbHR 2008, 76 (79); Fleck, GmbHR 1974, 224 (229); Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 12. 274) Vgl. BGH, Urt. v. 14.12.1951 – 2 StR 368/51, BGHSt 2, 53 (54) = NJW 1952, 554; Uhlenbruck, GmbHR 1972, 170 (172); ders./Hirte, InsO, § 15a Rz. 12. 275) Vgl. BGH, Urt. v. 18.3.1974 – II ZR 2/72, NJW 1974, 1088; Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 12. 276) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 72. 277) Hüffer/Koch, § 78 Rz. 4a. 278) Vgl. Hüffer/Koch, § 78 Rz. 4a; Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 62; a. A. Passarge, GmbHR 2010, 295 (297 ff.).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

liche Aussage des Regierungsentwurfs des MoMiG anerkannt,279) dass es ausreicht, wenn dem Aufsichtsratsmitglied nur ein Umstand – Führungslosigkeit oder Überschuldung – nicht bekannt ist.280) 141 Eine Kenntnis hinsichtlich entweder der Führungslosigkeit oder der Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung kann jedoch eine Nachforschungspflicht bzgl. des jeweils anderen Merkmals auslösen.281) 4.

Antragsfrist

142 Der Eröffnungsantrag muss ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber vor Ablauf der Höchstfrist von drei Wochen ab Eintritt der Insolvenzreife gestellt werden.282) Maßgeblich für den Beginn der Frist zur Antragsstellung ist der objektive Eintritt des Insolvenzgrundes.283) 143 Mit der Dreiwochenfrist soll der Unternehmensleitung eine Möglichkeit zu Rettungs- und Sanierungsversuchen eingeräumt werden.284) Innerhalb der Dreiwochenfrist können die antragspflichtigen Personen prüfen und entscheiden, ob andere Maßnahmen zur Bewältigung der Unternehmenskrise bestehen, die weniger schwer wiegen als ein Eröffnungsantrag.285) Hierdurch wird die Pflicht zur unverzüglichen Antragsstellung aber nicht vollständig aufgehoben. Beispiel: 144 Erkennt der Vorstand das Scheitern der letzten Rettungsversuche schon zu einem früheren Zeitpunkt (etwa zwei Wochen nach Insolvenzreife) muss der Insolvenzantrag schon dann – unverzüglich – gestellt werden. 145 Die antragspflichtigen Personen haben insofern einen gewissen Ermessensspielraum,286) wann sie den Eröffnungsantrag stellen. Sinnvolle und erfolgversprechende kurzfristige Sanierungsbemühungen rechtfertigen ein Zuwarten,287) die ___________ 279) BT-Drucks. 16/6140, S. 55. Dort heißt es dort zu § 15a Abs. 3 InsO: „Die Antragspflicht des Gesellschafters entfällt, wenn der Gesellschafter nur eines der beiden Elemente – entweder den Insolvenzgrund oder die Führungslosigkeit – nicht kennt.“ 280) Berger, ZInsO 2009, 1977 (1985 f.); Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 63. 281) BT-Drucks. 16/6140, S. 55: „Hat der Gesellschafter oder das Aufsichtsratsmitglied Kenntnis vom Insolvenzgrund, so ist dies für ihn freilich Anlass nachzuforschen, warum der Geschäftsführer keinen Insolvenzantrag stellt. Der Gesellschafter wird dann meist die Führungslosigkeit erkennen. Umgekehrt hat der Gesellschafter, der die Führungslosigkeit kennt, Anlass nachzuforschen, wie es um die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft steht.“ 282) Zu den Besonderheiten im Rahmen der Covid-19-Pandemie, vgl. Einleitung zu BeckOKInsO/Wolfer, § 15a InsO; BeckOK-InsO/Wolfer, § 1 COVInsAG Rz. 1 ff. 283) Vgl. BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, NZG 2012, 672; Hüffer/Koch, § 92 Rz. 22; Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 14. 284) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 104. 285) Vgl. auch MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 84. 286) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 83. 287) MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 83.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise

bloße Hoffnung auf Besserung nicht. Die gesamte Dreiwochenfrist darf nur in Ausnahmefällen – nämlich beim Vorliegen triftiger Gründe – ausgeschöpft werden.288) Bei Führungslosigkeit der Gesellschaft wird die Antragsfrist für die subsidiär 146 antragspflichtigen Aufsichtsratsmitglieder mit dem (objektiven) Eintritt der Führungslosigkeit der Gesellschaft in Gang gesetzt.289) 5.

Tathandlung: Unterlassene, unrichtige oder verspätete Antragsstellung

Die Antragspflicht von Vorstand (Æ Rz. 133 ff.) und Aufsichtsrat (Æ Rz. 137 ff.) 147 ist gemäß § 15a Abs. 4 InsO strafbewehrt, soweit der Antrag nicht, nicht richtig oder nicht rechtzeitig gestellt wird. Während unterlassene und verspätete (Antragsfrist Æ Rz. 142 f.) Antragsstel- 148 lungen weitgehend selbsterklärend sind, ist ein Insolvenzantrag grundsätzlich dann richtig, soweit er insolvenzrechtlich zulässig ist.290) Konkret wird zur Richtigkeit291) darauf abgestellt, ob alle gesetzlich verpflichtenden Vorgaben enthalten sind,292) respektive ob der Antrag das Gericht in die Lage versetzt, Maßnahmen zugunsten der Massesicherung zu ergreifen.293) Kehrseitig ist ein Antrag unrichtig, wenn durch fehlerhafte Angaben die ordnungsgemäße Prüfung des Insolvenzantrags durch das Insolvenzgericht wesentlich erschwert wird.294) II.

Bankrott (§§ 283, 283a StGB)

Bei drohender bzw. eingetretener Zahlungsunfähigkeit oder bestehender 149 Überschuldung ist der Straftatbestand des Bankrotts (§ 283 Abs. 1 StGB) zu beachten. In diesen Fällen werden dem Schuldner eine Reihe bestimmter Bankrotthandlungen untersagt, um die ökonomischen Interessen der Gläubigerschaft in der Krise zu schützen.295) Strafbar sollen die in Rede stehenden Handlungen allerdings nur sein, falls es 150 tatsächlich (ggf. auch später) zu einer Einstellung der Zahlungen oder einer Insolvenz kommt. Weil im Zeitpunkt einer Unternehmenskrise naturgemäß nicht vorhersehbar ist, ob Rettungsmaßnahmen erfolgreich sind oder nicht, sollte das Verbot von Bankrotthandlungen aber in jedem Fall und unbedingt beachtet werden. Die Hoffnung durch bestimmte Bankrotthandlungen eine bestehende Un___________ 288) 289) 290) 291) 292) 293)

MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 84. MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 82. Vgl. Schmahl, NZI 2008, 6, 9. Zum Ganzen Uhlenbruck/Hirte, InsO, § 15a Rz. 64 m. w. N. Marotzke, DB 2012, 560 (565 ff.). Vgl. dazu MünchKommStGB/Hohmann, § 15a InsO Rz. 87; Graf/Jäger/Wittig/Reinhart, § 15a InsO Rz. 124 ff. 294) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 106. 295) Habetha, NZG 2012, 1134 (1135).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

ternehmenskrise abzuwenden, läuft auf eine (gefährliche) „Wette mit der Strafbarkeit“ hinaus. Ist der Straftatbestand erfüllt, kann dies mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden, in besonders schweren Fällen droht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Bei fahrlässigem Handeln droht Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. Auch der Versuch ist strafbar (§ 283 Abs. 3 StGB). 151 Die Bankrottdelikte (§§ 283 ff. StGB) dienen primär dem Schutz der etwaigen Insolvenzmasse vor unwirtschaftlicher Verringerung, Verheimlichung und ungerechter Verteilung zum Nachteil der Gesamtgläubigerschaft.296) In gewissem Maße sollen daneben auch die Arbeitnehmer (§ 283a Nr. 2 StGB) und überindividuelle Interessen, etwa das gesamtwirtschaftliche System,297) geschützt werden. 152 Die Straftaten nach §§ 283 bis 283c StGB sind echte Sonderdelikte.298) Täter kann nur der Schuldner sein.299) Über § 14 StGB wird auch der Vorstand erfasst (Æ § 20 Rz. 11).300) Strafbar sind sowohl vorsätzliche als auch fahrlässige Verstöße (§ 283 Abs. 4 und 5 StGB). 1.

Überschuldung oder (drohende) Zahlungsunfähigkeit

153 Zentrale Voraussetzung für eine Bankrottstrafbarkeit ist gemäß § 283 Abs. 1 StGB das Vorliegen von Überschuldung oder eine drohende bzw. eingetretene Zahlungsunfähigkeit. 154 Nach der Rspr. des BGH ist die Auslegung streng zivilrechtsakzessorisch an den Legaldefinitionen der §§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 2 und 19 Abs. 2 InsO zu orientieren.301) Mit Blick auf das Merkmal der drohenden Zahlungsunfähigkeit i. S. v. § 18 Abs. 2 InsO entspricht eine zivilrechtsakzessorische Auslegung auch dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen.302) 

Zahlungsunfähigkeit: Gesellschaft ist nicht in der Lage, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (Æ § 12 Rz. 33 ff.).

___________ 296) BGH, Urt. v. 1.3.1956 – 4 StR 193/55, BGHSt 9, 84 (86); Urt. v. 4.4.1979 – 3 StR 488/78, BGHSt 28, 371 (373); Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 3. 297) Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 3. 298) Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 18. 299) Vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.2018 – 1 StR 423/17, BeckRS 2018, 6358; Beck/Depré/Pelz, Praxis der Insolvenz, § 37 Rz. 56. 300) Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 23; zur Erstreckung der Strafbarkeit auf leitende Angestellte, Buchhalter und Steuerberater vgl. Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 24 und 25. 301) Vgl. BGH, Urt. v. 22.2.2001 – 4 StR 421/00, NJW 2001, 1874 (1875); Beschl. v. 23.5.2007 – 1 StR 88/07, NStZ 2007, 643 (644) m. zust. Bespr. Natale/Bader, wistra 2008, 413 ff.; a. A. vgl. Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, § 283 Rz. 50a m. w. N. (funktionale Akzessorietät, die ausgehend von den zivilrechtlichen Definitionen strafrechtliche Spezifika berücksichtigt); zum Streitstand Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 6 m. w. N. 302) Vgl. BT-Drucks. 12/2443, S. 114. Siehe hierzu auch Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, § 283 Rz. 50a; Uhlenbruck, wistra 1996, 1, 2.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise



Überschuldung: Vermögen der Gesellschaft deckt die bestehenden Verbindlichkeiten nicht und fehlende Fortführungsprognose (Æ § 12 Rz. 52 ff.).



Drohende Zahlungsunfähigkeit: Gesellschaft wird voraussichtlich – d. h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit –303) nicht in der Lage sein, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen (§ 18 Abs. 2 InsO). Die Betrachtung ist auf den letzten Fälligkeitszeitpunkt aller Verbindlichkeiten zu erstrecken, wobei die gesamte Entwicklung der Finanzlage – Entwicklung der Verbindlichkeiten, Kreditmöglichkeiten, Bestehen freier Mittel, Auftragsentwicklung – in den Blick zu nehmen ist.304)

2.

Bankrotthandlungen

Während der Krise (also nach Eintritt von Überschuldung oder Zahlungsun- 155 fähigkeit) ist eine ganze Reihe sog. Bankrotthandlungen untersagt, die an dieser Stelle nicht in voller Breite erörtert werden können. Im Wesentlichen lässt sich zwischen bestandsbezogenen und informationsbezogenen Bankrotthandlungen unterscheiden. Allen Bankrotthandlungen ist dabei gemein, dass ein Verhalten beschrieben wird, das generell dazu geeignet ist, eine Krisensituation des Schuldners hervorzurufen oder zu verschärfen.305) Informationsbezogene Bankrotthandlungen erfolgen typischerweise, um die 156 Krise zu verschleiern und so – etwa unter Vorlage manipulierter Unterlagen oder Bilanzen – von Kreditgebern zusätzliche Liquidität zu erhalten oder bei Lieferanten Zahlungsstundungen zu erreichen.306) Als solche Bankrotthandlungen gelten im Einzelnen: 

Verletzung der Buchführungspflicht (Abs. 1 Nr. 5),



Unterdrückung von Handelsbüchern oder aufzubewahrender Unterlagen (Abs. 1 Nr. 6) und



Verletzung der Bilanzierungs- und Inventarisierungspflicht (Abs. 1, Nr. 7).

Dagegen richten sich die bestandsbezogenen Bankrotthandlungen insbeson- 157 dere auf die zur Verfügung stehenden Vermögenswerte und den Vermögensstand, der im Gläubigerinteresse geschützt werden soll. Als entsprechende Bankrotthandlungen gelten: 

Unterdrücken von Vermögen (Abs. 1 Nr. 1),



unwirtschaftliche Geschäfte und Ausgaben (Abs. 1 Nr. 2),



Schleuderverkauf (Abs. 1 Nr. 3),

___________ 303) 304) 305) 306)

BT-Drucks. 12/2443, S. 115; BeckOK StGB/Beukelmann, § 283 Rz. 28. Fischer, StGB, Vor § 283 Rz. 11 m. w. N. MünchKommStGB/Petermann, § 283 Rz. 11. Vgl. auch Park/Wagner, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 283 StGB Rz. 19.

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§ 21 Relevante Straftatbestände



Vortäuschen oder Anerkennen erdichteter Rechte (Abs. 1 Nr. 4) und



sonstige Bankrotthandlungen (Abs. 1 Nr. 8).

158 Ergänzend gilt hinsichtlich der bestandsbezogenen Bankrotthandlungen, dass diese nach § 283 StGB nur dann untersagt sind, soweit sie gegen die „Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft“ verstoßen.307) Ab wann ein „Wirtschaften“ als nicht mehr ordnungsgemäß zu gelten hat, wird in der Rechtspraxis von Fall zu Fall entschieden und ist weder in Literatur noch Rspr. hinreichend geklärt.308) Evident ist die Wirtschaftswidrigkeit bei Maßnahmen, die auf die Begünstigung des Schuldners selbst, etwaiger von ihm gegründeter oder ihm gehörender Gesellschaften oder naher Familienangehöriger gerichtet sind.309) 159 Darüber hinaus wird nach § 283 Abs. 2 StGB auch derjenige bestraft, der durch eine der vorgenannten Bankrotthandlungen erst eine Unternehmenskrise (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) kausal hervorruft. Die praktische Relevanz dieser Fallgruppe ist allerdings sehr gering.310) 3.

Objektive Bedingung der Strafbarkeit

160 Weitere Voraussetzung für eine Strafbarkeit ist, dass der Schuldner – gleichgültig ob diesen hieran ein Verschulden trifft – 

entweder seine Zahlungen eingestellt hat oder



über das Vermögen des Schuldners das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist oder



der Eröffnungsantrag mangels Masse abgewiesen worden ist.

161 Dieses Kriterium stellt sich als objektive Bedingung der Strafbarkeit dar, so dass sich der Vorsatz nicht hierauf erstrecken muss. Rechtlich missbilligt sind Bankrotthandlungen im Angesicht der wirtschaftlichen Krise; die Zahlungseinstellung usw. begründet lediglich noch die Strafbarkeit.311) III.

Pflicht zur Einberufung der Hauptversammlung bei Verlust des überwiegenden Grundkapitals (§ 401 AktG)

162 In gewissen unternehmerischen Krisensituationen trifft den Vorstand – neben gegebenenfalls bestehenden kapitalmarktrechtlichen Informationspflichten (zur Ad-hoc Publizität Æ § 10 Rz. 4 ff.) – eine besondere Informationspflicht ___________ 307) NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 60 ff.; Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, § 283 Rz. 4. 308) Graf/Jäger/Wittig/Reinhart, § 283 StGB Rz. 24 m. w. N.; NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 64. 309) NK-StGB/Kindhäuser, Vor § 283 Rz. 66 m. w. N. 310) Park/Wagner, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 283 StGB Rz. 23. 311) Vgl. Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, § 283 Rz. 59.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise

gegenüber der Hauptversammlung: Der Vorstand der AG muss bei Eintritt eines Verlustes in Höhe der Hälfte des Grundkapitals die gemäß § 401 Abs. 1 AktG strafbewehrte Einberufungs- und Verlustanzeigepflicht gegenüber der Hauptversammlung nach § 92 Abs. 1 AktG beachten. Eine Verletzung dieser Pflicht kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden. Bei Fahrlässigkeit kommt Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe in Betracht. Die Verlustanzeigepflicht dient dem Schutz der Vermögensinteressen der Ge- 163 sellschaft und der Aktionäre,312) indem die Information der Hauptversammlung über eine krisenhafte Zuspitzung und die Herstellung der Handlungsfähigkeit der Aktionäre sichergestellt werden soll.313) Die strafbewehrte Verlustanzeigepflicht richtet sich ausschließlich an Mitglieder 164 des Vorstands der AG, sie ist insofern ein echtes Sonderdelikt. Strafbar sind sowohl vorsätzliche als auch fahrlässige Verstöße (§ 401 Abs. 2 AktG). 1.

Anzeigepflichtiger Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals

Ein anzeigepflichtiger Verlust liegt vor, wenn das Gesellschaftsvermögen nur 165 noch die Hälfte des Nennkapitals deckt, womit gleichbedeutend ist, dass der Verlust dem gesamten offen ausgewiesenen Eigenkapital gegenüberzustellen ist.314) Die Verlustanzeigepflicht ist nicht auf die Erstellung der Jahres- oder Zwischen- 166 bilanz beschränkt, sondern gilt auch bei anderen Anlässen und Gegebenheiten.315) Unterjährig muss der Vorstand die Eigenkapitalentwicklung aufmerksam verfolgen und laufend überwachen und bei Besorgnis eines entsprechenden Verlustes eine Zwischenbilanz erstellen.316) Ein anzeigepflichtiger Verlust kann sich auch schlicht anhand der Geschäftsunterlagen oder aus sonstigen Anzeichen erschließen.317) Eine Anzeigepflicht entsteht, sobald der Vorstand nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu dem Befund kommt, dass die Hälfte des Grundkapitals verloren ist. Dabei besteht eine Anzeigepflicht nicht nur bei einem einmaligen hohen Verlust, sondern auch bei fortschreitenden und sich kumulierenden Verlusten.318) ___________ 312) MünchKommStGB/Weiß, § 401 AktG Rz. 1. 313) Graf/Jäger/Wittig/Temming, § 401 AktG Rz. 2. 314) Hüffer/Koch, § 92 Rz. 2; Müller, ZGR 1985, 191; Graf/Jäger/Wittig/Temming, § 401 AktG Rz. 5; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 7 m. w. N. 315) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 93 m. w. N. 316) Henssler/Strohn/Dauner-Lieb, § 92 AktG Rz. 4; Hölters/Müller-Michaels, § 92 Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 12; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 9 m. w. N. 317) BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 401 Rz. 24; MünchKommStGB/Weiß, § 401 AktG Rz. 15 m. w. N. 318) Hüffer/Koch, § 92 Rz. 2; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 7 m. w. N.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

167 Ein anzeigepflichtiger Verlust muss nach pflichtgemäßem Ermessen anzunehmen sein.319) Maßgeblich ist der Sorgfaltsmaßstab eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters.320) Für die Verlustfeststellung gelten, was Ansatz und Bewertung betrifft, grundsätzlich dieselben Regeln wie für die Jahresbilanz, mithin Stichtags-, Realisations- und Imparitätsprinzip.321) Insofern setzen sich bestimmte Ermessensspielräume (etwa bei der Wahl von Bewertungsmethode und -maßstab) auch hier fort. Indes dürfen für die Verlustfeststellung nicht andere Maßstäbe genutzt werden als bei Ansatz und Bewertung in der Jahresbilanz.322) Eine autonome Methodenwahl nur für die Verlustfeststellung ist unzulässig. 2.

Vorstand als Adressat der Einberufungs- und Verlustanzeigepflicht

168 Die Einberufungs- und Verlustanzeigepflicht richtet sich an den Vorstand als Gesamtorgan, da das einzelne Vorstandsmitglied keine rechtliche Möglichkeit hat, die Hauptversammlung allein einzuberufen.323) 169 Aufgabe jedes einzelnen Vorstandsmitglieds ist es, sich bei Vorliegen eines anzeigepflichtigen Verlustes um die Einberufung der Hauptversammlung zu bemühen und auf seine Vorstandskollegen diesbezüglich einzuwirken.324) Lehnt der Gesamtvorstand die Einberufung der Hauptversammlung ab, ist jedes einzelne Vorstandsmitglied verpflichtet, den Aufsichtsrat zu kontaktieren sowie darauf zu drängen, dass dieser auf den Vorstand einwirkt (§ 111 Abs. 1 AktG) und notfalls gemäß § 111 Abs. 3 AktG im Interesse des Wohls der Gesellschaft eine Hauptversammlung einberuft.325) 170 Erkennt der Vorstand einen Verlust in der entsprechenden Größenordnung, steht ihm bei Einberufung der Hauptversammlung eine angemessene Überlegungsfrist zu. Die Hauptversammlung ist aber so zu terminieren, dass keine unnötige Verzögerung eintritt.326) Die Verlustanzeige ist auf der Tagesordnung unmissverständlich aufzuführen.327)

___________ 319) 320) 321) 322) 323) 324) 325) 326) 327)

Hüffer/Koch, § 92 Rz. 3; MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 15. Hölters/Müller-Michaels, § 401 Rz. 15. Hüffer/Koch, § 92 Rz. 3; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 8. KK-AktG/Mertens/Cahn § 92 Rz. 13. Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 90; Heidel/Oltmanns, § 92 Rz. 5; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 15. Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 90 m. w. N. Graf/Jäger/Wittig/Temming, § 401 AktG Rz. 8; Heidel/Oltmanns, § 92 Rz. 5; MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 17; BeckOGK-AktG/Fleischer, § 92 Rz. 15. Graf/Jäger/Wittig/Temming, § 401 AktG Rz. 8; MünchKommAktG/Spindler, § 92 Rz. 15. Graf/Jäger/Wittig/Temming, § 401 AktG Rz. 9; Hüffer/Koch, § 92 Rz. 5.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise

Verkennt der Vorstand die Größenordnung des Verlustes, weil er nicht die ge- 171 botene Sorgfalt an den Tag legt und seinen Ermessensspielraum nicht pflichtgemäß ausübt, so kommt Fahrlässigkeit in Betracht.328) IV.

Bestandsgefährdende Verstöße gegen bankrechtliche Sorgfaltsund Organisationspflichten (§ 54a KWG)

Genau genommen zur Prävention von Unternehmenskrisen sieht das Kredit- 172 wesengesetz (KWG) für die Geschäftsleiter von Kreditinstituten verschiedene Sorgfalts- und Organisationspflichten vor (Æ § 11 Rz. 8). Eine korrespondierende Strafvorschrift bildet § 54a Abs. 1 KWG, wonach Verstöße gegen bestimmte Sorgfalts- und Organisationspflichten nach § 25c Abs. 4a oder 4b KWG,329) durch die eine Bestandsgefährdung des Instituts, des übergeordneten Unternehmens oder eines gruppenangehörigen Instituts herbeigeführt wird, sanktioniert werden. Ist der Straftatbestand erfüllt, kann dies mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden, in besonders schweren Fällen droht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Bei fahrlässigem Handeln droht Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. Die Regelung soll neben der Sicherung der anvertrauten Vermögenswerte und 173 der ordnungsgemäßen Durchführung der Bankgeschäfte und Finanzdienstleistungen auch dem Schutz der Stabilität des Finanzsystems und der Vermeidung von Nachteilen für die Gesamtwirtschaft durch Missstände im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen dienen.330) Die Regelung adressiert ausschließlich Geschäftsleiter von Kreditinstituten 174 und ist insofern ein echtes Sonderdelikt.331) Geschäftsleiter i. S. d. KWG sind gemäß § 1 Abs. 2 KWG diejenigen natürlichen Personen, die nach Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Führung der Geschäfte und zur Vertretung eines Instituts in der Rechtsform einer juristischen Person oder einer Personenhandelsgesellschaft berufen sind. Dies wird bei als AG strukturierten Instituten regelmäßig den Vorstand erfassen,332) kann jedoch in Ausnahmefällen auch den Aufsichtsrat einbeziehen. Strafbar sind sowohl vorsätzliche als auch fahrlässige Verstöße (Vorsatz-/Fahrlässigkeitskombination, § 54a Abs. 2 KWG).333) ___________ 328) 329) 330) 331)

MünchKommStGB/Weiß, § 401 AktG Rz. 25. Vgl. im Einzelnen Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Braun, § 25c KWG Rz. 70 ff. BT-Drucks. 17/12601, 50; Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Lindemann, § 54a KWG Rz. 2. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Lindemann, § 54a KWG Rz. 4; MünchKommStGB/Reichling, § 54a KWG Rz. 7. 332) Zu den Auswirkungen organinterner Kompetenzverteilung vgl. MünchKommStGB/ Reichling, § 54a KWG Rz. 8. 333) MünchKommStGB/Reichling, § 54a KWG Rz. 22 f.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

1.

Geschäftsleiterpflicht zu ordnungsgemäßer Geschäftsorganisation

175 Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 54a Abs. 1 KWG ist ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten des § 25c Abs. 4a und 4b KWG. Die dortige Geschäftsleiterpflicht gemäß § 25c Abs. 4a KWG konkretisiert und spezifiziert die bankinstitutsspezifische Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation gemäß § 25a KWG (dazu Æ § 11 Rz. 8 f.). 2.

Bestandsgefährdung

176 Weitere Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 54a Abs. 1 KWG ist der Eintritt einer Bestandsgefährdung, die durch einen Verstoß gegen die vorgenannten Sorgfaltspflichten verursacht wurde. Sorgfaltspflicht- oder Organisationspflichtverstöße müssen also zu einem „Taterfolg“ geführt haben, um die Straffolge des § 54a KWG auszulösen. Beispiel: 177 Bleibt ein Verstoß „folgenlos“ und wird abgestellt, ohne dass es zu einer Bestandsgefährdung des Instituts kommt, ist die Strafvorschrift nicht einschlägig. 178 Der Begriff der Bestandsgefährdung ist in § 54a KWG nicht definiert. Eine Definition des Begriffes der „Bestandsgefährdung“ bei Kreditinstituten findet sich indes in § 63 Abs. 1 SAG (Gesetz zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten).334) Die aktuelle Literatur zur Auslegung der Bestandsgefährdung i. S. d. § 54a KWG stellt – soweit ersichtlich – auf diese Definition des § 63 SAG ab.335) 179 Grob gesehen kommt die Bestandsgefährdung nach § 63 SAG in Betracht, wenn 

das Institut die mit einer Erlaubnis nach § 32 KWG verbundenen Anforderungen in einer bestimmten Weise nicht erfüllt (§ 63 Abs. 1 Nr. 1);



eine gewisse finanzielle Liquidität im Institut nicht mehr gewährleistet ist (§ 63 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 SAG);



dem Institut eine außerordentliche finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Mitteln gewährt wird (§ 63 Abs. 2 SAG).

180 Ob im Rahmen des Straftatbestandes des § 54a KWG eine Anlehnung an die Definition des § 63 Abs. 1 SAG unter Berücksichtigung der Relativität und Unschärfe der in Bezug genommenen Rechtsbegriffe richtig ist, kann bezweifelt werden: Wenig bedenklich scheinen § 63 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 SAG, die auf eine finanzielle Risikolage des Instituts abstellen und insoweit eine inhaltliche Nähe zum Begriff der Bestandsgefährdung aufweisen. ___________ 

334) Vgl. BRRD-Umsetzungsgesetz vom 10.12.2014, BGBl I, 2091. 335) Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Lindemann, § 54a KWG Rz. 9; NK-WSS/Pananis, § 54a KWG Rz. 23.

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B. Straftaten in der Unternehmenskrise



Anderes gilt indes für § 63 Abs. 1 Nr. 1 SAG, wonach eine Bestandsgefährdung des Instituts vorliegen soll, wenn das Institut gegen die mit einer Erlaubnis nach § 32 KWG verbundenen Anforderungen in einer Weise verstößt, die die Aufhebung der Erlaubnis durch die Aufsichtsbehörde rechtfertigen würde oder objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies in naher Zukunft bevorsteht. Eine solche Aufhebung richtet sich nach § 35 KWG sowie § 33 KWG (vgl. § 35 Abs. 2 Nr. 3 KWG).



Durch den impliziten Verweis auf die §§ 32, 33, 35 KWG – und deren Anwendungsbereich – entfernt sich die Definition nach Nr. 1 deutlich vom Begriff einer materiellen Bestandsgefährdung. Es kann deshalb bezweifelt werden, ob die entsprechende Regelung geeignet ist, die Tatbestandsmerkmale des § 54a KWG in ausreichender Bestimmtheit auszufüllen.

Insofern spricht einiges für eine (partielle) strafrechtsspezifische Auslegung 181 der Bestandsgefährdung i. S. d. § 54a KWG, wobei freilich auf Elemente aus § 63 Abs. 1 SAG zurückgegriffen werden kann. Dabei ist auch zu bedenken, dass der Begriff der Bestandsgefährdung vormals 182 in § 48b KWG als „Gefahr eines insolvenzbedingten Zusammenbruchs des Instituts“ legaldefiniert war.336) Soweit in § 48b KWG hierzu verschiedene Vermutungsregelungen – Unterschreitung der Vorgaben zum harten Kernkapital um 10 %, Unterschreitung der Vorgaben zu den verfügbaren Eigenmitteln um 10 %, Unterschreitung der vorzuhaltenden Zahlungsmittel um 10 % – formuliert wurden, sollten diese nach dem damaligen Meinungsstand für den Straftatbestand des § 54a KWG keine Rolle spielen.337) 3.

Verstoß gegen vorherige Anordnung der BaFin

Weitere Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 54a Abs. 3 KWG ist schließ- 183 lich, dass die BaFin zuvor eine Beseitigung der Verstöße gegen § 25c Abs. 4 und 4a KWG angeordnet hat, diese nicht befolgt wurde und hierdurch die Bestandsgefährdung ausgelöst wurde. Obgleich die Gesetzesformulierung einen Strafausschließungsgrund nahelegt, soll es sich hierbei tatsächlich auch um ein Tatbestandsmerkmal handeln.338) Damit wird die Systematik des § 54a KWG an ihre Grenzen geführt: Denn Fälle, 184 in denen die Geschäftsleitung fahrlässig gegen eine vorherige ausdrückliche Anordnung der BaFin verstößt, sind schwerlich vorstellbar, wodurch § 54a Abs. 2 KWG praktisch der Anwendungsbereich entzogen ist. Im Übrigen stellt sich – ___________ 336) § 48b KWG eingeführt mit Wirkung vom 1.1.2011 durch Gesetz vom 9.12.2010 (BGBl I, 1900); aufgehoben mit Wirkung vom 1.1.2015 durch Gesetz vom 10.12.2014 (BGBl I, 2091). 337) MünchKommStGB/Reichling, § 54a KWG Rz. 17. 338) MünchKommStGB/Reichling, § 54a KWG Rz. 13; NK-WSS/Pananis, § 54a KWG Rz. 17.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

spätestens seit der durch die SSM-VO339) aufgeteilten Bankenaufsicht der EZB mit Blick auf bedeutende CRR-Kreditinstitute und der BaFin für die verbleibenden Institute – auch noch die Frage, inwiefern Anordnungen der EZB dem Wortlaut des § 54a Abs. 3 KWG unterfallen, umgekehrt aber die BaFin bei allen bedeutenden Kreditinstituten unter Umständen überhaupt nicht mehr zuständig ist.340) C.

Bilanzdelikte

185 Bei der Rechnungslegung der AG sind Vorstand und Aufsichtsrat ebenfalls einer ganzen Reihe strafbewehrter Pflichten auferlegt. Mit Blick auf die AG besteht dabei ein zweispuriges Schutzkonzept: Vorstand und (teilweise) Aufsichtsrat dürfen die Lage der Gesellschaft nicht falsch darstellen und müssen – zugleich – den Prüfern zutreffende und vollständige Angaben zur Erfüllung von deren Prüfaufträgen machen. 186 Die Rechnungslegungsdelikte der §§ 331 ff. HGB stellen im weitesten Sinne eine unrichtige Darstellung der Vermögensverhältnisse von Gesellschaft/Unternehmen insbesondere im Jahresabschluss unter Strafe. Im Einzelnen beziehen sich die Rechnungslegungsdelikte vor allem auf Bilanzfälschungen und -verfälschungen, Bilanzverschleierungen, Geschäftslagetäuschungen sowie den sog. „Bilanzeid“. 187 Daneben sind die Falschangabedelikte der §§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB, 400 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AktG im Zusammenhang mit der Rechnungslegung der AG zu beachten, die unrichtige Angaben gegenüber dem Abschlussprüfer oder dem Sonderprüfer unter Strafe stellen. 188 Keine Bilanzdelikte im eigentlichen Sinne, aber im Zusammenhang mit der Rechnungslegung der AG zu beachten, sind schließlich noch die bilanzgestützte Marktmanipulation (Æ Rz. 302 ff.), sofern die AG ein Emittent im Sinne des WpHG ist, und die bilanz- und inventarbezogenen Insolvenzdelikte (§§ 283b, 283 Abs. 1 Nrn. 5 bis 7 StGB, Æ Rz. 149 ff.), wenn es zu einer unternehmerischen Krise kommt. I.

Rechnungslegungsdelikte (§ 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB)

189 Die für die Rechnungslegungsdelikte zentralen Tatbestände des § 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB richten sich im weitesten Sinne gegen die unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung der Verhältnisse der Gesellschaft bei der Rechnungslegung und erstrecken sich auf: 

Eröffnungsbilanz,

___________ 339) SSM-VO (EU) Nr. 1024/2013. 340) Vgl. Boos/Fischer/Schulte-Mattler/Lindemann, § 54a KWG Rz. 21.

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C. Bilanzdelikte



Jahresabschluss,



Lagebericht,



Zwischenabschluss gemäß § 340a Abs. 3 HGB,



Konzernabschluss,



Konzernlagebericht,



Konzernzwischenabschluss gemäß § 340i Abs. 4 HGB,



befreienden Konzernabschluss oder Konzernlagebericht und



befreienden IFRS-Einzelabschluss im Bundesanzeiger.

Ist eine der Tatbestandsvarianten341) des § 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB erfüllt, 190 droht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Eine Versuchsstrafbarkeit besteht nicht, allerdings ist in § 331 Abs. 2 HGB auch die leichtfertige Tatbegehung nach § 331 Abs. 1 Nr. 1a und 3 HGB mit einem herabgesetzten Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe strafbewehrt. Leichtfertigkeit bezeichnet eine erhöhte Form der Fahrlässigkeit (grob achtloses Handeln und Nichtbeachten dessen, was sich nach den eigenen Erkenntnissen und Fähigkeiten aufdrängen muss).342) Die Vorschriften dienen dem Schutz des Vertrauens in die Vollständigkeit und 191 Richtigkeit der Informationen über die Verhältnisse der Gesellschaft bzw. des Konzerns.343) Geschützt werden sollen all jene Gesellschaften und Personen, die mit der Gesellschaft oder dem Konzern in irgendeiner wirtschaftlichen/rechtlichen Beziehung stehen oder eine solche Beziehung anbahnen wollen (Stakeholder: Arbeitnehmer, Gesellschafter, Kreditgeber und Gläubiger).344) Dem Täterkreis des § 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB unterfallen sowohl die Mit- 192 glieder des Vorstands (Nrn. 1, 1a, 2 und 3) wie auch die Mitglieder des Aufsichtsrats (Nrn. 1 und 2). Auch faktische Organmitglieder (Æ § 20 Rz. 10 ff.) werden von § 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB erfasst.345) Die § 331 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 HGB stellen mithin echte Sonderdelikte dar. Personen, die weder unter rechtlichen noch faktischen Gesichtspunkten als vom 193 jeweiligen Tatbestand erfasste Organmitglieder gelten, kommen damit selbst dann nicht als Täter in Betracht, wenn sie an der Aufstellung von Berichtsinstrumen___________ 341) MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 2. 342) BGH, Urt. v. 13.4.1960 – 2 StR 593/59, BGHSt 14, 240 (255); Urt. v. 9.11.1984 – 2 StR 257/84, BGHSt 33, 66; Fischer, StGB, § 15 Rz. 35. 343) Vgl. BGH, Beschl. v. 16.5.2017 – 1 StR 306/16, NZWiSt 2018, 106 (110); Graf/Jäger/ Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 8; MünchKommHGB/Klinger, § 331 HGB Rz. 1; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 311 HGB Rz. 7. 344) BGH, Urt. v. 17.7.1996 – 5 StR 121/96, wistra 1996, 348; MünchKommHGB/Klinger, § 331 HGB Rz. 2; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 3. 345) Vgl. Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 17; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 311 HGB Rz. 32; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 24.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

ten mitgewirkt haben oder rechtsgeschäftlich mit der Erstellung beauftragt wurden.346) 194 Für Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat gilt, dass eine Enthaftung der Organmitglieder durch Delegation nicht möglich ist.347) Auch interne Kompetenzregelungen und Ressortaufteilungen innerhalb von Vorstand und Aufsichtsrat sollen grundsätzlich unbeachtlich sein.348) 1.

Unrichtige Wiedergabe/Verschleierung in der Kapitalgesellschaft (§ 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB)

195 Die Tatbestandsvariante des § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB bezieht sich auf die Rechnungslegung der Kapitalgesellschaft in 

Eröffnungsbilanz (§ 242 Abs. 1 Satz 1 HGB),



Jahresabschluss (§ 242 Abs. 3 HGB),



Lagebericht (§ 264 HGB)



gesondertem nichtfinanziellen Bericht (§ 289b HGB) oder



Zwischenabschluss (§ 340a Abs. 3 HGB).

196 Ob daneben auch Angaben im Anhang (§§ 284 bis 288 HGB) von der Tatbestandsvariante erfasst werden, ist streitig. In der strafrechtlichen Literatur wird eine Erstreckung des Tatbestandes auf den Anhang überwiegend bejaht,349) wobei zum Teil eine Beschränkung auf solche Angaben, die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Klarheit der Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) betreffen, vorgenommen wird.350) 197 Als Tathandlungen erfasst § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB die unrichtige Wiedergabe und das Verschleiern der Verhältnisse der Kapitalgesellschaft durch Mitglieder des Vorstands (als vertretungsberechtigtes Organ) oder des Aufsichtsrats einer Kapitalgesellschaft. 198 Unter unrichtigen Angaben sind solche Darstellungen zu verstehen, die den objektiven Gegebenheiten nicht entsprechen, wobei dies auch durch pflichtwidriges Verschweigen von Umständen geschehen kann.351) Darstellungen sind nicht nur Tatsachen, sondern auch Schlussfolgerungen aufgrund von Tatsa___________ 346) MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 15; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 311 HGB Rz. 34. 347) Vgl. MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 15; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 311 HGB Rz. 34. 348) MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 29; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 29. 349) Vgl. Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 18a; Spatscheck/Wulf, DStR 2003, 173 (174) jeweils m. w. N. 350) Vgl. MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 60; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 44. 351) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 21; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 42, 45.

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C. Bilanzdelikte

chen, wie insbesondere Bewertungen, aber auch Schätzungen, Prognosen und Beurteilungen.352) Unerheblich ist, ob durch die unrichtige Wiedergabe die Verhältnisse der Gesellschaft zu günstig oder zu ungünstig dargestellt werden.353) Beispiele: Einstellen fiktiver Erträge in den Jahresabschluss, Ansatz fiktiver Aktiva, Unter- 199 lassen des Ansetzens von Passiva, Umsatzmanipulation durch Abbildung fingierter Umsätze, Bewertungsmanipulation durch willkürliche Überbewertung von Aktiva, Unterbewertung von Passiva, falsche Bewertung von Außenständen.354) Ein Verschleiern ist gegeben, wenn die Verhältnisse zwar richtig dargestellt 200 werden, einzelne Tatsachen und/oder Prognosen aber so undeutlich oder schwer erkennbar sind, dass für den sachverständigen Leser der Bilanz der tatsächliche Sachverhalt gleichsam nur schwer oder überhaupt nicht erkennbar ist und so die Gefahr einer Falschinterpretation besteht.355) Verhältnisse der Kapitalgesellschaft sind sämtliche Tatsachen, Umstände, 201 Vorgänge, Daten und selbst Schlussfolgerungen jeder Art, die für die Beurteilung der gegenwärtigen und zukünftigen Situation der Kapitalgesellschaft von Bedeutung sein können.356) Einschränkend gilt,357) dass „Verhältnisse“ aber nur solche Umstände sind, die einen wirtschaftlichen Bezug zur Gesellschaft haben und so für die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation relevant sind.358) Schließlich sollen der Tatbestandsvariante des § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB nach 202 einhelliger Meinung nur erhebliche Verletzungen von Rechnungslegungsvorschriften unterfallen.359) Dies ergibt sich aus der Abgrenzung zu § 334 Abs. 1 Nr. 1 lit. a bis d HGB. Die Grenze zur Strafbarkeit ist hiernach erst dann überschritten, wenn die Verletzung der Rechnungslegungsvorschrift zur Unwahrheit oder zur Unklarheit der Eröffnungsbilanz, des Jahresabschlusses, des Lagebe-

___________ 352) BGH, Beschl. v. 16.5.2017 – 1 StR 306/16, NZWiSt 2018, 106 (109); MünchKommHGB/ Klinger, § 331 Rz. 42. 353) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 21. 354) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 57 m. w. N.; MünchKommStGB/ Leplow, § 331 HGB Rz. 43 m. w. N. 355) Vgl. RG, Urt. v. 11.10.1888 – 1742/88, RGSt 18, 332; Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 23; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 48; MünchKommStGB/ Leplow, § 331 HGB Rz. 63. 356) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 19; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 50. 357) Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.8.2006 – 2 BvR 822/06, NJW-RR 2006, 1627. 358) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 19; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 50. 359) Vgl. Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 22; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 52 f.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

richts oder des Zwischenabschlusses führt, d. h. deren jeweilige Aussagekraft beeinträchtigt.360) 2.

Unrichtige Wiedergabe/Verschleierung im Konzern (§ 331 Abs. 1 Nr. 2 HGB)

203 Die Tatbestandsvariante des § 331 Abs. 1 Nr. 2 HGB bezieht sich auf die Rechnungslegung des Konzerns im 

Konzernabschluss,



Konzernlagebericht,



gesonderten nichtfinanziellen Konzernbericht oder



Konzernzwischenabschluss nach § 340i Abs. 4 HGB.

204 Auch beim Konzernabschluss soll der Konzernanhang dem Anwendungsbereich des Straftatbestands unterfallen.361) 205 Als Tathandlungen erfasst § 331 Abs. 1 Nr. 2 HGB die unrichtige Wiedergabe und das Verschleiern der Verhältnisse des Konzerns durch Mitglieder des Vorstands (als vertretungsberechtigtes Organ) oder Mitglieder des Aufsichtsrats. 206 Inhaltlich entsprechen die in Rede stehenden Tathandlungen denen der unrichtigen Darstellung in § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB (Æ Rz. 197 ff.). Der Tatbestand unterscheidet sich von § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB ausschließlich darin, dass der Bezugspunkt der unrichtigen Angabe oder Verschleierung362) die Verhältnisse des Konzerns sind. 3.

Offenlegung eines unrichtigen Konzernabschlusses oder Konzernlageberichts (§ 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB)

207 Die Tatbestandsvariante des § 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB trifft eine ergänzende Sonderregelung für den Konzern zur Offenlegung eines befreienden Konzernabschlusses oder Konzernlageberichts.363) 208 Die Möglichkeit eines befreienden Konzernabschlusses ist in §§ 291, 292 HGB vorgesehen. Hiernach müssen Mutterunternehmen (niederer Ordnung), die ihrerseits Tochterunternehmen eines anderen Mutterunternehmens (höherer Ordnung) sind, keinen eigenen Konzernabschluss oder Konzernlagebericht aufstellen, wenn ein befreiender (§ 291 Abs. 2 HGB) Konzernabschluss und Konzern___________ 360) Vgl. BGH, Urt. v. 8.12.1981 – 1 StR 706/81, BGHSt 30, 285 (287) = NJW 1982, 775; MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 53. 361) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 61. 362) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 45. 363) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 62.

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C. Bilanzdelikte

lagebericht des Mutterunternehmens (höherer Ordnung) einschließlich Bestätigungs- oder Versagungsvermerks in deutscher Sprache offengelegt wird.364) Als Tathandlungen erfasst § 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB die Offenlegung eines Kon- 209 zernabschlusses oder Konzernlageberichts durch Mitglieder des Vorstands der AG: Beim Offenlegungstatbestand des § 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB kommen als Täter – 210 anders als bei Nr. 1 und Nr. 2 – nur die Mitglieder des Vorstands der AG (als deren vertretungsberechtigtes Organ) in Betracht. Der Aufsichtsrat ist vom Tatbestand nicht umfasst. Auch fällt im Gegensatz zu § 331 Abs. 1 Nr. 2 HGB der Konzernzwischenabschluss nicht unter den Offenlegungstatbestand des § 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB.365) Offenlegung ist die Einreichung der Unterlagen beim Betreiber des elektroni- 211 schen Bundesanzeigers und deren Bekanntmachung (§ 325 Abs. 3 HGB).366) Die Offenlegung kann sowohl durch das befreite Tochterunternehmen als auch durch dessen Mutterunternehmen (höherer Stufe) erfolgen.367) Als Täter kommen – je nachdem welche Gesellschaft die Offenlegung vornimmt – sowohl die Mitglieder des vertretungsberechtigten Organs des befreiten Tochterunternehmens wie auch die des Mutterunternehmens (höherer Ordnung) in Betracht.368) Inwieweit in einem Konzernabschluss die Verhältnisse des Konzerns unrichtig 212 wiedergegeben oder verschleiert sind, ist wie bei der unrichtigen Darstellung gemäß § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB zu beurteilen (Æ Rz. 197 ff.). 4.

Offenlegung eines unrichtigen befreienden Einzelabschlusses (§ 331 Abs. 1 Nr. 1a HGB)

Die Tatbestandsvariante des § 331 Abs. 1 Nr. 1a HGB umfasst eine weitere Son- 213 derregelung für große Kapitalgesellschaften i. S. v. § 267 Abs. 3 HGB und bezieht sich auf die Offenlegung eines befreienden Einzelabschlusses.369) Die Möglichkeit eines befreienden Einzelabschlusses für große Kapitalgesell- 214 schaften ist in § 325 Abs. 2a und 2b HGB vorgesehen. Hiernach befreit ein nach anerkannten internationalen Rechnungslegungsstandards (§ 315 Abs. 1 HGB) ___________ 364) Weil in diesen Fällen das Mutterunternehmen niederer Ordnung an der Aufstellung des konsolidierten Abschlusses nicht beteiligt ist und deshalb keine Anknüpfungspunkte für eine unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung in Betracht kommen, knüpft der Gesetzgeber hier an die Offenlegung einer fehlerhaften Konzernrechnungslegung an; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 100. 365) Vgl. auch MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 101. 366) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 37; vgl. auch MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 63. 367) MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 102. 368) MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 36. 369) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 30.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

aufgestellter Einzelabschluss bei entsprechender Offenlegung (§§ 325 Abs. 2b, 328 HGB) große Kapitalgesellschaften von deren Verpflichtung zur Veröffentlichung des HGB-Jahresabschlusses. 215 Als Tathandlung erfasst § 331 Abs. 1 Nr. 1a HGB die Offenlegung eines befreienden Einzelabschlusses durch Mitglieder des Vorstands der AG. 216 In dieser Tatbestandsvariante richtet sich der Straftatbestand ausschließlich an die Mitglieder des vertretungsberechtigten Organs einer großen Kapitalgesellschaft, die anstelle eines Jahresabschlusses nach § 242 HGB einen Einzelabschluss nach § 315a HGB offenlegt.370) Bei der AG kommt als Täter der Tatbestandsvariante damit nur der Vorstand der AG in Betracht. 217 Wie bei § 331 Abs. 1 Nr. 3 HGB ist das Offenlegen die Einreichung der Unterlagen beim Betreiber des elektronischen Bundesanzeigers und deren Bekanntmachung (§ 325 Abs. 3 HGB) (Æ Rz. 211). 218 Inwieweit in einem befreienden Einzelabschluss die Verhältnisse der Kapitalgesellschaft unrichtig wiedergegeben oder verschleiert sind, beantwortet sich dem Grunde nach wie schon bei der unrichtigen Darstellung gemäß § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB (Æ Rz. 197 ff.). 219 Allerdings gilt es im Rahmen der Tatbestandsvariante des § 331 Abs. 1 Nr. 1a HGB bei Ausfüllung dieser Begrifflichkeiten zu berücksichtigen, dass Maßstab für eine unrichtige Wiedergabe oder eine Verschleierung hier die Regelungen von IAS/IFRS als die maßgeblichen internationalen Rechnungslegungsstandards sind.371) Bei der strafrechtlichen Bewertung muss das in den internationalen Rechnungslegungsstandards vorgesehene Wesentlichkeits- bzw. Erheblichkeitserfordernis372) nachvollzogen werden:373) Ein Abschluss ist nicht IFRS-konform, wenn er entweder wesentliche Fehler oder absichtlich herbeigeführte unwesentliche Fehler enthält, um eine bestimmte Darstellung der Vermögens-, Finanzoder Ertragslage oder Cashflows des Unternehmens zu erreichen. Wesentlich ist ein Fehler, wenn seine Auswirkungen geeignet sind, eine auf Basis des Abschlusses getroffene wirtschaftliche Entscheidung des Adressaten zu beeinflussen. Somit ist der Tatbestand nicht erfüllt, wenn ein (objektiver) Fehler unterhalb der erforderlichen Wesentlichkeitsschwelle zu verorten ist und nicht absichtlich herbeigeführt wurde.374) ___________ 370) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 32. 371) MünchKommHGB/Klinger, § 331 Rz. 61; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 71 f.; MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 60. 372) Mit ausdrücklich dieser Formulierung MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 74; ähnlich MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 60, bei dem von einem „Evidenzund Wesentlichkeitsgebot“ die Rede ist. 373) Ausführlich MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 71 f. 374) MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 75.

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II.

Unrichtige Versicherung (§ 331a HGB)

Durch das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz375) (FISG) wurden die vormals 220 in § 331 Nr. 3a HGB a. F. verankerten Tatbestandsvarianten in einen eigenen Tatbestand der „unrichtige[n] Versicherung“ überführt: § 331a HGB.376) Diese Vorschrift befasst sich nunmehr mit der Abgabe eines „Bilanzeides“,377) den die gesetzlichen Vertreter kapitalmarktorientierter Gesellschaften (Inlandsemittenten i. S. v. § 2 Abs. 7 WpHG) hinsichtlich 

Jahresabschluss (§ 264 Abs. 2 Satz 3 HGB auch i. V. m. § 325 Abs. 2a Satz 3 HGB),



Lagebericht (§ 289 Abs. 1 Satz 5 HGB auch i. V. m. § 325 Abs. 2a Satz 4 HGB),



Konzernabschluss (§ 297 Abs. 2 Satz 4 HGB auch i. V. m. § 315e Abs. 1 HGB) und



Konzernlagebericht (§ 315 Abs. 1 Satz 5 HGB auch i. V. m. § 315e Abs. 1 HGB).

leisten müssen. Mit dem Bilanzeid wird dabei versichert, dass die Rechnungslegung nach bestem Wissen ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermittelt. Die Verweise auf die §§ 325 Abs. 2 Satz 3 und 4; 315e Abs. 1 HGB wurden durch das FISG eingeführt und dienen der Klarstellung, dass auch eine Versicherung, die sich auf einen nach den internationalen Rechnungslegungsvorschriften (International Accounting Standards – IAS; International Financial Reporting Standards – IFRS) aufgestellten Einzelabschluss oder auf den zugehörigen Lagebericht respektive auf einen nach IAS bzw. IFRS aufgestellten Konzernabschluss oder auf den zugehörigen Konzernlagebericht bezieht, den Straftatbestand der unrichtigen Versicherung erfüllen kann.378) Ist eine der Tatbestandsvarianten des § 331a Abs. 1 HGB erfüllt, droht eine – 221 durch das FISG im Vergleich zu § 331 Nr. 3a HGB a. F. angehobene – Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. In § 331a Abs. 2 HGB ist die leichtfertige Tatbestandsverwirklichung nach § 331a Abs. 1 HGB mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bewehrt. Eine Versuchsstrafbarkeit besteht nicht. Als Tathandlung(en) erfasst § 331a Abs. 1 HGB die Abgabe einer unrichti- 222 gen Versicherung zu Jahresabschluss, Lagebericht, Konzernabschluss oder Konzernlagebericht. Dagegen ist das Unterlassen der vorgeschriebenen Versiche___________ 375) 376) 377) 378)

BGBl I 2021, 1534. Vgl. BT-Drucks. 19/26966, S. 105. Beck’scher Bilanz-Kommentar-Grottel/H. Hoffmann, § 331 Rz. 34. BT-Drucks. 19/26966, S. 105.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

rung nicht strafbar,379) wie auch in der Gesetzesbegründung des FISG jüngst ausdrücklich klargestellt wurde.380) 223 Der für die Tatbestandsvariante in Betracht kommende Täterkreis ergibt sich aus den in Bezug genommenen Vorschriften des HGB. Hiernach besteht eine Gesamtverantwortung der gesetzlichen Vertreter. Bei der AG unterfällt damit grundsätzlich jedes Mitglied des Vorstands unabhängig von der Ressortverteilung dem Tatbestand.381) In der Erstreckung des Täterkreises auf den gesamten Vorstand der Gesellschaft liegt ein wesentlicher Unterschied zum US-amerikanischen Recht (Sarbanes-Oxley-Act 2002); dort muss die Versicherung alleinig von CEO und CFO abgegeben werden.382) III.

Unrichtige Angaben gegenüber Prüfern (§§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB, 400 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AktG)

224 Ebenfalls im Zusammenhang mit der Rechnungslegung stehen die Straftatbestände gemäß §§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB, 400 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AktG, die sich mit Falschangaben gegenüber Prüfern befassen. 225 Die beiden Tatbestände dienen ebenfalls dem Schutz des Vertrauens in die Vollständigkeit und Richtigkeit der Informationen über die Verhältnisse der Gesellschaft bzw. des Konzerns.383) Ganz konkret sollen die Vorschriften vor „gefährlichen Falschinformationen gegenüber Abschlussprüfern“384) schützen. Geschützt ist die Richtigkeit, Vollständigkeit und Klarheit von tatsächlich dem Abschlussprüfer gegebenen Aufklärungen und vorgelegten Nachweisen.385) Sie ergänzen insofern die Rechnungslegungsdelikte und bilden so ein zweispuriges Schutzkonzept durch das sichergestellt wird, dass zum einen die Lage der Gesellschaft bei der Bilanzierung richtig dargestellt wird und zum anderen die jeweiligen Prüfer ihrem Auftrag ordnungsgemäß nachkommen können. 1.

Unrichtige Darstellung gegenüber Abschlussprüfer (§ 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB)

226 Der Straftatbestand des § 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB nimmt Bezug auf Aufklärungen oder Nachweise, die nach § 320 HGB einem Abschlussprüfer der Kapitalgesellschaft, eines verbundenen Unternehmens oder des Konzerns zu geben ___________ 379) 380) 381) 382)

Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 68. Vgl. BT-Drucks. 19/26966, S. 105. MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 38. Vgl. Beck’scher Bilanz-Kommentar-Grottel/H. Hoffmann, § 331 Rz. 34 m. w. N.; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 39 m. w. N. 383) Vgl. MünchKommHGB/Klinger, § 331 HGB Rz. 1; Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 8; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 311 HGB Rz. 7. 384) Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 100. 385) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 100.

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C. Bilanzdelikte

sind. Verboten wird, dass dabei unrichtige Angaben gemacht werden oder hierin die Verhältnisse der Kapitalgesellschaft, eines Tochterunternehmens oder des Konzerns unrichtig wiedergegeben oder verschleiert werden. Eine Verletzung der entsprechenden Pflichten kann mit Freiheitsstrafe bis zu 227 drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Der Versuch ist nicht strafbar; auch fahrlässige Verstöße sind vom Tatbestand nicht erfasst. Bei der AG richtet sich der Straftatbestand an die Mitglieder des Vorstands 228 (als Mitglieder des vertretungsberechtigten Organs) sowie an die Mitglieder des vertretungsberechtigten Organs oder die vertretungsberechtigten Gesellschafter etwaiger Tochterunternehmen. Es handelt sich insofern um ein echtes Sonderdelikt. Vom Tatbestand erfasst ist die unrichtige Darstellung gegenüber dem Ab- 229 schlussprüfer (Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer).386) Tatbestandsrelevant sind nur die Pflichtprüfungen nach § 316 HGB, während Angaben gegenüber dem Gründungsprüfer oder dem Sonderprüfer dem Tatbestand nicht unterfallen.387) Auch Angaben gegenüber Prüfungsgehilfen des Abschlussprüfers unterfallen 230 dem Tatbestand,388) sofern sie sich sachlich auf den Prüfungsauftrag des Abschlussprüfers beziehen und für ihn bestimmt sind.389) Unklar ist, ob Angaben, die gegenüber einem Prüfgehilfen gemacht werden, zur Tatbestandsverwirklichung auch tatsächlich dem Prüfer zur Kenntnis gelangen müssen.390) Tathandlung für die unrichtige Darstellung nach § 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB ist 

das Machen unrichtiger Angaben oder



die unrichtige Wiedergabe oder die Verschleierung der Verhältnisse der Gesellschaft, eines Tochterunternehmens oder des Konzerns

231

in Aufklärungen oder Nachweisen.391) Zur unrichtigen Wiedergabe oder Verschleierung der Verhältnisse von Ge- 232 sellschaft/Tochterunternehmen/Konzern kann auf die Erläuterungen zu § 331 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 HGB verwiesen werden (Æ Rz. 197 ff.). ___________ 386) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 104; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 104. 387) MünchKomm StGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 121; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 331 HGB Rz. 71; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 103; MünchKommBilanzR/ Waßmer, § 331 HGB Rz. 100. 388) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 79; MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 104; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 331 HGB Rz. 71; Park/Eidam, NKKapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 104. 389) MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 121. 390) Wohl i. d. S. MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 121. 391) NK-WSS/Knierim/Kessler, § 331 HGB Rz. 69.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

233 Soweit als zusätzliche Tathandlung darüber hinaus das Machen unrichtiger (sonstiger) Angaben in Betracht kommt, gilt: Angaben können mündlich, schriftlich oder konkludent erklärt werden. Bezugspunkt sind grundsätzlich Tatsachen; in Betracht kommen aber auch Bewertungen, Schätzungen, Erwartungen, Prognosen oder Folgerungen,392) diese allerdings richtigerweise nur insoweit, wie sie auf tatsächlichen Grundlagen aufbauen.393) Unrichtig ist die Angabe, wenn sie nicht mit der wirklichen Sachlage übereinstimmt. 234 Aufklärungen sind Erklärungen jeder Art, die inhaltlich für die Prüfung relevant sind und der Erklärung oder Vermeidung von Zweifeln, Unklarheiten oder Widersprüchen dienen.394) Sie können mündlich oder schriftlich erteilt werden.395) 235 Nachweise sind Belege, Unterlagen (Handelsbücher, Inventurlisten, Schriften, Urkunden, Datenträger) oder andere Gegenstände, die für die Prüfung von Bedeutung sind.396) 236 Richtigerweise sind vom Tatbestand indes nur solche Aufklärungen und Nachweise erfasst, auf die sich auch das Auskunftsrecht des Abschlussprüfers bezieht,397) auf die der Prüfer also einen Anspruch hat und die er auch verlangt hat.398) Konsequenterweise muss damit auch gefordert werden, dass die entsprechenden Informationen (Angaben und Nachweise) zur Erfüllung des gesetzlichen Auskunftsrechts gewährt wurden.399) 237 Dagegen vom Tatbestand nicht erfasst sind Erklärungen, die erst nach der Abschlussprüfung abgegeben werden.400) Ebenfalls nicht vom Tatbestand erfasst ist die offene Verweigerung von Angaben. Einerseits liefe dies dem Wortlaut der Vorschrift zuwider, andererseits sieht § 335 HGB für diesen Fall die

___________ 392) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 105; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 118. 393) Vgl. KK-AktG/Altenhain, § 399 Rz. 49; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 7; Park, BB 2001, 2069 (2070) mit Blick auf §§ 88 BörsG a. F.; Sorgenfrei, wistra 2002, 321 (323) mit Blick auf § 20a Abs. 1 Satz 1 Var. 1 WphG a. F.; vgl. auch Kiethe, JZ 2005, 1034 (1037) mit Blick auf § 17 UWG. 394) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 102; NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 8; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 102. 395) MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 117. 396) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 102; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 117; NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 8; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 102. 397) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 102; MünchKommHGB/Klinger, § 331 HGB Rz. 83. 398) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 102 m. w. N. 399) NK-WSS/Knierim/Kessler, § 331 HGB Rz. 69. 400) MünchKommBilanzR/Waßmer, § 331 HGB Rz. 102.

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C. Bilanzdelikte

Möglichkeit der Androhung und Festsetzung von Zwangsgeld vor.401) Dies gilt nicht für die (verdeckte) Unvollständigkeit von Informationen; diese werden regelmäßig zur Unrichtigkeit der mitgeteilten Angaben führen.402) 2.

Unrichtige Darstellung gegenüber Prüfern (§ 400 Abs. 1 Nr. 2 AktG)

Speziell für die AG ist mit § 400 Abs. 1 Nr. 2 AktG ein ergänzender – subsidi- 238 ärer403) – Straftatbestand für den Umgang mit Prüfern normiert. Der Tatbestand nimmt Bezug auf Aufklärungen oder Nachweise, die nach den 239 Vorschriften des Aktiengesetzes einem Prüfer der Gesellschaft oder eines verbundenen Unternehmens zu geben sind, und verbietet, dass dabei unrichtige Angaben gemacht werden oder die Verhältnisse der Gesellschaft unrichtig wiedergegeben oder verschleiert werden. Eine Verletzung der entsprechenden Pflichten kann mit Freiheitsstrafe bis zu 240 drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden. Der Versuch ist nicht strafbar; auch fahrlässige Verstöße sind vom Tatbestand nicht erfasst. Bei der AG richtet sich der Straftatbestand an die Mitglieder des Vorstands 241 und des Aufsichtsrats und ist insofern ein echtes Sonderdelikt.404) Nach dem Wortlaut des Straftatbestands ist die unrichtige Darstellung gegen- 242 über Prüfern erfasst. In erster Linie ist damit der Sonderprüfer (§§ 142 ff., 258 ff., 315 AktG) gemeint. Umstritten ist, ob sich der Tatbestand auch auf Vertragsprüfer (§ 293b AktG), Eingliederungsprüfer (§ 320 Abs. 3 AktG) und Barabfindungsprüfer (§ 327c Abs. 2 Satz 2 AktG) erstreckt.405) Die unrichtige Darstellung gegenüber Abschluss- und Konzernabschlussprüfern unterfällt nunmehr allein § 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB.406) In jedem Fall geht der Straftatbestand aber nur so weit, wie auch das jeweilige 243 Auskunftsrecht des Prüfers gegenüber Vorstand und Aufsichtsrat besteht: 

Gegenüber dem Sonderprüfer sind Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat auskunftsverpflichtet, §§ 145 Abs. 2, 258 Abs. 5 Satz 1 AktG.

___________ 401) Graf/Jäger/Wittig/Olbermann, § 331 HGB Rz. 103; MünchKommStGB/Leplow, § 331 HGB Rz. 119; NK-WSS/Knierim/Kessler, § 331 HGB Rz. 72; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 331 HGB Rz. 101. 402) Vgl. NK-WSS/Knierim/Kessler, § 331 HGB Rz. 72. 403) Die Norm gilt nur, soweit die Tat nicht in § 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB mit Strafe bedroht ist. Es muss also ein Fall vorliegen, der nicht dem Falschangabetatbestand nach § 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB unterfällt; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 1; NK-WSS/Krause/ Twele, § 400 AktG Rz. 15. 404) NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 6. 405) Dagegen Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 32; dafür Spindler/ Stilz/Hefendehl, § 400 Rz. 145 ff.; MünchKommStGB/Weiß, § 400 AktG Rz. 52. 406) BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 400 Rz. 149 f.; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 60; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 32.

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§ 21 Relevante Straftatbestände



Gegenüber dem Abschlussprüfer sind nur Mitglieder des Vorstands auskunftsverpflichtet, § 313 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 320 Abs. 2 Satz 1 HGB, die Mitglieder des Aufsichtsrats dagegen nicht. Dasselbe gilt für die Vertragsprüfung nach § 293b AktG, für die Eingliederungsprüfung nach § 320 Abs. 3 AktG und die Barabfindungsprüfung nach § 327c Abs. 2 Satz 2 AktG.407) Falsche Auskünfte durch den Aufsichtsrat unterfallen somit keinesfalls dem Tatbestand.408)

244 Zu den Tathandlungen (Machen falscher Angaben, unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung der Verhältnisse der Gesellschaft in Aufklärungen und Nachweisen) kann auf die Erläuterungen zu § 331 Abs. 1 Nr. 4 HGB verwiesen werden (Æ Rz. 226 ff.). Auch hier gilt, dass das Verweigern von Angaben nicht dem Tatbestand unterfällt,409) während ebenso Angaben gegenüber Prüfungsgehilfen dem Tatbestand unterfallen.410) D.

Falschangabedelikte

245 Über die Vorgaben zur Rechnungslegung hinaus findet sich eine Vielzahl strafrechtlicher Regelungen, die Falschangaben in gesellschaftsrechtlich relevanten Erklärungen verbieten. Die zentralen Vorgaben beziehen sich auf die Gründung und Kapitalerhöhung (§ 399 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 AktG), auf Angaben gegenüber dem Registergericht (§ 399 Abs. 1 Nr. 3, 5, 6, Abs. 2 AktG) sowie auf Angaben bei der Umwandlung (§ 313 UmwG). Weitergehend sind Falschinformationen über die Unternehmensverhältnisse recht umfassend verboten (§ 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG). I.

§ 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG (Unrichtige Wiedergabe von Gesellschaftsverhältnissen)

246 Für die AG ist bei sämtlichen Mitteilungen über die Unternehmensverhältnisse stets § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG zu beachten, der deren unrichtige Wiedergabe oder Verschleierung untersagt. Ist der Straftatbestand erfüllt, kann dies mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden. Der Versuch oder eine nur fahrlässige Begehung sind nicht mit Strafe bewehrt. 247 Die Regelung schützt das Vertrauen derer, die mit der Gesellschaft in geschäftlicher Beziehung stehen, oder treten wollen in die Richtigkeit und Vollständigkeit bestimmter Angaben über die Geschäftsverhältnisse der Gesellschaft.411) ___________ 407) 408) 409) 410) 411)

MünchKommStGB/Kiethe, 2. Aufl. 2015, § 400 AktG Rz. 56. So auch MünchKommStGB/Kiethe, 2. Aufl. 2015, § 400 AktG Rz. 67. BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 400 Rz. 158. Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 32. Vgl. NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 1.

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D. Falschangabedelikte

Dem Täterkreis des § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG unterfallen sowohl die Mitglieder 248 des Vorstands wie auch die des Aufsichtsrats, die Regelung stellt sich somit als echtes Sonderdelikt dar. Auch faktische Organmitglieder (Æ § 20 Rz. 10 ff.) sollen dem Tatbestand unterfallen.412) Tathandlung ist die unrichtige Wiedergabe oder das Verschleiern der Ver- 249 hältnisse der Gesellschaft. Inhaltlich stimmen diese Tatbestandsmerkmale mit dem Begriffsverständnis i. S. v. § 399 AktG überein (Æ Rz. 260 ff.).413) Die Regelung des § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG ist – anders als die handelsgesetzli- 250 chen Bilanzdelikte – nicht auf publizitätspflichtige Übersichten wie Jahresabschlüsse, Lageberichte o. Ä. begrenzt, sondern erstreckt ihren Schutzbereich auch auf nicht-publizitätspflichtige Darstellungen und Übersichten über den Vermögensstand.414) Ebenfalls vom Tatbestand umfasst sind Vorträge und Auskünfte in der Hauptversammlung sowie Angaben im Vergütungsbericht nach § 162 Abs. 1 und 2 AktG. Darstellungen über den Vermögensstand sind alle Arten von Schilderun- 251 gen in Berichtsform, die so umfassend sind, dass sie ein Gesamtbild über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens ermöglichen und den Eindruck der Vollständigkeit erwecken.415) Vom Tatbestand erfasst sind etwa Zwischenberichte an die Aktionäre oder an die Öffentlichkeit,416) Quartalsberichterstattungen,417) Prospekte und Zwischenberichte,418) Ad-hoc-Mitteilungen (Fall EM.TV)419) sowie anderweitige Vermögensaufstellungen oder Geschäftsberichte.420) Die Darstellungen können mündlich, schriftlich oder im Wege von Ton- und Bildaufzeichnungen vorgenommen werden,421) so dass letztlich jede sonstige schriftliche oder mündliche Erklärung von Mitgliedern des Aufsichtsrats oder Vorstands unter den Tatbestand fallen kann. Erfasst ___________ 

412) BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 400 Rz. 28; Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 400 AktG Rz. 8; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 14 m. w. N. 413) NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 3. 414) Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 13. 415) Vgl. BGH, Urt. v. 19.7.2004 – II ZR 42702, NJW 2004, 2971; Urt. v. 16.12.2004 – 1 StR 420/03, NJW 2005, 445 (447); MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 22; NKWSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 4. 416) MünchKommStGB/Weiß, § 400 AktG Rz. 33; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 25; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 13. 417) MünchKommStGB/Weiß, § 400 AktG Rz. 33; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 25; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 13. 418) Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 400 AktG Rz. 16. 419) BGH, Urt. v. 16.12.2004 – 1 StR 420/03, NJW 2005, 445 (448 f.); Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02, NJW 2005, 2450 (2451); MünchKommStGB/Weiß, § 400 AktG Rz. 33; NKWSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 4. 420) MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 25. 421) MünchKommStGB/Weiß, § 400 AktG Rz. 27; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 25; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 13.

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1339

§ 21 Relevante Straftatbestände

sind schließlich auch Berichte zwischen Organen der Gesellschaft (Vorstand an Aufsichtsrat nach § 90 AktG; Prüfbericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 Satz 1 AktG).422) 252 

Eine Übersicht über den Vermögensgegenstand ist jede Zusammenstellung von Daten (auch unterjährig), die einen Gesamtüberblick über die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft ermöglicht oder suggeriert.423)

253 

Vorträge oder Auskünfte in der Hauptversammlung sind alle Äußerungen, die von Mitgliedern des Vorstands oder des Aufsichtsrats gemacht werden, auch Kurzäußerungen.424)

254 

In jedem Fall müssen die in Frage kommenden Tathandlungen in der Funktion als Organ erfolgen.425) Äußerungen im Privatbereich sind richtigerweise nicht erfasst.426) Abgrenzungsschwierigkeiten können sich ergeben, wenn ein Organmitglied der AG verschiedene „Rollen“ hat, etwa Aufsichtsrat bei der AG und zugleich Vorstandsvorsitzender bei einem anderen Unternehmen ist. In derartigen Konstellationen kommt es darauf an, in welcher Eigenschaft derjenige die in Rede stehende Erklärung (Darstellung, Übersicht, Äußerung) abgegeben hat. Maßgeblich für die Bewertung sind dabei stets die Umstände des Einzelfalls, etwa auf welchem Briefkopf oder zu welchem Anlass eine Äußerung erfolgt.427) Bei Erklärungen anlässlich oder während der Hauptversammlung wird deshalb regelmäßig von einem Organbezug auszugehen sein.428)

255 Soweit publizitätspflichtige Darstellungen oder Übersichten im Wege der Eröffnungsbilanz sowie von Jahresabschlüssen oder Lageberichten erfolgen, sind bei einer unrichtigen Wiedergabe oder Verschleierung der Unternehmensverhältnisse bereits die Bilanzdelikte des HGB einschlägig (Æ Rz. 185 ff.), die § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG dann vorgehen.429) Insofern ist die Regelung subsidiär. ___________ 422) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 72; NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 4; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 13. 423) Vgl. NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 4; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 13. 424) Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 14. 425) A/R/R/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 8. Teil Kap. 1Rz. 89; Park/Eidam, NKKapitalmarktstrafrecht, § 400 AktG Rz. 14. 426) Hopt/Wiedemann/Otto, § 400 Rz. 26; KK-AktG/Altenhain, § 400 Rz. 20; a. A. A/R/R/ Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 8. Teil Kap. 1 Rz. 89 wonach Informationen über die Gesellschaftsverhältnisse immer dem Amtsbereich des Organs unterfallen. 427) Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 400 AktG Rz. 10; a. A. MünchKommStGB/Weiß, § 400 AktG Rz. 9; Graf/Jäger/Wittig/Temming, § 400 AktG Rz. 5. 428) Vgl. Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 400 AktG Rz. 10. 429) Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 400 AktG Rz. 16; MünchKommAktG/Wittig, § 400 AktG Rz. 21, 25.

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D. Falschangabedelikte

II.

§ 399 AktG (Falsche Angaben)

Die Strafvorschrift des § 399 AktG richtet sich insgesamt gegen Täuschungen 256 durch bestimmte falsche bzw. unwahre Angaben über die wesentlichen Grundlagen der Gesellschaft, wobei die Schwerpunkte des Tatbestandes – auch in der Praxis – auf dem sog. Gründungsschwindel (Abs. 1 Nr. 1) und dem sog. Kapitalerhöhungsschwindel (Abs. 1 Nr. 4) liegen. Für die Organe der AG relevant sind 

der „Gründungsschwindel“ durch unrichtige Anmeldung (Abs. 1 Nr. 1),



der „Gründungsschwindel“ durch unrichtige Berichte (Abs. 1 Nr. 2),



der „Kapitalerhöhungsschwindel“ (Abs. 1 Nr. 4) und



die Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen (Abs. 2).

Dagegen richten sich die Tatbestandsvarianten des „Abwicklungsschwindels“ 257 (Abs. 1 Nr. 5) und der Abgabe unrichtiger Versicherungen (Abs. 1 Nr. 6) als Sonderdelikte ausschließlich an die Abwickler einer Gesellschaft, während beim „Begebungsschwindel“ (Abs. 1 Nr. 3) zwar grundsätzlich eine Begehung durch jedermann möglich ist, in der Praxis aber die öffentlichen Ankündigungen typischerweise durch Emissionsbanken erfolgen,430) nicht durch die Organe der AG. Ist einer der Tatbestände des § 399 AktG erfüllt, kommt eine Freiheitsstrafe bis 258 zu drei Jahren oder Geldstrafe in Betracht. Der Versuch oder eine nur fahrlässige Begehung sind nicht strafbewehrt. Die Vorschrift des § 399 AktG schützt in sämtlichen Tatbestandsvarianten das 259 Vertrauen der Gläubiger und der Allgemeinheit in die Wahrhaftigkeit des Handelsregisters, in die zugrundeliegenden Unterlagen und in die öffentlichen Ankündigungen.431) Daneben dient die Norm in einigen Tatbestandsvarianten (Abs. 1 Nr. 1 bis 5) auch dem Interesse der AG selbst, von ihren Gründern ordnungsgemäß errichtet worden zu sein,432) und dem Individualschutz jener Personen, die im Vertrauen auf Handelsregistereintragungen oder öffentliche Ankündigungen rechtliche oder wirtschaftliche Beziehungen mit der Gesellschaft unterhalten bzw. Dispositionen vornehmen.433) 1.

„Gründungsschwindel“ durch unrichtige Anmeldung (Abs. 1 Nr. 1)

Die Tatbestandsvariante zum „Gründungsschwindel“ verbietet es im Zusam- 260 menhang mit der Gründung der Gesellschaft über Angaben und Informatio___________ 430) Vgl. Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 399 AktG Rz. 60; NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 25. 431) BGH, Urt. v. 26.9.2005 – II ZR 380/03, NZG 2005, 976 (978); NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 1. 432) BGH, Urt. v. 11.7.1988 – II ZR 243/87, BGHZ 105, 121 (125) = NJW 1988, 2794; MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 4; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 Rz. 1. 433) NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 1.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

nen über die Übernahme der Aktien, über die Einzahlung auf Aktien, über die Verwendung eingezahlter Beträge, über den Ausgabebetrag der Aktien, über Sondervorteile, über den Gründungsaufwand sowie über Sacheinlagen und Sachübernahmen falsche Angaben zu machen oder erhebliche Umstände zu verschweigen.434) 261 Als Täter des „Gründungsschwindels“ kommen neben den Gründern der Gesellschaft auch die Mitglieder des Vorstands und die Mitglieder des Aufsichtsrats in Betracht; die Regelung ist insofern ein Sonderdelikt. Umfasst sind auch faktische Organmitglieder (Æ § 20 Rz. 10 ff.).435) 262 Eine falsche Angabe macht, wer eine Aussage über Tatsachen – oder sogar Werturteile, Meinungsäußerungen und Prognosen, soweit diese auf tatsächlichen Grundlagen beruhen –436) trifft, die nicht mit der wirklichen Sachlage übereinstimmt.437) 263 Erhebliche Umstände verschweigt, wer zu einem selbstständigen, gesetzlich vorgeschriebenen Gegenstand überhaupt keine Angaben macht.438) Als erheblich sind solche Umstände anzusehen, die das Gesetz vorschreibt oder deren Kenntnis für die Entschließung eines Gerichts über die Vornahme der Eintragung oder eines interessierten Beteiligten darüber, eine Beziehung zur Gesellschaft einzugehen, von Bedeutung sein kann.439) 264 Werden Angaben im Nachhinein als falsch oder unrichtig erkannt, sind diese zu korrigieren und begründen insofern eine strafbewehrte Berichtigungspflicht.440) Diese Berichtigungspflicht besteht auch hinsichtlich solcher Angaben, die zunächst richtig waren, jedoch durch eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse unrichtig geworden sind.441) Unterlässt der Täter die gebotene Berichtigung, so verschweigt er erhebliche Umstände i. S. v. § 399 Abs. 1 Nr. 1 AktG, ohne

___________ 434) Vgl. im Einzelnen MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 67 bis 98 m. w. N. 435) Vgl. MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 23 ff.; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 5 f. 436) So die überwiegende Ansicht, vgl. NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 7; KK-AktG/ Altenhain, § 399 Rz. 49; Park, BB 2001, 2069 (2070) mit Blick auf §§ 88 BörsG a. F.; Sorgenfrei, wistra 2002, 321 (323) mit Blick auf § 20a Abs. 1 Satz 1 Var. 1 WphG a. F.; Kiethe, JZ 2005, 1034 (1037) mit Blick auf § 17 UWG. 437) NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 7. 438) Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 399 AktG Rz. 28; NK-WSS/Krause/Twele, § 400 AktG Rz. 8; a. A. MünchKommStGB/Weiß, § 399 AktG Rz. 58. 439) NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 8. 440) KK-AktG/Altenhain, § 399 AktG Rz. 60; MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 62; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 10. 441) NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 10; Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 399 AktG Rz. 28.

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D. Falschangabedelikte

dass es auf das Bestehen einer besonderen Handlungspflicht nach § 13 StGB ankäme.442) Schließlich müssen die Tathandlungen zum Zweck der Eintragung der Errich- 265 tung einer AG in das Handelsregister gemacht werden.443) Dies soll dann der Fall sein, wenn die falsche Angabe objektiv geeignet ist, die Eintragung der Gesellschaft in das Register zu bewirken, und der Täter dies subjektiv beabsichtigt hat.444) Objektiv geeignet für die Eintragung sind alle erheblichen Angaben, unabhängig von ihrer gesetzlichen Notwendigkeit, also auch freiwillige.445) 2.

„Gründungsschwindel“ durch unrichtige Berichte (Abs. 1 Nr. 2)

Die Tatbestandsvariante zum „Gründungsschwindel“ durch unrichtige Berichte 266 verbietet das Machen falscher Angaben oder das Verschweigen erheblicher Umstände im Gründungsbericht, im Nachgründungsbericht oder im Prüfungsbericht. Als Täter des „Gründungsschwindels“ kommen grundsätzlich neben den Grün- 267 dern der Gesellschaft auch die Mitglieder des Vorstands und die Mitglieder des Aufsichtsrats in Betracht, wobei auch faktische Organmitglieder (Æ § 20 Rz. 10 ff.) umfasst sind;446) die Regelung ist insofern ein Sonderdelikt. Wegen falscher Angaben im Gründungsbericht können sich freilich nur Gründer strafbar machen.447) Zu den Tathandlungen (Machen falscher Angaben, Verschweigen erheblicher 268 Umstände) kann auf die Erläuterungen zu Abs. 1 Nr. 1 verwiesen werden (Æ Rz. 260 ff.). 3.

Kapitalerhöhungsschwindel (Abs. 1 Nr. 4)

Die Tatbestandsvariante zum „Kapitalerhöhungsschwindel“ verbietet es im Zu- 269 sammenhang mit einer Kapitalerhöhung bei der Gesellschaft über die Einbringung des bisherigen Kapitals, über die Zeichnung oder Einbringung des neuen Kapitals, über den Ausgabebetrag der Aktien, über die Ausgabe der Bezugsaktien sowie über Sacheinlagen falsche Angaben zu machen oder erhebliche Umstände zu verschweigen. Die Regelung des § 399 Abs. 1 Nr. 4 AktG gilt lediglich für Kapitalerhöhungen 270 nach Maßgabe der §§ 182 bis 206 AktG (ordentliche Kapitalerhöhung, bedingte ___________ 442) 443) 444) 445) 446)

NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 10. MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 63; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 10. MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 64; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 10. MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 65. Vgl. MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 23 ff.; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 4. 447) Vgl. NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 22.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

Kapitalerhöhung, genehmigtes Kapital).448) Für die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (nominelle Kapitalerhöhung) gilt dagegen das Verbot der Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen gemäß § 399 Abs. 2 AktG (Æ Rz. 273 ff.). 271 Als Täter des „Kapitalerhöhungsschwindels“ kommen die Mitglieder des Vorstands und die Mitglieder des Aufsichtsrats in Betracht; die Regelung ist insofern ein Sonderdelikt. Umfasst sind auch faktische Organmitglieder (Æ § 20 Rz. 10 ff.).449) 272 Zu den Tathandlungen (Machen falscher Angabe, Verschweigen erheblicher Umstände), kann auf die Erläuterungen zu Abs. 1 Nr. 1 verwiesen werden (Æ Rz. 260 ff.). 4.

Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen (Abs. 2)

273 Die Tatbestandsvariante zur Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen verbietet es, bei einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207 f. AktG) die Erklärung nach § 210 Abs. 1 Satz 2 AktG – über das Nichtbestehen von Vermögensminderungen seit dem Stichtag der zugrunde gelegten Bilanz, die der Kapitalerhöhung entgegenstünden – der Wahrheit zuwider abzugeben. 274 Als Täter kommen bei § 399 Abs. 2 AktG die Mitglieder des Vorstands und der Vorsitzende des Aufsichtsrats respektive dessen Stellvertreter in Betracht;450) zwar bezieht sich der Gesetzeswortlaut auf den Aufsichtsrat als Gesamtorgan, die einfachen Mitglieder des Aufsichtsrats treffen aber keine gesetzlichen Erklärungspflichten, so dass nur die vorgenannten Personen als Täter in Betracht kommen.451) Die Regelung ist damit ein Sonderdelikt. Umfasst sind auch faktische Organmitglieder (Æ § 20 Rz. 10 ff.). 275 Der Tatbestand ist erfüllt, wenn die Erklärung gemäß § 210 Abs. 1 Satz 2 AktG der Wahrheit zuwider abgegeben wird. Die Voraussetzungen der Abgabe einer wahrheitswidrigen Erklärung entsprechen denen des Machens falscher Angaben bzw. des Verschweigens erheblicher Umstände,452) so dass auf die Erläuterungen zu Abs. 1 Nr. 1 verwiesen werden kann (Æ Rz. 260 ff.). E.

Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte

276 Parallel zur Entwicklung des deutschen Kapitalmarkts stellt das Kapitalmarktstrafrecht eine „hochdynamische Materie“453) dar, die in der Praxis eine zuneh___________ 448) MünchKommStGB/Weiß, § 399 AktG Rz. 97; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 31 f. 449) Vgl. MünchKommAktG/Wittig, § 399 AktG Rz. 23 ff.; NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 4. 450) Park/Eidam, NK-Kapitalmarktstrafrecht, § 399 AktG Rz. 127. 451) NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 42. 452) NK-WSS/Krause/Twele, § 399 AktG Rz. 43. 453) ERST/Theile, Allg Vor Kap. 7.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte

mend hohe Bedeutung einnimmt.454) Sie ist geprägt von Tätigkeiten des europäischen Gesetzgebers und zahlreichen, teils mehrstufigen Blanketttatbeständen. Die Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte haben im Zuge des 1. Finanzmarktnovellierungsgesetzes mit Wirkung zum 2.7.2016 („1. FiMaNoG“)455) sowie der seit dem 3.7.2016 in Deutschland unmittelbar anwendbaren Marktmissbrauchsverordnung (Verordnung Nr. 596/2014 – „MAR“) grundlegende Änderungen erfahren. Die MAR enthält insbesondere detaillierte Regelungen zu den Verboten von Insidergeschäften und Marktmanipulation und machte somit eine Anpassung der nationalen kapitalmarktrechtlichen Straftatbestände unter Berücksichtigung der Marktmissbrauchsrichtlinie (Richtlinie 2014/57/EU – „CRIM-MAD“) notwendig. Neben den zentralen Vorschriften der §§ 119, 120 WpHG und § 264a StGB, 277 die im Folgenden eine nähere Betrachtung erfahren, enthalten u. a. das BörsG (hier § 49 BörsG) und KWG (hier § 54a KWG) kapitalmarktbezogene Strafvorschriften; hinzu treten diverse Tatbestände, die als Ordnungswidrigkeiten geregelt sind und spezielle Vorschriften über Falschangaben und unrichtige Darstellung in HGB, AktG und GmbHG.456) Auf prozessualer Ebene ist neben der Staatsanwaltschaft die Rolle der BaFin 278 von enormer praktischer Bedeutung: Im Anwendungsbereich des WpHG kommt ihr die Funktion einer Aufsichtsbehörde zu (§ 6 Abs. 1 S. 1 WpHG), die bei Strafverfahren zwingend zu beteiligen ist (§ 122 WpHG), mit eigenen Eingriffsbefugnissen und Meldepflichten versehen ist und sich obendrein stark an den selbst gesetzten Emittentenleitfäden orientiert, welche auf diesem Wege wiederum (mittelbar) Einfluss auf das Strafverfahren nehmen.457) Wegen der hohen rechtlichen Komplexität werden Marktteilnehmer bei der Erörterung strafbedrohter Verhaltensweisen und beim Umgang mit den agierenden Behörden um eine fachjuristische Unterstützung in der Regel nicht umhinkommen.458) I.

§§ 119, 120 WpHG

Die Vorschriften der §§ 119, 120 WpHG sanktionieren u. a. verbotenen In- 279 siderhandel sowie Marktmanipulation. Während § 120 WpHG Ordnungswidrigkeitentatbestände enthält, sind in § 119 WpHG, der in weiten Teilen wiederum ___________ 454) Park/Park, NK-Kapitalmarktstrafrecht, Einl. Rz. 7. 455) BGBl I 2016, 1514; vgl. auch BT-Drucks. 18/7482 v. 8.2.2016. 456) Park/Park, NK-Kapitalmarktstrafrecht, Einl. Rz. 1 f.; Rübenstahl/Tsambikakis, MAHWirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 1 m. w. V. 457) NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 2; Rübenstahl/Tsambikakis, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 18 f. 458) Vgl. jeweils zu § 38 WpHG a. F. bzw. § 119 Abs. 3 WpHG Rübenstahl/Tsambikakis, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 41; Park/Hilgendorf, NK-Kapitalmarktstrafrecht, Kap. 7.1 Rz. 31.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

auf § 120 WpHG verweist, Straftatbestände geregelt. Beide Regelungen enthalten zahlreiche Blanketttatbestände, die großteils unmittelbar auf die Regelungen der MAR verweisen. Der eigentliche Normbefehl erschließt sich damit erst aus einer Zusammenschau mehrerer in Bezug genommener Normen.459) 280 Die Verbote der §§ 119, 120 WpHG schützen nach überwiegender – zur Rechtslage bis 2016 entwickelter – Auffassung die Funktionsfähigkeit des organisierten Kapitalmarktes; die Individualinteressen der Kapitalanleger erfahren lediglich reflexartigen Schutz.460) Seit der Gesetzesreform im Jahr 2016 wird nunmehr, gestützt auf Art. 1 MAR vertreten, die Normen schützten die Marktintegrität,461) andere sehen das geschützte Rechtsgut nach wie vor in der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes.462) Fortwährend werden die Individualinteressen der Anleger jedoch nicht als unmittelbares Schutzgut anerkannt, so dass jedenfalls ein deliktischer Schadensersatzanspruch der benachteiligten Anleger gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 119 WpHG nicht besteht.463) 281 Wer einen der Tatbestände des § 119 Abs. 1 bis 3 WpHG erfüllt, dem droht Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe, wobei auch der Versuch strafbewehrt ist (§ 119 Abs. 4 WpHG). 282 Für die Marktmanipulation nach § 119 Abs. 1 WpHG enthält § 119 Abs. 5 WpHG ferner einen Qualifikationstatbestand, der erfüllt ist, wenn der Betreffende gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, handelt oder in Ausübung seiner Tätigkeit für eine inländische Finanzaufsichtsbehörde, ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen, eine Börse oder einen Betreiber eines Handelsplatzes handelt. In diesen Fällen wird die Tat als Verbrechen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zehn Jahren bestraft. Wiederum einschränkend ermöglicht § 119 Abs. 6 WpHG allerdings, in minder schweren Fällen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu verhängen, wenn der Täter in Ausübung seiner Tätigkeit für eine inländische Finanzaufsichtsbehörde, ein Wertpapierdienstleistungsunternehmen, eine Börse oder einen Betreiber eines Handelsplatzes handelt (§ 119 Abs. 5 Nr. 2 WpHG). 283 § 120 WpHG erfasst (geradezu „inflationär“) über dreihundert verschiedene Fälle von Verstößen gegen Ge- und Verbote des WpHG als Ordnungswidrigkei___________ 459) NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 1. 460) Fuchs/Waßmer, WpHG, § 38 Rz. 5, 6; vgl. insoweit auch BVerfG, Beschl. v. 24.9.2002 – 2 BvR 742/02, NStZ 2003, 210; LG Augsburg, Urt. v. 27.11.2003 – 3 Kls 502 Js 127369/99, NStZ 2005, 109 (111). 461) Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 5; Momsen/Grützner/Hohn, WirtschaftsStR, Kap. 6 § 21 Rz. 27. 462) Park/Hilgendorf, NK-Kapitalmarktstrafrecht, Kap. 7.1 Rz. 17. 463) Nach wie vor lassen sich Schadensersatzansprüche der Anleger jedoch u. U. anhand § 404 AktG oder §§ 76, 93, 116 AktG begründen; vgl. Rübenstahl/Tsambikakis, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 34.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte

ten.464) Dabei sind in § 120 Abs. 17 bis 24 WpHG diverse Bußgeldkataloge enthalten, die empfindliche Geldbußen, insbesondere gegen juristische Personen und Personenvereinigungen, ermöglichen. Regelmäßig treffen beim Insiderhandel und bei Marktmanipulationen Straftat (§ 119 WpHG) und Ordnungswidrigkeit (§ 120 WpHG) zusammen, was grundsätzlich dazu führt, dass gemäß § 21 Abs. 1 OWiG die Ordnungswidrigkeit zurücktritt; wird jedoch keine Strafe verhängt (etwa bei einer Verfahrenserledigung gegen Auflage, § 153a StPO), kann die Handlung durchaus noch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden (§ 21 Abs. 2 OWiG).465) Von beachtlicher Bedeutung sind schließlich die in Art. 5, 6 MAR enthaltenen 284 Safe Harbour-Regelungen. Sie enthalten Verbotsausnahmen für Rückkaufprogramme und Stabilisierungsmaßnahmen (Art. 5 MAR) sowie für Maßnahmen i. R. d. Geldpolitik, der Staatsschuldenpolitik und der Klimapolitik (Art. 6 MAR).466) Die beschriebenen Verhaltensweisen sind von vornherein nicht tatbestandsmäßig.467) 1.

Insiderhandel (§ 119 Abs. 2, Abs. 3 WpHG)

Vor dem teilweisen Inkrafttreten des 1. FiMaNoG am 2.7.2016 waren die Tat- 285 bestände über verbotenen Insiderhandel noch in den §§ 12 bis 14 WpHG a. F. geregelt und wurden sodann in § 38 Abs. 2 und 3 WpHG a. F. aufgenommen.468) Entsprechende Regelungen finden sich nunmehr, infolge des 2. FiMaNoG vom 23.6.2017,469) in § 119 Abs. 2, Abs. 3 WpHG n. F. i. V. m. Art. 7 ff., 14 MAR. Demnach macht sich strafbar, wer entgegen Art. 14 lit. a bis c MAR  ein Insidergeschäft tätigt (§ 119 Abs. 3 Nr. 1 WpHG i. V. m. Art. 14 lit. a MAR),  einem Dritten empfiehlt, ein Insidergeschäft zu tätigen, oder einen Dritten dazu anstiftet (§ 119 Abs. 3 Nr. 2 WpHG i. V. m. Art. 14 lit. b MAR), oder  eine Insiderinformation offenlegt (§ 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG i. V. m. Art. 14 lit. c MAR). § 119 Abs. 2 WpHG stellt zudem Insidergeschäfte in Zusammenhang mit Treib- 286 hausgasemissionszertifikaten unter Strafe.470) ___________ 464) 465) 466) 467) 468)

NK-WSS/Trüg, § 39 WpHG Rz. 4. NK-WSS/Trüg, § 39 WpHG Rz. 157. NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 141, 143. ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 50. Gesetzesänderungen in Anbetracht der MAR und CRIM-MAD durch das 1. FiMaNoG traten am 2.7.2016 in Kraft. Im Übrigen galt das Gesetz seit dem 31.12.2016, vgl. BGBl I 2016, 1543 f. 469) Die maßgeblichen Änderungen der §§ 119, 120 WpHG traten zum 3.1.2018 in Kraft, BGBl I 2017, 1693 (1821). 470) Näher hierzu ERST/Theile, § 38 a. F. WpHG Rz. 92 ff.; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 16 f.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

287 Im Gegensatz zu den Regelungen der §§ 12 bis 14 WpHG a. F., nach welchen als Täter etwa im Rahmen des § 14 Abs. 1 Nr. 2 und 3 WpHG nur sogenannte „Primärinsider“ erfasst waren, erfassen die neuen Tatbestände zum Insiderhandel jede natürliche Person.471) Die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärinsider472) bleibt lediglich auf Strafzumessungsebene von Bedeutung.473) 288 Tatbestandseinschränkend wurden allerdings die Strafbarkeitsvoraussetzungen auf subjektiver Ebene verschärft. Während § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG a. F. i. V. m. § 38 Abs. 1 Nr. 1 WpHG a. F. auch leichtfertige Verstöße gegen Insiderhandelsverbote unter Strafe stellte, ist nunmehr allein vorsätzliches Handeln strafbar. Leichtfertiges Handeln kann (mit Ausnahme von verbotenen Geschäften von Treibhausgasemissionszertifikaten gemäß § 119 Abs. 2 Nr. 1 WpHG, vgl. § 119 Abs. 7 WpHG) bei allen Insidergeschäften nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. 289 Der Versuch eines Verstoßes gegen § 119 Abs. 2, 3 WpHG ist nach § 119 Abs. 4 WpHG strafbar und richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 22 ff. StGB. a)

Tätigen eines Insidergeschäfts

290 Als erste Tatbestandsvariante erfasst § 119 Abs. 3 Nr. 1 WpHG die Tätigung eines Insidergeschäfts. Die Art. 7, 8 MAR enthalten die insofern wesentlichen Begriffsbestimmungen: aa)

Insiderinformation

291 Der Begriff der Insiderinformation ist in Art. 7 Abs. 1 MAR legaldefiniert: „Für die Zwecke dieser Verordnung umfasst der Begriff ‚Insiderinformationen‘ folgende Arten von Informationen: a) nicht öffentlich bekannte präzise Informationen, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen; b) in Bezug auf Warenderivate nicht öffentlich bekannte präzise Informationen, die direkt oder indirekt ein oder mehrere Derivate dieser Art oder direkt damit verbundene Waren-Spot-Kontrakte betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Derivate oder damit

___________ 471) Vgl. NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 145. 472) Im Gegensatz zu Sekundärinsidern zeichnen sich Primärinsider typischerweise durch eine besondere Nähe zur Insiderinformation aus: Erforderlich ist, dass der Primärinsider sowohl personenbezogen zu dem in § 38 Abs. 1 Nr. 2 a. F. WpHG genannten Personenkreis zählt, als auch sachbezogen über eine Insiderinformation verfügt, vgl. ERST/Theile, § 38 a. F. WpHG, Rz. 40 ff. 473) NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 145.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte verbundener Waren-Spot-Kontrakte erheblich zu beeinflussen, und bei denen es sich um solche Informationen handelt, die nach Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, Handelsregeln, Verträgen, Praktiken oder Regeln auf dem betreffenden Warenderivate- oder Spotmarkt offengelegt werden müssen bzw. deren Offenlegung nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann; c) in Bezug auf Emissionszertifikate oder darauf beruhende Auktionsobjekte nicht öffentlich bekannte präzise Informationen, die direkt oder indirekt ein oder mehrere Finanzinstrumente dieser Art betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen.“

Dabei enthält der Begriff der präzisen Information zwei Komponenten. Als 292 Informationen erfasst er in einem umfassenden Sinn zunächst mittelbares Wissen.474) Gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR sind Informationen sodann als präzise anzusehen, wenn damit einerseits „eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits gegeben sind oder bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft gegeben sein werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder von den vernünftigerweise erwarten kann [sic!], dass es in Zukunft eintreten wird,“ und diese Informationen anderseits „spezifisch genug sind, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse der Finanzinstrumente oder des damit verbundenen derivativen Finanzinstruments, der damit verbundenen Waren-Spot-Kontrakte oder der auf den Emissionszertifikaten beruhenden Auktionsobjekte zuzulassen.“

Eine Insiderinformation liegt nicht vor, wenn die Information öffentlich bekannt 293 ist, wobei eine Bereichsöffentlichkeit ausreicht.475) Öffentlich ist eine Information, wenn es einer unbestimmten Anzahl von Personen möglich ist, Kenntnis von ihr zu nehmen, wobei es auf eine tatsächliche Kenntnisnahme nicht ankommt, sondern Zugänglichkeit genügt.476) Auch unwahre Informationen sind nicht umfasst und können daher allenfalls eine Versuchsstrafbarkeit begründen – wobei hingegen die Information, dass eine veröffentlichte Information unwahr ist, als wahre Information durchaus darunter fällt.477) bb)

Insidergeschäft

Ein Insidergeschäft liegt daran anknüpfend gemäß Art. 8 Abs. 1 MAR vor, „wenn eine Person über Insiderinformationen verfügt und unter Nutzung derselben für eigene oder fremde Rechnung direkt oder indirekt Finanzinstrumente, auf die sich die Informationen beziehen, erwirbt oder veräußert.“

___________ 474) MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 166; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 117. 475) MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 180; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 129 m. V. a. RegE 2. FMFG; BT-Drucks. 12/6679, S. 46. 476) MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 179; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 129. 477) MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 168; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 128 m. w. N.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

295 Bei den Tathandlungen des Erwerbs und des Veräußerns ist dabei bereits auf den Abschluss des Vertrages abzustellen, der die Realisierbarkeit des Gewinnes für den Insider gewährleistet, wobei Geschäfte für die Rechnung Dritter ebenso umfasst sind wie bloß mittelbare Markttransaktionen.478) Es findet insofern eine Vorverlagerung der Strafbarkeit statt, die sich über die deutsche Trennung und Abstraktion zwischen schuldrechtlichem Grund- und dinglichem Erfüllungsgeschäft hinwegsetzt.479) 296 Auch die Nutzung von Insiderinformationen in Form der Stornierung oder Änderung eines Auftrags gilt gemäß Art. 8 Abs. 1 Satz 2 MAR als Insidergeschäft, wenn der Auftrag vor Erlangen der Insiderinformation erteilt wurde. b)

Verleitung zu Insidergeschäften

297 Eine Empfehlung zum Tätigen eines Insidergeschäfts oder die Verleitung Dritter hierzu (§ 119 Abs. 3 Nr. 2 WpHG) liegt gemäß Art. 8 Abs. 2 MAR vor, wenn eine Person über Insiderinformationen verfügt und 

auf der Grundlage dieser Informationen Dritten empfiehlt, Finanzinstrumente, auf die sich die Informationen beziehen, zu erwerben oder zu veräußern, oder sie dazu anstiftet, einen solchen Erwerb oder eine solche Veräußerung vorzunehmen (lit. a) oder



auf der Grundlage dieser Informationen Dritten empfiehlt, einen Auftrag, der ein Finanzinstrument betrifft, auf das sich die Informationen beziehen, zu stornieren oder zu ändern, oder sie dazu anstiftet, eine solche Stornierung oder Änderung vorzunehmen (lit. b).

c)

Unrechtmäßiges Offenlegen von Insiderinformationen

298 Eine unrechtmäßige Offenlegung von Insiderinformationen (§ 119 Abs. 3 Nr. 3 WpHG) liegt gemäß Art. 10 Abs. 1 MAR vor, wenn „eine Person, die über Insiderinformationen verfügt und diese Informationen gegenüber einer anderen Person offenlegt, es sei denn, die Offenlegung geschieht im Zuge der normalen Ausübung einer Beschäftigung oder eines Berufs oder der normalen Erfüllung von Aufgaben.“

299 Die Tatbestandsalternative zielt darauf ab, einer ungesteuerten Ausbreitung von Insiderinformationen entgegenzuwirken und ist insofern kritisch zu sehen, als sie in deutlich größerer Distanz zur eigentlichen Rechtsgutsverletzung steht, gleichwohl aber im Strafmaß mit den anderen Tatvarianten gleichgestellt ___________ 478) ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 109 m. w. N.; MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 193, 196. 479) ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 109 m. w. N.; MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 193.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte

ist.480) Der Begriff des Offenlegens erfasst dabei sprachlich jede Form der Mitteilung oder des Zugänglichmachens.481) Praxishinweis 1: Beim Kapitalmarktrecht und den Sanktionsnormen der §§ 119, 300 120 WpHG handelt es sich nicht zuletzt aufgrund der vielfachen, teils mehrfachen Verweise auf andere, teils europäische Normen um eine äußerst komplexe Materie, die viele Fallstricke bereithält. Insofern ist Vorständen und Aufsichtsräten angeraten, bereits im Vorfeld kritischer Transaktionen oder Mitteilungen fachjuristischen Rat einzuholen. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Kauf und Verkauf von Aktien des eigenen Unternehmens ist äußerste Vorsicht mit Blick auf einen möglichen Insiderhandel geboten. Praxishinweis 2: Zudem ist es erforderlich, unternehmensintern dafür zu sorgen, 301 dass Insiderinformationen vertraulich zu behandeln sind, die Mitarbeiter sind insoweit zur Verschwiegenheit zu verpflichten. Es gilt zudem zu beachten, dass gemäß Art. 18 MAR Emittenten und alle in ihrem Auftrag oder für ihre Rechnung handelnden Personen verpflichtet sind, eine Insiderliste zu führen, die alle Personen benennt, die Zugang zu Insiderinformationen haben. 2.

Marktmanipulation (§ 119 Abs. 1 WpHG)

Auch beim Verbot der Marktmanipulation in § 119 Abs. 1 WpHG bedient sich 302 der Gesetzgeber einer Verweisungstechnik, die über § 120 WpHG zu Art. 15 und 12 MAR führt, welchen der eigentliche Normbefehl letztlich zu entnehmen ist.482) Namentlich wird wegen einer Marktmanipulation bestraft, wer eine in § 120 Abs. 2 Nr. 3 oder Abs. 15 Nr. 2 WpHG bezeichnete vorsätzliche Handlung begeht und dadurch auf den (inländischen) Börsen- oder Marktpreis oder Referenzwert eines der in § 119 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 WpHG bezeichneten Manipulationsobjekte einwirkt. Im Ergebnis sanktioniert § 119 Abs. 1 WpHG also über den in Bezug genommenen § 120 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 15 Nr. 2 WpHG Verstöße gegen Art. 12 und 15 MAR. Dabei verbietet Art. 15 MAR die Marktmanipulation sowie deren Versuch, während Art. 12 MAR die Marktmanipulation definiert und verschiedene Manipulationshandlungen bestimmt. Im Gegensatz zu den in Bezug genommenen Bußgeldtatbeständen des § 120 303 WpHG und zu den beschriebenen Tätigkeitsdelikten des Insiderhandels (§ 119 Abs. 2, 3 WpHG) ist die Strafnorm des § 119 Abs. 1 WpHG als Erfolgsdelikt ausgestaltet und verlangt demnach eine tatsächliche Einwirkung auf den Preis

___________ 480) ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 137 f. 481) MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 225; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 160 m. w. V. 482) Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 13; MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 53.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

als Manipulationserfolg.483) Die bloße Eignung reicht also nicht aus, es bedarf einer kausalen und objektiv zurechenbaren Einwirkung auf das Marktgefüge durch den Manipulierenden.484) Konkret liegt ein Einwirkungserfolg bei allen Tatvarianten dann vor, wenn es zu einer Erhöhung, Absenkung oder Stabilisierung des Preises entgegen dem Markttrend kommt,485) also ein künstliches Preisniveau herbeigeführt wird.486) a)

Objektiver Tatbestand

304 Als Tathandlungen umfasst das Verbot der Marktmanipulation eine Reihe von Manipulationsformen, die sich im Wesentlichen in informations-, handelsund handlungsgestützte Manipulationen unterteilen lassen, wobei letzterer erkennbar ein Auffangcharakter für Konstellationen zukommt, in denen kein Geschäft abgeschlossen oder kein Handelsauftrag erteilt wurde.487) 305 Von besonderer Relevanz für Vorstände in der AG sind – mit Blick auf die Außendarstellung der AG sowie die Pressearbeit – die Vorgaben der Art. 12 Abs. 1 lit. c und lit. d MAR, welche informationsgestützte Marktmanipulationshandlungen erfassen.488) Je nachdem, ob sich die Handlung des Vorstands insofern auf Finanzinstrumente i. S. d. MAR bezieht oder auf solche des § 25 WpHG, kann sie den Tatbestand des § 119 Abs. 1 WpHG erfüllen. 

Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR erfasst die „Verbreitung von Informationen über die Medien einschließlich des Internets oder auf anderem Wege, die falsche oder irreführende Signale hinsichtlich des Angebots oder des Kurses eines Finanzinstruments, eines damit verbundenen Waren-Spot-Kontrakts oder eines auf Emissionszertifikaten beruhenden Auktionsobjekts oder der Nachfrage danach geben oder bei denen dies wahrscheinlich ist oder ein anormales oder künstliches Kursniveau eines oder mehrerer Finanzinstrumente, eines damit verbundenen WarenSpot-Kontrakts oder eines auf Emissionszertifikaten beruhenden Auktionsobjekts herbeiführen oder bei denen dies wahrscheinlich ist, einschließlich der Verbreitung von Gerüchten, wenn die Person, die diese Informationen verbreitet hat, wusste oder hätte wissen müssen, dass sie falsch oder irreführend waren“.

___________ 483) Vgl. Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 12 f.; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 34 weist zurecht darauf hin, dass es sich „rechtsgutsbezogen“, also mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des organisierten Kapitalmarkts als geschütztem Rechtsgut, lediglich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. 484) ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 5, 49, 59. 485) OLG Stuttgart, Urt. v. 4.10.2011 – 2 Ss 65/11, NJW 2011, 3667 (3669); Rübenstahl/ Tsambikakis, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 159. 486) BGH, Urt. v. 27.11.2013 – 3 StR 5/13, NJW 2014, 1399; Graf/Jäger/Wittig/Diversy/ Köpferl, § 38 WpHG Rz. 102; MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 148. 487) ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 6, 28, 64. 488) NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 6.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte



Art. 12 Abs. 1 lit. d MAR erfasst die „Übermittlung falscher oder irreführender Angaben oder Bereitstellung falscher oder irreführender Ausgangsdaten bezüglich eines Referenzwerts, wenn die Person, die die Informationen übermittelt oder die Ausgangsdaten bereit gestellt hat, wusste oder hätte wissen müssen, dass sie falsch oder irreführend waren, oder sonstige Handlungen, durch die die Berechnung eines Referenzwerts manipuliert wird“.

Dabei sind Informationen, Angaben oder Ausgangsdaten

306



falsch, wenn sie nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Falsch sind auch unvollständige Informationen, die wesentliche Teilaspekte ihres Gegenstands weglassen.489) Werturteile und Prognosen sind falsch, wenn die diesen zugrundeliegenden Tatsachen nicht zutreffen oder die tatsächlichen Umstände die Bewertung nicht zulassen490) und die Prognose bzw. das Werturteil daher schlechterdings nicht mehr vertretbar ist;491)



irreführend, wenn sie lediglich aufgrund ihrer Darstellung eine falsche Vorstellung beim Informationsempfänger über den Gegenstand der Information nahelegen, obwohl sie inhaltlich zutreffend sind.492)

Signale hingegen sind 

307

irreführend, wenn sie einen verständigen Anleger zu einem Marktverhalten veranlassen, das dieser bei Kenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten überhaupt nicht oder nicht in dieser Form vornehmen würde.493) Das Tatbestandsmerkmal „falsch“ hat in diesem Zusammenhang dann keine eigenständige Bedeutung.494)

b)

Subjektiver Tatbestand

Subjektiv setzt § 119 Abs. 1 WpHG in sämtlichen Tatbestandsvarianten vor- 308 sätzliches Handeln des Täters voraus, wobei grundsätzlich bedingter Vorsatz (sog. dolus eventualis) ausreichend ist.495) Nach herrschender Auffassung des BGH496) soll der bedingte Vorsatz auch bei handelsgestützten Manipulationen ausreichen – hiergegen wird in der Literatur jedoch zurecht eingewandt, dass die Abgrenzung zwischen manipulativen und erlaubten Geschäften nur nach ___________ 489) 490) 491) 492)

493) 494) 495) 496)

MünchKommStGB/Pananis, § 119 WpHG Rz. 110. Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 53. Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 53. BGH, Beschl. v. 20.7.2011 – 3 StR 506/10, NZG 2011, 1075; Graf/Jäger/Wittig/Diversy/ Köpferl, § 38 WpHG Rz. 53; Rübenstahl/Tsambikakis, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 147. Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 62. Graf/Jäger/Wittig/Diversy/Köpferl, § 38 WpHG Rz. 62. ERST/Theile, § 38 WpHG Rz. 60; MünchKommStGB/Paninis, § 119 WpHG Rz. 151. BGH, Urt. v. 27.11.2013 – 3 StR 5/13, NJW 2014, 1399 (1402).

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§ 21 Relevante Straftatbestände

der Zielrichtung erfolgen kann, so dass insofern Absicht (dolus directus 1. Grades) erforderlich ist.497) Da der Einwirkungserfolg ebenso wie die Tathandlungen zum strafrechtlichen Unrecht gehört, muss sich der Vorsatz auch auf diesen beziehen.498) II.

Kapitalanlagebetrug (§ 264a StGB)

309 Der Straftatbestand des Kapitalanlagebetrugs wurde 1986 in das StGB eingeführt, um vor dem Hintergrund des seit den 1960er Jahren zunehmenden Anstiegs privaten Anlage- und Investitionskapitals, das wiederum neue Vertriebsformen auf den Kapitalmärkten eröffnete, einen besseren Schutz der meist unerfahrenen Anleger zu gewährleisten.499) Die Norm schützt im Vorfeld des § 263 StGB500) das Vermögen von Kapitalanlegern gegen täuschende Übervorteilung bei Geschäften im Bereich des weithin anonymisierten Kapitalmarktes sowie nach überwiegender Ansicht das überindividuelle Rechtsgut des Vertrauens der Allgemeinheit in ein von groben Regelverstößen freies Funktionieren des Kapitalmarktes.501) Wegen des schier unüberschaubaren Kreises werbender Angaben gegenüber potenziellen Anlegern sehen die Strafverfolgungsbehörden regelmäßig davon ab, von Amts wegen die Richtigkeit und Vollständigkeit entsprechender Prospekt-Behauptungen zu prüfen, so dass dem abstrakten Gefährdungsdelikt neben § 263 StGB (bzw. versuchtem Betrug) tendenziell geringe praktische Bedeutung zukommt.502) 1.

Objektiver Tatbestand

310 Gemäß § 264a StGB wird bestraft, wer im Zusammenhang mit 

dem Vertrieb von Wertpapieren, Bezugsrechten oder von Anteilen, die eine Beteiligung an dem Ergebnis eines Unternehmens gewähren sollen (Abs. 1 Nr. 1), oder



dem Angebot, die Einlage auf solche Anteile zu erhöhen (Abs. 1 Nr. 2) in Prospekten oder in Darstellungen oder Übersichten über den Vermögensstand hinsichtlich der für die Entscheidung über den Erwerb oder die Erhöhung erheblichen Umstände gegenüber einem größeren Kreis von Personen unrichtige vorteilhafte Angaben macht oder nachteilige Tatsachen verschweigt.

___________ 497) MünchKommStGB/Paninis, § 119 WpHG Rz. 152; NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 183 m. w. N.; Rübenstahl/Tsambikakis, MAH-Wirtschaftsstrafrecht, § 23 Rz. 162. 498) NK-WSS/Trüg, § 38 WpHG Rz. 183. 499) ERST/Saliger, § 264a StGB Rz. 3. 500) Fischer, StGB, § 264a Rz. 1. 501) Fischer, StGB, § 264a Rz. 2 m. w. N. 502) Fischer, StGB, § 264a Rz. 2a.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte

Ist der Tatbestand des § 264a Abs. 1 StGB erfüllt, droht dem Täter Freiheits- 311 strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Der Versuch ist nicht strafbewehrt. § 264a StGB ist ein Allgemeindelikt. Der Täterkreis der Norm erfasst damit je- 312 dermann, nicht nur Emittenten, Anlageberater und Anlagevermittler, sondern auch Außenstehende, z. B. Bankmitarbeiter, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater.503) Allein die Bestimmung des Täterkreises hinsichtlich der Tatbestandsvariante des Verschweigens von Tatsachen (Æ Rz. 310 a. E.) bereitet in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten. Die mögliche Täterstellung muss hier parallel zur Begehungsalternative bestimmt werden; Täter kann daher nur sein, wem (unrichtige) positive Angaben täterschaftlich zugerechnet werden könnten.504) Tatobjekte sind Prospekte, Darstellungen oder Übersichten über den Ver- 313 mögensstand, die eines der in § 264a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB aufgeführten Geschäftsmittel betreffen. Prospekte im Sinne der Vorschrift sind dabei alle Schriftstücke, die für die Beurteilung der Geldanlage erhebliche Angaben enthalten oder den Eindruck eines solchen Inhalts erwecken sollen.505) Darstellungen sind in einem untechnischen Sinne zu verstehen und schließen auch mündliche Darstellungen und Darstellungen auf Ton- und Bildträgern mit ein.506) Die Begrifflichkeit der Übersichten über den Vermögensgegenstand entspricht der der Vermögensübersichten in § 265b Abs. 1 Nr. 1a StGB.507) Die verschiedenen Prospekte oder Darstellungen oder Übersichten über den 314 Vermögensstand müssen im Zusammenhang mit dem Vertrieb von bestimmten Anlageobjekten unrichtige vorteilhafte Angaben enthalten oder nachteilige Tatsachen verschweigen. Vertrieb in diesem Zusammenhang umfasst jede auf die Veräußerung der Anlageobjekte gerichtete Tätigkeit im eigenen oder fremden Namen.508) Als tatrelevante Anlageobjekte erwähnt § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB: 

Wertpapiere; mithin Urkunden, die ein privates Recht in einer Weise verkörpern, dass zur Ausübung des Rechts die Innehabung der Urkunde erforderlich ist, wobei entsprechend des Schutzzwecks der Vorschrift nur Kapitalmarktpapiere, nicht aber Wertpapiere des Zahlungsverkehrs und des Güterumlaufs – insbesondere Scheck und Wechsel –, umfasst sind;509)

___________ 503) Graf/Jäger/Wittig/Bock, § 264a StGB Rz. 68. 504) Vgl. Fischer, StGB, § 264a Rz. 22. 505) Vgl. BGH, Urt. v. 21.12.1994 – 2 StR 628/94, NJW 1995, 892 (893); Fischer, StGB, § 264a Rz. 12. 506) Vgl. BT-Drucks. 10/318, S. 23; Cerny, MDR 1987, 271 (274); Fischer, StGB, § 264a Rz. 12; Knauth, NJW 1987, 28 (31); NK-WSS/Momsen/Laudien, § 264a Rz. 20; krit. Weber, NStZ 1986, 481 (485). 507) Vgl. NK-WSS/Momsen/Laudien, § 264a Rz. 20; Fischer, StGB, § 264a Rz. 12. 508) Fischer, StGB, § 264a Rz. 5. 509) Fischer, StGB, § 264a Rz. 6.

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§ 21 Relevante Straftatbestände



Bezugsrechte; mithin nach überwiegender Ansicht gesellschaftsrechtliche Leistungsrechte aus der Mitgliedschaft in einer Gesellschaft (z. B. Leistungsbezugsrecht; Bezugsrecht bei Kapitalerhöhungen nach § 186 AktG), soweit sie unverbrieft und nicht untrennbar mit der Mitgliedschaft verbunden sind (Teilschuldverschreibungen; Wandelanleihen nach § 221 Abs. 1 AktG);510)



Anteile, die eine Beteiligung an dem Ergebnis eines Unternehmens gewähren sollen; mithin etwa partiarische Darlehen,511) der Erwerb von Kommanditanteilen512) oder Anteile an ausländischen Kapitalgesellschaften.513)

315 § 264a Abs. 1 Nr. 2 StGB erweitert den Anwendungsbereich auf Tathandlungen im Zusammenhang mit dem Angebot, Anteile i. S. v. Nr. 1 zu erhöhen (Erhöhungsangebote).514) 316 Die erste Tatvariante des § 264a Abs. 1 StGB sanktioniert den Täter, der unrichtige vorteilhafte Angaben hinsichtlich erheblicher Umstände macht (Æ Rz. 310). Unrichtige vorteilhafte Angaben macht nach herrschender Ansicht, wer Behauptungen über tatsächliche Umstände, Werturteile, Meinungen und Prognosen einsetzt,515) die nicht den objektiven Gegebenheiten entsprechen.516) 317 Die zweite von § 264a StGB erfasste Tatvariante ist die des Verschweigens nachteiliger Tatsachen entgegen einer Mitteilungspflicht. Verschweigen erfordert bewusstes Nichtsagen.517) Der Umfang der Mitteilungspflicht ergibt sich – neben den gesetzlichen Mindestanforderungen an den Prospektinhalt – aus dem Begriff der Erheblichkeit (Æ Rz. 318).518) Sie betrifft nur Tatsachen, die für die Anlageentscheidung – unabhängig von individuellen Besonderheiten des potenziellen Anlegers – von Bedeutung sein können; Wertungen müssen nicht offenbart werden.519) 318 Erhebliche Umstände sollen solche sein, die nach dem Urteil eines verständigen, durchschnittlich vorsichtigen Anlegers im Hinblick auf die Natur des kon___________ 510) Vgl. Fischer, StGB, § 264a Rz. 7; Knauth, NJW 1987, 29; Möhrenschlager, wistra 1982, 206; Schönke/Schröder/Perron, StGB, § 264a Rz. 8. 511) Fischer, StGB, § 264a Rz. 8; a. A. Cerny, MDR 1987, 271 (274). 512) Fischer, StGB, § 264a Rz. 8. 513) Cerny, MDR 1987, 271 (273); Fischer, StGB, § 264a Rz. 8; Knauth, NJW 1987, 28; Möhrenschlager, wistra 1982, 205. 514) Fischer, StGB, § 264a Rz. 10. 515) Vgl. Cerny, MDR 1987, 271 (276); Fischer, StGB, § 264a Rz. 14; NK-WSS/Momsen/ Laudien, § 264a Rz. 23; krit. bzgl. der Einbeziehung von Bewertungen und Prognosen NK-StGB/Hellmann, § 264a Rz. 32. 516) NK-WSS/Momsen/Laudien, § 264a Rz. 23. 517) Fischer, StGB, § 264a Rz. 15. 518) Fischer, StGB, § 264a Rz. 15. 519) Fischer, StGB, § 264a Rz. 15.

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E. Kapitalmarkt- und Anlegerschutzdelikte

kreten Anlageangebots für dessen Bewertung maßgeblich sind.520) Dabei können die regulatorischen Mindestanforderungen an den Inhalt verschiedener Werbemittel – etwa Vorgaben des Wertpapierprospektgesetzes,521) der EU-Prospektverordnung522) oder die Grundsätze der Prospekthaftung – als Indizien herangezogen werden, wobei auch darüber hinausgehende Umstände erheblich und angabepflichtig sein können.523) Mitzuteilende Tatsachen sind vor allem solche zum aktuellen Vermögenswert des Anlageobjekts, darüber hinaus Umstände, welche das Verhältnis von Risiko und Chance betreffen.524) 2.

Subjektiver Tatbestand

Subjektiv setzt die Strafbarkeit vorsätzliches Handeln voraus, wobei der Täter 319 auch den sozialen Sinngehalt der zahlreichen normativen Tatbestandsmerkmale erfasst haben muss.525) Erforderlich ist also beispielsweise, dass jemand, der unrichtige Angaben macht, sich auch darüber bewusst ist, dass er ein unrichtiges Gesamtbild vermittelt.526) 3.

Tätige Reue

In Abs. 3 enthält § 264a StGB schließlich einen persönlichen Strafaufhebungs- 320 grund für Fälle, in welchen der Täter freiwillig und aktiv die tatsächliche Leistungserbringung durch die Anleger verhindert oder – wenn die Leistung ohne Zutun des Täters ausbleibt – er sich freiwillig und ernsthaft um die Verhinderung bemüht. Praxishinweis 1: Bei der Erstellung von Prospekten, Übersichten und sonstigen 321 Darstellungen bzgl. des Vermögensstandes sollte sich strikt an bestehende gesetzliche Vorgaben gehalten werden, denn bei § 264a StGB ist die Strafbarkeit in ein frühes Stadium vorverlagert. Sollten sich gleichwohl im Nachhinein relevante Falschdarstellungen in einem Prospekt offenbaren, so sind diese schnellstmöglich zu korrigieren und dies ist den Anlegern entsprechend zu kommunizieren. Praxishinweis 2: Die BaFin prüft als Aufsichtsbehörde zwar, ob der Prospekt alle 322 gesetzlichen Mindestangaben enthält, eine weitergehende, inhaltliche Prüfung des Prospekts ist damit indes nicht verbunden. Insbesondere überwacht die BaFin weder den Emittenten noch das Anlageprodukt. ___________ 520) BGH, Urt. v. 8.12.1981 – 1 StR 706/81, NJW 1982, 775; Urt. v. 12.5.2005 – 5 StR 283/04, NJW 2005, 2242 (2244 f.). 521) BGBl I 2005, 1698. 522) VO (EG) Nr. 809/2004 v. 29.4.2004 mit ÄnderungsVO (EU) Nr. 486/2012. 523) Vgl. Callandi, wistra 1987, 316 (317); Cerny, MDR 1987, 271 (274); Fischer, StGB, § 264a Rz. 16. 524) Vgl. BGH, Urt. v. 29.5.2000 – II ZR 280/98, VersR 2000, 1288; Fischer, StGB, § 264a Rz. 15; NK-WSS/Momsen/Laudien, § 264a Rz. 25. 525) LK-StGB/Tiedemann/Vogel, § 264a Rz. 91 f. 526) LK-StGB/Tiedemann/Vogel, § 264a Rz. 92.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

F.

Steuerhinterziehung (§§ 370, 153 AO)

323 Auch für die Organe der AG gilt das Verbot der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, wobei es regelmäßig um die Abgabe unrichtiger oder unvollständiger JahresSteuererklärungen oder Steueranmeldungen (z. B. Umsatzsteuervoranmeldungen, Lohnsteuervoranmeldungen oder Kapitalertragsteueranmeldungen) oder um deren schlichte Nichtabgabe geht. 324 Ist der Straftatbestand erfüllt, droht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Ist ein besonders schwerer Fall (§ 370 Abs. 3 Satz 1 AO) erfüllt,527) droht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Der Versuch ist gemäß § 370 Abs. 2 AO strafbar. Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit enthält § 370 AO nicht; allerdings ist die leichtfertige Steuerverkürzung in § 378 AO als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet. 325 Geschützt wird durch § 370 AO nach umstrittener, aber herrschender Meinung das staatliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern528) bzw. der Steuern im Ganzen.529) 326 Eine mögliche Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung trifft typischerweise den Vorstand der AG. Nur in Ausnahmekonstellationen ist eine Strafbarkeit des Aufsichtsrats denkbar. I.

Tathandlungen

327 Die zwei relevanten Tathandlungen der Steuerhinterziehung sind das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) und das pflichtwidrige Unterlassen von Angaben (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) über steuerlich erhebliche Tatsachen gegenüber den Finanzbehörden oder anderen Behörden. 328 Sowohl das Machen unrichtiger oder unvollständiger Angaben wie auch das pflichtwidrige Unterlassen von Angaben müssen sich auf steuerlich erhebliche Tatsachen beziehen. Dies sind Tatsachen, die auf Grund oder Höhe des Steueranspruchs Einfluss haben.530) ___________ 527) Vgl. Klein/Jäger, § 370 AO Rz. 275 ff. m. w. N. 528) Vgl. RG, Urt. v. 23.5.1938 – 3 D 257/38, RGSt 72, 184 (186) m. w. N.; BGH, Urt. v. 1.2.1989 – 3 StR 179/88, BGHSt 36, 100 (102) = wistra 1989, 226; Beschl. v. 23.3.1994 – 5 StR 91/94, BGHSt 40, 109 (111) = wistra 1994, 194; Beschl. v. 24.4.1996 – 5 StR 142/96, wistra 1996, 259; Urt. v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96, BGHSt 43, 381 (403) = wistra 1998, 180; OLG Hamburg, Urt. v. 5.12.2000 – III – 6/00 – 1 Ss 24/00, wistra 2001, 112 (113); MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 2; sowie zum Streitstand insgesamt Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO Rz. 2 m. w. N. 529) Vgl. MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 2; Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO Rz. 2. 530) MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 264.

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Corsten/Wackernagel

F. Steuerhinterziehung (§§ 370, 153 AO)

1.

Unrichtige oder unvollständige Angaben

Eine Steuerhinterziehung durch unrichtige oder unvollständige Angaben (§ 370 329 Abs. 1 Nr. 1 AO) kann als Allgemeindelikt grundsätzlich von jedermann – also auch von den Organmitgliedern der AG – begangen werden. In ihrer Organfunktion werden regelmäßig nur die Mitglieder des Vorstands mit steuerlichen Sachverhalten der AG befasst, zumeist im Zusammenhang mit der Abgabe von Steuererklärungen oder bei Steueranmeldungen;531) eine Einbindung von Mitgliedern des Aufsichtsrats ist selten und ungewöhnlich. Tatbestandliche unrichtige oder unvollständige Angaben können grundsätzlich in jedem Stadium des Besteuerungsverfahrens erfolgen, also bei Festsetzung, Erhebung, im Rechtsbehelfsverfahren, bei Vollstreckung oder Außenprüfung.532) Praxishinweis: Ein „klassischer“ Fall unrichtiger Angaben ist die Nichtbeachtung 330 des Abzugsverbots gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 10 EStG. Hiernach dürfen die Zuwendung von Vorteilen sowie damit zusammenhängende Aufwendungen, wenn die Zuwendung der Vorteile eine rechtswidrige Handlung darstellt, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand erfüllt, nicht als gewinnmindernde Betriebsausgaben behandelt werden. Wird dem zuwidergehandelt – etwa indem Zahlungen aus einem korruptiven Beratervertrag doch als Betriebsausgabe behandelt werden –, liegt eine unrichtige Erklärung vor. 2.

Pflichtwidriges Unterlassen von Angaben

Die Steuerhinterziehung durch pflichtwidriges Unterlassen von Angaben (§ 370 331 Abs. 1 Nr. 2 AO) kommt insoweit in Betracht, wie die AG eine steuerliche Erklärungspflicht trifft. Typischer – und häufigster – Anwendungsfall ist die Nichtabgabe von Jahres-Steuererklärungen oder Steueranmeldungen.533) Mit Blick auf die AG ist insbesondere an die folgenden Erklärungspflichten zu 332 denken, die sich aus den Steuergesetzen ergeben: 

zur Körperschaftssteuer (§ 31 KStG);



zur Voranmeldung zur Umsatzsteuer (§ 18 Abs. 1 Satz 1 UStG);



zur Umsatzsteuerjahreserklärung (§ 18 Abs. 3 Satz 1 UStG);



zur Gewerbesteuer (§ 14a Abs. 1 Satz 1 GewStG, § 25 GewStDV);



zur Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer (§ 41a EStG);



zur Anmeldung und Entrichtung der Kapitalertragsteuer (§§ 44, 45a EStG).

Die Steuerhinterziehung durch Unterlassen ist (anders als § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) 333 als Sonderdelikt ausgestaltet. Als Täter kommt nur derjenige in Betracht, der auch ___________ 531) Vgl. Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 112; MünchKommStGB/ Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 226. 532) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 114. 533) Arbeitshdb. Vorstandsmitglieder/Taschke/Zapf, § 12 Rz. 116.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

eine Rechtspflicht zur Angabe steuerlich relevanter Tatsachen hat. Besonders relevant ist hierbei die Steuerpflichtigkeit, also die Pflicht zur vollständigen Erklärung steuerlich relevanter Tatsachen gegenüber den Finanzbehörden. Eine Verantwortung für steuerliche Pflichten der AG besteht bei: 334 

dem Vorstand der AG als deren gesetzlicher Vertreter (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AO), sowie in Ausnahmefällen (Æ § 20 Rz. 11) für den Aufsichtsrat;

335 

dem faktischen Vorstand der AG (Æ § 20 Rz. 10 ff.), der als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, soweit er die steuerlichen Pflichten des gesetzlichen Vertreters (gemäß § 34 Abs. 1 AO) rechtlich und tatsächlich erfüllen kann (§ 35 AO);534)

336

Praxishinweis: Eine bloß tatsächliche Verfügungsmöglichkeit genügt dabei nicht;535) die Verfügungsmacht muss auch rechtlich bestehen.536) Die Möglichkeit, durch wirtschaftlichen Druck den Steuerpflichtigen zu bestimmten Verfügungen zu bewegen,537) Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten auf das Vermögen oder auf die Geschäftsführung des Steuerpflichtigen reichen daher selbst in Verbindung mit sonstiger völliger Abhängigkeit des Steuerpflichtigen (etwa von einer Bank) nicht aus.538)

337 

dem amtierenden Vorstand, der (etwa im Zuge eines Vorstandswechsels) nachträglich erkennt, dass bereits erfolgte steuerliche Erklärungen unrichtig waren oder unvollständig sind, wodurch es zu einer Verkürzung von Steuern kommen kann oder bereits gekommen ist (§ 153 AO).

338

Praxishinweis: Eine Berichtigungspflicht des amtierenden Vorstands entfällt nicht deshalb, weil der Vorgänger bei Abgabe der Erklärung die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit kannte.539) Kannte der Steuerpflichtige bereits bei Abgabe der Steuererklärung deren Unrichtigkeit bzw. Unvollständigkeit, so trifft ihn zwar keine Berichtigungspflicht i. S. d. § 153 AO, jedoch liegt dann schon eine Steuerhinterziehung i. S. v. § 370 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO vor. In diesem Fall kann ___________ 534) Vgl. BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl 1989, 491; Beschl. v. 13.8.2007 – VII B 20/07, BFH/NV 2008, 10; BGH, Beschl. v. 23.8.2017 – 1 StR 33/17, NZWiSt 2018, 498 (500); Klein/Rüsken, § 35 AO Rz. 3; der Regelung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AO soll der faktische Geschäftsführer dagegen nicht unterfallen, vgl. BFH, Urt. v. 10.5.1989 – I R 121/85, BFH/NV 1990, 7; Koenig, § 34 AO Rz. 16; Krause/Meier, DStR 2014, 905 (908); mit Blick auf die GmbH siehe auch FGOTipke/Kruse/Loose, 141. ErgLfg., Juli 2015, § 34 AO Rz. 8. 535) BT-Drucks. 7/4292; Gmach, DStZ 2001, 341; Klein/Rüsken, § 35 AO Rz. 3. 536) Vgl. BFH, Urt. v. 21.2.1989 – VII R 165/85, BStBl 1989, 491; Urt. v. 16.3.1995 – VII R 38/94, BStBl 1995, 859; BGH, Beschl. v. 23.8.2017 – 1 StR 33/17, NZWiSt 2018, 498 (500); Tipke/Kruse/Loose, § 35 AO Rz. 5; Klein/Rüsken, § 35 AO Rz. 3. 537) FG RhPf, Urt. v. 9.5.1985 – 2 K 50/83, EFG 1985, 587. 538) BFH, Urt. v. 16.3.1995 – VII R 38/94, BStBl 1995, 859. 539) BFH, Beschl. v. 7.3.2007 – I B 99/06, BFH/NV 2007, 1801; Klein/Rätke, § 153 AO Rz. 7.

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Corsten/Wackernagel

F. Steuerhinterziehung (§§ 370, 153 AO)

eine „Berichtigungsanzeige“ als Selbstanzeige i. S. v. § 371 AO gewertet werden.540) II.

Steuerverkürzung

Für Tatbestandsverwirklichung und Strafbarkeit kommt es schließlich noch auf 339 das Vorliegen eines Taterfolgs in Gestalt einer Steuerverkürzung bzw. des Erlangens eines Steuervorteils an. Die Abgrenzung beider Taterfolgsvarianten ist materiell nicht möglich541) und im Übrigen umstritten.542) Praktisch hat die Steuerverkürzung die deutlich größere Bedeutung.543) Nach § 370 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 AO liegt eine Steuerverkürzung zunächst 340 vor, wenn Steuern nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden. Grundsätzlich und verallgemeinert gesprochen stellt eine Steuerverkürzung demnach eine (gedachte) Unterschreitung der Ist-Einnahme unter die Soll-Einnahme dar.544) 

Nicht festgesetzt ist eine Veranlagungssteuer immer dann, wenn es an einem Steuerbescheid i. S. d. §§ 155, 157 AO für den jeweiligen Steueranspruch fehlt.545)



Eine Steuerfestsetzung nicht in voller Höhe liegt vor, wenn die Steuer für einen bestimmten Veranlagungszeitraum niedriger festgesetzt wird, als es den Regeln des jeweiligen Steuerrechts für den zugrunde liegenden Besteuerungssachverhalt entspricht.546)



Nicht rechtzeitig festgesetzt sind Steuern, wenn die Steuerpflicht verspätet erfüllt und die Steuer verspätet festgesetzt wird.547)

Der Erfolg der Steuerhinterziehung setzt im Festsetzungsverfahren nicht die 341 wirkliche Verletzung des Steueranspruchs oder die wirkliche Beeinträchtigung des Steueraufkommens voraus, vielmehr genügt gemäß der Legaldefinition des

___________ 540) Vgl. Klein/Rätke, § 153 AO Rz. 7 m. w. N. Zu den zeitlichen Anforderungen an die Anzeige- und die Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO und strafrechtlichen Risiken bei verspäteter oder Unterlassener Berichtigung Cordes/Stürzl-Friedlein, wistra 2020, 498 ff. 541) MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 81 ff. 542) Vgl. MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 81 ff. 543) Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO Rz. 32. 544) Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO Rz. 61; differenzierend MünchKommStGB/Schmitz/ Wulf, § 370 AO Rz. 85 m. w. N. 545) MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 93. 546) MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 94; vgl. auch Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO Rz. 62. 547) Joecks/Jäger/Randt/Joecks, § 370 AO Rz. 63; MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 95.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

§ 370 Abs. 4 Satz 1 AO im Festsetzungsverfahren die Gefährdung des Steueraufkommens.548) 342 Eine Steuerverkürzung kann gemäß § 370 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 AO auch vorliegen bei vorläufig festgesetzten Steuern, bei unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzten Steuern und bei Steueranmeldungen. Letzteres ist – insbesondere für die AG und mit Blick auf Umsatzsteuervoranmeldungen, Lohnsteueranmeldungen und die Anmeldung der Kapitalertragsteuer – von großer praktischer Bedeutung.549) III.

Subjektiver Tatbestand

343 Der Vorsatz der Steuerhinterziehung muss die Steuererheblichkeit der unrichtigen oder unvollständigen Angaben, die Herbeiführung des Steuerverkürzungserfolges sowie das Erlangen eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils umfassen. Dies setzt voraus, dass der Täter den angegriffenen Steueranspruch dem Grunde nach, der Höhe nach und seiner Fälligkeit nach kennt,550) also ausreichende Kenntnis von der steuerlichen Rechtslage hat und den Steueranspruch trotz dieser Kenntnis gegenüber der Steuerbehörde verkürzen will.551) 344 Diesbezüglich genügt auch ein bedingt vorsätzliches Handeln, was nach den allgemeinen Grundsätzen schon dann vorliegt, wenn der Eintritt einer Steuerverkürzung und das Vorliegen der übrigen Merkmale des Tatbestands konkret für möglich gehalten und die Steuerverkürzung billigend in Kauf genommen wird.552) 345 Die Feststellung des maßgeblichen Kenntnisstands ist Gegenstand der richterlichen Beweiswürdigung.553) Von bestimmender Bedeutung hierfür ist die Schwierigkeit der zu beurteilenden steuerlichen Frage.554) Daneben kann es u. a. auf das Alter, das Ausbildungsniveau oder die Herkunft des Steuerpflichtigen ankommen.555) Es kann auch von Bedeutung sein, ob und in welcher Intensität ___________ 548) 549) 550) 551) 552) 553) 554) 555)

Klein/Jäger, § 370 AO Rz. 85. Vgl. auch MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 92. BGH, Urt. v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11, wistra 2011, 465. St. Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 18.8.2020, NStZ 2021, 297 m. w. N.; Klein/Jäger, § 370 AO Rz. 171; MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 388, 397. Vgl. MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 387. BGH, Urt. v. 7.10.1966 – 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151; Klein/Jäger, § 370 AO Rz. 177; MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 388. MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 388. Vgl. FG München, Urt. v. 22.2.2000 – 2 K 2084/98, EFG 2000, 603; FG Nürnberg, Beschl. v. 21.10.2002 – IV 278/2002, Stbg 2003, 288; FG Köln, Urt. v. 22.6.2011 – 4 K 950/08, EFG 2012, 1011; BGH, Beschl. v. 27.11.2002 – 5 StR 127/02, BGHSt 48, 109, 117 = wistra 2003, 266; BGH, Beschl. v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18, NJW 2019, 3532; OLG München, Beschl. v. 15.2.2011 – 4St RR 167/10, NStZ-RR 2011, 247; MünchKommStGB/ Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 388.

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G. Verletzung der Geheimhaltungspflicht

eine steuerliche Frage zum Zeitpunkt der Abgabe der Steuererklärung in den allgemeinen Medien diskutiert und beschrieben wurde.556) Der Maßstab des maßgeblichen Kenntnisstandes ist ebenfalls unklar. Während 346 regelmäßig sichere Kenntnis bzgl. des Grundes und der Höhe des Steueranspruchs nicht vorausgesetzt wird,557) werden teilweise auch höhere Anforderungen an den bedingten Vorsatz formuliert, die auf eine derartige Kenntnis bestehen.558) G.

Verletzung der Geheimhaltungspflicht

Die Organe der AG unterliegen einer Geheimhaltungspflicht, deren Verletzung 347 gemäß § 404 AktG strafbewehrt ist. Ist der Straftatbestand des § 404 Abs. 1 AktG erfüllt, kann dies mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, bei börsennotierten Gesellschaften bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Wird die Geheimhaltungspflicht in der Absicht verletzt, sich (oder einen anderen) zu bereichern oder der Gesellschaft zu schaden, droht eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, bei börsennotierten Gesellschaften bis zu drei Jahren oder Geldstrafe (§ 404 Abs. 2 Satz 1 AktG). Derselben (gesteigerten) Strafdrohung des § 404 Abs. 2 Satz 1 AktG unterliegt, wer ein Geschäftsgeheimnis i. S. v. § 404 Abs. 1 AktG unbefugt verwertet (vgl. § 404 Abs. 2 Satz 2 AktG). Die Regelung dient dem Schutz der Gesellschaft vor Verletzungen ihrer Geheim- 348 sphäre, mittelbar sollen auch die Aktionäre geschützt werden.559) Die strafbewehrte Geheimhaltungspflicht richtet sich sowohl an die Mitglieder 349 des Vorstands der AG wie auch an die Mitglieder des Aufsichtsrats. Bezugsobjekt der Geheimhaltungspflicht sind Geheimnisse der Gesellschaft. Die im Gesetzeswortlaut angeführte Formulierung „namentlich ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis“ wird als nur exemplarischer Unterfall verstanden; der allgemeine Geheimnisbegriff soll weiter gehen.560) Ein Geheimnis in diesem Sinne sind nicht offenkundige Tatsachen, hinsichtlich 350 derer die Gesellschaft ein Geheimhaltungsinteresse hat und hinsichtlich derer ein Geheimhaltungswille der Gesellschaft besteht.561) ___________ 556) MünchKommStGB/Schmitz/Wulf, § 370 AO Rz. 388. 557) Vgl. BGH, Urt. v. 5.3.1986 – 2 StR 666/85, wistra 1986, 174; Urt. v. 9.2.1995 – 5 StR 722/94, wistra 1995, 191; Urt. v. 16.12.2009 – 1 StR 491/09, HFR 2010, 866; Urt. v. 8.9.2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160; Beschl. v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18, NJW 2019, 3532; sehr extensiv auch BGH, Urt. v. 16.12.2009 – 1 StR 491/09, BeckRS 2010, 02398; krit. hierzu Flore/Tsambikakis/Flore, § 370 AO Rz. 649. 558) Vgl. OLG München, Beschl. v. 15.2.2011 – 4St RR 167/10 NStZ-RR 2011, 247 (248); Wegner, PStR 2011, 140. 559) NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 1. 560) MünchKommStGB/Weiß, § 404 AktG Rz. 10; NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 8. 561) MünchKommAktG/Wittig, § 404 AktG Rz. 21; auf den Geheimhaltungswillen verzichtend MünchKommStGB/Weiß, § 404 AktG Rz. 20 f.; vgl. auch MünchKommStGB/Joecks/ Miebach, § 23 GeschGehG Rz. 19 ff., zu § 23 GeschGehG.

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1363

§ 21 Relevante Straftatbestände

351 Konkret unter den Begriff des Gesellschaftsgeheimnisses sollen sämtliche Angelegenheiten fallen, die zum Schutz der Gesellschaft im Interesse ihrer Wettbewerbsfähigkeit und ihres Ansehens außenstehenden Personen nicht bekannt werden dürfen.562) Vom Begriff des Gesellschaftsgeheimnisses umfasst sind somit nicht nur die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft (Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse), sondern auch solche Tatsachen, deren Offenkundigwerden zu immateriellen Schäden für die Gesellschaft führen könnte.563) 352 Soweit nach Inkrafttreten des sog. Geschäftsgeheimnisgesetzes (GeschGehG)564) umstritten ist, inwiefern der Geschäftsgeheimnisbegriff des § 404 AktG anhand der in § 2 Nr. 1 GeschGehG verankerten Legaldefinition des Geschäftsgeheimnisses auszulegen ist,565) sprechen die besseren Argumente gegen eine entsprechende „Ausstrahlungswirkung“ des GeschGehG auf das AktG. Ursprung der Überlegung, die Legaldefinition des § 2 Nr. 1 GeschGehG auf § 404 AktG zu übertragen, war das systematische Argument, dass § 1 Abs. 3 Nr. 1 GeschGehG zwar ausdrücklich regelt, dass der Geheimhaltungstatbestand des § 203 StGB durch das GeschGehG unberührt bleibt, für das AktG eine entsprechende Anordnung jedoch fehlt.566) Dies lasse den Rückschluss zu, dass § 404 AktG anhand des Geschäftsgeheimnisbegriffes des § 2 Nr. 1 GeschGehG auszulegen sei.567) 353 Das systematische Argument ist bereits im Ansatz nicht überzeugend. Die Gesetzesbegründung zum GeschGehG weist an keiner Stelle darauf hin, mittels § 1 Abs. 3 GeschGehG das Verhältnis des GeschGehG zu anderen Gesetzen abschließend regeln zu wollen.568) Im Gegenteil legt die Gesetzesbegründung nahe, dass § 1 Abs. 3 GeschGehG weitgehend deklaratorische Bedeutung hat: „Absatz 3 Nummer 1 macht deutlich […] Absatz 3 Nummer 2 stellt klar“. Auf dieser Grundlage ist die Annahme einer Bindungswirkung des GeschGehG für das AktG fernliegend.569) 354 Der Streit dürfte für die Praxis ohnehin eine zu vernachlässigende Bedeutung haben. Das maßgebliche Alleinstellungsmerkmal des Geschäftsgeheimnisbegriffs des § 2 Nr. 1 GeschGehG ist, dass als Geschäftsgeheimnis dort nur solche ___________ 562) Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 404 AktG Rz. 8. 563) Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 404 AktG Rz. 8. 564) Vgl. zum Gesetzgebungsverfahren BeckOK-GeschGehG/Hiéramente, § 1 GeschGehG Rz. 1.1. 565) Vgl. BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 404 AktG Rz. 24 ff. 566) Vgl. zum Ganzen BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 404 AktG Rz. 24 m. w. N. 567) Vgl. Brockhaus, ZIS 2020, 102 (119): „Die anderen oben (unter 5.) genannten Straftatbestände – das ergibt sich im Umkehrschluss aus § 1 Abs. 3 Nr. 1 – bleiben von den Regelungen des Geschäftsgeheimnisgesetzes nicht unberührt. Demzufolge sind bei den anderen Straftatbeständen die Legaldefinition und die Ausnahmetatbestände des Geschäftsgeheimnisgesetzes zu berücksichtigen. Dafür spricht auch der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung.“ 568) Vgl. BT-Drucks. 19/4724. 569) Vgl. auch BeckOK-GeschGehG/Hiéramente, § 1 GeschGehG Rz. 23.

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Corsten/Wackernagel

G. Verletzung der Geheimhaltungspflicht

Informationen in Betracht kommen, die Gegenstand von den Umständen nach angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen durch ihren rechtmäßigen Inhaber sind (§ 2 Nr. 1 lit. b GeschGehG). Ersten Entwicklungen der Rechtsprechung nach werden jedoch nur geringe Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal der angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen gestellt, sodass sich die Geschäftsgeheimnisbegriffe der § 404 AktG und § 2 Nr. 1 GeschGehG weitgehend aneinander annähern dürften.570) Auch wenn sich eine restriktivere Rechtsprechungslinie in diesem Zusammenhang durchsetzen sollte,571) dürften Vorstand und Aufsichtsrat die – scheinbar – eingrenzende Wirkung des § 2 Nr. 1 GeschGehG in Anbetracht der unsicheren Rechtslage jedoch keinesfalls als „Safe Harbour“ betrachten. Der Geheimhaltungspflicht unterfallen nur solche Geheimnisse, die dem jewei- 355 ligen Organmitglied „in seiner Eigenschaft“ als Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats bekannt geworden sind, es bedarf also eines funktionalen Zusammenhangs zwischen Organfunktion und Bekanntwerden des Geheimnisses.572) Geheimnisse hinsichtlich derer eine außerdienstliche Kenntniserlangung im privaten Bereich erfolgte, unterfallen deshalb nicht dem Tatbestand.573) Indes ist die Abgrenzung schwierig, ob die Kenntniserlangung wirklich als Privatperson erfolgt, oder ob das Organmitglied (obgleich in einem privaten Umfeld) nicht doch in dieser Rolle adressiert wird. Sicher ist dagegen, dass Geheimnisse, die ein Organteil vor seiner Bestellung in Erfahrung gebracht hat (etwa weil er zuvor Unternehmensmitarbeiter war), nicht dem Anwendungsbereich des § 404 AktG unterfallen.574) Praxishinweis: Allerdings können zuvor bekannte Geheimnisse dem Schutzbereich 356 der Strafnorm des § 23 GeschGehG (Verletzung von Geschäftsgeheimnissen) unterfallen, weshalb auch in dieser Konstellation empfindliche Strafen drohen. Die Geheimhaltungspflicht endet nicht mit Ausscheiden aus der Organfunktion. 357 Somit können sich auch ehemalige Mitglieder von Vorstand oder Aufsichtsrat strafbar machen, die nach ihrem Ausscheiden Geheimnisse offenbaren, die ihnen in ihrer früheren Funktion bekannt geworden sind.575) Tathandlung i. S. v. § 404 Abs. 1 AktG ist das unbefugte Offenbaren eines Ge- 358 heimnisses. Von einem Offenbaren kann die Rede sein, wenn das Geheimnis einer dritten Person, der das Geheimnis bislang noch unbekannt oder jedenfalls nicht ___________ 570) Vgl. KG, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 W 1029/20, BeckRS 2020, 31170; BeckOKGeschGehG/Fuhlrott § 2 GeschGehG Rz. 20.1. 571) Vgl. insofern LAG Düsseldorf, Urt. v. 30.6.2020 – 12 SaGa 4/20, GRUR-RS 2020, 23408. 572) NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 4. 573) Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 404 AktG Rz. 7; NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 5. 574) BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 404 Rz. 20; Erbs/Kohlhaas/Schaal, § 404 AktG Rz. 7. 575) BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 404 Rz. 20; MünchKommStGB/Weiß, § 404 AktG Rz. 23; NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 4.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

sicher bekannt war, die Möglichkeit verschafft wird, von dem Geheimnis Kenntnis zu nehmen.576) Unbefugt handelt, wer ohne Einverständnis („spezieller Offenbarungswille“) des hierfür zuständigen Organs ein Geheimnis offenbart, und bei dem auch keine weiteren Rechtfertigungsgründe vorliegen.577) Die in § 404 Abs. 2 Satz 2 AktG vorgesehene Tathandlung des „Verwertens“ erfasst jede Tätigkeit, die darauf abzielt, einen wirtschaftlichen Wert aus dem Geheimnis zu ziehen.578) H.

Straftatbestände des Bundesdatenschutzgesetzes

359 Mit Einführung der Datenschutz-Grundverordnung ist in der Fach- und in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Bedeutung des Datenschutzrechts in erheblichem Maße gewachsen. In mindestens gleichem Maße zugenommen hat das Bewusstsein für die Möglichkeit einer Sanktionierung von Datenschutzverstößen. Zunehmend verhängen die zuständigen Behörden bei Datenschutzverstößen Geldbußen gegen Unternehmen. Es spricht vieles dafür, dass sich dieser „Trend“ fortsetzen und auch – in entsprechenden Fallgestaltungen – vor den Organen des Unternehmens nicht Halt machen wird,579) wobei insbesondere an den Kunden- und an den Beschäftigten-Datenschutz zu denken ist. 360 Die zentrale Strafvorschrift des Datenschutzrechts ist § 42 BDSG. § 42 BDSG wurde durch das Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU vom 30.6.2017580) eingeführt und trat am 25.5.2018 in Kraft.581) 361 Die in § 42 Abs. 1 und 2 BDSG normierten Straftatbestände schützen das Rechtsgut der informationellen Selbstbestimmung vor ausgewählten, besonders schwerwiegenden Verstößen.582) 362 Verstöße nach § 42 Abs. 1 BDSG sind mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bewehrt. Demgegenüber ist die Strafdrohung für Verstöße nach § 42 Abs. 2 BDSG herabgesetzt. Derartige Verstöße können mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Der Versuch der § 42 Abs. 1 und 2 StGB ist nicht strafbar.583)

___________ 576) 577) 578) 579) 580) 581)

NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 6. NK-WSS/Krause/Twele, § 404 AktG Rz. 7. Vgl. BeckOGK-AktG/Hefendehl, § 404 AktG Rz. 52 m. w. N. Wybitul/Klaas, NZWiSt 2021, 216 ff. BGBl I 2017, 2097. BGBl I 2017, 2097 (2132); vgl. zur Gesetzesgeschichte BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/ Nowak, § 42 BDSG Rz. 1 f. 582) Vgl. Sydow/Heghmanns, § 42 BDSG Rz. 7. 583) BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 64.

1366

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H. Straftatbestände des Bundesdatenschutzgesetzes

I.

Täterkreis

Der persönliche Anwendungsbereich des § 42 BDSG ist umstritten. Zum Teil 363 wird vertreten, bei den § 42 Abs. 1 und 2 BDSG handele es sich um Sonderdelikte, deren Anwendung auf den in § 1 Abs. 4 BDSG genannten Personenkreis beschränkt sei (vgl. § 1 Abs. 4 Satz 1 und 2 BDSG: „Dieses Gesetz findet Anwendung auf öffentliche Stellen. Auf nichtöffentliche Stellen findet es Anwendung, sofern 1. der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter personenbezogene Daten im Inland verarbeitet“).584) Dies wird damit begründet, dass es widersprüchlich sei, die Strafdrohung des § 42 BDSG auf Personen zu erstrecken, die im Übrigen nicht dem aus § 1 Abs. 4 BDSG folgenden Anwendungsbereich unterworfen wären und die auch mit Blick auf die Regelungssystematik der DSGVO ansonsten keine Pflichtenadressaten wären. Als Täter komme nur in Betracht, wer i. S. d. DSGVO für eine Datenverarbeitung verantwortlich sei.585) Die Gegenansicht betrachtet die Straftatbestände des § 42 BDSG als Delikte, 364 die von jedermann begangen werden können und beruft sich zur Begründung insbesondere auf den insofern offenen Wortlaut der § 42 Abs. 1 und 2 BDSG („[…] wird bestraft, wer […]“)586) sowie auf den Zweck des § 42 BDSG, einen umfassenden Schutz persönlicher Daten zu gewährleisten.587) In jedem Fall gilt es zu beachten, dass – selbst wenn man die Straftatbestände 365 des § 42 BDSG als Sonderdelikte einordnen wollte – es sich bei den Merkmalen des „Verantwortliche[n] oder Auftragsverarbeiter[s]“ um besondere persönliche Merkmale handeln würde, die vertretungsberechtigen Organen einer juristischen Person (bzw. deren Mitgliedern) über § 14 StGB zugerechnet werden können (hierzu ausführlich Æ § 20 Rz. 2 ff.).588) Darüber hinaus bleibt eine Teilnahme nach allgemeinen Regeln möglich.589) II.

Tathandlungen und Vorsatz

Nach § 42 Abs. 1 BDSG macht sich strafbar, wer wissentlich personenbezoge- 366 ne Daten einer großen Zahl von Personen, die nicht allgemein zugänglich sind, ohne hierzu berechtigt zu sein, gewerbsmäßig Dritten 

übermittelt oder

___________ 584) 585) 586) 587)

So BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 15. BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 15. Vgl. Traeger/Gabel/Nolde, § 42 BDSG Rz. 1. Sydow/Heghmanns, § 42 BDSG Rz. 7; vgl. mit eigenständiger Begründung Kühling/ Buchner/Bergt, § 42 BDSG Rz. 3. 588) Vgl. BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 16; Kühling/Buchner/ Bergt, § 42 BDSG Rz. 3. 589) Kühling/Buchner/Bergt, § 42 BDSG Rz. 3.

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§ 21 Relevante Straftatbestände



auf andere Art und Weise zugänglich macht.590)

367 In der Sache kann eine entsprechende Tathandlung durch eine Vielzahl von Verhaltensweisen erfüllt werden; in der Praxis dürften Fälle des Kunden- und des Beschäftigten-Datenschutzes am Relevantesten sein. 368 Der Begriff der personenbezogenen Daten folgt der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 1 DSGVO,591) wonach als personenbezogene Daten alle Informationen gelten, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. Als identifizierbar wird eine natürliche Person gem. Art. 4 Nr. 1 Halbs. 2 DSGVO angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann. Allerdings schützt § 42 (Abs. 1) StGB nicht vor sich selbst: Die Daten müssen sich zumindest auch auf eine weitere Person als den Täter beziehen.592) Sie sind dann allgemein zugänglich, wenn sie von jedermann zur Kenntnis genommen werden können, ohne dass der Zugang zu den Daten rechtlich beschränkt ist.593) 369 Gewerbsmäßiges Handeln liegt vor, wenn durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle geschaffen wird, wobei die Erstbegehung in der Absicht der Wiederholung ausreichen soll.594) 370 Mit Blick auf das Tatbestandsmerkmal der „großen Zahl“ herrscht aufgrund der Unbestimmtheit der Begrifflichkeit erhebliche Rechtsunsicherheit.595) Jedenfalls erfasst sind Fälle, in denen auf ganze Datenbanken zugegriffen wird und dortige Daten unberechtigt übermittelt oder zugänglich gemacht werden. Soweit lediglich ein Personenkreis im niedrigen zweistelligen oder gar einstelligen Bereich betroffen ist, dürfte eine Anwendung des § 42 Abs. 1 StGB in der Regel ausscheiden.596) 371 Dem tatbestandsmäßigen Handeln fehlt die Berechtigung, wenn kein datenschutzrechtlicher Erlaubnistatbestand gegeben ist.597) ___________ 590) Vgl. übersichtlich Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 5 ff.; BeckOK-DatenschutzR/ Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 22. 591) Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 7. 592) Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 7. 593) Vgl. BGH, Urt. v. 4.6.2013 – 1 StR 32/13, NJW 2013, 2530 (2533); BeckOK-DatenschutzR/ Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 25. 594) Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 13; Paal/Pauly/Frenzel, § 42 BDSG Rz. 7. 595) Hierzu Paal/Pauly/Frenzel, § 42 BDSG Rz. 6. 596) Vgl. Paal/Pauly/Frenzel, § 42 BDSG Rz. 7. 597) Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 12.

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H. Straftatbestände des Bundesdatenschutzgesetzes

Die subjektive Komponente der Wissentlichkeit ist gegeben, wenn der Täter 372 mit dem sicheren Wissen der Erfolgsherbeiführung handelt; das Vorliegen bedingten Vorsatzes allein genügt zur Tatbestandsverwirklichung nicht.598) Nach § 42 Abs. 2 StGB macht sich strafbar, wer personenbezogene Daten, die 373 nicht allgemein zugänglich sind, 

ohne Berechtigung verarbeitet oder



sich durch unrichtige Angaben erschleicht

und dabei entweder gegen Entgelt oder in der Absicht handelt, 

sich oder einen anderen zu bereichern



oder einen anderen zu schädigen.

Ein Handeln gegen Entgelt liegt gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 9 StGB bei jeder in ei- 374 nem Vermögensvorteil bestehenden Gegenleistung vor, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Gegenleistung auch tatsächlich erbracht wurde, oder ob sie zur Bereicherung des Täters geführt hat.599) Handelt der Täter nicht gegen Entgelt, so ist für eine Tatbestandsmäßigkeit zwingend erforderlich, dass er in der Absicht gehandelt hat, sich oder einen anderen zu bereichern oder aber einen anderen zu schädigen.600) Bereicherungsabsicht liegt vor, wenn die Tat nach der Vorstellung des Täters 375 in einem positiven Vermögenssaldo für ihn selbst oder für einen Dritten mündet und es ihm gerade auf diesen angestrebten Vermögenszuwachs ankommt.601) Schädigungsabsicht liegt vor, wenn es dem Täter zielgerichtet darauf ankommt, durch die Datenverarbeitung einer anderen Person einen Nachteil zuzufügen.602) III.

Strafantragserfordernis

Bei den § 42 Abs. 1 und 2 BDSG handelt es sich um sog. absolute Antragsde- 376 likte. Die Taten werden nur auf Strafantrag hin verfolgt, der entsprechend den Vorgaben der §§ 77 bis 77d StGB zu stellen ist. Antragsberechtigt sind die betroffene Person (Art. 4 Nr. 1 DSGVO), der Ver- 377 antwortliche (Art. 4 Nr. 7 DSGVO), der Bundesbeauftragte (§§ 8 ff. BDSG) und die Aufsichtsbehörde (§ 40 BDSG).603)

___________ 598) 599) 600) 601) 602) 603)

Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 14. Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 22. BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 50. BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 51. BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 52. BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 71; Gola/Heckmann/Ehmann, § 42 BDSG Rz. 27 ff.

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§ 21 Relevante Straftatbestände

IV.

Beweisverwendungsverbot

378 § 42 Abs. 4 BDSG regelt das Verhältnis der § 42 Abs. 1 und 2 StGB zu den in Art. 33, 34 DSGVO statuierten Meldepflichten über Verletzungen des Schutzes personenbezogener Daten gegenüber der zuständigen Aufsichtsbehörde (Art. 33 DSGVO) bzw. der durch die personenbezogenen Daten betroffenen Person. Die Vorschrift sieht für derartige „Selbstanzeigen“ ein strafrechtliches604) absolutes Beweisverwendungsverbots vor und sichert in Anbetracht der dargelegten Meldepflichten die verfassungsmäßig garantierte Selbstbelastungsfreiheit des jeweiligen Täters dahingehend, nicht durch Erfüllung seiner Meldepflichten dem Staat zugleich die Grundlage für ein gegen ihn gerichtetes Strafverfahren liefern zu müssen (nemo tenetur se ipsum accusare).605) Für sonstige Zwecke darf die Aufsichtsbehörde als Verwaltungsbehörde entsprechende Meldungen ohne Beschränkung durch § 42 Abs. 4 BDSG verwenden.606)

___________ 604) BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 75. 605) BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 75. 606) BeckOK-DatenschutzR/Brodowski/Nowak, § 42 BDSG Rz. 75 m. w. N.

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Corsten/Wackernagel

Vorbemerkung

Cordes

Ordnungswidrigkeiten sind Rechtsverstöße, die keinen kriminellen Gehalt auf- 1 weisen,1) in erster Linie von der Verwaltung (z. B. Bezirksregierung, Hauptzollamt) verfolgt werden und sich dadurch von Straftaten unterscheiden. Eine Straftat ist gegeben, sofern ein Tatbestand des StGB (z. B. § 266 StGB, 2 Æ § 21 Rz. 2 ff.) oder eines strafrechtlichen Nebengesetzes (z. B. §§ 399 bis 404a AktG) erfüllt ist, der als Rechtsfolge eine Strafe i. S. d. §§ 38 ff. StGB (Freiheitsstrafe oder Geldstrafe) androht.2) Demgegenüber liegt eine Ordnungswidrigkeit vor, wenn die Gesetzesverletzung 3 mit einer Geldbuße sanktioniert werden soll. Es handelt sich mithin um Zuwiderhandlungen mit erheblich vermindertem Unrechtsgehalt.3) Betreffend die Gesetzgebungskompetenz gehört das Ordnungswidrigkeitenrecht 4 indes zum „Strafrecht“ bzw. zum „gerichtlichen Verfahren“ i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.4) Auch der EGMR zählt das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht zum Strafrecht i. S. d. EMRK.5) Gemäß der Subsidiaritätsklausel des § 21 Abs. 1 Satz 1 OWiG wird nur das Straf- 5 gesetz angewendet, wenn eine Handlung gleichzeitig Straftat und Ordnungswidrigkeit ist. Bei der Strafzumessung kann die Ordnungswidrigkeit aber „eingepreist“ werden, wenn sie einen unterschiedlichen Unrechtsgehalt aufweist und die Tat den Vorwurf steigert, der den Täter trifft.6) Falls eine Strafe nicht verhängt wird (z. B. wegen fehlender Verfahrensvoraus- 6 setzungen für das Strafverfahren oder mangels hinreichenden Tatverdachtes i. S. d. § 203 StPO),7) kann die Handlung nach Abs. 2 als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Sofern der Täter wegen der Straftat freigesprochen wird, wird die Anwendung des § 21 Abs. 2 OWiG indes durch §§ 82, 83 OWiG verdrängt.8) Praxishinweis: Folglich ist zu prüfen, ob darauf gedrungen werden sollte, dass die 7 Staatsanwaltschaft zugleich über die Ordnungswidrigkeit entscheidet. Das gilt etwa in nachfolgendem Beispiel: Die zuständige Bezirksregierung ermittelt gegen Verantwortliche eines Pharmaunternehmens wegen des Verdachts von Verstößen gegen ___________ 1) 2) 3) 4) 5)

Weber/Werner, Rechtswörterbuch, 6. Ed. 2022, Ordnungswidrigkeiten. Krenberger/Krumm, § 1 Rz. 3. KK-OWiG/Rogall, Vorbem. Rz. 1; Krenberger/Krumm, § 1 Rz. 4. KK-OWiG/Rogall, Vorbem. Rz. 3. BeckOK OWiG/Gerhold, Einl. Rz. 5; vgl. EGMR, Urt. v. 21.02.1984, NJW 1985, 1273 – Fall Öztürk. 6) BGH, Beschl. v. 15.10.1970 – 4 StR 322/70, NJW 1970, 2255 (2256); Wegner, Zum Verhältnis zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, wistra 2005, 313 (314). 7) Dagegen ist eine Verfolgung der Ordnungswidrigkeit nach einer Einstellung gemäß § 153a StPO oder einer gerichtlichen Einstellung nach § 153 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 153 Abs. 2 StPO nicht möglich, Wegner, wistra 2005, 313 (314). 8) KK-OWiG/Mitsch, § 21 Rz. 21.

Cordes

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Vorbemerkung

das ChemG i. V. m. der GefStoffV. Sie gibt die Sache gemäß § 41 Abs. 2 OWiG wegen des Verdachts einer fahrlässigen Körperverletzung an die Staatsanwaltschaft ab. Diese sieht von der Einleitung eines Strafverfahrens nach § 41 Abs. 2 OWiG ab oder stellt das Verfahren wegen der Straftat ein und gibt die Sache zur Ahndung der Ordnungswidrigkeiten nach § 43 Abs. 1 OWiG an die „düpierte“ Verwaltungsbehörde zurück, aus deren Sicht eine Sanktionierung geboten ist. Hiernach dürfte der Verfolgungseifer der Verwaltungsbehörde deutlich ausgeprägter sein. 8 Betreffend Vorstand und Aufsichtsrat in der AG ist neben der Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen gemäß § 130 OWiG insbesondere die Festsetzung einer Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG (Æ § 23) von Bedeutung. 9 Ob Straftaten, die aus Verbänden (juristischen Personen oder Personenvereinigungen) begangen werden, nach Maßgabe eines gesonderten Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) geahndet werden sollen, ist nach wie vor Gegenstand politscher Debatte (Æ § 24). 10 Zur Verteidigung in der Praxis (gegen Straftaten wie Ordnungswidrigkeiten) Æ § 25.

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Cordes

§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

Cordes

Übersicht A. Einleitung........................................... 1 B. Inhaber von Betrieben und Unternehmen .......................................... 5 I. Betrieb und Unternehmen................. 5 II. Inhaber ................................................ 6 C. Innerbetriebliche Pflichten............ 11 I. Rechtsquellen.................................... 12 II. Pflichtenkanon ................................. 19 1. Organisationspflicht ................. 21 2. Kontrollpflicht........................... 33 3. Untersuchungs- und Interventionspflicht........................... 37

4. Einzelheiten ............................... 41 III. Pflichtendelegation .......................... 43 IV. Haftung nachgeordneter Abteilungen................................................ 50 D. Betriebsbezogene Zuwiderhandlung................................................... 59 E. Vorsatz und Fahrlässigkeit ............ 69 F. Rechtsfolgen .................................... 75 G. Antragserfordernis ......................... 85 H. Verjährung....................................... 86

§ 130 OWiG [Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen] (1) Wer als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist, handelt ordnungswidrig, wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehören auch die Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen. (2) Betrieb oder Unternehmen im Sinne des Absatzes 1 ist auch das öffentliche Unternehmen. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann, wenn die Pflichtverletzung mit Strafe bedroht ist, mit einer Geldbuße bis zu einer Million Euro geahndet werden. § 30 Absatz 2 Satz 3 ist anzuwenden. Ist die Pflichtverletzung mit Geldbuße bedroht, so bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung nach dem für die Pflichtverletzung angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Satz 3 gilt auch im Falle einer Pflichtverletzung, die gleichzeitig mit Strafe und Geldbuße bedroht ist, wenn das für die Pflichtverletzung angedrohte Höchstmaß der Geldbuße das Höchstmaß nach Satz 1 übersteigt. Schrifttum: Bartz/Bittner, Vier Augen sehen mehr als zwei – Die Pflicht der Geschäftsführung zur Schaffung von Compliance-Strukturen – zugleich Anmerkung zu OLG Nürnberg, Endurteil vom 30.3.2022 – 12 U 1520/19, CCZ 2022, 319; Bürkle/Hauschka, Der Compliance Officer, 2015; Cordes/Reichling, Grenzen ordnungswidrigkeitenrechtlicher Sanktionierung bei Verbandsgeldbußen, NJW 2015, 1335; Cordes/Stürzl-Friedlein, Die zeitlichen Anforderungen an die Anzeige- und die Berichtigungspflicht gemäß § 153 AO und strafrechtliche Risiken bei verspäteter oder unterlassener Berichtigung, wistra 2020, 498; Dannecker, Die Verfolgungsverjährung bei Submissionsabsprachen und Aufsichtspflichtverletzungen in Betrieben und Unternehmen – Zugleich eine Anmerkung zu BGH, NJW 1984, 2272 = NStZ 1985, 77 –, NStZ 1985, 49; Degenhart/Dziuba, Die EU-WhistleblowerRichtlinie und ihre arbeitsrechtlichen Auswirkungen, BB 2021, 570; Demuth/Schneider, Die besondere Bedeutung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten für Betrieb und Unternehmen, BB 1970, 642; Dilling, Der Schutz von Hinweisgebern und betroffenen Per-

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG sonen nach der EU-Whistleblower-Richtlinie, CCZ 2019, 214; Egger, Hinweisgebersysteme und Informantenschutz, CCZ 2018, 126; Fleischer, Aktienrechtliche CompliancePflichten im Praxistest: Das Siemens/Neubürger-Urteil des LG München I, NZG 2014, 321; Fleischer, Corporate Compliance im aktienrechtlichen Unternehmensverbund, CCZ 2008, 1; Graf, Die Tätigkeit des Unternehmensjuristen – gefahrgeneigte Tätigkeit?, in: Festschrift Schiller, 2014, S. 206; Groß, Rechtsabteilung und Compliance – ein systemischer Widerspruch?, CB 2013, 270; Groß/Reichling, Weshalb sich Korruption nicht mit den Mitteln des Ordnungswidrigkeitenrechts bekämpfen lässt, wistra 2013, 89; Hauschka/Greeve, Compliance in der Korruptionsprävention – was müssen, was sollen, was können die Unternehmen tun?, BB 2007, 165; Hauschka, Fünf Jahre Siemens-Entscheidung des LG München I, CCZ 2018, 159; Hecker, Aufsichtspflichtverletzungen bei Zuwiderhandlungen Unternehmensfremder, GewArch 1999, 320; Helmrich, Straftaten von Mitarbeitern zum Nachteil des „eigenen“ Unternehmens als Anknüpfungstaten für eine Verbandsgeldbuße?, wistra 2010, 331; Hoffmann/Schieffer, Pflichten des Vorstands bei der Ausgestaltung einer ordnungsgemäßen Compliance-Organisation, NZG 2017, 401; Kienapfel, Zur Einheitstäterschaft im Ordnungswidrigkeitsrecht, NJW 1983, 2236; Kindler, Das Unternehmen als haftender Täter, 2007; Komma/Jüttner, Die Vereinbarkeit von Matrix-Compliancesteuerungskonzepten mit den Vorgaben des Ordnungswidrigkeitenrechts, CCZ 2022, 60; Klümper/Walther, Auditierung und Zertifizierung von Pharmaunternehmen im Bereich Healthcare Compliance. Konzept und Chance eines innovativen Compliance-Ansatzes, PharmR 2010, 145; Knaup/Vogel, Compliance der Compliance aus arbeitsrechtlicher Sicht, CB 2023, 211; Korte, Bekämpfung der Korruption und Schutz des freien Wettbewerbs mit den Mitteln des Strafrechts, NStZ 1997, 513; Mehle, Verjährungsprobleme bei der Verhängung von Geldbußen gegen Unternehmen und Leitungspersonen (§§ 30, 130 OWiG), Festschrift Wessing, 2015, 453; Miege, Einrichtung eines Hinweisgebersystems, CCZ 2008, 45; Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht, 7. Aufl., 2020; Otto, Die Haftung für kriminelle Handlungen in Unternehmen, Jura 1998, 409; Park, Durchsuchung und Beschlagnahme, 4. Aufl., 2018; Reichert/Ott, Non Compliance in der AG – Vorstandspflichten im Zusammenhang mit der Vermeidung, Aufklärung und Sanktionierung von Rechtsverstößen, ZIP 2009, 2174; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996; Rettenmaier/Palm, Das Ordnungswidrigkeitenrecht und die Aufsichtspflicht von Unternehmensverantwortlichen, NJOZ 2010, 1414; Rotsch, Criminal Compliance, 2015; Rübenstahl/ Skoupil, Anforderungen der US-Behörden an Compliance-Programme nach dem FCPA und deren Auswirkungen auf die Strafverfolgung von Unternehmen – Modell für Deutschland, wistra 2013, 209; Schaefer/Baumann, Compliance-Organisation und Sanktionen bei Verstößen, NJW 2011, 3601; Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl., 2017; Schneider, Compliance im Konzern, NZG 2009, 1321; Sonnenberg, ComplianceSysteme in Unternehmen, JuS 2017, 917; Steffen/Stöhr, Die Umsetzung von ComplianceMaßnahmen im Arbeitsrecht, RdA 2017, 43; Steinkühler/Kunze, Schmiergelder, Schwarze Kassen und ihre kündigungsrechtlichen Konsequenzen, RdA 2009, 367; Taschke/Pielow/Volk, Die EU-Whistleblowing-Richtlinie – Herausforderungen für die Unternehmenspraxis, NZWiSt 201, 85; Vogel/Poth, Steine statt Brot für die Whistleblower, CB 2019, 45; Volk/ Beukelmann, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 3. Aufl., 2020; von Busekist/ Hein, Der IDW PS 980 und die allgemeinen rechtlichen Mindestanforderungen an ein wirksames Compliance Management System (1) – Grundlagen, Kultur und Ziele, CCZ 2012, 41; von Rosen, Deutsches Aktieninstitut, Internal Investigations bei ComplianceVerstößen (Praxisleitfaden für die Unternehmensleitung), Heft 48, 2010; Wagner, Ethikrichtlinien – Implementierung und Mitbestimmung, 2008; Wiedmann/Greubel, Compliance Management Systeme – Ein Beitrag zur effektiven und effizienten Ausgestaltung, CCZ 2019, 88; Wolter, Zur dreijährigen Verjährungsfrist nach den §§ 130, 31, 131 OWiG – ein Beitrag zur Gesetzesauslegung, GA 2010, 441; Zieglmeier, Unternehmensgeldbuße bei Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen, NJW 2016, 2163.

1374

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B. Inhaber von Betrieben und Unternehmen

A.

Einleitung

Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 OWiG handelt ordnungswidrig, wer als Inhaber eines 1 Betriebes oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig die erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen unterlässt. Voraussetzung der Ahndung ist zudem die betriebsbedingte Zuwiderhandlung (zum Begriff Æ Rz. 59 ff.) eines anderen, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehören nach Satz 2 „auch“ die 2 Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen. § 130 OWiG soll als Auffangtatbestand eine Haftungslücke schließen, die sich 3 aus dem Auseinanderfallen der Betriebsinhaberschaft und den damit verbundenen Sonderstellungen auf der einen und der tatsächlichen Ausführung von Handlungen auf der anderen Seite ergibt.1) Er greift nur ein, wenn die Handlung oder das ihr gleichgestellte Unterlassen des Aufsichtspflichtigen nicht selbst bereits als Verstoß gegen die betriebsbezogene Pflicht zu werten ist.2) Da oftmals nicht die Mitarbeiter selbst, sondern das Unternehmen von Straftaten 4 profitiert (z. B. Erlangung von Aufträgen durch Bestechungszahlungen), stellt § 130 OWiG zudem eine Brücke dar, um über die Aufsichtspflichtverletzung als Anknüpfungstat zu der Festsetzung einer Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG (Æ § 23) gelangen zu können. B.

Inhaber von Betrieben und Unternehmen

I.

Betrieb und Unternehmen

Die Rechtsform des Betriebes, Unternehmens oder Konzerns (zur Streitfrage, 5 ob der Konzerninhaber zur Aufsicht über die Tochtergesellschaften und ihre Mitarbeiter verpflichtet ist Æ § 23 Rz. 27 ff.) ist unerheblich. II.

Inhaber

Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens ist diejenige natürliche Person, der 6 die Erfüllung der betrieblichen Pflichten obliegt. Dabei ist nicht auf die wirtschaftliche Beteiligung abzustellen, sondern auf die Pflicht, die von § 130 OWiG geschützten Aufsichtspflichten zu erfüllen. Folglich sind Aktionäre keine Inhaber i. S. d. § 130 OWiG.3) Dagegen unterfallen sog. „Strohmänner“, die ihre Pflichten lediglich auf dem Papier wahrnehmen, dem Anwendungsbereich.4) ___________ 1) 2) 3) 4)

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.7.1989 – 5 Ss (OWi) 263/89 – 106/89 I, wistra 1989, 358; BeckOK OWiG/Beck, § 130 Vor Rz. 1; Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 1. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.7.1989 – 5 Ss (OWi) 263/89 – (OWi) 106/89 I, NZV 1990, 403; AG Solingen, Urt. v. 9.2.1995 – 23 OWi 12 Js 353/94, NJW 1996, 1607 (1608). AG Tübingen, Urt. v. 29.1.2019 – 16 OWi 16 Js 20968/18, BeckRS 2019, 26979; Krenberger/ Krumm, § 130 Rz. 8. Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 8; vgl. OLG Hamm, Besch. v. 13.6.1996 – 2 Ss OWi 667/96, NStZ-RR 1997, 21.

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

7 Bei einer juristischen Person gilt § 9 Abs. 1 OWiG,5) wonach das Verhalten der Organe und ihrer Vertreter dem Inhaber zugerechnet wird. Eine gewillkürte Übertragung der Aufsichtspflicht gemäß § 9 Abs. 2 OWiG ist ebenfalls zulässig. Die Pflicht trifft den Beauftragten dadurch aber nicht alternativ, sondern kumulativ.6) Allerdings wird zu prüfen sein, in welchem Umfang die Verantwortlichkeit des Vertretenen wegen der Beauftragung eines Stellvertreters reduziert ist. So kann die eigentliche Aufsichtspflicht mitunter auf die Pflicht zur Kontrolle schrumpfen, ob wiederum der Vertreter seine Aufsichtspflicht erfüllt („Überwachung der Überwacher“)7). Die sog. Legalitäts- und Legalitätskontrollpflicht des Vorstandes kann sich mithin durch Delegation zu einer reinen Überwachungspflicht transformieren.8) 8 Entsprechend § 14 StGB („Handeln für einen anderen“, ausführlich dazu Æ § 20 Rz. 2 ff.) regelt § 9 OWiG mithin die sog. Organ- und Vertreterhaftung.9) 9 Sofern der Inhaber oder Repräsentant die Zuwiderhandlung selbst begeht, ist er nicht Täter des § 130 OWiG, sondern wird nach der von ihm verletzten Norm sanktioniert (Æ Rz. 3).10) Beispiel: 10 Die Vertriebsmitarbeiter einer AG haben sich mit den Verantwortlichen des Auftraggebers auf Bestechungszahlungen zur Auftragserlangung geeinigt. Der Vorstand der AG übergibt anlässlich einer turnusmäßigen Besprechung mit dem Geschäftsleiter des Auftraggebers Bargeld. Hier liegt eine Beteiligung an dem Korruptionsdelikt und nicht lediglich eine Aufsichtspflichtverletzung i. S. d. § 130 OWiG vor. C.

Innerbetriebliche Pflichten

11 Die innerbetrieblichen Pflichten sind unterschiedlichen Rechtsquellen zu entnehmen. I.

Rechtsquellen

12 Die Aufsichtspflichten werden in § 130 OWiG nicht näher definiert. Sie entspringen Spezialnormen11), Gerichtsentscheidungen zur Konkretisierung der ___________ 5) Die Vorschrift gilt auch für die (Außen-)GbR und den nichtrechtsfähigen Verein, BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 36; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 25; vgl. BGH, Urt. v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, NJW 2001, 1056. 6) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 37; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 26. 7) OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19NZG 2022, 1058 (1061): „Meta-Überwachung“; Komma/Jüttner, CCZ 2022, 60 (62 f.). 8) Fleischer, AG 2003, 291 (293); Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (406). 9) KK-OWiG/Rogall, § 9 Rz. 1. 10) Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 8. 11) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 40; vgl. §§ 25a KWG, 80 WpHG, 4 ff. GWG, 26 VAG, 52a ff. BImSchG für die Einrichtung eines Risikomanagements oder einer Compliance-Funktion.

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C. Innerbetriebliche Pflichten

Sorgfaltspflichten oder dem allgemeinen Grundsatz, dass jemand für das Verhalten anderer Personen verantwortlich ist und deshalb diese so zu beaufsichtigen hat, dass sie Dritten keinen Schaden zufügen.12) Dieser Grundsatz wird mit erlaubtem Risiko, Sozialadäquanz oder Vertrauensgrundsatz umschrieben.13) Ausweislich Grundsatz 4 des Deutschen Corporate Governance Kodex 13 (DCGK)14) bedarf es für einen verantwortungsvollen Umgang mit den Risiken der Geschäftstätigkeit eines angemessenen und wirksamen internen Kontrollund Risikomanagementsystemes. Dabei setzen die Angemessenheit und Wirksamkeit der Systeme deren interne Überwachung voraus.15) Der Vorstand hat nach Grundsatz 5 für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der internen Richtlinien zu sorgen und auf deren Beachtung im Unternehmen hinzuwirken (Compliance). Beschäftigten soll – so die Empfehlung und Anregung – auf geeignete Weise die Möglichkeit eingeräumt werden, geschützt Hinweise auf Rechtsverstöße im Unternehmen zu geben; auch Dritten sollte diese Möglichkeit eingeräumt werden (zu Compliance-Pflichten der Unternehmensleitung und ihrer Umsetzung Æ § 15).16) In diesem Zusammenhang sind die Vorgaben der Richtlinie des Europäischen Par- 14 lamentes und des Rates vom 23.10.2019 zum Schutz von Personen von Bedeutung, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (EU-Whistleblower-Richtlinie).17) Das inzwischen vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates beschlossene Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) wird am 2.7.2023 in Kraft treten.18) Es gilt für die Meldung (§ 3 Abs. 4 HinSchG) und die Offenlegung (§ 3 Abs. 5 HinSchG) u. a. von Informationen über Verstöße, die straf- oder bußgeldbewehrt sind (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 HinSchG). Allerdings erscheint das zulässige Offenlegen von Informationen nach § 32 HinSchG, etwa im Falle der Untätigkeit der externen Meldestelle, nicht unproblematisch. Denn dadurch ist vollständig der Kontrolle des Unternehmens entzogen, auf welche Art und Weise und in welchem Umfang sensible Geschäftsdaten an die Öffentlichkeit gelangen. ___________ Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 17; Schönke/Schröder/Bosch, § 13 Rz. 51. KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 42; Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 18. I. d. F. vom 28.4.2022. Das interne Kontroll- und Risikomanagementsystem umfassen auch ein an der Risikolage des Unternehmens ausgerichtetes Compliance-Management-System (CMS); zu den Anforderungen an ein Tax-Compliance-Management-System (TCMS) siehe Leibold, BB 2023, 1052 (1054 f.). 16) Graf/Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 10: keine Rechtsverbindlichkeit. 17) RL (EU) 2019/1937; vgl. zur EU-Whistleblower-Richtlinie Degenhardt/Dziuba, BB 2021, 570 ff.; Dilling, CCZ 2019, 214 ff.; Taschke/Pielow/Volk, NZWiSt 2021, 85 ff.; Vogel/ Poth, CB 2019, 45 ff. 18) BGBl I Nr. 140; einen Überblick über das Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen gibt Laber, öAT 2023, 70 ff. 12) 13) 14) 15)

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

15 Hinsichtlich der Frage einschlägiger Rechtsquellen dürfen auch die für einzelne Unternehmensarten konkret normierten Pflichten nicht außer Acht gelassen werden. 16 Beispielsweise hat der Vorstand einer AG gemäß § 91 Abs. 2 AktG geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen frühzeitig erkannt werden (dazu Æ § 1 Rz. 368). 17 Besondere Pflichten für Wertpapierdienstleistungsunternehmen statuiert § 80 WpHG. 18 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Unternehmen mit über 3.000 Beschäftigten im Inland (ab 1.1.2024: über 1.000 Beschäftigten) durch das zum 1.1.2023 in Kraft getretene sog. Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) weitere Compliance-Pflichten aufgebürdet werden. Ziel des Gesetzes ist der bessere Schutz von Menschenrechten und Umwelt in der globalen Wirtschaft.19) Während § 3 LkSG diverse Sorgfaltspflichten normiert, verlangt § 4 Abs. 1 LkSG die Einrichtung eines angemessenen und wirksamen Risikomanagements und verpflichtet § 5 LkSG die Unternehmen zur Durchführung einer Risikoanalyse.20) II.

Pflichtenkanon

19 Grundsätzlich lässt sich für Unternehmensleiter ein Pflichtenkanon definieren, der sich in Organisationspflicht, Kontrollpflicht und Untersuchungs- bzw. Interventionspflicht gliedert. 20 Hieraus ergibt sich zunächst nachfolgende Grobübersicht an Pflichten: 

zur Prävention: Einführung ethischer Kodizes (z. B. Code of Conduct), Umsetzung interner und externer Vorgaben (z. B. Compliance-Richtlinien, VierAugen-Prinzip), Einsatz von eLearning-Modulen, Durchführung von Schulungsmaßnahmen;



zur Aufdeckung: Einrichtung von Hinweisgebersystemen21) (Ombudsmänner, Whistleblowing-Hotlines,22) Einsatz IT-gestützter Monitoring-Systeme, stichprobenartige unangekündigte Überprüfungen (z. B. durch die Revisionsabteilung);

___________ 19) BT-Drucks. 19/28649, S. 1. 20) Das LkSG lässt Sanktionen zu, die den Bußgeldrahmen des § 30 OWiG deutlich übersteigen: gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 LkSG in den dort genannten Fällen bis zu 2 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes. 21) Zur Einrichtung eines Hinweisgebersystems Egger, CCZ 2018, 126 ff.; Miege, CCZ 2018, 45 ff.; MünchAnwHdb. Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen/Wessing/Dann, § 4 Rz. 264 ff.; Wiedmann/Greubel, CCZ 2019, 88 (91 f.). 22) § 25a Abs. 1 Satz 6 Nr. 3 KWG ordnet z. B. für Kreditinstitute die Einrichtung eines Hinweisgebersystemes ausdrücklich an.

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C. Innerbetriebliche Pflichten



1.

zur Aufarbeitung: Durchführung von Sonderuntersuchungen (Internal Investigations, Æ Rz. 38), Ahndung persönlichen Fehlverhaltens, Identifizierung und Umsetzung organisatorischer Verbesserungspotenziale. Organisationspflicht

Das LG München I hat in seinem maßgebenden zivilrechtlichen Urt. v. 10.12.2013 21 – 5 HK O 1387/10 – (sog. Neubürger-Entscheidung) die Pflicht zur Einrichtung einer Compliance-Organisation näher definiert. Hiernach hat ein Vorstandsmitglied im Rahmen seiner Legalitätspflicht dafür Sorge zu tragen, dass das Unternehmen so organisiert und beaufsichtigt wird, dass keine Gesetzesverstöße (wie z. B. Schmiergeldzahlungen an Amtsträger eines ausländischen Staates oder an ausländische Privatpersonen) erfolgen. Seiner Organisationspflicht genügt ein Vorstandsmitglied bei entsprechender Gefährdungslage nur dann, wenn es eine auf Schadensprävention und Risikokontrolle angelegte ComplianceOrganisation einrichtet. Dabei müssen die an die Organisationspflicht zu stellenden Anforderungen objektiv erforderlich und zumutbar sein.23) Außerdem kann von staatlicher Seite nicht vorgegeben werden, welche Aufsichtsmaßnahmen der Betriebsinhaber im Einzelnen zu treffen hat, da ihm selbst die Einschätzungsprärogative zukommt. Folglich müssen die Behörden für den Fall einer Sanktionierung am Ende nachweisen, dass die in Frage stehenden Zuwiderhandlungen durch gehörige Aufsichtsmaßnahmen hätten verhindert oder zumindest erschwert werden können.24) Bei gleich geeigneten Maßnahmen, darf der Betriebsinhaber grundsätzlich das mildeste Mittel wählen.25) Unlängst definierte auch das OLG Nürnberg in seinem Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19 – den Umfang der Pflichten eines Geschäftsführers innerhalb der internen Unternehmensorganisation. Hiernach „[gebietet] die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsführers … – gerade, wenn der Geschäftsführer nicht sämtliche Maßnahmen selbst beschließt und selbst durchführt –, eine interne Organisationsstruktur der Gesellschaft zu schaffen, die die Rechtmäßigkeit und Effizienz ihres Handelns gewährleistet. Insoweit konkretisiert die Sorgfaltspflicht sich zu Unternehmensorganisationspflichten. Der Geschäftsführer muss das von ihm geführte Unter___________ 23) OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.4.2006 – 2 Kart 5/05 u. a. OWi, BeckRS 2007, 379; OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062): Beachtung der Würde der Unternehmensangehörigen und des Betriebsklimas, der überzogene, von zu starkem Misstrauen geprägte Aufsichtsmaßnahmen entgegenstehen (v. a. Maßnahmen, die ausdrücklich oder erkennbar auf die unbelegte Annahme vorsätzlicher Gesetzesverstöße durch Mitarbeiter gestützt werden), weitere Schranken auch aus der Eigenverantwortlichkeit der Unternehmensangehörigen und dem im Arbeitsleben geltenden Vertrauensgrundsatz. Folglich sei der Aufbau eines nahezu flächendeckenden Kontrollnetzes nicht verlangt. 24) OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.9.1976 – 3 Ss 526/76, NJW 1977, 1410. 25) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 50; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 50; Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 21.

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

nehmen so organisieren, dass er jederzeit Überblick über die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Gesellschaft hat. Dies erfordert gegebenenfalls ein Überwachungssystem, mit dem Risiken für Unternehmensfortbestand erfasst und kontrolliert werden können … Aus der Legalitätspflicht folgt die Verpflichtung des Geschäftsführers zur Einrichtung eines Compliance-Management-Systems, also zu organisatorischen Vorkehrungen, die die Begehung von Rechtsverstößen durch die Gesellschaft oder deren Mitarbeiter verhindern.“26) 22 Bei der Schaffung von Compliance-Strukturen zur gehörigen Überwachung von Angestellten und Beauftragten eines Unternehmens sind mithin im Einzelnen entscheidend: 

die Art, Größe und Organisation des Unternehmens,



die zu beachtenden Vorschriften,



die geographische Präsenz (z. B. Geschäftstätigkeit auf korruptionsaffinen Auslandsmärkten) wie auch



Verdachtsfälle aus der Vergangenheit.27)

23 Insoweit kann auch der Branchenzugehörigkeit Bedeutung zukommen. Beispielsweise werden Banken in der Geldwäscheprävention, Import/Export-Unternehmen in der Korruptionsbekämpfung, Industrieunternehmen im Umweltschutz oder IT-Unternehmen im Datenschutz (vgl. dazu die gestiegenen Anforderungen nach der EU-DSGVO)28) jeweils stärker gefordert sein.29) 24 Die Einhaltung des Legalitätsprinzips und demgemäß die Einrichtung eines funktionierenden Compliance-Systems gehört zur Gesamtverantwortung des Vorstandes.30) 25 Abzuleiten sind daraus insbesondere nachfolgende Präventionsmaßnahmen: 

Risikobeurteilung;



Verpflichtung der Mitarbeiter durch das Top-Management zur Risikoprävention („tone from the top“, Æ Rz. 42);

___________ 26) OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1061 f.); dazu Bartz/Bittner, CCZ 2022, 319 ff. 27) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZWiSt 2014, 183 m. Anm. Rathgeber; vgl. zur weiteren Entwicklung Hauschka, CCZ 2018, 159 ff.; zuletzt auch OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062). 28) Bei Verstößen i. S. d. Art. 83 Abs. 5 EU-DSGVO können Geldbußen in Höhe von bis zu 4 % des gesamten weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahres eines Unternehmens verhängt werden. 29) Bejaht wird eine Pflicht zur Implementierung von Compliance-Programmen auch für die Vermarktung gefährlicher (mangelbehafteter) Produkte, Schaefer/Baumann, NJW 2011, 3601 (3603). 30) LG München I, Urt. v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZWiSt 2014, 183 m. Anm. Rathgeber.

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C. Innerbetriebliche Pflichten



Beachtung der gebührenden Sorgfalt bei der Auswahl und Überwachung von Geschäftspartnern;



klare, praktische Richtlinien (z. B. in den Bereichen Zuwendungen, Vermögensschutz, Kartellrecht bzw. Preisabsprachen, Agenten, Mittler und Berater sowie Interessenkonflikte) und Vorgehensweisen;31)



effektive Einführung bzw. Umsetzung eines Compliance-Programmes;



Überwachung und (externe) Überprüfung dieses Compliance-Programmes.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass vom Institut der Wirtschaftsprüfer in 26 Deutschland (IDW) der Prüfungsstandard „Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfungen von Compliance Management Systemen“ (PS 980) entwickelt wurde. Hierin sind die Anforderungen und Strukturen an ein Compliance-ManagementSystem dargelegt, das den Unternehmen Freiraum in der individuellen Ausgestaltung lässt. Am 13.4.2021 ist zudem der ISO 37301 veröffentlicht worden, der detaillierte Hinweise zur Implementierung eines wirksamen Compliance-Management-Systemes enthält und auch für die Zertifizierung eines Unternehmens geeignet ist. Der Betriebsinhaber hat seine Betriebsangehörigen des Weiteren regelmäßig 27 und systematisch aus- und fortzubilden.32) Dabei genügt der allgemeine Hinweis, die geltenden Gesetze seien zu beachten, 28 den Anforderungen nicht. Bei die Kartellbildung begünstigenden wettbewerblichen Strukturen muss z. B. von der Geschäftsleitung sichergestellt werden, dass Führungskräfte mit der komplexen Rechtsproblematik soweit vertraut sind, dass sie Zweifelsfälle selbstständig beurteilen oder die Erforderlichkeit, Rechtsrat einzuholen, erkennen können. Hierzu kann eine spezifisch kartellrechtliche Belehrung anlässlich der Einstellung, während der Einarbeitung und auch im Zuge der Verleihung der Prokura erforderlich sein, verbunden mit dem Hinweis auf Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung der gesetzlichen Bestimmungen. Das gilt auch für den Fall, dass den Beschäftigten die einschlägigen Vorschriften schon bekannt sind.33) Bezüglich der Klarheit umzusetzender Maßnahmen ist es ratsam, den Geltungs- 29 bereich des Compliance-Programms dahin zu definieren, welche Aktivitäten, ___________ 31) Allerdings ist wegen der Neufassung des § 299 StGB und der damit verbundenen Einführung des sog. Geschäftsherrenmodelles Vorsicht in der Ausgestaltung der ComplianceRegeln geboten, Lorenz/Krause, CCZ 2017, 74 ff. Dort wird u. a. vorgeschlagen, eine Öffnungsklausel einzufügen, wonach ein vorheriges Einverständnis des Vorgesetzten im Einzelfall einen Verstoß gegen die internen Compliance-Vorschriften ausschließt, solange kein anderer Straftatbestand erfüllt ist. 32) Graf/Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 41. 33) OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.4.2005 – 2 Kart 5 und 6/05, WuW 2007, 265 (268).

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

Jurisdiktionen, Personenkreise und Rechtsgebiete tangiert sind (gesellschaftsrechtlicher Geltungsbereich).34) 30 Die Durchführung einer Risikoanalyse kann etwa in Form von Interviews mit den Leitungspersonen oder durch interne (ggf. anonymisierte) Befragungen mit Hilfe von Fragebögen erfolgen.35) Sie muss in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, um Veränderungen rechtzeitig zu erkennen. Je nach Risikoaffinität wird eine Variationsbreite von z. B. einmal im Jahr (hohes Risiko) bis zu zwei bis drei Jahren angenommen.36) 31 Grundsätzlich sollte der Compliance-Bereich – auch gegenüber der Rechtsabteilung – unabhängig sein. Während diese regelmäßig primär einzelfallbezogen beratend tätig wird, arbeitet die Compliance-Abteilung in ihrer präventiven Risikomanagementfunktion stärker prozessbezogen und nimmt sowohl Beratungsals auch Kontrollaufgaben wahr. Gegenseitiger Informationsaustausch und Unterstützung steht dem aber nicht im Wege.37) 32 Der Betriebsinhaber muss seine Aufsichtsmaßnahmen zudem dokumentieren (z. B. für unfallgeneigte Bereiche in Begehungsprotokollen), um eine Nachprüfung durch Dritte zu ermöglichen.38) 2.

Kontrollpflicht

33 Die Legalitätspflicht der Leitungsorgane erschöpft sich nicht allein in eigener Rechtstreue, sondern erstreckt sich auch auf die Legalitätskontrolle anderer Personen (vgl. § 91 Abs. 2 AktG).39) 34 Bezüglich der Kontrolldichte und ihres Umfanges sind i. d. R. stichprobenartige unangekündigte Überprüfungen geboten.40) Erforderlich ist eine Kontrolle, die zum einen als solche wahrgenommen wird und zum anderen geeignet ist, mit erheblicher Wahrscheinlichkeit etwaige Verstöße aufzudecken.41) Folglich ___________ 34) Von Busekist/Hein, CCZ 2012, 41 (47); Wiedmann/Greubel, CCZ 2019, 88 (90). 35) Sonnenberg, JuS 2017, 917 (919) mit weiteren Beispielen zu Inhalten und relevanten Bereichen einer Risikoanalyse (Einkauf, Vertrieb, Finanzen, interne Revision und Controlling). 36) Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (405). 37) Schimansky/Bunte/Lwowski/Faust, BankR-HdB, § 109 Rz. 112a. 38) Graf/Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 42. 39) Fleischer, NZG 2014, 322; zu § 43 Abs. 1 GmbHG OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062). 40) OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062); Park/Eggers, Teil 3 Kap. 14.1 Rz. 3; ausführlich Fleischer, CCZ 2008, 1 ff. 41) BayObLG, Beschl. v. 10.8.2001 – 3 ObOWi 51/2001, NJW 2002, 766 (767), demzufolge auch in Betrieben, in denen sich das Personal als zuverlässig erwiesen habe, nur einfache Vorschriften zu beachten seien und die Gefahr von Verstößen höchstens als durchschnittlich einzustufen sei, mindestens monatliche Kontrollen durchzuführen seien.

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C. Innerbetriebliche Pflichten

kann es geboten sein, überraschend umfassendere Geschäftsprüfungen durchzuführen.42) Eine gesteigerte Kontrollpflicht wird in risikoaffinen Geschäftsbereichen (z. B. 35 im Vertrieb) und nach der Feststellung von Verfehlungen in der Vergangenheit verlangt.43) Beispielsweise wird ein Unternehmen, das internationale Geschäfte im öffentlichen Sektor in Staaten mit einem niedrigen Corruption Perception Index (Korruptionswahrnehmungsindex)44) tätigt, im Vergleich zu einem Unternehmen, das ausschließlich in Mitteleuropa tätig ist, verstärkten Korruptionsrisiken ausgesetzt sein.45) Von der Überwachungspflicht nach § 130 OWiG kann sich der Betriebsinhaber 36 nicht schon damit entlasten, dass auch Stichproben nicht mit Sicherheit zur Aufdeckung der Zuwiderhandlung führen würden.46) 3.

Untersuchungs- und Interventionspflicht

Eine Untersuchungspflicht für die Leitungspersonen wird ausgelöst, wenn zu- 37 reichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass betriebliche Zuwiderhandlungen begangen worden sind.47) Insbesondere in Fällen struktureller Mängel (etwa nach Korruptionshandlungen) 38 können ggf. auch umfangreiche interne Untersuchungen (Internal Investigations, Æ Rz. 20) geboten sein. Freilich ist deren konkrete Ausgestaltung von diversen Faktoren abhängig (z. B. Anzahl der „verwickelten“ Mitarbeiter, Art, Dauer und Gewicht der Verstöße, Schaden für das Unternehmen). Dabei geht es – abgesehen etwa von steuerlichen Korrekturpflichten nach § 153 AO –48) nicht um die Anzeige etwaiger Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten gegenüber den Verfolgungsbehörden, sondern um das Abstellen derartiger Verstöße für die Zukunft. Bei solchen Untersuchungen ist im Hinblick auf die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten, insbesondere im Falle der Aus___________ 42) OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062), 43) OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062); vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 10.8.2001 – 3 ObOWi 51/2001, NJW 2002, 766 (767), wonach die Kontrollen nicht schon dann entfielen, wenn aus solchen Verstößen personelle Konsequenzen gezogen würden, sondern erst dann, wenn das nunmehr eingesetzte Personal nach einer Reihe von Kontrollen als zuverlässig eingestuft werden könne. 44) Vgl. zum Korruptionswahrnehmungsindex 2022 https://www.transparency.de/cpi/ (Abruf: 12.6.2023). 45) Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (404). 46) OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.9.1976 – 3 Ss 526/76, NJW 1977, 1410. 47) OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1058 (1062). Krit. aber zum unzulässigen Schluss der Gerichte von der Zuwiderhandlung auf die unzureichende Prävention Hauschka/Greeve, BB 2007, 165; Park/Eggers, Teil 3 Kap. 14.1 Rz. 4; Schaefer/ Baumann, NJW 2011, 3601 (3604). 48) Dazu Cordes/Stürzl-Friedlein, wistra 2020, 498 ff.

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

wertung von größeren Datenbeständen, auf die Vorgaben des BDSG und der EU-DSGVO zu achten.49) Im Übrigen muss sich der Vorstand regelmäßig über den Fortgang der Untersuchung informieren, um im Bedarfsfall selbst einschreiten zu können.50) 39 Schließlich sind personelle und organisatorische Maßnahmen zu prüfen und ggf. umzusetzen, etwa arbeitsrechtliche Konsequenzen zu ziehen und das interne Regelwerk zu optimieren (z. B. durch Einführung einer Ethikrichtlinie und deren Implementierung im Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung, ggf. unter Beachtung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates).51) 40 Verletzen Mitarbeiter etwa durch Betrugsfälle, Schmiergeldzahlungen o. Ä. den Arbeitsvertrag, ist als ultima ratio auch eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht zu ziehen.52) Entlassungen können von den Strafverfolgungsbehörden als positiv anerkannt werden.53) Denn so wird der Wille nach außen getragen, gegen Pflichtverletzungen vorzugehen und Maßnahmen tatsächlich umzusetzen. Um etwaigen Treuewidrigkeitseinwänden (vgl. § 242 BGB) der Kündigung entgegenzuwirken, etwa weil Beschäftigte geltend machen, mit Duldung des Betriebes gehandelt zu haben,54) ist es sinnvoll, innerhalb der Compliance-Organisation deutlich zu machen, dass Verstöße konsequent und ausnahmslos geahndet und entsprechende Konsequenzen gezogen werden (sog. zero tolerance policy).55) 4.

Einzelheiten

41 Außer der eigenen Aufmerksamkeit nach § 130 Abs. 1 OWiG gehören zu den erforderlichen Maßnahmen insbesondere: 

die sachgerechte Auswahl der (zukünftigen) Mitarbeiter unter Berücksichtigung deren Eignung für die jeweils ausgeschriebene Stelle56) sowie die Unterrichtung der Mitarbeiter über die gesetzlichen Vorschriften, deren Beachtung in dem jeweiligen Betrieb erforderlich ist (Æ Rz. 28);57)

___________ 49) Vgl. Park/Eggers, Teil 3 Kap. 14.1 Rz. 4; zur Compliance der Compliance aus arbeitsrechtlicher Sicht Knaup/Vogel, CB 2023, 211 ff. 50) Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (407); ähnlich Reichert/Ott, ZIP 2009, 2173 (2176). 51) Steffen/Stöhr, RdA 2017, 43 (44 ff.), die eine Pflicht zur Einführung einer Ethikrichtlinie verneinen, sofern sich nicht um deutsche Unternehmen mit US-amerikanischer Muttergesellschaft handelt (vgl. Sec. 406 Sarbanes-Oxley Act); s. auch Wagner, Ethikrichtlinien, 2008, 20. 52) Schaefer/Baumann, NJW 2011, 3601 (3604). 53) Schaefer/Baumann, NJW 2011, 3601 (3604). 54) Steinkühler/Kunze, RdA 2009, 367 (369 ff.). 55) Schaefer/Baumann, NJW 2011, 3601 (3605). 56) Rettenmaier/Palm, NJOZ 2010, 1414 (1416). 57) Göhler/Gürtler/Thoma, § 130 Rz. 12.

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C. Innerbetriebliche Pflichten



die genaue Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den einzelnen Mitarbeitern und Aufsichtspersonen, ggf. auch die Einrichtung einer Revisionsabteilung;58)



die sorgfältige Auswahl, Bestellung und Überwachung von Aufsichtspersonen (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 2), wobei die Oberaufsicht dem Betriebsinhaber verbleibt, so dass er sich seiner in § 130 Abs. 1 OWiG normierten Aufsichtspflicht nicht dadurch vollständig entziehen kann, dass er in seinem Betrieb eine Aufsichtsperson mit der Überwachung der Beschäftigten beauftragt (Æ Rz. 7);59)



die Durchführung stichprobenartiger, überraschender Prüfungen (Æ Rz. 34);60) sie müssen durch die Mitarbeiter als ernstzunehmendes Mittel für die Aufdeckung von Verstößen angesehen werden;61) dementsprechend genügt die Nachfrage, ob „alles in Ordnung“ sei, nicht;62) dagegen trifft den Inhaber keine Pflicht, seine Betriebsangehörigen anzuweisen, über alle Geschäftskontakte mit Betriebsfremden Aktenvermerke anzufertigen;63)



die Androhung und Verhängung betrieblicher Sanktionen für den Fall der Nichtbeachtung (Rüge, Ermahnung, Abmahnung, Kündigung etc.) (Æ Rz. 39).64)

Eine effektive Compliance-Organisation setzt zudem eine für alle Mitarbeiter 42 wahrnehmbare compliance-konforme Grundeinstellung und entsprechende grundlegende Äußerungen der Geschäftsleitung und der Aufsichtsgremien („tone from the top“, Æ Rz. 25) voraus.65) Diese Grundsätze dürfen kein „Feigenblatt“ sein, sondern müssen tatsächlich gelebt werden. Durch die zusätzliche Einbindung des mittleren Managements kann die Wirkung im Unternehmen verstärkt werden.66) ___________ 58) BGH, Beschl. v. 23.4.1981 – KRB 4/80, wistra 1982, 34; OLG Köln, Beschl. v. 20.5.1994 – Ss 193/94 (B), wistra 1994, 315; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 55 f.; Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 20. 59) BayObLG, Beschl. v. 10.8.2001 – 3 ObOWi 51/2001, NJW 2002, 766 f.; OLG Nürnberg, Urt. v. 30.3.2022 – 12 U 1520/19, NZG 2022, 1062: Organisations- und Systemverantwortung für die unternehmensinternen Delegationsprozesse als unübertragbare Kernpflicht. 60) OLG Köln, Beschl. v. 20.5.1994 – Ss 193/94 (B), wistra 1994, 315. 61) OLG Frankfurt/M., Beschl. v. 21.9.1992 – 6 Ws (Kart) 12/91. 62) OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.4.2006 – 2 Kart 5/05 u. a. OWi, BeckRS 2007, 379; Rettenmaier/ Palm, NJOZ 2010, 1414 (1418). 63) BGH, Beschl. v. 21.10.1986 – KRB 5/86, BeckRS 1986, 31177330; Göhler/Gürtler/ Thoma, § 130 Rz. 12; Rettenmaier/Palm, NJOZ 2010, 1414 (1418). 64) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 65 f. 65) Rübenstahl/Skoupil, wistra 2013, 209 (211). 66) Wiedmann/Greubel, CCZ 2019, 88 (89).

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

III.

Pflichtendelegation

43 Je nach Größe und Organisationsform des Unternehmens ist es notwendig, dass der Inhaber seine grundsätzlich ihn persönlich treffende Aufsichtspflicht i. S. d. § 130 Abs. 1 Satz 1 OWiG auf Mitarbeiter nachgeordneter Hierarchieebenen nach Satz 2 überträgt. Hierfür sollte ein Organisationsplan aufgestellt werden, durch den betriebliche Zuwiderhandlungen auf allen Unternehmensebenen soweit wie möglich ausgeschlossen werden.67) 44 Obgleich grundsätzlich die Unschuldsvermutung gilt, wird in der Praxis oftmals angenommen, dass eine betriebliche Zuwiderhandlung das Unterlassen einer gehörigen Aufsicht indiziert. Aus diesem Grunde sollte der Nachweis einer ordnungsgemäßen Funktionsverteilung geführt werden können. 45 Innerhalb eines mehrköpfigen Vorstandes ist die interne Geschäftsverteilung maßgeblich.68) Zwar können sich die übrigen Vorstandsmitglieder ihrer Verantwortung nicht vollständig entziehen, jedoch reduziert sich diese auf die Beobachtung, ob ihre Kollegen die ihnen übertragenen Aufgaben jeweils ordnungsgemäß wahrnehmen.69) 46 Außerdem setzt eine vorwerfbare Aufsichtspflichtverletzung entweder positive Kenntnis der Unregelmäßigkeiten oder der unzulänglichen Aufgabenerfüllung durch den primär Verantwortlichen voraus.70) Bei Anhaltspunkten für Verstöße sollte der Vorstand einen auf die Untersuchung der Vorwürfe gerichteten Beschluss treffen und in schwerwiegenden Fällen zudem den Aufsichtsrat informieren. 47 Auch empfiehlt sich die Etablierung eines unternehmensintern verbindlichen Prozesses (etwa durch Einführung in die Geschäftsordnung), nach dem das zuständige Vorstandsmitglied den Gesamtvorstand regelmäßig, aber ebenso anlassbezogen, über Compliance-relevante Themen (z. B. Präventionsmaßnahmen, gemeldete Verstöße, laufende Verfahren, Disziplinarmaßnahmen) informiert.71) Beispiel: 48 Das Unternehmen beteiligt sich an der Ausschreibung für ein Großprojekt in einem Land, in dem die politischen Verhältnisse und die Rechtslage nach einem Regierungswechsel unklar sind. Nachdem der Auftrag erteilt wurde, wird dem Vorstand bekannt, dass gegen einen der vom Kunden vorgegebenen Subunternehmer Ermittlungen wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung laufen. Außerdem soll dieser ___________ 67) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 67; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 70 f. 68) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 72; Otto, Jura, 1998, 409 (414). 69) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 72; Otto, Jura, 1998, 409 (414): „Veränderung der Verantwortungsgewichte“. 70) OLG Hamm, Beschl. v. 28.10.1970 – 4 Ss OWi 423/70, NJW 1971, 817; KK-OWiG/ Rogall, § 130 Rz. 72. 71) Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (405).

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C. Innerbetriebliche Pflichten

Unternehmer über enge Verbindungen zu Verantwortlichen auf Seiten des Auftraggebers verfügen.72) Hier muss der Vorstand für die Aufarbeitung sorgen, sich über Fortgang und Ergebnis der Untersuchung regelmäßig unterrichten lassen und ggf. lenkend eingreifen.73) An Mitarbeiter unterhalb der Vorstandsebene (vertikale Delegation) dürfen 49 lediglich solche Aufgaben übertragen werden, die nicht dem Kernbereich der Leitungsverantwortung des Vorstandes unterfallen, wie etwa grundlegende Organisationsfragen, auch nicht die alleinige Steuerung unternehmensbedeutsamer Verfahren (z. B. strafrechtliche Umfangsverfahren wegen Kartell- oder Korruptionsvorwürfen).74) Auch eine schuldrechtliche Vereinbarung, in der sich der Vorstand einer AG verpflichtet, den Geschäftsleiter einer Tochtergesellschaft nicht abzuberufen sowie Auskünfte und Zugriff auf Daten in Bezug auf den Kernbereich der Unternehmensleitung zu erteilen, ist unwirksam (sog. Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Leitungsmacht).75) IV.

Haftung nachgeordneter Abteilungen

Der Vorstand eines Unternehmens ist an eine Vielzahl straf- und ordnungs- 50 widrigkeitenrechtlicher Pflichten zur Wahrung der Vermögensinteressen der Gesellschaft (vgl. § 266 StGB, Æ § 21 Rz. 2 ff.), der Interessen Dritter (vgl. § 242 StGB) und abstrakter Rechtsgüter (vgl. § 298 StGB, dessen Schutzgut der freie Wettbewerb ist)76) gebunden. Seine Verpflichtung ist aber auf die Verhinderung betriebsbezogener Zuwiderhandlungen (zum Begriff Æ Rz. 59 ff.) beschränkt. Das Verhältnis vom Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht zum Zivilrecht und 51 Öffentlichen Recht ist asymmetrisch akzessorisch ausgestaltet, d. h. ein dort erlaubtes Verhalten kann straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich nicht relevant sein.77) Also dürften auf der Primärebene vertretbare Entscheidungen nicht auf der Sekundärebene sanktioniert werden.78) Daneben darf von einer zivil- oder verwaltungsrechtlichen Rechtswidrigkeit nicht automatisch auf einen straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verstoß geschlossen werden.79) Bei unklaren Ausgangskonstellationen sollte die Entscheidungsfindung daher transparent dokumentiert werden, damit die entsprechenden Erwägungen auch für Dritte, namentlich die Verfolgungsbehörden, später nachvollziehbar sind. ___________ 72) 73) 74) 75) 76) 77) 78) 79)

Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (406). Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (406). Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401 (405). OLG Brandenburg, Urt. v. 29.8.2018 – 7 U 73/14, BeckRS 2018, 35276 m. Anm. Wettich, GWR 2019, 346. BT-Drucks. 13/5584, S. 13; Graf/Jäger/Wittig/Böse, § 298 StGB Rz. 1. MünchKommStGB/Dierlamm/Becker, § 266 Rz. 173 für die Untreue gemäß § 266 StGB. Vgl. BGH, Urt. v. 12.10.2016 – 5 StR 134/15, NJW 2017, 578 ff. MünchKommStGB/Dierlamm/Becker, § 266 Rz. 174 für die Untreue gemäß § 266 StGB.

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52 Für die Abteilungen innerhalb eines Unternehmens, die den Vorstand beraten oder dessen Entscheidungen vorbereiten, gilt, dass ihre straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Haftung akzessorisch an die Verantwortlichkeit der beratenen Entscheidungsträger gebunden ist. Derjenige Mitarbeiter, der ein erkannt straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliches Fehlverhalten des von ihm beratenen Entscheidungsträgers unterstützt, haftet daher regelmäßig wegen Teilnahme an der von diesem begangenen Tat. Dabei setzt die Teilnahmestrafbarkeit eine „Solidarisierung“ mit dem Haupttäter voraus. Somit ist der Schluss verfehlt, dass in Zweifelsfällen stets eine Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Entscheidungsträgers anzunehmen ist, da es eine fahrlässige Teilnahme an einer Haupttat nicht gibt. 53 Abgesehen davon verlangt die Annahme einer Beteiligung an der Ordnungswidrigkeit eines anderen gemäß § 14 Abs. 1 OWiG, dass der andere vorsätzlich gehandelt hat.80) 54 Betreffend die Mitarbeiter der Rechtsabteilung81) kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihnen die Verfolgungsbehörden (wie dem Compliance Officer bzw. dem Leiter der Innenrevision)82) eine Garantenstellung i. S. d. § 13 Abs. 1 StGB zur Verhinderung betriebsbezogener Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zuweisen. Falls eine solche Garantenstellung bejaht wird, beschränken sich die Handlungspflichten aber auf die Einhaltung der Beratungs- und Berichtspflichten. Die Mitarbeiter der Rechtsabteilung sind weder zur Sachverhaltsermittlung noch zur Kontrolle der Einhaltung ihrer Empfehlungen verpflichtet. Sie setzen durch ihren pflichtgemäßen Rechtsrat gerade keine Gefahr für den Eintritt einer Zuwiderhandlung.83) 55 Sofern die Mitarbeiter der Rechtsabteilung aber Kenntnis von Verstößen gegen den von ihnen ausgesprochenen Rechtsrat erlangen, dürfte sie eine innerhalb der unternehmensinternen Berichtswege angesiedelte Eskalierungspflicht treffen. Dagegen besteht keine Verpflichtung zur Einschaltung des Aufsichtsrates oder sogar der Strafverfolgungsbehörden (mit Ausnahme der Katalogtaten des § 138 StGB). Ferner entfällt eine Eskalierungspflicht, wenn der Vorstand über die Zuwiderhandlungen schon (etwa durch Dritte) informiert ist. Auch in diesen Fällen dürfte sich aber zumindest die Fertigung einer Aktennotiz empfehlen.

___________ 80) BGH, Beschl. v. 6.4.1983 – 2 StR 547/82, NJW 1983, 2272; OLG Köln, Beschl. v. 31.10.1978 – 3 Ss 761 B/78, NJW 1979, 826; a. A. Kienapfel, NJW 1983, 2236 f.: Einheitstäterschaft. 81) Dazu ausführlich Graf, in: Festschrift Schiller, S. 206 ff. 82) BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08, BKR 2009, 422 ff. 83) Vgl. zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit aus sog. Ingerenz BGH, Urt. v. 24.9.1998 – 4 StR 272/98, NJW 1999, 69 (71); Urt. v. 16.2.2000 – 2 StR 582/99, NStZ 2000, 414.

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D. Betriebsbezogene Zuwiderhandlung

Überdies greift eine Haftung wegen Fahrlässigkeitsdelikten lediglich in engen 56 Ausnahmefällen, etwa wenn die Mitarbeiter der Rechtsabteilung ihre Augen vor offensichtlich rechtswidrigen Verhaltensweisen bewusst verschließen. Die Mitarbeiter der Compliance- oder Rechtsabteilung84) sind gemäß §§ 53, 97 57 StPO nicht privilegiert, auch nicht Syndikusrechtsanwälte oder Syndikuspatentanwälte.85) Obwohl ihre Unterlagen (auch zu ihren Lasten) sichergestellt werden können, sind sie von eigenen Dokumentationspflichten nicht befreit. Sie sollten den erteilten Rechtsrat sogar – im Gegenteil – schriftlich niederlegen, um im Krisenfall ihre Pflichterfüllung nachweisen zu können. Praxishinweis: Empfehlenswert erscheint vor diesem Hintergrund, jedenfalls den 58 Compliance Officer bzw. den Leiter der Innenrevision (möglicherweise aber auch weitere leitende Angestellte) in den Schutzbereich der D&O- und Strafrechtsschutzversicherung einzubeziehen (Æ § 25 Rz. 88 ff.). D.

Betriebsbezogene Zuwiderhandlung

§ 130 OWiG setzt eine betriebsbezogene Zuwiderhandlung voraus. Dabei ist der 59 Begriff nicht im räumlichen Sinne gemeint, sondern erfasst Verstöße gegen Gebote und Verbote im Betätigungsfeld des Betriebes.86) Taten, die nicht Ausfluss des Betriebes oder dem Tätigkeitsfeld der Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb des Betriebes genauso ereignen können, sind von der Überwachungsgarantenpflicht nicht erfasst.87) Betroffen ist damit zunächst insbesondere eine Verletzung der den Inhaber (z. B. 60 als Arbeitgeber) aus Sonderdelikten treffenden Pflichten (vgl. § 266a StGB).88) Betriebsbezogene Pflichten können sich aber auch aus Allgemeindelikten er- 61 geben, sofern diese im konkreten Fall im Kontext mit der Betriebsführung stehen,89) so dass etwa der Betrug eines Betriebsangehörigen gegenüber einem Kun-

___________ 84) Bejahend zur Notwendigkeit einer Trennung von Compliance- und Rechtsabteilung Groß, CB 2013, 270 (271); differenzierter Rotsch/Lehmann, § 3 Rz. 92 ff.; verneinend Bürkle/ Hauschka/Marschlich, § 6 Rz. 65 ff.; für ein unternehmerisches Ermessen Schneider, NZG 2009, 1321 (1325); Sonnenberg, JuS 2017, 917 (919). 85) BeckOK StPO/Huber, § 53 Rz. 12. Dagegen ist die Kommunikation der von der Geschäftsführung bzw. vom Vorstand beauftragten Mitarbeiter der Rechtsabteilung mit dem Unternehmensverteidiger (etwa nach Anhörung des Unternehmens als Einziehungs- oder Nebenbeteiligte) beschlagnahmefrei. 86) Demuth/Schneider, BB 1970, 642 (647); Graf/Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 62. 87) BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11, NJW 2012, 1237 (1238). 88) Göhler/Gürtler/Thoma, § 130 Rz. 18; Zieglmeier, NJW 2016, 2163 ff. 89) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 85; Göhler/Gürtler/Thoma, § 130 Rz. 18. Ausführlich zum Streitstand vor dem 41. StrÄndG vom 7.8.2007 (BGBl I, 1786 [1787]) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 82 ff.

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

den (vgl. § 263 StGB) oder die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht zur Unfallverhütung relevant sein können (vgl. §§ 222, 229 StGB).90) 62 Die zu Beaufsichtigenden müssen nach h. M. nicht notwendigerweise Betriebsangehörige sein.91) Es genügt, dass sie in Wahrnehmung von Betriebsangelegenheiten handeln (z. B. Leiharbeiter).92) Dagegen werden Selbstständige oder Subunternehmer93) in eigener Verantwortung und nicht in einem Subordinationsverhältnis94) tätig (z. B. scheidet § 130 OWiG aus, wenn ein Mietwagenunternehmer als Kfz-Halter Fahrzeuge durch eine Vertragswerkstatt warten lässt und dort Wartungsfehler unterlaufen).95) Auch die Bejahung einer Aufsichtspflicht über Angehörige eines Werbeinstitutes, das für den Betriebsinhaber Werbemaßnahmen durchführt, geht zu weit.96) Folglich trifft den Besteller mangels Direktions- und Weisungsrechtes keine Pflicht i. S. d. § 130 Abs. 1 Satz 1 OWiG.97) Allerdings soll es dem Betriebsinhaber verwehrt sein, problematische Arbeitsbereiche auf Externe zu übertragen, um sich dadurch seiner Haftung zu entziehen.98) Im Falle einer zulässigen Übertragung auf externe Dienstleister muss eindeutig geregelt sein, welche konkreten Pflichten und Befugnisse im Einzelfall übertragen werden sollen.99) 63 Unter dem Gesichtspunkt der besonderen Garantenstellung des Betriebsinhabers lässt sich dessen Verantwortlichkeit für die Verletzung der Aufsichtspflicht zudem nur dann rechtfertigen, wenn es sich um eine (zurechenbare) betriebs___________ 90) Göhler/Gürtler/Thoma, § 130 Rz. 18: ebenso können etwa die Straftatbestände des §§ 202a, 202b, 202c, 303a, 303b StGB taugliche Anknüpfungstaten nach § 130 OWiG sein; Graf/ Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 62. 91) Einschränkend KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 108, wonach die Zuwiderhandlung grundsätzlich von einem Betriebsangehörigen begangen werden, zumindest aber müsse ein Subordinationsverhältnis vorliegen. 92) OLG Hamm, Beschl. v. 27.2.1992 – Ss OWi 652/91, NStZ 1992, 499; Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 30. 93) Eine Haftung für Subunternehmer scheidet indes nicht aus, wenn der Betroffene nach dem Gesetz für die höchstpersönliche Pflichtenerfüllung verantwortlich ist, Graf/Jäger/ Wittig/Niesler, § 130 Rz. 60; Hecker, GewArch 1999, 320 (324 f.). 94) Vgl. BayObLG, NStZ 1998, 575 für einen geschlossenen Werkvertrag gemäß § 631 BGB. 95) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 108. 96) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 108; a. A. OLG Köln GewArch. 1974, 141 (143); krit. Graf/ Jäger/Wittig/Niesler, § 130 Rz. 59 mit dem Hinweis, dass zwischen dem Betroffenen und dem Dritten eine enge räumliche und organisatorische Verflechtung gegeben war und gerade keine typische wirtschaftliche Trennung vorlag. 97) BayObLG, Beschl. v. 8.4.1998 – 3 ObOWi 30/98, NStZ 1998, 575; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 108. 98) AG Bonn, Urt. v. 12.11.2019 – 715 Js OWi 5/19, BeckRS 2019, 34363; Beschl. v. 13.12.2019 – 715 OWi-400 Js 246/19, GRUR-RS 2019, 47657; Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 30. 99) Graf/Jäger/Wittig/Niesler, § 130 Rz. 59; Müller-Gugenberger/Schmid/Fridrich, § 30 Rz. 131.

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D. Betriebsbezogene Zuwiderhandlung

bezogene Pflicht handelt.100) Deshalb ist z. B. die allgemeine „Pflicht“, keinen Diebstahl zu begehen oder keine Urkunden zu fälschen, nicht erfasst.101) Dementsprechend sind private Delikte von Betriebsangehörigen ohne Bedeutung, auch wenn sie bei Gelegenheit einer betriebsbezogenen Handlung vorgenommen werden.102) Ebenso scheiden Delikte, die sich gegen den Betrieb selbst richten, z. B. Sach- 64 beschädigungen oder Veruntreuungen, als taugliche Bezugstaten des § 130 OWiG aus.103) Denn Schutzgut dieser Vorschrift ist nicht das Unternehmen an sich, sondern in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit an der Schaffung und Aufrechterhaltung einer innerbetrieblichen Organisationsform, mit der den von einem Unternehmen als der Zusammenfassung von Personen und Produktionsmitteln ausgehenden Gefahren begegnet wird.104) Dagegen ist die Feststellung eines konkreten Täters der Zuwiderhandlung nicht 65 erforderlich.105) Allerdings dürften Feststellungen zum subjektiven Tatbestand ohne Kenntnis der Person des Täters schwer zu treffen sein.106) Denkbar sind aber Konstellationen, in denen der Nachweis gelingt, dass einer von mehreren unbekannten Betriebsangehörigen die betriebliche Zuwiderhandlung begangen hat. Gleichwohl darf aus dem konkreten Verstoß nicht vorschnell auf eine Aufsichts- 66 pflichtverletzung geschlossen werden. Vielmehr ist zusätzlich nachzuweisen, dass der Betriebsinhaber die Pflichtverletzung durch gehörige Aufsicht tatsächlich hätte vermeiden oder wesentlich erschweren können (Æ vgl. Rz. 71).107) Diese Einschränkung wirkt sich insbesondere auch auf Betriebsfremde aus (vgl. Æ Rz. 62). Der Umstand, dass die Zuwiderhandlung im Ausland begangen wurde, lässt die 67 Möglichkeit einer Ahndung nicht entfallen, sofern die Aufsichtspflichtverletzung ___________ 100) Vgl. BT-Drucks. 16/3656, S. 14: Ausgeschlossen sind Pflichtverletzungen mit per se höchstpersönlichem Einschlag, aber auch solche, die keinen Bezug zur wirtschaftlichen Betätigung des Betriebes oder Unternehmens haben. 101) BT-Drucks. V/1269, S. 69: wohl aber z. B. eine Gebrauchsanmaßung nach § 290 StGB, wenn sie im Geschäftsbetrieb eines gewerblichen Pfandleihers begangen wird. 102) Krenberger/Krumm, § 130 Rz. 31. 103) Groß/Reichling, wistra 2013, 89 (90 f.); Helmrich, wistra 2010, 331 (333 f.); Krenberger/ Krumm, § 130 Rz. 31. 104) BGH, Urt. v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, NJW 1994, 1801 (1803). 105) Göhler/Gürtler/Thoma, § 130 Rz. 20; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 110; dazu krit. Graf/ Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 61, wonach die Unmöglichkeit der Feststellung aber für ein Organisationsverschulden der Aufsichtspersonen sprechen könne. 106) Graf/Jäger/Wittig/Niesler, § 130 OWiG Rz. 61; Kindler, Das Unternehmen als haftender Täter, 2007, 107; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, 101. 107) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 110; Rebmann/Roth/Herrmann/Förster, § 130 Rz. 9.

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§ 22 Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG

im Inland erfolgte und die Zuwiderhandlung nach deutschem Recht sanktionierbar ist.108) 68 Bei Zuwiderhandlungen außerhalb des Betriebsgeländes (auch im Inland) wird aber stets sehr sorgfältig zu prüfen sein, ob der Aufsichtspflichtige überhaupt noch eine hinreichende Aufsichtsmöglichkeit hatte.109) E.

Vorsatz und Fahrlässigkeit

69 Die Verletzung der Aufsichtspflicht kann sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden.110) Erforderlich ist, dass der Täter die Gefahr einer betriebstypischen Zuwiderhandlung in einem bestimmten Pflichtenkreis, nicht aber die Gefahr der später begangenen konkreten Zuwiderhandlung (da es sich insoweit um eine objektive Bedingung der Ahndbarkeit handelt),111) erkannt hat oder hätte erkennen können.112) 70 Dementsprechend müssen die Verfolgungsbehörden Feststellungen dazu treffen, was der Betroffene tatsächlich getan bzw. pflichtwidrig versäumt hat und welche Kenntnis er von den tatsächlichen Umständen seiner Aufsichtspflicht hatte. Auch muss angegeben werden, auf welche Beweismittel diese Überzeugung gestützt wird. Folglich reicht z. B. der Hinweis, der Betroffene habe „seine Überwachungspflicht sehr großzügig gehandhabt“, nicht aus.113) 71 Sofern gar keine Aufsichtsmaßnahmen getroffen werden, darf daraus nicht automatisch auf Vorsatz geschlossen werden (Æ vgl. Rz. 65). Vielmehr muss über das Vorstellungsbild des Pflichtigen Beweis erhoben werden.114) 72 Irrt der Inhaber über das Bestehen der Gefahr einer betriebstypischen Zuwiderhandlung oder sind ihm Umstände unbekannt, die ein Eingreifen möglich oder erforderlich machen, ist ein Tatbestandsirrtum (§ 11 Abs. 1 Satz 1 OWiG) gegeben.115) Hiernach entfällt der Vorsatz. Allerdings bleibt die Möglichkeit einer Ahndung wegen fahrlässigen Handelns unberührt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 OWiG). 73 Falls sich der Inhaber dagegen über das Bestehen von Sicherheitsnormen oder den Umfang seiner Abwendungspflichten irrt, handelt es sich um einen Ver___________ 108) Leitner/Rosenau/von Galen/Schaefer, § 130 OWiG Rz. 74; offener Gassner/Seith/Ziegler/ Voelker, § 130 Rz. 58. 109) Gassner/Seith/Ziegler/Voelker, § 130 Rz. 58; Demuth/Schneider, BB 1970, 642 (648); KKOWiG/Rogall, § 130 Rz. 111; Rebmann/Roth/Herrmann/Förster, § 130 Rz. 4. 110) Für eine Beschränkung auf Vorsatz de lege ferenda, wenn sich der Unternehmensleiter dazu bereit erklärt hat, das Unternehmen angemessen zu entschädigen Schaefer/Baumann, NJW 2011, 3601 (3604). 111) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 70. 112) KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 119. 113) OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.9.1976 – 3 Ss 526/76, NJW 1977, 1410. 114) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 71; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 119. 115) BeckOK OWiG/Beck, § 130 Rz. 72; KK-OWiG/Rogall, § 130 Rz. 120.

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F. Rechtsfolgen

botsirrtum (§ 11 Abs. 2 OWiG).116) Die Vorwerfbarkeit entfällt lediglich dann, wenn der Irrtum unvermeidbar war, was in der Praxis sehr selten angenommen wird. Angesichts der erheblichen Unklarheit über die notwendigen Aufsichtsmaßnahmen, die nachvollziehbare Fehlentscheidungen ohne Weiteres erklärt, wird daher zu Rech